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Full text of "Geschichte der Musik"

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Geschichte der Musik 



August Wilhelm Ambros, Gustav Nottebohm, B. von 
Sokolowsky, Carl Ferdinand Becker, Heinrich ... 



Geschichte der Musik 



▼on 



Aogust Wllbelm Ambros. 

I 

Mit MililrtleliMi If oMnlMrfapIMi und MuallüMltageo, 



Zweite TMrWiMrt« Amßttg^ 



'iter Band. 




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Geschichte der Masik 



von 



August Wilbelni Ambros. 



Mit sfthlrelchon NoMnbelsplelan uod ICuslkbellagen, 



Zw«lto ▼«rhwerte Auflagt 



Zweiter Band. 




9 Leipzig, Verlag von F. E. C. Leuokart 

(CoutMtin äMd«r>. 

im 



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HARVARD UNf^fRSITY, 
Departmnnt of Music. 



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Dv VcrluMr MdUt «Ish du BMhl dar II«b«ntta«w ta ftwide Biiraehmi vor. 



1 

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Vorrede. 



Der Leser, der sich durch einen weitläufigen ersten Band hin- 
durchgearbeitet hat, wird es vielleicht übel vennerken» sich an der 
Schwelle des zweiten durch eine. Vorrede aufgehalten zu sehen. Er 
kann, wenn er will, ohne verdriessliches Antichambriren gleich in 
das Buch selbst eingeben; aber ich gestehe, dass es mir Ueb wttre, 
wenn er diese BlSHer nicht überschlüge*). Sie enthalten Dinge, 
'die recht sehr zur Sache gehören, und ich verspreche ihm, daas ich 
mich we^er mit missliebigeu Rezensionen a parte ante (des ersten 
Bandes meine ich) herumzanken, noch gegen mögliche ungünstige 
Znknnftsrezensionen dieses zweiten Bandes im Vorhinein Verwah- 
rung einlegen will. Denn icli bin weit davon entfernt zu glauben, 
dass ieh etwas Fehlerloses hingestellt liabe; meinBndi ist eben ein 
meiiMlilieli Werk. Aber soviel darf ich mit gutem Glewissen sagen : 
waa der Leeer lüer in HXnden hSlt, ist daa Resultat langer und 
eifriger Arbeit, wiedeibolter Beiaen und eifriger Studien auf 
deuteehen und itaKeidseben BibHotkeken. Ieh babe wenigstens 
getraebtet an Wnrsel und Quelle kennen an lernen, worttber ich 
jetst spreche. Es heiast, meines Eraebtens, nicht Husikgeschicbte 
schreiben, wenn man das knapp gefasste Kiesewetter'scbe Buch wie 
eine Suppentafel in so und so viel Mass Parapbradrungswasser ser> 
kocbt und die dfinne Suppe dann allenfalls mit den aufgesetzten 
Fettangen einiger Citate ans Glarean wttntt und anmutet Noch 



♦) Enthielte die Vorrede nicht einige Personalien, so hiltto ich sie 
„Einleitung'' fiberschrieben. Ich spreche hier noch eine Bitte aus: Man 
nOgc die Anmerkungen und Zasfttse nicht fttr Ballast halten und 
wolle sie berücksichtigen. 



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IV 



Vorrede. 



sehr viel schlimmer ist es aber, wenn man mit meinem lieben Oheim 
die Immersionstaitfe in „geistreichen" Fenilletonslyl yomimmt. 
Kiesewetter w«r eine Persönlichkeit voll ruhiger WUrde; aber ich 
glanbe, er würde etwas weniger blitsen und donnern, sKhe er das 
vielfache Unheil, das sein gelehrtes, in seiner Art bis Jetst noch 
immer nicht flbertroffenes Buch (ich würde dasselbe UrtheÜ Hellen, 
auch wenn mir Kiesewetter fremd und ich nicht sufidliger Weise 
sein Neffe wir«) angerichtet hat. Wer es gelesen, glaubt, wenn 
ihn sonst die Lust dasu anwandelt, sofort über Musikgeschichte 
Öffentlich mit dareinreden tu können; wo denn jeder sieht, „dass er 
nichts sagt, als was im Buche (d. h. im Kiesewetter) steht" 80 
stirbt Josquin de Pris noch Immer „um 1515 als Hofkapellmeister 
Maiimilian des Ersten" (vide Kiesewetter, Pag. 57; conf.: „die 
gesehiehtliche Entwickelung der Musik" In der östeir. Wochen- 
schrift, Jahrgang 1863, 3. Band, 8. 461), obgleich uns Gousse- 
maker schon 1860 in seinem Büchlein „gaelgii«» ipitaphes des iglUes 
d$ Cmimea, Cambrai, Oonäit Esne sfo." Seite 13 die Notis gegeben, 
dasa der grosse Meister als Dompropst des Capitels von Condi am 
S7. August 1531 sein Leben geendet. 80 heisst Loyset (d. i. 
Louis) Comptee noch inuner nebenbei Pi^ton, weil Kiesewetter 
diese beiden nach Zeit und Schreibart ihrer Werke sehr ver- 
schiedenen Tonsetxer irrig für eine und dieselbe Person gehalten. 
So finden wir bei Antonius de Fevin nicht allein noch immer 
den Beisatz „oder Feum," weil Bumej in irgend einem alten 
Codex die Ucberschrift Feuin falsch gelesen, sondern es muss 
sich dieser höchst bedeutende Meister noch immer gefallen lassen, 
so beiher als „glücklicher Nachahmer Josquin V su fungiren, 
weil Kiesewetter tu unglücklicher Stunde Glarean's Worte „fdix 
iUe Joäoci aemulator** also übersetzt hat*). Alle wahre Musik 
datirt noch immer erst von Palestrina, der die ,,aufs Aeussersto 
entartete, ans blossen Künsteleien bestehende (1) Musik" seiner 



*) „Aoniiilfitnr" hoisst denn doch nicht so vie\ wie „Imitator*' nnd 
bedeutet keinen Nachahmer, sondern einen nacheifernden Nebenbuhler. 
Werke, wie A. de Fevitt*s Lamentationen, wie seine prachtvolle Motette 
„Descende in hortum meum" (Gant, select. ultra cent.), seine edeln 
Messen u. h. w., kann nur ein grosses originales Talent schreiben. Ich 
benutzte Feviu's Erwähnung zu einer Notiz. F^tis (Biogr. uuiv. 3. Bd. 
8. 241) sagt: „Bumey est le premier hiatorien de la musiqae, qni ut dit 
qu'il (A. de Fevin) dtait nö ä Orleans, mais il n'inrli(pjo jins h quelle 
source il a puise ce renseignement". Fetis hat übersehen, dass Buraey 
diese Angabe aus 01arean*B Dodecaohordon geschöpft hat, wo A. de Fevis 
zwar nicht im Tt xt, aber in dem augenscheinlich von Crlareaa selbst re- 
digirien Index „Antonius Fevin Awrltanama gymphaneta" genannt wird. 



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Vorrede. 



V 



VorgSnprr total rofomiirtc. Und so weiter. Das g^rosse Publikum 
unsertT hastigen, eiscnhahnfalirenden , telegra|>hiriMi(l('n Zeit hat 
freilich nichts daf^e^eii ; es will eben Alles hastig und näihehis, 
übrigens gleichviel wie, ahthun, auch seine Belehrung. Die be- 
deutendsten Fragen und Gegenstände sollen in brillanten Feuille- 
tons oder in einigen amüsanten Vorlesungen abgefertigt, die 
geistige Nahrung soll eingenommen werden, wie auf Stations- 
bahnhöfen die leibliche: schnell die pikante belegt Semuiel- 
schnitte hinunter und dann in 's Ilininiels Namen weiter! Ich 
weiss also wirklich nicht, wie ich bestehen werde, wenn ich hier 
bekennen muss, dass der ursprünglich auf drei Hände angelegte 
Plan meines Werkes eine Erweiterung erfahren hat: es werden 
vier Bände statt drei. Damit aber der geneigte Leser nicht 
vor einem möglichen fünften, sechsten n. s. w. Bande Besorg- 
nisse hege, mü ich hier Anlage und Gang de« ganzen \Yerke8 
darlegen. 

Dieser zweite Band schlägt, wie man finden wird, schon 
ganz andere Pfade ein, als der erste gethan. Jene p;ni(»ranien- 
artige Ueberschau auf Völkergruppen i>t hier ein- flir alb-mal 
aVigethan. Es hat mich aber innigst erfreut, meine Intention von 
einem Manne wie Moritz Carriere in seinem Buche ,,die Kunst 
im Zusammenhange der Culturentwickelung" gebilligt und in 
höhcn-ni Sinne fortgebildet zu linden. Die Darviellung der Mn^ik 
der antiken Welt bildet den geistigen Berührungspunkt zwischen 
dem ersten und zweiten Bande; letzterer hat aber nicht mehr 
das pliilologisirende , archäologisirende Aussehen des früheren. 
Die griechische Musik ist längst verhallt; wolitii ich einen leisen 
Nachhall wecken, nnisste ich die übrigen Richtungen des grie- 
chischen Lebens kräftig hervttrhelien , wie njan den leise mit- 
klingenden Aliquotton nur durch kr;(ltiges Anschlagen der Saite 
weckt und hörbar macht. Man hat sich beklagt, der erste Band 
führe durch eine Wüste; leider kann ich auch in diesem zweiten 
den Leser noch in keinem Kanaan sesshaft niailicn, sondern 
ihm zum Schlüsse das gelobte ].iand der vidlendeten Kunst nur 
gleichsam erst vom Berge Nebo in der Ferne zeig<'n, höehstens, 
wie Josua und Kaleb die grosse Traube als vorläntigt; Pndic 
von den Früchten des Landes brachten, einen geleirentlitheu 
vorläufigen Ausblick auf Jos(juin, (Jondicrt und andere edlo 
Meister machen. Es hat eine Zeit «reirehen, wo man die Kunst- 
geschichte mit dem Apoll von Bchedere, oder mit den Werken 
üaphael äanzio's an£ug und alles Aoltere in kurzen i:^iuleitungen 



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VI 



Twrrede. 



abfertigte. Bf iit aber dne gani andere Sache, ob es rieh um 
ftathetischeii GenasB eines Kanstirerkee» oder ob es rieh um 
historisirendes Verstindniss desselben handelt Ich begreife 
die entwickelte Kunst nur, wenn ich ihre Vorstufen, ihr all- 
mXliges Herankonunen begriffen habe. Wir wollen nicht beliebig 
ansgewVhlte mehr oder minder gelungene Kunstwerke nach der 
Idealelle mesaen, die wir uns nach Sebastian Bach, oder Moaart, 
oder Beethoven, oder wem sonst surecht geschnitrt (sehe man 
doch in Bumohr's «italienischen Forschungen*' die geistvolle Dar- 
stellung, wie bei einem solchen Verfahren selbst Raphael au 
knn fiel, als man in der Antike das absolute Kunstideal su er- 
blicken wXhnte): wir wollen die historische Erscheinung in ihrer 
Berechtigung Torstehen lernen, gerade so wie der Naturforscher 
die hdheren Organiamen der Schöpfung nur dureh gewissenhafte 
Durchforschung der niederen und niedrigsten begreifen lernt. 
Es ist sehr leicht, aber auch nichts werth Uber die barbarischen 
Contrapunkte eines Adam de la Haie» Machaut, Jehan Lescnrel, 
Landino u. s. w. im Bewusstsein „wie wir*s suletst so herrlich 
weit gebracht** su spotten, wir müssen rie als nothwendige 
Durchgangspunkte gelten lassen. 

Dr. Joseph Schlüter hat in seiner aUgemrinen Geschichte 
der Musik (Leipzig 1863) den ersten Band meines Werkes in 
einer gelegentlichen Anmerkung S. 5 also beurtheilt: «»Dasselbe 
ist siemlich gedankenleer,** sagt er, „und im Faktischen nur su 
hKuHg ungenau und unsuverlSssig; die von Otto Jahn im 
Mosart mit Geist und Geschmack angewendete Methode der 
Forschung ist bri Ambras trats seiner geistreichen Sprünge bloss 
pedantisch.** Ich bin den Lesern nach einer solchen Beschul- 
digung eine Erklitrung schuldig. Es ist im ersten Band wie 
in diesem sweiten keine Zeile» für die ich nicht einen 
tttchtigen Gewährsmann yor Augen gehabt hStte. Wie 
ich nun aber die Aushängebogen dieses zweiten Bandes durah- 
gesehen, und mir leider abennals viele „Ungenauigkeiten** auf- 
gefallen. Z. B. ist mir statt des richtigeren Machaut oder Machanlt 
öftor die Schreibart Machaud in die Feder gekommen, ich habe 
geschrieben „MinnesKnger** und „Minnesinger**, ebenso Trouveur 
und (richtig) Trouv^, S. 220 erwUhne ich des Beimchronisten 
Ottokar und nenne ihn aus alter Gewohnheit nodi „von Homeck**, 
S. 247 wird Heinrich von Ofterdingen genannt und der Süngei^ 
krieg, ohne die Warnungstafel des «^lythos** daneben zu hängen ; 
so schlüpfte mir, obschon ich genugsam Geographie weiss und 



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VII 



oft und lange genug in Mähren war, um zu wissen, dnss dieses 
schöne Ländcbeu an der äussersten Ostmarke Deutschlands liegt, 
Seite 259 das Wort ,, Westgrenze" aus der Feder,*) was fiast 80 
schlimm ist, wie wenn Felis von Jakob Gallus sagt: „nS ä 
Krain tlans la Carniole^^ (Biogr. univ. 3. Band S. 392). Leute, 
die mein Buch nach solchen Dingen durchstöbeni wollen, er- 
werben sich jedeufalls ein Verdienst; sagen doch schon die 
Xenien: 

0, urie schätz' iijh eneh hoeb! ihr bürstet sorglich die Kleid«r 
ünsrer Autoren, md wem fliegt nicht ein Federdien an? 

Welch' reichen Schatz an Erudition birgt uiclit das vorhin ge- 
nannte Work von Felis, und dennoch taiule man darin sein', sehr 
viel zu „bürsten"**). Anton Schmid's ,,Ottaviano dci Pctrucci'* 



♦) Dieser Schreibfehler, mit vielen andern vom Verf. s. Th. selbst 
angemi'rkten, ist inzwischen ausgemerzt worden. (II. Aufl.) 

**) Herr £. Schelle in Paris meinte in der neuen Zeitschr. f. M-, „in 
Deutschland sei gar niemand, tbr Fdtis contrnliren kr.nne*'. Wolle er 
doch nur z. B. £. O. Xänduer's neues treffliches Buch „Zur Tonkunst" 
8. 64 bis 94 rar Hand nehmen, wo der Streit mit dem Beotor Bieder- 
mann wegen des „musicc viverc" gegsn Fdtis' gani falsche Darstellunff 
authentisch erzählt wird. Um aber ein Beispiel zu geben, wie viel und 
vielerlei man bei Fätis zu „bürstun^^ fände, hebe ich nur den einen 
Artikel , Jjarae** im 5. Bd. dtf Biogr. nniv. des mnsidens S. 800—208 
hervor. Ft'-tis sagt: „Le pocte allemand Brusch ou Bruschius, eile par 
Printz, prt'tetid, (pie de Lame composa cn 1549 les Lamentations de Jc'- 
remie, ü y a Heu de croire qu'il etait mal informi u. s. w.^' Aber Brusch 
war um so besser „inform4*\ als er diese Lamentationen, deren Existens 
Ft'tis lüugTiot , selbst herausgegeben und dem „reverendis«<inio in Christo 
Fatri ac Domino Wolffgango a Yiridi Lapide, Abbati Campidonensi" 
dedisirt hat Der Titel, den ioh nach dem in diesem AngenDlicke vor 
mir liegenden, der Münchner k. Bibliothek Lri li i-igen Originale abschreibe, 
lautot: „Lamentatio | nes Hieremiae Prnjilu la»' | maxiuie higubribus vi 
(juerulis cou | centibus musicis, decoro uudiquuque eruditissinie obserua \ 
to: compositae a daritsimis nostri secoli musicis: | Thoma CrequUone 
Caesarci Chori Magistro. Jcliaiun' (lardano. Petro de 1 u Kuo Flandro. 
Antonio Feuino. Claudio de Sermisy, Hegis Galliarum Sacelli Magistro. 
Et aliu quodam incerto authore | MD. XMX — Tenor. — Noribergae 
apud Johannem Montanimi et Vlricum Neuberum Musieos Calcographos.'* 
Die AVttlieilung selbst hat die Uel)ersc}irift: Nvuieri i xcclletitivsijiii musioi 
Petri de la Hue Flandri in lamentatiuues Uiereniie Prophute. (ich habe 
sie in Partitnr gebracht.) F^s schreibt, man kenne wenig Motetten Ton 
Deleme: «on na xmprimi, qu'un Salve Regina b voix datis le ciuatri^me 
livre des Motetti de la Corona et un Lauda anima mea Dominum ega- 
lement k 4 voix dan» le troisi^me volume de la collectiuii de motets 
publice a Nnremberg en 1664." Bs ist noch mehr gedruckt, und zwar 
im Libcr sehet, amf. ijxas rufijo mufrfns rurfivt: die schöne sochsstim- 
mige Motette „Fater de coWü", im Secufuius totnus novi et insignis operis 
mwiiei 1538 als No. 86 der Psalm ^ieta jurenhUu^K F^tts schreibt: 
fhmmiin ekansons ä deiur opu» se tronvent dans la coUection intitul^ 



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Vm Vomda 

(Wien 1R45, im Bnchlmndel leider vergriffen) ist eines der ge- 
wisHcnluiltesten , gelehrtesten Bücher , ein wahrer Schatz für 
Musikgeschichte, und dennoch ist dem trefflichen Schmid Seite 
IHH das lächerliche Unglück passirt, die Ueherschrift des Liedes 
Nr. .'iü im zweiten Theile der Forster'schen Sammlung ,,QMt«7Z*S 
d. i. quivtpie rn<iini, für den Namen eines altdeutsclien Kompo- 
nisten zu halten (das Lied ,,S() trinken wir alle" ist von Arnold 
von Bruck*)), und S. 195 bei Besprechung der yySeledae har- 
moinae de pussione Domini'''' nennt er einen gar nicht existiren- 
den Johann Stoltzer fes heisst bei dem Stück No. XVIIL 
Joannes Stoel , <1. i. Stahl, Becker S. 109 verbessert: Thomas 
Stoltzer, wodurch der Irrthum fast noch ärger wird). So schreibt 
unser braver alter Lexikograph Gerber in seinem neuen Ton- 
künstlerlexikon 1. Band S. 128: ,,Fiore . . . ein älterer Contra- 
punktist, von dem noch auf der churt". Hibliothek zu München 
aufbehalten werden Mott ffi a 4 rf/c/, Luydinii 1532 — 1539 ohne 
Angabe seines Voniahniens" und lässt sich nicht träumen, dass 
Moletti del fiore 8o viel iunäst als ,,BIumeninotetteu^' (sie ont- 



Bioinia gallica lattna «to. Diese ,fiiie1irere weltlichen sweisiimmigen 

Lieder" sind ein dreistimmiges INIiserere mit dem Canon ,,Trinus et unus", 
das im ersten Theil als No. LXXVU steht. Von den ^prachtvollen Messen 
des P. de hl Kue in der Ambraaer Sammlung weiss letis nichts; es sind 
dannitdr einige, die sonst nirgends TOrkominen, als: de S. Anna, Inviolata, 
de S. Job, eine vierstimmige sup. Ave Maria; femer kommt hervor, 
dass die Messe .sab tuum praesidiom", die in Grapheus' Missae tredecim 
im Altheft mit de )a Rn«*s Namen beEeiehnet, in den drei anderen Stimmen 
aber mit „Jo-stjuin" überschrieben ist, daher fttr Josqvin'B Arbeit gilt 
(F^tis 2. Bd. S. 480. Sehmid a. a. O. S. 1H;J). in der Thnt von V. .b« la 
Rue herrülui. Und dennoch ist jener Fetis'sche Artikel treff- 
lich und ich ))(;kenne dankbar, dass ich viel daraus f^elernt. 
Fetis sagt bei Bespiecliung Ki)nrad Paubnnim's: ,.je no sais oü Kiese- 
wetter a pris c^ue i'aulinaun a iuveutü la tabiuturc de luth.^' Nun, die 
Sache Stent gross und breit in Martin Agrioola's Musiea instrumentalis: 
„da.s jhre tabelthur ri luiiden sei, von einem lautenschläger blind gebom." 
ich habe im Laufe d<-^ lJundes einigemal solche Enata verbessert; aber 
nicht um Ft^tis zu di.scruditiren, denn ich blicke zu seiner üelehrsanikeit 
Terehrend empor, nicht auf ihn herab. Damit ist flhrigens nicht ge- 
meint, dass ich auch seine Kunstansicbteii theile. 

*) Dan Lied findet sieh mit Armjld's Xumen in Forster's Sammltnig 
5. Theil No. XVI. noch einmal (der Grund ist, weil das Lied an Theo- 
dorich Schwärt?, gerichtet war, nnd der 5. Theil ihm oder seinem gleich- 
namigen Solme gewidmet ist) und in b n „Sflltllnen auserlesenen Liedern 
des liochberümpten Heinrici Finckens" als No. 45 vor. Letztere Samm- 
lung enthält nämlicb auch Gesänge von Arnold von Bruck, L. Sentl, 
ein Lied von Stephan Mahn und mehrere mit I. S. (incertus symphonista?) 
bezeichnete. — Die LOsung dieses IMonogramni'^ I. S. ist nicht: Tiieerti 
s^mpUouistae: sondern J.... (wulu'ächeiuiich Juhauu) ächeuhiuger. [ILade]. 



« 



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halten Stücke Ton Arcadelt, Berghem u. B. w.)*). Wer also 
Mücken seihen will (eine Beschäftigung, die sich schon nach 
dem evangelischen Sprache gerne dem „Kameelverechluckeu" 
gesellt, dem Nicbtmcrken grosser Verstösse), wird überall Stoff 
vollauf finden; nur bilde er sich nicht ein , er habe mit seinem 
Mttckenfange eine Ueldenthat vollbracht und sei ein Herakles 
i^ig^ia xa%ayo)Vi'^6fitvo? gewesen! 

Aber ich habe ja versprochen keinen Protest gegen künftige 
Angriffe einzulegen; schnell denn zurück zur Uanptsache! 

gegenwärtige zweite Band steht mit dem, will's Oott, 
künftig an Yeitfffentlicbenden dritten in so innigem Zusammenhange, 
dass es mir nothwendig scheint dem Leser Uber den Ideengang 
nnd Inhalt des letzteren schon jetzt Rechenschaft abzulegen, ja 
es war ursprünglich meines werthen Verlegers und mein eigener 
Plan, die Abtheilung meines Werkes, die jetzt den dritten 
Band bilden wird, als aweite Abtheilang des sweiten Bandes in 
die Welt in schicken. 

Es wird vielleicht nicht unwillkommen sein, wenn ich hier 
sogleich sein Programm, seinen Kernpunkt insbesondere be- 
tone. Wenn dieses Programm sogleich euie Art KriegserklVrong 
gegen Ansichten ist, die wie es scheint onaosrottbar Woisel ge- 
schlagen haben, ond man mir solches ttbel nhnmt, so kann ich 
nnr sagen: „masis tmiea veritasi** Der dritte Band soll die 
grosse Zeit umfassen, wo der aus dem Gregorianischen Gksange 
(wie ein reiehversweigter Baum voll Blitter, Blflte und Frucht 
aus dem Samenkome) aufgesprosste kunstvolle polyphone Tonsats 
herrschte, die klassische Zeit der kirchliehen Musik: die Epoche, 
die man mit Johannes Okegkem so beginnen pflegt, und als 
deren Vollendung und Absehluss Palestrina erscheint, die Zeit 
von (in runden Zahlen) 1450 bis 1600. Ich muss hier einen 
Blick in meinen eigenen Bildungsgang thun lassen. Ehe ieh 
mich in diese Kunstperiode eingehend vertiefte, betete ich 
natürlich noch, wie man mir von Jugend an vorgebetet: ,,sehwer^ 
fiilliger, geschmaeklpser Stjrl, geistlose NiederlftnderkUnstelei 
u. 8. w." 

Nicht ohne Bewegung kann ieh an den Moment zurück- 
denken, wo ich zuerst Josqnin's Messen in den beiden Ausgaben 



*) Mot. de la Corona, dcl Fnitto, del Fion n. a. UL Titel za be- 
quemer Bezeichnung der Sammluugen. 



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X 



Petrnccrs (1503 und 1514)*) in die Hinde bekam, wo ich Ho- 
brecht, Ghiselin, Loyset Comp^re, Pierre de la Rue, Heinrich 
Isaak, Heinrich Finck, Ludwig Senfl, Adrian Willaert, Gombert, 
Arcadelt, Goudimel , kurz wo ich die Vorpalestriner (ich bilde 
dies Wort nach der Analogie der Präraphaeliten in der G^chichte 
der Malerei) gründlich kennen lernte. Mein werther Lands- 
mann, Joseph Ftihrich, hat «of anderem Kunstgebiete einen 
ähnlichen Moment erlebt, den er in seiner Selbstbiographie er- 
zählt. Mit den akademischen Traditionen genährt, hatte er ttber 
Albrecht Dürer Urtheile gehört und gelesen wie z. B.: „wenn 
auch seine steifen Erfindungen und altvaterischen Ideen dem 
gebildeten Geschmacke unserer Zeit nicht mehr behagen können, 
so verdiene doch seine feine, fleissige Nadel als Kupferstecher 
Aufmerksamkeit u. s. w." Nun bekam der damals noch junge 
Künstler einmal Dürer's Kupferstiche und Holzschnitte in die 
Hand. „Ich sah", erzählt er, ,,ich sah wieder; ich traute meinen 
Augen nicht : eine bisher unbekannte Welt ging hier vor meinen 
Blicken auf. Das also war die Kunst in ihrer Kindheit, 
die Kunst in der Wiege» die lallende, unmündige, un- 
beholfene, kindisch- geschmacklose Gedanken in roher, 
barbarischer Form darstellende Kunst eines ungebil- 
deten Zeitalters? Mein erstes Gefühl war ein Gemisch 
von Zorn und tiefer Rührung"**). Auch ich empfand „ein 
Gemisch von Zorn und Rührung". Vor allem nah ich, dass die 
Kunst nicht erst mit Palestrina anfange, dass Palestrina vielmehr 
jene herrliclie Kunstzeit herrlichst abschliesse, ganz so wie 
Raphael die Malerkuust seiner Vorgänger krönt und schliesst, 
jener Vorgänger, deren Werke man zur Zeit der ConnoisKeurs mit 
Perrücke und Haarbeutel des Platzes nicht werth hielt, den sie 
auf Wand und Tafel einnahmen. Ich sah, dass all' das Gerede 
über „Ausartung der Kunst" entweder von der Trägheit, die 
sich nicht die Mühe nimmt die Sache kennen zu lernen, oder 
von falschem Vertrauen auf eine Autorität (wie sich s. B. selbst 



♦) Und noch eine dritte, F^'tis und BecktT iiiilxkajuit gebliebene 
Edition, die 1526 zu Rom erschien. Dem Basshefte ist beisedruckt: «Hoc 
M»U8 impreasam est expensis JaeobT Junte Florentini Biuiopole inUrbe 
Itoma ex arte et industna eximior. impressor. Johani» Jaoobt Fasoti Monti- 
chiensis Parrncnsis Dioceseos et Valorii Dorich Sheidensis Brixiensis 
Dioceseos Auno domini MDXXVl tnense Martii ' (im 2. Buche Junii, 
im dritten Aup^sti.) 

**) Siehe Föhrioh's Selbstbiographie im Taschenbaohe Libossa für das 
J. im S. 335. 



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Vorrede. 



II 



Ranke ia 8«hieii „FSpsten** von Balm bat lireleiten lasBon) 
herrOhrt, dasa die alten, itets abgeschriebenen „Zengnisse" Ar 
diese sogenannte Entartung iheils Anklagen waren, die von 
firOmmelnder Befangenheit*) erhoben wurden, theils das Wesen 
der Saehe gar mcht bertthren, oder geradem ungerecht sind. 

Ich sah die Misaa Papae MareeHU und verglich sie mit den 
Messen der VorgSnger Palestiina's und ich werde Jedem sehr 
dankbar sein, der mir bestimmt und deutlich seigt, 
wo denn darin die „Beform**, wo der „neue Styl", das 
„Horgenroth einer neuen Zeit*' eigentlich sn finden ist. 
Ich hielt die Hessen Noe noe, de &. Vu ijuie, ave ngina**) von 
Areadelt, die Messen AM /Bto, de me$ etmuus und U bim qtie 
fai Ton Goudimel aur vergleichenden Probe neben die Marcellus- 
mesae und konnte weder in der Factor noch sonst einen nennens- 
werthen Unterschied erkennen. Ich fand bei den Vorgängern 
denselben Styl in kaum merklich alterihtUnlicherer FSrhung; 
ich fand, dass Palestrina weder die canonischen Nachahmungen 
▼ermieden (gleich im Kyrie sind die BXsse canonisch oK'imuoNO 
geftlhrt) noch etwa der VerstSndlichkeit dee Textes su Liebe 
dem kunstvollen Stimmgeflechte entsagt habe. Die fanxbourdon* 
artigen Episoden, welche neu schonen kannten, konmien in 



*) Es jjab Zeloten, diu alle Musik als frivol verwarten. Eine mork- 
wflrdige Stelle enthält Johannes ütto's Vorrede des Secundus Tomus 
novi operis musici: „Qoidam laudatisHimae arti ideu iniqaiores sunt, quasi 
ad volujjtatrtn tantwn cotnpnrata sit." So schrieb Otto schon 1538 und 
vertheidi^t die gottesdienstlitihe Muaik. Weuii man aber die tolle Schil- 
denmg einer mehrstimmigen Monk ans dem tollen Bflohlein Agriupa's 
von Nettesheim ,^e vanitate omniom scientiarum" als vollgiltiges Zeug- 
niss emsthaft citirt, wie z. B. Winterfeld thut, so ist das geradezu unver- 
zeihlich i Und kann man glauben, der Gesang einer Kapelle, die aus den 
ersten Kfiottleni der Welt Eusammengesetzt war, habe geUung^ wie 
ein nS&^^USporcelli!^ plcnus"?! Diese bei lialuz mitgothi ilto, stets citirte 
AeoBaerung des Cardinais Capranica war dem Papste gegenüber eine 
ünschicklicbkeit und beweist höchstens, dass S. Emiucns so wenig ver- 
standen wie jener Scythenkßnig, der das Wiehern seines Pferdes dem 
Qesang einer berühmten frriff liischen Künstlerin vorzuziehen erklärte. 

**) Fetis (Biogr. univ. 1. Bd. S. 127 ad v. Areadelt) satft von der 
Anigabe dieser Messen bei Adr. le Boy mid Bobert Ballard lo67: „vprb» 
ces messes, on en trouve uno de .Tcnn Mouton et une autre d'Andrö de 
Silva." Diese Angabe ist unrichtig, wie ich nach dem mir vorliegenden, 
dem prager Museum gehörifjen Originale ersehe, dagegen der wahre Sach- 
veriialt, dass die Messe „Noe, Noe" übST das Motiv einer \\ i ihnachts- 
cantate von Mouton (leider habe ich versäumt zu vergleichen, ob t < die 
in den Mot. della Corona 2. Buch fol. 23 gedruckte ist) compouirt wor- 
dsn, so wie die Messe Ave Begina naoh einer Motette Ton Adr. de Silva, 
wie auf dem Titel ausdrücklich bemerkt ist. 



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Vorrede. 



glc'ulier Art bei Goudimel, was sage ich, sie kommon schon im 
(iloria dt»r Messe „dung aiUtre amer" von Josquin vor. Gegen 
(Jas intricatc Stimmgewebo alter Messen, wie Isaak^s „o praeclara", 
V. de la Jiue's Missa de S. Crttce, gegen Josqiiin's Messe Gaude- 
amus, K^'^?^" Sj)ielen mit Mutiven, wolclies z. B. manchen 
Sätzen der Herculcsiiiesse von Lupus in der Notining das An- 
seilen einer gemusterten Tapete gibt, ist hier allerdings Einfach- 
heit , Durchsichtigkeit; aber dieser ruhigere, massvollere Styl 
ist keine neue, oppositionelle Richtung (wie z. B. GlucVs drama- 
tische Oper gegen die Melsche Luxusoper war), er hat sich im 
Lauf der Zeiten in ganz naturgeniässer Entwickelung heraus- 
gebildet, und l'alestriua verhält sich zu seinem Lehrer Goudimel 
genau wie sich der Raphael der ersten Periode, der Raphael 
des Sposalizio und der Disputa, zu seinem Lehrer Perugino vor- 
hält*). Das Entzücken des Papstes und der Cardiuäle über die 
„neue, wahre Kirchenmusik" war nur die offizielle Anerkennung 
eines Styles, der in fortgesetzter und gesteigerter Kunstübung 
von selbst emporgeblüt war, wie die Blume aus der Knospe. 
Es ist ein grosses Unglück für die Musikgeschichte, dass man 
bis heut, missverstandenen Zeugnissen zu Liebe, zwischen der 
Mvisa Papae Marcelli und aller älteren Musik eine chinesische 
Mauer zieht, durch welche nicht einmal ein Verbindungspfdrtchen 
führt. Wenn in der päpstlichen Kapelle die ältere Musik all- 
mälig ausser Gebrauch kam (allniälig, denn noch 1587 bedurfte 
es eines päpstlichen Befehls, um den Widerstand der Sänger zu 
brechen, welche die von ihnen mit Recht hochgeschätzten Lamen- 
tationen des Oar^eutraB**^ nicht gegen die, allerdings unsäglich 



*) Die Analogie geht sogar in ein fast spielendes Detail. £s ist be- 
kMmt, cUn Raphael ein Bild Mine« Lehrers Pemgino, die Vermlhlong 
Maria*«! das dieser für den Dom sa Perugia gemalt, in seinem Sposalizio 
(jetzt in der Brera) frei wiederholte oder vielmehr umschuf So hat Pa- 
lestrina in seiner Missa brevis (die man in der Proske'schen Sammlung 
einsehen mag), wie schon Baini richtig bemerkt, die Messe seines Lehrer« 
Goudimel „Audi filia" nmgeschaffcn. ({(nulimers Glesse fjehört zu den 
musikahsclicn Seltenheiten, sie ist lö5b bei Adrian Le Koy und Rob. 
BaUard gedruckt worden. Ich habe ne darnach in Partitnr gebradit. 
Wenn aber Baini meint, dass erst bei Palestriria etwas aus der Sac^e 
geworden, BO ist das entweder Blindheit oder niclit zu entschuldigende 
Ungerechtigkeit. Ooudimcrs Messe ist von wunderbarer, zarter Schön- 
heit, and seielmet Paleitrina manchen Contour (gleich im Kyrie) feiner 
aus, 90 enthält doch seine Messe nicht eben vieles, das Goudimel's un- 
vergleichlich gesangvollem und innigem Tiio «Et reaorrezit (von den 
Worten „et iterum" an) gleichstünde. 

**) Fetis kennt, eingestanden ermassen, nur den ersten Absatz und 
hfttte folgUoh vorsichtiger nrtheilen aoUen. Gleich die Abtheilung Beth 



I 

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Vorrede. 



xm 



•ell5nen, Palestrina's vortansclion wollten) und wenn Palostrina's 
Wirken in diesem Sinne refuiniatorisch war, wenn die alten 
Musikcodices fortan nicht mehr aufs Pult kamen, sondern nur 
noch von Bücherwünnern und Musikarchäologen aufgesucht wurden, 
(nur mit dem Unterschiede, dass man eisteren mit dem Zutritte 
nicht 80 grosse Schwierigkeitfii inmlit wie den andern): so ist 
das eine analoge Erscheinung, wie wenn Julius TT. in den Vati- 
cansälen die Wandbilder alter Meister herunterschlagen Hess, um 
fiir seinen Raphael Kaum zu scliafl'en, woraus nicht folgt, dass 
Jene alteren Kunstwerke Sudeleien gewesen. Ich arbeitete mich 
durch die Geschichte des Tridentiner f'oncils von I'allavicini und 
von Fra T^aohi Sarpi dnreh iiiul fand, was Baini hei aller seiner 
Vergötterung Palestriua's mit iehrenwerther Wnlnlieitsliebe zught, 
dass die Kettung" der Musik durch Palestrina eine jener Mvflien 
Bei, von denen man sagen kann: ,,viel Irrthum und ein Körn- 
chen Wahrheit". Ich fand, dass die Zeit unmittelbar nach 
Palestrina dasselbe Schauspiel zeigt, wie nach jedem höchsten 
Idealisten (z. B. in der Malerei nach Kaphael Sanzio): es komnien 
die Manieristen zu Schaaren, ein leerer äusserlicher Tdealisunis 
soll den fehlenden inneren Gehalt ersetzen, der Styl wird stellen- 
weise unruliig und gewaltsam, oder man will die grossen Vor- 
gänger durch eolossale Häufung der Mittel Uberbieten (die Messen 
fiir gehäufte Stiniuien, vier bis t"iiuf Chöre u. s. w., als Seiten- 
stück der prunkenden Kirchenbauten und Kieseufresken aus den 
Zeiten Urban VIII.). Aber schon 1600 erfolgte eine gewaltige 
Wendung und lenkte die Musik auf eine neue Bahn. 

Ueber die Zeit vor Palestrina herrschen die wunderlichsten 
Vorstellungen. Man höre z. B. was Berlioz in seinem ä travers 
chaiits sagt: ,,man vreiss, bis zu welchem (irade des Cynismns 
und des Blödsinns (!) die alten Contrapunktisten es getrieben 
haben, welche zu Themen ihrer sogenannten kirchlichen Com- 
positionen Volkslieder nahmen, deren munterer und selbst obseö- 
ner*) Text allgemein bekannt war, und die sie zur Grundlage 



„Florans ploravit" würde ihm die TToborzengung Tenoheffl heben, hier 

sei unendlich mehr als ein „lourd contrt puint". 

*) Ich kenne ein einziges wirklich obscönes Lied, dessen Motiv zu 
emer Messe ▼erarbeitet «iirde, and diese letitere gehört einem sehr 

«ateri^eordneton , kaum freiiannten Tonsetzer an. Es ist die Messe „Bs 
iolt em Mcgdlin holen wein" von Sampson, die sich gedruckt tindet im 
„Opus decem missarum quatuor vocum in gratiam scholarum atque adoo 
mnsici« 8tudio»omm ooUectum a Oeorffio Rhavvo, Musico et TypograpUo 
Voitembeigeiisi (sol) ▲nno Domini MDXLI" beilftafig eine Sammlung, 



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Vorred«. 



ihres harmonischen Gewebes während des Gottesdienstes machten. 
Man kennt die Messe Vhmnme arme." Berlioz scheint diese Messe 
fiii: d;is Aljtha und Oincpa der „alten Tonkunst" zn halten, sie, 
die nie gescliaute, flattert vor seiner Phantasie hemm, wie irgend 
ein ahontenerliclier, fahelhaft hässlicher Pterodnktylus der Vor- 
welt. Berlioz scheint zu frlauhcn (und viele glauben es mit ihm), 
dass diese Volksliedemiessen etwa so aussahen, wie man ein 
Kyrie kurz und gut nach der Melodie ,, blühe liebes Veilchen" 
sänge! Wie würden die Herren über den kirchlichen Geist, die 
Weihe, die Grossartigkeit dieser vermeintlich ,, frivolen" Messen 
und Kirchenstücke staunen. Josquin's herrliches, ja wohl herr- 
lich es, aus den tiefsten Tiefen des Herzens, in reinster An- 
dacht gesungenes „Stahat mater" hat in einem Codex zu Florenz 
vom .Talnc 1180 und in der köstlichen, von Peutinger und Senf! 
herausgegebenen Motettensammlung {Liber selectarum cantionum 
quas vulfjo Middds ajjpdhntt) die Beischrift „Comme femme". Der 
Tenor ist ein weltliches Lied dieses Textes; es tindet sich 
weltlich behandelt von Alex. Agricola und von einem Un- 
genannten in den Cauti cento cinquanta, und dieses Lied hat 
sich ausgiebig genug bewiesen, dass darüber auch noch Pierre 
de la Kue ein Stabat (liandschriftlich in Brüssel), Ludwig Senfl 
seine rosenduftige Mariennintctte ,,Arc rosa sine sjnni.s" und 
ITeinrich Isaak eine ganze Messe c(»ni[M)niren konnte. Wollt 
ilir Herren über eint' Saclu^ oder Kunstrichtung abs])rechen, so 
ist es ein billiges Verlangen, dass ihr sie frülier kennt. Ich 
versichere: vor Uobrecht's ,,jba/i;ß crux", vor Josquin's ,^wcrerc". 



die sieh weder bei Fetis noch bei Beeker erwähnt findet. Sie enthült 
ausser Sampson's Messe, der dritten der Sammlung, noch folgende: Adieu 
mei amotirs Ton Adam Rener, Niri Dominttt ron lAdw. Senfl, nne 
Musque de Biseay (so) von Heinrich Isaak, Octavi Toni von Adam Rener 
Leodicnsis (d. i. von Liittieh), Baisez moy von Petrus RoseUi, Missa Car- 
minum von Heinrich Isaak, Missa brevis Vuinkcn ghy syt grüne von 
Johann Stahel (Stahl, Stoel), Missa Dominicnlis von Adam Rener, missa de 
Feriii von Pi]>elare. Sami'son hat jenes ,.Wein holende Miidchen" auch 
als weltliches Lied gcset/.t, man findet es in Forsters tSammlvmg, 2. Theil 
No I (mir liegt die Ausgabe von 1565 vor). Ob der Schlnn des „baises 
moy" (weltlich von Josquin in Tybnan Susato's Sammlung „Chanacms*^ 
7. Bucli fol. XH) nicht auf eine ]>e(ienkliclie Schelmerei hinausläuft, wage 
ich weder zu bejahen noch zu verneinen. Der Sinn des Textes ist mir, 
geatebe ieb, niebt dentlicb. Wiridicb böobst obsofine, aber weltHcbe 
Liciler enthält die grosse bei Pierre Attaignnnt IMO u. s. w. erschienene 
Sammlung „Chansons n<»vvelles a quatre parties,'' elegant und geistreich 
erzählte Anekdoten mit sehr witzigen, aber auch überaus frivolen Pointen. 
Es tbilt mir leid, dass selbst Männer, wie Manchicourt, Certon, Janne- 
qnin n. s. w., ibre Kunst an diese Frivolitäten Tersobwendet baben. 



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Vorrede. 



XV 



▼or Pierre's de U Bae „SaUaam kotHaf*^ und anderen Werken 
jener ,3^dheit der Kunst" bieehen eure phantastiselien, druna- 
tisehen tu s. w. Biesensymphonien, eure Biesenopem und Biesen- 
cantaten wie KartenliXuser lasammen. Lernt die alten Meister 
erst begreifen, dann werdet ihr sie verehren! 

Und 80 ist es denn anch wahrhaft beluBti^oud i. B. ge- 
legenüieh Ausspruche su lesen, wie: dass Josquin in seinen 
Weisen „eine gewisse Genialität der Erfindung belsunde", eine 
gewisse OenialitXt; hac gaUa contenius ahUol Und weiter in der- 
selben Abhandlung: „so sehr aber auch einselne dieser MKnner 
mit Eifer und Qeschick die Husilc fortbildeten, mehr als 
historischen Werth**) können nur sehr wenige ihrer 
Oompositionen beanspruchen". Man kennt jene altügyp- 
tisehe Daistellung, wie der Pharao ein Dutaend Gefangener mit 
dnem grossen Generalhieb abschlachtet; aber das ist eine wahre 
Kinderei gegen die Heldenthat alle jene alten Meister mit einem 
Worte absnfertigen und ihre Werke in die „historische" Bumpel- 
kammer lu werfen. Wer den Ctflner Dom oder den Genter 
Altar nur noch „historisch** interessant fitnde, weil ersterer nicht 
aussieht wie ein Glaspalast lu Industrieausstellungen und letzterer 
nicht wie mn Salonbild von Winterhalter, würde sich unsterblich 
blamirenl Jene TonsStse kennen aber wirklich an gothische 
Dome erinnern« Wie in diesen die ganze strenge Speculation der 
mittelalterlichen Scholastik mit aller Seelentiefe, allem Henens- 
anfechwunge der mittelalterlichen Mystik ein wunderbares Bttndniss 
schliesst, wie dem gansen Bau irgend eine mathematisch durch 
den Verstand berechenbare Formel su Grunde liegt, die in allen 
seinen Theilen, im Grossen wie im Kleinen, ihren Ausdruck 
findet, selbst die reiche Fttlle des anscheinend so Tttllig phan- 
tastischen Zierwerks hervorruft, das Alles susammen aber den 
Geist emporführt lu Ahnungen des Hdchsten: so t5nt etwas gans 
Wanderbares, etwas Ueberirdisches aus diesen aus irgend einer 
klmnen Formel (Thema) aufgebauten Tonsttaen, und jener wunder- 
sam erweiterte Schluss, den ich den „Josquin'schen Sehnsuchts- 
blick" nenne, mahnt mich immer an die Kreusblume, die sich 
an der bSchsten Spitze des Baues dem Himmel entgegen auf- 



*) In der Missa de S. Anna, (für den Moment der Wandlung. 
**) Wenn ich recht verstehe, so ist „nur noch historiadi werthvoll" 
dies (liisjonige, was man nicht mehr wagen darf einem verehrliohen 
Bobilicum aui^s Uoocertprugramm zu Belsen. 




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XVI Yorreda 

blättert, in welche der Bau gleichsam RehnBiichtsvoll ausklitifi^ 
Der pllantasti^c■he Zug^ nher ist es denn auch, der in den so- 
genannten „Künsten" der Niederländer sein Geponhild findet. 
Diese Canons ,,rrt/^rriza" (singe alle Noten von rückwärts, nach 
vorn), „C/ama ne ces,sts'^ (lass alle Pausen weg). „AVie geistlos, 
wie kindisch"! ruft man. Die eigentliche Bedeutung ahnt man 
gar nicht: dass ein Canto fermo, nachdem er in einer gewissen 
Gestalt aufgetreten, durch solche Motti tur den folgenden Satz 
eine ganz neue (lestalt, eine neue Bedeutung gewinnt, den AVeg 
zu neuen Condiinationen bahnt. Glänzende Beispiele enthält 
Josquin's Mes.se Vhmnnie arme suj er voces tnu.sicahSj Hobrecht's 
Messe y^Fürtiina'' und Missa (hddoyum. Zuweilen enthält das 
Motto irgend eine wahrhalt sinnige Beziehung, wie das ^^Erunt 
duo in canie ?/;/«" in der Iloch/.eitsniotette „^«i invatit midierem 
feonam" von Jak. Buus, wie das ..qiii se exaJiat humilinhitur"' und 
„qtti se humiliat t\r(dt<d>itiir'^ in Christian llollander's ^ySaidus cum 
Her facereV" *) oder das ,,Crescite et miiUijdicannin^^ in Jos<|iiin*8 
Com})osition des achten Psalms**). Das fein berechnete Zn- 
sainuK'nsingen unter verschiedenen Zeichen, die oft wundersam 
conibinirt ineinandergreifende Notenfilgung mahnen an die kunst- 
vollen Constructionsprol)lenie unserer alten Domliaumcister. Mag 
manches Spielerei sein, nur grosse geistige Kräfte können so 
sjiielen***). Manches in diesen Satzkiiusten ist aber auch nur 
wieder Symptom , dass die Kunst jener Zeiten auf die Knt- 
wickelungsstnfe gelangt war, wo sie sich, gleichsam um das 
lyiass der erlangten Kraft zu piiilen, eigenthümlich schwierige 
Aufgaben stellte, welche in dieses «»der jenes Werk hineingezogen 
wurden, obwohl sie nicht notliNs endig damit in Verbindung ge- 
setzt zu werden brauchten. Es ist diese Zwischenstufe auch 
Wühl in der Geschichte der anderen Künste auzutruÜ'cn. AVer 



*) ÄTnn sehe diese Motetten bei Commer 4. Bd. S. .34 tmd 8. Bd. S. 78. 

**) A. a. (). 7. Bd. S. .'U. Der altf .\btlnuk in Psalmor. selec- 
torum etc. Noribcrgau ex ufhcina Joauuiii Montaui et Ulrid Keuber. Iaö3. 
Tom. I. No. 7. 

***) Idk verkenne nicht, dass diese Kümfc zuurilin in Kümtclei aus- 
arfetryt, so trie ich f<rlhi<trrrsfmitUirh mir nicht im Traume einfallen lai<He 
zu behaupten, Jede alte Mnnik Hci dc8uc(jen auch schon gut. Es Iiat zu 
allen Zeiten Mittelffut und auch Verfehltes genug gegeben. Gerade die 
gröfiscstrn Geister, J(>s(pii7i, llolnecht, haben zuweilrn verzuirktr orlcr 
frockene Sätze geschrieben. Es ist wieder eine Art Analogie, wenn Hübsch 
(neben Bfitticher der geistvollste Gegner der Oothik) tadelt, „dass die 
Steinmetzen den Kunttitüeken im Behauen det Steine$ im groesm ^'el- 
raum 



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Vorrede. 



xvn 



Mantcgna's Wandmalereien bei den Eremitanern in Pa<lua kennt 
(an denen bekanntlich (loethe so viel Freude fand), wird Hich 
erinnern, wie der Meister bei jeder der darjjcstcllten Scenen 
aiis^icr dtT deutlichen Schilderung der Begebenheit sich irgend 
ein rroblem eines besonderen perspektivischen Augenpunktt!% 
u. dgl. stellt. So soll Mantegna's todter Christus (in der Brera 
zu Mailand) der Hauptbestininiung des Werkes nach rührend an 
den Erlösungstod erinnern, zugleich ist es aber ein bis dahin 
unerhörtes Kunststück von Verkürzung. Die geistigen (irund- 
z'n^i' einer Zeitepoche sprechen sich eben in allen ihren Pro- 
duktionen aus. Burkhardt redet in seinem Cicerone (S. 
von dem ,, phantastischen Zuge, der durch das 15. Jahrhundert 
geht". Diesem Zuge begegnen wir ja eben auch in der gleich- 
zeitigen Musik, selbst bis in die kleineu Kunstwerke der Lieder 
der Canti ceiäo cinquavfa u. s. w. hinein; der Styl der Kunst- 
epochc spricht sich in ihnen aus, wie der Styl der Gothik, der 
Renaissance bis in den Leuchter, das Salztass und den Becher 
nachwirkte. Nur ist es grundfalsch, wie man zuweilen hört, zu 
glauben, dass die Künstler den Unterschied der specifischon Auf- 
gabe nicht gekannt*), dass ihre Lieder wie geistliche Musik 
klingen. Bcilioz meinte: Palestrina habe seine Taf«'Hieder (V?) 
genau so coniponirt, wie seine Messen, und entschiildi^jt es halb 
spöttisch, liallt mitleidig mit der ,,Kindlieit der Kunst". Aber 
man sehe docli .Ins(juin's geistvolle, ernste und heitere weltliche 
Lieder mit iliier feinen Berücksichtigung des Textes; man sehe 
die Lieder des liebenswürdigen Ijoyset Compere, in denen der 
lugirte Styl geradezu graziös scherzt und die Stimmen einen» 
leichten Blumengeflecht gleichen (wie mituntei- itoi Sei». Bach); 
man hnlte lsnak*s tief empfundene erz- und lu r/deiitsche Lieder 
neben seine Motetten, die J^ieder des maiudiaftcn Heinricli Finck 
neben seine Hymnen! Ks ist übrigens doch wohl keine blosse 
Grille der Aesthetiker, wenn sie, wie Kiesewetter (S, 54) mit 
leisem Tadel bemerkt, ,,die Künste als eine schöne Kunst um- 
fassen wollen". Man darf unhedenklicli noch weiter gidien und 
für sie sogar mich den ganzen Zi'it^reist überhau]»t postulinn. 
Paleatriiia gehört noch iu da» Zeitalter Leo des Zehnten, ob- 



*) Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie z, B. Josquin de Pr^s das von 
ihm geistlich und weltlich verwerthcte Lied Una mttaflM de Biscaua 
anders behandelt, wo er es Sil einer Messe nimmt, und anderB als wcit- 
lichet Gesani^sstOok. 



xvm 



Vorrede. 



wohl er^ noch Knabe war, ab dieser kunstliebeiide Papat starb. 
Aber ich wttssfce die anscheinende VeispXtang nnr durch ein 
Natorbild an erkliren: wer je am Heeresstrande gestanden, wird 
sich erinnern, wie dem Schanmkreise, den das Meer an das Üfer 
schlendert, in Sekundenfrist ein aweiter folgt Die Physik lehrt 
nns, beide seien das Prodnkt einer nnd derselben Strömung, 
aber die nnglmche Dimension der Wellen Tenusache das nn- 
gleiehe Eintroffen. Die Mnsik ist nun Jener sweite Schaumkreis, 
den dieselbe geistige Strömung trmbt, aber der um Sekundenfrist 
(was sind in der Oeechichte fün&ig Jahre?) spSter eintrifft Des- 
wegen ist die Uusik doch keine Nachaflglerin, keine Verspittete, 
die fremd in yerSnderte Zeiten hineingerttth. Kiesewetter meint, 
die Musik habe „ihre grOsste Vollkommenheit erst spSt in einer 
Periode erreicht, die man eben nicht als das goldene Zeitalter 
der Poesie, der Maleroi, der Baukunst u. s. w. an beaeichnen 
pflegt." Nimmt Kiesewetter als ReprXsentanten jener „grdssten 
VolULommenheit** etwa Palestrina an, so liegt die Antwort schon 
im vorhin Bemerkten; Übrigens hat der .alte Michel Angelo Buo- 
narotti Palestrina's bewunderte Improperien, dessen Messe ut re 
mt /a, seine frttheron Motetten u. s. w. noch gehSrt, und er hXtte 
nur um ein Jahr länger zu leben gebraucht (er starb am 18. Fe- 
bruar 1564), um am 28. April 1565 jener berühmten ersten 
Aufiflihmng der Mareellusmesse, die in der Sixtina Angesichts 
seiner Propheten und Sibyllen und seines Weltgerichtes statt- 
fand, beiwohnen su kutanen. Wenn aber Kiesewetter unter der 
„goldenen Zeit der Musik" die Zeit Mosart's und Haydn*s ver- 
steht (er deutet es nicht nfiher an), so dttrfen wir nicht vergessen, 
dass sie freilich nicht mit der Zeit der Kunstblttte Italiens xn- 
sammenfiel, wohl aber mit der Zeit Schiller's und Ooethe's, Lessing*s 
und Winkelmann's. Man preist die Kunstblfite der neapolitaner 
Schule, welche ihre schönsten Triumphe auf der OpembUhne 
feierte. Nun denn: sieht diese Oper mit ihron etikettenrnSssig 
(auch in der Musik) gemassregelten Leidenschaften, mit ihrem 
eiteln Qeltendmachen der Persönlichkeit, mit ihrem unsinnigen 
Prunk und ihrer tollen Ausstattungs-Verschwendung, diese Oper, 
welche die Biesengestalten des Alterthums von Verschnittenen 
agiren und den Heldenmuth eines Achill oder Alezander nch in 



*) Nach Ciccrchia's neuen Bntdecininprcn ist 1514 das wahre Geburts- 
jahr Palestrijia's. Sein Familienname war Sante. Er ist also porrar auch 
liaphaers NamcusveUer, da dieser eigentiiuh uicht „Sauzio ", sundem 
Santi hienl 



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Vorrede. 



XIX 



einer KMtratenkeble «iistnlleni UesB» nielit im alleibedenklicluteii 
ZasAmmenhange mit dem Leben der damaligen Grossen? Mahnen 
die^e endloseii Arien mit dem unbarmhenigen da Capo ol fme 
niekt an die breitspurige Weitlftnfigkeit des damaligen diploma- 
tisehea Sty^lea» ist dieses langaihmige Colenitiirgeschnörkel nicbt 
daa G^^genbUd der bordirten brodiiten Oallakleider, des Locken- 
geringela der AUongepertteken, bei aller SkalÜiokkdt iKcher' 
lieh und bei aller LVoherliehkeit stattlich? Man wende nicht 
Sebastian Bach ein! Humboldt braucht irgendwo den sehSnen 
Ausdruck: das atete kiiftige Grttn der Nadelwlüder sei dem 
Kordlinder ein erfreuendes Zeichen des fortgltthenden Natur- 
lebens, wo alles andere ringsum in Schnee und Iiis erstorben 
iat So ist Bach eine Riesentanne oder Zeder, die fbrtgrttnte 
im todten "Winter des Zeitalters und dem deutschen Volke 
seigte, wie so treu, edel, gesund und kräftig sein innerster 
Kern sei, in jener Zeit, wo die deutschen Throne mit Duodea- 
copien des französischen Ludwig XIV. besetat waren, wo firan- 
iSrisehe Axt, Sprache und Tracht das deutsche Wesen tiber- 
wucherte, wo Fraubasereien und Misere aller Arten sich breit 
machten, TheologengeaVnk und Pietistengeseufz die einzigen 
Laute waren, die man au hSren bekam. Nicht die erbttrmliche 
Zeit — die unTerwUstliche Tüchtigkeit des deutschen Volkes 
hat einen Seb. Bach hervorgebracht £s geschieht nichts gegen 
^e wandellosen Gesetze der Natur: man pflückt im Dezember 
keine Kirschen von den Bftnmen. Das reiche herrliche 15. 
und 16. Säculum, dieser entzUckonde Cicisterfriililing hat denn 
aoch wie billig seine reiche und herrliche Musik gehabt. Die 
Presse war in Nürnberg, in Venedig, in Paris u* s. w. in vollster 
Thätigkeit, Luat und Nachfrage gross, es ist eine ehrfurchtge« 
bietende Literatur; sehe man, wenn nirgend anders, so wenigstens 
bei C. F. Becker „die Tonwerke des XVI. und XVII. Jahr- 
hunderte** nach, man wird staunen! Vieles ist verloren, bei 
Vielem mag der Verlust endlich auch nicht zu beklagen sein, 
aber noch sind reiche Schätze au heben. Einaelne, wie Commor, 
wie Proske, haben das sehr wohl gewusst; aber noch fehlt der 
alten Musik ihr Sulpiz Boisser^e, ihr Kumohr. Der alte bravo 
Zelter hat uns Sebastian Bach gleichsam neu entdockt, Thibaut's 
„Reinheit der Tonkunst" hat seit ihrem Erscheinen 1825 wenigstens 
für Palestrina und seine Zeit entschieden gewirkt; die filteren 
Heister harren bis beute der Erlösung. Baini hat hier viel auf 
dem Oewisfl^n. Um seinen g<(tüichen Palestrina aum blauen 



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Vorred©. 

Meerwnnder m mftchen, stellt er alle seine YorgXnger als Dar- 
baren hin, wXhrena er fttr Palestrina den gansen enthnnastischen 
WindmÜhlenflügelstyl in Bewegung setit, dnich den jedem Ita- 
liener die Biographie snm ^tElogio^* nrnschlltgt (wie s. B. ancb 
Angeloni's Gnide von Aresso, Caffi's Gapitel über Zarlino be- 
weist). 80 ftllt denn Batni Uber Joeqnin ein UiCheil, das schon 
Gommer mit Recht „mehr als nngereeht, hart nnd verkehit^* 
nennt. Stets werden von Josqnin nnr die kindisehen Anek- 
datchen ans Glarean immer wieder nachersShlt, 1. B. die apokiyphe 
Historie von dem Iß $ol fa r$ mt, wKhrend memand er^ithnt, 
dasB gerade diese Messe ein Wunder musikalischer Kunst nnd 
▼on wundeibarster Schönheit isf). Man wfthlt die Beispiele so 
Abel wie möglich, Forkel yerdurbt eine Menge Blitter mit nn- 
frnchtbaren Canons, ja mit der t^ocasa cantio regia Fm/ndat^ als 
„Probe" Josquin^scher Kunst**), gerade als ob man um einen 
grossen Maler su charakterisiren eine gelegentlich aum Scherae 
fluchtig gezeichnete Fraise in Kupfer stechen lassen wollte! 
Schon in Commer*s „CoUedio uperum mtuieomm Batwonm** 
(Bd. 6, 7, 8 und 18) kann man Josquin anders kennen lernen, 
jenen Meister, von dem Kiesewetter mit Recht sagt: „er gehöre 
unter die grössten musikalischen Genies aller Zeiten" von dem der 
geistreiche, edle Kunstfreund und Kunstkenner Johannes Otto 
schon 1537 in der Vorrode des ytNovum et instgne opus mmi- 
am** propheseit: Joequitmm eelebenrinmm arUa keroem 

faeUe agwacent omMSt habet enim vere divinum et tni- 
miiahile quiddam (das ist der Zug des Genius, den Otto 
sehr wohl empfindet) neque haue laudm grata et eandida poste^ 
ritas ei vmdebiL Wie wttrde Otto staunen, wttsste er, dass 
dn Sohn der „^oto ä Candida posterüaeF^^ dass der WMse 



*) Icli (Ii Iii«', tlic Anekdote von dem Hofherm, der stets sagte „lasci 
far mi, laisöcz faire moi" ist erst hinterdrein der Messe zu Liebe er- 
dadit worden. Messen nach den Sofanisationisylben des Hauptthema 
benannt waren nichts Unpewfihnliches. So Piorn 's do la Rne Messe 
„Ulfa", Brunn l's Messe „L't re mi fa sol la"; de Orto's Messe ^jMi-mi" 
u. s. w. Ich niuss bemerken, dass 183U ein gewisser Dr. Wilhelm Christian 
Meyer ein Buch unter dem Titel „Binleitungen in die Wissenschaft der 
Tonkunnt" litninsi^r^'clM-n , viu v5lh'p freist- und werthlosps Älachwerk, 
unter dessen Beilajzeu sich ein Sat/. betindet, den er für das Kyrie aus 
Jo8qnin*8 ,Jj8 sol m re mi'* ausgibt, der aber etwas total anderes ist 

**) Ueberhaupt ist Forkel's Abtheilung über Josquin enischioilen 
schlecht , du« Schleclittste in seiner ganzen Musikgeschichte. Wo Forkel 
CS mit dem (Jenie zu thun hat, macht er seinerseits geistig Bankrott, wie 
CS bei solchen Qottsched-Nioolai'acben Naturen picht anders sein kann. 



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Vorrede. 



Onlibicheff kurz und gut erklttrt hat: Josqmn sei gar kein 

Musiker gewesen! 

Es überfallt mich eine Art trüber Besorprniss, wenn ich mir 
all' diese Werke in unser babylonisches, theils frivoles, theils 
ungesund überspanntes Musiktreibon, in unsere Salons und Con- 
ccrtsüle eingeführt denke. Würde man in ihnen grosse Denk- 
male einer grossen Zeit erblicken, Zweige und Aeste am grossen 
Bliitonbanme der Kultur, die uns noch innigst berühren, wie 
wir mit Iktinos, Phidias und Sophokles, Dante und Giotto, 
Raphael, Tusso und Shakespeare im geistigen Verbände stehen, 
oder eben nur Curiosa, ,, historisches" Gerümpel, Objekte sou- 
veraitun Auiüseineuts (culcr Ennuys) im Concertsaale ftlr acht 
oder zehn Minuten? Muss man doch diese Geisterspracho vor 
allem erst wieder verstehen lernen. Leute, die ihren Geschmack 
an der leeren, l'rivolen Eletranz IVauzösischer Lifho^rraj)hien, oder 
an der stahlharten, stalilglatten, .stahlkalten Sauberkeit englischer 
Alliurnbilder gebildet, und nun mitten darunter auf dem Hilder- 
tisch eines Salons All)r<'cht Dürer's Kupferstiche und Holzschnitte 
fänden, würden schwerlich einen Eindruck erhalten wie die 
Kiinstlerseele Fiihrich's. Lasst die Werke der alten hohen Meister 
lieber in den Archiven und bildiotheken ruhen! Da geriith zu- 
weilen Einer hinein wie der Wanderer in Uhland's Gedicht in 
die „verlorene Kirche" mitten im wildverwachsenen Walde, 
staunt der Herrlichkeit, sieht „geöffnet des Himmels Thore und 
jede Hülle weggezogen." 

Gerne möchte ich im dritten Bande den Weg zu jener ver- 
lornen Kirche wenigstens einzelnen Wallern bahnen helfen! 
Aus Erfahrung überzeugt, wie gefiihrlich es ist, die alten Meister 
nach einzelnen auf gut Glück aufgegriffenen Proben zu be- 
nrtheilen, suche ich mir so reiches Material wie möglich zu 
schaffen. Freilich gleiche ich Einem, der die Antiken, Uber die 
er sprechen will, sich in Pompeji eigenhändig aus der vulka- 
nischen Asche ausgraben muss. Ich muss mir fast alles aus 
alten Drucken, aus alten Handschriften erst in Partitur, aus 
der alten Mensuralnotirung in die moderne Note umsetzen. Die 
Liberalität der k. k. Hofbibliothek und der Gesellschuft der 
Musikfreunde in Wien, der k. Bibliothek in München hat mich 
dabei in einer Weise unterstützt, für die ich hier nur den 
wärmsten Dank aussprechen kann, ohne die meine Arbeit gar 
nicht möglich wäre. 



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xxn 



Vomde. 



Der vierte Band mll die nramkaUsehe BeaaisBanee,^ die 
EntotehuDg der Monodie, der Oper, des modernen Tonefitains, 
die Glansseit der welüicben MasilL dafsteUen, mit der Zeit von 
1600 beginnen nnd bis anf imsere Tage flibren. Aneb dafttr 
liegt mir bereits reicbes Material vor. Gott gebe mir nur Kraft 
nnd gönne mir Zeit das Begonnene an vollenden! 

Prag, am 1. MJtn 1864. 

W« Ambroa. 



Bemerkungen 

anr awelten Auflage dea sweiten Bandea. 

Die Yontehende Vorrede zur ersten Auflage wurde unver- 
kürzt in die zweite herUbergenommen, weil sie einen integrirenden 
Tbeil des ganzen Werkes bildet und einen Einblick in die PlSne 
und die Sebaffensweise des Autors gewäbrt Wie wenig die darin 
ausgesprochenen WUnscbe und Hoffnungen in XhrfHUuug geben 
sollten, ist bekannt Nur die ersten drei Binde Iconnte Ambros 
selbst zu Ende führen, wSbrend die anm Tbeü druckfertig, zum 
Tbeil in Fragmenten binterlassenen Kapitel zum vierten Bande 
erst nach seinem am 29. Juni 1876 erfulgton Ableben von be- 
rufener Hand geordnet und ergänzt wurden. 

An der notbwendigen Revision und Redaction der vorliegen- 
den sweiten Auflage des zwriten Bandes bat Herr Musikdirector 
Otto Kade einen belangreicben Anibeil genommen, wofUr ibm 
der anfbierksame Leser niebt minder dankbar sein vird ab 

Leipzig, Ende Mai 1880. 

der Verleger, 



Meine Betheiligung an der Correctur au diesem zweiten 
Bande, die wKlirend des Druckes eist erfolgte, begann mit dem 
16. Bogen. Dieselbe erstreckt sich nur auf die Berichtigung 
grober Druckfehler oder Verseben, ohne in den Text selbst 
irgendwie einzugreifen. Nur wo wirkliebe Tbatsacben an be- 

*) Renaissance, insoforne man in Opposition K^R^" die aus dem Gre- 

Soriauischeu (iesangü eutbtHiuleue Musik plaumässig auf eine Restaurirung 
er antiken Tonkunst ansgiug. 



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Vorrede. 



XXUI 



richtigeii waren, habe ich diircli Abfindeningen oder kleine Zu- 
slCtzc nachgeholfen. Diee triflH insbesondere eine Stelle auf 
Seite 424, Anmerkung, wo die Citate ans Kiesewetter fast durch- 
aas unzutreffend oder unsnlfin^lich waren. Besondere Sorgfalt 
ist den Musikbeispielen sowohl den in den Text verflochtenen, 
als auch den im Anhange beigegebenen zu Theil geworden, 
deren Uebersichtlichkeit durch mancherlei Entstellungen wie z. B. 
durch falsche Schlüssel, fehlende oder falsch angebrachte Vor- 
seiehnang, durch anrichtige Untereinanderstellung der Stimmen ete. 
seltr erschwert war. Namentlich sind sSmmtliche im Anhange 
gegebenen TonstUcke einer sorgfältigen Vergleichnag mit der 
Originalnotation oder mit den Qnellenwerken, ans denen sie ent- 
lehnt sind, nochmals unterzogen worden, was zur Rectificimng 
derselben nicht unwesentlich beigetragen hat. Gänzlich nen 
musste die Lösung des auf Seite 480 angeführten „Kadels von 
drei Stimmen'* gegeben werden, da der von Ambros angestellte 
Versuch sich als su wenig sachlich erweisen wollte. 

Schwerin, den 28. Mai IbSO. 



O. Kade, 

GiQMlMni«sl. HrnftÜMotar uS DMiMl 



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Inhaltsverzeichniss des zweiten Bandes. 



S«iU 



Vorrede III 

ErKtea Bneli. Die oraten Zeiten der iitiuon chrigtlichon 

Welt und Kunst 3 

Die SiiiKe^' l'ulen (Boholae cantorum) 12 

Die vier autliciitischcii Kirchei.f ime 13 

Dir Kir( h» ii im i )i i>M>t. Die Musik iu Byzauz .... 19 



i\hisikiii>triiiiuMitc .... . 27 

Der Crregorianische Gesang und seine Verbreitung 43 

Die acnt Kirchentöne . 4b 

Der vitüliaiii^ciic (leaang • . . . . 63 

Die N<'unifii ■ ■ ■ . G9 

Die Zeit der Karolinger » . 92 

Die Sangerscliiile von 8t. Gallen. Die Sequenzen. . . 98 

Das religir)Hc \'i>lkslied 113 

Hucbalil von St. Alna 11(1 uml das Ür^^uiiuni . . . . l'J'i 



Die Kirehentoiie und die antiken Tonarten . . . ■ . 120 

Versuche eiinT Notenschrift 130 

Das Ur^jaiiiiin lluchald'H l.'>."> 

Guido von Arezzo und die Solmisation 144 

Guido'a Tonaystem 151 



Die „finprte^^ Musik 155 

Dir V()(-aleii-Melodien ir>9 

Das Oryamini (Tuiilo's . 163 

Die y<>tensclii-it't auf Linien 166 

Die Solmisation 170 



Das Klavier . . . , , . , . , . . . . . , . 192 

Die Orgel . . . . 203 

Die niyatiBchc Symbolik der Tftne 211 

Dift Trnii hadniirs und M instrela aiK 

Der Ohatelain de Coucy 222 

Gnucelm Faidit 226 



Tltihaut von Xa\arra 227 

Adam de la Haie 231 

Die Bpnnischoi Trohadorea 232 

Die Gcigcniiistruniente S(g38 

Die Minnesinger 246 

Die Meisten^ intrer 2r)9 

Das zukünftige Musikantenthum 261 

Das Volkslied 275 

Die Musik ^Geistlicher Srlutusi)ielL' 298 



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lulialtsverzcicliuiss. XXV 

Seite 



Zweites Buch. Die Entwickcl ung tlc3 mohrstiiiimitrcn 
Ci L- s a II ^ e 8. 

Der DiscHiitus und Fauxbourdon *. . . 309 

DieMensuraliTiusik uiitl der cipctitliclic Cuiitrapuiikt 350 

D"ie erste niodi-rlftiul ischc iSchulo 39t? 

H. de Zeelandiii '. '. '. '. 7^ '. '. '. '. '. '. '. [ 4Ö5 

pio \v<M te » i <' Moii s uraluot e 42 o 

i)u- KiiiisU} ItÜ 

Wilhelm Dufay i.^>3 

Kgyd .Binchois 458 

Vinceuz Faugues 460 

Eloy . > • 4fi2 

Antonius Busnois 1t>:j 

llaynu 1<;7 

Carontig 4f>H 

Johainics Kepfis i '. ! '. '. '. '. '. '. '. '. i '. TTTH 

Joliii DimstüMp 471 

Staml lii f hiiij^o in Deutschlnnd 475 

Klingt in Italii'ii 1^1 

Zasätze und Nachträge ...... ÖÖÖ 



Miif»ikhoilafjroii. 

1. Chanson: Cent mille eseus zu 3 StiniDieti von SVilhelni Dufay . 2 

2. Kyrie, Christ e und zweites Kyrie aus der ]Me^«se omnie arme zu 

4 Stimmen von Wilhelm Dufay 4 

3. Kyrie, Christe und zweites Kyrie atis der Messe <mime arme zu 

4 Stimmen von Vineenz Fannuc« 11 

4. Chanson: Je suis venut zu 3 Stimmen von Antonius Busnois 17 

5. Chanson: De tous hiens zu 3 Stimmen von Heyne von ttizeghem -t> 

6. Chanson: 0 rosa hella zu 3 Stimmen von .lean Dunstahlo . . 22 

7. Kyrie aus der Messe omme arme zu 4 Stimmen von Firmin Caron 24 



ERSTES BUCH. 



Die Anfange 

der 

europäisch-abendländischen Mnsik. 



AmhfB, G«okl«talt 4m Moilk. U. 



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Erstes CapiteL 
])i<} ersten Zeiten der neuen ebrisüichen Weit und Emt 

T^ie Zeit der antiken Welt hatte sicli erfilllt, das Morf»^cnroth 
der christlielieii Iciiciitote auf. Aus (Inn klt-ineii Palästina ciscliull 
die frohe H«)ts< liatr' des ewitren licilcs. I)ic \ t'iv.wcit'i'he Weh 
richtete »ich mit und ii»»r<'hte (h'r triistciKk n Stijiinie. \ er^ehciis 
liesseu die Machtbaher das Blut der Märtyrer stromweisc liiesseiij 
umsonst saebten Keuplatoniker und Theufgen durch mystisehe 
Lehren und Wnnderthsten dem Heidenthum das Leben su fristen. 
Das beilige Herdfeuer der Vesta erloseh, die Tempel vnirden ge- 
schhisscn. Dafür erhohen sieh Basiliken, in denen das reine, un- 
blutige Opfer des neuen Bundes (lar;x<'hraeht wurde. 

In den allerersten Zeiten hatten Privatwohnungen, zur Zeit 
der Verfnljruu'jen dunkle untiTirdiscIie P.'iiiiiie, die K afakomlM'u 
oder sonst verhorpene Oerter. wrli-he eine siclu-re Zutlm lil Imtcu, 
die neue ftenudude aufj^enoninieii. In diesen Käiunen töntiMi ziHTst 
die Gelänge, womit diu erlübte Mensehheit dem einen walireu 
Gotte ihren Dank darbrachte. In das Opfer dieser Gemeinde, fiir 
welche es nicht Knecht nicht Freie, nicht Ghiechen nicht Bar- 
baren gabf sondern nur Brüder, Kinder eines Vaters im Himmel, 
schrie nicht die grelle Pfeife des Tibicen hinein. Diese in Glauben 
und Liebe einigen Mensehen vereinten auch ihre Stimmen im 
Zusammenklang frommer Gesänge. Ueher den (irabem der hin- 
geojifeiien Blutzeugen tönten ihre ersten aus dem ller/en driniren- 
deu Hymnen. Das religiös gehobene (Jemiitli lieht es, seine \\m- 
j»iindungen im(Jt'saugt' austöucn zu lassen, fiir das in Worten uieht 
Auszubpreeheude die Klänge der Musik in s xMittel zu nifen. L eber- 
dies n^m der neue Bund, wie in Lehre und Gebrauch so vieles 
Andere, auch den Psalmgesang beim Gottesdienste aus dem alten 
herttber, inmal die allererste Christengemeinde rieh in Jerusalem 
bildete ; die Psalmen David^s enthielten ohnehin so vieles prophetisch 
auf den Erlöser Deutende, so viel Erhabenes zum Preis«« (Jottcs. 
Der königliche Ahn des Stammes, aus dem das Heil der Welt her- 



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4 



Die Ali tauge der europftisch-abeudläjidih« heu Musik. 



vorhin«:, hat ue gedichtet, nnd nach dem letzten Abendmahl«, 

nach der £in8etzun<; der heilig-mystischen GcdHchtnissfcirr, ehe der 
Heilaiul soitiom Luiden entgegen auf di>n Ocllicrß: irin<j^, stimmten 
die Apostel einen Lf»bj]jesannj an, nach der }i;('w iihnlii Inn Meinung' 
den III. l'salni, welcher bei den Israeliten noch jetzt das fp-osse 
Hallelujah heisht und hei der Passahf'eier peHunf^en zu wenb u 
pflejrte. »So hatten auch Kngeliiymneu die Geburt des Christkindes 
gefeiert: „Ehre Bci Gott in der Höhe und Friede auf Krden den 
Menschen, die eines guten Willens sind". Dies Alles macht es er- 
kllbrlich, dass die Apostel den Gesang der Psalmen und Loblieder 
so oft und so dringend empfahlen.^) Die geschriebenen Psalmen 
bildeten gleichsam den Kern gottesdienstlichen Gesanges — nach 
den dem Clemens Roinanus« einem (jefKhrtMl des heil. Paulus zu- 
geschriebenen apostnlischen ronstitutionen wurde bei der Abend- 
mahlfeier der Psahn angestimmt. Ausser den eigentlichen Psal- 
men wurden auch die in der heil. Schrift vorkommenden Psalmlieder 
(cantica) gesungen: der Triuniphgesang Mose's (Exod. XV), der 
Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen (Daniel III), der Ge- 
sang des Zacharias (Lue. I. 68), Maria's „Magnidcai** (Lue. L 46) 
nnd die Lobpreisung des greisen Simeon (Lue. II. 29). 

Daneben gesehah es nun wohl auch, dass Dieser oder Jener 
in der Gemeinde anfttand und das Lob Gottes sang, wie es ihm 
eben die Begeistenmg des Augenblicks eingab. Das ist was der 
heil. Paulus (teistesgesänge, Gesänge begeisterten Anhauches {('{niue 
;r»'i i'//«r<x«<r) nennt, im Gegensätze zu den mündlich oder schrirtlich 
aufliewahrten P^^aluien {xpnlunC) nnd Hviimen (vftvoi). Wenn das 
Wasser zum lländewasclu'u iierunig»'reiiht und Lieht gebracht 
worden (schreibt Tertulliau), so wird eiu Jeder aufgefordert mitten 
unter den Andern Gott mit Gesang an preisen, entweder nach 
Worten der heiligen Sehrift oder ans eigener Eifindung, wie er 
es vermag^. Machte eine solche Im)»roTisation Eindruck auf die 
IL'rer, so wurden ohne Zweifel ihre Gedanken nnd Wendungen 
bei nächster Gelegenheit wiederholt; und so mögen die allerersten 
specifisch christlichen Ges&nge als echte Volks<lichtungen wie von 
selbst entstanden sein. Wer Dichtertalent hatte, dichtete auch 
wohl Etwas, das er dem Gottesdienste weihte und das gern an- 
genommen wurde, denn die neuen Ideen wollton ausgesprochen, 
der neue Wein wollte in neue Öchläuchu gegossen sein. Man musste 



1) Ephes. V. 19i Col. m. 17; Jacob. V. 13. Als Paulus und Silas 
SU Philippi eiugt korkert waren, beteten sie im Geftngniase um Mitter- 
nacht nnd sani;<'ii Gott Tioblicder, bis da«-< eiu Erdbeben die (irund- 
fcsten dos Kerkers ersclnilterte und die Tdüit'n nprengtc (Act. XVI. 25). 

^) Post aquam manualem et lumma uL quwquo de scripturis sauctis 
Velde proprio ingenio potest provooator in medio Deom oanere (T' talL 
Apolog. 89) 



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Die ersieh Zeiten der olirisUichen Weli vmi Kamt. 



6 



dem evrigen Vater daflir danken, dass er seinen Sohn snr Erlösung 
der Welt, dase er in Stannesbransen und Fenemmgen seinen Geist 
gesendet; dem Erlöser mnsste man für sein Leben, für seinen Tod 

danken, und ihn preisen, dass er als Sieger Uber Tod und Hölle 

die Bande des Grabes gesprengt*). Dor jüngere Plinius meldet in 
jenem bekannten Briefe, den er als bithynischer Statthalter an 
Trajan über die Christen schrieb : ,,das8 sie an gewissen Tao:en 
vor Sonne nauffrnnp: zusaninieiikinmnen und Cbristo, gleich wie 
einem Gotte, einen Wechsclgehung bingen" Zuverlässig war dieser 
Gesang der ersten Christen höchst einfacli, ernst und kunstlos. Auf 
▼oUkommene AnsfiUirang, auf Hervorbringung von etwas künst- 
lerisch Schönem kam es Ihnen snnächst auch gar nicht an. Des- 
wegen war es anch nicht nöthig den kunstlosen Gesang dnrch In- 
strumente sn lenken nnd tn beglmten; der natOiliche Tonsinn 
genügte die Rinprenden inneihalb der wenigen Töne zu erhalten, 
auf welche sich der Gesang unter solchen Umständen beschränken 
musste. Eben so v enip' bedurfte es niedergeschriebener Musikstücke. 
Die eiufacben MelnJien waren leidit /.u merken und nachzusingen; 
der Gesang stand sogar nach dem Zeugnisse des heiligen Augustin 
und des heil. Isidorus dem bloss sprechenden Kecitiren naher als 
dem eigentlichen f mit gehobener Stimme ausgeführten Singen, er 
war mehr ein eintöniges halblantea Psalmodiren*). Was die Instru- 
mente betraf, so war die Lyra das Instrument weltlichen Gesanges, 
die Tibia das Instrument der Opfer der Heiden, alle beide aber 
Tonwerkseuge, mit welchen in den Theatern die sehr sucht- und 
nttenlos gewordenen Schauspiele, die üppigen Tänze nnd Panto- 
mimen begleitet wurden. Wie hlitten die Christen dergleichen KlHnge 
b<'i ihrem reinen Opfer dulden sollen? ,,Wir gebrauchen", sagt ('le- 
rnen» von Alexandrien, ,,ein einziges Instrument : das Wort des Frie- 
dens, mit dem wirG(»tt verehren, nicht aber das alte Psalterium, die 
Pauken, Trompeten und Flöten''^). Es ist also ein blosses Symbol, 
wenn auf den iltesten christliehen Haiereien die Lyra als Sinnbild 
des Gottesdienstes erschdnt Femer aber mussten die CSnisten 



1) Psalmi (^uoque et cantica fratrum, inde a vrimordio a fidelibuB 
eonteripta, Chnstum Terbiim Dei cuucelebrant. Diese Worte gehören 
einem Cajua an , der gegen die Irrlehre des Artsmon schrieb (Gecbert, 

De cantu I. S. 70). 

9) Quod essent loliti staio die ante Inoem ooinrenire carmenqne 

Oiristo qnasi Deo dioere secnm invicem (Plin. Ep. X. 93). 

3) Tarn modicr» flexn vocis faciehat sonare lectorem psahni ut pronun- 
cianti vicinior esset quamcanenti (8. Augastin.Coufess.X.). Priuntivaautem 
eoderia itapeallebat, nt modko flexn Tocit ptallentem faceret retonsre, ita 

ot pronuncianti vicinior esset quam p^alleiiti (S Tsid.De nffio. 7). Auch Gla- 
rean (Dodecachordon I. 14) meint: rrincipio cantilenae adeo siniplices fucro 
Apud primores ecclesiae ut vix diapeute ascensa ac descensu iiupleret 

4) Paedag. IL 4, 



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0 



Die Anftnge dar enropftiaoh-abendlftndiidhen Monk 



schon au i Rücksichten der Klnp^heit jede laut nnd weit idtaUende 
MuBik vermeiden, welche geeignet geweaenwire dieAofineiiuainkett 
ihrer Verfolger m erregen. Gewiaa aangen aie mit gedlmpfterStimme 
in aehr mässig bewegten TSnen ihre Hymnen, auch wenn sie 
Freude und Dank aoaaprachen. Wenn die Inatmmente verbannt 
blieben, 80 waren dagegen, damit im Gesänge Ton und Ordnung 
gehalten wurde, Vorsänfr«'r iinentbelirlich, wozu einzelne Geübtere 
nnd mit besserem (Jeliörc nnd klanj^voller Stimme Befrabte zweck- 
mässig zu bestellen waren. Unter den minderen Kirehenämtem, 
die sieb aus den ältesten Zeiten herschreiben, finden sich wirklich 
neben den Pförtnern, Exorcisten, Lesern auch Sänger (cantores). 
Unter den sogenannten „apostolischen Constitationen" findet rieh 
die Anordnung, dass die Vorsänger die Psalmen anstimmen sollen, 
die Gemeinde ihnen aber nachxnsingen hat. Bei vorgeschrittener 
Uebnng konnten aneh wirkli( lic Wechselgesänge in Ausruf des Vor- 
sängers und Antwort (nicht in blossem Nachsingen) der Gemeinde 
im Chor, oder Wechselgesang ganzer Abtheilungen feines ersten und 
zweiten Chores'l iti Anwendung kommen. Die erste Kinnibning 
solcher Wecliselgesiinge wird von d«'r Ueberliefernng dem heil. 1 g- 
natius, Bischof von Antiochien, der unter IVajan zu Kom den Miir- 
tyrertod erlitt, zugeschrieben. Die Legende fugt hinzu : er hal)c im 
Zustande der Entsttckung die Engel in Wechselchttren singen gehört 
nnd das Gehörte im Gesänge seiner Gemeinde nachahmen lassen i). 
Auch bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten, den Agapen, sangen 
die Christen statt der bei den Heiden üblichen Scholien religiöse 
Lieder^. Secten, wie die ^laniehäer, venvarfen den (iesang völlig. 
Dagegen war ihr muthiger Bekämpfer, der heil. Augustinus, als er 
zu Mailand den von dem dortigen Bischöfe, dem heil. Ambrosius, 
geregelten Kirchengesang hörte, wie er uns in seinen ,, Bekennt- 
nissen" selbst er/ählt, bis zu Tiiränen gerührt. An einer andern 
Stelle sagt er, dass „mit dem lieblichen Gesänge das Wort Gottes 
in*8 Herz zieht, die Seele mit emporgt schwungen werde nnd Wahr- 
heit nnd Leben der Lehre emptinde"^). Per heil. Ambrcains 
hebt ganz ansdrttcklich den tiefen Unterschied zwischen dem 

1) . . . (jK> TÜv dvtt^unnav vuvtav T/jr dyiav TQtdda vfHovrTutv (bei Socrates 

VI. 8). 

2) Cyprinnus, der Bischof von Karthago, saj^'^t : Xec sit vel hora convivii 
gratiae coele^tis immunis — sonct psalmos convivium sobhum (Ad Donatum). 

3) Indessen hatte erdoch seine Bedenken: Ita flactoo inter periculom vo- 
laptati8«texpwimentomaalabritatis,magiaque adducor,non quidem irretrac- 
tabilem sentenliam proferens, rantandi consuetudiTiPTn approbare in oecle«ia, 
ui per ublectumeuta am-ium iuiinnior animus ud utlectum pietatis assurgat. 
(Confeas JLdS.) Sehr schOn und treffend tagt er ebenda : Omnesaffectus spiri- 
tualesnostri prosuavi diversitatc habent proprios modos in voce atque cantu, 
quorum occulta faniiliariter excitantur. Der j^osse Kirchenlehrer »pric iit 
hier, wie man sieht, als Aesthetiker. Am schwuugvollstea erhebt dieMocht 
des ufisanges Justin der Märtyrer: Ibcmtatenimanünamadfenreas desiderium 



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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 



7 



ehnadiehen KifchengvMng und d«r lieidiiüeheii Theatemmiik 
beiTor. Diese chromatische Theatermusik verweichliche und roizi>. 
nur sinnlichen Liebe, jene andere singe im Einklänge der Sürn- 

men das Lob Gottes i). 

Die Antwort auf die Fra^e, woher alle diese (Jesänfre der Ur- 
zeit des ('liristintlmmes stammten, wird je nach dem Standjmnkte der 
Antwortenden in sehr verschiedener Weise gegeben. Die Einen 
sagen: Die Kirche habe sich vorerst und vornehmlich desjU- 
diiehen Tempelgesaugea bedient, wie «r von David angeord- 
net nnd nnTeründert fortgepfianit worden^; wogegen Andere im 
kirchlichen Bitnalgesang einen betrichtlich entttellten aber kost- 
baren Best der alten griechischen Musik erblicken, welche selbst, 
„nachdem sie unter den Händen der Barbaren gewesen, ihre or- 
sprüngliche Schönheit nicht ganz verlieren könne"^). Noch Andere 
erklären die christliche Musik für etwas Eigenes und Neues. „Die 
Musik der ersten ('bristen", sagt Kiesewetter, ,, meist armer, unge- 
lebrter, in den sublimen Kenntnissen griechischer Musik schon zu- 
mal nicht eingeweihter, schlichter Leute, war ein höchst einfacher, 
knnst- und regelloser Natnrgesang, welcher nnr allmtUig gewisse 
Aecente nnd Inflezionen bleibend annahm, in dieser Gestalt dnrch 
Öfteres AnhOren sich in den Gemeinden feststellte nnd von deren 
einer zur andern sich fortpflanzte. Dass sich noch damals griechi- 
Bche oder auch wohl jüdische Melodien unter den Christengemeinden 
eingeschlichen hätten (wie einige Schriftsteller angenommen haben), 
ist durchaus nicht glaublich. Wären auch Jene guten Leute fähig 
gewesen, griechische Melodien zu fassen und mit ihren wenig geübten 
Organen nachzusingen, so war ihr Absdieu gegen Alles, was an 
lieidenthum erinnern konnte, uuch dem Zeugnisse der ältesten 
Schriftsteller zu gross, als dass sie Gesinge ans den Tempeln oder 
Theatern der Heiden zugelassen bitten; eben so wollten sie von 
dem Jndenthnme dnrchans sieh sondern («s ffiäetudur judaiMare, 
wie ein alter christlicher Schriftsteller es ansdrUckt), und überhaupt 
war es ihnen ganz eigentlich darum zn thnn, eine von dem 
Wesen jedes andern Cultos verschiedene, ihnen eigene Art des 

flliuB, qnod in canticis oelebratnr: ledat ezsoi^entes ex came vitiosos appe- 

titus: nialas cogitationes repellit, quae nobis injiciuntur ab invisiMlibus 
hostibus: irrigat auimam, ut ferax sit bonorum divinorum: fortes ac ge- 
nerosas ad constantiam in rebus adverais effidt aihletas pietatis: omnimn 
Titae molestiaram medicina fit püs homimbiis (Quaeit 107). 

1) Quos non mortiferi caiitns cromaticum Bcenicorum qxmp mentem 
emolliant ad amores, acd coucentus ecclesiae et con aona circa Dei laudes 
pu]>uli Tox et pia Tota deleotent (HexataieroD YT). 

2) Jakob, Die Kunst im Dienste der Kirche S. 193. 

3) Ce chftnt, tel qu'il subsiste encore aujourd'hui, est un reste bien 
detigure mai-s hien precieux de l'ancienne muflique g^ecquo, laquelle apr^s 
aroir pa886 par les mains des bsrbares n'a pu pcordre encore toutes aes 
premitaes beant^ (J. J. Ronssean, DiÜ. de mns. ad ▼. p1ain«obsnt.) 



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.8 



Die Anfänge der earopäiMh-abendl&ndischen Masik. 



GeMUlges ra itiften, was üinen auf Uurem Wege vielleicht nur 
■n gilt gelungen sein mochte 

Im Gesänge clor ersten Christen gans nnbedingt eine nnmittel- 

hare Fortsotzunpr dos hohräisch-flavidischen zu erblicken ist eine un- 
bowicHono Voraiissotzung. Als der Tompol Salomo's durch Nebu- 
kadnezar 587 v. ('lir. zerstr)rt und das Volk in die Gelangenscliatl 
geführt worden, hatte natürlich auch der geregelte Tempeldienst und 
mit ihm die Tempelmusik einstweilen ein Ende. In Babylon hingen 
die Kinder Israel ihre Harfen trauernd an die W^den, nnd wenn 
ihre Dringer geboten: tt*higet uns doeh ein Lied von Zion," ant- 
worteten sie: „wie sollten wir singen des Herm Lied im fremden 
Lando?" Die David-Salomonischen Tempelmolodien waren durch 
keine Notenzeich on fixirt. Als nach der Befreiung durch Cyrus der 
Tempol neu gebaut wurde und die Tempelmusik wiodor ortönte, 
konnte wohl dieselbe äussere Ausstattung der letztem mit Trom- 
])oten, Psalteru u. s. w. stattfinden, schwerlich waren es aber die un- 
veränderten alten Melodien. Von der babylonischen Gefangen- 
schail an nähern sich die Juden in vielen Sitten und Aeusserlich- 
keiten bei weitem mehr den andern Vttlkem. Die tyrannischen 
Reformyersnche eines Antiochns Epiphanes scheiterten freilieh an 
dem energischen Widerstande, den sie fanden. Aber der unmerk- 
liche Einfluss gjiechi'^cli -antiken Qeistes wirkte 80 sehr ein, dass 
griechische Sprache, Philosophie n. s. w. endlich entschieden F'uss 
fassten, dass sieh z. B. der Epikuräismus bei den Juden zum Saddu- 
oäismus gestaltete, dass bei d«*n Essäern pythagoräische Vorstel- 
lungen zu finden waren, dass der Hohepriester Alcimus, obwohl 
aus Aaron's Geschlecht stammend, daran denken konnte die Vor- 
höfe der Juden und der Heiden im Tempel durch Niederreissung 
der Maner an einem einsagen an Tereinigcn (159 t« Chr.), dass end- 
lich der prachtvolle Neubau des Tempels unter Herodes nicht mehr 
in dem alten phSnikischen Slyle, sondern in brillantem korintfai- 
sehen gesch.ah. Man darf also unbedenklich auch die hebrKische 
Musik als allmttlig der Knnk der übrigen d. h. der antik-hellenischen 
Welt ähnlich geworden annehmen. Der heilige ( 'hr^ sostomus sagt 
freilich: ,, David sang in Psalmen, wir singen noch heute mit 
David."-) Damit ist aber das Psalmonsingon Uberhauj)t, nicht aber 
das Anstimmen Davidischer, alterthümlicher Melodien gemeint^ 

1) Kiesewettor, Geschichte der europ.-abendländisolu'n ^fusik. 2. Aufl. 
S. 2. Der alte « hnstliche Schriftsteller, welcher versichert, dass die erxten 
Christen nicht lieliraisiren wollten, ist übrigens nicht, wie mau nach 
jenem Citate vermuthen kOnnte, ein Zeitgenosse det Olemens von Alex- 
andrit'ji, 'l'fi-tiilliaii, Justin u. s. w., sondern St. Thomas von Aquino, ge- 
boren 1220, gestorben 1274 Die Stelle steht in Summa II. 2 quaest. 
91 art. 2 in objed. 4. Bas Citat ist also nicht ganz fiberzeugend. 

. 2) T.iialU noTt iJaviä h ^mkf^^mi vi^Jwniv^nov n. s.w. 

(zu Paalm 145). 



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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 9 



denn Chiysostomiu fthrt fort: „David braiiehte di« Gither mit leb- 
losen Saiten, die Kirdie aiber brauchte eine Cither, deren Saiten 
lebendig sind; unsere Zungen sind diese Saiten, sie bringen Ter> 
schiedene Töne, aber eine einträchtige Liebe hervor/' ^) Die alte 
Davidisch-Salomonische Tempel musik erschien soprar als ein nur 
sehr unvollkommenes Vorbild der christlichen; ,,<l<'r (Icliriiuch der 
Instrumente," sairt der heil. Chrysostumus, ,,war den JikIimi damals 
wegen ihrer Schwäche gestattet, sie sollten dadurch zur Eintracht 
gestimmt werden" n. b. w. So viel wird angegeben werden 
können, daes die Apostel ihre GesXnge, wie a. B. den Lobgesang 
beim letaten Abendmahle, sicherlich nach den oft gehörten, ihnen 
allen gelKnfigen Psalmenmelodien anstimmten, and dass auch die 
erste Christengemeinde in Jerusalem zum Psalmengesange auf keinen 
Fall andere als die gewohnten Singweisen wird liaben hören lassen. 
So gut die Christen das spezifiscli jüdische Oster- und Pfingstfest 
(freilich zu höherer Bedeutung im Sinne der Erfüllung umgedeutet) 
feierten, so gut konnten sie unbedenklich jüdische Melodien zu 
Texten beibehalten, die ja dem Wortlaute nach unverändert her- 
übergenommen wurden. Aber wie wfiren nun diese Melodien an 
die rasch anfbltthenden ersten christlichen Gemeinden an Ephesos^ 
Korinth, Bom n. s. w. Ilbergegangen? Dnreh die Apostel schwer^ 
lieh, die als Sendboten des ewigen Wortes in alle Welt gingen, and 
nicht als Musiklehrer oder Sing^eister, und die vorläufig gana 
andere und höhere Sorgen hatten als eine christliche Kirchenmusik 
nach hebräischem Vorbilde zu organisiren. So unbefangen die 
Christen mit den Heiden aus demselben Brunnen tranken, die 
gleiche Anlage der ^V^)llnunJ^en u. s. w. nach wie vor beibehielten, 
weil alle diese Dinge mit Religion nichts zu schaffen haben, ebenso 
nnbefangen konnten sie ihre Art und Weise zu singen nach der all« 
gemeinen Sitte der Zeit und der allgemeinen mnsikalisehen Bildung 
regeln. G^egen die GesSnge Ton Jemsalem stachen bei der allge- 
mem gleichen Physiognomie der Kttnste in jener Zeit die Gesfinge 
der andern Gemeinden sicherlich so wenig ab, dass sie schwerlieh 
als ein Fremdes, Besonderes, nicht als ein Heidnisches im Gegen- 
satze zum Judischen auffielen. Ganz arglos nahm die christliche 
Kunst das Motiv des widdertragendeu liennes für das Bild des 
guten Hirten herüber, sie malte den mythiscben Ürj)lieus als Sym- 
bol Christi an die Decken der Katakombeukirchen, sie modelte die 
Sarkophage (wie z. B. jenen des Junios Bassns) nach dem Konst- 
geschmack heidnischer Sarkophage, sie fand die Gestalt der heidni- 
schen Kanf'^ nnd Gerichtshallen, der Basiliken, für die Bedtlrfiilsse 
des christlichen GU>ttesdien8te8 sehr branchbar nnd behielt die An- 
lage nnd sogar den Namen derselben beL P^dentlns dichtete in 



1) Zu Psalm 160. 

■ 



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10 Bie Anfüge der europäisch-abendländischen Musik. 



der Spraehe und Venart VugU'a. Es ist kdn Grund absniehen« 
warum bei dieser nnbedenklichen Benutsung d«r antiken Knnst- 
fonnen für christliche Zwecke gerade nur die ICusik hfitte nusge- 
Bcklossen bleiben sollen. Die ersten Christen konnten ach der 

geistigen Atmosphäre mid den Bil(ltinp:sf(»rnien , in welchen sie 
lebten nicht (Mit/,iolien ; und so Hiclicr os ist, das.s sie keine M(düdien 
verwendet haluMi, die nuin in den I rinjicln oder Tlieatcrn zu l>ör< i 
gewülint war, so sicher werden doch ihre tiesänge andererseits den 
Charakter antiker Melodiebildnng im Allgemeinen au sich getragen 
haben. Die Ansicht, als seien die ersten Christen aller Bildung 
fremd, eine Sehaar g^ter, ehrlicher, aber dnfiütiger roher Menschen 
gewesen, muss entschieden surttckgewiesen werden. Leute, an 
welche die geistreichen Briefe des Apostels Paulas gerichtet waren, 
für welche das Johannesevangelinm mit seinem philosophischen 
Ti«'fsinn bestimmt war, können auf keinen Fall ein solcher kläg- 
liclier Haufe eintaltigen Pöbels gewesen sein. Allerdings wurde 
das Evangelium zunächst den Armen im tieiste gepredigt (wo- 
runter al>er durchaus nicht Geistesarme zu verstehen sind), aller- 
dings begegnen wir auf altchristlichen Grabsteinen ortliographischeu 
Fehlem, die wohl annKchst dem yerfertigenden Handwerker inr 
Last fallen; aber wir wissen auch, dass Personen, die anf der Höhe 
der vollen Bildung ihrer Zeit standen, dem Ohristenthnme sieh an- 
wendeten. Oleich der erstbekelnte Tieide Cornelius gehört zu den 
gebildeten Klassen der Gesellschaft, und Patrizier, Ritter, Gelehrte, 
edle Frauen, selbst einzelne Mitglieder der kaiserliclien Familie 
waren eifrige Cliristen. Es genüge auf die Denker und Schritthteller 
der t'rsten cliristliclien .Jahrhunderte hinzuweisen oder auf den eigren- 
thUmlichen Geist und Reiz der ältesten Werke christlicher bilden- 
der Kunst, aus denen uns, wie der Anhauch eines kommenden 
Frühlings, ein belebender beseligender Athem anwehet. Die an- 
tiken Melodien waren femer sicherlich nicht so nneriiört schwierig, 
dass snr Möglichkeit sie nachsnsingen eine gani ansserordeniliohe 
Gelehrsamkeit und ganz besondere musikalische Bildung nOthig ge- 
wesen wKre. Die Tonartcnlelne, Kanonik, Semeiographie u. 8. w., 
womit die Musikgidehrten der antiken Welt sich und Andere plagten, 
waren für die praktischen Musiker sicherlich so wenig ein Stein des 
Anstosses, als es lieutzutuge etwa die weitläufigen und gelehrten 
Arbeiten eines Euler, Marpurg u. a. sind. Die antike Musik wurde 
von zalilldseu Musikern von Beruf, von zahllosen Dilettanten be- 
trieben. Unter den neubekehrten Christen gab es gans ohne Zweifel 
viele im Sinne ihrer Zeit und also auch musikalisch gebildete Leute. 
Fflr das Bedttrfiiiss des Volksgesanges wie der Hausmusik genfigte 
sicher die allgemeine Uebung und Bildung ^ ohne dass man Euklid 
und Aristoxenos dazu nöthig hatte. Am wenigsten ist die Idee 
haltbar, dass die ersten Christen gleich darauf ausgingen , eine 



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Die enten Zeiten dw dirifüichen Welt and KonsL 11 

neue, gegen die antike Kunst oppositionelle christliche Kunst zu 
Bcha^n. Wo eine echte Kunst sof echter Grundlage emporblUht, 
kann man unbedingt behaupten, lie sei geworden und nicht ge- 
macht, und nichts weniger als nach einem bewnssten ftberdachten 
Plane ontemommen und <lui-cligoftihrt. Der neue Geist baute seine 
Welt ans gegebenem Stoffe. Man darf von der Mnsik der 
ersten christlichen Zeiten annehmen: sie sei zu erst Vo 1 ks- 
gesang: gewesen, gegründet aufArt und Weise der gleich- 
zeitigen antiken Tonkun st, aber durchdrungen, gehoben 
und getragen vom neuen cliristlichen Geiste. 

Wie einst der Sieger über Tod und Hölle nach drei Tagen 
ans dem Dnnkel der GhrabeshShle ▼erkllM auferstanden war, so 
ging nach drei Jahrhunderten die Kirche ans dem Dnnkel der Ka- 
takomben, die Siegesüdine schwingend, henror. Constantin der 
Crrosse und seine Mutter Helena waren beflissen ihren Eifer durch 
den Bau mächtiger Basiliken zu bethätigen; ttber der Stelle des heil. 
Grabes zu Jemsalem erhob sich bald ein grossartiger Bau, ähnliche 
auch in Bethlehem, in Korn über dem Petrusgrabe und zu Ehren 
des heil. Kreuzes^). Die Basilika des Biscljofs Paulinus zu Tyrus 
aus dem Anfange des 4. Jahrhunderts wird von Eusebius als gross 
und prächtig beschrieben. Auch Ravenna, Byzanz u. s. w. wett- 
eiferten im Bau stattlicher Gotteshftuser. Die bildende Kunst, die 
schon die düsteren Katakombenrtttmie durch Wandmalereien erfreu- 
licher SU machen verstanden hatte, fand in den grossrVumigen An- 
lagen der Basiliken der weströmischen wie in den hohen Kuppel- 
bauten der oströmischen Städte ein weites Feld sich zu bethKtigen; 
bald zierten kolossale Mosaikbilder den sogenannten Triumphbogen, 
die Apsiden, ja die ganzen "Wandflächen. Sclinn in der Hälfte des 
5. Jahrhunderts vermochte es die neugeborene christliche Kunst in 
der Paulusbasilika vor dem Ostienser Thor bei Rom ein riesiges 
Bnistbild des Erlösers von hoher Majestät, und in dem Mosaik der 
Tribüne von St. Cosmas und Damian in Rom eine Christusgcstalt zu 
schaffen, welche an den wunderbarsten Oestalten altchristlicher 
Kunst gehört Die Bauwerke der folgenden Jahrhunderte ent- 
wickelten einen blendenden Prunk in Versehwendung einer kost- 
baren Ausstattung an Mosaiken, Edelsteinen, edeln Metallen. Der 
Gottesdienst erhielt eine reiche und künstlerische Ausstattung, 
neben welcher ein einfacher, kunstloser Naturgesang sich allzu änn- 
licli ausgenommeu hätte, Audi iiatte der Gottesdienst, ob in seinen 
(irundzügen vom Anfange an bis auf den heutigen Tag derselbe, 
allgemach bestinimteie und reichere rituelle Formen angenommen. 
Die wiederkehrende Gedächtnissfeier der Hanptmomente der hei 

1) Aus«it'rliall) Rom's gab es allerdings chri^Jtliclie Basiliken von 
höherem Alttr, z. B. zu Castellum Tingitanum im heutigen Algerien 
die Basilika des Reparsins t. J. 853. 



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12 



Die Anfinge der europäisch^abendländischen Maailc. 



ligen G^Bcbiclite oder mni Andenken geopferter Olanbenihelden 
gestaltete allmäli^ das Kirebei^ahr mit seinen Festen und Cere- 
monien. Hier konnte nWBt dem einzelnen GlUnbigen fli^rlich nicht 
mehr Uberlassen bleiben, wie er Gott im Opsan«fe nach dein Dran'^e 
seines frommon IToncons proison wolle: die Kirche musste aucli für 
die GesJiiige ein(^ bestimmte Norm, einen bestimmten Ritus vor- 
schreiben; es that Nüth eigene Sänger zur Verfügung zu haben, wel- 
chen jedesmal genau vorgeschrieben war und welche genau wussten, 
was und wie sie ma den gelieiligten Ceremonien an ringen haben. 
Sehon das Goncil von Laodicea im Jahre 867 verordnete: „es solle 
kein Anderer ta der Barehe singen als die dazu verordneten Sltnger 
von ihrer Tribüne"^). Diese Ausscheidung der Masse der andttch- 
tigen Oemeinde, welche darauf gewiesen war am Gottesdienste als 
Zuseliende, ZuhönMide, Empfangende Theil zu nehmen, sprach sich 
in der Einrichtung^ des Chores im Kirchengebäude aus, den oft 
Scliranken als einen eit:C<'uen Kaum abgrenzten, wie es noch jetzt 
in der alten Basilika von St. Clemens zu liom zu sehen ist, oder den 
ein durch Stufen erhöbeter Platz besonders hervorhob (St. Maria in 
Gosmedin n Born). Wie der Gemeinde das lehrende Wort ans den 
bdden an den Chorschranken angebrachten Ambonen vorgetragen 
worde, so tönten ihr die heiligen Oesinge ans dem Chorramne ent- 
gegen und vereinten sich mit der „Fülle der Gestalten", womit die 
bildende Kunst die Wände geschmttckt, und mit der einfach erha- 
benen Poesie der Ritualtexte zu einem Ganzen, in welchem auch 
die Macht der Künste zur Erwecknng jeuer Andacht im Geiste 
und in der Wahrheit diente, mit welcher der eine, wahre, geistige 
Gott angebetet sein w(dlte. Wie einst das antike Theater in 
seiner Blütezeit eine Vereinigung aller Künste zu dem bedeu- 
tendsten Zwecke bewirkt hatte, so sehlossen nun anek in der 
christliehen Kirche die Künste alle einen Bund und unter ihnen 
auch die Musik. Die Kirche bedurfte jetzt gebildeter SSnger; ge- 
regelter Unterricht und Uebung im Gesänge wurden unentbehr- 
lich. Schon zu Anfang des 4. Jahrliunderts errichtete Papst Syl- 
vester zu Rom eine Singschule. ,, Damals", erzählt Onophrius, „war 
die tägliche Psalmodie in allen Kirchen nicht gebräuchlich, denn 
den einzelnen Hasiiiken der Stadt waren die nöthigen Einkünfte zur 
pjrhaltung besonderer Sängercollegien nicht angewiesen. Es wurde 
also eine gemeinsame Siagschule für die Stadt gestiftet, und bei den 
Stationen, Prozessionen und an den einseinen Festtagen der Kirche 
kamen die Sfinger nun susammen und sangen die BitualgesSnge 
und festlichen Messen"^. Der Vorsteher hiess Brmieeruu oder 

1) Non oportere prseter oanoiiieo« eantores, qui ra^fgeitimi asoendnnt 
et ex mcmbrana legunt, aliquos alios canere in ecclena. Oonc Laodio. 
Oaa. XV. Diese Membrana enthielt die Rilualtexte. 

2) Gerbert, De mus. et cantu I. S. 35. Yergl. auch Forkel, ' Glesch, 
d. Musik 8. Bd. 8. 142 fg. und Gounemsker, TrvM sar Bnöbsld. 



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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 



13 



Drior acholae emdonm und war kraft seines Amtee eine angesehene 
Penon, der zweitnXchste Vorgesetzte Secundtcerims, Eine andere 
Singschule gründete, nach dem Zeugnisse der unter dem Namen de« 
Anastasius Biblinthecarius bekannten Biographie der älteren PSpste, 
Papst Hilarius im Jahre 350 i). Der Unterriclit begann schon im 
zarten Knabenalter; die Singeschulen wurden auch wohl geradezu 
Waiseiiliäuser (Orjthanotroj/hia) genannt^). In diesen öingscliulen 
8tclituu sich allem Anscheine nach jene Tonreihen fest, welche man 
mit demNameii der authentischen d. i. echten, ur.spriinglich von 
derKirehe aanetioniiten sn heieiehnen p liegt und welche nehst den 
etwa dreihundert Jahre spSter heigefllgten SeitentOnen oder plaga- 
lischen Tonarten das Fundament aller musikalischen Compositionen 
hu tief in das 17. Jahrhundert hin^ bildeten. Zur Zeit der Ent- 
stehung der authentischen Tonarten waren die antiken Traditio- 
nen noch in frischem Andenken; sie waren aber für die Bedürfnisse 
der Kirclie allzu verwickelt. Die Sänger waren mehr Diener der 
Kirche denn cigcntliclie Musiker, wie der ganze (iesang m»>br 
Gottesdienst als Musikjtroduktion '^j; es mussto eich also die Lehre 
auf das beschränken, was auch mittleren Talenten leicht zugänglich, 
sowie die üebung selbst auf das, was von gewöhnlichen Stimmen 
leicht aussnfllhren war. ICan nahm also aus der Beihe der antiken 

Octavengattungen die Scale d e f g a h e dtXi das Fundament alles 
Kirchengesanges herttber. Da indessen der Wunsch bei gewissen 
Gelegenheiten oder einzelnen Texten durch höhere, heller klingende 
Intonation eine charakteristische Wirkung hervorzubringen fühlbar 
werden mochte, und auch noch die nächsthöheren drei OctaTenreihen 
dem menschlichen Singorgan nichts Aussergewöhliches znmuthe- 
ten, so wurden aucli diese angenommen. Bei Fcstsetzting der Vier- 
zahl scheinen nur jiraktisclie Kücksichtnahmen im Sjiiele gewesen 
zu sein; ob nichteine symbolische, jener Zeit bei äiinlichen An- 
lassen geläufige Beziehung, etwa auf die vier Evangelisten, mit 
gemeint war, mag unentschieden bleiben; eine ausdrflcUiche 
Andeutung darüber findet sich wenigstens nicht. Sonach basirte 
sich Tom 4. Jahxhundeiie an der Kirchengesang auf Tier den 
alten griechischen Octayengattungen analoge Tonreihen: 

1) Gcrbcrt, a. a. O. T. 203. 

2) Anastasius in vita Sergii Ii. Foutif. : schola ouutorum, quae pridem 
orphanotrophium vocabatur. 

3) Sehr charakteristisch hebt diese Seite der heil. Hieronymus in 
seinem Briefe an die Eubcsier Cap, 5 aus: Audiant hoc adolescentuU, 
aadiant At quibus 2)8alUnai in ecdesia officium est: Deo non voce eed corde 
cantandum est, nec in tragoedorum moreraguttar et fauccs dulci medicamine 
colliniendas, ut in ecclesia theatrales modtUi audijuitur et (vuitira. sf.,1 in ti- 
more et in opere scientia scripturarum. Quamris sit lütquh (ut sulent ilU 
qmarare) »aa^vei^e«, li bona cpera habtierit dalcw <mid Deum can* 
Udor eßt. Sie etmtet fSfnts CkHgH, non vox canenH» sed verba pUweont, 



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14 



Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik. 



c d . . . . 1. authentische Tonart: autheitius protuB 

Q Ä H c d e . . . 2. „ „ „ deuterus 

F O A jTc d^. . 3. „ „ „ tritns 

GAHcdefg.i. 

Die Ueborlicfprunp;' schreibt diese Auswahl dem hoil. Ainbmsiug 
(starb 397) zu, er j;ilt für den eifreiitlichen Bo<rriiiider des Kirchen- 
presaiipres und nach ihm worden Jimh' vier Tonrcihen inspeniein als 
die Ambrosianischen Kirc hontöne bezeichnet, obfjleich es an 
einem direkten Zeugnisse für die Uiclitigkeit dieser Benennung 
fehlt!). Haillndiflehe Kirchengesang sUrnd damalB «af weit 
höherer Stufe als der Kirchengesang zu Rom. So erklärt es steh, 
dass gleich den Eigenheiten der Mailänder Singweise auch jene der 



1) In Fötis Biogr. univ. 1. Band S. 85 heisst es: Saint Ambroise noiis 
apprond dans unc lettre f» sa soeur (saiiitc IMarcclliiip) quil regia lui meme 
la tonalite et le mode d' ejLccution des psaumes, des tantinues et des h^nnet, 
qu'im y chantaU, et St. Aagustin dii «m t(>nnes pr^dt« qne oe fot suivant 
l'usa^e des «'t^lises d'Oricnt (Confess. IX. 7). Le systi^inr tonal adopte par 
8t. Ambroise fut donc celiii dos huit toiis du chaut de l'eglisc grccque doiit 
qnatre (le dorien, le phrj jzieu.le lydienct 1cmixolydien)(^taieniautlientiqueh, 
et quatro (rhypodorien, riiypoplin^nci), l'hypolydien et hypomizolydien) 
etai('ntappelt''Sj)la«jaux. TiU iihij»art deschaiif sdel'E^rliso j>Tee<nieftireiit aus'vj 
iiitruduits duus Tej^lise de Milau uvec leur niude d'exccutiou, c'cüt k dire avec 
leurs omementsqni entrafnaientavec eox Teniploide petita intenralle8(aeeiin- 
dum morem orientaUum partium, dit St. Augustin). Unter den Briefen des 
.St. Ambrosius finden sich nur zwei an seine Schwester: der eine handelt von 
der Auf'tindung der Leiber der hb. (ier%asiu8 und Protasius und enthält kein 
Wort von (Jesan^r; der ancU'ie (Buch V. Brief .'$3) erzählt den Streit wegen 
Herausgabe der Hasilic-a, und da licisst es w»irflieh: ('ireuinfiisi cnint nnlifes, 
qui basihcam custodiebaut. Cum fratribm psaltnoH in evclesiabwtUica minore 
diximu». DernAohsteSatefthrt fort: Seqnenti die lectus eitdemoretiber 
lob u. 8. w. Oic Stelle in den Bckonntnissi'n des heil. Augustin (IX. 7) lautet 
Vfill ständig also: Non lunge coeperat Mediohuiensis Kcdesia srenus lioc 
consolationis et exhortatiouis celcbrare, magno studio fratrum coueiueutium 
vocibus ei oordibus. Nimiram annuserat, aat nonmnlto ampliua, omn Jnatioa 
Valeiitiniaiii regispuori mater, liominem tuum Anibnisimn ]iersiM]iien-tur hae- 
resissuae causa, quaeiucrat sedurta ah Arianis. Exuubabat pia plebs in Ecele- 
sia, mori parata cumE]>i^et>p<) buo, servoiuo. Ibimatermea, anciUatna, solli- 
oitndinis et vigiliamm primas tencna, orationibus vivebat. Non adhuc frigidü 
a calore Spiritus tiii excitabamur tarnen civitateadtoiiitaat.|iietnrhata. Tunc 
hyumi et psahui ut cauerentur socuudum morem orieutalium partium, ne po- 
pmof moeroristaedio contabesceret, inttittttam eat, et ex illo in bodienram 
retentum, mullis juni ac paeue uinnibus gregibus tuis, et j>er cetera orl^is imi- 
tantibus. (Der folgende Abschnitt U handelt von dem Aunindcn der Leiber 
St. (Jervasiuü' und Protasius'.) Das heisst denn doch deutlich : man sang nach 
der Gewohnheit der orientalischen Kirche, wo man die Leute während 
der Vigilieii mit (iesanL' wacli und in der Stinnnuiig hielt (wie eine weiterhin 
citirte Stelle des heil. Basilius zeigen wird), uicht aber: man sang dieselben 
Hymnen und nach den Manieren der onentalitehen Kirdie. Wo hatte denn 
St. Ambro» währen<l jener wenigen Stunden der Blockade der Kirche Zeit 
gehabt, denLeuten in derüUle die fremden orientaliachenHymnenznlehren? 



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Die flcatan Zeitea der ehriatlidien Welt und Kwat 



15 



Mailändiüclieii Singschule boi deu andern Kirchen Beifall und 
NaeliAlimuug finden konnten.^ St. Augustiu, der Freond und glü- 
hende Bewunderer des heil. Amhrosios, brachte die MailSndische 
oder Amhrouenische Singweise in seine afrikanischen Kirchen. 

Mit den vier authentischen Tönen war die Diatemk, mit Aus- 
sehliessnng der ohnehin längst verschollenen Enarmonik und der 
unnatürlichen antiken Chromatik, als allein giltig und anwendbar 
anerkannt; obwohl nicht unwichtige Andeutungen vnrlicfjen, dass 
im Ambrosianischen Gesan^^e doch auch von clin>inatisirrii(l«'u 
llalbtonfolgen wenigstens» in allerlei Zierwt rk. (Jebraiu ii j^eniat ht 
worden sein soll-J. Da die Musiker der Folgezeit, welche zumal im 
frohen Mittelalter meist Mdnche und Geistliche waren, in der aus- 
schliesslichen Anwendung der diatonischen, innerhalb der ge- 

1) INfaii darf nicht anssor Acht lassen, dass der Antiphonengesanp in 
die abendländische Kirche auf anderem Wege als durch Anregung des 
heil. Ambrodns gelangte. Ton Antiochien am war er nämlich nach Con* 
stantinoju'l fj:t'dnin<,'eii, wo ihn im Jahre .*5!>H der heil, riirv^osf (•ums anord- 
nete. Von dort aus wurde er von Hilarius von Poitiers in seiner Kirche ein- 
geführt, und ob Papst Cftlcstin ihn für die röniiHche Kirche auf diesem Wege 
oder aber über Mailand erhalten habt , il t w* uigstens z\v< l. üiaft. l>iö 
niitt« lalti i liclirii Sclu-in^lfllcr füliron den ( n l>rauch ganz cnischi« ilni aiiCdie 
Auurduuug des heil. Ambrosius zurück. iSo sagt Aurelianus Keontensis, ein 
Mönch ans dem 9. Jahrhondert: Antiphons dioitur vox recipoca, eo quod a 
choris altematimcantctur: quiaHi i licet chorus, qui camincepitabalterochoro 
itenun eam cantandam suscipisit, iitiitan« in liocSeraiihini, de ijuibus scriptum 
est: Et claniabant alter ad altcruui: Sauctus, Sauctus, Sanctus Dominus Den« 
Sabaoth. Reperta ttutem ttuU primum a Graeds (d. i. in der orientalischen 
Kir< h( \ a <iuil)us et nf)niina sunipscnnit. A]>ti(l Laf'nios mit, ni niictur eontm 
beattHgimm exatitit Ambrobim MedioUmeiuns antivtcii aquu hunc muran hus- 
eepUmmU oeeidentalia eccUsia. Ecsponsoriaaatemab JroZt« primum reperta 
sunt — dicta auteaiReq>onBoria, eo quod uno «nmtante (moris enim fuit apud 
priscos a sinpT'ilis responsoria cani) rcliqni omncs eantanti resjxmderent. 

2) Felis (Biogr. univ. Artikel: St Ambroiso) behaui)tct, die EiKenhoit 
des Ajnbrosianisdien Oeaanges habe in der Anwendung von Halbtöncn 
and ehromatischen Ornamenten bestanden, wie sie in der griechischen 
Kirdie gebrftuchlich waren und noelt »'uu\ B. 

f:rst St. Gregor hal)e diese:Mauieren, als zu künstlieh beseititrt und die strenge 
Diatonik eingffülirt. Die Stelle ausüddo, die ercitirt, ist l>orück8ichtigiing8- 
wetih: Sanoti .lu. ..jue Ambro«ii,pcriti88imi inhacartc, Symphonia netiuacpiam 
ab hac disoordat regula (dem diatonischen, nach der Mensur th- IMmim»- 
r!i..r.l>i percfrellen (irs(-ldechte) , nisi in quibus eam tUmium delkutarum 
vocum pcrvertit luscivia (bei Cjcrl)crt Script. 1. Band 8. 275). Femer be- 
ruft sich FÄtis anf das Buch, welches auf Auft'ordorung des hed. Borromeus 
der Mailänder Priester CamUlus Pcrajn vt i lasst, dessen Beweiskraft, in- 
dessen fraglieh ist (La regola del cauto lenno ainbrosiauo. Mailand l'>--), 
und bemerkt: Sauf Vmage de» demi tim$ indi«iue par le 6-mol et le diöze, 
lefrequent emploi du mouvement descendant de quarie aux finales et le« 
intonations de la pr^faoe, on ne voit pas dens cet ouvragc ce <jui consUtuait 



16 



Die Auffinge der eoropäisch-abeiidlAiidiMliea Musik. 



InUigten Octmreimiheii voikommendeii Ttee nicht tlUbk ein Knnsfc- 
gttflets, Bondern auch eins tufdiUelie Ssbrang erblickten, so blieb 
die Anwendung der zufHlligen Erhtfbnngen der Töne aasgescbloBeen 
und wurde erst späterhin unter der Einwirkung der mitderweile 

entstandenen nudirstimmigen 8inp;inn8ik nur dort gestattet, wo 
sie sich als eine durchaus nicht abzuweisende Forderung des 
Ohres lierausstellte. Diese GeVjundenhcit bewalirto oline Zweifel 
die Musik davor, sich, noch ehe sie auf der einfachen diato- 
nischen Grundlage festen Öchrittcs wandeln gelernt, in's Ziellose 
zu veilanibn; andererseits aber wurde sie der Anlass zu harten 
KSmpfen und schwerer Mtthe, unter der sich zu Ende des 16. 
Jahrhunderte die Musik aus den einengenden Banden zu voller 
künstlerischer Flreiheit losrang. 

Im Sinne antiker Theorie angesehen, stellt jeder der vier 
authentischen Kirchentöne zwei neben einander gestellte getrennte 
Tetrachorde vor, von denen beim ersten, zweiten und vierten Ton 
durch das ti< trrc Ti'trachord nach der dreimal veränderten Stelle 
des llalhiitusi hriltcs zugleich die drei Gattungen von Quarten re- 
präsentirt werden. Beim dritten Ton ergibt sich der Missstand, dass 
im tieferen Tetrachord ein HalbtonadiritI gar nicht Torkommt, 
dasselbe folglich keine reine, sondern die aus drei ganzen Tönen 
bestehende ttbermMssige Quarte darstellt In dieser Tonreihe machte 
sich in der Quarte f — h jener von der ganzen mittelalterlichen 
Theorie so sehr gefiirchtete Tritonus geltend, mit dem sie nicht 
anders fertig zu werden wusste, als dass sie ihn völlig verbot, jenen 
musikalischen Teufel (diaholus in musica), zu dessen Ramiung es 
nöthig wurde, unter gewissi ii Umständen jene«; // um einen Ilalb- 
ton zu erniedrigen^). Franciiinus (jiafor «Twülint. dass die Ainbro- 
sianer den lydischeu Tun abwechselnd in den mixolydischen ver- 
wandeln, indem äe (in der Tonreihe von f) statt h Tielmehr 5 
singen^. Allerdings wird erst bei den Schriftsteilem des 11. Jahr- 



les differencea esaentieiUes entre les deux chauts. Im Grande macht das 
>>l()ss(^ Pünmischon von chromatischen Appoggiaturen u. dgl. einen im 
W esentlichen diatonischen Gesang noch nicht zum chromatischen. 

1) Post ditonnm «ose tritonus oflfortj duras, asper et insmabilis, ac, si 
fieri possit, repellendus semper. Qui quidem in tantum auris veterum vel 
offcnilitvel exterruit, ut nccessitatoni illisiinposueritomni solertiavestigandi, 
qua ratione, qua lege leniri possi ac tempcrari, netautcm auribus obstreperet. 
Inventnm est igitnr by qnod a soni lenitate moüe dioimiiB, qui sese Uli oppo- 
lu ns HO opportUTU' « Mncntihus ofTerons illius asperitatem atqne (hiriti«-tn 
miro tcTupernmeuto muiliret (Piero Arou, De harm. irnt. L 20 de tritono). 

2) Plerumque etiam alterna Lydiae et Mixol^diae modolationis oom- 
mntatione concentus rcdditor suavior quod jK^imnM AmUnro»iam nosfrt im 
ecclrfiui.<<ti<-is ohsermnt modk, quum qniTittiin ipsum et septimum commu- 
tatiouc h durau qualitatis iu b möllern tanquam diapcntes vel diatessaroii 
speoie oommixtos modnlsri soleni. ^us. pract. L f. Das Bach ist 14S6 
zu Mailsad gedruckt.) 



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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kuui. 



17 



bimdexts (Guido von Aresso n. a.) die anidxttekliche üntenchei- 
duDg dea randen nnd des eckigen b ß rtmtmdum nnd b quadrtm 
d. L 6 und }^ letsteres unser h) gemacht; aber factisch wird diese 
durch ^e unabweiBbareu Rücksichten des W<ili1klan<res und der 
Singbarkeit gebotene Unterscheidung schon in sehr früher Zeit ge- 
macht worden sein, bosiondcrs da die noch zu Zeiten des heiligen 
Ambrosius vollgültifje antike 'riu'<irio der Musik durdi die Anwen- 
liunj; des verbunileiu ii niid des jcetrcnnten Tetrachordes j;anz den- 
selben Unterscliiecl lii'(d)aolitete. lluebald von St. Amand, der zu 
den älttibtcu MusikscIiritUstc.Uern des Mittelalters gehiirt, bestimmt 
swar in den von ihm erfundenen verschiedenen Tonschriften keines- 
wegs verschiedene Zeichen für die Töne t( und 6, doch eiklKrt er die 
Differens zwischen beiden so deutlich als möglich, freilich aber 
nur indem er nach jener antiken Tetrach<»denlehre surflckgrcift^). 
Natürlicli konnte die Sache nur im dritten auf / basirten Kirchen- 
ton sich geltend machen, weil sich nur hier die widrige Kelation der 
übemi?fssip:en Quarte bemerkbar machte. Marchettus von Padua (zu 
Knde des Iii. und Anfaiif!^ des 14. JahrliundcrtH) p:ibt die Weisung, 
man solle im dritten authentischen Tone aufsteigend /t, abstei^rend h 
intoniren-;. Mit der Doppelgestalt der Quarte des dritten Kirchen- 
tones war aber die starre diatonische Consequenz gelu-ochen und wie 

1) Quodsi inseratur synennuenon tetraohordum, cujus locas est inter 
Mosen et Paramesen, tanc post Mesen loeabnntnr hae tret hoc ordine: 

Mese, Tritc synommeuon, Parnncte syneinmenon, Netc -synemmeiion. In 
quibus una tantum, hoc est trite syneininenon, diversum a superioribus 
obtinet 8onum. Nam pai-unctu syiiumiiienon eadem, qua tritu diezeug- 
meooD, resonabtt voce; nominibas enim tantom discrepant: sed propter 
hoc adscribuntur, quia quotiens nielum quodlibet ita coniponitur, ita ut 
post mesen semitouium, totius et totius (nämlich n^iü") iiant sursum 
rersus, eodemqne tenore per tonnm, tonum ei semitoninm usque ad ipsam 

mesen redoatur (das ist also nV^d f d*?^^), uecesse est ut suo nomine 
tetrachordo nunoopato dicatnr decorrere, quod vocatur synemmenont id 

est conjnnctuni, (juia cum nieso ]»cr s^cinitnuium juniritur. Quotiens vero 
post mesen toni inti-rvallo Uiilucto a juiramese tetrachordiua usquc in 

neteu diezeugmeuou provehitur (daa ist a 2| c d), alio ipsum tetraohordum 
oportet nomine appeuari, id est dieseugmenon, quod est disjunetum; quia 

inter mesen et paramt'^tm tnnu^^ 'b-*tuiitiam facit. (Hucbaldi INfusica bei 
Gerbert Scriptoresl. llt>.) J? ür Hucbald ist Proslambanomenos soviel als A, 
folglich Mese a Paramese il| Trite synemmenou b, Paranetc syuemmeuou und 

Tnim diezeugmenon c, Note synemmenou und Paraaete dieseugmenon 7 

3) Qoiutus tonus (der 3. autlient.) formatur in suo ascensu ex tertia 
qiKMSie diapente et tertia diatessaron superius, in descensu vero ox oadom 
specie diatessaron et ex cpiarta diapente i^Lucid. mus. planae Iii. 1-1 bei 
Oerbert Script. III. 110, III). Tinctoris (lib. de natnra et proprietate 
tonorum cap. 2. ) sajrt : I t auteni excitetur tritoni durities nccevsario ex 

Jiuarta specie diapente isti^ duo toni ^der 3. autbent. und 3. Plagalton) 
ormabnntar, neqne b moUis siguum apponi est necessarinm. Arou (della 
natura e co^j^nizione) bemerkt aber: dato che non sempre tal tuono (der 
3. authentische), si <li bbe cantare per detto b moUe ])erche sarebbe oontra 
agli versi dellu mcdiazioui di lor tuuui ordinati da gli autiühi. 
▲»ktos, acMklchto dw MMlk. IL 2 



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18 



Die Anfiing fl der europäisch-abendUndiachen Musik. 



in einer enten, weitesten Andeutung der Weg in fernerer künftiger 
Befrmnng angebahnt Durch Anwendung dor reinen Quarte im 
ersten Tetrachord des dritten Kirchentones erhielt derselbe ferner 
völlig die Beschaifenheit der natürlichen diatonischen Durskala. 

Hollten nun die vier Töne entschieden zur Geltung knimneii, 
so musst<Mi in den einzelnen aus ihnen ^^(ibildeten Ges;in«;en ilue 
charakteristischen Eifj^cuilieitcu bemerkbar wcrd en. Bei dem v erse- 
weisen Gesang und den dadurch von se Ibst entstehenden kurzen 
musikalischen Phrasen des Gesangs waren vorzüglich drei Punkte 
in beachten: Anfang, Mitte und Sehlossi). Diese drei Momente 
werden bm Bestimmung der Tropen, das ist gewisser auf die 
KirchentiSne gebauter Grund- und Hauptmelodien, in der That ans- 
drfteklich hervorgehoben und festgehalten (primtis, aecundus eie, 
tonus ffic incipüm'f sk mediatur et sie finitur). Das Natnrgemässe 
war, den CJesang vom Stammtone (d im ersten n. s. w. Kirchontone) 
oder auch von der Terz ausgehen zu lassen, die Mitte auf den wichtig- 
sten N('l)Cuton, die 'Vvsz oder Quinte mit Bentitzung der Zwischen- 
stufen zu leiten, und den Schluss beruh igend auf den ersten Ton 
zurückzuführen. Besonders die Schlussnote galt fUr sehr wichtig^. 
Als eine Eigenkeit des Ambrosianiseben Gesanges wird insgemein 
seine melodiscb-riiydimiscke Beschaffenheit hervorgehoben. Ist die 
Annahme richtig, dass der itaUenische Kirchengesang in dürftigster 
Wosemne Art monotoner Cantillation oder Recitation gewesen, so 
ist es begreiflich, dass der in feierlicher Gemessenheit volltönend 
strömende Auibrosianischo Gesang auf die Hörer eine tiefe und er- 
greifende Wirkung hervorbringen musste-'j. Das Zeugniss Guido'» 
von Arezzo, der den Ambrosianiseben Gesang wundersUss (per- 

1) Tiiicforis leitet sein (nach seiner beigesetzten Üatirung am No- 
vember lilG zu Neapel vollendetes) Buch de natura et propriotate tono- 
rom mit den Worten ein: Tonus nihil aliud est, qnod modus per quem 
prifieipium, medium et finis cujuslibet eantus ordiimtur. (^uem (}uidem 
tonum uouuuUi tropum id est converaionem vocant , eo quod per touos 
omnis cantus in diversas species convertatur. 

2) So sagt Ghndo von Aresso in seinem Mtorologns oap. U.: Finito 
(veno) cantu iiltirnae voci" moflnm ex ijraeteriti'* a]>erte cognOSOimUB. In- 
cupto euim cantu quid sequatur iguurus, liuitu autem quid praecesserit vides. 
Itaque finalis toz est, quam melius intnemur. — ~ Additur quoqae et illud, 
qiiod accurati cantus in finalem vocem maxime distinctiones mittant. Nec 
mirum est regulas musicam suinere a tinali voce, cum et in gramniaticae 
partibua artis pene ubique vim sensus in ultimis literis — — disceroimus. 

Ä fInaU itaqiie voce ad quintam in quolibet cantu jmta est dc- 

positio et mi'inr ad oi:tnrnf< rlfimtio. —- fJn-Jr et finafrs voces statucriint 
Df Ef Ff (jT. quia hia primum praedictam devatiotuim vd deposUioncm 
monoekortU potitio eommodaverit; haben* enim haee deortum umtm tehro' 
ehordum grainum, surmm vero dm acutarum. 

3) Railulph von Tongern (im Ii. .Talirh.) hebt es als Eigenheit des 
Ambrosianiüchou Gesanges hervor, dass dabei die Mediationcn plan, 
d. Ik ohne in Tersohiedene TOne (wie im spltoren Qregorianiaohen 
Qesange geschah) aussuweichen, gesungen wurden. 



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Die ersten Zelten der cbristlichen Welt ukd Kunst. 



19 



didtis) nennt, Ut freilich nicht viel ^icrtb, wenn man sich erinnoi-t, 
dasR er anch nn der „Weiclilit'it" von t^)uailcnparnll('l('n sein AVnlil- 
pcfallen hat. Er spricht von „nietrihchcn (u'siinjrcn", wclclie s«t pc- 
bimgen werden, wie man Ver^e se?unlirf ; nnd wenn er nun torltahri, 
das8 in den Gesängen de» heil. Anihro^ius die Kotengrupjie (Xinma) ' 
der Notengruppe, und der Abschuitt (disliudio) dem Abschnitte 
entspricht, so dnss eine Aefanlichkeit im Verschiedenen (smÜüuäo 
diasmüis) entsteht: so kann man, snmal nach den weiteren von Guido 
daraher gegehenen Erklärungen , darunter nnr eine su symmet- 
rischer Gliederung geetaltete I^Ielodie verstehen. Diese Melodien, 
unter denen wir uns doch wohl vorzugsweise eine von Ambrosius 
veranstaltete Anwendung bereits bekannter Gesänge zu denken 
haben, müssen noch durchaus einen der antiken Mclddic ver- 
wandten Zug gehabt haben, ohne doch mit ihr identisch hcisseu zu 
können. Bei der nahen Venvaiultscliat't der Anjbrohianisclien 
Melodie mit der antiken verdient auch die Versicherung Guido' s 
Glauben, dass sie wesentlich auf Metrik gebaut war, d. h. statt 
sich gleich dem spSteren Choral in gleich gemessenen Tönen sn 
bewegen, die Quantitit der Sylben unterschied. 

Die Kirchen im Orient hatten ihre eigene Singweise. Der 
Kirchenhistoriker Eusebius^) erzShlt von der Kirche in Cttsarea, 
dass, wenn einer einen Psalm zu singen anfing, der Clior der 
Gemeinde mit dem Schluhsvers volltönend einfiel: eine Manier, 
die auffallend an die alte ^'ortra•iw ei>^e der Pin<lar'schen Kpiiiikien 
mit dem Sohtgesang des Gliortuhrers und dem unter Kitliai klangen 
den SchlusB zu Ende singenden Chor erinnert. JSogar diese Kitharbe- 
gleitnng wurde beibehalten, denn der heil. Basilius -erzXhlt, dass, 
„wenn der Tag anbricht, alle die in der Kirche dieNaeht in Gebet und 
ThrXnen durchwacht haben, im Einklänge unter den Tönen der 
Kithare Gottes Lob anstimmen." Es war eben der heil. Basilius 
(starb 379) der Grosse, der für den orientalischen Kirchengesang un- 
gefähr Aehnliclies wirkte, wie der heil. Ambrosius für den occiden- 
talischen. Auch der Patriareh von Alexandria war in solchem 
Sinne eifrig bemüht. Ja es ist sogar bel»au]>tet worden, der heil. 
Ambrosius habe nicht allein die Art des (iesanges in seiner Afai- 
länder Kirche dem wesentlicli griechisch gebildeten Ostlande ent- 
nommen, sondern auch die vier authentischen Töne: eine Meinung, 
die durch den Umstand einiges Gewicht bekommt, dass diese vier 
Kirchentöne von altersher auch im Abendlande mit den griechi- 
schen Zahlworten protos, deuteros u. s. w. beseichnet wurden 

1) Hist. ccci. 11. IG. 

2) Forkcl (^(iesch. d. Mus. 2. Bd. 8. 1G3) meint: „man könne aus diesen 
Benennungen sug^eich einen neuen, vielleicht den allerstArksten Beweis 
hernehmen, dass überhaupt die Kirchentöue, nicht Mo.s die vier Ambrosia- 
nisöhen, sondern auch die übrigen vier, sie mOgen nun hinzugethan sein 



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20 



Die Anftnge der europäisch-abendUiiidiBchen Musik. 



Der bewegliche Geist der Grieehen, der fenrigc Sinn der 
Orientalen konnte eich im Zusammenstellen ritueller Uymnologie 
gar nicht genug thun. Daher denn in der orientalischen Kirche eine 
Monj^e Arten und Abarten «jeistlichen Singewesens aufkamen, bei 
denen aber freilich die Musik das Wenigste zu sagen hatte. Eine 
neue und sehr bestimmte Physiognomie, leider keine sehr erfreuliche, 
bekam der griechische Osten nach der Gründung des byzantinischen 
Kelches. Als dort der goldene Kaiserthron aufgerichtet wurde, 
flohen die letzten Genien des alten Hellas „nnd alles Schöne, alles 
Hohe nahmen sie mit fort** Zwar dauerte das hysantinisehe Beicb 
ein Jahrtausend lang; unter Justinian, in der Mitte des 6. Jahr» 
hnnderts, konnte der Zustand sogar glänzend heissen, aber, wie ein 
neuerer Schriftsteller mit Kecht bemerkt, es ^ar der Phosphorglanz 
der Verwesung.". Die by/fuitinischen Herrscher, umgeben von einer 
corrupten Schaar knechtischer Höflinge, suchten vor allem durch 
orientalisches (.'eremoniel und pninkenden Glanz zu imponiren, man 
kann sagen, dass sie es bedauerten, das Gold, von dem sie strahlten, 
nicht auch noch vergolden zu können. Das Volk von Constantinopel 
bot das Bild eines entarteten Pöbels; nur die Parteien in der Benn- 
bahn oder dogmatische Streitigkeiten, in die er sich unbemfen 
mengte, Tennoehten ihn m dnem dann allerdings iSmatisehen An- 
theil aufzuregen. Das Einiige, was in diesem T^eiche noch durct 
ideelle Macht wirken konnte, waren neben den kirchlichen Streitig- 
keiten eben jene Factionen des Circus; Theodora, die schamlose 
Tänzerin, welche durch ihre schlauen Künste zum Throne gelangte, 
wendete sich mit Erfolg an sie, und ein andermal enrn^te <las Volk 
um ihretwillen einen Aufstand. Von den Künsten fand allein die 
Architektur ein Feld sich in Ubertrieben prunkvollen Bauten zu 
bethXtigen ; meinte doch Jnstinian mit der Sophienkirche Salomo 
fibertroffbn su haben. Die Malerei durfte gar keinen eigenen Ge- 
danken haben, nichts aus innerem Antrieb schiUFen: ne stand unter 
der geisterdrUck enden Controle des Glems, der die Bilder nach 
einem unverbrüchlichen Gesetz (i9f<r^<rt?«a^) geschaffen wissen wollte. 
Die bildende Kunst erstarrte jetzt zu seelenlosen, stets mit skla- 
vischer Treue wiederholten Typen. Selbst die Religiosität im 
byzantinisclien Leben sieht mehr wie knechtisch zitternder Aber- 
glaube als wie die eelite, in Dank und Liebe anbetende Gottesfurcht 
aus. Auch das gemalte Kunstwerk (wenn man es so nennen darf) 
hatte kidnen Werth als ein Schttnes, Edles, Ideales, was es gar nicht 
war, sondern als Darstellung eines reUg^ös verehrten Gegenstandes« 
Ein Bild der „Pana^" konnte seine Verehrer mit einem gelben 
Lmchengesichte oder mit einem schwanbraunen ansehen, genug es 



yon wem sie wollen, griechischen Ursprunges waren*. Bei den Neugrie» 
eben heisien die authentiMhen TOne »v^to* «lro<< 



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Die ersten Zeiten der obriiUielieii Welt und Knnst 



31 



war ein Bild der Panagia und folp;lich heilig:. Ob Bilder als solclio 
Verehrung verdienten oder nicht, konnte den Streit mit den lk>»no- 
klasten bis zu fanatischer Wuth anfachen. Die Darstellniitr der 
Martyrien erjnng: sieh mit Wohlgefallen im Grausamen, Gräs.sli( lien 
und Blutdürstigen. Ein solches Reich, wu die Kunst zur Sklavin 
derPnmktaelit, siim AnsdnidLe geistiger beditaeliaft und in ihren 
Fonnen snr dfirren Mamie, wo das Ideale in gedankenlosem Prunk 
und sinnloser Verschwendung gesucht wird, wo das Erhabene durch 
ein umständliches Ceremoniel erreicht werden will , wo im Staate 
Knechtssinn, in der Kirche Aberglaube die bewegenden M&chte 
sind, kann den idealen KUnsten der Poesie und Musik keinen 
gfinstigen Boden des Gedeihens gewähren. Die Musik kam nicht 
eiimial iiiclir als Mittel sinnlicher Anregung in Verwendung, ob- 
gleich der Kaiser si iiie Spieler (Pägniota)^) hatte, die aber eigent- 
lich nur ein Trumpeterchor waren, um den Er<lengott mit Intraden 
zu begrüsscn oder anzukündigen. Dem purpurgeboreuen Herrscher 
genügte seine schwere goldstrahlende Pracht, gegen deren soliden 
Werth das luftige Spiel der TOne eitle Gaukelei schien. Was an 
Musik ertönte, wenn der Kaiser ansritt oder zur Kirche ging, Ter- 
diente kaum diesen Namen. Nach der Schilderung, die Codinus 
von der Einrichtung des byzantinischen Hofes gibt, wurde, wenn 
der Kaiser zum Ausreiten fertig zu Pferde sass, auf Trompeten, 
llfirnern (huccinae) und Pauken in ganz eigener Art gespielt: es 
klang, als flehe jemand um etwas, oder als leide er irgend ein Uebel, 
also kläglich und jammervoll. Das sollte eigentlich gar keine Musik 
sein, sondern ein Signal für Leute, die dem Kaiser mit Bitte oder 
Klage etwas yorsntragen gedachten. Jene PSgnioten des Kaisers 
bestanden ans Trompetern, HomblXsem (Bucdnisten), Pauken- 
schlSgem und Surullisten, also benannt nach einem nicht ntfher be- 
kannten Instrument Surullium. Kleinere Instrumente gab es 
dabei nicht, wie Codinus ausdrücklich bemerkt. Ging der Kaiser 
am Weihnachtsfeste zur Kirche, so stimmten die Sänger einen Ge- 
sang an: ,,Gott lasse deine H<'rrschaft lange wahren", wozu jene 
Instrumente ihre lärmend pomphaften Töne hören Hessen^). Der 
Patriareh Theophylaktos von Constantinopel brachte sogar weltliche 
Gesänge in die Kirche^). Schon Justinian, der eifrige Gesetzgeber, 

1) Pagnioten, wörtlich Spieler von »ait». 

2) Wer von den prahlerischen, hoffilrtlg devoten Kirch ongflngcm 
der byzantinischen Kaiser ein lebendiges Bild haben will, sehe das Mo- 
•sik ans St. Vitale in Ravenna, wo Justinian und Theodora mit ihrem 
Oefoii^'e zur Kirche gehen. 

3) G.Mir}^ Codrenus FTist. cap. 9, Teophylaktus war freilich der 
Mann dazu, sich aus der Kirche zu entfernen und den Gottesdienst hin- 
totsoscbieben, als er die Nachricht erhielt, dast eine arabische Lieblings- 
atute seinen Maratall mit einem Fohlen beschenkt habe. In diesem 
Harstali hielt der Patriarch mehrere hundert kostbar verpflegte Pferde. 



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22 



Die AnAoge der enropftiBch-ebendlindiachen Mnaik. 



warf sein Auge auch auf den in Verfall gekommeneu Kirchengesang, 
„Alle Oleriker, welche bei den einselnen Kirchen angesfcellt nnd,** 
yerordnet der Kaiser, „sollen nngeheissen die Nacht-, Keigen- nnd 
Ahendgesinge absingen, damit man nicht aus ihrem blossen Zehren 

an den KirchengUtem merke, dass sie Cleriker sind, wShrend sie 
iliro Pflicht beim Gottesdienste nicht erfüllen 1)." Dass ein solches 
Gesetz nothwendig wurde, ist ein Beweis, wie nachlässig, ohne Lust 
und Liebe der Kirchenn^esang in Byza'iz lH'tri»'ben wurde. Die 
Spuren der fonnjitioii alles byzantinischen r^ebciis zeigen sich aiuh 
hier in sehr cliaraktt ristischen Zügen. Theodctr Balsanion tadelt es, 
,,dass man die Keiheu der Sänger jetzt vollständig aus Eunuchen 
Busammensetze, was doch früher nicht geschehen sei^.'* Wenn aber 
Joannes Kameniates ersXhlt, „dass ein aahlreicher 8Sngerchor im 
festlichen Reigen die Augen der Schauenden ebenso sehr durch 
seine prlUshtige Kleidung, als ihre Ohren durch Psalmengesang 
eigötzte", nnd ntin trlumphirend furtHihrt: ,,wo ist dagegen nun 
jener fabelhafte Orpheus, wo die Mnsc Homcr's, wo sind die 
Lockuiiucn der Sirenen, jene Erfindungen der Lüge" n. a. w., 
so erkennen wir ein treues Bild des byzantinischen Lebens mit 
seinem die hohle Niclitigkeit gleisscMid überdeckenden Pnink. 

Einzelne byzantinische Kaiser wendeten allerdings der Musik 
eine Aufmerksamkeit zu, welche unter anderen Verhältnissen die 
Knnstsn fördern geeignet gewesen wäre. Theophilns (829 — 842) 
soll nicht alleinHymnen gedichtet, sondern sich auch in den Kirchen 
am Spielen musikalischer Instrumente persönlich betheiligt nnd den 
Oeistlicben 200 Pfund Silber angewiesen haben, damit sie sich 
in der Musik mit besserer Mnsse ausbilden könnten. Dem Michael 
Parapinacius (zu Ende des IL Jahrhunderts^ machte man sogar 
zum Vorwurf, dass eriiber den Musenknnsten die KegitM'ungsgeschäfte 
vernachlässige. Um 1150 stand der Sänger nnd Kitbarspieler Sa- 
motherus Logotlieta um seiner Kunst willen bei dem Kaiser 
Manuel in ganz besonderen Gnaden. Loo der Philosoph dich- 
tete Hymnen, welche der kaiserliche SXngerchor wXhrend der 
Tafel absang; die GXste standen dabei alle auf und sogen (wie 
das Buch des Porphyrogeneta über die Geremonien des byzan- 
tinischen Hofes berichtet) zum Zeichen des Respectes ihre Ober- 
kleider au8. Der Byzantinismus «eht wirklich wie ein in's Chi- 
nesische übersetztes Griechenthnm aus^). 

1) Omnes Cleriei per singulas ecelesiss oonttitati per ae ipsos 

psaUant nocturna et matutina et vespertina, nee ex sola ecclosiasticarum 
rerom consumtione cleriei appareaut, nomen quidem habeutes clericorum. 
rem autem non implentet clerid droa liturgiam Bomini Bei (Lib. I, 
Cod. tit. 3. de episcopis et clericis §. 10.) 

2) Nomocan, Tit. T. cap. 11 in can. 4 Synod. 7. 

d) Herr Prof. Müller von Pavia, der in der k. k. Hotbibliuthek zu Wien 
vide Hoaderte bysantinisoher itaatlicher und kirchlicher Verordnungen 



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Die ersten Zeiten der ohristlichen Welt und Kunit. 



Für „üebeiliefenuig der bildenden und banenden Kttnste 
gab es** sagt E. Förster in seiner Oeschichte der dentseben 
Kanst, tfSwei Quellen, neben der Kunst in Italien nocb die 
im bysantinisehen Keiche'^^). Die Skizze byzantinischen Le- 
bens, die wir zu geben versucht, lässt einen Blick in die ür- 
saclion thun, warum dort die Tonkunst nicht gedieh, vielmehr 
ihre antiken Traditionen nur ein gespensterliaftes Schattenlebeu 
fiihrtcn^), obschon das Keich mit seiner Pracht und Herrlichkeit 
erst 145^ vor dem Türkeusultau Mohammed II. zusammenbrach. 
Italien aber wurde schon vom Beginn des 5. Jahrhunderts an 
▼on den Ztlgen nnd Kflmpfen der Ydlkerwandernng heimgesucht. 

Es kam die Zeit, dass ein reinigender Sttinn Uber cUe Welt 
dahingehen, dass dem cultivirten aber entarteten SUden rohe aber 
gesunde Elemente von Norden her sich vermischen sollten, dass die 
Völker aus ihren Wohnsitzen aufgeschreckt und verdrängt sich 
andere Stätten suchten und dass maimi<x^achsto neue Combinationen 
ans ihrem Zusammentrefien hervorgingen. In jenen Uebergangs- 
zeiten. wo es in Frage gestellt war, ob die Meuschlieit hinfort ein 
wüster Barbarenhaut'e bleiben, oder ob eine neue, verjüngte Mensch- 
heit als Pflegerin des Guten, Wahren und Schönen hervorkommen 
werde, war es die Kirche, in deren Asyl sich jene heiligen Besits- 
thflmer des menschlichen Geistes flüchteten. Die Ueberliefemng, 
wie jenw grosse Papst Leo dem blutigen Manne, der sieh die Geissei 
Gottes nannte, kühn entgegentrat und der Verwtlster sich vor dem 
wehrlosen Greise beugte, mag ein Bild der ganzen Epoche heissen. 
Die Kirche trat den Völkern lehrend, mahnend, abwehrend, 
Sitte und Bildung bietend entge^'en, und sie beugten sich und 
nahmen das Geschenk mit dankender Ehrfurcht an. Jetzt mischten 
sich die Elemente zu der künftigen neuen, romantischen Kunst. 

n.t. w. ans den alten Handsdyriften oopirt hat, Tenieherte auf meinBefragen, 

dass von Musik darin nirKonds auch nur eine Erwühinnig' vorkomme. Ich 
habe mir fast zur Aufgalie gemacht, alle möglichen Werke hyzantinischcr 
Malerei an Tafelgemälden und Mosaiken, die mir je irgendwo vorge- 
koiiiiiien (and es ist deren eine enorme Menge!) zu durchforschen, ob 
irgendwo eine DarBtellnnf; singender Engel, musikalischer Instrumente 
u. dgl. zu finden sei. Nir|{eudB auch nur eine Hyxiv. in der Brera zu 
Mailand findet sich allerdm^ unter der Beseiöhnung Seuola greca ein 
Gemälde, eine Krönung Mana*S| wozu ein üheraus stark besetztes Engcl- 
orchester aufspieh: zwei Portativorgeln, Lauten, Psalter, Harfen, Blas- 
instrumente, iunihourins. Aber das Bild ist sicher nicht byzantinisch 
(ßAom die Composition zeigt et), sondern nur byzantinisirend, von irgend 
einem italieni^ihrn Künstler gemalt, wie ja auch die alte Schule von 
Otrauto sich wesentlich byzantinisch gebildet hatte, und noch Andrea 
Tafi, Jacob Tnrrita bis auf Cimabne dem Style der Bysantiner folgten. 

1) 1. Bd. S. ». 

2) ^Ihh sehe Kiesewetter's Musik der Ncujyriechen ; Korkers Gesch. 
der Musxk. 1. Bd. 8. 443 fg.; auch Bumey 2. Bd. S. 47 fg. In der 
Mnsik der Neogriechen leben noch bysantinisohe Traditionen. 



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24 Die ABl^nge der earop&isch-abendlftQdiflcheii Musik. 



Die nordischen Völker hatten ihre Lust am Gesänge. ESn 

Volk, das unter seinen Göttern einen Gott der Biehtnng kennt, 

jenen Braga, in dessen Händen die Harfe liegt und welchem Idnna, 
die Wahrerin der unsterblich machenden goldenen Aepfel, vermählt 
ist, wusste den Zau])errei7 der Dichtung im geordneten Worte wie 
in poorduc'teu Tönen wnhl zu erkennen, und in der sinnigen Klang- 
Bpieleri'i des Stabreimes, wie in den Hpäteren gereimten Verse- 
schlüssen, liegt entschieden ein gewisses musikalisches Element. Für 
die Germanen waren alte Lieder die einzigen Urkunden und Ge- 
sehichtsdenkmale, in denen sie den erdgeborenen Thnisko und 
seinen Sohn Mannns als Stifter ihres Geschlechtes besangen i). 
Tacitos erwähnt aneh eines an seiner Ztat bei den „barbarischen 
Nationen" allgemein gesungenen Hemnannliedcs. Die Weise dieser 
nralten Heldenlieder klingt nach in dem urkräftigen Liede, wie die 
gewaltigen Recken Hiltcbrant und Hadhubrant, Vater und Sohn, im 
Zweikampfe zusammenstiessen, nach Feussner's Annahme um das 
Jahr 700 gedichtet. In Zeiten, wo Dichtungen solcher Art ent- 
stehen, tönet was gedichtet wird im Gesänge vom Munde des 
Dichters. Solche Lieder wurden bei den nordischen Völkern mit 
der Harfe begleitet, wie Venantins Fortunatas , Bisehof an Poitieni 
au Anfang des 7. Jahihnnderts, ausdrücklich erwidint'). Hatten die 
Römer sich in Deutschland festsetzen, aber den fireiheittrotsigen 
Mfinnem ihre Cultur nicht aufzwingen können, so glückte es besser 
bei dem celtischen Nachbarvolko der Gallier, welche in ihrer Halb- 
cultur gleichwohl weit mehr den Eindruck von Barbaren machen, 
als die ganz uncultivirten Germanen. Ursprünglich hatten die Gal- 
lier gleich den Germanen ilire Barden, welche zur Harte Helden- 
lieder sangen, sie feuerten sich mit Gesängen zum Kampfe an und 
Hessen rauhe, starktönende Horner dazu ertönen. Nachdem Casar 
das Land der Bömerherrschaft unterworfen, mischten sich römische 
Sit jfi und Bildung mit den alten Gewohnhdten. Mit dem rOmlschen 
Wesen, mit dem Opferdienst und dem Theater kam ohne allen 
Zweifel auch die spedfisch rttmische, d. h. die antike Mudk nach 
Gallien. Ein überaus merkwürdiger Fund wurde neuerlich in Arles 
an zwei antik geformten Sarkophagen aus dem 6. oder 7. Jahr- 
hunderte gemacht, auf denen pneumatische Orgeln abgebildet sind^), 
so dass sich also die Kenntniss dieses Instrumentes im Abendlande 
nicht wie man bisher annahm, aus den Zeiten Pipin's datirt. Unter 
den Keliefs des Fussgestells des von Thcodosius auf dem jetzt 
Almeidau geheisseneu Platze zu Constantinopel aufgestellten 
Obeliskes findet sich auch die Abbildung iweier kleiner pneu- 

1) Taciti Germania 2. 

2) Sola bombaicns barbaros leados harba relidebat (in der Epistel 
Ton wegpr Ton Tom. Z Poemal) Lmidi sind die Idedsr* 

lutgetfaeat Ton Ooossemaker im TnäA snr Hucbald, 



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Die ersten Zeiten der ohriatlichen Welt and Kunst. 



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naiisclier Orgeln mh ihren Spielern und Bllgetretem l). Es 
kann nickt befremden, wenn die Börner das beUebte Insfcniment 

Mck in die westlichen Provinzen mitnahmen. 

Mit dem Christcnthume, das sehr bald auch in Gallien Ein« 
gang fand, verbreitete sich dort auch der Ambrosianische Kirchen- 
gesang vorzugsweise durch die Bemühungen C4regor'8 von Tours. 

Dem keltischen Stamme gehörten auch die Bewohner des von 
Gallien durch einen nicht bedeutenden Meereskanal getrennten Bri- 
tanniens. Bei den Bewohnern des britischen Welschlandes, welche 
ikre alten Sitten bis tief in die chiistlieke Zeit kinein bdbekielten, 
ja bis anf den kentigen Tag EigentkOmlickkeiten seigen, eikielten 
nek die Barden als Pfleger einer originellen Poesie und mnsikali- 
scken Beeitadon in besonderem Ansehen. Jones glaubt die An- 
regungen SU diesem in seinem natnrwUcbsigen, wilden, tüchtigen 
"Wesen eigenthiimlich anziehenden SSngerthume in den wildroman- 
tischen Schönlieiten der welschen Gebir;re suchen zu sollen*). Die 
Sänger waren die Bosahrer und Verkiindiger des Nacliruhmes edler 
Helden, ilir Gesang die Zierde der Königshöfe. Im Leben des heil. 
Kieranus wird berichtet, „dass König Angus von Munster (um 490 
Ckr.) TOrtrelHieke HarliBasehliiger katte, weleke vor ikm die 
Tkaten der Helden in sfissklingenden Liedern sor Harfe sangen*'*). 
Bobert of Bronne lobt es an den sokottiseken Ifinstrels Tkomas of 
Ereeldonne und Kendel, dass rie nur vor Adligen und Vornehmen 
(pride and nobleye) sangen. Das Ansehen, in welchem die kelti- 
schen Barden, die Hofdichter (Priveirz, Penceirzion) standen, war 
also, wie begreiflich, selir bedeutend. Wie gross ihr EinÜnss auf 
das Volk war, zeigt sdioii der Umstand, dass E(hiard 1. von Eng- 
land, als er sich 1284 Wales endlieh völlig unterworfen hatte, zu 
dem grausamen Mittel griff, sämmtliche Säuger und Harfenspieler 
kinrickten an lassen. Naek dem kymriscken Worte Llais, welekes 
so viel bedeutet als Stimme, Ton oder Oesang, kiess im Gäliscken 
nnd Ersiecken Lied oder Oesang Laoidk, Laidk oder Laoi, ein Wort, 
das als Xey in das Angelsädisische, als Lay in^s Mittelengliscke 
überging, noch zur Zeit der Troubadours nnd Minstreis in der Form 
Lai 'Plural Lais oder Laiz) in Anwendung war nnd als Leicli in's 
Miftt Ihoclideutsche aufgenuinmen wurde, ja selbst den Formen des 
frotliischen liuthon, des altnordischen liodli , des althoch<leutschen 
liod, des mittelhochdeutscheu liet und dem jetzt gebräuchlichen 



1) Die Abbildung sehe mau in dem Fraohtwerke: Le moyen &ge et 
la renaissance. 

S) Wer sich «gründlich zu belehren wünscht, mag das Buch von B. 
Joue<9, Musical aud poetical ndik^ of the Wclsh Bards zur Hand nehmen. 

3) Hegern Momoniae Augusium citharistis habuisse optimos, qui 
dikiter ooram. eo acta keroom in carmine citharizantcs csnebaot (oitirt 
kl Traniact. of tke Irisk aeademy Bd. XVL Tk. L S. 835). 



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Die Anfiknge der europäisch-abendländischen Musik. 



Worte Lied verwandt erscheint i). Noch cur Blfitesdt des Tron* 
ba(loiirLM>sanges waren die bretonieclien Lftis gaas besonderB beliebt 
lind sclu'inen eine eijr<MU' Unterart der ganzen Gattung gebildet an 
haben: „les saft/s de ih,iis hiis de bretoiis^), un lai en firent Ii 
Bretun" und andere älmlic lic \\'eii(liuijren sind den Dichtern jener 
Zeit sehr j^eläulig. ,, Durch die .Ton<;hMirs," sag;t Ferdinand Wolf, 
tfWurdeu diese bretonischen, norniandischen und auglo-nonnandi- 
schen Volkslieder und Volksweisen, lais, weithin verbreitet, und 
vonEfiglieh scheineii die ersteren so beliebt geworden sn sein, dasa 
we selbst bei den Heistern der höfischen Kunst, den Tronbadonra, 
Eingang fanden, wie daraus erbellt, daes sie bretoniscbe Weisen 
ihren eigenen Spielleuten empfahlen" 3). Auch die Schotten 
waren Gesangesfreunde und ihre (allerdings weit später entstan- 
denen) noch jetzt gangbaren Volksmelodien gehören zn den 
schönsten Blüten des Volksgesanges. Sonderbar und eigen ist 
es, dnsB die alte gälische Skala gleich der alten chinesischen 
der Quarte und der Septime entbehrte. 

Von einer wirklichen Tonkunst dieser Völker der NordhIÜfte 
Enropa's, von einer „Mnsik bei den Oermanen, Galliern** o. a. w. 
kann nicht die Bede sein^). Was wir von ihren Liedern, ihrer 
Freude an Dichtung und Gesang durch Ueberlieferung wissen, be- 
weist eben nur das Vorhandensein einer Anlage zur Knnst, nicht 
schon der Kunst selbst. Wo hätte diese auch eine Stätte finden 
sollen in einem Lande, wie damals Deutschland war, voll Wälder 
und Sümpfe, unter rauhem Himmel, dessen Bewohner dem Zu- 
samnuMdeben in Städten feind in einzelnen Gehöften hausten, dessen 
Männer in Krieg und Jagd ihre Beschäftigung fanden und ausser- 
dem ihre Tage in träger Kuhe hinlebten, oder die Zeit in der Auf- 
regung des Trunkes und Würfelspieles hinter sich braehten? Aber 
diese blonden Biesen mit den unwirsch blickenden blauen Augen 
waren sittenrein, Menschen voll frischer Urkraft «nea tfichtigeB 
A'olkscharakters, gmndehrlich, goldtreu, ▼oll Ehiftircht Air das 
Heilige und trotz der rauhen Aussenseite von gp'osser Gemttths- 
tiefe, die sich in einzelnen zarten Zügen, wie ihre Achtung vor den 
Frauen, äusserte. Ihnen gegenül)er stand die Cultur der antiken 
Welt, entartet in ihrer \'erteinenmg , fast ruchlos in ihrer En^- 
artung, ausgelebt in ihrer Kuchlosif:keit. in ihrer Ausgelebtlieit un- 
ttihig neue lebenskräftige BlUteu /u treiben. Sic brach vor dem 
Andränge zusammen, und wohl mag man in Christophoms, dem 

1) Ich entnehme diese Deductiun dem vortrefllicheu Buche von Fer- 
dinand Wolf: Ueber die Lais (S. 8. und 157). 

3) Aus Ii fablel dau dieu d'smoors, bei Wolf & 6. 

8) A. a. O. S. 10. 

4) Ich nehme daher Umgang von einer „Musik bei den Galliern, bei 
den Britanniem" u.s.w. also umstindlich su Inndeln, wie Forkel im 2. Bd. 
seines Werkes thut. 



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Die ersten Zeiten der diritüiclien Welt und Konrt. 



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gemttthlichen Riesen, der das Christuskind dnrch die stttrmenden 
Meereaflathen gUicklicli auf seinen Bchiiltera hindurchrettet und 
dann treohetsig meint: „das sei ein schwer' 8tttck Arheit gewesen'*, 
das Sinnbild der Germanen erblicken. Mit dem Chxistenthnme Über- 
kamen sie auch Bildung und mit der Bildung die Künste, von Musik 
insbesondere den Kirchengesang. Das war aber kein einfaches Hin- 
nehmen und nachnlnnondes Fortsetzen iiiitiker Kunst. Dazu hatten 
die ungeschlachten Lehrlinge zu wenig Anstelligkeit und zu viel 
eigene und eigenthinnliche, einstweilen Ireilich noch latente Kunst- 
aulage in sich, die sich dereinst in ihrer besonderen Weise betliätigen 
sollte. Es macht einen fast humoristischen Eindruck, wenn wir beim 
Diacon Johannes im Leben des heil. Ghregor lesen, wie die Alle- 
mannen nnd Gallier sich Tergeblich anstrengten den römischen 
Kirchengesang ansanfilhren, wie ihre nngefllgigen Kehlen, nnfthig 
die Feinheiten einer Melodie hervorzubringen, nur ein rauhes, don- 
nerndes Gebrüll und Töne hören liessen, welche dem Gepolter eines 
bergabrollenden Lastwagens glichen. Aber es war ein eigenthüm- 
licli tiefsinniger Zng in diesen Barburen, und aus diesem Zuge ist 
die roniantisclie Kunst aufgel)lülit und vor allem die roman- 
tischeste der Künste, die Musik. Die gothische Baukunst und die 
musikuiische rdyphouie (zwei verwandte Manifestationen dersel- 
ben Kanatanlage im entgegengesetrtesten Stoffe, im hart>mate- 
liellen Stein und in der unkörperlichea Schallwelle) sollten 
durch ne entstehen. Anch ihre nationalen musikalischen Instra- 
mente erscheinen wie eine erste entfernte Ankündigung der Be- 
deutung, au welcher die Tonkunst einst bei ihnen gelangen 
sollte. Den antiken Lyren und Doppelpfeifen hat die Musik des 
christlichen Europas gar nichts zu danken; aber von den Geigen 
und Ilarfen der Barbaren führt allerdings ein wenn auch weiter 
Weg bis zu den Wundern unserer Instrumentalmusik. 

Das Instrunieat der nordischen Skalden, der deutschen und 
gallischen Barden, der britischen Sänger war die Harfe i). Das 
fiteste Denkmal, das wir darttber beritaen, ist eine als Reliquie auf- 
bewahrte irische Harfe im Trinity-GoUege su Dublin, daneben gut 
geselchnete Abbildungen in einem aus dem 8. Jahrhundert her- 
rührenden Manuscripte des Klosters St. Blasien. Die britische Harfe 
erscheint hier unter dem Namen cythara anglica. Ihr Name war im 
Gälischen und Irisobi-ti Cruit oder Clarsach, die WSlsen nannten sie 
Telyn ; ähnlich klang ihr Name im T?r<'tonischen, wo sie T^len hiess. 
Sie galt den spätrömischen Sclirittstellcrn für ein specifisch barba- 
risches Instrument im Gegensatze zur antiken J^yra-). Sie war den 

1) Uawkins (Uisi. of Mus. 2. Bd. S. 272) sagt: of instrumenta in com- 
mon use, it is indispotable that the triangutar harp is by fiir of the greateit 
antiqni^. 

z) Es genüge die bekannte Stelle des Venautius Fortunatus (lib. YIL 
cam. 8. ad Lupum ducem) in's Ged&ditniss surfickzurufen: 



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Die Anfiknge der europ&isch-abendl&ndischen Musik. 



heutigen einfaehenSpitsharfen sehr timlieli, mit einem SchaUknaten, 

Vorderholze nnd schrüg gespannten Saiten versehen nnd stets anf 
die Triangelform basirt, wenn aach Ober ini'l Vorderhols snweilen 
geschwungen war nnd eine Biegung (meist nach anssen) machte. 
Diesr Harfen waren von mSssiger Grösse (wie sieb aus Abbildungen 
scbliessen lässt, wn sie ein Spieler in Händen hat) und leiclit trag- 
bar. I^ei (1(11 ( lastnialilcn der Angeltiachsen reichte zuw eilen ein Gast 
dein alldem das Instrument, der dann dazu ein Lied sang, ähulich 
der griechischen Sitte, der Skolien. Biese gesellige Pflicht traf alle 
QVste naeh derBeihe^). Eine Harfe mnsste Jeder besitasen ; dem GlSn« 
biger war es yerwehrt die Harfe seines Schuldners zu pfänden. Ge- 
spielt wurde bald mit der blossen Hand, bald mit einer Art Pleo- 
trum; die Saiten waren bald Darm- bald Drathsaiten^). Eine sehr 
kleine Abart der Harfe in Form eines gleichseitigen Triangels, quer 
mit Saiten bespannt nnd mit dem Plectrum gespielt, kommt auf 
einem angelsächsiseheiiManuscript des 12, Jahrhunderts vor; sie wird 
von den alten Schriltstellern als Cithara barliara^) oder auch als 
Psalterium^) bezeichnet. Die sogentannte ('ytiiara teutonica, wovon 
das Manuscript von St. Blasien gleichfalls Abbildungen enthält und 
welche nach dem Namen an sehliessen, die Torzugsweise in den 
deutschen Gauen gebrttuchliche Abart der Harfenform gewesen sein 
mnss, nähert sich mehr der Lyra als der eigentlichen Harfe. In der 
einen roheren Gestalt ist das Instrument ein viereckiges, lingliehea 



Sed pro me roliqui laudes tibi reddere certent 

£t qua qui8(iue valet, te prece, voce sonet; 
Roman usque lyra, plaudat tibi Barbarus harpa, 
Graeciß Achilliaca, Chrotta Brittanna canat. 
Ferdinand Wolf (Ueher die Lais S. 58) bemerkt dazu: Lassen sich dann 
nicht schau die Lais de harpe et de rote des Wace, der Marie de France 
Q. A. crtcennen? 

1) Nonnunquam in convivio, cum esset laetitiae causa, ut onmea can« 
tare deberent, ille, ut adpropinquare sihi citharam cernebat, mirj?ebat a 
media coena. Beda IV. 24. Die äusserst interessante Schilderung eines 
solchen Wechselgesanges der Oiste rar Harfe findet'ridi im roman du roi 
Horn, wo es dann heilst : 

a Guter eu aurtis fu la harpe baill^e 

E del lai qu'il fist tu la note esoot^e 

Loez l'unt qnant il vint jeke U la finee 

Tut en reng m aprh fn la harpe liverh. 

A chescunpur karper fu la harpe commandie 

CAeseiMW % harpa f Tileins seit quil devtel 

En cet fois !t}trenf tuit harpe bien manirr 

Cum plus ert curleis hoin, tant plus Hol da mesUcr etc. 

2) Armstrong vermuthet, die Harfe mit Darmsaiten habe Cruit, jene 
mit Metall«aiten Clarsach geheissen. 

:i) Kst auteni similitudo cytharae barbaricae m modum deUae lUerae, 
Qerbert, Script. I. 2a. 

4) Uanoscript des 18. Jahrhunderts, au Tergleidien bei Ooussemaker 
a. a. 0. 



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Die enten Zeiten der duistlidien Welt und Eonst 



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Biet, in seiner obem HXlfte tu einem Kähmen ausgeseiinitten. 
Unten sind fünf Seiten halter, yQllig Jenen der Geige gleichend, an- 
gebracht nnd an jedem dayon nnd wieder vier Saiten gespannt, die 

am anderen Ende am obern Theile des Bahmens befestigt er- 
schciuen^). In etwas ausgebildeterer Form gleicht das Tiistni- 
ment dem Corpus einer Guitarrc oline Hals, die obere Hälfte rah- 
menartig von leicht geschwungenen Armen gebildet nnd von cincni 
einzigen Saitenhalter aus sieben Saiten föcherförmig gespannt -'). 

Noch weit wichtiger als die nordischen Harfen waren fiir die 
Musik jene Gcigcuinstrumente, welche bei Venantius Fortuuatus 
nnter dem Namen Crotta Torkommen und den keltischen Volks- 
stSmmen eigen waren. Der kyrnrisehe Name lautete Crwth, die 
Angelsachsen nannten das Instmment Cmdh, gadhelisch hiess es 
cruit, englisdi crowth. Es ist im Wesentlichen dasselbe Instroment, 
welches von den Schriftstellern des Mittelalters als Kota oder 
Rotte so oft erwähnt wird, wie denn der Name Rotta offenbar 
aus der keltisclien Benennung Crowd entstanden ist. Allerdings 
wurde allmJilig die keltische Urfnnn des Instrument e> inuditizirt, 
handlicher gemacht, nnd jo w eiter, desto ähnlicher wurde die Hotte 
unserer Viola und Violine, oder vielmehr sie gestaltete sich all- 
mälig an diesen Instrumenten nm. Die nordischen Geigeninstrumente 
sind also unbestreitbar die Ahnen der Saiteninstrumente unseres Or- ^ 
chesters, dieser TrXger des edelsten Ausdrucks der Instrumental« 
musik. Das siutenbexogene Geigeninstrument wurde im SpKtlatein 
nach dem Worte fides (Saite) fidnla oder vidula genannt, identisch 
mit dem in's Deutsche Ubergegangenen videle (wie z. B. im Nibe- 
lungenlied Volker's Instrument genannt wird) oder mit dem noch 
jetzt populären ,, Fidel". So sagt Constantinus At'ricanus, ein Schrift- 
steller des 11. Jahrhunderts, in einer Abhandlung über die Heilung 
von Krankheiten: „vor dem Krauken soll süsser Musikklang tönen 
Ton Glockenspiel, Vidula, Botta und ähnlichem"^). Vidula und 
Rotta sind ab«r dasselbe Instrument; in einer Anmerkung zu Alain*s 
de Lille (ans dem 18. Jahrhundert) de plandu naturae wird be- 
merkt: die „Vioel** oder „FStola'* heisse sonst auch „de Roet**^). In 
einem Vocabnlar von 1419 heisstes: rott, rnh Ja est parva figella. 
Gerson, der berttbmte Kansler der Pariser Universität, vergleicht 



1) Oerbert, De cantu Bd. H Taf. XXIX Fig. 8. Trots der 20 Saiten 
ist es wohl nar ein Pentachord mit fftnf TOnen, nimlich je vier Saiten 

in demselben Ton gt'stimnit. 

2) A. a. 0. Tal. XXXH. Fijr. 17. 

S) Ante iniinniim dnlois aomtns fiat de murieorom generibos, sioot 

campanula, vidula, rotta et similibus (i\v nioH». curat. IV 

4) Lira. Vioel. Lira est quoddani };t nu8 l itlmnie vd //'oi<i, alioquin de 
Jtoet. Hoc iustrumcatam est multum vulgare. (Das Mauuäcript besitzt Ba- 
ron Betfenberg. Die Stelle wird citirt von Couasemaker: trait^S snr Huobsld.) 



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Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik. 



die ,,YielIa" dem Rebec, d. b. dem kleinen von den Saracencn ent- 
lelnitcn Geiglein der TrouvcurH, und sapt, letzteres sei kleiner*). 
An< h llHTonymus de Moravin faus dem 13. Jahrhundert) erwähnt, 
(la>s <las Hubebo oder IJcbec blo8 «ln'i Saiten, die „Vicllo" dagegen 
deren tiinf bis neclis lialjc'*^). So führte als«» dan Wort fidula, noch- 
mals und in anderer Weise corrumjtirt, durrh die Zwischenfomien 
Figella, Vielle und Vioel zu dem noch jetzt gangbaren Worte Viola. 
Das Wort Kotta galt selbst den mittelalterlichen Schriflstellern fUr 
barbarisch ^) ; es ist, wie schon bemerkt, mit dem britischen Crowth 
dasselbe. Manche Schriftsteller, wie Gotton (11. Jahrhnndert) nnd 
de Huris (14. Jahrhundert) nennen das Instrument anch phiala» 
abermals eine Umbildung der fidula oder viella. 

Die älteste Form des crowth Ih'snt annehmen, dass es ursprüng- 
lich auch ein citherartiges Instrument, eine Art Lyra oder Kithara 
gewesen und mit den Fingern oder mit einem I*lectrum gerührt 
wurde, aus welch' Utzterem sich erst in der Ftd're der Geigen- 
bogen entwickelte und dass durch die neue Behandlung die Ki- 
thara zur Geige wurde. Wenn noch der Troubadour Guiraut 
de Galanson seinem Jongleur Fadet vorschreibt: 

E faitz la rota 

▲ Xvii cordas gamir ... 

so kann man unmöglich an eine Cieige mit 17 Saiten, sondern nnr 
an ein harfenartiges Instnunent denken. Jene alte Form mahnt nun 
so sehr an die kräftigen quadratischen antiken Phormingen, an die 
T^yra <les Semiten von Beni-Hassan, an die Cithara teutonica, dass 
es wirklich schwer ist, «leu Gedanken an einen gemeinsamen 
ötammort aller dieser Instrumente alt/uw eisen, l'eber einem mit 
zwei grossen SchallüÖ'uungcu versehenen viereckigen, docli nach 
unten su leicht ausgesdiwungenen Schallkasten erhob sich zwischen 
swei senkrecht aufsteigenden Armen ein von diesen festgehaltener 
Hals mit einem bis auf das Corpus desBchallkastens hinabreichenden 
O riffbr et. lieber dieses G ri fH^retwaren die Saiten, ursprünglich sechs, 
spXter drei gespannt, welche unten von einem Saitenhalter, ganz 
wie ihn unsere Geigeninstrumente zeigen, fesf^n lialteu wurden. Bei 
den saitenreiclicn Instrumenten liegen die zwei tiefsten Saiten 
ausserhalb des Griflfbretes. Als das histrmnent sjiäter ganz entschie- 
den zum Bogeniustrumeute wurde, Hess mau die unbec[ucm störeu- 



1) VielUon vcl rebecam. quac minor est. (.Ti'act. de contiu. UI.) 

S) Notker Labeo (ans dem 10. Jahrhundert) neant die Bote „sieben- 

•aitig" föne dtu slnt ändero ih-foi, unde ilndcro röi^iÖ äßttn »(etm. 

ündo sibcnc geltcho gewcrlx t. ((tcrhert, Script. I. 9(5.) 

3) Notker (in symh. Athauasii) bemerkt, dass die ludicratorcs das alte 
Psalterium „ad suom opus traxerant, ejus fonnam conunoditati snae habilem 
fcrcrant, et pluTos chordas annectentes etw/mmebafharico RoUam op- 
pdlantea.^ 



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Die ersten Zeiten der christlichen Weit und Kunst. 



$1 



den £kuteiianiie weg und rundete die beiden oberen scbarfen Ecken 
des Bcballkastens, die jetst nacb Entfemnng der Arme rieh frei vor- 
gedrSngt hätten, ab und hiMctc cndrRli den ganzen SehnllkaKten zu 
einer mamiolinenartigen Gestalt. Vom 12. Jahrhundort an bildete 
man rlcn Schallkastcn in ein reines Oval um Die Fidel in dieser 
Gestillt imiss damals ein sehr hekaiintes xind beliebtes Instrument 
gewesen sein, denn ihre Abbilduug kouimt auf den romanibchou 
Monumenten häufig vor. 

Bei der LJngcnauigkcit, mit welcher die Schriftsteller des 
Mittelalters die Namen der Instramente halb willkttrlich durch- 
einanderwerfen, geschah es, dass im Mittellatds, im Alihochdeut- 
schen die Namen Sotta, paaUerium, triimgulum und lyra bald das- 
selbe Instrument, bald gana verschiedene Tonzeuge bedeuten 
Wenn nun dieses Geigeninstrument, als das die Kotte, die Vioel 
u. 8. w. denn doch voraugsweise zu gelten hat, von Norden her 
Eingang fand, so begegnete es einem ganz verwandten, seit dem 
Eindringen der Mauren in Spanien und den Kreuzzdgen von 
Süden herankonnnenden dreisaitigen Instrumente, dem Rc\)cv, Ri- 
hible, reberbe, rebele, rtibebe, oder rebebe. Die letztere S|»rach- 
form mahnt am entschiedensten an das Wort BdMtb, wondt die 
Araber ihr gans Uinliches, auch ihren Dichtem, Sängern und Im- 
provisatoren dienendes Instrument beseichnen. Die dreisaitige Crotta 
und das auch dreisaitige Rebec verschmolzen so au sagen in 
einander und die künftige Herrschaft der Gcigeninstnimente war 
entschieden oder wenigstens begründet. Die Mauren, Araber u. s.w. 
haben auf keinen Fall ihr Rebab von Norden her erhalten (wiewohl 
unter ihren Geigen ancli eine ,, Rotte'* genannt wird); wir begegneten 
dem Kebee unter verwandten Namen tief in Indien, wohin es wulil 
nur unmittelbar von dem benachbarten Arabien aus gelaugt sein 
kann, welches letztere bei der Wanderung des Kebec auf keinen 
Fall eine blosse Zwischenstation swischen der Kreidekfiste Britan- 
nien*B und dem Palmenstrande Indien's, sondern einer der Centrai- 
punkte, von wo die Verbreitung ausging, gewesen ist^). Selbst die 
einsaitige Negergeige scheint rieh von den mahometanigchen Stäm- 

1) Abbildungen der alten Rote sowohl, als der versuhiedeiuni (ieigen- 
fonnen finden sieh in vortrefliichen Naeli})ildungen allei- Kunst deiikiiiide in 
dem Werke Le moyen äge et la renuiasance, und iu den Aiüiuugeu zu 
Coassemaker: 2V. SMr ÜMcftoId. Eine Abbildung des Crowth bei Hswkins, 

Hist. ofMuB. 273. 

2) Ferd. Wolf a. a. 0. S. 215. Er erwtUmt .len Vers: ..Sidtnrottet pfoto 
ousercm an dere harphen" ; und aus einer i\Iüucliener llundschriil: aAls her 
David sein rotten tpicn, wau er darauf herpfen wolt**. 

3) Kicscwptter, Mus. d. Aralirr S. !»!. 

4) In Spanien, wo es an maurischen Kentiuisceuzen nicht mangelt, lebt 
das Rebab unter dem Namen Babel bei den Landlenten bis heute fort 
(De la Wemarqui.) 



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32 I^^e Aulaugü der europHisch-ubuudlandiBchen Musik. 



men aus su den armen Schwanen verirrt su haben. Dass nun die 
Musikanten der chiiatlichon europäischen Ländw den singenden 
Geigenton dem kurzen trockenen Klange der Ljren nnd Kitharen 
vorzojren, ist natürlich. Die ältcst»' Abbildung eines Geijrrniiistni- 
nu'utes findet sich in dem scluui crw ühntcn, dem 8. .Tahrliuuderto 
cutstammenden Manuscript von St. lilasieu, wo ck mit dem Namen 
„Lyra" bezeichnet wird. Diese sogenannte Lyra zeigt schon die 
wesentlichen Theile unserer Geige. Das Corpus ist mandoUnen- 
förmig, der Hals hat keine Bnnde. Die einzige Saite, womit das 
Instrament belogen ist wird unten durch einen Saitenhalter fest- 
gehalten und ist Aber dnen sattelförmigen Steg gespannt Daau 
kommt noch ein leicht und zierlich gestalteter, dem modernen Ihn- 
licher Ficdelbogen^). Auf anderen Abbildungen ist das Instrument 
mit mehr Saiten versehen: so auf einem Bilde aus einem angel- 
sächsischen MamiHcrij)t aus dem Anfaufre des 11. Jahrhunderts mit 
vier, auf einem Bil(h\ cikt' der Kirche »^t. Geor^ zu Bocherville mit 
drei Saiten. Es j^ab Instrumente mit sechs Saiten, wovon die zwei 
tiefsten schon über das Griöbret hinaubliegeu. Nach Analogie 
des (weitnhin au besprechenden) Organistmms dnf man als die 
eigentliche Normalsahl der Saiten drei bis vier annehmen, deren 
Stimmung vielleicht 1, 5, 8 war. Abbildungen solcher Instrumente su 
drei Saiten finden sieh Vfter^. Da die Seiteneinbuchtungen unserer 
Violinen fehlten, musste der Bogen nothwendig über alle Saiten 
gesogen werden^). Wie bei dem Oiganistram tönte su der auf der 

1) Solohe einsaitige Qeigen müsten noch im 14. Jahrhundert im Ge- 
branon g^esen sein. Denn J. de Mmn sagt: Areas dat ionitom phialae 

rotulac monochordae (Summa nuis. Cap. IV). 

2) Des F u M i . 1 ) m (T ( US geschieht unter demselben Namen schon im Nibo- 
luugeuliode Erwähnung: 

Volktr der vU kflene steh näher üf der baue 

einen videlbogen starken, michcl undc lanc 
gelich eime scarpfeu Bwcitc, viel lieht undc breit| 
dO sAzen unervorbten die zweue degene gcmeit. 

(XXIXAvent) 

Ebenso im Cbronicon picturatum Bninswirense vnrn .Talire 1203, wo ein 
Wuuderteccken^ (Wuuderzeicheu) erzählt wird, wie nämlich im Dorfe 
Ossemer bei Stendal der „Panier" (Harrer) am Mittwoche in den Pfingit- 
tagen seinen Bauern zum Tanze „veddelte". Da „quam ein Donnrescbluch 
und scblorli ih'm Barner synen Arm äff mit dem Vcddelbop*'" ""d XXIV 
Lüde tod Up dum T\^i." So hcisst es in der vita C'aroli M. von Aimilianus de 
Peyrato, AobasMoinacensis (Mannscript No. 1343 der Pariser Bibliothek): 

(^iiidam rebccani arcuabant 
Muliübrem vocem confingentes. 

(Vergl. da Gange ad ▼. Baudosa.) 
8) Z. B. Msnuscript derBibhothek von Douai, wo ein Affe, mit der 
Beisclirift Ncptunus, ein sokhes Instrument ipielt. YezgL Otte, Kunstart 
chäologie 3. Aull. S. 285. 

4) Diese wichtige Bemerkong macht FoiksL Hawkins (9. Bd. 8. 87^ 
sagt vomCrowthrthebridgediffersfromthaiofaTiolinintbatitisilat, and 



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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 



83 



cnten Saite gespielten Melodie Gnindton und Quinte auf der dritteii 
üud zweiten nach Art eines Orgelpnnktes oder Dudelsackes mit. 
Es spricht sich in dieser Eigenheit der Kotte oder Vielle ein den 
nurdisclion Völkern cigcntliiiniliclier Trieb nacli stärkerer Klan«^- 
wirkun^ durch Zusammcntöucn mehrerer Stimmen aus. Diese In- 
strumente sind es, in welchen geradezu der Keim der sich im 
Norden zuerst entwickelnden llarmonie und Polyphonie gesucht 
werden mnss. Die Freude einfacher Menschen an solcher Klang- 
verstXrkung kommt auch wohl sonst noch vor: die ägyptischen Fellahs 
hahen ihr Aignl, das auf denselhen Effekt hinauääuft. Seihst den 
Spfttseiten der antiken Welt scheint dieser Effekt durch die aus dem 
Orient geholte Sackpfeife hekannt geworden zu sein; die dafUr ge- 
wählte seltsame Benennung Chorus mag wenigstens einen Anhalts* 
punkt geben: das eine Instrument klang wie mehrere zusammensin- 
gende Stimmen. Wurde zu der Vielle oder Kotte gesunj^jMi, die 
Melodie des Gesanges im Einklänge oder in der höbern Octave auf 
der ersten Saite mitgespielt und tönte dazu in den zwei andern Saiten 
Grundton und (Quinte mit: so ergab sich, so roh das Ganze auch 
war, doch schon eine Art Ensemble und eine Art Unterscheidung 
swisehen Gesang und Begleitung, und der Sibiger, der seinen 
eigenen Gesang hegleitete, brachte einen Gesammteffekt von Klang- 
wirkung hervor, der durch seine Ffille sich vom unbegleiteten Ge> 
sänge unterschied und den geringen Ansprüchen der an nichts Aus- 
gebildeteres gewJibnten Hörer genügen und ilinen Freude machen 
konnte. Spricht docli sogar noch Joliann von Muris im 14. Jahr- 
bmidcrt von einer Diaphonia basiliia, ,,wo Einer eine Note als 
Hahis beständig ausbält, indessen der Andere, in der Quinte oder 
Octave darüber anfangt, auf- und absteigt uud bei den AbsKtzen 
mit dem die Basis Aushaltenden in Concordanzen zusammcntri£ft'' 
Den Gesang su begleiten scheint die yorzUglichste Aufgabe solcher 
Instrumente gewesen su sein. Eine Sculptur der Kirche St. Georg 
von BocherviUe hei Bönen zeigt eine phantastische Ghaomengestalt, 
wie sie dem romanischen Kunststyle eigen sind: ganz deutlich sieht 
man, dass das seltsame Männlein, während es seine kleine Geige 
streicht, dazu geöffiieten Mundes singt. Im Nibelungenliede singt 
der ritterliche Fiedler Volker iuBcchelare beim Scheiden zu seinem 
Instrumente: 

not convex on the top, a cirnimstanro from which it is to 1k> Inferred 
that the strings are to be struuk at tiiu samc lime, so as to all'urd a suc- 
cesrion of oonoords. 

1) Diaphonia est modus canendi duobus modis molodiam et dividitur 
in basilicam et or'i'ini dm. Basilica est : cimcndi <luoV)U8 modis raclodiam, 
ita quod unus tentui continue uotam uuani (piae est quasi basis cantus 
alterius condnentis, alter voro socius cantum incipit vel in diapcntc vel 
in diapason, quandoquo asccndens, qirandoque (Irsrnidcuyi, ita ipiod in 
pauita concordet aliquo modo cum co, qui basin obsurvat. iJÜc Muris, 
Summa Mos. XXIV.) 

Ambro«, a«Mlii«bl« d«r MMik. IL 3 



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34 



Die Aufzuge der europäisch -abendländischen Musik 



Volkdr der snelle mit stner videlen dam 

kom (jreüOfjenliche für Götelinde stan 

er videlt süeze duene und saug ir sinia Uet: 

dimite nun er uloiip, dO er von Becheliren leiai^. 

"Ein andereB Instrament, das Organistrum, diente jenem Streben 
nach VoUatimmigkeit in Mlinliclier Weise wie die Vidle. Es ist ein 

unter dem Namen Bettlerleyei' ^is *ttf den heutigen Tag bekanntes, 
bei den Savoyarden lu s. w. noch immer gebräuchliches Instrument. 
Das Organistrum ist unverkennbar aus der altertliUmlielicn Rotte 
entstanden, an welche auch seine Gestalt auffalleiul mahnt, ja deren 
Name darauf Uberging. Um die liugentuhrung, welche schon da- 
mals ihre Öchwicrigkeit hatte und einen festen geübten Arm er- 
heischte, zu erleichtern oder vielmehr seu beseitigen, substituirte 
man den Fidelbogen daxeh den am Inatmmente aelbst angebrachten 
Meehanismus dnes BSdleins, welches die Saiten strich nnd zum 
Tttnen brachte, wenn es mittelst einer ans dem Oorpos des In- 
strumentes henrorragenden Knrbel in Umschwung gesetzt wurde. 
Für vornehme Dilettanten war es gewiss eine höchst willkommene 
£rleichterung. Da nun aber das Instrument dabei nuthwendig qner 
vor dem Spielenden liegen musste und nicht gleich den Geigen- 
instrumenten längelang an Knie oder Schulter gestemmt werden 
konnte: so musste fiir das Greifen der Töne auf dem GrifFbrete 
eine besondere Vorsorge getrofi'en werden, damit es dem Spieler in 
der Hand liege; dieses geschah durch eine Art längs des Oriff- 
bretes angebrachter Claviatur, deren Tasten die höchste Saite an 
den gehörigen Punkten abtheilten; die tieferen Saiten tOnten immer- 
fort dudelsackartig mit*). Im 18. nnd 14. Jahihundert erhielt das 
Oiganistmm den bezeichnenden Namen Symphonia (Zusammen* 
klang), Chifonie oder Cyfonie'). Da man es mit den Benennungen 
nicht genau nahm, so gingen auch dio Namen viella und lyra darauf 
über; die Franzosen iionncii es noch jetzt ,,vieille", die Deutschen 
,, Leier". Auch den Namen Rota bekam es schon in friiluT Zeit, 
wenigstens ist der Trrthura nicht selten, diese Bezeichnung nicht 
von dem Geigeuiustiumente Crotta, sondern von dem kleinen Rade 
(rota) abauleiten, weldies beim Oiganistmm die Saiten in Bewegung 
setit*). 

Von den nordischen Instrumenten wSren hier noch jene ein- 
üuhenHöiner su eiwithnen, welche leicht gebogen nnd yon oft sehr 

1) XXVn. Amt 

2) Das Instrument ist hi ut zutage eine Seltenheit geworden. Ich 
habe oh in meinen Knabeiijaiireu noch spiileu hören. Der Klang war 
näselnd und schnarrend, aber keineswegs unangenehm. 

3) Vergl. du Gange ad v. Symphonia. 

4) So s;igt Johann Cocleus in seinem Tcttiiclionluin Mus. Tract. I. 
oftp. 10; Jiota vero instrumentum est, quo coeci meudicautes utuutur. 
Babd k t lf w nu m r ohdam purwm, Bas iWroment ging, wie man siebt, 
aus den Hftnden der QroMen in die Hftade der BetUer 4bv und wurde 



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Die OTften Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 



85 



betrXchtUcber GKrtf sse an die noch jetzt gebrttiiGhlichen Alpeuhömcr 
erinnern, und von donon unverkennbar die sogenannten Zinken und 
Krummhömer dt's spätcrtMi Mittelalters abstammen. Auf einer Wand- 
malerei der Kirche von St. Savin in Frankreich, die Ges«'tzg('buiig 
auf Sinai durstellend, halten vier Engel solche Holandsliörner in 
Händen^). Ein altes »ächsiBches Mauuscript aus dem 8. Jahrhundert 
in der bibliotlieeft Cottonian« tCellt HombUtoer vor, welche faat 
manpBlenge Inttmmente tragen. Diese Hömer wurden von wirk- 
lichen Stierhömenii von Hols und spiter von Elfenhein verfertigt 
und mit Schnitzwerk von Jagden u. s.w. geziert^, saweilen mit 
antikisirenden Dantellongen von Quadrigen, Greifen u. s. w. und 
daneben als Ornament jenes phantastische nordische Bandgeflecht^). 
Das sind die berühmten, unter dem Namen „Oliphani" in drr Kitter- 
poesie wohlbekannten Hi»rner. P^iue C'oiiiliination aus Pfcitc und 
Horn ist die seit alter und vielleicht Slte.ster Zeit bei den fxälischen 
Stämmen gebräuchliche Sackpfeife (bagpipe). Nach Uichard Sta- 
nihurst's Beschreibung glich daa Instrument völlig dem noch jetzt 
gebriuehlicben sogenannten Dndelsack. I>ie Hibemler sogen damit 
in den Kampf. Die allbekannt charakteristische Eigenheit dieses 
Instrumentes, tu einer in hSherer Lage gespielten Melodie einen 
fortklingenden Basston, und zwar von jeher in der Zusammen- 
setzung aus Grundton und Quinte, hören zu lassen, entspricht völlig 
der ähnlichen Klangcombination der Orprauistren und Hottoti oder 
Viellen, und so wurden durch diese panze Familie von Iiistiumcuten 
jene Völker daran gewöhnt, eine (wenn aucli noch ganz rolie) mehr- 
stimmige Muhik zu hören, und ihr Gehör gewöhnte sich, den 
charakteristischen Klang der uns so hohl scheinenden nackten 
Quinte bei jeder Musik au hören. Es ist also gans begreiflich, 
wenn späteiliin auch die Orgelspieler auf ihrer Oigel (Organum) 
Chnliche Klangeifekte abnchtlich aufsuchten, ja wenn die Sache 
unter dem Namen des Oiganums endlich auch in die mehrstim- 
mige Vokalmusik hineingetragen wurde. 

Mochte die Musik all' dieser Völker noch so roh und liarlt.uisch 
sein, ne selbst brachten einjso frisches bilduugsfUhige» Element in die 

besonders das charakteristischo TonwtM'kzouff der Blinden; denn aurh 

bei du Gange werden Verse aus Bertrand du Guesdiu's Chronik citirt, 

worin heisst: 

CDS ou pays de France et ou pays Normant 
Ne VOnt tels instruTiients fors avmgles portant 
Ainsi vont les aveugles et Ii povres truaut 
et demaacuat Icnr pain u. §. w. 

Bei Athanas Kirch er CMuinrgia 8. 487) hiess das Ibstnmient „lyra men- 

dicantium"', die H< ttlerleier. 

1) Abgebildet in Kugler's Kunstposchichte (3. Aufl.) 2. Bd. S. 178 
Diese Malereien gehOren dem Ende des 11. JahrliuiHlcrts un. 

2) Vergl. Atlas vnn Caspar und (iuhl 1. Bd. A. Tat. 1. Fip. 11. 

8) Ein sehr schönes Exemplar dieser Art besitzt <\vr l>um»cliat7. 
SU Prag. o. 



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36 I^i«^ Anfänge der europäisch -abendländischen Musik. 



nitgewordene Cultorwelt, ob man gleich gewohnt ist in jenen nor- 
dischen Gästen eben nur Culturzerstörer zu erblicken. Jene mythi- 
schen Gothen", deren Name ein Sammelbegriff für jede Verwüstung 
geworden ist, können liier natürlich nicht in Betrachtniijr kommen. 
Die GeHchichte weiss vichnchr von dem ( )stgothenkönige Theodorieh 
zu erzählen, dem man mit bcbscrem Kechte als manchem anderen 
den Namen des Grossen gegeben hat. Ein Freund der Wissenschaft 
undKnnstund sngleich ein tüchtiger, kraftvollerRegent wirkte er von 
seinem Bavenna aus segensreich Hlr das der Rnhe bedürftige Italien. 
Wie leicht die Elemente antiker Bildung bei ihm und Seines- 
gleichen Eingang fanden, beweist neben anderen Ziigen auch jener 
Brief an Boethius, dessen Inhalt für uns hier besonders interessant 
ist. Chlodwig, der Frankenkönig, hatte auf Zureden seiner Gemahlin 
Chlotilde das Christenthum angenommen, ein Rehritt, dem in jenen 
Zeiten auch Annäherung an die Cultur der christlichen Länder un- 
mittelbar zu folgen j>tiegte. Er w(dlte nun auch einen Sänger haben, 
der ihm mit Musik im italienischen Geschmacke, mit Gesaug und 
Zitherschlag das Hen erfreue i). Er schrieb an Theodorieh nach 
Ravenna und hat dringend ihm einen Citharöden su schicken. 
Theodorich seinersdts wendete sich an Boethius, als an einen ge- 
wiegten Kenner, und trug ihm die Auswahl auf: „wir kennen dich 
als einen in musikalischer Gelehrsamkeit wohl bewanderten Mann; 
dir und Deinesgleichen aber, die ihr den Gipfel einer so schwierigen 
Wissenschaft zu ersteigen vermochtet, liegt es ja auch ob einen 
wohl Unterrichteten auszn wählen" u. s. w. Der Brief ist in mehr 
als einer Bezielmug merkwürdig. Theodorich (oder vielmehr Cas- 
biodor, der Briefschreiber iu dessen Namen) will vor dem gelehrten 
Kümer mit seiner Bildung nicht gar zu schlimm besteben und lässt 
daher ganz unnlltfiigar Weise im glänsendsten Wortpomp dceronia- 
nischer Sprache die gewohnten Phrasen Uber Werth und Wttrde der 
Musik ertönen, wie de sttsstSnend ans der Maschine des Weltalls 
klingt, alle möglichen Leidenschaften bezähmt, ja mit einem recht 
hübschen Wortspiel wird gesagt: die Saite (chorda) habe ihren Namen 
wohl davon, weil ihr Klang die Herzen (corda) rührt. Dann kommen 
die bekannten Geschichten von Orpheus, Amphion u. s. w., aber 
auch von König David. Die ganze Fassung zeigt, dass es elien con- 
veutionelie Kedensarteu der Schulbildung sind, welche um des Cun- 

1) Die Ansicht, welche du PcjTat ausspricht und F<»rkel (Gesch. d. Musik 
2. Bd. S. auf dessen Zeu<rniRs hin (gelten lüsst, da-^s Cliiodwig den Sänger 
hegehrte, damit er die Musik des neuen christliuhuu Gottes- 
dienstes einrichte, halte ich f&r irrig. Zu so etwas wOrde man, nach 
damaligen JtegrifTen, keinen wtlth'elien Sänger, sondern einen Priester 
berufen haben. Und zu was hiitte sich (Jrejror von Toui-s noch nm den 
Kirchengesang in Frankreich zu bemühen nütlii^ geliubt, wenn wirklich 
dnreh jenen anonymen CitharOdeu aus den nHofsimgeni" des Chlodwig 
etwas so Vortreffliches geworden wftre, wie du Pe^rat behauptet? 



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tKe etateo Zeiten obrltüielieii Welt und Kniut 



3t 



ventiouellen willen auch hier wiedorhult werden. Und doch klinj^ 
ein Ton echtgermauiacberEhrlichkeit heraus, der wohl aui'Kechnung 
Theodaricli*8 selbst zu setzen ist: die die Leidenschaft bemeisternde 
oder anregende Wirkung der Mnsik ttberhanpt und der Tonarten 
insbesondere IXnft bier Tonflglicb darauf binans, die Berserkerwutb 
zu beschwichtigen oder aucb, und zwar Tor dem Kampfe, anzn- 
facben^). Der wackere Ostgotbe denkt augenscheinlieb an seine 
eigenen moralischen Bedttrfoisse: „Nachtheilige Trauer wird durcb 
Musik erheitert, aufbrausende Wuth gedämpft, blutige 
Wildheit wird durch sie besänftigt, Trägheit und Ermattung 
ermuntert u. s. w. Das Alles bewirken unter den Menschen fünf 
Töne, die man nach den Namen der Trovinzen nennt, wo sie er- 
funden worden sind. Denn die göttliche Gnade, deren Werke alle 
lobwttrdig sind , hat ibre Gaben an versebiedene Orte verscbieden 
ausgetbeüt. Der Doriscbe Ton bringt Sebambaftigkeit und Keuscb- 
beit bervor, der Pbiygisebe erregt KSmpfe und entflammt zur 
Wuth, wogegen der Aeolische die Stürme der Seele wieder 
beschwichtigt und den Beruhigten in Schlaf wiegt; der Taktische 
schärft das abgestumpfte Erkenntnissvennögen und leitet den irdisch 
befangenen Sinn zum Verlangen nach dem Ilimnilisclien ; der Ly- 
dische dagegen beruhigt die allzuschweren Sorgen der Seele und 
vertreibt den Verdruss und stiirkt, indem er ergötzt"'^). Also sitten- 
strenge Keuschheit, Kampfesmuth, Erleichterung der schweren Ke- 
gentensorgen, billige Ergötzungen und zum Schlüsse die Richtung 
zum Himmel: das verlangte der Ostgotbenk0nig an Wirkungen 
▼on der Musik, und da bXtten wir das ganze Bild des adeln, 
mannbailen, naturwüchsigen Helden beisammen. Theodoricb's 
Worte (oder seine Ansiebten, denen der schreibcHlde Cassiodor 
Worte lieh) eracheinen hier wahrlich wie ein Programm der christ- 
licb-abendliindischen eben erst im Aufkeimen begriffenen Musik. 

Als Boethius, an den sich Theodoricli als an das musikalische 
Orakel seiner Zeit wendete, jenen Brief empfing, dachte er wohl 
kaum, dass es ihm bestimmt sei noch Jahrhunderte lang für die 
Welt das echte undbeinabe einzige musikalische Orakel zu bleiben. 
Wie Boetbius in seiner ganzen Bildung, Scbieibait, Pbilosopbie 
und Oelebrsamkeit, in seinem Leben nnd Tode durchaus nocb den 
Eindruck eines antiken Menseben macbt, so bat dureb ibn die an» 

1) Saxo Orammaticus erzählt, dass Erik, der Dftnenkönig, durch den 
Gesang eines CitharOden in wfltnende Aufregung gericth, so dass er 
ihrer Vier umbrachte. Caspar Printz von Waldthurm ma<!ht dazu in seiner 
1690 erschienenen ^historischen Beschreilnnig der edeln Sing- und Kling- 
kunsf S. 102 die Bemerkung: „sintemal hoher Potentaten Handlungen 
allerdings zu fitrohten, wenn sie bei gutem Ventaade, geschweige denn, 
wenn sie wüthen, und kein schädlicher Ding für den Unterthanen als dem 
Köuip auch nur für etliche iNIinutcn lang seinen Verstand zu verwirren.'' 

2) DüT Brief wteht in Gaasiodori Varia lib. II. ep. 40. 



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88 



Die AnfiLnge der eoropftisoh - abendlikndiflcheD Mnaik. 



tike Musik, gleichsam sterbend, den Folgezeiten ein Vermächtniss 
hinterlaBsen, das Gegenstand der rntthseligsten Arbeit and For^ 
Bchnng für das Mittelalter wurde, sie hat dnrch ilin in seinen 
Bttebem ifo mudea ein Oesammtbtld ihres Wesens, ihrer Lehren 

nnd Eigenheiten der Nachwelt zum Andenken hinterlegen lassen, 
ehe »ie im Zeitcnstromo für immer unterging. Die Sehriftsteller 
des Mittelalters, Ilnchald, Theogems von Metz u. A. m., ermähnen 
liocthius kaum Je ohne Lob. Er ist der vir doctissimus, n'JiditissimuSj 
(h'sn iissiniHs, geuere et scientia clari.ssimus, ein jtauditor atiis. Abfi- 
liirtl rühmt ihn als Reprfisentanten aller Einsicht in Sachen der 
Musik, und selbst Papst Johann XXII. beruft t»ich in seinem 1322 
gegen die mensurirte Musik erlassenen Deeretale auf die Autoritftt 
desBoethius. Franco preist ihn als den Theoretiker allerTheoretiker 
(er wird ttberhaupt sehr oft als Theoretiker citirt), wogegen nur 
Guido Ton Arezzo einmal meint: „Boethius sei ftir den Philosophen 
sehr gut, für den Sänger aber eigentlich nnbrauchbar**^). Anitins 
Manius Sevcrinns Boethius gehörte seiner Abstammung nach 
einem alten römischen Patricicrpeschleclite an und ward um das 
Jahr 470 j^t-hnren. Kr heklcidete versfhiefh'nc Staatsämter, erlangte 
die consiilariscln' \\'iir<l»' und gennss das Vertrauen Theodorich's in 
hohem Grade. Als die katholischeu Kömer, dem Ariaucr Theodo- 
rich abgeneigt, ihre Blicke dem orthodoxen Kaiser in Byzanz zu- 
wendeten und der bei ansgebrochener Verfolgung der iürianer im 
Orient sur Vermittelung dahin gesendete rOmisehe Bischof Johannes 
unverriehteter Sache aurUckkam, witterte Theodorich Yerrath und 
Hess Johannes zu Kavenna in's Gefiingniss werfen. Dass nun Boe- 
thins die Vertheidigung des Beschuldigten ttbemahm und darin die 
unvorsichtige Aeussening machte: ,,er sei eben so gut ein Verriither 
wie .Johannes", benut/.ten seine Feinde zu seinem Sturz. Er 
wurde seiner Würden entsetzt, verbannt und endlicli im Jahre 526 
enthauptet; ein Verfahren, das Theodurich hernuch schwer bereute. 
Das bewunderte Buch De consolatione philosophiae, welches Boe- 
thius in seinem Unglttcke sehrieb, nnd sein tragisches, an das IGt- 
gefühl sprechendes Ende haben ganz gewiss mit dazu beigetragen, 
die Aufinerksamkeit auch auf sein tief gelehrtes, aber schwer ver- 
BtXndliches Werk Aber Musik zu leit<>n, welches fdt das Mittelalter 
eine Art Fundamcntalcodex der Musik blieb. Denn es war jener 
Periode ein Bedürfniss für jedes Wissen, für jede Speculation ein 
gegebenes, von niclit anzutastender Antorith't hingestelltes Funda- 
ment zu haben, an das die Forschung erklärend, ausdeutend, weiter- 
strebend ihre Lehren knüpfte, durcli das gej^ebene Fundament aber 
eben verhindert war voraussetzuugslos auf die letzten Gründe der 

1) . . . . Boetivim in hoc non pequons. cujus Uber non caTitorihn«, 
Bcd Bolis philosophis uiilis est (fipistola de ignoto cantu, in tiue^ bei 
Gerbert Script 2. Bd. 8. 60). 



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X>ie ersten Zeiten der chnstUchen Welt and ^unst. 



39 



Sache snracksiigeheii. Ja sie hKtte es flir Frevel gehalten irgend 
dnen Lehnats jener Autoiitit aasntasten, kanm wagte ne eine 
prüfende Untersuchung. Yfw die Scholastik anf die Kirchenlelire 
ein unendlich künstliches Denkgebäude auflhUrmte, so fand der 
Mnsikgelehrte an Boethius einen festen Anhaltspunkt. Jeno Aensse- 
rung Guido's oder das Capitcl des Abtes Wilhelm von Hirschau 
,,Wie Boethius sich j^eiiTt" ^) muss den Zeitgenossen beinahe wie. 
Ketzerei geklungen haben. Auch die seltsamen Zeichnungen zur 
£rlfiuterung der Intervalle, Tonverhältnisse u. s. w. , womit das 
Bach des Boethius ausgestattet ist, mochten dem phantastischen 
Sinne des Ifittelalters hrsondera ansagen. Man yenrollstlndigte 
sogar diese Zeichnungen nnd iLonnte sieh kanm darin genug thun. 
Die von Glarean aur Erlttuterung des Boethius entworfenen Figuren 
gleichen bald Maschinen und wunderlichen Apparaten aus irgend 
einem Laboratorium zu phantastischen Zwecken,** bald märchen- 
haften Kuppelbauten, bald verschlungenen Drachenleibern, bald 
Zaubercharakteren. So begegnen sie dem Blicke fast anf jedem 
Blatte, und seltsam volltönende griechische Namen und mystische 
Zahlen, die zur Erläuterung der den Beschauer geheimnissvoll 
ansprechenden Gebilde beigeschrieben sind, konnten den an- 
regenden Reis der Sache nur vermehren*). 

Boethius seihst erscheint in seiner Schrift vonragsweise als ge- 
lehrter Bedaetor der musikalischen Theorien und Sitae eines Pytha- 
goras, Aristoxenos, Nickomachus, PtolemXos u. A., auf welche er 
sich auch ausdrücklich beruft. Was er an eigener Speculation ein- 
webt ist ernst, tüchtig und gehaltvoll. Die Musik ist ihm ein 
Theil der Mathematik; aber während die anderen Zweige der 
mathematischen ^Vissenschaft nur auf Eriorschnng der Walirheit 
ausgehen, hat die Musik auch einen moralischen Werth denn 
die Zusammensetzung unseres Körpers wie unseres Geistes beruht auf 



1) (^ualiter Boctius et ceteri musici in i> et d erraverint, eo quod 
duplex et neoessario aaromatnr. St. Wilhelm frftfift ohne Weiteres: Quure 

secumhnn Boetium et non sccnmdum Ptolemaoum vel Becunduin omnes 
antiiiuissimos musicorum dicamusy (bei Gerbert Script. Bd. 2 S. lt>8). 

2) Man vergleiche die liuHler Ge8ammtau8|^abe in Folio v. J. 1570 
S. 1371 bis 1481, wo es zum Schlüsse heisst: Amtii Manlii Severini Boethi 
libri V Musices per Henricum Ghin'inmm et emendatae et muUis fiffuri» 
demonstraiionibusijue luculentisäune auctae. Die Universitätsbibliothek 
au Prag besitst einen gans ausgezeichneten Boethius in einem grossen 
prächtigen Pergamentcodex des 10. .Tahrhnadais. Auch dieser Ist mit 
seltsamen Aufrissen reichlich ausgestattet. 

3) Unde fit, ut, cum siut quatuor matheseos disciplinae, ceterae quidcm 
ad invefltigationem yeritatit laborent, musica voro non modo specnlationi 
vernm etiam innralitati conjuncta sit (I. 1). Boethius knüpft an diesen 
Satz die bekannten Wundererzählongen von Thalctas, Arion , Pythago- 
ras u. 8. w., welche auf das ffir Legendenmirakcl sehr eingenommene 
Mittelalter tiefen Bindmok zu machen nidit ▼erfthlten. 



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40 



Die AnfiUige der europftitch-abendländiaohen Mniik. 



gewinenderMiiakanalogenVeiluatmsBen i). EindiesenYerlilltiiisseii 
entspieehender Znsammeiüdaiig erfreut hüb daher, wogegen uns ein 

damit in Widerspmcli Hteheuder bcunruliigt nnd uns missfltUt Die 
wahre Erkenntuiss besteht aber in dem E^rÜnden des Wesens der 
Dinge. Dass Etwas ein Dreieck, ein Viereck sei, nimmt auch der 
Unp^ebildete durch sciiio Sinne wahr; aber um zu erkennen, was ein 
Dreieck oder ein Viereck eifrentlieh sei, muss er sich an einen Ma- 
thematiker wenden^). Die Kraft des Geistes muss darauf gericlitet 
werden, das von der Natur Eingepflanzte durch die Wissenschaft 
begreifen zu lernen. So ist es also nicht genug, dass man sich an 
mnnkalischen Melodien ergötze, man rnnsB aaeh ^eYeiliiatniflse sn 
ergründen wissen, durch welche die T8ne untereinander Terbunden 
rind^. Der Sinn, der die unmittelbaren Eindrucke des Hörbaren 
empföngt, darf nur der Diener sein; Herr und Richter mUBB die 
vernünftige Erkenntniss bleiben*). Aus diesen Sätzen, welche 
Boethius seinen Auseinandersetzungen voranstellt, erkennt man 
seine Tendenz, keineswegs ein musikalisclie> T^ehrbuch, sondern 
vielmehr eine philosoplusche Phänomenologie der Musik zu bringen. 
Er will die (üiinde der musikalischen Erscheinungen begreifen 
lebreu, und zwar zunächst die physikalischen und mathematischen 
Momente derselben. Dass die Musikforseher des Mittelalters (mit 
Ausnahme des durch und durch praktischen Guido von Areaso) 
solches nicht einsahen und die Begriffs philosophischer und prak- 
tischer Musiklchre fortwährend verwirrten und durcheinanderwarfen, 
war vielleicht der schlimmste Schade, den ihr Studium des Boethius 
verschuldete. Bocfliius sucht das Wesen der Musik aus der Natur 
des Tones zu bci^rrifcn : die in rascheren Sclilajrm erschütterte Luft 
gibt einen hohem Ton, als wenn ihre Schwingungen langsatner 
vor sich gehen; das Mass dieser Schnelle und Langsamkeit lässt 
sich gegen einander in einem Zahlenverhältuiss ausdrucken, folg- 
lich sind mathematisch aussprechbare Proportionen das Fundlunent 
der Musik. Diese sind mit Strenge festsuhaltea, deshalb auch die 
SXtse des Aiistoxenos su bestreiten^), der die Entscheidung dar- 

1) . . . . id nimirum Bcicntes quod tota nostrae animae corporiaque 
compago mosica coaptatione conjuncta sit. 

2) Kursus cum quis triangulum respidt vcl quadratum, facile id 
quod oculis invenitur agnoscit; sed quacnam trianguli aut quadrati lit 
natura, a matbematico necesse est petat. 

3) Quocrirca intendenda vis mentis est, ut id quod natura est inaitum 

sdentia qnoque posHit comprehcnsum tcnori Sic non sufßcit canti- 

lenis mosicis delectari, nisi etiam quali inter se ooiyonctae aint rocum 
jffoportione diacatur. 

^ FSmnlusque nt sensu», judex vero atque imperaas ratio (L 9^ 
Der Satz ist pythagorftisch. 

5) Es ist bezeiuhuend, dass Boethius, der öfter die dififerirenden Mei> 
nungen eines Fhilolaos, Nikomaciios^ TütUmJU» u. s. w. in ruhiger Dar- 
ttdlong ein&oh nach einander entwuskelt, nicht umhin kann die SAtse 



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IXe ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 



41 



Olier dem Ohre anlieimsteUt. Naehdem Boetbius die grieehischen 

Namen des Achtzelinton^rtems, die Eigenheiten des diatunischon, 
chiomatiseheii and enhannonischen Geschlechtes und die J!«igenheit 
der Consonanz erklärt hat, welche darin besteht, ,,dns8 zwei Töne, 
ein tieferer und ein höherer, zu«;leich angeschlagen, zu einem lieb- 
lichen Mischtone zusanunenschmelzen" was w'u'der auf d»'r 
leichten Fassbarkeit der zu Grunde liegenden Zalilcnverliiiltnisse 
beruht "^^1 zieht er das Resultut; das Wesen des Musikers, der wirk- 
lich dieten Namen verdienen will, bestehe nicht in der handfertigen 
Uebung, sondern im geistigen Verst&ndniss, worunter er aber nicht 
das ästhetische Verstilndniss des Künstlers, sondern das rein intel- 
leetuelle des Philosophen meint. ««Um wie viel ist denn also", fragt 
er, „die Kenntniss der Musik im Begreifen ihn r (Irilnde höher als 
ihre thatsächliche Ansttbung? Um so viel als der begreifende Geist 
höher steht denn mechanisch wirkende Köqx'r! Das Werk der 
Hand ist niclits werth, wenn nicht die Vernuufl es leitet. Die 
blossen Spieler nennt man nach ihren Instrumenten: der Citharöde 
heisst so nach der Cither, der Tibicen nach der Tibia, Nur der ist 
ein Musiker, der das W^esen der Musik an sich, nicht durch 
Handttbnng, sondern dneh Vemnnft begreift"*). Mit einer so 
einseitigen Henrorhebong des specnlativen Theiles war nnn frei- 
lich die Mnsik ans der Beihe der Kttnste weg nnd unter die 
Wissenschaften hinttbergeftlhrt. Es hat sehr lange gednuei-t, ehe 
sich das Mittelalter von dieser Auffassung seines Boethius, der viel 
mehr Mathematiker und Philosoph als Musiker war, losmachen 
konnte. In der bedenklichen Nähe der Arithmetik, Geometrie, 
Dialektik a. s. w. vergass die ^lusik beinahe, dass sie von Hause 
aus eine schöne Kunst sei, dass es ihre Aufgabe sei das Schöne in 
Tüuen zu verwirklichen; sie begütigte sich das mathemathisch Kich- 
tige ni erreichen, bei dem nicht der ttsthetische Sinn, sondern der 
Verstand das entscheidende Wort hatte. Doch bleibt dem Boethins 
die Erkenntnisa durch Wahrnehmung mittels der Sinne keineswegs 
ansgesehlossen. Es ist Tielmehr nöthig die Resultate, welche der 
rechnende Verstand gewonnen hat, durch das physikalische Expe- 
riment, das ist durch Theilung der Monochordsaite, anschaulich zu 
machen. Hier ist aber nnn wieder nur eine wissenschaftliche Seite 
erfasst, welche mit dem eigentlichen Berufe der Musik als Kunst 
nichts gemein hat. Diesen eigentlichen Beruf lässt Boethins ganz 

des Aristoxenos wiederholt und entschieden zu bekfiinjir« ti (II. 30; III. 
1. 3; V. 12). Der Lehrsatz von der ungleichen Thi illmrki if des Tones 
bildet beinahe den dorchgehendeu Grundzug und das Hauptdugma des 
Boetbianischen Bnohas. 

1) I. 28. 

2) L 29. 

8) L 81 Diese S&tse schreibt ihm Begino ron Prflm £wt wOrtüdi 
nadi; ebenso Ymeentins BeDoraoensisi 



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42 



Die AnHLnge der europäisch •abendlftndischen Masik. 



unbeachtet, denn seine allgemeinen mnaeen Aber den rittVchen 
Werth der ]S[usik und die Wiederenfthlung der alten Wander- 
sagen von Arion, Pytbagoras n. s* W. sind dafür kein genügen- 
der Ersatz. Die Grnndziige dieser ganzen AutTassnng findet 
man mehr oder wcni<;<>r treu wiederholt bei den musiJcalischen 
Schriftstellern des Mittelalters wieder. 

Neben dem Buche des Boethius war es vorzugsweise die seljr 
eigeuthümliche and allerdings dem mittelalterlichen Geschmack e 
sich tttiiemde Dichtung Marti anns Capella tf^on der Hoch- 
aeit desHerenr mit der Philologi«,** ans welcher mnsikalische Kennt- 
nisse geschöpft wurden. Dadareh wnrde gewissennassen anch Aris- 
tides QnintilianuB zugingUeh, da Martianus Capella Vieles aus 
diesem Schriftsteller in wörtlicher Uebersetzung in sein Werk auf- 
genommen hat. Schon im 9. Jahrhundert fand die Schrift des Mar- 
tianus an Remigius Altisiodorensis (Remi von Aiixerre) einen Oom- 
mentator*). Wie populär diese Mcrcursliochzeit A\ar, beweist 
nebenbei auch der Umstand, dass lledwij; von Sili\val)en in der 
zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts dem Klo.ster von St. Gallen 
eine Alba schenkte, die mit einer Goldstickeroi geziert war, welche 
die VermlChlnng des Mercnr mit der Philologie darstellte, nnd dass 
am 1200 die Aebtissin Agnes Ton Qaedlinbnrg mit ihren Kloster- 
jnngiranen denselben Gegenstand wühlte, als sie kostbare Teppiche 
zur Ausschmückung der Chorwände in der (^lu dUnburger Stifts- 
kirche verfertigten Weniger Einfluss scheint das Werk des M ag- 
nuß Aurelins Cassiodorus de artihus an disriplinis UheiaUum 
lUterarum gehabt zu haben, dessen fünftes Buch eine kurze Ueber- 
sicht der Musiklelire enthält. Man bat die unendliche Arbeit, weU lie 
das Mittelalter an das Verstandniss der Uberlieferten griechisebeu 
Theorien setzte, eine Art Unglück genannt, das Hindemiss einer 
raschen natnrgemXssen Entwickelung der Tonkunst, welche erst 
in dem Masse gediehen sei, als sie sichren den antiken Ueberliefe- 
rangen befreite^. Aber man mnssdagegen inBetrachtangsiehen,da8S 
ohne ein von derAntoritXt antikerBildnngtiberliefert Gegebenes, ohne 
ein bei den Alten gültig Gewesenes, welches für das Mittelalter non 
einmal eine unerlSssliche Vorbedingung nnd gleichsam ein primum 
mohilc seines höheren intelleetuellen Strebens war, die Musik einer- 
seits in den Händen der Gaukler und ,,Histrionen'* es vielleicht zu 
einem liandw crkliclien Naturalismus gebracht hätte, aber immer nur 
ein verachtetes, keiner höheren Richtung bedürftiges oder auch nur 
fähiges Wesen geblieben, andererseits aber im strengen Conservatis- 
mns der Kirchengesänge zu mechanischem, erstarrtem Bjsantinismas 

1) Dieser Commentar ist abgedruckt bei Gerbert Soripi. 1. Bd. 

S. 63—102. 

2) Kugler, Gesch. d. Malerei 3. Aufl. 8. 169 a. 171. 
8) In diesem Sinne Kiesewetter. 



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Der Chregorianiiche C^etang and seine Yerbreitang. 



43 



Todiolat wire. IMe mittelalterlieben Theoretiker Tentaaden frettich 
Oureii Boethhie, wie die mittelalterliclien Philosophen ihren Aristote- 
les; aber es war ^e redliche Arbeit^ die ihre FrUehte tmg, wenn 

die Theoretiker des 11. Sficulurns fortfuhren, wo jene des 10. auf- 
gehört, und ihre Arbeit dem folgenden 12. .Tahrh. Ubergaben und 
80 fort Itis auf diV {rro«!R(»n Theoretiker des 15. und 16. Jahrb., wobei 
in jedem Jahrhunderte bedeutende Hesultate gewonnen worden. 



Zweites CapiteL 
Der GregoriaDische Gesang und seine Yerbreitong. 

Das von» heil. Ambrosius begonnene Werk ehu>r KtTrclun«? des 
Kirchengesanpes wurde j^ej^en das t^nde des seclistfu .lalnliundcrts 
von» Papste (iregor dem (i rossen (geb. um 54ü, Papst von älH) 
bis 604) fortgesetzt. £r sammelte die gebräucblicbeu Kirchen- 
gesXnge, er Termehrte sie durch neue, er ordnete sie naeh den 
Zeiten des Kirchenjahres, er sorgte dallbr, dass sie in dauernden 
Tonieichen niedergeschrieben wurden; er verbesserte die Grmnd- 
lageu des Kirchengesanges und hat letsterem jene feste, seitdem nur 
durch Abweichung:on und Ausartungen im Einzelnen, aber durch 
keine vorsiitzliche Reform anderweit verSnderte Gestalt gegeben, 
in welcher er unter dem Namen «les (J regoriani sch en (J esangea 
in der katholischen Kirche als dert n Kitualgesang bis heut in An- 
wendung gebliehen ist. Wie Kaiser Justinian kurz vor Gregor's 
Zeiten der Verwinoiug in Gesetzeskunde und Rechtspflege dadurch 
ein Ende machte, dass er die gangbaren, aber nicht gleichmUsgig 
anr Anwendung gebrachten Ii<»hren, Aussprüche und Entscheidungen 
der bertthmtesten römischen Juristen in dem grossen Sanmielwerke 
der Pandecten vereinigte und so der Willktthr Schranken setite: 
so sammelte, sichtete, ordnete Gregor in seinem Antiphonar die 
gangbaren Kirchengesh'uire und setste an die Stelle der bisherigen 
willknhrlichen Auswahl der vorzutragenden TJesänge durch <He 
Kirchenvorsteher eine feste Nonn. — lieber <leii Punkt, dass das 
Antiphonar (iregor's ein Sammelwerk war, sind die Hi'richterstatter 
einig^j, und so muss man den (iregorianischen (lesang recht eigent- 

1) Der Biograph Johannes Diaconus sagt: In domum Domini more 
sapientissimi iSalomouis propter musicae compunctionem dulcediuis Anti- 
fkmttrkm eenimem cantoram stadiomssimus uimiB utUiter compilavit. 
Bei Sigebert: Antiphonarium rojrulari nmsicae modulatione centonizavit. 
Bei Rupertus Tuitioiisis (de div. off. r. 21) noch deutlicher: Antiphona- 
rium regulariter centonizavü et compUavit. Gerbert sali, wie er erzählt 
(De csnta IL 8. 960), ein Saeramentarinm moaasterii Compcndiensis, 



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44 



Die Anfänge def* europäisch -abendl&ndischen Musik. 



lieh als eine gleiclisaiii Ton selbst empoi^gesprossCe Blflte ans den 

ersten Jahrliundeiten der Kiiche ansehen, als den echten specifisch 
christlichen Volksgesang; und wenn die Legende etlShlt, der heilige 
Geist selbst habe diese Gesänge eingegeben, so kann man es in 
dem angedeuteten Sinne auch ohne die Wnndersnge vollstfindi;^ 
gelten lassen. ( Jn j^'di's V^erdienst dabei ist (auch al>jjjeselien von dm 
neuen ( JesäiiLrcn, deren Beifügung ihm eine nicht zu vi-rwertcncle 
Tradition zuscliieibt^ keineswegs das eines blossen Sannnlers. Er 
hat vielmehr die Gesänge in einer Weise nach Geist und Inhalt zn 
einem wahren, grossen Gesammtknnstwerke geordnet; es ist eine 
Mosaikaibeit, deren Fngen nnd Jnnetoren man nirgends wahrnimmt 
Einem allerdings spttten Zeugnisse snfolge, nXmlieh nach einer 
Aeusserung des Johann de Muris (14. Jahrhundert), soll Gregorius 
auch insbesondere die allzusehr aasgedehnten Ambrosianischen Ge- 
sänge auf ein geringeres Mass beschränkt haben i). Der ältere Am- 
brosianisclie und der neuere Gregorianische Gesang wurden fortan 
fiir zwei einander beinahe oppositionell gegenüberstehende Rich- 
tungen angesehen. An manchen Orten, wie in Mailand (wo das An- 
denken an das persönliche Wirken des heil. Ambrosius nachwirkte), 
hat sich der Amhroflianische Gesang noch Jahrhunderte lang be> 
hauptet ; noch Franehinns Gafor in der sweiten Hüfte des 15. Jahr- 
hunderts redet von Amhrosianem nnd GregorianeEn wie von Par- 
teien. Freilich suchten geistliche und weltliche Machthaber, um der 



worin es heisst: Gregorius praesul meritis et nomine digtma snmmum 
ascendens honorem renovatnt monimentn puirum })rioi um t»t coniposuit 
hunc libellum musicae artis scolae cantorum per auni circulum. Lambil- 
lotte will in dem Worte oentonixare eine Anspielung auf die Notation 
des heil. Gregor fiiulcn: or, que veut dire cc mot? N'est il pas dürive 
du grec xtvTtw^ qul siguifie a^uiUoner^ poin^onner; et ne pourrait-on y 
tronver quelques relations «Tee les jmwi^s, les virguJes et tous les autres 
signes nemnraques? (Antiph. de St. Gr^g. S. 25). Diese Frage ist ent- 
schieden zu verneinen. Cento ist ein gutes klassisch lateinisches Wort und 
bedeutet ein Zusammengeflicktes. So sagt schon Plautus centones ali- 
oni sarcve, für Jemanden Lappen snaammeDnlhen, was hier als „anltlgen* 
gemeint ist. Bei Jul. Caesar werden Schutzdecken 7.um Abhalten der 
Geschosse centones genannt. Juvenal (Sat. VI) saf^t von Messalina: 
Intravit cahdum veteri cen/one lupanar. Endlich hiess cento ein aus 
allerlei Gedichten zusammengesetztes, zuBammengestop- 

Seltes Poem, wie der Conto nuptialis des Ausonius. Den gleichen 
ixm behielt das Wort im Mittelalter. Ho erklärt das Glossar Ton du 
Cai^: Oentonissre ex ▼arii« libris describere, exoerpere. 

1) n^^lucnm emnnon fecit, quemadmodum sanctus Ambrosias dictu9 
eit cantum suum modnhxsst . ' In der folpron<len Erklärung lösen Ra- 
tionalismus und Wunderglaube einander ab: et huc quidem ut asseriut 
propter fatigataones morborom, fiut enim Semper qnartanarins et prae- 
terea urgebat eum syncopsis et porlngra. Alii diennt, et melius forte, 
qnidquid scripsit Gregorius tarn in cantu quam in prosa, et materiam et 
quantitatem et qualitatem a Spirita Sanöto aocepit. (Summa Muaicae 
ei^ m bei Ctarbert fleripL 8. Bd.) 



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Der Gregorianisdke Gesang und saine Verbreitung. 



45 



Einheit der kireUicben Praxis willen, den AmbioBianiBchen Gesang 
nach Thunllehkeit sn hesehritnhen, wo mSglieh an beseitigen, ins- 
besondere Karl der Grosse, der sogar die Arabrorianiscben Ritual- 
bttchcr verbrennen Hess. Hentzutag hat eich die letite nachweisbare 
Spur Ambrosianischer SingAveise länfjst verloren, auch in Mailand, 
obwohl sie dort noch an dem Ambrosiauischen Ritus festhalten. 
D&a» Grefjor bei der Redaction Ambrosianischc Melodien mit auf- 
genommen hat, ist Nvolil ausser Zweifel. Es muBS aber zwischen 
beiden Singweiseu ducU ein sehr fühlbarer Unterschied gewesen 
sein-, denn Radnlf von Tongern, ein nnverwerfiicber Zeuge aus 
dem 14. Jahrhundert» der den Ambrorianischen Gesang nodi 
hSrte, renieheit: er habe ihn ydllig anders gefunden aJs den 
idmischen (ommma aHum a romano), feierlich und krSftig (so- 
Uimem et fortem cantum), wogepreii der römisch -gregorianische 
mehr einfachsUsstönend und wohlgeordnet sei {magis plane dml^ 
coratus et ordinaftis)^) , eine Unterscheidung, die nicht geeignet 
ist eine deutliche Vorst(;llung zu pebcn, denn feierlich und 
kräftig darf der Gregorianisclio Gesang auch heissen^). 

Der heil. Gregorius war auch bedacht seine Singweise durch 
lebendigen Unterricht auszubreiten: er stiftete in Rom eine Öiug- 
schnle, weleher er die nötbigen Einkflnfte anwies und swei ansehn- 
liche GebXnde einrXnmte, eines an den Stufen der Peterbasilica, 
das andere beim Lateran. Dort lehrte er auch wohl selbst; man 
wies als Reliquie sein Ruhebett, von dem aus er lehrte, und die 
Gcissel mit weicherer die Knaben bedrohetc, wenn sie es während 
des Unterrichtes an gebührender Aufmerksamkeit fehlen Hessen^). 
Das Antiphonar selbst wurde bei St. Peter neben dem Altare mit 
einer Kette befestigt, es sollte hinfort als Regulativ fiir allen Kirchen- 
gesang dienen und jede vorkommende Abwoichun'; (Iciiuiach be- 
richtigt werden*). Die Erweiterung der Gruudiagon des Kirchen- 

1) De Canon, observ. X. propos. 12. 

2) Wer sich über die wirklichen oder angebliclien Untersfliirdi' näher 
belehren will, wird bei Forkel (Ueschichto d. Mus. 2. Bd. 8. 102), in 
Oetbert, De eantu und in den einschlft^^rigcn Artikeln der neuen Ausgabe 
der Biogr. univ. von F^tis (Amliroise, St. (Trcfjoire) das Gewiinsdite 
finden. Man sehe auch die Annierkini}; S. lö. Was Peretro's iiuch bc- 
trifii, so ist er als Autor aus sehr später Zeit (Ende des 16. Jahrhun- 
derts) ein wenigstens niöitt unbedeaklidier Zeuge, und was soll man von 
ihm halten, wenn er behauptet: x)rinia di Guido mouaoho AretmO non 
erano in uso altri tuoni che gl' autentici — !!! 

3) Scholam quoquo cantunim , quae hactenus iisdcm institutionibttS 
in sancta Romana ccclesia niodulatOTf conHtitnit: eique cum nonnullis 
praediis duo haljitaotila, scilicet alterum sul> prradiluis Basilicae bcati l'etri 
apostolii alterum vero sab Lnturauensis patriarclüi domibua fabricavit: 
ubi usque hodie lectus ejus, in quo reoobans modulabator, et flagellnm 
9ains quo pueris mina>>ntur, Toneratione conp^ma cum authentico antipho- 
nario reservatur (Joannes Diaoonos in vita St. Gregorü IL 6). 

4^ A. a. 0. 



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46 



XHe An&nge def eorop&üch-abendl&ndischen Hoiik. 



gesanges aber bestand darin, dass er an den vier anthentiacliea 
Kirelient5nen des Ambrorianischen Gesanges Tier NebentSne oder 

Seitentöne, plagale (von nXaytoe^ seitwKrtig, quer, schief), beifügte 
Oller vielmehr sie ans den autnentischen Tönen durch eine einfache 
Operation herausconstruirte; femer dass er die schwerklingenden 
griechischen Namen der Töne beseitiprtc und die sieben Stufen der 
Scala nacli den Hiel)en ersten Riichstabeu des lateinischen Alphabets 
Äf B, C, D, E, F, G luMiaunte. 

Für diese letztere Ueberlief'erung ist kein gleichzeitiges directes 
Zeugniss da, yielmchr könnte es fast als Gegengruud aufgegriffen 
werden, dasa Gregor deh nicbt seiner bequemen Buchstabennota- 
tion, sondern einer gans andern, scbwierigeren, undeutlicheren be- 
diente. Aber ein Grund von Gewicht fOr die Bichtigkelt der 
alten Ueberlieferung liegt, neben dem Umstände, dass die Wahl der 
lateinischen Buchstaben auf die Entstehungsweise dieser Notimng 
in Rom deutet, mit darin, dass die Art und Ordnung jener 
Buch stabenbezeicbnung nur dann erklärbar ist, wenn 
man ihr die erst von Gregor eingeführten Plagaltöne zultn 
Substrate gibt. Der tiefste der vier authentischen Töne fing mit 
dem als D bezeichneten Tone an. Nichts wäre natürlicher gewesen 
als den ersten Ton dieser Keihe vielmehr A, den sweiten B u. s. w. 
nt nennen. Dies geschah nicht Der sugehörige Plagaltost der 
tieftte der Kirehentöne, ist nun folgende Tonreihe: 

ABCDEFG a 
Und hier finden wir wirklich die Buchstaben des Alphabets den 
Tönen nach ihrer aufsteigenden Skala angepasst, so dass also auf die 
ersteNoto des ersten authentischen Tones der Buchstabe D zu stehen 
kommt, in den höheren Tnederholungen die gleichen Töne die 
gleiche Buchstabenbeseichnung behalten u. s. w. Die Bnchstaben- 
benennung der Töne stdit also mit der läntheilung der Kirehen- 
töne in authentische und plagalischeim genauesten Zusammenhangt). 

Der grosse Fortschritt in dieser Buchstabenbezeichnung be- 
stand, neben der Bequemlichkeit des Aussprechens, auch darin, dass 

1) Man hat die Erfindung der Buchslabenbcnennung der Töne auf 
Boethius übertragen wollen. J. .1. Rousseau (Lex. nni8. S. 327) sagt: 
les Latius, qui ii limitation des Grecs notCsrcut aussi la musique avcc 
les lettres de leur aiphabet, retranchteent beaueoup de oette qoaniit^ 
des notes, le gcnrc enhannouique ayant tout k fait ccssc d'etre prati- 
quu et plusieurs modes u'etant plus en usage. // parait que Boece 
itabiU Vwagt de quinxe lettres tmuement, et Qr^goire, eveqae de Romc, 
consid^rant quo les rapports de sons sont lesmemes dans chaquo nctave, 
roduisit piicnrc coh qninze notes aux sept premieres lettres de l'alphabet 
u. 8. w. Aus dem Werke des Boethius selbst ergibt sich für diese Mei- 
nung kein gcuOgender Anhaltapunkt 



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Der Gregoriainwdie Oeaanir vnd leiiie T&i^ataUag. 47 



durch sie das System der Octaven entschieden zur Geltung kam; 
der gleiche Ton wurde in höherer Octavc mit dem gleichen Buch- 
staben benannt. Damit war das alte System der Tetrachorde be- 
seitigt. Nach diesem System der Buchstabenbeneimung der Töne 
WQfden die TSne der tieferen Octave mit den grossen, jene der 
höheren mit den kleineren lateinischen Buchstaben beaeichnet nnd 
somit ein System von vieraehn Tönen ansammengestellt Dieses 
System wurde om den flinfzehnten Ton durch die Unterscheidung 
des b rohmäum und h quadrum in der Octave der kleinen Buch- 
staben vermehrt. In der Octave der grossen Buchstaben hatte das 
B immer nur die Bedeutung des B quadrum weil hier die Stellung 
der verminderten Quarte (des Tritonus) gegen ein noch tiett ies, im 
Systeme nicht mehr vorhandenes 2^ nicht vorkam, folglich die Noth- 
wendigkeit zur Vermeidung des Tritonus das b rotutidum anzu- 
wenden entfiel. 

Jene Vermehrong der vier Xlteren Kirehent9ne um vier neae 
bestand aber anf folgender Operation: man sah, wie wir noch ans 
Boethins wissen, die Octave ds eine Combination aus Qainte und 

Quarte an, z. B. Die Quinte war also neben der 

Octave das nächstwichtige Intervall. Nun waren die authentischen 
Kirchentöne ihrem Wesen nach Octavenuniläute; ihre Umstellung 
in die entsprechenden Plagaltöne wurde einfach dadurch bewerk- 
stelligt, dass iwsr die fünf ersten, tieferen Töne, welche das Spa- 
tium der Quinte füllten, an ihrer Stelle blieben, dagegen die der 
Quarte eigenen vier übrigen, höheren, den Baum der Octave völlig 
abschliessenden Töne um eine Octave tiefer gesetit wurdMl^, 
also a« B. beim ersten authentiHchei; 'r .nr: 




1) Nicht blo8 die Quinte gibt mit ihrer Umkehrung, der Quarte (und um> 
gekehrt), die Octave, sondern jedes andere Intervall gibt zusammen mit 
seiner Umkehrupj f ebenfalls die Octuve : die grosse Terz mit der k lej m'u 

Sext ^ ^ * T die kleine Sext mit der grossen Ter» ^ * TI"*T 

die kleine Ters mit der grossen Sext ^gJt^^ll^t die grosse Sezt mit der 

kleinen Ten ^.1^ a—c* Seconde und Septime. Es liegt hinin 

eine Art Analogie sn den oomplementtrea Farben der Optik. 

2) In diesem Sinne wurden die Plagaltöne schon von den ältesten 
Schrift steilem durchaus verstaTidcn. So sagt Flaccus Alcuinus (bei Gcrr 
bert, Script. Bd. 1. S. 26): Nomina autem eorum (tonorom) apud no- 
vsitota w anctflgitate atque ordine sompserc prinoipia: nam quatooi 



48 



Die AjofiUige der enropftisoh-abendläudischen Musik. 



Dadmeli stellten nch neben die vier andientiBchenTOne rier plagnle: 
der Flagim prohta, deuiena, hitus nnd idrardm; authentische und 
plegale Töne, in ein System Easammengestellt, bildeten die acht 
nach der fortlaufenden Zahl benannten Kirehentöne: 



Erster 
Kirchenion 



^4 ^ Ä 

5 m - yj F r , 

■^ iprT^zpii r-^ r — l.aathentTop 



Zweiter 1 * V - 
Kirobontob -jr 



1. plagaler Too 



Dritter (gg 
Kirohenton 1^ 



Vierter 
Kirohenton 



FOofter 
^rdienton — 



•Sechster 
Kirohento 



4 



i 



2. satheat. Ton 



2. Plagalton 



3. authent. Ton 




lansgalton 



ßieljenkr | ^£ 
Barchenten 



Aditcr f r 



Kirdienion I p^' — 



anthentTon 



4. Plagalton 



eonun authcntici vocantur ad principium eorum sonus refertur, eu quod 
alüs qaatnor quidam ducatus et magisterium ab eis praebeator. 

Und Aurclianus Reomoiisis: Etonini sunt (juatuor (oni, seilicet authcntus 
protus, autlieiitusdeutenis, authentustritus, authentub toti ardus, quigeminati 
ex 86 oclo reddere videiUur, quos quidam latm^ quidam autem discipulus nun- 
cuiMUit(a.a.0.S.81). Namquod quatun- eorum authentici Vi»cnutur, adprae- 
oipnumoonim sonum refertur, oo qtiod aliis quatuor quasi (juidam ducatus et 
magisterium ab eis praebeatur (a. a. O. S. 39). In ähnlicher Weise Hucbald. 
Nachdem er (MoiicaBncbirisdis Gap. IQ) gelehrt hatj dass der erste antben- 



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Der Gfegomnitohe Gesang und seine Terbratong. 49 



Der zweite, vierte, sechste und achte Kirchenton sind nicht in 
prleichoni Sinne selbstständige Töne, wie der crstf, dritte, lunfle und 
siebente; sie sind vielmehr nur zugehörijrc Xt bcntönc der letztern, 
oder eigentlich mit ihnen identisch und nur durch die veränderte 
Stellung der Quarte gegen dieC^uiute zu etwas anscheinend Anderem 
geworden. Daher hat die anthentiMhe Tonrdbe ihr grösatea Qe- 
wieht in ihrem Anfangstone, die erste in 2>, die sweite in Et die 
dritte in die vierte in G^. Die plagale Tonreihe hat nun folge- 
richtig ihren Schwerpunkt in oben demselben Tone wie die 
authentische, welcher sie angehört; aber dieser Schwerpunkt fallt 
nicht mit ihrem Anfang zusammen, sondern bildet ihren Mittelton, 
der fiir sie der eifjontliche Schiusstoii ist'). Was d.ngegen in der 
authentisciuMi Kcilu' der den Theilungspunkt bezeichnende, folglich 
in der Tonreihe zweitwichtige Ton war (in der ersten in der 
zweiten H, in der dritten 0, in der vierten Z>), wird in der zuge- 
hörigen plagalen Reihe Anfangston. Daher hat die plagale Tonart 
stets das Streben an ihrem Mittel- als ihrem wahren Gmndtone, 
eigentlich aber dem Gmndtone ihrer authentischen Tonart, empor^ 
ansteigen, nm in ihm zu ruhen ; im Grunde ist also diese Steigung 
eine der Rnhe zustrebende Senkung; der mittlere Ton ist es, auf 
den das ganze Tongebilde seine Beziehung nimmt. Weil nun aber 
der eigentliche Anfangston kraft seiner auffallenden Stellung im 
Systeme sich bemerkbar macht, kraft (li«'ser Stellung als Ilau))tton 
gelten niöchtc und es doeh nicht ist, so halten die jdagalen Töne 
«'twas Schwankendes, ein Streben zu ihrem tVrsteH, festgegründeten 
authentischen Tone hin. Im authentischen Tone ist das Streben 
SU seinem ICtteltone (der fUr den sngehörigen Plagalton der 
Gmndton ist) kein sich aur Rnhe Senken, sondern ein wahres that- 
- krftftiges Emporstreben, eine Entlemnng vom Ruhepnnkte, der erst 

tische und (b r orsto Plapalton iiuf D, die zweiten hufE, die dritten auf i^^ die 
vierten auf G eudi^en (terminales sive tinales dicuntur, quia in unum aliquem 
ez bis quatuor mdo§ omne fimiri neee$9e est), Murt er Gapitel V fort: Prae- 
ter ea cum eodem sono autenfus quisqiie tonus d qui nuh ly/.so est regan- 
tur et tiniantur nnde et pro hnhentur tonn vic. Ebenso Rogino von Prüm: 
ab authcntico proto nascitur vel derivatur plaga proti. Sic et a ceteii» 
tribuB exordium capiunt reliqui tres suntqut ut ita dicam eorwn membra 
(Gerbert Script. 1. Bd S. 232). Guido von Arezco besingt dieses Ver^ 
haltniss in folgenden Versen: 

Qaonun dno unam vocem tenent at praedizimus, 
"Quia vocum in natura quatuor mnt potiua, 
Quo8 n sapis hac in arte nihil est uHUus. 
Klar Gedachtes iiudet sich auch in dem Opusculum uiusicum des Her- 
mannua Contractu«. 

1) Vergl. die oben citirte Stelle über die Finaltr»ne in Hncbald's En- 
chinadis, bei Gerbert Script, 1. Bd. S. 232. Ferner die älndiche in üuiilo's 
von Arezzo Disciplina artis musicae Cap. XI u. Xil (a. a. 0. 2 Bd. 
S. 12). Ein Joannes de Anglia pflegte sn aagen: tota ?is csntos ad 
finales respicii (a. a. 0. 2. Bd. S. 53). 

ABbxof, OMClOclit« dM Miuik. IL i 



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50 



Die Anfibige der enropftitch-abeDdl&ndischen Masik. 



durch die KQckkehr sam Omnd- nnd Anfangstone wieder erreicht 
wird. Nicht hilfsbedflrftig, sondern liebevoll entgegenkommend be> 
rflhrt der anthentiBche Ton das Gebiet seines Piagaltones; er gibt 
daher ein Bild des festen, kraftvollen, mlnnlichen, so wie der 
Plagalton, dor zu seinem anthentischen Tone hinstrebt, ein Bild 
rlcH schwankenden, stiltzungsbedUrftigen, weiblichen*). Den 
autlieiitisciKMi Ton treibt es liinaiis ans der Hube r^T Bewegnnf», 
der plagalc Ton htrebt aus der Bewegung in die Kuhe zuriirk- 
zukebren. Der autlientiscbe Ton bat die Bedeutung der Touica, 
der Plagalton jene der Dominante: 



a. 


p 




a. 


P- 




a. 


P- 


a. 


P- 


'r^y.~-T. ■ 






-I' 


— ^Zl 




ö_ 






— Ä_ 




\ 




"7 

1 








-1 



Der These des anthentischen Tones, welcher die Fortbe- 
wegnng von der Tonica snr Dominante setzt, 

steht der Gegensats sdnes plagnlon Tones entgegen, welcher 
sich in der Kttckbewegnng von der Dominante snr Tonica 

od» 

ansspricht Ihre vermittelnde Einigung, in welcbersie beide ruhen, 
nach welcher sie beide hinstreben, tinden sie in ibrem gemeinschaft- 
lichen Haupttone, welcber in der autbentischen Tonreibe der erste, 
in der plagalen der vierte ist. Der Plagalton stobt mit seinem 
authentiscbeninuntrennbaremZusamnienliange und kann mit keinem 
andern verbunden werden''^). In jedem dieser Töne fand man aber 
eine cigenthUmliche Charakteristik, eine nur ihm eigene Ffirbung^). 

Es ist leicht einansehen, dass der erste und der achte Kirchen- 
ton, ohschon sie ans gans denselben Tönen und Intervallenfort- 

1) Man vergleiche die charakteristischen Formeln bei Hermannns 
Oontractus, Gcrbcrt Script 8. Bd. 140 o. 142. 

2) Si vnlueris seqreparc a mfiiristm discipulum. i»l est ab autbentu 
protoplagis proti etcoiijungere cum uUt^uoaltero touo, uonvales. Similiter 
et de oeteris mtelligendam mt tonis, qnis semper origo inferioris a soperiori 
initium ducit (Aurelianus Reomensis, cap. II. Gerbert Script. l.Bd. S. 31). 

In ( )d(lo's Dialog heisst es : M'igister: — hi quatuor autem dividuntur in 
octo. Discipul Hü : (^uürc'f M.Pt opterelevatosethumüeacantus. Namcumacu- 
tttsvel elevatos fuorii cant us in authento proto, dicitormodua authentos protos. 
Sivero fuoritgravi.s vel {luiuilis, in eodem nutbento proto tlicitur plaga proti. 

3) Figulus gibt tolgeude Charakteristik der Kii'chcnt<lne : primus 
hilaris, secundos maestas, tertius aostems, quartos blandus, quintoa ju- 
cunduf, leztus mollte, septimus irraTii, octavun modettu#. 



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Der Gregorianiflcha Gesang and seine Verbreitang. 



51 



sehreitniigeii bestehen, doch nichts weniger als identisch sind. Jener 
hat die Nator eines authentischen, dieser eines plagalen Tones mit 
allen sich an diese Unterscheidung hängenden Conseqaenzen. Der 
sweite, vierte und fünfte Kirchenton hat (1aß:cgen eine Art Doppel- 
natur: diese drei Tonreihen sind als Plagaltöne von ihren authen- 
tischen Tönen abhSngij?, aber nach der in keiner der ^^pr atjthen- 
tischcii Toiircihcn in glciclior Weise vorkoinnuMuU'u Stolluiip: ihrer 
zwei Ilalhtüiie können ni«' aucli s(>l))stberecliti^te ( )( taveiiarten, 
gleichsam drei andere, neue anthenti.sche Töne rej)rä.sentiion , wo 
dann der Anfangston wirklicher Grundton wird und jenes Verhält- 
niss von AhhSngkeit verschwindet, ja die Fiüiigkeit voifaanden wSre 
selbst wieder drei Plagaltöne m entsenden, s. B. 

A H C D E fga 
EFQAECDE 

4 6 



Die Tonreihen von A und von C wurden freilich erst später, 
nnd ansdrficklich erst durch Olarean im 16. Jahrhundert) wirk- 
lich In diesem Sinne gleichsam emandpirt; bei der Tonreihe 
von H trat der Abtheilungston F fidschtönend auf und Hess 
ihre Anwendung bedenklich erscheinen^). 

Die Theorie mnsste gewisse bestimmte unterscheidende Kenn- 
zeichen aufzutinden snriien und mnsste diese Kennzeichen in feste 
Ref^eln bringen, mit denen gleicliwi»lil nitlit für alle m()glichen FM'llo. 
vorgesehen war, daher sie nntligedrungen si>;renannte Misclitonali- 
täten (toums comtutjctu^ und loum pcrniivtwsi gelten lassen mnsste. 
Ein tiefgelehrter Mann wie Pietro Aron konnte die Natur und Unter- 
scheidung der Tonalitäten sum Gegenstande eines ganzen Buches^ 
machen; auch Glareanus in seinem Dodecachordon, Tinctoris, Fran- 
chlnus Gafor, Hermann Finck u. A. behandelten dieselbe Sache mit 
Fleiss und Gründlichkeit DieharmoniseiHMi l^ lationen der TonalitXt 
im neuerenSinne beherrschen unsere melodische Erfindung durchaus; 
dicGregorianigche war davon unabhängig. Die neuere Melodie weist 
iiberall auf die gleichzeitig gedachten Grundharmouien; die Grego- 

1) Mattheson (VoUkoniraener Kapellmeister 8. Bö §. 37) sagt darüber 
in seiner derben Weise : „sie worden genOthigt, auch sogar den siebenten 
diatonischen Klang, welchen man h nennet, mit alhiii seinem Aidmnfje 
und Staffen- Werke für unäcbt als einen H — söhn uro spurco zu erklären 
and zu Terwerffen, weil de entweder ans grober tlnwinenheit oder aus 
thOrkditem Aberglauben und schiilfüclisigem Eigensinn, demielbAi Gnmd* 
Mango die Quinte fis nicht ziigestehen durfflen". 

2) Trattato della natura u cognizione di tutti gli tuoni, del canto 
fignrato non da altmi pin scritti, oomposti per Messer Pietro Aron.Musico. 
In Vinesia per maestro Bemardino de Vitali, Venesiano MGOGOOXXY. 

4» 



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52 Anfänge der europäisch -abeudläudi«chen Musik. 

rianische, gleieh nnprUnglicH ▼on latenter Harmonik nnabbXngig, ist 
in ihrer Tonalität nur aus ihr selbst, also aus ihrer bewegten Fort^ 
schreitung zu erklären, daher die Theorie ganz richtig die unterschei- 
(loiulou Merkmale aus der zeitlichen und räumlichen Gestaltung der 
Melodie schöpft (zeitlich, insofern gewisse Tonstufen zu Anfang, in 
der Mitte und zu Ende nacheinander sich geltend machen; räum- 
lich, insofern der Melodie ein gewisner Umfang von Tonstufeu 
and ein gewisses Gebiet der Octaye, in dem sie sich vorsttglieh 
bewegt, zugewiesen wbrd). Daher definirt Hennann Finck: „Die 
TonalitSt ist eine gewisse Besebaffonbeit der Melodie, kraft deren 
ihr Anf- und Absteigen nach gewissen Regeln geordnet ist, ge- 
m<äss welchen wir jeden Gregorianischen Gesang sa Anfang oder 
in der Mitte oder zu Ende beurtheilen"^). 

Aus dem Anfange beurtheilte man sogleich, ob der Ton 
authentisch oder plagal sei; denn steigt der Tongang gleich über 
die Öchlussnotc, so ist er authentisch, fallt er uuter die Schlussnote 
und verweilt dort, so ist er plagal 2). „Der Ton gerader Zahl will 
steigen; aber er will fallen, wenn er ungerade ist'* 3). In der Mitte 
kennaeichnet den Ton der Umfang {antbitus) und der Wiedersehlag 
(r^ßeratasio)* „Steigt der anthentische Ton,** sagt Heimann Finek, 
„über seinen Finalton bis aar Octare, Nene oder Desime nnd ftUt er 
damnter blos nm eine Beennde, so ist er anthentiseh ; wenn er dagegen 



1) Temas est certa qualitas melodiac seu aficetua eanttonom, qoi 
certa« rofjulas ascendondi et desccüdendi habet. <}uibus oinnem canium 
gregorianum aut initio aut medio aut fine diiudicamus (Herrn. Finckii 
Fraot. SUIS. — ersoluen 1566 — IV. lib. de Tonis). 

^ A. a. 0. Hemaim Finck gibt unter andern dasa folgende Beispiele: 

Finalton D. Tonalität: 1. authentischer Ton. 



















\ 1 jr y " cy_^\_^ ^ 



Oa-li-oem ta-la-ta-ris »o - d - pi - - - - am. 



Fiualton E. 2. plagaler oder vierter Kirchcntou. 





— -1 ■ 




To - U 


— Ä»— 
pol - chra 




es. 



Schon Hacbald (Ende des 9. Jalirlmnderts) pil)t dcTi •spezifischen Umfang 
f&rden aufsteigenden authentischen Ton in solcher Weise au: Uuusquisqae 
tonus authentious a suo finali nsque ad nonum sonum ascendit. Descen- 
dit aatem in »ibi vicinum et ali(|uaiido ad semitonium, vcl ad tertinm. 
Dagegen boscliränkt Hucbald den Plagalton strenf? auf die Octave: 
Piagius autem usque in quartum descendeus ad quiutum ascendit. 

^ Yolt descendere par, sed sc andere volt modos impar (Glarean. 
Dodecachordon I. 5). Die Modi par es (2. 4. 6. 8.) sind die plagalen, 
die Modi impares (1. 3. 5. 7.) die authentisohen. 



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Der Gregovtaaisolie Gamig und wine VerbreHnng. 



eine Quarte oder Quinte unter seinen Finalton föllt, dagegen um 
eine Sexte oder Septime darüber steigt, so ist er jdagal." Auch 
hier wie man sieht will der ungerade steigen, der gerade fallen, 
und das Schiefe (nXäywy) de8plagaltouesbj[nicht hich charakteristisch 
hl dem Schweifen ober- und unterhalb seiner Finalnote aus. Ur- 
sprünglich scheinen die Kirchentöne wirklich, wie sie noch Her- 
mannnsContractuB charakterisurt,auf ihreOetave besohrSnkt gewesen 
SU sein, der erste auf D — d, der zweite auf Ä — D — a n. s. w., wobd 
ihre Eigeuthümlichkeit auch leichter kenntlich blieb. „Dann fitgte 
man,^* wie Bischof Theogerus Ten Mets, (lebte um 1100) bemerkt, 
,,au8 Liccnz oben und unten einen Ton zu^). Zuweilen finde man," 
fShrt Theogerus fort, ,,das8 der erste, zweite, dritte und achte Ton 
statt eines Tones oben deren zwei annehmen und zu Decachorden 
werden." Damit war schon genau der Ambitus festgestellt, wie 
ihn die Theorie anerkannte und beibehielt. Der erste authentische 
Ton {C)DEF0ÄHed(e) (f) steigt dann wirklich vom Final- 
tone D nm eine Oetave oder Nene» oder, wenn noch / beigegeben 
wild, nm eine Dedme und ftllt um eine Secunde. Der erste Plagal- 
ton, ähnlich erw^idtt{r)ÄHCDEFGa(h) (r), steigt vom Finalton 
Dum eine Sext D — Ä, oder nm eine Septime {D — c) und fJillt um 
ciiie Quarte A — D, oder um eine Quinte P — D. So ist also die auf 
den ersten Blick willkUhrlich sclu'inende Bestinimnng des Ambitus 
eine einfache Folge der unbedeutenden Kr\s riti iini^ der urspriing- 
lichenOctavenreihe. Diese Erweiterung erkennt sc hon Ilucbald von 
St. Amaud und Abt Oddo au. Letzterer statuirt in seinem Dialoge 
die Kirdhentonaxten als Tonreiben von nenn Tönen. Die erste von 
C bis d: „einige wollen daraus ein Decachord machen," sagt er, 
„und geben noch einen Ton in** n. s. w. Der Gesang könne sich, 
sagt Oddo weiter, in acht, neun oder zehn Tönen bewegen*); das 
Blrste wegen der Octave, das Andere, weil die Nune aus zwei anein- 
andergerückten Diapente bestehe (D — A. A — e), das Dritte aus 
Achtung fUi den (selinsaitigen) Psalter David's, oder weil die Desime 

1) Frimus igitur tonus vel tro^us sive modus versatur re^ulari cui-su 
Inter D et d, ulpote in anis speciebus et es Heentia anumU utrimque 
ehordam vd Tocem. Dasu gibt Theogerus folgendes Scliema: 





StopMOB 




Protot 


1 TODOS 


Diapente Diatcisarna 


ToDua 1 


1 c 


DEFGa\ 64 c d 


« 1 



Analog für die fibripon Töne. 

2) Auch Guido von Arezzo (Discipl. artis musicae, XIII. de octo mo- 

domm agnitione) sagt : Anteuti vix a tue fine plus tma voce detcendunt . 

Asccndunt autcTn uutcnti upcjuc ad octavani et nonani vel ctiam decimam. 
Plagae vero ad quintam n mittuntur et infendunlur; seil intensioni sexta 
Tel septima auctoritate tril)uitur, sicut in autcutis nona et decima. 



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54 Die Autange der europäisch •abeudlHudischeu Musik. 

gerade drei BiatesBaron begreift (D — G, Q — e. e — f). — Die 
Bepercussion ist das cbüakteristiBche Intenrall, das in jeder 

Tonart zumeist angeschlagen wird: im ersten, dritten, fibiften 
nnd siebenten Kirchentone die Quinte der Finaltöne, im zweiten 
nnd sechsten die Ter/, im viei-ten und acliten die Quarte 
Die vielen Textessyllu'ii , die beim Psalmodireu u. s. w. auf die 
Miit«'lpartie des Mclodicabsutzes kamen und am bequemsten auf 
einem und demselben Tone zu singen waren, schciueu diese 
Repercussionen veranlasst sn haben. 

Was endlicb die FinaltSne selbst betrifft, so meint Abt Oddo, 
ohne ihre Kenntniss sei gar nichts anzufangen^. Nun ist zwar der 
regelmitssige Finalton für den ersten und sweiten Kirchenton D, 
fiir den dritten und vi. rten E, für den fünften und sechsten Fy für 
den siebenten und achten G; aber neben dem wirklich auf dieser 

1) Man prägte es durch die Verse ein (Finck a. a. O.): 
D— i. D— #. 



Re la fit pri • mi Re Da nor - ma se • cun-di 

* 4 



E-H. 




A. 








J «»^^ r— ^-U 















Mt mi dat tertios, Mi la po - seit ti »bi qnar-tus. 



5 S 

F-0. F— D. 



^ — ■ «9 py -f^ 



Ut sol quiuttis petit. fa la sextus sibi quaerii 

5 4 

O-D. G-C. 











u 










1 40 A 9 0 ^ A ^ 1 











nt sol impar tetrardas, nt fa postrema« h»>bebit. 



In (Tinvaimi Battista Rossi's Organo de cantori (1618. S. 8) kommen ahn- 
liche Gedächtnissverse vor: 

jKc \a vult primus, re fa retinetque secimdus, 
Per sextam mt fa temo, quarto dato mi I0, 

fa fert quintus, fa la praebet tibi sextus, 
üt 80I septenus, ut fa cai)tatque supremus. 
2) Magister: Tonus vel modus est rcgula, quae de omni cantu in fine 
d^udicat. Nam uisi scieris finem, non poteris cognoscere, ubi incipi vel 
quantum tlrvari vel d('|>oni del)t'at cautus. rHscipulus : Quam regulam 
sumit priucipium a ünei* M. Omue prinuipium secundum praedictas sex 
oonsonantias suo fini oonoordare debet. Nmla vox potest indpere oantum, 
nisiipsaTel finalis nt^ vel consonetfinali per aliqnam de sex consonantüs n. 1 



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Der Gregorianische Gesaug und seine Verbreitung. 



55 



Tonlitthe endigenden Geeang (eaniuB regidaris) wendete man «ach 
noch den transponirten an, da es bei den kirclilichenTunalith'tcn nicbt 
wie bei unsoren auf die absolute Tonböhe, sondern auf (iic Stellung 
der beiden Halbtonscbrittc in der Octave ankam. Am liebsten führte 
man den transponirten Gesang (canfus oder iouus transpositus) in 
der Quarte oder (^hiinte des rr<:iilären aus, tlieils in einer Art Heiiii- 
niscenz an das antike hyi>o und hyper, tlieils weil die Transponirung 
auf diese Stufen am zweckniässigsten schien: also ein Gesang, der 
B. B. natürlich (nicht transponirt, regulär) auf C anfing, wurde ent- 
weder Yon F aus gesungen, wobei als Quarte das h rohmdum oder 
moUe angewendet wurde (cantus thmoüan$, cmUw moUis, wie man 
sieht, etwas gana Anderes als unser MoU), oder von O ans, wo das h 
quaänan oder dumm, unser h, gebraucht werden niusste (cantus 
b-(luralis, canius dunts). Alles dieses stand mit dem Wesen der 
sjjäter zu besjireelieiiden sopennnnten Solniisation im genauesten 
Zusanmienhange. AIxt die Leiter der JSinj^ehöre liesseii, wie wir 
aus Pietro Aron und sonst wissen, ofl genug aueh in andere 
Intervalle transponiren. Als man gar noch unregelmässige Schlüsse 
auf den sogenannten Coniinaltönen zuliess, so sehwand vollends 
jeder sichere Anhaltspunkt, den die Schlussnote htttte gewlthien 
kdnnen. Ueberdies mussten, wie schon erwähnt, BlischtSne (toni 
mixti) und Neutraltöne (totd neiäraU») statnirt werden. Es 
sind, wie Hermann Finck erklärt, solche, welche weder völlig 
den Gang eines authentischen noch völlig den eines plagalen 
haben. Der Mischton steigt eine Octave oder noch höher und 
ftllt eine (Quarte, durchläuft also das f5el)iet des authentischen 
und des plagalen Tones, er ist eine Miscliuu^ heider 2). Der 
Neutralton erhebt sich nicht Uber die Sexte und fällt nicht 
unter die Terz; er ist also weder entschieden authentisch, noch 
entschieden plagal. „Bei Gesängen solcher Art,'* sagt Hermann 

1) Siehe dess*en Lucidaho IV. 6 del modo di procedere oon le sei 
sillabe accidentali. 

2) Anch Fruiichinus QtSvr (Mna. pract. I. 7) erklärt : Mixtus tonos 
dicitnr si autcuticns rst quuHi vel totnin «zraviiifj siii ])la<r;ilis ntfifft'rit te- 
trachordum vel duas saltem ejus chordas (hei aho der uutlu utiHche Ton 
statt um eine Secnnde mn eine Terz, so war er schon gemiHcht). Von dem 
Bfischton (tonus mixtus) \<i d. i vi'nniaohte Ton (tumi!* conunixtu») zu unter- 
sclu'id'-n. Er entsteht dudiui h, tlass im Lautr ciiu r lit'stiinmten Tonalitftt 
entächiedeu iu eine andere ausgewichen wird. Ciafor sagt: Cunuuixtus 
toDQB ^dtnr li autenticuB est, quam in eo «peeies alterini quam sni coU 
lateralis (denn in diesem Falle wJlre er mixtus) disjionif nr. Sin autem 
fuerit plagalis, dicetur commixtus, quuni alterius quam sui ducis et im- 

itHTis eonsonantes continot fomias. Auch Tinctoria behandelt in seinem 
j'xhiT de natura et proprietate tonorum (cap. 13 de comroixtione tonoram) 
<1« iisell)on (rogenftniid : ..Si vero aliiiuis octo tonorum i»raedictorum a 
principio usque ad tiuem ex six^ciebus diapeute et diatehserou sibi modo 
quae diximuB attributia non merit formatns, hnmo speciebus oniu« aut 
plurinm oommiflceatur, hnjusmodi tonus eommiseku vocabitur. Verbi gratis, 



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56 Die Anfiknge der eiiropiiMih*abeiidliiidiMlbeii Musik. 

Finck, ,,8ehe man auf den Scliliisston, da zeigt es sich, woliin 
sich der Oepang mehr nci^'t: füllt er von der (Ober-) Quinte 
zum Fiimlton, so darf er tiir authentisch gelten; dagegen ist er 
plagal, wenn er von der (Unter-) Quarte zum Schlusston steigt.** 
Der Grund ist nach dem Erklärten leicht einzusehen. Schon 
Hucbald redet von solchen Hischtönen, die er Pantpteree nennt, 
nnd deren er vier Btatoirt^). 

Diese KirchentSne worden Toni oder MoM genannt, eneh 
wohl Tropi oder «nch Tenores, insofern sie nSnüich als eine fest- 
bestimmte, genau einsuhaltende Norm {fenor) anzmeben waren*). 
Letzterer Name kam aber ausser Gebrauch, als man im mehr- 
stininii^cn CJesnnp:e den canius finnus Tenor zu nennen anfnip^*^). 
Unter den Trttpen verstand man nicht sowohl die abstrakt ge- 
nommenen Tonarten, als 3Iclodii l"ui mein, die nach den Kirchen- 
tonarteu gebildet beim Psalmen- und Kesponsorieugcbange an- 
gewendet wurden; sie bildeten rieb mit ibren mannigfachen 
Abweicbungen (Differensen) im Lanfe der Jabibunderte in der 
Idieblicben Praxis allmXlig ans^}. 

Als die cbarakteristiscbe Eigenheit des Gregorianischen Ge- 

si in primo tono oonstitaatiir quarta apedes diapente, regulariter attribota 
septtmOi tarn appeUabitnr hic tonus primu§ flqrfMio cosunuefM, vt bio patet : 




1 



Die Theorie wurde nicht müde Diatuictionen zu machen, z. B. die im 
Grande mQsnge der vollkommeneD, iiBToUkommaieD nnd libervoUkom- 

tnenon TorialitatcTi (t. pcrfcctus , imperfectuB et plusquamperfectus), je 
nachdem der legale Umfang vöUig, oder nicht völlig ausgefüllt, oder über 
ihn hinausgegangen wurde. 

1) Farapteres dicti eo« qnod iter praeparant descendendL — — Pap 
rapter primus coutingit tontim secundum et intrat in versum ut tones 
secunduB, et finit sicut tquus primus u. s. w. (De armon. inst.) 

9) — rogattis a fratribat, nt super quibnsdam regnlis modulattonimii 

quas tono» seu ienores appellant praescribcrem sennoncm (Aureliani 

Reomcnsis Musicae disciplina, in praofatione, bei Gorbert Scriptores 
Bd. 1. 8. 28). Tonus est totius coustitutionis harmonicae dififerentia et quan> 
titas, quae in vocis accentu sive tenore consistit (a. a. O. Gap. VIII. 8. 39). 

3) Wicdt.M- in anderem Sinne verstiht Guido von Arezzo das W'uri 
Tenor: es ist ihm so viel als Ualtetuu, ausgehalteue Note. Es war eine 
Eigenheit Giiido*8, wie «ach sein Gommentator Cotton bemerkt: Tenor 
aotem ateneo, sicut nitor a niteo, splendor a splendeo — — — sed et moram 
idtimae vocis Guido tenorem vocat (XI. de tenoribus modorum). 

4) Unter Trojicn versteht man dermal im Choralgcsange insbesondere 
die Schlussformel des sogenannten Evovae (d. i. Saeculoram Amen). Her- 
mann Finck sagt: Trn]»us est Im vis concentus in cujusque toni rejier- 
cussione iucipieus, quae in siugulis versibus psalmorum et responsoriorum 
et in tirii additur per istas litteras Euouae, quae siguiiicant saeculorum 
Amen. IIi(rüher,towie Aber die damit inVerbindung stehenden Differensen, 
die ConHnaltöne u. s. w. Pfbe man dif^ T;<^liH>üclicr des Clioralfypsanprefj : 
etwa U. L. Kimberger's Haudbuch des rüm. Choralgesanges, Landshut lööö. 



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Der Oregorianisohe Gtemaag und Mine Yeathnaknng. 



57 



Sanges wird insgemein angenommen, dass er sich im Gegensatze 
gegen den metriselien, die QaantitSteii der Bylben geiuui beobach« 
tenden^) AmbrosiMiiachen Oesang« in lauter ganz gleiebmässig lang 
ansgehaltenen Noten bewege, dasa er also jenen eigendiftndichen 
CSharakter habe, der den Choral von allen anderen Singweisen ans- 
zeichnet und ihm jenes streng Feierliclie, ernst Gemessene, jene 
würdevolle Ruhe und vollauKtönende Klangwirkung gpbt, durch 
welche er so sehr gei'ij^net ist für eine chonnässij^ sinkende Aft'n<^o 
den rechten Ton und Ausdruck der Andacht zu g^ewäliren. 1 »avon 
heisse der Gregorianische Gesang auch cantus planus (tVaii/ösisch 
plain chant) oder caidus choralia. Aber diese Unterscheidung erfor- 
dert eine tiefere Eigrilndung des Gegenstandes, als dass sie mit 
einem so allgemein lautenden Ausspruche fttr erledigt angesehen 
werden kSnnte. Zur Zeit des heil. Gregorins war die antike Metrik 
noch weit mehr in Yttgessenheit gerathen, als zur Zut des heil. 
Ambrosius; für GesKnge des Chores oder vor der GemMnde war es 
durchaus zweckmässig jede Unterscheidung der LSngen und Kürzen 
der Sylben zu beseitigten. In der Gleichdauer der Töne la;r auch 
eine Art Bürgschaft für den genauen und präciscn Vortrag ilt's (ie- 
sanges, wenn ihrer Mehre zusammensangen. AVenn alier der einzelne 
Priester am Altare Psalmen, Gebete, Kvaugelientexte singend oder 
im Singloseton (im Concentus oder im Accentus) vortrug, so hätte 
es gar nichts Ungeschickteres geben kdnnen, als ihn lauter gleich- 
gemessene Sylben hVren sn lassen. Hier war eine Art Declamation, 
eine Art nach der musikalischen und grammatischen Periode wech- 
selnden und durch diesen Wechsel erst mit Farbe und Ausdruck 
belebten Vortrages unentbehrlich. £s konnte dabei nicht auf eine 
subtile Anwendung des Vortrages ankommen , zumal hei den in Prosa 
abgefassten Texten, sondern nur auf die natürliche Betonung im 
Aussprechen des Lateinischen, das uhnehin jedem Priester geliiufig 
sein musste. Fiel es doch mehrere Jahrhunderte spJiter noch auf, 
als ein ileiliger, der zugleich ein grosser Denker und Gelehrter war, 
ans lauter Bemuth statt dOcSre immer dOcl^rS aussprach^. Der 
Gregorianische Gesang war nicht so gans „plan", er hatte gleich 
onprBnglieh eine Menge Vortragsmanieren und Modificationen. Ro* 
manns, der zu Ende des achten Jahrhunderts von Papst Adrian 
ganz eigens als Lehrer des Gregorianischen Gesanges abgesendet 

1) Cantni autem hujusmodi niuHici acewatfa Tocant, <|iiod in eomm 

cornjtositoTK^ cura adliilM-atur. Hos ctiam metricon yn-r sinnlitudiiiom ap- 
peilaiit, uuod more met rorum certis legibus dimetiautui\ ut sunt Ambro- 
wiam (Job. Ootton XTX. bei Gerbert Script. 2. Bd. 8. 265). 

2) Dasselbe Wort braucht Bcmo Augiensis als Beispiel. Die Stelle 
ist sehr bezeichnend: — apta et concordabili brevium longorumque Bonorum 
cqpulation^ componitur cantua — — si quis in secundae coiijugatiouis 
▼erbo acuto aocentn in antipenultima pronuntiat ita docete, \v\ in tertta 
conjngatione in penultima circunifli xn Ityite, omnino ipsa aaditus novitate 
Ubescit (bei Gerbert Script 2. Bd. iS. 77). 



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58 



Die Aufäuge der europäisch -abendländischen Musik. 



wurde, seichnefce in sein mitgebrachtes Antiphonar eine Menge Vor- 
tragsseichen ein. Da ist eine Stelle rasch (c. d. i. celeriter), eine 
andere gehalten d. i. teneaiur) zu singen, ja ein celcritcr-teneatar 
(c. t.) drttcktaus, dass die erste Note fast wie ein VorHchlag r.Kcli, 
die andoro (laj;<*<ron ansj^fhalttMi zu nehmen ist. Ein lnM^'^tvot/ti s h 
(hent'j v(;rstäikt /iiwcilcn diese Cieliote. .In in den 'rnii/.ciclien, in 
den Neuiiu'H, wie sie iiiesseii, ist oft uel»en der lie\vt'j;inijij der 
Stimme auch das Ma>s der Hewejjung vurge.sehrielien : der Semivo- 
caliö besteht z. Ii. in der Umkehrung des celeriter und teuere, es wird 
die erste Note gedehnt, die zweite kurz genommen; der Gntturalis 
gleicht einer raschen Triole u. s. w. Als im 13. und an Anfang 
des 14. Jahrhundert die viereckige Choralnote an die Stelle jener 
Neumen trat, zeigen italienische, spanische und poitu^^ncsisehe Can- 
tionale aus dem 13. Jahrhundert gleich die Unterscheidung zwischen 
der quadr.itischeii und der rautenförmifjen Note. Die Rautennote 
hiess aber nacinnals nota semibrevis, zum Zeichen, dass sie nur die 
halbf Dauer der quadratischen Hr<'\ is bt'deute. Aucii an Zierden, 
an allerlei Tononiaiiientik fehlte es dem Grej^orianischen (»(»sauge 
keineswegs. Die »Säuger wendeten im Vortrage eine Menge von 
Feinheiten an, deren Erlernung späterhin den rauhen Kehlen der 
frSnkischen Sttnger sehr schwer fiel. In dem Antiphonar von 8t. 
Gallen sind Neumengrappen mit beigesetstem b. e. (bene celeriter) 
au finden, die sich unschwer als Versiemngen nach Art unserer 
DoppelschlSge und Gru]>etti erkennen lassen, und die wahrschein« 
lieh der Vorsingende allein ausführte, da ihre prSsise Ausführung 
von einem ganzen Chor nicht auszuführen wlire. Das ,,('ircum- 
flectiren" und ,,('ircumv(»lviren'* einzelner Textessylben , von dem 
Aurelius Keduiensis spricht, scheint auch nur eine Art Doppels< iila^ 
oder eine ähnliche Verzierung des Gesanges andeuten zu sollen 
Die Stfnger hatten ihre C^uilismen, d. i. jenes tremulirende Angeben 
eines Tones, welches Engelbert von Admont mit dem Sehmeäerton 
der Trompete vergleicht und welches die neuere Gesangknnst Tiillo 
caprino nennt^); sie hatten ihre Vinnnlae, wo sich der Ton um den 
Ton ,, gleich Weinranken" schlingt^), also etwas dem Triller mit 
dem Hilfjitone Aehnliches, wo sich durch schnellen oder langsamem 
Wi^clist'l der zwei Töne allerlei ,\l>stiifmi^en anbringen Hessen. Das 
waren aber lauter Manieren, die mit der ganz streng choralmässigen 

1) 6erl)ert Script. Bd. 1. S. 56: ... sin autem producta fuerit (seil, syllaba) 
tunc circumflexione j^ainb bit Ootava (syllaba) voro . . . circuniflectur. 

2) Die Meinung Lainhillotte's, das Wort Quilisma stamme vom >^rie' 
chischen «^A^o/ia, quod vulvitur, ab, ist ohne Zweifel richtig. Er verweist 
auf das Kulisma de.s griechischen Kiichen^fesanges. 

3) Vinola vero dicitur a vino iil » st ciiicim» iiiollitci- Hex«» (Aun-lianus 
KeoDieusis Cap. V), fast wOrthch gleichlautend mit isidurus Hispalensis, 
„Vinnola est voz moUis atque flexibilis et vinnola dicta est a vino id est 
dncinno molliter fleao" (bei Oerbert Script. Bd. 1 S. 95 und 28). 



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Der Gregorianische Geutog und seine Verbreitung. 



59 



Singweifle nicht gnt sni vereinbaren wSren. Behäbiger bemerkt gans 
richtig, dass noch im 10. Jahrhundert, cur Zeit degBomanna, und 
noch Jahihunderte nach ihm die KirehengesKnge kcincswc«;» in 
TSnen von gleicher Dauer vorgetragen wurden. „In der Bestiin- 
nnirif]^ des Tonwertlies", sagt er, „richtete man rieh nach dvr lie- 
stimmung der musikalischen Metrik, welche mit der ])(<('(isclien 
grosse Aehnlichkeit hatte. Wie uamlich ein (itdiclit ans Vrrst n, 
die Verse aus Versfiissen ("pedes) und diese endlitli aus einer 
oder mehreren iSylbeu bestanden, ebenso theilte man auch einen 
Gesang in sogenannte Distinctionen, aus einer grösseren oder 
kleineren Neumengruppe (Notengruppe) bestehend, eine Pistinc- 
tion in Neumen (Notenseichen), und diese endlich in einen oder 
mehrere Töne ab. Auf diese Weise entsprach einem metrischen 
Verse die musikalische Distinction, einem metrischen Fusse das 
musikalische Neuma und einer Sylbe der Ton"^). 

Man pfle;.'t wie gesagt den Unterschied zwischen dem Amhrosia- 
uischen und dem ( J ref^orianischen Gesänge wesentlii li darin zu suchen, 
dassj euer Längen uiui Kürzen unterschieden, dieser dit' unterseliiedh>s 
gleiche Dauer aller einzelnen Töne einget'iiln*! habe. Richtiger hiesse 
es vielleicht: dass der Ambrosianische Gesang wesentlich 
auf der poetischen, der Gregorianische auf der musika- 
lischen Metrik beruhte. Zu den Zeiten des heil. Ambrosius 
war Bildung im antiken Sinne, waren antike Anschauungen noch 
das Vorherrschende. Unter den Schriften des heil. Augustin, de» 
berühmten Kirchenlehrers, des begeisterten Freundes des heil. Am- 
brosius und Bewunderers des And>rosianischeu Gesanges, finden 
rieh sechs Bücher ..de .Musica", welche aber nichts enthalten als 
die auf Musik angewendete antike Metrik. Selbst wenn Augustinus 
den Satz ausspriclit : „Syllaharum sjiafid aliter grammatiri doceni" ~'\, 
so steht er \yi'\v wissen es von der antiken Musik her} damit auf dem 
Boden antiker Anschauung; und wenn er nun in's Einzelne geht, 
▼om Hetmm aus Pjirhichien, Jamben^ u. s. w. handelt, wenn er 
▼ersichert, dass iXngere als viersylbigeFUsse keinen Namen haben^), 
wenn er untersucht, warum die letzte Sylbe im Metrum glrichgiltig 
sei^), wenn er die TonschlUsse nur nach den Versschliissen regelt 
und das Pausiren nach der ICatalexis und der Akatalexis u. s. w.^), 
so linden wir (lurchaus Lehren und Sätze der antiken von der Poesie 
auf die Musik ülirrtragenen und letztere heln-rrsrhendtMi Rhythmik. 
Die Siin»:«'r, ohnehin in antiker Schule gebildet, fanden sich mit 
alle dem nicht auf fremdem Gebiete, und die Sprache, von deren 

1) A. Schubiger, Die Sängerschule von St. Ualleu, 8. 17. 

2) IT. 1. 

3) IV. 3. 4 fg. 

4) III. 6. 

5) IV. 1. 

6) IV. 14 fg. 



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60 



Die Anftnge der eoropAiseh-abendlindiMhen Muaik. 



Massen hier die Musik Gesetz und Kegel empfing, war ihre 
gewohnte Unttersjprache. Anden freilich dann, als der Kirchen- 
gesang andi an andern« zxx den sogenannten BarbarenTÖlkem 
gebracht werden sollte. Diesen war das Idiom der antiken sswet 
Colturvölker fremd, ihre Metrik nnverstilndlick, aber sie hatten 
das (natürliche) Kliyt]m\usjrerühl. 

Für die natürliche Empfindung ist zunächst die Untorscheidwig 
der beiden llanptniomrntc der Arsis und Thesis, folplicl» die zwoi- 
zeitige Bewegung ohne l'nlerscheidung quantitirender Länge und 
Kürze das Angemessene. ,,Was sogleich in die Sinne fallt", sagt 
ein neuerer Schriftsteller, „dass nämlich der acccntuirte Gesang, der 
sich in Hauptmomenten bewegt, weit mehr geeignet ist von grossen 
Volksmassen gesungen an werden, als der qnantitirende, weU jener 
ungebildeten Stimmen sn Hilfe kommt, die sich blos dem kunstlosen 
Naturgefühl Ton Arsis und Thesis su überlassen brauchen, und über- 
dies grosse Tonmassen sich allezeit anständiger und würdevoller in 
gleichen Zeiträumen fortbewegen als in ungleichzeitigen: dieaet 
bemerkte aucli (iregorins und gründete auf diese Bemerkung seinen 
Plan zur Kefonnation des Kircliengesanges"*). Als späterhin, mit 
dem 12. und 13. Jalirliundert, die Mensural- oder Figuralmusik auf- 
kam, welche auf einer auf das Genaueste bestimmten Dauer der 
Nütenwerthe durch Notengestalt und beigesetzte Zeichen beruhte 
und die QuantitXten langer und kurzer Noten gegeneinander regelte 
und ausglich und sich dem GregoiianiBchen cantus planus, der nie 
eine so mathematisch genaue Tonmessung gekannt hatte, gegenttber- 
stellte, wurde die strenge Gleichdauer des cantus planus in allen 
einzelnen Noten zum wesentlich unterscheidenden Merkmal des- 
gelben und zurRegel erhoben^), undFranchinusGafor selbst schreibt 
es auf Rechnung der Musiker (nicht des heil. Gregorius), dass ,,sie 
seine Noten in gleichmässig langer Dauer geordnet haben*'^). 
eigentliche Bedeutung der Gleii hdauer der Bewegung des Gregoria- 
nischen Gesanges liegt aber nicht in dem tactmässigen, gleichlangen 
Ausbalten jeder Note, sondern (im Gegensata gegen die metrischen 

1) Apol II. § 408. 

2) Elias SalomoniB (Scient. art. mus. V.) sagt: Bene caveatur, nou 
debemus pon^re faicem nottram in mestem aliensm assnmendo natnnun 

organizandi, punctos properando, nnm qui ad utrumque festinai, ntromque 
(h'stniondo neutrinii bene porn<rit lictjula infnllihilis: omnis cantus plnmis 
in aliqua parte mi nuUam ftutimitionem in ttno loco patittir plm qtiam in 
olfo qitam est de «Mfwm «Nt; ideo dieiiwr etmttupiUnn»», quia omninoplaniB' 
aime appetit cantari. 

3) Cujus notulas aequa temporis mcnsura musici disposuerunt. In 
der Musicae Choralis medulla in usum Sacri Ord. Cartus. heisst es: Mu- 
sica igitur choralis est, quae introducta nna vel plnribua vooibos aequam, 
siTitjtlicpm <'t unifomieni in suis notis sorvnt monsuram, absque incre- 
mento prolationis. Vel: cujus notulae ejusdeni ferme sunt valoria. — Ich 
eittre nach einer mir vorli^enden Handschrift yoro Jahre 



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Der Ctrogoriaaisdie Genng und aeine Yerbreitiiiig. 



61 



d. i.dic prosodische Eigenschaft jeder Sylbe zur Geltung bringenden 
Gesänge) darin, dass an sich alleSylben ohne Bttcksicht auf Prosodie 
für völlig gleichbedentend, Ittr bometrueh genommen werden, und 
daher nach den BedUrfbisaen des Bhythmna die proaodiach lange 
Sylbe andi in der Geltung einer Juanen genommen werden kann 
nnd umgekehrt, und blos die Gesetze der natürlichen Declamaüon 
•n berücksichtigen sind. Schon die antike Welt war mit der streng 
metrischen Messung desGcsanp^es in Verlejjonheit «j^ekommcn, und die 
Musiker hatten sich im Namen der unabweisbaren Bedürfnisse ihrer 
Kunst gegen die abstrakten Dietateder Metriker empört. Treff end sa;j;t 
K. Ch. Fr. Krause über den Gregorianischen Gesang: „Der erste 
Schritt war die Befreiung der Melodie von den Fesseln 
der Proaodie. — Es bildete sich in der lateinischen Kirche der 
langsame, einfiMshe, nnisone Choralgesang, awar Anfangs anch 
mit Abwechselung langer nnd kurzer T9ne, aber nur mit 
Beobachtvng der Lttnge und KUrze der vorletzten Sylbe 
jedes Wortes, ftbereinstimmig mit unserer Art das Latein 
auszusprechen. Hier/u war derUmstand förderlich, dass zu dieser 
Zeit die prosodische Aussprarlic des I-iatcin nach nnd nach sich verlor, 
bis zu der Ausbildung <l<'r älu stm gi'rcimten Verse, die späterhin 
Leoninische Verse genannt w urilon nnd bald Eingang in die christ- 
liche Liturgie fanden. Auf solc he Weise wurde zuerst der 
Anfang des Tactmasses gefunden, in swei-nnd dreisylbigen, 
nicht mehr prosodischen Versfllssen"^). Aus dieser richtigen Be- 
merkong ist yon selbst klar, dass gerade der Gregorianische Gesang 
der Boden war, aus dem später der tactmässig gem(>ss(>no Figural- 
gesang emporkeimte, dem sich dann jener als Cantus planus gegen- 
überstellte. Die Befreiung der Melodie von den Fesstdn der Metrik 
zerriss das Band, welches bis dahin die cliristliche ^Iiisik noch mit 
der antiken verkniiiift hatte, und emancipirte die Tonkunst factisch 
von der Worttiichtung, in wcU lic jene bisher fast als iutegrirender 
Bestaudtheil uuselbstständig aufgegangen war. Wie nun der Ton von 
der Wortsylbe befkeit war, durfte er selbstSndig seinen Weg gehen, 
er konnte sich auf der einseinen, nach Belieben dehnbaren Textes- 
sjlbe in bunter Mannigfaltigkeit m gansen reichen GSngen, an Go- 
loratnren und Figurationen gestalten. Der plastuchen Gemessenheit 
der antiken Tonkunst widersprach dieses, man könnte sagen maleri- 
sche, bunt-phantastische Wesen, wogegen die barbarischen d.i. nicht- 
griochiHrlicn, asiatischen Völker so gtiwiss schon damals an solclien 
Verbrämungen der Melodie ihr Widilgefallcn hatten, als sie es hrule 
noch haben. In den asiatischen und alVikani>chen Kirchen niögc^n 
sich also vielleicht zuerst jene reichen Tongänge herausgebildet 
haben, die hernach anch in den GregorianischMi Gesang der abend- 



1) Barstellangen aas der (Hich. der Mus. S. 97* 



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62 



Die Anfiinge der enropäiaek-abendlAndieohen Mnnk. 



iXndisehen Kirche aa%enommen worden and hier eine sehr wesentr 
liehe Geltung erlangten. Es ist bekannt, den die Kopten, dieNadi- 
kommen der alten Aegypter nnd Bewahrer der Traditionen der alten 
ehristliehen Kirche in Aegypten, noch heute in ihrem Bitaalgesang 

endlose Gurgeleien anbringen and z. 6. ein blosses Alleli^a anf 
solche Art zu viertolstilndiger Dauer dolmcn ^). Was hier zur bar- 
barischen Caricatiir geworden, erscheint in allerdings würdiperor 
Form in den Gesängen der griechischen und lateinischen Kirche, 
wenn sich auch die griechische Kirche, wie die Kitesten notirtcn 
Gesangbücher zeigen, mitunter in Uber Gebühr langathmigen Figu- 
rationen anf einselnen Sylben gefiel. Vorzüglich daa Wort Alleluja 
war OB, durch welches sich dieser Zieigesang besonders in den 
Kirchen einbürgerte. „Man sang," ei-zfthlt Durandns, „von Altersber 
das Alleluja mit dem Pneuma," d. i. mit Coloraturen, welche den 
Athem (nvevfAa) der Sänger in Anspruch nahmen^). „Es ist aber das 
Pneuma oder der Jubellaut," fahrt Durandus fort, „eine unaus- 
sprechliche Freude des Gemüthes über das Ewige, und es wird das 
Neuma einzig auf die letzte Sylbc der Antiphon gemacht, um anzu- 
deuten, dass Gottes Lob unaussprechlich und unbegreiflich ist, — 
das Pnenma hedentet die Freude des ewigen Lebens, die kein Wort 
anssadrflcken yeimag, daher das Pnenma auch eine SCinune ohne 
bestimmte Bedeutung ist," — das heisst Mne Vocalise, ein Solfeggio 
anf der letzten Textessylbe. 

Nacl) Cassiodor pflegte an Festtagen das ganze in der Kirche 
versammelte Volk (atdn Domini) den stets neu ertönenden Versen 
der Säuger mit dieBem Kufe wie mit einem Gute, dessen man nicht 
satt wird, zu antworten 3). Als man die Gradualresponsorien auf 
die ansgewllhlten Verse (selecii verms) und zuletzt auf das blosse 
antwortende Alleliga Teikilnt hatte, konnte der Stngerehor, der 
mittlerweile an die Stelle des antwortenden Volkes getreten war, 
nicht nmhin das Alleluja mit jenen Schnörkoleien vorzutragen, 
welche es erst zum rechten Jnbellaut (jiihUus) machen und das ,,in 
Worte nicht zu Fassende" der geistigen Freude versinnlichen sollten. 
Die Ausführung erforderte unter solchen Umständen kunstmässig 
gebildete Sänger; daher kommt es wohl, dass Theodor von Kent 
verordnete, „kein Laie dürfe in der Kirche das Alleluja anstimmen, 
sondern nur Psalmen und Responsorien ohne Alleluja*'*) Diese 

1) Vüloteau. In der Descript. de T^gypte. Er gibt die Probe eines 
solchen Allelnia. 

2) Antiquitus onim mos erst oi Semper cantaretor Alleliqa cum pneoma 

(Ration, div. off. V. 2). 

3) Hinc ornatiir lingua cantorum : ifltod Sohl Domini laeta retpondet, 
et tanquam insatiabile bonum tropis Semper Tanautibas innoTator (in tit. 
pi. CIV. citirt bei Tommasi V. S. 20). 

4) Laioos in ecclcsia non dehvt recitare uec AUeluia diecre, sed psalmos 
tantam et respoiuoria sine AUekga(MabiUan^praefat. in Saec. 1. Benedict). 
Es freat mich, meineTermathung tot einem Idanne wie Ferdinand Wolf ge- 



Der Oregorianiiche Gesang und «eine Verbreitang. 63 



Ausdehnong der Schlusssylbe des Alleluja, welche etwa seit dem 
9. Jahrhandorte in AufiiaJime kam, war das sogcuannte Alleluia- 
Baha, eine wie es scheint spöttische, durch ungeschicktes Athem- 
hoku und Aspiriren der Sänger, bei dem das ein&che ,Ja" anm 
,»Baha" wurde, hervorgerufene Bezeichnung. 

Zum verzierten Ch<»rn1tr»'sang: ^ohörte vermuthlich auch der 
nach dem Papst Vitalianus (staih OfiO) benannte; wcnifr^tens 
wissen wir nacli einer von Ekkehard IV. von St. allen in seiner 
Lebensbeschreibung des Notker Balbulus gegebenen Notiz, dass es 
noch zu Anfang des 10. Jalirhunderts in der päpstlichen Capelle 
eigene Sttnger gab, welche Vitalianer (Ttfoltaat) hiessen und, wenn 
der Pi^st selbst den Gottesdienst leitete, den Ton Vitalianns ange- 
ordneten Gesang ausführten. Eswar also gewiss ein reicher festlicher 
Gesang, aber auf keinen Fall etwas Anderes als eine Modification 
deM rJreg-orianischen. Denn abgesehen davon, dass es höchst unklug 
gewesen wäre die erst kurz vorher von (»regor für die ganze Kirclu! 
angeordnete Singweise iindern zu wollen, war Vitalianus vielmehr 
für die Reinerlialtung des Gregorianischen Gesanges eifrig besorgt. 
Er sendete 660 zwei römische Sänger Johannes und Theodor 
durdi Gallien und Britannien, um den bei den dortigen Geistlichen 
und Mönchen ansgeaiteten Gesang auf die echte römisch-gregoria- 
nische Weise zurükzufiihren. Bei dem sogenannten Vitalianischen 
Gesänge wirkten insbesondere auch Knaben mit, welche in dem so- 
genannten Pmtn'sium verpflegt wurden und jmeri Syiujihoutaci {huch- 
stäblich: mit einstimmende Knaben) hiessen, also nicht bloss eine 
Singeschule zur Bildung künftiger Kirchensünger waren, son«leni 
schon im Ch«)r mitsangen. Dass in den ersten Zeiten der Kirche in 
der singenden Gemeinde auch Wmber und Kinder ihre Stimme 
hOren Hessen, wissen wir ans den Gedichten des Pmdentins so gut, 
wie ans einer Stelle der PsalmenerkUtmngen des heil. Ambrosius: 
,,Was ist erfreulicher als ein Psalm? Er ist Lob Gottes, er ist ein 
widilklingendes Glaubensbekenntniss der Christen. Freilich be- 
fiehlt der Apostel, dass die Weiber in der Kirche schweigen sollen, 
aber Psalmen sin^^eii sie sehr gut. Jedes Alter, jedes Geschlecht 
taugt zum Psahnengesange. Die süssen Stimmen der Jünglinge und 
Mädchen klingen lieblich zusammen, ohne dass es Gefahr bringt. 
Es ist keine kleine Mühe das Volk in der Kirehe zum Schweigen zu 
bringen, wenn voi^lcflen wird. Aber der Psalmengesang bringt es 

theilt zu sehen. Er citirt ^lieber die Lais S. 2bB> obiges Gapitulom Theodori 
Cantoarensit und bemerkt dazu: „Woraus hervorgeht, data froher das Volk, 

die ganze (juinciiKlf (laicorum populsritas) das Alleluia mitgesungen habe; 
dass aber, wahrscheinlich wegen des immer künstlicher werdenden Gesanges 
dorMelismen znm Alleluia, des Nenmattzirens der Jubilation, die nicht schul- 
gerecht geübten Laien es nicht mitsingen konnten und durflen, und sich mit 
dem einfach und volksmäi'^ifr f^t blit ltencn (}esau}re der Psalmen und Respon- 
soheu begnügen mussten, wahrend die Jubilation von dem geübten Sänger- 
c9iore(so]iolacaQtomm) statt desVolkes oder der Gemeinde gesungen wurde". 



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64 



Die AnftDge dar europliadi- abwidUndiaohen Mank. 



von selbst dazu. Psalmen können König und Herrscher so gut 
wie gemeine Leute aiutimmeii. Man lernt sie ohne Klllie md be- 
lillt rie leicht im Gediehtniss. Sie vereinen Uneinige nnd ver- 
flöhnen ZwietrSchtige; wie sollte man demjenigen sflmen können, 

mit dem man seine Stinmie sum Lobe Guttes einigt?'* Als der 
Kirchengesang ein strenge geregelter Theil des Ritus und eine Sache 
der Ocistliclikeit geworden, blieben Frauen und Knaben natilrlich 
ausgeschlossen, doch wurden in den Frauenklöstem und Stiften 
die canonisclien Tageszeiten unter Leitung der Cantrix oder Uan- 
torissa gesungen, und wo Chorherren waren, Hessen sie auch wohl 
ihre Stimmen im Wechseigesange hören. So sagt der heil. Ald- 
helm, Bischof von Salisboiy (starb 709), in der poetischen Beschrei- 
bung der vonBngge, der Tochter des angelsXclisisehen Königs 
Centnin, gestifteten Basilica, wo nach dem Gregorianischen Bitns 
des Kirchenjahres geordneter Gesang ausgeführt wurde: 

Fratres concordi liiudemus voce tonantem 
Cantibus et crol»i is coiiclamct tni lia sororum — 

und sp&terhin, 1260, war es am Feste der heil. Fides zu Zürich im 

Frauenmttnster Sitte, dass einen Vers der Seqnena die Stiftsdamen, 

den anderen die Stiftsherren sangen i). Von Vitalianus haben wir 

nun bestimmte Nachricht, dass aneh Knaben aum Kirchengesange 

herbeigesogcn wurden; dasselbe geschah in den Klosterschulen, wie 

in jener von St. (tallen, an dereu SchUlem Konrad der Franke so 

viel Freude hatte, als sie durch die schönsten Acpfel, die er ihnen 

in den Wej; hatte legen lassen, nicht verlockt wurden, aus der 

Ordnung <ler Pr(»zes8ion zu weichen. Noch jetzt werden bei den 

katholischen Kirchen und Klöstern Singknaben (Chorknaben, Voca- 

listen) unterhalten, nicht allein Ahr die FiguralmusUc, sondern aneh 

für die Besponsionen des Gregorianischen Gesanges. Heutautage, 

wo letstere mehrstimmig, nach Art eines sogenannten Falso-Bor- 

done, gesungen werden, fallt den Knaben natürlich der Part des 

Sopranes und Altes zu. Wie ihr Gesang zur Zeit Vitalian's n. b. w. 

vor Einführung der Harmonie verwendet wurde, wäre zweifelhaft, 

wenn nicht eine Stelle der Sequenz Caiitemus cunrti von Notker 

Balliulus von St. Gallen (starb 912) darüber einen deutlichen 

Wink gäbe. Er redet dariu seine Klostergenossen, die Mönche 

und KlosterschQler, an: 

Nnno TOS 0 sodi cantate laetaates: Allelma. 
Et V08 pnemli respondete semper: Allelma. 

Nunc omnos caiiito simul: Alleluia. 

Es war also Wecliselgt'sang, der zuweilen durch Zusammensingen 
(von Seite der Knal)eu selbstverständlich in der höhem Octave) 
unterbrocheu wurde. l)ass die Knaben schon damals in der Weise 
des spXter allbeliebten Organums etwa in der höheren Quarte 

1) Schäbiger a. a. 0. S. ö3. 



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Die üregomnisohe Gesang und seine Verbreitung. 



65 



oder Qninte mitgestmgen hStten, ist wenif^stens vSUig unerwiesen ^. 
Zweifelhaft bleibt aneh die Richtigkeit der Angabo, dass Papst Vita- 
lianus zuerst den Gebrauch derOrgel in der Kirche eingeführt ha}>c 
Indessen ist es kein Go^engnmd, wenn eingewendet winl, djiss ja 
die erste Orjjel erst im Jalirc 757 ans Constantinopel in's Abendbind 
an Pij»iu j^elanjrt sei. Die Notiz ma^ IVir chis Land der Franken, 
(iermanen u. s. w. gelten, aber in Italien kannte man ja Orj^eln von 
der Kömerzcit ber, und die in Arles (Arelate) aufgefundenen röini- 
tehenSaikopha^^o mitAbbildmigenTon pnewnatischen Orgeln zeigen, 
dass diese Instrumente im Abendlande auch ttber Italien hinaus nicht 
unbekannt waren. Der Gebrauch kleiner Oi^elwerke in den Kirchen 
mag älter sein, als man insgemein annimmt, nicht um darauf Prä- 
ludien and Intcrludien im spttteren Gescbniacke zu spielen, wozu 
vorläufig nocb Alles fehlte, sondern nin den Sänj^ern den reehten 
T<»n anzuschlagen, /ur Zeit der Karolinger waren die Orgeln in 
di»' Kirchen bereits eing«*tVilirt ; die Berichterstatter reden davon 
allerdings noch als von einem kostbaren, nicht gewöhnlichen Zier- 
Btflcke, aber durchaus nicht wie von einer unerhörten Keuttrung. 
Als Ludwig der Fromme einen venezianischen Priester Geofg nach 
Aachen sendete, um für den dortigen Mttnster eine Orgel su bauen, 
wurde diese Angelegeidieit von beiden Seiten wie etwas Selbst- 
verständliches behandelt. Ferkel bekämpft s<»gar die Annahme, als 
habe ( 'onstantinns (^)pronymus an I'ipin wirklich eine Orgel ge- 
sendet, nnd will die Organa, von denen der Uerichterstatter Kgin- 
liard redet, als eine Sendung musikalischer Instrunieiite verstanden 
wissen '^). ALit den Trompeten, Buccineu, Surullieu und Pauken, 
die am Hofe von Byzans im Gebrauche waren, wäre dem firftnki- 
liehen Könige eben keine sonderliche Gabe dargebracht worden. 
Wir wissen aber, dass der byzantinische Kaber Theophilns (829 bis 
842) zwei sehr kostbare Orgeln bauen liess, die mit cdeln St^en 
geziert und an denen goldene Bäume mit Vögeln angebracht waren, 
welehe letztere statt der kleinen iMeifen dienten nnd während dos 
S|iielens zu singen schienen. Ein wcrthvolles Kunst-^tia k solcher 
oder äliTdicher Art wäre allerdings ein des mächtigen byzantinischen 
Kaisers würdiges Ehrengeschenk au einen befreundeten Herrscher 
gewesen. Isidor von Sevilla erwfllhnt flberdies, mtm nenne jenes 

1) Kiesewetter (tTOscb, d. Mus. 2. Aull. S. 16) hat diese Frage kritisch be- 
leuchtet und sehr mit dargestellt. Es ist dies einer der weni {Ifen detaillirt 
behandelten (Tegenstündo in dem so iiusserst gedrängten Werke. 

2) Sie stützt sich einzig auf die Stelle in Platina's LehenHlx'sclireüiimgen 
der Papste: Vitalianus, cultui divino inteutus, et rcgulam ucclesiasticam com- 
posnit et cantom ordinavit, adhibitis ad oottsonantiam, ut quidam volnnt, 
Organis. Also gibt Fiatina selbst dieXotiz als eine nnvfrlnirirte, zweifelliaftc. 

3) Eginhard in seinen Aunalen de gestisPipini rej^is vom Jahre 757 sagt: 
Ck>nstautinu8lmperstorPipino regi multa misit munera, inter qtiaeetorattna, 
qoae ad eom m Gompendio (Compiegne) perrenerimt, nbi tono popiui sdi 
generalem convi^ntnin liabnit. 

Ambro», OMChlcitt« dw Mtuik. IL 6 



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66 I^io Anfüge der eoropäisch-abeudläudischen Musik. 

Infltniment, weldies eigentlicli Hydraulum (Wasterorgel) heiMe, in 

der gewöliulichen Bfaftdie Organum. Audi sogar scbon St. Augustm 
bemerkt, Organum heisse jedes Instrument, nicht blos jenes, 
das durch Blasbälpro zum Tönen gehraclit 'wird'*; woraus 
gerade fol^t, diis« Kclion damals unter Orjranuni in der gewöhn- 
liclicn Sprache die Orgel verstainh'n wurde. Die mittelalterlichen 
Schriltistcller bedienen sich aber durchw eg der populären Ausdrucks- 
weise. Auch Cassiodor besehreibt die Oigel unter dem Kamen Or- 
ganum* Der Uöneh Ton St Gallen spricht von einem Organum, das 
die Abgesandten des bysantinischen Kaisers Karl dem Gbossen 
brachten, und besehreibt es in einer Art, dass wirklich von einer 
Orgel und von nichts Anderem die Kede ist Diese Orgeln muss 
man sich freilich als zugleich im Tonumfang beschrankte und sehr 
plumpe schwerfallige Instrumente vorstelh-u. ])ie Tasten waren noch 
mehrere hundert Jahre später oft vier bis sechs Zoll breite, schaulel- 
forniige von ciuauder getrennte Claves, plumper als unsere jetzigen 
Orgelpedale ; der Organist musste sie mit Fttnsten „sehlagen*' oder 
audi mit dem Ellenbogen niederdrücken« An ein rasches, Teisiertes 
Spiel war nicht sn denken, ja nicht einmal mehr als swei TSne 
konnte man zugleich ertönen machen. Die Tasten und Pfeifen waren 
nach der diatonischen natttdichMi Skala mit grosser Terz gereihet^; 
der Umfang stieg bis zu cinnndzwanziu'" Ti'uen 3). Seliallstark und 
dröhnend, ja schreierisch dürfen w ir uns diese sonst armen Orgel- ^ 
werke vorsti llen; die dauialige Zeit lii-ble das Derbe und roh Kraf- 
tige: zu Aachen war im i). Jahrhundert im Dome eine Orgel, 
über deren Klang eine Frau in Ohnmacht fieH). Dasu kam noeh 

1) De reb. bellicis Caroli M. Lib. II. 

2) Bei Hucbald(dc hanu. in8tit.)bcisst es: porro exemplura Bemitouii ad- 

vertere potes in cithara sex chordarum iuirr tertiam et qnartam chordam 

sitniliterque in hydrnulis eodem loco. (itrl)ortS< i iiit. 1. Bd, S. 101). Gedenken 
wir nun auch der iStimmuug des Urgauistruuis, so sehen wir, dass mau sehr 
wohl die natfirliche diatonische Skala als das wahre Fundameut 
derÄIusik erkannte, auf welches die Tonarten als künstliche 
Oebilde gebaut waren. Hucl)ald stellt folgendes Schema auf: To(uus) 
fcJeCujitouium) To, To 6c To, To, To Se, To, To, Se, To, To (das wäre also 
die Stimmung von A, M, C, D, E, F, O a h \ c d e f g) und fUhrt fort: nec 
tanieu aliquid aAV-rt srupuli, si forte hydraviin vd aliud quodlibet conside- 
rauB iustrumeutum non ibi voces tali rej/eriaa hdumate deductas, quodque 
numerom diordaram yideantnr ezoedere. Baee enim äuirümHo seeMtMliMi 
viH diaerügsimi Boetii distrilutionem (a. a. 0. S. HO). Die ftlteeten Orgeln, 
die Prätorius sah, hatten die Skala c, d e, f g, a h, c, d, e, fg, a oder c, d e, 
f g, a, h, c, d, c f. Man sehe auch Porkel, 2. Band S. 355 u. f. 

3) N umerosit as nenronmi vel fistularum utputa viginti nnias ant ploriom 
(Huchald a. a. 0.). 

4) i:>oerkI&re ich die Stelle beiWalaiiidStrabo. DeapparatutempliAquis- 
grauenais: Didce meloa tantom vaiias deludere mentes 

Goepit, ut una suis deccdens seusibus, ipsam 
Femina j)crdiderit vocuni duleedine vitam. 
Qei*bui't meint, das sei uiueLiceutia poetica. Aber aus der Luft gegriffen hat 



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Der Gregoxfaniaehe Genug und aebe YerbTtttiing. 



67 



das Donnergetöse des aus den vielen Bälgen einströmenden 
Windes i). 

Den Werth des Gregoriamseben Gesanges als Bestaodllieil des 
Bitoa aa i mte n a uchen kami nicht Aufgabe derKnnstgescbiehte sein, 
nnd nnr im Allgemeinsten mag bemerkt werden, dass sich kaum 
eine allen Anforderutipen besser ontsprecliende, zweck- und sach- 
peinJissere Singart dafiir denken iJisst. Die Kunst<;escliicliti' Iwit von 
ihrem Standpunkte aus bl(»B auf die liolie Würde, die prossartige 
Einfachheit und die eindringliche Kralt der unter diesem Namen 
noch jetzt in der Kirche gebrauchliclien Mclodit'n hinzuweisen. 
Der Ton des festlichen Hymnus klingt im Magnilicat, im Te Deum; 
der Ton lUai^ben innigen Gebetes in der FrifiUion, im Pater 
noster. In den Ghoiilen, in denen sich Ton neben Ton, ausgebalten, 
gleichmfissig, fest, streng nie in einem Basilikenbau eine Granit- 
sXnle neben die andere, hingestellt; in den, reichem Ornamente ver- 
gleiclibar, in colorirten Tcmgängen sich ergelienden Intonationen 
des Ite missa est, des Allehija, ist es stets ein und derselbe Cieist, 
der sich in den verschiedensten i'ormeii und Stimnmnpcii aussjMicht. 
Die innere Lebenskraft dieser Gesänge ist so gross, dass sie auch 
ohne alle Uarmonisirung sich auf das Intensivste geltend machen 
und mchts weiter an ihrer vollen Bedeutung au erheisdien scheinen, 
wihrend sie doch andererseits fttr die reichste und kunstvollste 
harmonische Behandlung einen nicht au erschöpfenden Stoff bieten 
und Jalirhunderte lang einen Schatz bildeten, von dessen Reich- 
thiimem die Kunst zehrte. Die Musik ist an der gewaltigen Lebens- 
kraft des Gregorianischen (M'sang<>s erstarkt, sie hat siih an seinen 
Melodien von den ersten uniL^cscIiickton N'crsuclicn des ( )rgannms, 
der Diaphouie und des Faux bourdon an bis zur liöchsten Vollend- 
ung im Palestrinastylc herangebildet Und, wunderbar genug, neben 
den höchsten BesuHaten, -welche von den begabtesten Geistern in 
Jahrhunderte langer Arbeit auf diesem Gebiete gewonnen worden 
sind, steht die Gregorianische Melodie in ihrer einfachsten Urgestalt 
nicht als rohe erste Kunststufe, sondern als ein Gleichberechtigtes 
da; nach dem hinreissenden seraphischen Stimmengewebe eines 
Kyrie von Paleetrina ergreift das gans einfache Gloria in excelsis 



Walafrid Strabo die Bache gewiss nicht. Auf nervenschwache Personen kann 
der Orgelton allerdings so atnwirken, dass sie ohrnnftchtig werden: der ver- 
ewigten Malibruti <:rschahetwa8AehnlicIu'8, ali^ sclion der Keim ilirerTudes- 
krankheit in ihr lajr. Das „perdere vitam" hodeutet nach poetisclu in Sprach- 
gebrauche gewisH nicht deu Tod, sondern eben nur eine Ulinniacht. Ja ich 
sweifle an dem bedauerliehen Zufalle viel weniger, als dass die Orgel wirk- 
lich daran Schuld trug. 

1) Der Apparatdes Windeiuströmenswar äusserst plump. Der Schreiber 
des Briefes auDardanus spricht von „swOlf Schmiedeblasbälgen'' (duodecim 
follis fabrorum); natflrliöh war das GetOse nnd Sausen sehr merklieh, was 
Aebed tadelt. 

6* 



68 



Die Anftnge der enroptisoh abendHindiwdien Muaik. 



Deo KU des Priesters Hände mit dem Tone mijestXtischer GrBese 
und ingleieh eines jubelvollen Aa&ehwnnges, Werth den Rahm des 
Allerhdehsten zu vorküii(lig;cn. Das Mittelalter brIi in diesen Ge- 
sängen geradezu Werke göttlicher Inspiration. Der Diakon Paulus 
hatte versichert, auf der Schulter des schreibenden Papstes die 
himmlische Taube sitzen o^eseheu zu liabcn*); Tür die Maler wurde 
es sein Wahrzeichen. Eine Malerei in einem Codex aus dem 
10. Jahrliunderte stellt ihn in solcher Art vor, wie er auf einem 
Thronsessel sitzend mit gehobener Hand zu einem Schreiber spricht, 
welcher mit dem Ansdiueke der Anfinerksamkeit die ihm von dem 
diktirenden Papste angegebenen Oesinge anf eine Tafel notiit^ 
Um die sor nnverbHIehlichen Regel für den Oottesdienst erhobenen 
GesSnge vor Vergessenheit zu bewahren, war neben dem Unter- 
richte die schriftliche Aufzeichnung: das geeigneteste Mittel. Ein 
erhaltenes Denkmal über die älteste Art der Notirung dos Grej^ftria- 
nischen Gesanges ist das sogenannte Antiphonar von St. Gallen^). 
Ekkehard IV. berichtet Uber die Art, wie es um das Jahr 790 in den 
Besitz des Klosters gekommen, Folgendes: „Als der Kaiser Karl, mit 
dem Beinamen der Grosse, in Rom war^), fand er, dass der Oesang 
in den Kirchen jenseit der Alpen vielfiich vom itfmisehen abweiche. 
Er bat also den Papst Adrian (wdl ja die einst von Gregor ge- 
schickten Sänger ISngst gestorben), er möge abermals solche, die 
des römischen Gesanges wohl kundig seien, in das Frankenland 
senden. So wurden denn Petrus und Ivomanus, des Gesanges 
und dt'r sieben freien Künste wohl kundig, zur Kirche nach Metz 
abgescliickt, um dort die Sache zu leiten. Als sie nun vom Comersee 
(lacu Cumam) an von dem gegen die i^utt liom's verschiedenen, 
ranhen Himmel an leiden hatten, erkrankte Romanus, so dass er 
sieh kanm bis in nns (nach 8l Gallen) fortmbringen im Stande war* 
Von den swei mitgegebenen Antiphonarien bradite er eines trets 
der Einwendungen seines Geföhrten Petras (Petro renitente vellet 
nollet) mit nach St. Gallen. Dort genas er mit Gottes Hülfe allmälig. 
Jetzt sendete der Kaiser einen Boten, der ihm die Weisung brachte, 
nach seiner Genesung bei uns zu bleiben und uns den Gesang zu 
lehren, was jener auch, um die Gastfreundschaft der Väter zu lohnen, 
sehr gerne that. Der Kaiser aber schrieb: „Vierfach habt ihr euch 
an mir, ihr fivmmen ICKnner, göttlicheii Lohn verdient: er war 
fremd, ihr habt mich in seiner Person beherbergt; er war krank, 



1) Vergl. Job. de Maris, Sumna mnsieae osp. HI (Gerbert Script 8. Bd. 

Seite 197). 

2) Copirt als Titelbild zu Lambillotte'a Antipbonaire de St. Gn^goire. 
'6) Im vollstäudigea Facsimile mit erldutemdem Texte zu Brüssel 1051 

hennsgegeben von P. Lambillotte. Die erste Seite allein schon früher in 
Pertz, Monumcnta OerniaTurH' hi-^torica 2. Bd. 

Dies müsste dcriieauch uji Juhrt? 774 oder, wahrscheinlicher, 706 sein. 



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Der GregomniM^ Gesang imd seine Verbreittini^. 



69 



ihr habt ihn besucht; er hungerte, ihr gabt mir in ihm zu essen; ihr 
gabt ihm lu trinken/' — ,fiomumB aber gedachte nni erem 8t Gallen 
eine Ehre n, wie sie Bom sehen genese, wo nSmlich die Anstalt 
getroffen war, dass das in ein KSstchen gelegte authentische And- 
phonar an einem Orte, der Cantarinm hiess, zur Einsichtnahme, 
eines Jeden aufbewahrt wurde. Romanus veranstaltete eine ähnliche 
Hinteilcfi^iing des mitgebrachten authentischen Antiphonars am 
Apostelaltare, und so oft über eine Sinp^weise ein Zweifel entsteht, 
dient es bis heute dazu, dareinzusehen wie in einen Spiegel und 
jeden Fehler zu verbessern." Das Exemplar, welches Petrus nach 
Mets mitgenommen, ist im Lanfe der Jiiirhnnderte abhaadea ge- 
kommen; das von Romanns mi^ebraebte Antipbonar oder dodi 
eine sehr alte, auf keinen Fall Uber das 11. Jahrh. hinaus su datirende 
Copie desselben bildet noch jetzt das kostbarHte Besitzthum 
der Bibliothek des Klosters von St. Gallen 2). Für die Musikge- 
schichte ist das Wichtigste an diest ni in jculem Sinne ehrwürdigen 
Denkmale die hier schon in bedeutender Ausbildung vorkommende 
Notirung in den sogenannten Neumen, das ist gewissen über 
die Texteszeilen des Gesanges geschriebenen Strichelchen, Häkchen, 
Pnnktra, Halbbogen und Shnlichen anderen Figuren. Der Grund, 
warum sieh Gregor der in mehr als einer Benebnng mangelhaften 
Tonsekrift der Neumen bediente, muss wohl in dem Umstände ge- 
sucht werden, dass diese Notirungsart in seiner Zeit bei den 
Sängern schon so völlig eingebürgert war, dass er sich ihrer als 
einer bereits allgemein verständlichen Schreibweise unbedenklich 
bedienen konnte. Es darf als eine auffallende Thatsache gelten, 
dass Gregor die zur Bezeichnung der Töne von ihm gewählten 
Buchstaben nicht auch als Tonschrift benutzte, wie doch später 
wirklieh gesebah, so dass Ghiido von Aresso diese Notirung sogar 
als die beste pries: 

Solis litteris notare Optimum probaviraus. 
€ktttsn vero brvriandi Xeunmc solrnt ficri, 
Qjaae si curiose fiant habentur pro litteris. 



1) Der Gharahter der Sohriftzflge deutet auf diese Zeit. 

2) Kiesewetter ^beipz. allgem. Musikzeitung) erwähnt des K&stchens, 
worin das Antiphonar verwahrt ist. und des Deckels mit dem Beifügen, die 
Figuren seien im sogeuaunteu etruskischen Styl, entschuldigtaber zugleich 
•eme UnerlUiradieit auf diesem Gebiete. Lambillotke SI): on reoon- 
naltlescaracti' n s dcnsculptures Etrusques. . . ellessontextr^menu'ntayicieyines. 
Das ist nun freilich ganz irrig. Hätte Lambillotte einen kundigen Archäo- 
logen gefragt, so wtMe er mit Vergnägen gehOrt haben, dass dieies Sdmitz- 
werk einer der beachtenswerthen Beweise für die Echtheit des Antiphonars 
ist. Der geübte Blick wird sogleich erkennen, dass hier keine antike oder 
gar etruskieche (!), sondern eine Arbeit etwa aus der Karolin^erzeit selbst 
vorliegt. Die Figuren zeigen bei stark antikisirenden Reminiscenzen in 
den Motiven ilrr Stellunpr und Gewandung voUig den Ghsrakter Ähnlicher 
Schnitzwerke aus der genannten iiipocbe. 



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70 Aafiknge der «nopftiich-abendliLndiachen Musik. 



Blosse Abkflnungen statt der Bnehstaben waren die Nenmen keinea- 
wegs, wie Guido meint; sie hatten yielmehr iliie eigene Bedentang: 
iltr Grandgedanke war, das Steigen oder Fallen der Stimme doieh 

steigende oder sich senkende Züge aoKodrücken. Sie mussten, 
sollten sie ihrem Zwecke entsprechen, sorgsam (curiose) geschrieben 
werden, und hielton auch dann, was deutliche Bezeichnung der 
Tonhöhe betrifft, den V^ergleich mit dun blossen Buchsta))en nicht 
aus. Gregor zog es vor sein Antiphonar statt mit Buchstaben 
(über deren Anwendung als Tonschrifl zu Gregorys Zeiten jede 
Spar feUt) Tielmehr mit Neamen sa notiren^). Dieses Anti> 
phonar» welekes anf Befelil Gregorys als luiverllndeilieiie Satzung 
fUr den Kirchengesang in ein eigenes BehÜtniss (theea) nieder^ 
gelegt und in der Petc'i>basilika au Rom mit einer Kette an dem 
Altar befestigt wurde und dessen treue Copie in dem Antijdionar 
von St. Gallen erhalten ist, war mit einer so ausgebildeten und cora- 
plicirtcu Neumenschrift notirt, dass hier augenscheinlich nichtvonAn- 
föngen und ersten Versuchen dieKcde sein kann, vielmehr mindestens 
ein volles vorangehendes Jahrhundert dauernder Beschäftigung mit 
diesen Charakteren ▼oranssasetaen ist Ihre Entstehung fiÜt jeden* 
falls Bwisehen die Zeit des heiL Ambrosios nnd des heiL Ghregor. 
Fttr ^e Amlffosianisehen Sitnalgesänge waren sie gewiss noch nieht 
angewendet worden; hlitte man sich ihrer schon damals bedient, so 
würde es an einer Nachricht darüber kaum fehlen. Ihr Name ist 
griechisch: der lange figurirte Schlussgesanp;^ des Alleluja, der den 
Athein (nt'ivjuft) des Sängers in Anspruch nahm und eben deswegen 
Pneuma oder Neuma genannt wurde, gab auch den Zeichen, 
womit er notirt war, den gleichen Namen. 

Der weitUnfige Apparat der antiken griechisehen Tonschrift 
mochte, eben nm seiner WeitUtnfigkeit willen, sich nie einer grossen 
Verhre^ng ecfrent haben und nur das geistige Besitathum der ge- 
lehrten Musiker und Theoretiker gewesen sein. Seine Anwendung 
für den christlichonKirchongesangwärenichtunmJiglich aberwenig 
zweckmässig gewesen, da die Sänger nicht wohl erst eine mühsame 
Vorschule (luvcliniachen konnten, um nur musikalisch lesenzulemen, 
und aus allen Völkern und Zungen zum Dienste der Kirche berufen, 
durch ein solches V^orstudium eines mühsamen das Gedächtniss be- 
lastenden und die Kenntniss aller Feinheiten antiker Harmonik vor- 
ausseteenden Zeichenschrift leicht hXtten abgeschreckt werden 
können. Diese Zeichensehrift accommodirte sich den antiken Klang- 
geschlechtem und Tonarten, Dingen, die fttr den Kirchengesang 

1) Ueber die Tonschrift St. Gregorys vergl. den Aufiaatz Kiesewetter 's in 
der Leipziger allgemeinen musikal. Zeitung 30. Bd. 8. 401 tg. 

2) Meibom hat in seiner Einleitung zu deu von ihm hersnsgegebenen 
pricchischcn Autoren fiber Musik das le Deum laadanmi in antike Noien^ 
schrillt gebracht. 



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Der GregoriAiiiscIie Qesaiig und seine Vwbreitaiig. 



11 



die Brauchbarkeit verloren hatten und durch die vier authentischen 
und vier Phigalt5iie yerdrXngt woiden waren. Unbekannt oder ver- 
gessen waren ttbiigenB die antiken Tonseichen noeh knn vor den 
Zeiten des heil. Qregor keineswegs: Boethius notirte damit seine 
Tabelle der Tonarten und bespricht sie ausdrücklich Man habe, 
sapt er, um die wcitläufip^<^n Namen der Töne l*roslainhanomeno8 
Hypate hypaton u. 8. w. nicht immer voll ausschreiben zu müssen, 
fiir hie fjewisse abkürzende Zeichen erdacht, wovon er, und Ewar für 
die lydische Tonart, eine Probe geben wolle u. s. w. 

Dem tiefgelehrten Boethius selbst war also das rechte Yerstünd- 
niss der antiken Tonscbrift bereits ablianden gekommen; er sieht in 
den Tomteichen, welche nmprttnglich nach der Reihenfolge der T5ne 
und der Buchstabenfolge des Alphabets ein verwickeltes, weit- 
Iftnfiges, aber wohlgeordnetes und scharfsinniges Ifystem gebildet 
hatten, nur noch Bequemlichkeitsabbreviaturen, etwa wie der 
receptschreibende Arzt seine Anordnunj^en in «gewisse conventioneile 
Abkürzungen brinji^t, oder wie die ('hcmie, Mathematik und Astro- 
nomie sich ihre ei<;enen hieroglyphischen Charaktere zusammen- 
gestellt haben. Wie die ganze antike Musik, oder vielmehr wie die 
ganse antike Welt hatte sich auch die antike Tonsehrift ftberlebt, 
es war Zeit sie dnrch etwas Anderes in ersetsen. Was nun an ihre 
Stelle trat, die Schrift der Neumen, war anscheinend ein Rück- 
sehritt. Während das antike Tonzeichen den damit gemeinten Ton 
zweifellos erkennen Hess, unterlag; die Ausdeutung der Neumen der 
grössten Unsicherheit; und während wir, wenn heut der Fund eines 
bisher unbekannt p^ewesenen jj^riechischen notirten Manuscripts ge- 
machtwürde, die Tonzeichen ohne besondere Schwierigkeit entziffern 
könnten, sind ans die siüilreichen mit Neumen versehenen Manu- 
seripte so gut als unverstindlich. Aber in Wahrheit war das 
Notirnngssys tem derNeumen ein grosser Fortschritt gegen 
die antike Tonsehrift dnrch den Umstand, dass darin das 
Steigen und Sinken der Töne nach der Höhe nnd Tiefe zu 
durch entsprechende Zeichen sinnenfällig ausgedrückt 
wurde. Das antike Zeichensystem war ein völligunfinchtbarer Boden, 
ans welchem nichts weiter em})orznkeimen vermoclite. Die Neumen 
trugen kraft ihres das Wesen der Sache treffenden ( Jnindgedankens 
die Möglichkeit einer bedeutenden Vervollkommnung in sich, wie 
rieh denn in der That unsere Notenschrift ans ihnen entwickelte. 
Freilich verhlüt rieh diese m ihnen wie der Banm som Keime des 
Bainenkemes. 

Wir vermögen es mit unserer Notenschrift das Gewebe des 
kunstreichsten Tonstückes bis in seine feinsten Feinheiten liinein 
auf das Vollkommenste auü^adrücken: dem kundigen Auge gewährt 



1) Do musica V. 3. 



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72 



Die AnfiUige der europ&iscb-abeudländiscben Muaik. 



ein Blick auf die Paiütar sogleich einen klaren nnd bettimmten 
Ueberbli^ des TonstUckes selbst; arcliitcktonisch bauen sich die 
Notengrnppen ttbermnander und nebeneinander auf, und mit dem 

Blicke erklingen sie aueli schon im (i eiste. Da« ist nun eben das 
Resultat der C(inso(|iHMit('ti Dnrclifuhrunfr iles mit den Neuraen in's 
Leben getreteneu rriut ips, während eine in aiitiki ii Zeichen geschrie- 
bene Partitur (soweit eine solche überhaupt ausführbar wäre) dem 
Auge nur todteBnchstabenrciheD böte, deren Sinn erst mühsam heraos- 
gesncht werden mttsste nnd wo Uber der Mfibe des Heraassuchens im 
Einzelnen die Ueberriebt des Ganzen nothwendig verloien gOB^gß» 
Die Neomenschrift bat man sich nicht als ein Erfondenes, son- 
dern als ein aus unbedentenden flüchtigen Anfängen bis zur maanig' 
fachsten Gestaltung und hunderterlei Varietäten Entstandenes zu 
denken. Sie machte ferner ursprünglich p:;ir nicht lU-n An>i)ruch 
eine Tonschrift zu sein, sondern eine (J edächtnisshil fe tur den 
Säuger, der die Mehulie auswendig wusste und sie nicht erst aus dem 
Neumengeschnörkel herausfinden sollte. Ueber Zeit und Art der 
Entstebnngsweise fehlen historische Zeugnisse, doch lässt sich im 
Allgemeinen die Genesu der Neumen enrathen. Wir sind es ge- 
wohnt ans beim Lesen durch gewisse Zeichen die Absätze, Deh- 
nungen, ja (wie durch Frage- nnd Ausrufzeichen) den Ausdruck 
selbst vorgeschrieben zu sehen, und in ähnlicher Art mochten die 
reichlichen, Aussprache und Betonung: bezeiclinenden und modifiziren- 
den Accentzeichen an Striclich licn , Häkchen und Circumflexen, 
womit die Grammatiker der ah'xandnnischen Zeit die griechische 
Schrift versehen hatten, das Auge daran gewöhnt haben diese 
Schrift mit einer solchen Verbrämung ausgestattet zu erblicken* 
Nichts natttrlicher, als dass zu einer Zeit, wo der Lecüonston 
(Accentus) der Texte d. L der griechisch abgefassten Evangelien, 
Epbteln, Uomilien u. s. w. in der Kirche in allgemeine Uebnng 
kam, der Vortragende die Stellen, wo er die Stimme um eine Ton- 
stufe zu erheben oder 7a\ senken hatte, mit einem Zeichen markirte, 
etwa mit einem eiut'aclicn kurzen schrägen oder Querstrich Wo 
nun die Stimme um zwei Stufen zu heben war, mochten zweck- 
mässig und leicht fasslich zwei Punkte oder zwei Striche, einer Uber 
dem andern, angebracht werden. Die Neigung im raschen Ab- 
schreiben solche Züge in ein einziges Zeichen zusammenzuziehen 
verband die zwei Striche zum stumpfen Winkel oder zu einer leicht 
geschwungenen, oder auch zu einer Art Zickzacklinie. Um dem 
Zweifel zu begegnen, ob vom tiefern Ton zum höhern zu steigen 
sei, oder ob die Stinune um die angedeutete Stufenzahl von der 
ILohe zur Tiefe sinken solle, mochte die Stelle des Einsatzes oben 
oder unten an der Linie durch einen stärkeren Zug deutlich gemacht 

1) Man wolle sich der musikalischen Acoente im hebräisckou Syuagogen- 
gesange eriunem. 



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Der ChnegorianisQhe Geaaag und Mb« Verbreitung. 



78 



werden. Bellte die Stimme sn einem hohem Tone steigen nnd von da 
ram eretenTone nirttekkehren, irw solches dnreh aneAitCiieamflex 
recht gnt engedeutet. Diese einfachen Tonaccratei sohald sie einmal 
eine dem Auge und Verstand geläufige Sache geworden» mochte man 
nun ohneWeiteresaufStellen anzuwenden versuchen, wo der singende 
reeitirende Ton in wirklichen CJcsnii/; überging; die Melodien be- 
wegten sieh ohnehin in wfiii<;cn Tönen, in ven^andten Tonfällen 
und Phrasen, und die wohlbekannte oft wiederkehrende Cadenz 
konnte ihr eigenes Zeichen bekommen, das aber freilich, wenn es 
nicht wieder eine abstrakte Tonhierogljrphe im Sinne der antiken 
Tonschrift werden sollte, die Tttne durch steigende und sinkende 
ZOge dem Sinne anschaulich und der Erinnerung lebendig machen 
nuis^tc. Jetzt wurden notliwendig die Zeichen zahlreicher und com- 
plicirter. Da nun Zeichen gleicher Art öfter wiederkehrten, so fing 
man an, jeder solchen Figur einen bestinuntcn N.inion zu geben, 
und so nalitnen sie denn endlich den Cliarakter einer ftirnilichen 
Tonschrii't an. ])ieNnnu'n sclljst klangen sonderbar genug: sie 
deuten zum Theil auf lateinischen, zum 'J'heil auf griechischen, 
cum Theil auch auf barbarischen Ursprung der Zeichen , wie in 
denGedSchtnissversen aus einem Codex von St. Blasien, wo ttbrigens 
einige Namen Tom Abschreiber etwas entstellt scheinen: 

^ y ^ P 

Scandicttt et Salicos, Climacna, Toroolus, Ancos 

(IT jir c >^ 

Fentafonus, Strophicus, Onomo, Poereclus, Orriäcus 
Virgula, Celaliuus, Cliuis, Quilisma, Pod.itus, 
Pandola, Finnota, Gutturaiis, Tramea, Gemr 

Frodam-bamoenon, Trigoii(oD), Tetracliuis (Tet(adiu8>, igon 

A. ^ V/ 

Pentadioon et Trigoniens et Fhiucolns, Orix 

Billicus et Gradicus, Tragicon, Diatinua^). Kxon 

YpodieoB, Centon, Agradatos, Attieui, Altos 

1) Ditouus? 



74 



Bie AnAnge der enropiiaoh-ftbendlftndischen Münk. 



Et Pr( ssus minor et niyor — non plnribus utor 
Neumarum Signis, exna, qni plant refingit^). 

Diese Zahl war, selbst wenn man sieli dnreli die Wanning des 
leisten Ve 1*868 abhniton liess neue Formen an erfinden, nnbeqnem 
gross. Ein Manuscript aus dem Kloster Mnrbaeh leducirt die Zahl 

der Neumonformen niif sicbonzchn: 

Epiphonus, Stro^ihicua, Punctus, PorrectuB, OrriaoaS| 
Virpula, CtMt^jhahous, Clinig, Quilisma, Podatua, 
Scaiulicas, »alicm, Climaout, Torculus, Aneaa, 
Et Pressus niinor et major, non pluribas utor. 

Noch besclu'iileucr ist die Anzahl, welche Johann von Maris (erste 

Hälfte des 14. Jahrh.) nennt: 

GUves, Flicae, Virga, Quilisma, Fkmota, Podati 
Nomina eint hanim, sint Pressi conaociati. 
Es heiTsclit in der Wahl der Namen nnd Formen viol 

Willkühr und Verwirrung:. Man kann aber die gebräuchlichst. 'u 

dieser Zü^e in eine Art Ordnung bringen, wenn man sie nach 

ihrer Bedeutung in einzelue Galtungen zusammenstellt. 

Erste Klasse: solehe, die einen einzeluea Ton 

bedeuten. 

Dahin gehören die beiden einfachsten Gnindformen (simples 
nenma) *): 

Punctum oder Fundus • • in der spiteren CSioralnote Brevis * und 
Semibrevis 

Virga J |^ 0ak der CShoralnote Longa ^). 
der Punkt für den kttraer, die Vuga lUr den länger aosrahaltenden 

1) Die If ehrssM dieser Kanen ist nach ihrer ffrieohischen oder latei- 
nisohen Allleitung leicht zu dcutt n: Pcntaphoniu der Fflnfton, Strophicus 
der Umweiick-nde, GnomodorWinkelhaken, Scandicus derSt('igende,Salicu3 
der Spriugende. Ganz fremd sieht aber das Wort Cemr aus, so dass man 
an der richtigen Deutung der Schriftzüge zweifeln mOchte, kime möht das- 
solbc Wort atich im Tonarius des Abtes Oddo vor. Dort bfMsst : (Quarta 
Bumitur autem difTerentia touus cantus et plagis deuten, vox iubilo, metrimi 
verohypate meson, organam Salpion, Syraphonia varietas plagis deuten; 
diorda vero Caemar et sccmata E. Quarta autem differsiraa lumitor in 
qtiinta chorda quae dicitur Oieninr et ascendit ad septimam quae vocatur 
Ucicbe u. s. w. Aua der Zusammculialtuug dieser Stelle mit den übrigen 
des Tooariiuns geht hen-or, dass mit dem Worte Gaemar nichts mein* und 
nichts weniger als der Ton E gemeint ist. Die ganz barbarisch klingen- 
den Nameb: scembs für i>, buc für A, neth für caphe für 6, Saggese 
für c, Caemar ftr £, üdche für g, asel ftr o, re fBr (f, Nar fttr d, widie 
in dem Tonarium vorkommen, rühren vielleicht aus den fnitikischenffing- 
Bchuleu her. Oddo spricht stets von einer chorda buc, chorda asel u. s. w. 
und bestimmt stets ihre Zahl, ob sie die erste, dritte, siebente u. s. w. sei; 
und so möchte die Vermuthnng nicht zu kflhn sein, dass diese Bezeichnangen 
von den Namen hergenommen sind, womit die keltischen Harfher die 
Saiten ihrer Instrumente bezeichneten. 

8) SimpKeem autem dicimus neumsm virpt^am vel ^wicfmii. (Johsanes 
CoCtooias.) 



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Der Qi«gonMUMbe Q«aaiig md teiiie Veri>reitiiiig. 



75 



Ton, analog den daraus entstandenen Choralnoten. Die stehende 
Virga bedeutet im ZuMmmenhange saweilen das Anfirteigeii in 
einem höheren Tone (Arns), die liegende das Sinken sn einem 
tiefem (Thesis); doch herrscht auch hierin, wie in der gansen 

Neuinenschrift, viele Willkühr. Diese einfachstiMi Zeichen wurden 
wiederholt und gruppirt. In gleicher Höhe nebeneinander ge- 
setzte Punkte (notae repcrcussae) bedeuten die Wiederholung 
desselben Tones, ebenso wie die Formen: 



(iu Choralnoten unter derselben Benennung bei Walther Odington, dem 
Mtadi Ton Bveabam 1940: rhjihmiMdi dem Spondeas entsprechend); 



TrMrga W 



(Walther üdiugtou). 



£beu8u leicht verständlich siud die Uruppirungen des Punktes 



Bipundum 



(nach Walther Odington, auter gleichem Namra). 



Dasselbe mit Bepercussion: 



^^^^ 



Tripmc/him / • * 



bei Walther Odiugton 



Die GmppiruQgen von Punkt und Virga worden wieder mit 
eigenen Namen beieichnet: 



ScandicM y ^—m — 

^5 <y ♦ * 1 = 

(in Ghoralnoten unter gleichem Namen in der Calltopea leghale des Fra 
Ami§<ikc» QM^i finde des 14. Jahrh. ; stufenweise annteigend Äjthmisoli: 



der Anapftst). 



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76 



Die Anfüge der eorop&tsch-abendlftndischen Moiik 



cf >r * * 1 — 

{OtUi\ii, ipmiigweiie Mifrteigeiid.) 



(Ottobif stufenweise, wie auf einer Treppe, «JU/iaf, absteigend; rhythmisch: 

der Baktylna.) 

In der NmimentafiBl ans dem Kloster Ottobeuem (monasterium 
Ottoburanom, dann in der Freiherrlich von Lassbergischen 

Bibliothek zu Mersburg am Bodcnsee, jetat im Besitze des 
Fürsten von Fiirstenberg) kommen noch mehr solcher Grup})en 
vor: virga priuhipumiis , virga syl/hiiinictLs , virga conbiputictis 
u. 8. w. Der Münch von Kvcsham gibt für die 



virga dteoNpiiiidt» ^ die Ckondnotengmppe ♦ * | ^ 



Nach dieser Andeutung ist es nicht schwierig auch die audereuNameu 
und Combliiatioaen in der Ottobeuem'sehen Tefel wa denten, s. B. 



nkga coniripunctis » ^ " 

virga praeHaUiteri» ^••*) * ♦ * 
virga tMOaimma \\ ^ * * 



Zweite Klasse: solche, die in einem einzigen Zeich ea 
swei oder mehrere T8ne darstellen. Sie sind aas der Zq- 
sammeniiehttiig von Punkt und Viiga in ein einziges Zeichen 
entstanden nnd sind das Vorbild der sogenannten Ligatoren in 
der Hensuml- und Choralnotensehrift, in letsterer ist dto Idenütit 
sogar oft Bweifellos kenntlich: 



FUxa, CUm oder aivts ^ ^ 
nsflk JWi OMi: 



cuvi n E 

Man siebt, dass letzteres die ursjirüngliche Gestalt war; um die 
zwei Tüue zu kenuzcicb neu, machte mau zwei getrennte Istriche: der 



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Der QregoriaiuMhe Qeung imd seine Verbreitong. 77 

xw«ite Ungere deutete den Schritt nach der Tiefe an. Indem 
man sie dann in einen einsigen Zug vereinigte, entstand die 
bogen- oder hnfeisenförmige I^gor. 



lUxa strophica ^\ ^ 

FUsM resupina ^ 



r 



Epipkonus, auch Qnomo, Smiwealia, EtapKoima, BVaucidm und 
snr Zeit Franeo's Ton Cöln 



lUea ateendena U ^ U —^^-41 



ts=± 



(Piica asuendeiiä m der Jform des 13. Jahrh.) 

Diese Figur bedeutete zaweilen einen Terzensprung, wie zu 
Anfang der Antiplionie Videmnt (nach einem von P. Lambillotte 
g^^ebenen Beispiel): 



^ ^ (Bpiphonus) 

Tidemnl rid» - roDt 

zuweilen als sogenannte Plica eine Gesangmanier, eine Art Vor- 
oder Nacbscblag aus langer und kurser Note (Smivoealis)^ ins- 
besonderB in Verbindung mit dem Clinis ?f n , wo der Clinis das 
Fallen der Stimme, der Ghiomo das rliTtlimisebe (troehXische) 
Haas andeutet 1). 

(naeh Fra OUobi) 




(riiytliiuisch: der Jambus) 



1) Auch Lambillotte nimmt an, diese oft vorkommende Figur bedeute 
saien langen und einen kuraea Ton in Verbindun? 



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78 Die Anfüge der enropftiioh-abeiidliUidisolien Musik. 

Fes flexus resupinm 




Die Tafel von Ottobe.nem hat dazu noch Bes subbipuuctis, JBbs 
flexus suibbipunctis u. a. m. 



die beiden Folgetöne kurz nachschlagend, in unserer Schrift etwa: 

bei JPVa Jj^elteo OiUibi mit demsellMii NeumenBeieheii p ala 
„Himaco**; ib den beigegebenen Cboralnoten jedoch als kuiser 
Vorachlag 



— j-it d. i. ^^^ ^ 



Dritte Klasse: solche, die besondere Singmanieren 
bedeuten. Zn diesen gehSrt eigentlich auch schon der Gnomo 
und der Ancns, femer aber die Formen: 



TravMM, od. i^ica descendem 



9/' 



(Letrteres Schreibart im 18. Jahih., wo man aadk die umgekekrte Form, 
mit den Strichen anftrirts, alt PUea atcendcBB anwendete). 

Oriseus ^ f eine rasch nachschlagende Note, bei OlfoK als 



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Der Gregonuuaclie Gesug und seine VerbreiUuig. 79 
Arriaco 



mit der Plica desoendens identucli, in der Form so nemliek 

dasselbe wie der 

Gutturalis ^ ein mit der Kehle (gnttnr) rasch auszuführender 

Vorschlag I [^H=3^:j— 1 

2wttidii» ^ die nmgekehrte Manier 




Apo6tro2jha^ kurzer Nachschlagtou , kommt auch als Bistrojilia^^ 
und Tristropha vor (die beiden letztem bei Walther 
Odington in Noten 



und in diesem Sinne mit der Bivirga und TMvirga identisch i)). 

Das Qoilisma erseheint aneh in Verbindung mit anderen Formen, 

z. B. ab (^üUwa resupinum ^^ ^ ^ i welches eigentlich nur die 
Yereinigong des QNtlimia mit dem IVs fi/am re$it|»inis ist: 




Vierte Klasse: solche, die ganze Iti'otenformeln be- 
deuten. 

Das wXre nach F. Lambillotte der iVemiff welcher 
eine Cadensform andeuten soll, und swar 



H-emis minor ilir PhrasenschlUsse 



Prestm major für den Schluss bedeutender AbsStze 



-it- 



1) Repercussam vero (neumtm dioimiis) quem Bemo Distropham vel 
Tristropham vocst. (J. Cottomos). 



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so Die Anfiinge der europäiBch-abendlftndischen Musik. 

Sehr seliwtiikend nnd nnricher ist die Bedentong des soge- 
nannten Cephalicus (Kopf-Nenme, von M^paX^ oder 
Nach Lambillotte soll er bald einen, bald swei T5ne bedeuten und 
in letaterem Falle eine Art Portament (?) Tonohreiben. Fkm Ottobi 
bringt dafür Folgendes: 



Cephalici Jl/^ *** A 



Es ist dieselbe Figur, die in der Neumentafel yon St Blasien als 
Strojthieus angesetxt ist 

Mit Lesern yerwirrenden Beiehthum an Formen nnd Namen 
war die Sache noch nicht aus, os ^ab dann noch mannichfache 

Combinationen: Clivus cum podato, Podatus cum clivo u. s. w. Kein 
Wundor, wenn der Unterricht jahrelanjj dauerte, wenn, wie fiuido 
von Arezzo spottet, ,, die Sänj;er ewig lernten und nie t'ertigjwUrden", 
wenn «lieselbea Figuren in den verschiedenen Singe.schulen anders 
gelesen und gesangen wurden. „Kaum Einer stimmt mit dem Andern^* 
ruft Gmdo von Arrexso ans: „nicht der Meister mit dem Schttler, 
nicht der Schttler mit dem Mitschüler," nnd 6uido*s Conmientator 
Johann Cottonins schildert nicht ohne Hnmor eine Zanksoene 
swischon einigen SXDgem, wo jeder anders singt nnd jeder Recht 
zn haben behauptet: „Sagt Einer: so hat mich*» Meister Trudo ge- 
lehrt, HO wendet der Zweite ein: so habe ich es vom Meister Albinus 
gelernt, und der Dritte schreit: Meister Salomo singt ganz anders." 
Wo Einer die kleine Terz oder die (Quarte singt (er/ählt Cottoin, l;is>t 
ein Anderer die grosse Terz und die Quinte hören: „es stimnieu", 
schllesst er, „wunderselten aneh nur ihrer Dr^ fiberein, weil sieh 
Jeder auf seinen Lehrer beruft und es endlich so viel Singemanieren 
in der Welt gibt als einselne Singemeister.** Die Neumen blieben 
also, ob sie gleich eine Tonschrift vorstellen sollten, doch nur ma» 
blosse Gedttchtnisshilfe, etwas, das nur durch Uebung (usus) za er- 
lernen nnd wozu die Unterweisung des Lehrers unentbehrlich war. 
Ilucbald von St. Amand (starb 930) domonstrirt es seinem Leser 
handgreiflich, er setzt ein Alleluia (AEVLV) in Neumen und fragt 
nun: „Das erste Zeichen magst du wie immer iutuuirt habend wie 
wirst du aber das zweite Zeichen, das da daneben siehst nnd welches 
tiefer ist, mit dem ersten verbinden? Du wiist nicht wissen, ob es 
nach dem Willen des Tonsetsers eine, zwei oder drei Stufen fallen 
soll, wenn da es nicht von jemandem wirklich vorher singen gehört 
hast^)**. Als Guido von Arezzo seine Schttler dahin brachte, das» 



1) Johsnn de Maris sagt flbercinstimmond von den Noumen: 
Sed tamcu hitic oculi ucqueunt perpendere cantum, 
Si non auris adesi ei vjces praemodulaatam. 



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Der Gregoruuiiaehe Gesat^ und seme VerbraitaDg. 



81 



sie unbekannte Gesänge, welche sie nie vorher gehört, vom Blatte 
sangen, sckieu es den Hörern freilich ein Wunder^). 

Bomaniis in St GMlen dachte an Abhilfe. Er kam aof den 
Einfkll den Neunen kleine Bnchatabenbeseichnangen beisusetsen, 
welche dem SXngw die nOthigen Winke geben nnd gewiasermassen 
den mttndlichen Unterricht des Lehren enetaen sollten^. Diese 
Komanusbucli Stäben (wie wir sie nennen wollen) finden sich 
Kchon in dem Aiitiphonnr, welches er mitgebracht, und überhaupt 
in den von St. (t.illcn nnsfjo^an^M'iu'U oder nach d«»rtijj^en Mustern 
copirten Xcuniatisiruiif^en. (Tlücklic lienveisc hat Notker Ii al b u 1 u s 
einem aulVagunduu Freunde NameuM Lantpert die Bedeutung 
dieaer Bnehstaben in einem gehaltenen Briefe erklKrt, so daes wir 
Aber aie genau unterrichtet sind. Sie haben eine dreifache Bedeu- 
tung: theila zeigen aie die Tonhöhe an, thmla das Mass der Be> 



Et quia sie tali pro oonsaetadine oresoit 

Usus habet, non cantu«, quem niusica iifseit. 
In seiner ^uuima mus. l'ap. <i piht er einige Erklärungen : „Punctus ad modum 
poneti formatnret adjungitur quandoque virgac, quandoque plicae, quandoque 
podato, quandoqne unom solum quandoque plura paritcr, praecipae in tono- 
rum deseensu. Virjja est uota siinjtlex ad modum virgae oliloii<;ae. Clivis 
dicitura eleu quod eelmelumetcompuniturex/i^ta et souinuta et biguat qaod 
▼ox debet inflecti. Plica dicitur a plicando et oontinet dna« nofau, unam 
aaperiorem et aliam inferiorem. Podatus continct duas notas quarum uua est 
mferior et alia superior ascendendo. Quilisma dicitur curvaüo et continet 
notas tresTel plores qaandoque asoendenseoitenim descendena, qnandoqaee 
contrario. Pressus dicitur apremeudo et minor oontinet duas notas, maior 
vero tres, et scmper debet acqualitcr et cito proferri." Man sieht aus dieser 
Stelle, das8 die Neumeu zuweilen aueh die Art der Bewegung, ob gleieh- 
mässig, ob sehnell u. s. w., andeuteten und dass ihre Namensbedeutung bei 
den verschiedent ii Lfhrcrn verschieden war: z. B Ix-dcutot bri IMtirisderOUvis 
das, was sonst die Bedeutung des Seuiivoeals oder Epiphouu» ist. 

1) Fflr die Bntsiffenmg der Nemnen ist in neaetter Seit dmxsh D a n j o u , 
Fe tis, The odorNisard, besonders aberdurchP.Lambillotte, C. Cous- 
B f m a k e r und AnselmSchubiger höchst Verdienstliche» geschehen. Wer 
mehr darüber zu lesen wünscht, dem seiCoubseuiaker'sllistoirederhannoniu 
da moyen ftge, Larabillotte*sAutiphonaire de St.Galle und Schubigcr'sSftngetw 
ficbule von St. Gallen empfohlen. Nur möge er sich von dem PhaTitftm der 
Note saxonne und Note longobarde nicht irre macheu lassen ^ schon IsLicse- 
wetter hat in der allg. Leips. mnaik. Zeit, vom Jahre 1843 die Sache glänzend 
widerlegt, noch umständlirher Lambillotte. der leider nur des Guten zu viel 
thut und neben trefllichen Argumenten auch unhaltbare in's Feld rücken lässt. 
CouBseraaker (dessen Verdienste um die Musikgeschichte des frühem Mittel- 
alters nicht warm genng anmerkennen sind) macht, meines Erachtens, mit 
seinen Neumt-s points 9uperi)08e8 eine unnütze Unterscheidung,'; ea i'^t keine 
besondere, abweichende Sj^ielart, sondern nur eine andere Schreibweise, so 
wie daa ABC dasselbe bleibt» obsehon es im 9. Jahrhnndert andere Zflge 
hat als im dreizehnten. 

2) In ipso quoque primus ille literas alphabeti signilicativas notnlis, qni- 
bns Visum est, aut susum aut jusum aut ante aut retro assiguarc cjccoyitaviti 
quas postea quidem cuidam amioo quaereoti Notker Bawnlu dflnoidavit 
(CasoB St. GaUi cap. 3.) 

Aabro«, 0«ielil«kl« 4«r Moslk. IL ^ 



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82 



Die AnfiUige der earopAiach-abendländitdaen Masik. 



wegting (das Tempo könnten wir sagen), tliells sind es Vortrags 
Beiehen, sehr analog unserem j9vnd f (piano nnd forte). In spielen- 
der Weise, sugldieh aber als recht wohl gewählte GedICchtnisshilie 

stellt Notker seine Erklftmngen so, dn^^s alle oder doch mdglichst 
viele Worte der Erläuterung mit deui Buchstaben beginnen , um 
den es sich eben handelt, z. B. f, ut r//m fragore seu frendorc feria- 
tur flagitat (also unser forte, es kommt in(l«'ssen sehr selten vor) ; g, 
ut in gutlure gradatlm garridetur geuKute gratulatar ; M, mediocriter 
tuelodiam moderari meiidicaiido meniorat. Die Tonhöhe wird ange- 
deutet dnrcli a (ut aiHm eleretur admonet), d (ut deprimakir de- 
monstrat), i (jusum vel infeHui tnsinnat), « (sicaiim Tel summ 
scandere ribilai), e (ut eqtuditer sonetur eloquitnr). Freilich blieb 
dann noch immer die Frage offen, wie hoch man Steigen, wie tief 
man herabgehen solle. Tempobezeichnungen waren e (ut cito vcl 
celeriter dicatur certificat) und / {trahere vel tenen debere testatur). 
Das h (bcne) dient zur Verstärkung, nnd z. B. b. t d. i. hone teneatui 
entspricht völlig unserem ben tmuto. Ein Kreuzchen in Form eines 
^ (expectare expetit) deutet eine Pause oder einen Absatz an. Im 
Antiphonar von Bt Gallen sind nur die Buchstaben a, b, c, t, 1, 
8,M,i und X angewendet Am hünfigsten kommt e, die Andeutung 
der Besehleunigung, Tor^). Nun war freilieh noch immer keine 
Andeutung da, auf welchem Tone der 8ttnger anfangen und dann 
mit Hilfe des ihm durch die Neumen nnd die Romanasbuchstaben 
angedeuteten Steigers, Fallens u. s. w. das Stück durchsingen solle. 
Diesem Uebelstande suchte man durch die sogenannten Tonarini 
abzuhelfen, d. i. Verzeiclmisse der Antiphonantange , nach den 
Kirchüutöueu, in welchen die betre£feuden Antiphonen gesungen 
werden sollen. Diese Tonaiien finden sich hXufig: mn vielbenutster 
Tonaiins s. B. unter denArbeiten des Abtes Berno von Reichenau^. 
Bomanus bezeichnet die acht Kirehentttne, dureh die an den 
Rand gleichsam als Vorzeichnung gesetzten Buchstalcn a, e, i, 
if, y, t». Da, wie wir wissen, jeder Kirchenton seinen bestimmten 
Anfang, seine Mediation und seinen Schluss hatte, so konnten sich 
die Sänger bei diesen Hilfsmitteln leidlich zurechtfinden. Nur die 
Schlüsse mit ihren ,,DiftVrenzen'* machten noch eine Massregel 
nöthig: stand der Buchstabe allein, so war der regelmässige Schluss 
gemeint; war aber noch ein MiÜauter dabei, so bedeutete es nach 
der Beihenfolge des letateren im Alphabet die erste, sweite n. s. w. 
DüSsrens, s. B. 7 e den siebenten Kirchenton mit der sweiten 
Differena. 

Die Erinnerung an dieRomanusbuehstaben erhielt sich ziemlich 
lange. Noch Berno von Reichenau und der Scholastiker Aribo 

1) Notker's Brief ist in Geibert's Seriptorss IBd^ Hsmer bei Schnbiger 

S. 10 abffpd ruckt. 

2) Bei tierbert im 2. Bande. 



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Der Or^iockniadM Qmutg imd >eme Yeriweitaiig. 83 

reden davon. Unverkennbar ist dvreh sie euch Herrn annnt Con* 
tractas (starb 1054) auf den Gedanken einer eigenthUmlichen 
Tonschrift per uäenfaüonm dettgnoHonem gekommen, welche 

darin bcBtand, dass über den Text Bnchstabou gesetzt wurden, 
welche dem Sänger die Fortschroitung som nüclistfolgcnden Inter- 
vall andeuteten, z. B. e (cqualittr) , wenn dersolbo Ton anzugeben 
war, .s (scmitonium) den Ilalhtnn, wie kleine Seeunde, t (tonus) den 
Ganztou, die grosse »Secunde, t s {toiiu.s ( kiii i>ciniio)i(t ) die kleine 
Terz, t t {(luo toiti, ditoitwi) die grosse Ter/, D (Diatesseron) die 
Quarte, J (Diapente) die Quinte, J s {Diapente cum semitouio) die 
kleine Sext, J T {diapttAe cum tcmo) die grosse Bext, J D (Dia- 
pente nnd Diatesseron) die OctaTe^). 

Es war alles dieses anch recbt sinnrelcb, aber doch noch immer 
•ehr nnbeliilflich. £inen weit einfachem, glücklichem und rulLcn- 
reicbcrn Weg schlug man in Italien ein; wenigstens sind es alte 
italicnisehe Chorbiicher, wie jene, die sclion Kirelier im Kloster zu 
N'allonibrosa in Händen hatte, wo man zner>t (jner <luri li die Neu- 
men eine rothe Linie (Chorda) gezogen findet, welche den Tou f 
bedeutet: was also auf der Linie selbst steht, hat die Tonhöhe von ^ 
was darüber steht ist höher, was darunter ut tiefer an singen. 
P. Martini gibt eine Probe dieser Schreibart ans einem angeblich 
dem Anfange des 10. Jahrhunderts angehörigen Codex, einem Missal 
des Domes su Modena: 

(Die Linie denk« mao sich roth.) 

Die Züge der Schrift deuten aber eher auf die Zeiten des 11. Jahr- 
hunderts. Wurde eine gelbe Linie gezogen, so bedeutete sie den 
Ton c. Guido von Aresao erwShnt dessen in den Versen: 

Quasdam lineas dg&amns varüs colorilnis, 
Ut quo loco «it »onns mox difcernat oriilus, 
ürdme tertiae vocis spleuduus crocus radiat, 
Sexta cijus affiois^ flavo mbet minio. 

Die gelbe Linie wurde stets nur in Verbindung mit der rothen an- 
gewendet, wie in dem von P. Martini einem ihm selbst gehörigen 

1) Darüber zu verf?1eichcn im 2. Bande von Gerbert*8 Scriptores 
Hermann seihst, und S. Cottouius. 

2) P. Martini. Storia della mus. 1 IJuml S. 184. 

3) Tertia vox. Sexta. Da der ticM»- Tf^n der ersten PlugsltonreiheAist, 
80 ist mit dem dritten Tone C, mit dem sechsten F gemeint. 



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84 I^i® Anfänge der europäisch-abendländischen Musik. 

Mistfale entnommenen Beispiel, welches naeb dem Charakter der 

SchriftzUge des Textes sogar bis in das neunte Jahrhundert snrUck- 
datirt werden will. Aber im genannten Jahrhunderte herrschte nocb 

die rihiiische Schrift, während hier bereits jener Mi^ehcharAkte^ 
zwisclien rihnisel» und jjotliisch zu erkennen ist, wie er im 11. nur] 
12. .lahrliinuleite im (Jebrauelic war. Auch daö lauge öchlubb-J" 
(ttttUP beutet auf diusü Zeit hin. 



IM« obtt* litai« dank« 



gdb^ dl« ttofen Liato roth. 1) 




Die Magliabeeebiaam in Florens besitit ein Missale angeblicb ans 
dem sehnten Jabrbundert, in dem beide Arten abwechselnd ange- 
wendet nnd, stellenweise die redie, an uideren Stellen die rotbe 
und <^r]hc Linie. In diesem einfachen Hilfsmittel lag ein nnermess- 
licher Fortschritt. Jetzt war dem Slfanger schon so vi(>l ^ans deut- 
lich gemacht, das» die C'haraktere zwisclion den beide ji Linien nur 
die Töne ^, a oder h bedeuten können. Diese Linien sind die ersten 
Ansätze zu dein Systeme von vier Linien für <lie Choralnote, von 
iuul' Linien tur den gewöhulichou Gebrauch, dcsbcu wir uns noch 
jetst bedienwi. Umstand ist b^ ^esw gansen Sache nicht sn 
Übersehen. Warum worden gerade die Tonstufen / und c durch 
farbige Striche ansgeselehnet und nichts. B. d und a? Die Stufe f 
gibt nach der sogenannten Solmisation Guido's von Aresso 



Ol r» mi f» lol la 

die Sylbe fa im natfirlidien Hexachord c d e f g a. 

ut r« mi 

Die Stafe e gibt die Sylbe fa im harten Hexachord g a k 



e 



Ml U 

d «. 



Also gerade die Stelle der zwei so wichtigen Ilalbton- 
schritto, des den Kernpunkt ^ er Solmisation bildenden 
mi fa, ist durch die farbigen S triebe markirt. Sollten Jene 

1) Die Entzifferung Martini's dazu ist folgende, vemmthlich richtige: 




Po • pu - le me 



US 



quid fe-ci «ut 



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Der Öregorianiflclie Gesang und seine Verbreitung. 65 



Codices nun nicht alle erst dem 1 1 . Jahrhundert angehören, wie die 
Solmisation in Aufnahme kam? Man bemerke, dasB Guido von 
jenen zwei Linien und Farben wie von einer ihm angehörigen Er- 
findung redet (Signaraus etc.). Die St. Gallener Sängerschule, zu KarPs 
des Grossen Zeiten gegründet, weiss noch kein Wort von jenem 
bequemen Hilfsmittel. Dass Guido dann noch zwei Linien zog, war 
nur eine Vervollkommnung des ersten glücklichen Einfalls ^). Die 
Erinnerung an die beiden farbigen Linien ist in unserem JF^-SchlUsscI 
und C-Schlüssel erhalten. Gleich ursprünglich pflegten die Schreiber 
den Buchstaben f oder c links an den Anfang der dazu gehörigen 
farbigen Linie zu setzen, um ja keinen Zweifel übrig zu lassen. 
Späterhin, da man einsah, dass unter diesen Umständen die Colo- 
rining der Linien auch wohl entbehrt werden könne, zudem dei 
Schreiber vielleicht nicht die nöthige Farbe zur Hand hatte, be- 
gnügte man sich mit den andeutenden Buchstaben. Aus der ur- 
sprünglichen Form der Buchstaben C und F wurde dann unter den 

Händen der Schreiber C ^ ^ ^ "F 9» Giido 

von Arezzo zog dann, wie eben erwähnt, zu den beiden gefärbten 
Linien noch zwei andere, die ungefärbt blieben und ursprünglich 
nur mit dem Grifiel in das Pergament eingeritzt wurden; auf solche 
Weise kam das System von vier Linien in Gebrauch. Aus den ge- 
ringen ursprünglichen Uber den Text geschriebenen Accentzeichen 



1) Die Erinnerung an die rothe und gelbe Linie erhielt sich lange. Ein 
Codex des 14, Jahrhunderts in der Prager Universitätsbibliothek (XIV G. 46) 
wendet in seiner Notirung nicht bloa den G-.B-und C-Schlflsscl, sondern zum 
Ueberflusse auch die gelbe und die rothe Linie an ; letztere ist ungeschickter 
Weise in das Spatium zwischen der dritten und vierten Linie gezogen: 

Die 4. Linie toq unten denke man sich rotb, die 3. Linie gelb. 




not tt— jemmmnm 



Diese Notirung ist also zu verstehen: 



iflc: 



Co - ro 



nat re 



gem 



om - ni - um 



In den derben fracturähnlichen Zügen der auf dieses Liniensystem gesetzten 
Neumen zeigt sich auch der Uebergang zur Choralnote mit grosser Deut- 
lichkeit. 



86 



IMft Anftag» der •oropftiaoh-ftbendltoditchen MosOl 



lur Andeutung fttr die Flexionen der Stimme konnte endHch eine 
flo reiclie und sinnvolle, jeder Anforderung genügende mnaikaliBcbe 
Schreibeknnat hervorgehen, wie unsere heutige Notirung. 

Die Tonseiehen dw griechiHclicn BUcher Bind in den 
älteren Zeiten nur sparsam angebrachte blosse Accentzeicben, kurze 
Striclic, die bald horizontal, bald schräge gelegt sind, leichtge- 
zogene Circumfiexc, Winkelhaken, Häkchen, die dem sogenannten 
Spiritus lenis (') gleichen, andt-r»', die wie ein Lituus oder liirten- 
stab gekrümmt sind. Zuweilen ist in den Text ein Kreuz als Kespira- 
tionsseichen eingeschaltet Die Neumen £Ur den eigentlichen Ge- 
sangton sind durch rothe Farbe ausgeseiehnet Keben den mSebti- 
gen Minuskeln des Textes nehmen sie alle snsammen eine sehr 
untergeordnete Stellung ein. Die einfacher nemnirten lateinischen 
Codices haben entschieden ähnliche aus ebenso einfachen Zügen 
bestellende Zeichen: so ein Sacramentarium von St. Gallen ans 
der K.uolingerzeit , ein anderen P.icramentarium von St. Denis ^) 
und elu nso die aus dem 9. Jaluliundert herrülirenden Neunien eines 
Codex Casanatensis, der in lungobardischen SchriflzUgen ge- 
schrieben ist^. In letzterem, sowie in einem gleichfalls longobardi- 
sche Schrift enthaltenden Codex aus der vaücanischen und barberi- 
nischen Bibliothek^ seigen auch die Neumen den Charakter der 
longobardischen Schrift: gpitsige Ansätze, die sich plötzlich zu kräf- 
tigen, schwerfölligen Schattenstrichen verdicken und der Schrift 
etwas Ungefüges geben, während die Neumen der Sacramentarien 
leicht, flüchtig, nu lst haarstrichartig und nur in zusammengesetzten 
Formen dun Ii scliwaclie Schattenstriche markirt erscheinen, llierin 
liegt aber kein Anlass eine besondere Abart longobardischer Neu- 
men KU statuiren; es sind genau dieselben Zeichen wie in den 
römischen Schiiftstttcken und nnr so im Sinne der longobaidisehen 
Handschrift charakterisirt, wie die lateinischen Buchstaben des 
Textes, die ja auch keiner longobardischen Nationalschrift ange- 
hören. Ans ihrer nördlichen Heimat brachten die Longobarden sicher^ 
lieh keine andere Kunst in das Land, das nach ihnen den Namen 
erhalten sollte, in die Lond)ardei, mit, als die Kunst ihre langen 
Spiesse (l^arden), nacli denen si e ihrerseits genannt wtirden. dem 
Feinde gegenüber nachdrücklich zu gebrauchen. Was sie in der 
neuen Heimat an Künsten fanden, eigneten sie sich an und über- 
setaten es in eine ihrer Sinnesart ansagende Form. Die alterthUm- 
liche Kirche von St Michael in Pavia mag in ihrer barbarischen 
Pracht ein Denkmal sein, wie man damals im Lombardenreich baute; 
aber so wie diese Kirche nur eine Modificimng des röndaehen Ba> 



1) Facsimile bei Qert>ert Scriptores Bd. 2. Tti. XL 

2) Taf. XII. 
8) Taf. Xin. 



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Der OregoriniMlie OeMog tmd Mine Verbreitung. d7 



silikenbaues ist*), so sind jene Neumen nnr eine obendrein knnm 
nennenswerth«i Modificatioti der römischen Nemnenschritt und nichts 
weniger als mitgebriichte-i Gut aus dem Norden. So lange die 
Lougobardeu Heiden und so lange sie Arianer waren, werden sie 
rieli um den römiscben Ritualgesang und die dazugehörige Neumen» 
Schrift nicht viel gekümmert haben. Als endlieh Theodelinde ihren 
Gemahl Anthorieh snm Katholidamns hinllberieitete, kamen diese 
Gaben von Rom an den longobardischen Königshof und nicht um- 
gekehrt. DerDomschatz von Monza besitzt ein Uberaus kostbares 
Gradual mit Neumen in G(dd- und Silbcrschrifl, das als Geschenk 
Gregor's an Theodidinde gilt (aber allem Anschein nach einer späte- 
ren Zeit angetiört). Seine Neumen haben den bekannten longobar- 
diBchen ächriftcharakter. 

AbwdieAehnlichkeit der griechischen und lateinischen Nenmen, 
ans welcher anf eine gemeinsame Q<>^1® wechsel- 
seitiges Yerstindnis^ g€«ehlo8sen werden kSnnte, verliert sich bei der 
Ausbildung und Bereicherung dieser einüschen GrundzUge voll- 
ständig; die Zeichenschrift geht im Ost- und Westreiche unab- 
hängig ihren eigenen Wog. Sogar schon zu Ende des 4. Jahrhun- 
derts soll St. Ephrem eine ganz eigene aus 14 zierlichen Zeichen 
bestehende Notenschrift oder vielmehr Neuniirung eingeführt 2), 
St. Johann Daraasccnus-^j soll im 8. Jahrh. auch hierin eineKefonn 
vorgenommen und die jetzige griechisch -liturgische Tonschrill 
snerst gebraucht haben; auch hierin das Gegenbild St Gregor's. 
Indessen verdient Ktesewetter's Ansicht alle Beachtong, dass diese 
Schrift nicht vor dem 11. oder 12. Jahrhundert von Geistlichen der 
griechischen Kirche erdacht worden sei; denn während sich aus 
dem 7., 8. und 9. Jahrhundert Codices mit den Ephremischen Zeichen 
finden, zeigen erst die Codices aus dem 1<). und 11. Jahrhundert 
eine veränderte Gestalt der Tonschrift. Neben der Minuskelschrifl 
des Textes raachen sich jetzt schon die parallel damit fortgehenden 
Notenzeichen als ein gleich Wichtiges geltend; für den ersten 
Anblick haben sie Aehnlichkeit mit dem Charakter arabischer 
Schrift: die Lage der Zeichen ist meist hofiaontal, viele spitiwink- 
lige, aber auch elUptiBehe Charaktere mit und ohne beigesetite 

1) Und auch dieser sogenannte „longobardische" Stylist nur ein barbari- 
sirtes Romanisch. St IGchael, wie es jetst ist, rflhrt mathmasslioh ans dem 

11. Jahrhundert her, also aus einer Zeit, wo Karl der Grosse längst dem Lon- 

gobardenroiche ein Ende gemacht. Tn noch viel spfttero Zeit gehört der Dom, 
von Munza (vcrgl. Lübku, Gösch, d. Architektur 2. Aull. S. ^öti und Xugler, 
Gesch. der Bauhonst 2. Bd. S. 77 und 8. Bd. S. 668). 

2) Diese Zeichen find: ^ ^ f J f \) + ^ \ ff 1] 

Bnmey fand solche Zeichen in den Handschriften der Harleiana No. 5785 
3598, nnd bemerkt (Hist. of mas. 2. Bd. S. 50): „the Codex Ephrein in the kin^ 
dbrary at Paris of the flfth Century haslikewise theiamekindofinQsicalaoies\ 

3) ä. Zariino, lustit IV. Ö. 



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88 Anfenge der europiiidMiibeBdNtiiditdieD Musik. 



Punkte, Bögen, Doppclstriche, quor durchstrichene Kreise u. 8. W. 
reihen sich ziemlich enge aneinander*). Dieser Oliaraktor erlih'lt 
sich bis in'.s .lahrlnmdert unverändert. Im weiteren Verlauf des 
Mittelalters wird die neugriechische Tonsclirift immer 'derber, immer 
aufdringlicher: es sind die hergebrachten Charaktere , aber ener- 
gisch, gross, kräftig, gebSnft; sradetst wird dai Oanie ein Tennar 
derliches Oemenge, das beinahe wie die Arbeit nagender Hols- 
Würmer aassieht, so dass der in kleinen dttnnea Hinnskeln daswisehea 
geschriebene Text dagegen fast verschwindet^). Bemerk enswerth ist 
Überdies, dass die filtern ScIirit't«>Ti nach der Stella ng der Charaktere 
einen syllabischenGesangbo , (uler wenigstens einen solchen andeuten 
wo auf eine Textsylbe nur liin und her eine bescheidene Noten- 
gruppo kommt. Dagegen entlialteii die spätesten se hr langathmigo 
Coloratureu, denen zu Liebe der geschriebene Text wunderlich aus- 
gereckt wird*), wobei das Bespirationskreas soweilen mitten in dift 
endlos gedehnte Sylbe gesetst wird. Der Umsta nd, dass ein beden* 
tender Theil dieser Zeichen (nebst manchen Znthaten) in der nea- 
griechischen Tonschrift bis heut im Gebraaehe blieb, macht uns die 
Bedeutung derselben zugänglich. Sie werden in aufsteigende und 
in absteigende Zeichen unterschieden, z. B. — Oligon [oXlyoy das 
Wenige), / Oxeia (f) o^da das Scharte) n. g. w. bedeuten das Steigen 
um eine Stufe, " Kentima (ro x^vriurt <ler Stachel) steigt zwei, ^ Hy- 
psile {ij uipüt} die llöhe) vier Stuten. Bedeutet der Apostrophos ' 
einen Ton, so fallen zwei Apostrophe (ol 9tlfO datdar^oqxn ") am 
eine Btafe, Elaphron (das Leichte to ikaqiQOP n) am swei Stafen 
n. s. w>). Nach einer seltsamen Distinction sind dnige dieser Zeichen 
„Körper", so andere ,, Geister**, iwei aber weder Körper noch Geist. 
Es werden nh'mlich insgemein zwei Zeichen fUr einen Ton ge> 
schrieben: ein Körper mit einem Geist, oder ein Geist mit einem 
Körper, dass also eines der Zeichen eigentlich stumm ist. Dafür 
gibt es ganz strenge Regeln^). Aus den einfachen Zeichen entsteht 
durch Combination derselben eine Unzahl zusammengesetzter, welche 
dann nach Unterschied 8, 9, 10 a. s. w. Tonstufen reprSsentireu. 
Neb«L diesen Ghankteren haben sie anch noch sogenannte grosso 
Hypostasen oder stamme Z«chen. Zn diesen gehört a. B. jenes schon 
erwähnte Kreuz (Stauros), ferner Gorgon (das Schnelle), Argon 
(das Langsame), Tromikon (das Zitternde), Heteron Paraklosma(die 
andere Bitte), Chironklasma (der trockene Bruch), Hemiphonon 
(die Halbstimme, in Form einer Lotosblume) vu a. m.^). Diese 

1) Fa&simile aus Codi hl Wien bei Gerbert, Script IL Tal VL 

2) Taf. VH hh IX. 

3) Z.B.8t..<^A^i7AovM wirdge8cbriebenilAA9/gi;i7)}ij/;^J79i!}i2J79A*voMtM>VMaaffa. 

4) Wer die Sache yoUstiadig kennen lernen irill, nehme Bamey S. Bd. 

S. 51 u. Ö2 zur Hand. 

6) Kiesewütter, Die Musik der neueren Griechen S. 10. 

6) Wir verdanken diese Mittheilungen dem eifrigen Forscher Villoteaa 



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D«r Gregforianiselie Gesang und seine Verbreitung. 



Hypostasen sind also Vortrags- und nicht Tonzeichen und heisson 
deswegen stumme. Manche ganz älinlichc (das Kvonz, das Hctoron 
Paraklcsina, die «nnfachen Apostroplio u. s. w.) ki)innieii schon in 
den ältesten Nutirungen vor, auch die Lotosldunio taucht schon in 
den mittelalterlichen Notirungen auf. Durch den Couflikt und fort- 
daaemden Veikdur nut d«ii maliometaiiiBehen Völkern hat die nen- 
grieehisehe Mutik allgemaeh Jenen fremdartigen, barbaiistuchen 
Charakter erhalten, der aneh auf die Tonschrift Einflnss gehabt hat. 
Statt rieh gleich den Neumen in den christlichen Ahendländcrn 
Knropa's zu einer deatlichen Tonschrift zu entwickeln, verliefen rieh 
die griechischen Neinnon in eine wüste Schnörkolei, mühsam zu er- 
lernen, ann, ungeschickt und selbst dem damit Vertrauten schwerlich 
sehr deutlich. 

Die Unsicherheit der Notirungsweise und manche andere 
Umstände bewirkten, dass rieh in den Gregorianischen Gesang 
mannig&ehe Abweichungen von seiner orsprUnglichen Fassung ein- 
schlichen. Aber die Fassung -dieser GesXnge blieb, trotz aller Ab- 
wttdiungen im Einzelnen, doch im Ganzen immer dieselbe, und 
was wir noch jetzt in unseren Kirchen zu hVtren bekommen ist im 
Wesentlichen noch immer die alte ehrwürdige Tonweise des heil. 
Gregorius. Es kommt dabei mehr auf den eigenthUmlichen Styl 
dieser Gesänge im Allgemeinen als auf die Note im Einzelnen an, 
und deshalb hat die Aonderung und Entstellung dieser oder jener 
Phrase, haben Modificationen in den Tonschlüssen u. s. w. nicht so 
sehr geschadet, dase wu besorgen mttssten statt der echten alten Canti- 
lens nur einen ungenügenden Nachklang derselben au beritsen. Die 
Ueberllefemng und die tSgliche Uebung in der Kirche ist fttr die 
£klialtang weit einflassreicher gewesen alsdie sehriflliche Aufzeich- 
nnng in Neumen, welche der Ueberlieferung und Uebung doch auch 
nicht entbehren konnten. 

Es galt nun die für die Kirche unabänderlich zu Regel und 
Gi!setü erhobene Gesangweise in der ganzen christlichen Welt zu 
verbreiten. Es ist bekannt, wie sehr sich Papst Gregor für die üe- 
kdhrung des noch heidnischen Englands interässirte, da ihm, noch 
ehe er Papst geworden, das edle Wesen einiger in l(om als Sklaven 
cum Verkäufe ausgestellter angelsSchrischer Jünglinge eine Vorliebe 
ftr diese Nation eingeflösst hatte. Im Jahre 604 sendete er nebst 
dem Abt des Andreasklosters zu Rom Augustin und dessen Ge- 
fährten Mellitus, welche er zur Bekehrung der Angelsachsen ab- 
schickte, auch einige Sänger, um den gehörigen Kirchengesang ein- 
zuführen. In Gallien begegneten sie nach Diipeyrat's Er/.fihlung 
einigen andern Moucheu, welche dort den römisch(!n (iesang lehrten. 

(Descr. de rEgji>te XIV. Bd.)- Wem dieses soltcno Bibliothekeuwcrk nicht 
rar Hand ist, hndet diese Charaktere auch in Kiese wetter: über die Musik der 
neueren Griechen. 



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90 Die Anfänge der europäisch -abendlätidischen Musik. 



Al.s sie in England angekommen, glückte es ihnen, dass bis lur 
Weihnachtszeit C05 hcreits au 10,0U0 Angelsachsen die Taufe em- 
pfanden hatten. Der erste Ort, wo der Gretj^orianische Gesang in 
Britannien eine Pfle^estätte fand, war Kent. Um das Jahr 664 he- 
riei' (h-r Biscliof Wilfrid den Heddi Stephanus, einen lienedictiner 
aus Kent, welcher die Psalmodie lehrte Um dieselbe Zeit reiste 
Bisehof Acca von Kent eigends nacli Bom, nm dort den Ißrehenge- 
aang zu lernen'), nnd war bemlllit selbst als YorgXngor in seiner 
Krehe den Gesang sn regeln. In Northomberland, wo jener WU- 
fried Bischof war, wird um 620 ein Diakon Jacobus als vorzüg- 
licher SSngcr genannt. In wiefern die Thätigkeit jener in Gallien 
herumziehenden Mönche dort den echten Gesang wirklich förderte, 
ist niilit weiter liekannt geworden. Ks niuss sich dort vielmehr ein 
eifrenei ivirclient^esang gebildet haben, der von den späteren SchrifV 
stellern als CaiUnji Gallicamts bezeichnet wird und einfacher als der 
Gregoiianisehe nnd melir dem Ambrosianisclien llhnlieh wai^. Es 
hatte schon der Charakter der heidnischen Gallier, wie sieh ein 
nenererSchriftsteller ansdrückt, „dieVerwundeningder behafiüehen, 
ernsten, disciplinirten RfWner erregt", sie waren „klug, anstellig nnd 
gelehrig", ai>er anch „leichtsinnig, veränderlich und neuerungs- 
sUchtig"*). Diese freisti^'e Beweglichkeit machte, dass sie den ihnen 
von den MJIuelien gebrachten (iesang zwar leicht erlernten, aber 
nicht umhin konnten ilm nach ihrer Weise zu verändern, so dass 
er eudlicii weder mit dem Ambrosianischeu noch mit dem Gregoria- 
nigchen Übereinkam. Von leichtem Verstlndniss der Hnmk endthlt 
Gregor von Tonrs ein Beispiel: es habe einer seiner Geistlichen, 
Namens Armentar gans leicht Modulationen der Stimme (Melo- 
dien) an&nfassen Termocht, wenn man meinte er merke gar nicht 
darauf, sondern sei gaim seinen klösterlichen Beschfiftignngen des 
Schreibens n. 8. w. zugewendet''). Die kirchliche Singekunst nahm 
während der Zeit der Mer(>vin;;^er l)ei dem leichtfassend«'n aber anch 
leichtsinniijen V olk»' bald eine ziemlich weltliche Färbung an, nicht 
sowohl iu deu Gesäugen selbst als in der Art ihrer Verwendung. 
Als der Sohn Chilperieh*s des Ersten getanft wurde, mussten die 
Singer, welche von den sahireich herbeigekommenen Bischöfen her> 
beigeftihrt worden, bei Tafel im Wettstreite singen; natürlich waren 
es die gewohnten kirchlichen Weisen. Dergleichen war nicht nn- 

1) Acta ord. Bencd. S. 676. 

2) Beda, Hist. gent. Angl. V. 21. 
3; üerbert. De cantu L Bd. S. 263. 

4) Dolliiiirer, .Tudenthum uud lleidenthum S. 23. 

b) De miraculis S. Martini Lib. I. Das Oitat bei üerbert, De cantu 1. Bd. 
8. 963: cm tarn fkefle erat Bonorum modahitiones aj^endere, enthftlt einen 
störenden Druckfehler in dem sinnlosen appendere (anhäni^ffii). Es muss 
heissen apprendere oder, wie Ji'orkel (Geschidite d. Masik 2. Bd. 107) hat, 
udprehendere. 



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Der Gregorianische Gesang und seine Verbreitung. 91 



erhSit. Nach der Erzählung Gregor*« yon Tours Hess König Gau* 
tram zu Orleans (im Jahre 585) mitten mitnr dem MittagsinAhle von 

einem Diacon dassellte rira<lnale vortragen, das er vorher bei der 
FrUhinosse gesungen hatte, und dann mussten auf dos Königs 
Wunsch die übrigen auw csciubMi Geistlichen ihre Psalmen und Ke- 
sponsorien anstimmen Aul König Dagobert machte der Gesang 
der Nonne Nanthüde wllhrend einer Vesper (sehr zum Widerspiele 
dessen was die Kirche beabsichtigte) einen solcben Eindruck, dass er 
sie aar Gattin begehrte >). Die frXnkischen SXnger hatten an dem 
Psalm in exitu Isynel eine Weise, die den römischen Sttngem, 
welclie im 8. nnd U. .lahrlmndert nach Frankreich kamen, so sehr ge- 
fiel, (lass sie für diesen Psalm die gallische Singweise beibehielten. 
Don echten Gregorianischen Gesang in's Prankenland zu versetzen 
war erst Pipin beniiilit. Als Papst Stephan II. im Jahre 754 |»er- 
sönlich nach Paris gekommen war, um von Pipin Hilfe gegen i\vn 
Longobardenköuig Aistulf za erflehen, benutzte Pipin diese Gelegen- 
heit, nm seinen Franken durch die GeisUichen im Gefolge desPapstes 
den wahren römischen Gesang lehren an lassen, det sich auch rasch 
verbreitete^), aber, wie es scheint, nicht überall gehörig vorgetragen 
wurde, weil sich Pipin bemUssigt fand schon 758 bei Stephan's 
Nachfolger Papst Paul um Absendung geschickter Singlehrer anzu- 
suchen. Der Papst sendete jenen Secundicerius Simeon, der aber 
seinen mit den Geistüclieu des (naclnnnls lieilig gesprochenen) Bi- 
schofs Kemigius angefangenen Unterricht unterbrechen musste, weil 
er nach dem Tode des i'rlmicerius Georg zur Leitung der Singe- 
schnle nach Born aurilckgemfen wurde. Jetat schickten Pipin und 
Kemigius Mönche nach Rom selbst, um dort den Gesang an Ort und 
Stelle zu erlernen. Der Papst entschuldigte in einem Briefe an 
Pipin die Abberufung Simeon*s und versprach fHr gründliche Aus- 
bildung der angekommenen Mönche zu sorgen*). 

Der galHknnische Gesang verbreitete sich von Frankreich ans 
nach Spanien; das vierte Toletanische Oomil, das unter Vorsitz 
des selbst als Musikschriftsteller bekannten heil. Isidorus iüspalensis 



1) Gregor von Tours erzahlt die Sache als Aogenzonge: BiiaL Fnuoo- 
rum VIU. 

S) Gerbert a. a. O. Forkel (Gesch. d. Mos. 9. Bd. S. 107.) macht dazu die 

gute Bemerkuiig-, dass bei einem Kruiifr wio Dagoliort, der ohnehin mehrere 
Gemahlinnen hatte, das £ntzüuken gerade keine Biirgschafl für die Vortreff- 
Uchkeit von Nanthädcn's Gesang zu sein braucht. 

8) So erzählt Walafrid Strabo die Saclie. Nach Sigebert hätte schonsur 
Zeit des Pii|)stes Zacharias im Jahre Tfil Pipin eine solche Vcrnn^taUunir t?o- 
tro£Ceu. Fipinua, rex GaUiarum, ecclesias cantibus romanae aucturitatis suo 
studio meßoravit (rergL Geibert a. a. O. S. 966). 

4) Der Aief de« Pnpstes findet sich in Grctser's Codex Carolinas, in 
Dnchesne's Script, bist. Frunc, bei Gerbert, De canta Bd. 1 S. 267 und bei 
Forkel, Gesch. d. Mos. 2. Bd. S. 206. 



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d2 Die Anftoge der eoropftiacih-AbeiidliiidiMhen Mnsik, 



stattgefunden haben loll; ▼erordnete, duB der Oeseag in gldeher 
Art wie in Gallien, anch in Spanien in feierlicher Weise statt* 
finden solle i). 

Deutschland lag zur Zeit Gregorys des Grossen noch tief in der 
Nacht des Heidenthums begraben. Von England und Irland her 
kamen die profHprpnflen Sendboten dos Evan«rt'linins Columbanus, 
Gallus, di'r (iründor des nachmals so berühmten Klosters St. Gallen, 
Willibrord und Winfrid, genannt Bonifacius, der Apostel der 
Deutschen. Bonifacius stiftete in Deutschland an den Bischof- 
sitzen nach römischem Muster Gosangschulen, im Jahre 744 an 
Falda, hemach in ISehstItt nnd Wttrabnrg. Die Unterwerfiing 
nnd Bekehrung der Sachsen geschah erst dnrch Karl den Ghrossen. 
Er war es anch der das Werk, dem Gregorianischen Gesänge all- 
gemeine Geltung zu verschaffen, vollendete; aber auch ihm gelang 
es erst nach unendlicher Mühe, Absendung von Schülern nach Rom, 
Herbeiholunf]: von Lehrern und rastloser persönlicher Bemühung. 
Es lag darin eben so viel politische Klugheit als Frömmigkeit, und 
eben so viele Frömmigkeit als politische Klugheit. Der gleichartige 
kirchliche Ritus, zu dem auch der Gesang gehörte, war ein ge- 
waltiges, vielleicht das einiige wirksame Gnltorband ftr die an 
Sprache nnd Sitten Terschiedenen YHlker, welche sieh der trttben 
Htidenwelt gegenüber zum christlichen Grossrctche dnigen sollten* 



jDie Zeit der Karolinger. Die Sangerschule von Metz und 8t. Gallen« 
Die Sequenzen und Tropen. Das Organum. 

Die Zeit Karls des Grossen nnd seiner Nachfolger, der Karo- 
linger, schliesst in der Welt- wie in der Kunstgeschichte die erste 
•rrosse Kpoche ah nnd leitet eine neue ein. Der gewaltige Ileld, dem 
Papst Leo III. am Weihnachtsfeste des Jahres 800 in der Peterskirche 
zu Rom die römische Kaiserkrone auf das Haupt setzte, wurde 
mit Schwert und Scepter der Pförtner, der die Thore dieser neuen 
Zeit erOflhete. Hit diesen Z^ten treten an die Stelle der durch- 
einander flnctnirenden VolkssUtmme allmHig festbegrinste eon- 
sistente Staaten, die AbhSngigkcit von der antiken klassischen Bil- 
dung hört in dem Masse auf, als die neue, romantische erstarkt, 
nnd das Mittelalter erhält jene ihm eigenthilmliche Gestaltung, die 
erst sieben Jahrhunderte später vor neuen Ideen und Lebensformen 
au wanken be<j^innt und endlich zusammenbricht. 

Was Karl der Grosse filr Unterricht und Bildung und insbe- 
sondere auch für Kunst und Wissenschaft gethau, ist allbekannt. 
Das Streben, dass sich in einem Vereine geistvoller Menschen Öfter 

1) Darüber sehe man Gerbsri, De eaniu 1. Bd. S. 200, 



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jSeti der Karolinger. SttQgen<diiüesaMeisiL8i.0«]l«ii. Orgwram. 93 

zeigt, Yor den kleinlichen VerdrieBslichkeiten des Alltaglebcns in 
eine ideale Welt, In eine Bepnblik des Geistes ra entfliehen, wo 
äcb eben der Geist nnbeiirt seines eigenen Lebens freuen mag, 
scbnf an KarPs Hofe jenen Verein, wo Karl selbst David biess, 
Einhard Calliopens, Angilbert Homer, Alcuin Flacens. Es 
war ein Leben voll geweckter Kräfte, recht im (ioj^ensatzc zu dem 
geistig todten Despotenthum vonByzanz. An der llofschule lehrte, 
wie Alcuin in einem hcBchreibenden Gedichte er/;\lilt. der Lector 
Sulpicius die Knaben nach sichern Accenten mit lieldiclier Stiiiinie 
singen, der Tonkunst Numerus, Khythmus und FU»»c Nicht 
umsonst hatte sieb Karl den Namen des frommen königlichen 
Bingers David gewSblt. Er war ein Freund des Gesanges, des 
Heldengesanges wie des kireblicben. An seinem Hofe hielt er Ge- 
sangübungen, die er nach dem Beispiele Gregor's mit seinem Stabe 
selbst leitete und damit dengenigen winkte, der sieb vor den Andern 
hören lassen sollte; und kam etwa ein fremder f Jcistlicber zu Hofe, 
der nicht singen konnte, so war tür den (Jast kein Ausweg, als 
dass er im Chore stehend, ohne einen Laut hören zu lassen, wenig- 
stens die Grimassen eines bingenden nachalunte, bis der dadurch 
nicht wenig ergötzte Kaiser den armen Figuranten von seiner 
Angst erlöste. Für den Kircbengesang war Karl eifriger besorgt als 
einer sdner Vorfahren ; in der gamen Welt sollte Gottes Lob in völlig 
g^eieben Weisen ertönen. Daher des Kaisers Eifer Oberall mit Bo' 
seitignng jeder abweichenden Singweise denGregorianisehen Gesang 
einzuftihren , was insbesondere durch eigene Befehle und durch 
Schlüsse der Prf»vinzialt'oncilien (803 zu Aarhen, 805 zu Thionville) 
streng eingesciiärtt wurde **). Karl bemerkte mit MisHvergniigen «leu 
trotz der Bemühungen seines Vaters Pipin nicht beseitigten Unter- 
schied zwischen dem gallischen und römischen Gesänge. Schon im 
Jabre 774 sendete er, nach Sigebert*s Erzühlung, zwei Kleriker 
nach Rom, um dort den „autbentiscben Gesang** von den Römern 
an lernen^. Abenteuerlicher klingt der Beriebt des Mönches von 
St. Gallen: Karl habe, um den Abweiehnngcn im Gesänge tin 
Ende zu machen, vom Papste Stephan die Absendung von Sängern 
erbeten, und es habe der Pa[)8t nach der Zahl der zwölf Apostel 
KWÖlf SSnger in's Frankenland geschickt. "VVie nun abcu* Griechen 
und Römer auf den Glanz der Franken neidisch waren, hätten sie 

1) Candida Su I [ i t i 1 1 s post te trabit agniina leetor, 

Ut ff'trnt et (lo( cat ccrtis ne n<'centibuB errent, 
Xustituit pueroB Iditliun modulaniinc sancto u. 8. w. 
9) Aachner Cap. v.J. 789 No. 80 : Monachi vteantumBomamm pleniter 
et ordinabilitcr per iioctumale vol gratlulc ot'fu iTiin peragant,8pcnii(liiui (juod 
beatae memoriae genitor noster Pipinun rex decertavit, ut ficrct, quando 
Gallicanum cantnm hUitobunanui^tmapo»tolicae$edi8 etS.JJei ecdeaiae 
paci/icam ronrai diam, 

d) äigebert ad. amL 774 



Digitizoa Ly Li(.)0^le 



94 Die AnitUige der eaiopftiaoh«abepdltodi»oben Miuik 

unter einander Badi geflogen, wie wkt e» dalmi bringen könnten, 
dass dort nimmer eine Einheit des Gesanges isiiuU verde. Von 

Karl ehrenvoll empfangen und an die vorzüglichsten Orte gesen- 
det, habe nun jeder an seinem Orte so schlecht tiiid so verdoiv 
hfii wie möglich gesungen und in soh'her Weise den Gesang ge- 
K'lirt. Als aber Karl das Woilinaolitsfost zu Tric^r und Metz und 
im foli^^rndou Jaliic zu Paris und Tours feierte, Jiabe er ganz 
vi'r?>( lii(Ml( iie (ü'sänge zu hören bekommen und sich gegen Papst 
Leu beklagt, der die Schuldigen zurückrief und tlieils mit Ver- 
bannung, theils mit ewigem Kerker bestrafte. Aus Besorgniss, 
dass andere abgesendete SXnger mit gleicher Unredlichkeit ver- 
fahren könnten, habe der Papst sidi mit Karl dabin verstKndigt, 
dass vielmehr zwei fränkisclie Kleriker nach Kom kamen, WO sie 
unter des Papstes Aufsicht den wabren Gesang erlernten. — Als 
Kern von bistoriscbem Gehalte wird dabei wirklieh nicht mehr 
gelten können, als eben nur was der einfaebe Bericht Sigebert's 
enthalt; das Uebrigo ist ganz unverkennbar sagenbafte Zuthat. 
Wieder anders t'asst der Mönch von Augouleme (Mouachus Engolis- 
mensis) die Begebenheit: „Es entstand während des Osterfestes ein 
Streit swiscben den römischen und fränkischen SXngem. Die 
Gallier rtthmten sich besser und schöner an singen als die Bömer. 
Dagegen behaupteten die R^mer, dass sie die Geslinge in rechter 
Weise vortrügen, wie sie solche vom heil. Papste Gbegor gelernt; 
der Gesang der Gallier sei verdorben, da sie die gesunde Cantilene 
völlig zerrissen. Der Streit wurde vor den König, Herrn Karl, ge- 
braolit; wobei die galliscben Sänger, weil sie sich auf" ihn verlassen 
zu können glaubten, nicht wenig Uber die Kömer loszogen. Diu 
Römer, stols auf ihre Überlieferte Weise, nannten ihre Gegner 
Thoren und rohe Bauern, deren Tölpelei nut der Lehre St Gregorys 
gar nicht in Vergleich kommen d&fe. Und weil nun des Streites 
kein Ende war, sagte der fromme König Herr Karl sn seinen 
SXngem: Saget selbst, welches Wasser reiner ist: eines, welches 
aus der lebendigen Quelle entsjiringt, oderwelcbes bereits im Bäch- 
lein einen weiten Weg gemacht hatV Da nun Alle einstimmig riefen, 
der Quell als llaupt und Ursprung des (ranzen sei reiner, das liäch- 
lein aber werde um desto unreiner und getrübter, je weiter es sicli 
von der Quelle entferne, erwiderte König Karl: So kehrt zurück 
cur Quelle St Gregorys, da augenscheinlidi ihr den Kircheugesang 
verdorben habt Bald darnach erbat sieh König Karl vom Papst 
Adrian Sitnger, welche in Frankreich den Gesang verbessern 
könnten. Dieser gab ihm die sehr gelehrten, von St. Gregor unter- 
richteten Sänger Theodor und Benedikt, und schenkte ihm das 
Atitiphonar St. Gregorys, das dieser selbst in römischen Noten auf- 
gesetzt hatte; der König, Herr Karl, sendete aber nach seiner 
Kiickkehi- den einen Sänger nach Metz, den andern nach Soissons, 



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Zeit der Karolinger. SftiigerBohiilesaMetsa.9t.Qallen. Orgamim. 95 

und ordnete an, daas alle Meister der fränkischen Siugeächolen 
ihnen die Antiphonare zur Yerbesiflning mwimtm nnd von ihnen 
singen lernten. Jefast wurden die Aatifhunuare, die Jeder wie er 
wollte dnrch Zusätze oder Anslaasnngen entstellt hatte, verbessert, 
und alle fränkischen Sänger lernten die römische Nota- 
tion, welche jetzt französische Note (rwta Francisco) heisst, 
ausser dass die Franken die Trennilns und Vinnnlas, die gebun- 
denen und getrennten Noten {collibihiirs vcl scrahilefi voces) im (Je- 
sange nicht recht herausbrachten und die 'l'öue eher n>h in der 
Kehle brachen. Die beste Meisterschaft des Gesanges verblieb bei 
MetB, nnd so hoch der Gesang sn Rom den Gesang von Mets ttber- 
trüft, so weit geht Mets den tthrigen frinkischen Singsehnlen vor. 
Gleiehermassen unterrichteten die rSmiechen Sttnger jene oben- 
erwiClinten frfinkischen Banger in der Kunst des Organisirens (in 
arte organandi).*^ Die zwei Sänger Theodor und Benedict kön- 
nen unmöglich vom heil. Gregor unterrichtet worden sein: sie hh'tten 
nothwendig an zweihundert Jahre alt sein müssen. Dnss der Mönch 
von Angoul^me diesen sogenannten Tlieodor und lienodict in 
Verbindung mit dem au Karl gesendeten Antiphouar setzt, zeigt 
sweifellos, dass er dieselben swei Sendboten meint, von denen der 
besser nnterriebtete Ekkehard von St. Gallen, dessen EMhlnng dnrch 
das noch vorhandene Antiphonar beglaubigt wird, nnter den mntb- 
masslicb richtigen Namen Petrus und Romanus erzKhlt. Von 
diesen kam der Eine wirklich nach Metz, nnd da zu Soissons die 
zweitberühmtc Schule, und Romanus ursprünglich wohl wirklich 
dahin bestimmt war, so ist der Irrthnm des Mönches von Angoulemo, 
als habe der andere Sänger in Soissons gelehrt, erklärlich. Ganz 
richtig wird es sein, dass die zwei Lelirer neheu dem Gesänge auch 
den Gebranch der Neumen lehrten ; beide Unterriditsgegenst&nde 
waren nicht wohl m trennen. So kam die Nenmensohrift vielmehr 
von Rom in die nördlichen LXnder als umgekehrt Wllig ans der 
Luft gegriffen scheint die Erzählung des Mönchs von St. Gallen, 
dass sich Karl, während Griechen im AadinerDom ihre Matutiu«' in 
ihrer Sprache sangen, lieimlidi dort oinscliliessen liess, die fremdi-n 
Sänger behorchte uiul davon so entzückt wurde, dass er seineu 
Geistlichen verbot eher etwas zu essen, ehe sie ilim nicht diese Ge- 
sänge in s Lateinische Ubersetzt vorlegten. Diese Erzählung hat Alles 
gegen sich, von dem horchenden Kaiser an bis zu dem Tyrannen- 
stttck seines Befehls an seine Geistlichen, bei dem sie, die vom 
Griechischen schwerlich viel verstanden, hätten verhungern können. 
Und wie hätte Karl, der Vorkämpfer römiscIuMi Gesanges, plötzlich 
eine solche Inconsequenz begehen sollen! Wenig glaublicher ist 
der Bericlit des Aurelius I^eomensis, dass Karl fiir jene Antiphonen, 
die sich in keine der Kirchentöne «'iureihcn Hessen, vier neue 
Tonarten beizufügen befohlen habe, welche man Annano, Noeano, 



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96 



Die An&nge der eoropftüch-abendlftndiacheD Mmik. 



Nonnanoeaae und (nochmals) Noeane nannte, und wdl die GriecBen 
es auf acht Tonarten gehradit, habe Karl die Zwdlftahl eireichen 
wollen. Die Griechen hitton jetit ihrerseits aneh vier neue Töne 
erdacht: Neno, Teneaiio, Noneano und Annoanes. Biese Sylben 
sind nichts als Solfofrprfornu'hi tiiid es verlautet nichts weiter von 
zwölf Tonarten, dio Karl 8c li<»n ans lOhrfnrc ht vor den acht Kirchen* 
tönen St. (irc^ni's kinnn m iirdc lia]»(>ii ^"-«'Iti-n lassen. 

Als Kesnltat aller Eiuzelljcrichte wird man gelten lassen 
dttrfen, dass Karl in seiner Borge für Einheit des Kitus einige 
frXnkische Geistliche snm Erlemen des Gregoriaaischen Gesanges 
nach Born schickte nnd, alt sieh diese Massregel im Laufe von nn- 
geföhr fünfzehn Jahren unzulänglich erwies, die Absendung r9mi* 
scher Singlehrer nach Frankreich vom Papste erwirkte. Auch der 
Streit der fränkischen und der römischen Sänger und Karl's Eni- 
selieidunp^ wird flir eine historische Thatsache angenommen wer- 
den können, so wie der Umstand, dass der zierliche Gesang der 
Römer von den Franken nur roh nachgeahmt und hier zum wirk- 
lichen cantm planus wurde. Jene zwei Schulen von Metz und 
Soissons bildeten die beiden heimischen Pflanzstitten des Kirchen» 
gesanges, besonders stand Heta im grOsston Ansehen. Die cottfitt 
MeUentes galten Hir die trcfflichstout wie denn das deutsche Wort 
tti tif^esang" und „Mt^'^te*' beweist, wieweit ihr Einfluss reichte^ 
In England genoss ähnlichen Rufes das vom Bischof Benedict von 
York frestifltetc Kloster Wcreniouth, wcdiin der Stifter (der selbst 
nicht \M iii}:t'r als l'Unlnial in Rom jrew» >('ii war) im .Tahr678 eipends 
römisclit' Säiiixer k(inimen liess. In Frankreicli wurden n« lieii den 
beiden llauptschulcu von Metz und SoisMons auch in Orleans, Seus, 
Toni, Dijon, Cambrai, Paris und Lyon Schulen dngerichtet, letztere 
vom Erzbischof Leidmdus, der sich gegen Karl rflhmte, daas «na 
seiner Schule Singer hervorgingen, die wieder andere an nnter- 
riditen vermochten. Aber alle Bemühungen Karl's reichten nicht hin 
die von ihm erstrebte Kinlieit des Kirchengesanges ganz ausnahnf- 
lo8 dunliznlViliren. Iii Mailand blieben gewisse gallicanische Melo- 
dien unter (b in Namen vn'lo(Ji(ic fravciijcnae in Uebung^) und im 
Kloster Glasttuiliui-}- in Knjrlaiid kam es im Anfang des 11. Jahr- 
hunderts sogar zu blutigen Auftritten, weil ein gewisser Münch 
Turstin aus Caen in der Kormandie, den Wilhelm der Eroberer zum 

1) .. .alterum (Clpriciim) vero (Carolu6M.){»».'toiitf filin MioMrtcusi epis- 
copo ad ipsam direxit eculesiam cuius industria nun solum nt ooüem loco 
pollere, ted et per totamFranciam in tantum eoe])it iir(>]>:igari, ut nunc nsqne 
apud eo8, qui in bis rrpionibus Latino seraioiu' utuntur, ccrlesiastica canti- 
Icna dicatur Metotsis. Apud nos auteia, qui Theutonica sivf Tcutisca Hncrtia 
loquimur aut \ i-mm-Ml», Mett aui Mette vel secuudum Graecam derivationcm 
usitato v ocabulo Metisca dicatur (De eod. oura Gar. iL 10 und U, aus dem 
Mönche V. St. (iallrni. 

8) f aricelli, mon. basil. Ambros. 



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Zeit der Karolinger. SäiigerschulezuMetzu.St.Cialleii. Organum. 97 

Abte jenes Klonters ernannt hatte, die Mönche swang, den von den 
Sehtilem des heii. Gregor erlernten Gesang p:cg:eii einen ganz andern 

zu vertauschen, den sie von Fl andrem und NormSnnem erlernen 
sollten *\ Eine bedeutenfle Blüte peistijrer Poesie und «reistlichen 
rfesanr^es ^^erstere in der .Si)raclie der Kirclio, latrinisili, letzterer 
in der Weise des Gregorianisch en) entwicki-lt»' ^ich aber in dem 
Kloster von St. Gallon, welches, au den gewaltigen Grenzge- 
birgen, welche Deutschland von Italien trennen, nach der deutschen 
Seite an gelegen, flberbaupt eine der wi chtigsten CnltnrstXtten jener 
Zeit war nnd eine Reihe ausgeamc hneter MSnner zu den Seinen 
zählt. Von dort aus spannten sich die Cultnrfjidej) nach anderen 
ähnlichen Stiftungen hin: nach FiiMa, wo der bertlhmte Hrabanus 
Maurus lebte und lehrte, nach 1\ <■ i c Ii o ii an n. s. w. Von diesen 
Stütten aus drang Tjicht und Sitte in die unwirililic heu Felsen\vii>tt'u 
Ilelvetien's, in die Xacht der deiitsclien Wäbler; Wissenschaften 
und Künste fanden hier ein Asyl vor dem l)rängen der entfesbelten 
KrXfte, welche damals, wo sich die Welt neu gestaltete, in wildem 
Kampfe ansammentiafen. Daher denn auch die deutschen Heirscher 
ans dem Karoling^schen, firXnkischen nnd süchsischen Hanse, wenn 
sie zwischen den Tagen ihrer Kltmpfe nnd Regentensorgen Mo- 
mente aufathraender Müsse gemessen wollten, sich gerne in eines 
dieser Klöster begaben und St. Gallen insbesondere durcli den Be- 
such Konrad's des Franken, des grossen Otto n. s. w. ertVeut wurde. 
Hier sprossten die von Ko m an u s gelegten Keime bald lebenskräftig 
auf, der Gregorianische Gesang fand hier diu sorgsamste l*Hege. 
In ebenso warmer als wahrer Schilderung sagt Anselm Schu- 
biger, dem wir eine gründliche Darste llnng des Wirkens der Sfinger- 
schule von St. Gallen verdanken: , ,Da ertönten nun alltitglich in 
mannigfacher und gmiau geordneter Abwechslung die ehrwilrdigen 
Weisen der alten Psalmodio, da oröiTnete in mitternJCchtlicher Stunde 
der Foierklang des Tnvitatoriums Venite CTnltemus Domino den 
Dienst der Xachtvigilien; da wechselten die ansgedelinten , fast 
trauernden Melodien der Responsorien mit clem einförmigen Vor- 
trage der Lectionen; da widerhallten in d en Käiimen des Tempels an 
Sonn- und Festtagen als Schluss des nächtlichen Gottesdienstes die 
eriiebenden Klinge des Ambrosianischen Lobgesangs; da begannen 
mit der au&teigenden Horgenröthe die GesKnge des Morgenlobs 
(maiHtim laus) aus Psalmen und Antiphonen, Hymnen nnd Ge- 
beten bestehend; ihnen folgten in abgemessener Unterbrechung die 
übrigen canonischen Tag/eiten ; da ward das Volk täglich durcli den 
Introitusgesang zur Theilnahme an d«rn lieilitr<'n Mysterien einge- 
laden; da hörte es in lautloser Stille die um Erbarmung rufenden 

l) Mabillon, Annal. Bencd. II. R3: Glastoni.io turbao ol» r :nitnni. Ich 
denke, es waren wohl angelsächsische Möuelie, mit denen Xurstiu aui solche 
Art einen Normannisirungsversuch vornahm. 



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98 Auftlnge der europäisch - alicndlindisohen Musik. 



Töne des Kyiie, erfreute sich an den Festtagm .iin Ct ^ange einst 
von den Engeln ailgwtilllint ; da vcrnalim es boim Gradualedic Me- 
lodien der St-quenzen, die in lioclijuhelnden "NVecliselchören die da- 
nialigon Ft'.sttago verhciTÜc litcn, und d;ivmif die einfadion recitativ- 
alinliclKMi Klänge des Synibohinis; da füliltc es sicli beim Sanftus 
hingerissen in das Lob des Dreimalheiligen ein zustimmen und <lie 
Erbarmung jenes göttlichen Lammes anzuflehen, das die Sünden der 
Welt hinwegnimmt: das waren die GesIlDge, welche um die Mitte 
des 9. Jahrhunderts in der Klosterldrehe St. Gallen*8 an fSratlichen 
oder Ferialtagen in genau bestimmter Anfein anderfolge ertönten i)/* 
In dem ans den Zeiten des Abtes Oozpert (816) herrührenden Plane 
eines glänzenden Neubaues des Btiltes und der Kirche von St. fJallen 
sind in letzterer vor der östlichen Chorapsis und in den beiden 
Kreuzsehiffen die Stühle und Pulte (h-r Sänger (fonnulac < niüornm) 
nicht vergessen^}. In St. Gallen war alles grossartig, vom Kirehen- 
dienste und Gesänge an bis herab auf den Klosterbaekofcn, der, wie 
sich der Bischof von Constans und Stiftsaht von St Gallen Salomo 
gegen die schwäbischen Hensoge Erchanger und Bevthold rühmte, 
angleich tausend Brote buk; dabei waren, was bemerkt werden 
mnss, die Sitten im reichen Kloster die strengsten und die Yerpfle* 
gung die einfachste, so dass es ein Festessen war, wenn frisches 
Brot und geschälte Bohnen gereicht wurden 3). 

Die Sängerschule aber, deren Kuhm, wie Ekkehard freudig er- 
zählt, ,,von Meer zu Meer reichte", war die Nebenbuhlerin der von 
Metz. Es war ein eifriger aber neidloser Wettstreit. Der Wechsel- 
verkehr Bwisehen beiden Orten wnrde, wie es scheint, schon durch 
die Reisegenossen Boman ns nnd Petrus begründet^); man sang 
die Melodien des Letzteren in St. Gallen unter dem Namen „Meten» 
ses**. Der Wechselverkehr dauerte fort, der als Wunder seiner Zeit ge- 
priesene Mönch von St. Gallen Tuotilo wurde nach Metz berufen, 
die dortige Kirche mit Schnita- und Bildwerk ausauaieren, nnd der 



1) P. Anselm Schubiger. Die Siingcrschule iSt. Galleu's vom achten 
bis zwölften Jahrhundert. Einsicdcln und New-Yoik 1868. 8. 25. 

2) Der Plan findet hidi in di r Kl()^t(•lbibliothck wn St Gallen. Fer- 
dinand Keller )iat ilni iHil in Nachbildung herauigegeben. Siehe auch 
Förstcr's Denkmale 3. Bd. 

8) Bin HOnch bedauerte beim Besuche Koarad*s des Franken, dass er 
nicht einen Tag j^iiütt r gckomnit n. wo er die genannten Gerichte gefunden 
hätte. Auch in i'ulda, wo nach Trithemius' Chrouicon Uirsaugienso zur 
Zeit des Hrabanus 270 MOnche lebten, herrschte gleiche Frugalität. In dem 
Leben desHraban Maurus sagt der gL dachte Autor: Panis eornm eribrariu? 
etat et rusticus, fabae, pisa vi liolera cibus, aqua vel ccrevisia jiotus. Er 
hält es der Entartung und Schvvclgerei iu den Klöstern seiner Zeit strafend 
entgegen. 

4) . . dein utcrque (nftmlich Potins nml Rnninrius> fnma volmitc, studium 
alter a1tcriu8 cum audisBct aemulabatur, pro laude et gloria naturali ffentis 
uac :<morc ut alterum transsccndcrct (fchlteliard IV. De casib. St Galli.) 



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Zeit der Karolinger. Singerschule zu Metz a. St Gallen. Organum. 99 



Ersbischof Baodbert von Metz wendete sich an Notker Balbalusvon 
St Gallen wegen Verfassung einiger Hymnen an Ehren des beil. 

Erstmärtyrers Steplianus. Aueh mit Fulda, wo ein Schüler Hraban 
MaiiruH' der Mönch Johannes^), ein Ostfrankc von Geburt, als 
der Erste prenannt wird, der in Dcutscliland Kirclicnj^esänge nach 
viMstliicdtMion Afodulntionen eninponirte, trat das Kloster von St. 
Gallen in Veri)in<hni;j:; ein anderer Scliiiler des llraliamis, Namens 
Werenibert 2), trat in das Kloster von St. Galleu ein; besonders 
aber zeichnete sich dort ein Irländer Marcellus (ursprünglich 
hies er Möngal) als Lehrer der Musik aus, der im Vereine mit 
dem Vorsteher der inneren Klosterschnle Iso (starb 871) drei viel- 
bewunderte, auch in Diehtong und Münk ausgezeichnete Schiller 
bildete: jenen schon genannten Tu otilo (starb 015), einen viel- 
seitigen Künstler, Bildschnitzer, Maler, Baumeister, Vergolder, 
(dazu war er auch ein heldenhafter Kecke, so dass einst Käuber, 
die ihn im Walde antielen, blos vor seinem sprühenden Blicke 
und seiner f^eballten Faust zurückwichen^ den Notker Balbu- 
lus, aus Ileiligöwe (Sacer pagm) gebürtig, den Karolingern bluts- 
verwandt, eine feine Dichterseele, in welcher jede Süssere bedeu- 
tendere Anregung sofort in Dichtung und Gesang nacht5nte; und 
Katpert (starb um 900), einem adeligen Geschlechte aus Zürich 
entstammend, einen der ältesten deutschen Dichter, «lessen Galluslied 
das Volk über ein Jahrhundert lang mit Vorliebe sang und von 
dessen Geschicklichkeit als Musiker der (Jesauir 7?rr snvriornm 
iiiKjelorum Zeugniss gibt. Katpert wurde stdbst wieder ein tüch- 
tiger Lehrer, der zahlreiche Schüler bildete. In der nächsten Folge- 
zeit lebten: ILartuiann, seit 'J20 Abt, ein sorgsamer Ptieger des 
Gregorianischen Gesanges^); Notker Physicus (starb 981), von 
dem das Othmarlied herrührt^); Notker Labeo (starb 1022), 
der Verfasser des ICltesten Buches Uber Musik in deutscher Sprachest), 

1) Joannes, Monachus Fuldeiisis, patriu Fnuieus orientali-^, poeta et 
mosiCDS, qui ctplorasoripHit * t oantunieceleüiasticum pn'nuis a)>ii(l (ici nianos 
varia modulatinne composiiit (Tritlicrnius, in vita Rlial»ani Maui i I. H«! S. l.'J. 
Dies« Lebensbeschreibung tinUct sieh nicht unter den gesammclteu Werkcu 
des Trithemins, sondern ist der Ausgabe der Schriften des HrabanusMaaros, 
COln 1626, vorgedruckt). 

2) Werenbertu'^, i'liilosophus clarng, pocta insignis, graeci sermonis non 
i^rnarxi»; hymnos etiani et cautus in honorem domini nostri Jesu Christi et 
Sunctonim varios composuit (TritiiMn. Cstalogus illustrium virorum S. 128). 
'rrithriuiiis braucht (lau Wcirt coinjionon' zuweib'ii (z. B. S. 157 bei Joannes 
Zacharias de Erfordia) auch zur Bczcichuuug der Arbeit des Schriftstellers, 
doch Ofter(B.B.beiFranco,Bi8chofvonLQtti<m,HemannnsGontractQsti. s.w.) 
far musikalisebc Cuniposit ion : Franco — rcsponsoria in honorem Sanctomm 
dvJUi et reyulari melodia cumposuil n. s. w. 

3) Hartmaniuis abbas — maxiiuu autem uuthenticum Antiphouarium do« 
cere et niclodias romano more teuere sollioitas (Ekkehard IV. a. a. O.). 

4) Bei Schubiger No. 11. 

5) Es findet sich iu Gcrbcrt's Scriptorcs 1. Bd. S. l'G— 1,02 und hat vier 

7* 



Digitizoa Ly Li(.)0^le 



100 



Dio Anfänge der europäisch -aboutllandischcn Mnnik. 



Lehrer rles I.afciuiselien, Griechischen und Deutschen, rlor Astro- 
nomie, Matlieinatik und Musik, sr>wie sein Seliiiler Ekk eli ard IV. 
(Htarb lOHG), der Ilistorio^raph des Klosters, dabei Sanier und Ge- 
san«rle]irer, der noeli als alter Mann die Frrudc erlebte, dass, als 
er zu lugelbeim beim Osterfeste 1030 in des Kaisera Kourad II. 
Gegenwart im Chore zur Leitung der Musik die Hand erhob, sich 
plOtstidi drei Bischttfe, seine ehemaligen Schüler, neben ihn stellten 
nnd mit ihm sangen. Der Greis weinte yor Frendea, gerieth aber 
in bescheidene Verlegenheit, als er nach geendetem Gesanf;« von 
Kuser und Kaiserin mit Ehren;j^aben aasgezeichnet wurde, wie er 
uns selbst mit licben8wUrdit;:er Treuherzigkeit erzählt, ,, nicht aus 
Eittdkcit" saiTt er ,, sondern zu Ehren der Wissenschaft und Diseiplin 
unseres Klosters^' 1). Er wurde V(mi Erzbiseliofe Aribo nach Mainz 
berufen, um <lie dorti;;e Sän^erseliulc zu leiten, sowie früher schon 
Iso nach Granval im Jura berufen worden war, und so sehen wir, 
wie die Bildung die von St Gallen ausging, auch an weit entfernten 
Orten Wuisel schlug. Der mnsikaliscbe Sclixiftsteller nnd Oom- 
ponist des Meinradusliedes ^ Berno, Abt an Reichenau (Bemo 
Augiensis, 1008 Abt, starb 1048), dankte sein Wissen den Klöstern 
zu Prüm in der l'ilVl und zu St. Gallen, und der berühmte, gleich- 
falls dem Klosti r Reichenau anfrebörigc Hermannus Contractus 
(ans dem (trafeuliaus*' von Vehrinfj^en, geb. 1013, st. 1054) kam 
schon als si(dieniahri;z«'v Kiialtc naeh St. Gallen, wo er eine fn'"'*^- 
lichc musikalische liildung erhielt, so duss auch er uicht alleiu 
theoretische Sdiriften, sondern anch geistliehe Gesänge, in Wort 



Kapito] ; Dr> orte touis, de ietnudiordis, de octo modis, de 

larum orpfauicaruin. 

1) Ekkehard V. in vita Notkeri. 

2) Bei Sohubiger No. 45. Der An&ug ist (Cod. Einsidl. 23.): 



rr-i § * <y 0 -. -aqr 



Sauc-to 




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giu - ra - de 




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stnm 



ds - - 



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spe - ei 



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le. 



Die musikalischen Schriitcu Beruu's tiudun sich im 2. Bde. 4er Gerbert'schea 
Scriptores. 



Digiti.; r 



2eii der Karolinger. SängenchuleraifetsQ.Si.6alle]i. Orgtnum. lOl 

und Diehtnng «nsgeteiclmet, wie die Seqtmtia de Onicß ond 
die SequenHa m retmreeHone Dmini „Bexregum** hinterlessen hat>). 
l>ie Bingweiae Ton St Gallen war IHr jeden Diebter und Compo- 
nisten geistlicliw GesXnge in ganz Deutsclilnnd muBtergiltig. So 
dichtete und componirte Wipo, Hofcaplan dos Kaisers Konrad II., 
die schöne Osterseqnenz Vicfimae j^iOsdiaU /(/?/'/r9 p-nnz nach dem 
Vorbilde ahnliilier Arbeiten aus dem Kloster von St. (Jallen; C8 ist 
eine jener Sequenzen, die von der Kirche oCficielle Anerkennung 
gefunden haben, wozu vielleicht der Umstand beigetragen hat, dass 
Wipo's GeflQurte Brnno (ans dem elsnsser Grafenhanse Egesheim) 
nadunalt als Leo IX. den plipstlichen Stnhl bestieg. Leo IX. 
(it 1054) war selbst Componist; es ist nocb ein ganses (nnisono 
chormässig zu singendes) GloiHa von ihm erbalteni daa besonders 
in seiner Exposition viel Schwungvolles hat: 

(Cod. Etnsid1en«iB No. 1.) 

Glo-ri »ain ex-OQl*o-aasDe--*o. 

Ebenso setzte der Mönch Heinrieb {Henricus Monachus, es 
ist nicht bekannt, welchem Kloster er angehörte, er muss noch 
im 11. Jahrhundert gelebt bähen) eine Uarienbymne f^ve praedara 
tnaris Stella** in der Weise der Notker'Bchen Sequenzen, nur dass 
ihre Melodie etAvas Flüssigeres und weniger altertbUmliclic Strenge 
hat; sie fand Bcbon bei Glareanus ibres musikalischen Gehaltes wegen 
die wärmste Anerkenniinp:-). 1 1 einrieb's Schüler C« od escb al k erlebte, 
•wie er selbst erziiblt, die Genugthuung, dass seine Setnu uzcn Codi 
(intarrant und Laus tibi Christi '^) Tür Arbeiten des huchbelobten 
Uermannus Oonti'actus genommen wurden, daher er sein Autorrecht 
reelamirte*). Es herrschte ein wahrer Wetteifer unter der Geistlich- 
keit. Wer Talent lum Dichten oder Componiren in sich verspürte, 
bethlttigte es in irgend einer Sequens, wie denn die Gesünge des 
Bischofs Guido von Auxerro (961), Kadbot von Utrecht 
(917), der Aebte Johann ▼onMet8,Letaldvon8tMenin u.a.m. 



1) Bei Schubiger No. 46 und 47. Hennanu's musikalische Schriften selio 
man bei Gerbert a. a. O. Beksnntlieh war er auch ein berühmter Chronist, 
(h m die Go8chic}itsc'lin il'iii;u ijrnsFCTi T^imk Fchnldicr ist Tritlirmni'^ (< ':itiil. 
illustr. virorum S. Iii2) sagt von ihm: U>muo8 quoque ut cautua m huuorvui 
Ba&ctorum duldssims moaulations multos oomposuit. 

8)Ersagt(l>odecachordon8.17B): plosinnsici iugeuii ost> lulissevidetnr, 
qnnm inprens alionim prrex <<excenties cantioiium planstriB. bie ist vollstiindig 
uitgetheilt bei Schubigor No. 56. 

8) Beide Melodien bei Schubifirer No. 57 a. 58. 

4) Die Handsehrift, worin dit s jj, s«-liif ht, ist im Bemtse der k. k. Hof- 
bibhothek lu Wien (Thcol. 6ö Saec. XI vel XII). 



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102 Die Anfänge der earop&isch-abeadländischea Masik. 

genannt werden. Selbst Kaiser Karl der Grosse soll sieh anf 
diesem Felde versncht nnd Worte ond Weise des „vtiii Creator'* 
erdacht Laben. 

A nch die Instnimontalmnsik fnnd in den Klöstern ihre Pflege. 
Tuotilo verstand sich auf alle Arten von Saiteninstrumenten und 
Flöten und unterrichtete in der Beliaiullung der SaiteTnnstrumente 
sogar junge Edelleute, wozu der Abt einen eigenen Ort anwies^). 
Als Karl der Kahle 829 das Kloster Reichenau besuchte, kamen 
ibm die MOnche mit rdich besetster Instmmentalmiink entgegen^. 

Es ist bekannt, dass die Künste in den Zeiten der Karolinger 
noch durchweg von antiken Reminiscenzen zehitaii, dass fIbentU 
antike Motive, oft barbarisirt, oft aber aneh in überraschender 
Reinheit durchblicken. Es wird genügen an die Klosterhalle von 
Lorsch und von bildender Kunst an Tuotilo's berühmtes Diptychon 
zu erinnern, das wir hier um so lieber nennen, da das Kunstleben 
in St. Gallen jetzt dauernd unsere Aufmerksamkeit für sich in An- 
spruch genommeu hat. Wie nun auf diesem nicht allein das Orna- 
ment gans antiken Oesebmaekes ist, sondern unter den Figuren um 
den thronenden Christas, hart neben den vier Evangelisten die 
antiken Gestalten Tellns nnd Oeeanns, 8ol nnd Lnna anf- 
ti-eten, wie man nhor sieht, dass ,, weder das Kunstvermögen zur 
bildnerischen Durchbildung hinreichte, noch selbst das künstlerische 
Bedürfniss nach dieser Seite hindrängte"^): so hat in üben-aschend 
analoger Weise auch die Poesie der aus St. Gallen nnd den von 
seiner Dichtun«rs\veise abhängigen Kliistem hervorgegangenen Ge- 
sänge in ihrem Ideengauge, iu der Ausdrucksweise etwas Antikisirea- 
des*), aber der Formensinn nnd demgemfiss die vollendet schöne me- 
trisehe Form der antiken Diehtnngen fehlt Hitder Spraehe steht die 
Singweise im innigen Zusammenhange. 8ie hat (natOrlieh doreii 
das Medium des Gregorianischen Gesanges) auch noch eine Art 
Nachhall der einfachen Grossartigkeit der antiken Mn8ik<^); man be- 

1) Ekkehard in Casib. sagt: Mnsicat sicut etsocü ejus, sed in omni genere 
fidium et fiatulamm prae omnibus, n«m et filiot nobfliom in looo ab Abbate 
deitinato fidibos edocuit. 

8) Im Begrftssongsß'edichte hei'^^t es: 

Forte nahla tibiasque 

Organum cum cyn^li$ 

Flatu qui(l(}iiid, ore polstt 

Arte constat musica. 
Das ist gewiss keine blosse Phrase. Diese Worte wtren eine ünsiemlichkeit 
und Lücherlidikeit gewesen, wenn dieListromeate akht wirklich dasn ge- 
tönt hätten. 

3) Worte auu E. Förster's Beurtheilung dieses alten Kunstwerkes. 

4) Z. B. in der Sequentia de St. Othmaro: 

Hic velut öidns exiniiiim. ])lnfi(lii<? Den, 
Inter fratemas caligiues rutilans micat. 
6) Wenn dsr ScUuss von der aften Findamelodie nicht zu gewagt ist. 



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Zeit der Karolinger. Sängerschule zu Metz u. 8t. Gallen Organum. 103 

gegnet auch schönen melodischen Zttgen, aber daneben nicht wenigen 

nngeschickton Taumclphrasen, gerade wie Christas auf d«n Dip- 
tychon in antiker Weise feierlich erhaben thront, aber dazu unsäg- 
lich plumpe Hände und Fiisse hat Es ist diese Melodik im 
Grunde ecljter Grcj^orianiseher (iesauf^. Erdachten die geistlichen 
SKnger ein<' ei<:ene Sin;jrweise, so ist es auch ganz natürlich, dass 
ihr durch das Tag und Nadit tortgesetzte 8ingcn des Gregoriaui- 
Bchcu Gesanges mit den Formen dieser Singweise erfülltes Ge- 
dXchtniss anf ihre Erfindungskraft einen sehr wesentlichen Einfluss 
ttbte und was sie erfanden den Charakter der gewohnten ritual- 
mlssigen Intonation an «ich trug. Die Entstehung der Sequensen 
und sogenannten Prosen ist übrigens eigenthündich genug. Vom 
9. .Jaltrhundert au hatte man den Responsnrialpsalm des Graduals 
auf einen einzigen Vers redncirt, dafür alier das zur Osterzeit ange- 
hängte AUeliiJa zu langen N ucali^en ausgeschnörkclt und (vorzüglich 
im Introitus und im (inidnal selbst) bei festlichem (iottesdienste 
ganze Phrasen bald aus den Psalmen, bald sonst aus der heil. Schrift 
eingeschaltet, welche omaturae, fareihurae (Fllllungen), versus tti- 
tereaiares (Einschubverse), 2Vo/n (Kehrverse von vfinta und Tffonoe) 
oder festwae Umdes, oder auch, wenn sie in ungebundener Rede 
verfasst waren, Prosen (Prosae) genannt wurden. Der Fortsctzer 
des Lebens der Päpste von Anastasius crzfihlt, wie Papst Adrian II. 
(HCT — ?^72) anordnete, dass an llanptfesten nicht allein im Gloria 
Einschalthymnen (hiptini ihfasfiftiti), die man Landes nennt, ge- 
sungen werden s<dlen, soudern auch bei den DavidiscluMi Psalmen 
des Introitus solle mau eingeschobene Lobgesänge i^ini>erta cUHttca) 
absingen, welche die Rdmer fesiivas laudes, dieFnuiken aber Tropen 
nennen. An Heiligenfesten schien es gans angemessen auf solche 
Weise das Lob des Heiligen einsuschalten, s. B. Egidh psallat eodm 
iste laetus AUeluia; daher die Benennungen: prosn de Mana Mag' 
dalejia, de uativitate ß. Viryinis u. s.w. Man fing aber 'auch an den 
Vocalisen des Allelnia Texte nnterzidegen, eben derlei Prosen, die 
aber oft genug keim» Prosa waren, siMulern aus reimlosen oder aus 
girreiujten Versen bestanden, oder zwischen frt'ier und gel)un(Iener 
Rede standen, indem auf die einzelnen Absätze eine bestimmte An- 
sahl von Sylben kam, die aber nach keinem nach Kürze und Länge 
geordneten Metrum geregelt waren. Solche GesSnge nannte man 
auch Seqnensen, entweder weil sie anf die dem Alleluja angehängten 
Neumen (seqnenfes neumas) gesetzt waren, oder weil iliuen das 
Evangelium folgte (seqiubatiir). Man suchte auf solche Weise in 

1) Schubiger hat ganz liecht, wenn er Dichtung und Musik dieser ehr- 
wfirdigen Denkmale alter Kunst und rdner Frömmigkeit sehfttst; doch, wQl 

mir scheinen, überschätzt er sie etwas. Er schreibt ja auch die Aeusse- 
runpen der BewunJeiiniff d. r ZeitGfonosscii über Tuotilo's Bildwerke, bei 
dc'ucu man sogar au \\'un«leriiiüc dachte, als vollgütigc Zcuguisäc ab. 



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104 



Die Anfänge der europäisch -abendländischen Musik. 



die WOltlog gewesenen Melismen wieder Bilm und Verstand so 
bringen. Bei der Tcxtlegung solcher Gesänge galt die Regel, dass 
auf jede einzelne Note eine Textsylbe kommen müsse. Notker 
Halbulus erzählt, dass er von seinem Li'hrer Iso getadelt wurde, 
weil er bei der Dichtung einiger S(M|nenzen gegen diese Kegel Ver- 
stössen 1). Die Dichtung und Musik kamen jetzt zu einander in ein 
ganz neues VerhiÜtiuBs. Die Colorirangen des Allelaia wmn rein 
miisikalische, von keinen Textessylben bedingte Ei&idnngen. Ihnen 
mnssten sich die hernach untergelegten Worte anbequenien, das 
frühere Yerhältniss der beiden Künste wurde völlig Terkehit} denn 
sonst hatte sich die MusiL durchaus der Wortdichtung anbequemen 
mttssen. Im Ganzen nahm die Musik auf, was sie bei der Poesie 
gelernt, Mass, Ordnung, geregelte Bewegung. So geschah es, 
da^s die Sequenzen, welche sich den livmnen entgegenstellten 
wie freie Naturpucsie der gebundenen Kunst[)ocsie, doch auch 
einen regelmässigen an den Torbandenen Denkmalen bestimmt er- 
kennbaren Zuschnitt erhielten. Es kam sogar Tor, dass man die 
Arbeit des Musikers und Dichters so trennte, dass ersterer suweilen 
eigene Melodien zu Sequenzen als Gefliss für künftige mannigfache, 
darein einzutulb inle Worte erfand. In St. Gallen findet sich noch ein 
Codex, welcher die lOntwürfe zii '11 Melodien des Notker Balbulus 
in Xeunn'U ohne Text enthält, und es wird erzahlt, das Knarr» n 
des Mühlrades in der Klosttirmülile haht* ihn einmal zu einer Melodie 
{Saudi SjjÜ iliui adi>U nobis gratia) angeregt*), bei welcher der zum 
Schlüsse eines jeden Verses wiederkehrende Tonfall 




dem gehörten Geräusch nachgebildet wurde. Glarean drückt sich über 
diese Sequenz fast bewundernd aus*), und alsinnocenz III. sie 1215 
zu Horn hörte, fragte er den anwesenden Abt Ulrich von St. Gallen: 
wer denn jener Notker sei und ob man si'inen dalirestag leiere; 
und als der Abt es mit dem BeifUgen verneinte, es sei eben nur ein 
einfacher Httnch gewesen, wurde Innocena unwillig: Ein solcher 
Mann, yoU des heiligen GeisteSi sagte er, sei durchaus einer Oe- 
dichtnissfeier werth, und die VemachlJtssigung werde dem Kloster 
nicht aum Besten gereichen. Ein andermal sah Notker in einer . 



1) Notker citirt Iso*s Wort: Singolae notae caatilenae singulas qrllabas 

debent babure. 

2) Er tagt im Dodecachoi^on: Habet haecproBamiram modeiti«m,innari» 
rabilem gravitatcm, in qu:i <•] • i a« pretium est videre autoris ingeniom, quam 

varins in uno modo invcnit tonnulap, qunru liniitibus modi coercitum exhi- 
bucrit, quam eleganter verba uumcris accommodarit. Die Melodie sehe mau 
bei Schubiger No. 33. 



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Seit der KwoliDger. S&ngenchuleznMetiiu St. Gallen. Organom. 105 

gnmeaTollen FelBenBcUaelit Arbiter an geflthrlielier Stelle mit dem 
Bmen einer Brücke iMBchXfiigt; sogleich gestaltete sich ihm die 
Sitnalion sa dem ergrdfendeo, naclnnals in Gefahren vom Volke so 
oft angestimmten Qesang Tom Tode, dem wir mitten im Leben 
angehören^); 



Codes Si Oftll. Ko. 646. 




Me-di - a 



in mor - te 



g j ^ I _p ^ ^^^^ 



mos, qnaem qoaa-ri - mm 



ad • jn • • to- 



3 



m - - n 



Do - mi- 




1) Der Choral „Mitten wir im Leben sind" itl im Texte eine nem* 

lieb treue Nadbbfldnng jener Sequenz ; in der dan gehörigen Choralweiso 
klingt die Sequenzmelodie nur noch wie von f<mo an. Jacob Gallus hat die 
Worte Notker's zu einer schönen Compusition iür zwei Chöre zu vier Stimmen 
beantst, in welcher auch noch dieoriprllnglicheMelodiettellenweisedetttUdi 
henrortritt Z. B. 1. Chor: 




8ano-te 



Bfan findet diese Motette in der von Hocblits herausgegebenen „Sammlong 
vorzüglicher Gesangstücke*' 1. Bd. S. 54. 



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106 



Die Alling« der europäiich-abendländiaclien Musik. 




I , I l ^^-J L I I J — F=j 



te 
te 



spe-ra • ve 



runt pa - tres 
itrat pa - trat 




tf> €h 



QO 

no 



- stri 8ue - - ra - ve - runt et Ii - 
• stri ela - • ma-ve • - > mutet 




I iL"w> 



be 

non muit 



Banote — — — — 



— _ _ — — De - 




8i 





Sancte for^tis 

• 



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de ■ 


spi - 


ci - 


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nos in 












































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C <V <5» ■ 



tem 



po - 



re so-nec-ta 



tu 





-J^— , — --i — -i 1 \ — -l J - — J_jJ — 4St — 1 






- — & — €* — lim 


'* ^ ^ ä-^.—. 



cum de - fe • ce - rit vir - tus no <■ • • stra, 



3=1- 



:g < g 



ne de - re - liu 



• • quas 



nos 



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Zcitdfir&arolingw. 8lagerMhiilesaM6tsa.St.6aUeii. Organum. 107 




Ii: 



— rj • — 



Sancte 



et mi - se • ri - con Sal-va- 



tor 



«•marae morti 



ne 



tra 



das 



Von den Molndien, welche Tuotil <» erfand, bemerkt Ekkehard, 
ßie seien eigenthümlieh und sehr kenntlich; ,,denn", fii^t er bei, 
,,Neumen, die nach Psalter und Rotte, worauf er besonders stark 
war, erfunden sind, haben eine besondere Süssigkeit". Die An- 
regung zum Compouiren durch das Spielen jener Instramente erwies 
■idi uiTerkeDiibar deswegen nütilicli, weil die iaitmmental Torge- 
tngene Melodie in sich einen mnsikalisehen Zusemmenhang haben 
musste, wenn sie nieht als willkUrlicbes, sinnloses Spiel enoheinen 
sollte. Tnotllo wendete sich nicht, wie Notker, vorzugsweise 
den Sequenzen, sondern den Tropen sQ. Der Anfang eines solchen 
Tropus ad Kjrie eleison ist folgender: 



1, Kyrie. 

\% J J J J r r 



Tnotilo (Codex v. St Gallen Nr. 646.) 



Om-ni • po-tensge- ni -tor De-os om*ni-imi cr»-a*tor. 



B 



8. 



t 


i J J , 


J J r ^ ^ 


-ri 

1 — 4 — — ^ — j 













Fons et o-ri-gobo-ni pi-e lox-qne per-en-nis. 



lei-8(m. 



i 



f. 



J J J 



□ 



-ZI 
CiL 




8al > vi - fi • cet pi - e • tas tu • a noa bo - ne rec-tor. 



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108 Anßlage der earopä isch-abendländischen Musik. 

B lei-M». 

4. Christe. 

pfit-j-J J J J ^ J J J j J J 

Chriate De • i fw-ma vir-tna p« • tm- qne So - phi • a. 



Diese Afelodie bef^laubifjt auffallend die Angabe Ekkehnrd's. Sie ist 
in sich geschlussener, lebter als die andereu öt. Galler Singweisen, 
insbesondere als die ilteieiiTonBomaiii» herrührenden; das Decla- 
matorische derselben liegt weniger im eigentlichen Gange der 
Melodie als in den bei jeder Strophe nteh der Deelamation der 
Textesworte modificirten Aeeenten. Ihr Charakter ist bei alterthüm- 
licher Einfalt feierlich. 

Ein in den Seqnenzenmelodien öfter vorlcommender Melodie- 
schritt ist, dass bei diatonisch aufsteipenden (i;inin'n der Ton, von 
dem der llalbtonKcliritt aufwärts gebt, ausgelassen, folglich ein 
Terzeusprung gemacht wird, z. 13. 

Metenris minor von Fetms. Romana von Romanns. 

Laude dig-uum canat Sanctum Jo^hannes Jo-ra. Chhsfeo.,. . 

Letania ad bapt. in Sabb. S. v. Ratpert. Cignea von Notkor Talb. 



Bex Saao-to • mm. Oaa • de Ma-ri • a. 



Der ähnliche Schritt kommt aber atich im Oreporianischen Kirchen- 
jrrs.uiji:«' nicht eben Kelten vor'), im üanzeu ist die Aehnlichkrit 
der äei^ueu^mulüdie mit dem oflßciellen Ritualgesaug der Kirche 
sehr gross. Sie sollten neben dem Ceremoniengesange der Kirche 
eine Art Liedergesang ▼orstellen. Die eigene Weise der Gregoria- 
nischen Intonationen suchen ne nun dem LiedmXssigen dadurch su 



1) Z. B. im Gloria in excelsis für fest, dnpl., im IMnirinfirat des drilton 
Kircheiituiieci, im Asperges nie, mi zweiten und dritten i'buiinentou u. ». w 



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Zeit der Karolinger. SäDgerBcbulc zu Metz u. 8t. Gallen. Organum. 109 



▼«rndtteln, dass, nieht durchgiDgig aber sehr hSafig, die einzelnen 
Phrasen (Strophen, yeiBartigen Abschnitte) je zwei oder auch noch 
mehr, nach derselben Melodie gesangen werdiMi. Die erste Strophe, 
die letzte, auch wohl einzelne in Mitten haben insgemein eine 
ei^rfiie, nicbt wiederholto ^lelodie. Das Motiv der ersten Strophe 
klin^ zuweilen in den Mittclsfroplien an; die Öchltissstroplie liejüct 
gegen die erste öfter in einer liöhern, helleren, froher klinj^enden 
Tonlage. Da wir nun wissen, dass die Strophen von zwei Chören 
im Wechseigesange vorgetragen wurden, so muss diese antwortende 
Wiederholnng von gnter Wirkung gewesen sein, besonders aber 
wenn der sweite Chor ans den hellen, hohen Stimmen der Kloster- 
Schüler bestand, während das Zusainmensii^^^cn bei den nicht wieder- 
holten u. 8. w. Strophen im Vollklange aller Stimmen gewiss eine 
doppelt feierliche Wirkunp: hervorbrachte. Mitunter ist die Anord- 
nung^ vollst.'indifr licdniässip, wie in dem Othmaruslied des Notker 
Physicus. Die Worte der Dichtung sind hier metrisch in einer dem 
Sappbischen Metrum nachgebildeten Weise geordnet: 

Rector aetemi 
Metnende Sedi 
Autor et sommae 
Bonitatis ipae 
Qoas tibi laades 
Ferimus Canentcs 
Accipc Clemens. 

Hier wird nun jede der sieben geschlossenen Strophen (niclit der 
sieben V<-rsc des Metrums) nach einer stetö wiederkehrenden Me- 
lodie gesungen: 




(BT 

2. Fe - sta qnae sano*tis 
ib/<|iii' pa-trom nor-mas 



00 - Ii - muB tro 

1 - mi-tan-do 




phae - is 
sa • craa 




no - meu Üth 
vic - tor in 



- ma - ri re - so - naiit be - a - ti 
dn - ro Ta • Ii - dus du - d - lo 



I 



X 



J7 



ca-jos op - tan 
hO'Stls a • - tro 



dia me- ri 
eis ra • bi 



tis cro- 
em 8ub* 




-X 



tor il - la 
git bei -Ii 



de - di - ca 
ger an 



- - ati. 

- - dax. 



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110 



Die Aniatige der europäisch-abendländischen Musik. 



Ein Sciteiutllck dazu ist das berttlimte, cur Zeit Onido's von 
in Italien populäre hied nt Ehren St. Johannes des TÄufers „»4 
qnennt laxis". Die Sequenzen von St. Gallen sind in den ältesten 
Zeiten in Neumen notirt, und da sie nachmals zum Theil auch in 
Buchstaben und noch später in Choralnoten umgeschrieben wurden, 
so sind sie zugleich wesentliche Behelfe zur Deutung der Neumen- 
schrift. Die Prosa in summa misaa nalivitalis Domini ist in jener 
dreifiushen Notirungs weise erhalten: 

Nach dem Wiener Oodex A. N. 47 E 7 mit dem Schlassel |D' zu lesen. 



„ „ fcit. üalleuer „ ^o. 54Ü „ „ „ -[Hr » 



ti 



Notker Balbalus. 



49 jn — yw ' — -jn Ä» 6» ^ 



„—^ n 49 <g 



1. Na - tus an - te se - cu - la De - i ü - Ii - us, in - vi - si- 
bi-lis in - ter-mi-niu. 2. Perquemfit ma-dii-na coe-li 



— := — 



et ter-rae ma-iis et in hia de-gea-ti>vm. 8.per qnemdi-es 

4. qnemaa - ge* Ii 




et ho - rae la - baut et se i - te-rum re - ci - pro-cant 
in ar-ce po-U TO-oe eon-eo-na aem-per ca - noni 



5. hic cor • pus as - tmnpse • rat fra - gi - le ti • ne la • be o* 

6. hoc prae-sene di • e • cn-la lo - qni-tor pre4n - d • da ad- 

— » «5» 



ri-gi-na-lis cri - mi - nis de car-ne Ma-ri- ar> vir-gi- 
aao-to lou-gi - tu • di - ne quodsol ve - rus ra - di - o sa* 



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i 



Zeit der Karolingsr. Slngenolinlesa Mets a. St Gallen. Organam. III 



HL 



alt quo pri - mi pa • rcn - tis ool-inun £ - vac-cjuc la • sei* vi» 
i In • mi • nie ve-to * sias mundi de-pa-le - rit ge-ni* 



am ter- ge-n-t. 7. Haeonox Ta-cat no - vi - de - ris 
tua te - ne - braa 8. Neo gre - gamma • gi • Stria de - fu • it 



3Z Z- - .g 




In - 06 qnodma - go • Tum o* ob -loa ter*ra-it ad • o«. 
In manquoapra- ciii-xit ds-ri - taa mi-li - tnmDe-i 



9. Gaa-de De - i ge • ni-trixquamcir-cumsiautob-ste-tri-cum 
IOl (M*ate pa • triiu - ni-ce qni bn-aia-Bam no-itri caa-aa 

%1 

vi - ce con-ci - nen-tes an - gc - Ii glo - ri - am De - o. 
for-mam as - sump-si - ati re - fo - ve sup • pli -ces tu - oa. 



1 



1 



11. £t quorum par - ti - ci - pem te fo • re dig-na-ioa es Je> 
lS.Ut^-aoa «•vi*m«te-tb tu-ae par-ti - d - pea De» 



an dig-uan-ter e - o - rum bus - ci - pe pre - ces. 
na fa*ce-re dig-ne-ria n-ai-oe i>e-i 



Knm in einer solchen Sequenz das Alleluja (oft dnrcli AEYIA 
bezeichnet, 'v^ic hei den Antipbonpaalmen das Soeculimm Anten 
durch EVOVAE *)) refrainartig vor, so v nrdc es inppemein nickt 
wieder anfgeschnörkelt, sondern einfach ayllabisch gesungen: 



1) Die Aehulichkeit dieses Evovuc mit Evoe hat MiUin verleitet ea £9r 
eine voix bachique et profane zu halten. 



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112 



Die Antange der europftisch-abendltodischen Muaik. 





& — <V - -'Si— 






■ " r " H 


1 lud 









Ca&-te-miu omioti me-lo-dam mmo Al*le-ta • Uu 



Uta - di - bw M-tw-ai re-gu haeo plebt 



Ol - tet 



AI - le - Im • 1a. boo de - ni • i|iie 





- 9 0# ^ 

























00« • le • atea eho • ri oah - te&t in 



al - tum 



i 



Al-le-lv-ia. Hoo be*a*to«nim per pra-ta 



r^M yj — " 

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-1 


_ßL„ J ITT 




pa-ra*di*ii* 


a - ca 


psallat 


oon • 


-<WÄ» 

oen-tni 


Al-le* la* ia. 



Docb findet sich auch wohl ein endloBes langaühmiges Alleliga, wie 
im Schlnsse des Gesanges aur Proaeasion der Aoferstelinngsfeier 
,fiHm rex Ohriael" von Notker Balbnlns» welches fast wie eine 
ReminiBccnz an die regellos schweifenden Melodien der Alpen- 
hömer^} klingt: 




— t — — 



1) Die Aelmlichkeil ist unverkennbar. Ob aber schon die uralten Be- 
wohner der Sehweis solche Bsigmelodiea sangen, ist mshr als sweiftlhaft. 



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Zeit der Xarulinger. S&ngenchale zu Metz n. St. Galleu. 113 




j jl^ J J J J «.J J 



In 

Notker Balbuluö unterzog die sogenanuteu „Jubilos" einer Art Re- 
daction, indem er fUntzig davon mit eigenen besonderen Namen be- 
seichnete, die in ihier Besieliiiiig sur Melodie zum Theile rXÜMeU 
baft sind : 3amma, Am/fmiki MeUmuia major und minor, Gf^nea, Oraeca, 
Sit^onia, FHffäola^) Oeeidetitana, Virgo jAoratis, FUUada, Hypodio' 
eottiwa n. B. w. Von diesen Melodien rührt die 12aifuiiia und Amoena 
vom Sänger Romanus, die beiden Mettenses rühren von Petrus von 
Metz her; die andern sind Notker s eigene ( 'oiiiposition : j<Min 
44 Ent würfe dnzii sind aueh x iion mit den Namen der .Mrludicu 
bezeichnet, sie sind vielleieht von Notker'« eigener Hund niedi-r- 
gescbrieben^). Wie die antiken Nomen und spütcr die Weisen der 
Heistenfinger dienten diese Melodien dasu a^erlei Texte ao&n- 
nehmen. So dichtete der Decan Ekkehard I. sa der Notker^schen 
Melodie CapHva die Seqnena ,,iStotiiiiiMt praeconem Christi**, va der 
Melodie Justus germinavit die Seqnens ,,91» benedicti eupüi^*, anr 
Melodie heatusvir die Sequenz „a solts orra.s'u"^). 

Diese Melodien und (lesänge wurden aiid(*nvärts «als muster- 
giltig anerkannt und naehgt'uhnit, alle aber wurzelten im (Jregoria- 
nischen (iesange. Neben diesen, den PHegestätten des Kirchen- 
gesanges, den Klöstern entstammenden Sequenzen wurden aber auch 
noch, and iwar vom Volke, Xhnliche GesXnge anm Gottesdienste, 
bei BittgXngen oder Tor dem Kampfe angestimmt, welehe eine eigen« 
thilmliehe Mittelstellung swucben dem Volksliede nnd der Seqnena 
einnehmen, ob^ol sie stets cor letsteren Klasse gerechnet werden, 

1) iSo und uicUt Fri^'dtira, wie Veit Goldast schreibt, und folglich 
aoeh nicht ao yiel wie i)hrvgi8ch-dori8chc Melodie, d. h. griechische 
Ritualiuulodie im (fegfiisatze zur römisch -gregorianischen Occidentana. 

2) i'mlex No. 484. Ein Facsimile der Melodie Gouoordia (S. 2&9 
des Codex) bei Schabiger fMouumeuta No. 2G). 

8) Schabiger a. a. 0. 8. 74. 

Aabrot, Owohlehf d«r MMlk. II. 8 



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114 Die AnDUige der europ&isch- abendländischen Musik. 



aneli manclies dAvon wirklich die «udrllckliebe Gntheistnag der 

Kirche gefunden hat. Selbst Frm Jacopones' da Todi lateinische 
OesXnge, welche wh'hreiul der miftent das Volk crschreckendon 
Ereignisse des 14. Jalirlmnderts ^esunpren wmden, jrehören hierher. 
Das „Stabat niater" nnd das ,,Dies irae", diese Iji'ideu wundervollen 
DiehtiMipen. an weh lieu naclnnals die ;rrÖsst<Mj Tonsetzer ihre Kunst 
versucht haben, «ind als wahre Volksgesänjje in's Leben getreten. 
Vielleicht das älteste Denkmal dieser Volkssequenzen ist das uralte 
in Böhmen heimische Adalhertuslied, dessen Entstehung sogar anf 
die Zeiten Cyriirs nnd Methud*s, der Slavenapostel, surttdcdatirt 
wird. Gewiss ist es, dass das Lied in der FonDi welche ihm der heiL 
Adalbert gab, schon 992 vom Papste Johann XV. gutgeheissen 
wurde Seit 1039 sanp es das Volk am AdaUieiiusfnabe neben 
dem Präger Dom, wenn Hegen mangelte; vor der Schlacht bei 
Kroissenbrunn au) 13. Juli 1260, woOtakarll. den König Hida IV. 
von Ungarn schhig, war es das Schlachtlied der Böhmen. Vom 
14. Jahrhundert an wurde es sowohl bei Processionen als vor der 
Predigt und selbst bei der Messe, seit 1654 sn Ende des Hochamtes, 
und noch heute wird es in Böhmen bei vielen Gelegenheiten ange- 
stimmt. Die älteste vorhandene Notimng desselben rtthrt allerdinge 
erst aus dem Jahre 1397 von einem Mönche des Klosters St. Mar- 
garetha (Brewnow) bei Prag her. Er gibt dazu einen philosophi- 
schen Coinmentar (er citirt sogar den Aristoteles!) und subtile 
grammatikalische Untersuchungen und £rläutemngea: 




0 Domine nu - se - re • re Jesu Ohristi mi - se • re - re 



Sa -las SS totins mundi Salva nos et percipe 



o Do-mi-ae vooes noitrss da oonotis o Do-mi-ne 



pa • nem pa - c<*m ter - rae Ky - ri • e e • lei • son. 



1) Der Papst gestattet e« zu singen „singulis diebus ad missarum 
•olemnia." 



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t 



Zeit der Karolinger. SAngenohiüe sn MeU a. Si. GaUen. 1 15 

Die Fovm des Liedes, welche schon in Bolelucky's „Rosa bohemica** 
▼oikommt und in der es noch heute gesungen wird, ist folgende: 



1^ 



-l- 



-49 



0 Do - mi • ue 
Je - «n (SiriHte 



nu 
mi 



- «e - re - 

- se - re - 




6os-po - di - ne* 
Je • lo Cbri-ite 



po - mi - - liq - - ny 



sr l ^ g — gi- 



-9 



Sa - lu8 es to - ti - U8 mun-di Sal - va nos ot 



tyt spft - n nie - ho mi - ra Spa - sii - u&s i 

- ttnw da 



fsr • d o pe Do - mi • ne vo - ces no 

«6»' — 



— - — ^ 



NA' 



u - - ali-Sli 





cuno-üB o 



^ 

Do • • mi-ne pa - ncm pa • cem no- 



SS 



i 




r"7 



i 



strae 



tcr - rae Kv - ri - e e - loi - son 



□SC 



i 



iü-leS, Krles, Xrlei. 



8* 



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116 Die Anilüige der eiinipli«di ■ibendländiachen Musik. 



Das scblieeflendd ,^ErM* bebst so viel als A>-/e deison, „qfiod 
Bohemi mmis syneopanf*' bemeilct der lfdneh yon Brewnow. — Ein 
etwas neaeres SeitenstOck dazu ist das Wenzellied, welches aber 
auch sdion Benesch von Weitmülil im Jahre 1368 eine von Alters 
her gesungene Weise {cautionem ab olim cantari consnefnm) nennt, 
und das also nicht, wie lialbin anj^ibt, erst 1343 von Arnest von 
Pra^ <j:cMli( ht( t wr>rdon ist. Für das Volk iu Böhmen ist es noch 
heute ein LieblLugsgeaang. 




Die Xussere Foim dieser beiden Lieder seigt eine bemerkenswertbe 
Uebereinstimmiing. Erst die Anrede, dann im Mittelsitsehen die 

Bitten (es wird ho oft wiederholt, als der Text erheisclit) , zum 
Schlüsse als Epilog das Kyrie Mton. Beide GesKnge sind Melo* 
dien voll Urkraft. 

Wie nun die Sequenzen wesentlich dein kirchlichen Volkspesanp^c 
angehörten, so suchten die Männer der Kirche t'iir das Volk statt 
seiner hiaha&liGder {vulnileode^), Lob-, Spott- und Zauberlieder, gcp^en 
welche die kirebliehen Synoden (wie es scheint ofl genug vcrgobcus) 
doich Verbote kSmpften, fromme GesKnge in der Muttersprache an 
dichten, welche wieder, wie begreiflich, wesentlich die gewohnte 
Form der kirchlichen Seqnens annahmen. So verfasste Otfried von 
Weissenburg sein Keimevangelium, damit es, wie er in seiner Zu- 
schrift an König Ludwig sagt, gesunp'eu werde: die Franken ,,?n 
Frenkisgon beginnen si Gotes lob singfu." Ratp^Tt von St. Gallen 
dichtete die CaittUeua de St. Gallo, das Leben <ies heil. Oallns in 
deutscher Spruche : nach je filuf Zeilen kehrt ätetü dicticlbe Melodi^ 



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Zeit der Karolinger. Sliiganolnila sn Metz u. St. Gallen. 117 



wieder^). So wirkte alao der Chregorianisehe G^eMuig bis in die Volks- 
geeioge kineiil and strebte nach der unbedingtesten Herrschaft. 
IVomme Personen des Laienstandes bewiesen im Singen und Psalmo» 
diren eine Ausdauer, welche in ihrer Art auch als eine Aeussemng 
joner spezitiscli mittelalterlichen Keligiositiit freiten kann, kraft wel- 
cher man jede AiulachtsUbung, jedes Tugendmittel, jede Kasteiung 
in's Uebennenschliche zu treiben liebte^). 

Dardi die «oMerordentlielie Energie und anhaltende Bemllliiing 
der Oberhlnpter der Kirehe, durch die entgegenkommende Mitwir- 
kung der weltlichen Forsten, dnreh den in der Oeistliehkeit ge- 
weckten Geist der Gemeinsamkeit und durch die von der Kirche 
völlig beherrschte Kunst und Wissenschaft hatte sich endlich der 
Gregorianische Kirchengesang in gleichmlissiger Weise in Italien, 
Frankreich, Deutschland und England verbreitet. Der Gregoria- 
nische Gesang hat Uberall den Boden bereitet, dass die 
europäisch-abendländische Musik sich in allen diesen 
LXndern gleichartig entwickeln konnte, wie die Kirche 
denn überhaupt die Solidarität der europftischen Cnltnr 
auch aonct begründet hat. Ee ruhte auf dem Ghregorianieehen 
Gesänge ein eigener Segen : die Länder, welche ihn annahmen und 
die wir eben genannt, waren alle berufen Pflege stätten der Musik su 
werden, wo sie wie im Wetteifer gefördert wurde und wunderbar 
gedieh. Die spanische Halbinsel, wo der römische Gesang erst s])}it, 
unter Alphons V. und Gregor VIT., Eingang fand, hat sich in der 
Tonkunst bis heute stets an Fremdes gelehnt, an die Weise der 
NiederlKnder, der Italiener; es gibt eine spesifiseh spanische Malern 

1) Ekkehard IV, der dieses U-alluslied in's Lateinische übersetzte, sagt: 
Ra^^ertosmonachaSjNotkeri, quem inSequentiismiramar, condiscipnlns fnit, 
earmeabori»arieam(d.Lind8rv Olkssprache) populo inlaudem StiGallicanen- 
dura, qnod nos, multo impares homini, ut tarn duicis melodia latine luderot, 
uuam proxime potuimus, in latinom traustulimus (Cod. St. Galli 393). In der 
Originalhandsolirift sind über die fHiif ersten Strophen die Noten ndtabwech- 
selnd schwarzer und rother Tinte gesetzt. Die Melodie ist nicht mehr sylla- 
bisch. Ob das Lied auf die Schlacht bei Fo ntenay in Boi^nd (25. Juni o41), 
das F^tis nach einem Manuscript der Pariser Bibliothek mittheilt, die 
Dichtung eines Soldaten Angilbert oder, wie Kiesewetter vermuthet, das 
Machwerk irgend eines MAnchcg sei, bleibe unentschiedtMi. Der Text ist 
ein barbarisches Latein voll eben so arg barbarisirter klassischer Kemi- 
niscenxen. Die Melodie ist Rcgcn die Ghregoriani sehe gans fremdartig, 
aber freilich so, liass von ilir zur uouaeeläindischen Kunst nur noch ein 
Schritt ist. Bei aller Achtung für FtStis' Gelehrsamkeit muss ich gestehen, 
dass mir seine Entziffertmg nach den Nenmen des Originals mehr als 
problematisch Miieint. Von einem andern Lied auf den Sieg Ludwigs m. 
über die Normannen (832). das. in der Volkssprache verfasst, sich kömig 
und kräftig aul&sst „Elinan kuuing weiz ih, Heissit her Hludwie, Ther 
gerao Gode tiuonot, Ih weil her imo-e lonot* n. ■. w., iit die Melodie 
nicht erhalten. 

2) lieber „das katholische üarchenlied" seit den ältesten Zeiten ist 
neaeriioh ein selir grOudUohet Werk von Severin Meister erschienen 



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118 



Die Anfänge d«r eiiropHich-dbwtdländiaoben Münk. 



flcbule, eine spezifisch spanische Poesie, aher keine spesifiiich spanische 
KnnstniQBik. Ebensowenig hat daa hyiantiniach-griediische Beich 
und was seine Bildung von dorüher beiog (wie Basaland) ftr die 

Förderung der Musik geleistet. Auch das durch die Kixclientrennan|p 
aus der äolidarität der christlich-abendländischen Völlcer geschiedene 
Byzanz schritt nicht mit fort, bis es 1453 völlif^ unter das Joch der 
Osmanen gerieth xind einen fortan stark barbaristischen Zug erhielt, 
so dass die Neu;xri»'i hen von den Ländern ,,draussen in Kuropa** 
reden und sich also (und gar nicht mit Unrecht) zum Orient 
rechnen. Die byzantinisirten Länder blieben in einer Halb- oder 
VierCelsknltiur stecken, und wie der rusaisciie Heiligenmaler seine 
Tafeln gedankenlos mit sklaTiseher Treue Jahrbundeite lang bis auf 
den kleinsten Zug so malte und noch malt, wie M sein Urältervater 
schon gethan und die byzantinischen Muster in wo möglich noch ab- 
schreckenderen Nachbildungen festhielt; wie sich der byzantinische 
Baustyl in Russland höchstens nur zu den abenteuerlichsten Kuin)el- 
bauten, jenem ,,Hauf«*n goldglitxernder Riesenpilze", deforniiren 
konnte : so ist auch der Ritualgesang ungefähr auf dem Standpunkte 
geblieben, den er zur Zeit der Christianisimng Rnssland's einnahm. 
So ernst und würdig es sich, mmal Ton den prKcbtigen Stimmen in 
der kaiserlieken Kapelle (deren Chor vom Osar Alexis Ifikailowitaeb 
gestiftet wurde) ausnimmt: zu etwas Neuem zu fUhren war er nicht 
im Stande, und die genialen Versuche eines Demetrius Bortniansky 

(1751 1815: Psalmen zu 4 und H Stimmen, eine dreistimmige grie- 

chischf Messe u. s. w.) auf seiner (Grundlage etwas Eigenes zu schaffen 
sind niclit nur ver«'i!r/.»*lt gel)lieben, sondern auch unverkennbar unter 
dem EinliusHc und nach dem Muster des abendländischen stile da 
Cappella entstanden i). Die russische Kirche hielt, wie sich Thibaut 
ausdruckt, „fast «sem, so weit es m einer bewegten Welt mSglieh ist, 
am Alten**. Die Bildung, welche Peter I. au Anfang des achtaehn- 
ten Jahrhunderts seinen Russen octroyirte, war nicht frei aus dem 
Stamm und Kern der Nation hervorgesprosst, sie blieb fremd auf 
der Oberfläche sitzen, und fast möchte uns das abenteuerlich male- 
rische Durcheinander des Wassily Blagennoi, das wirklich volks- 
thiinilich ist, melir anniiithen als die akademisch klassischen Säulen- 
hallen der Isaakskirclie. Die einzig originelle Kuustmusik, die Ruüs- 
land eigen angehört, ist jene berufene Hommusik, und auch diese 
ist die Erfindung eines Böhmen Namens Johann Anton Haresch 
(1751). Sie ist ein cnrioses Kunststück: cur kleinsten Melodie be- 
darf es eines Heeres von Musikanten, denn mit sklaWschem Mecha- 
nismus ist jeder Spieler an einen einzigen Ton gefesselt, recht SOm 
Gegensatz der im Abendlaude ausgebildeten Orgel, wo ein einziger 

1) Wir harten in Prag Terschiedene Compositionen Bortniausky's 
mit hohem lateresee. 



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I)ie orientaliwh-griecliiBche £irohe. 



119 



Spieler etne Well toh Tönen nnd Klangwirkungen Vehenneht und 
der freie mnsikaliielie QedenlLe frei and nnmittelbar in ToUer Oe- 
walt aus ihm auszngtrOmen vermag, wfihrend jener andere fingstlich 
seine Pausen zfihlt, um nach Vorschrift gerade im rechten Moment 
mit seinem Toiu* laut zu werden und dann zu verstummen, bis sein 
Notenblatt den Hann wieder für einen Moment löst. Das« die 
russischen Volksmelodien viel Schönes enthalten, ist bekannt, 
eben so die glückliche Anlage des Volkes für Gesang u. s. w. Diese 
etlinographischen Zttge können uns hier nicht weiter beMhMftigen^). 
Ebenso wenig wird uns ane wirkliehe Anebüdong der Hnsik bei 
den Armeniern und andern von byiantinischer Knnstweise ab- 
hängigen Völkern begegnen. Für die orientalische Kirche wurde 
St. Johannes Damascenus (st. 766) als Sammler und Reformator 
der KirchengesKngo und als anprcblicher Erfinder einer Tonschrift*) 
etwas Aohnliches, was (Jrcgor für die abendländische. Viele Weisen, 
deren sich die griechische von der lateinischen getrennt gebliebene 
Kirche bedient, sollen von ihm herrühren. Im 13. Jahrhundert u. s.w. 
kamen sahlreiehe Weiaen von Mannel Cluysaphos, Joannes Lam- 
parins, Joasaph nnd Joannes Knknsele nnd Andern hinan*). Die 
bysantinisehen Sehriftsteller sind nut Lob nnd den Ehrentiteln 
fjionigfliessender Sirenen** nnd „nener Harfen** fUr diese Meister 
bysantinisehen Kirchengesanges nicht sparsam. 

Während nun aber im by zantinischen Reiche die Musik auf dem 
Standpunkte einer sich geistlos forterbenden Praxis verblieb und 
trotz aller neuen Sirenen und honigfliessenden Harfen nicht ge- 
deihen wollte, an eine wissenschaftliche Begründung aber vollends 
• nicht gedacht wurde, fUhrte man sie im Abendlande fiüerlieh in den 
Kreu der Wissenschaften ein. Nach der Darlegung Aleuin*s, des 
Freundes Karls des Grossen, theilt sich die Philosophie in die Zweige 
der Ethik, Physik und Logik, davon sich die Physik wieder in die 
Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie scheidet*). Hier steht 
also (wie bei Boetliius) die Musik mitten zwischen Arithmetik und 
Geometrie, sie ist ein Theil der Mathematik geworden. Auch der 
beriihinte Mathematiker und Musiker, der von seinen Zeitgenossen 
um seiner Gelehrsamkeit willen für einen Zauberer gehaltene Lehrer 



1) Man ▼erffleiohe die 1806 tn 2 Bftnden tu Petersbm^ enohienene, von 
Ivan F^atsch veninstaltt te Sammlung russischer Volkslieder in Text und 
Musik. Einige sind auch in Deutschland populär, so das Lied vom „Kosaken, 
der über die Donau schwinnut", wozu Tiedge ganz unerlaubt den wässerigen 
Text ,.der schönen Minka" (beiläufig gesagt kein slaTiScher Fk«aenname) 
gedichtet hat, und cIx'iim» die }i«'\eh8t reizende Melodie vorn rothen Sarafan. 
lieber die russische Hummusik ist das Buch von Uinrichs zu vergleichen. 

8) Vergl. oben 8. 87. 

8) Ausführliches darüber in Gerbert's De cantu. 

4) Die nähere Darlegung dieser Untertheilung der Pliysik »<t l)on bei 
Aicuin selber, noch deutlicher bei Aureliauus Keumuubia Oaj^. V ILL. 



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120 



Die Anfänge der eoropäisoh- abendländischen Musik. 



Otto des Dritten, Gerbert (der nMUier als Sylvester IL 999 — 1003 

auf dem pXpstUchen Stuhle sass), wnsste der Mnedk keinen bessern 
Ort anzuweisen als dass er ihr den Hang gleich nach der Arithmetik 
zugestand. Alcnin selbst definirt: Musik ist die Lehre, die von den 
Zahlen spricht, die in den Tönen gefunden werden"*). Als (mit dem 
12. Jalirluuidert) an die Stelle der KlosterHchulen die mächtigen 
Körpcrschailcu der Universitäten traten, wurde auch die Musik in 
das Prograaun der zünftigen Qelelvnamkeit mii%enommen, war tie 
ja doch eine strenge Wissenschaftl 

IMe sieben freien Kflnste (ortet UberäU»), die Zweige der 
Geistesbildung, wie ne dem Edeln und Freigeborenen ziemte, grup- 
pirten sich in dem sogenannten Quadrivinm (Musik, Arithmetik, 
Geometrie und Astronomie) zusammen, während die Grammatik, 
Rhetorik und Dialektik mit einander das Trivium bildeten*). Dieses 
tnvium atque qudtlrivium war der Inbegriff aller höheren Geistes- 
bildung, und da hier die Musik nicht als Kunst, zu welcher Talent 
nltthig ist, sondern als Wissenschaft oder viehnehr als eine Somme 
von LehrsXtien betrachtet wurde, welche dnzeh flMssiges Studium 
so gut dem Gedtchtnisse eingeprigt an werden veimoehten als etw« 
die FnndamentalsStze der Geometrie, so konnte der aller Hnnk- 
anläge Baarste doch Meister der Musik sein und heissen, insofern er 
Magister d. i. Meister der sieben freien Künste war. Wer znr 
artistisciien (philosophischen) Facultät gehörte, sollte auch einiger 
Gelehrsamkeit in der am libcralis der Musik nicht entbehren^). In 
düstere Hörsäle und einengende Mauern gebannt, wurde die mit 
aller unbeholfenen Gründlichkeit nnd ehrenweKAen BehwerfifUig- 
keit in mflhsamer Arbeit nnd in grfibelndem Fofsehen betriebene • 
specnlative Musik selbst dunkel, dflster und tiefiiinnig, ToUrnyslischef 
Beziehungen, an Himmel und Erde anknüpfend und doch in einem 
im Gninde gans engen Kreise sich bewegend. Verstand sich der 
Gelehrte neben den mathematischen Tonuntersnchungen auch auf 



1) Muaica est disciplina, quae de numeris loqnitur, oui inveniontnr in 
sonis. Der Traotat ist Itbgedraokt in Gerberi, Script. 1. Bd. S. 36 nnd 27. 
Vincentias BeUoracensia (Speculum doctrinale XXX.Vn. 10) definirt da- 
gegen: Musica est planum dissimilium in nnum rcdactomm concordia. 

2) Petrus Pictaviensis lobt Peter den Ehrwürdigen von Clugn^ in 
dem Distichon: 

Mosicos, astrologun, arithmeticus et geometra 
Orammaticns, rhetor et dialectioos est 
8) Bei der Froolamirong eines Ueo-Magisters schloss die Formel 
„Fjroclamo te in magistrum" etc. mit den Worten: ut dexterrimnm mtt> 
sicum (Buttstet's ut, re, mi. fa S. 11). Die Statuten der Prager Univer- 
sität, welche bekanntlich 134Ä gegründet und nach dem Muster der 
Fsrieer üni^ersitai eingerichtet worde, ichreiben dem Magister vor, er 
müsse gehört haben: omncs libros majores physicae, logicam Aristotelia, 
Ethicorum, Politicomm, Oeoonomicorum, sex libros Euolidis, Sphaeram 
tiieoretioam, aliguid in Jfiisiea d AMmetiM u. s. w. 



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Die Musik als ars liberalis der Üniversitätett. 



121 



Saitenspiel und GeBang, so wurde es aUeidtngs als gut und löblicli 

erkannt Der berühmte Miisiklehrer Johann de ^luris (für seine 
Zeit die grösste musikaligche Autorität) gehörte der Pariser Univer- 
Bität an. Zu Oxford gab es angeblich schon zu End(! des H. Jahrh. 
eine eigene L«>hrkanzcl der Musik, von welclier zuerst ein Mönch 
Namens Johannes diese Wissenschatt und neben ihr die Arithmetik 
und Dialektik lehrte (die dortige Universität ist übrigens erst 1200 
gegründet worden*). Die UnlTetsitit von Salamanca erhielt einen 
Lehrstahl der Musik dnrchK9nig Alfons (1253—1284). Die eigen- 
thfimliehe Doppelstellnng der Musik als einer sieh frei aar Schönheit 
emporschwingenden Kunst and als einer sich tiefsinnigTersenkenden 
Wissenschaft ist noch beute kenntlich. Wir können von einem Musik- 
gclohrten sprechen, nicht aber z. B. von einem Sculpturirelohrten oder 
Poesiegelehrten, ungeachtet amh an diese Künste du' Itcdeutend- 
Bten kunstphilosophischen und kuiisthistorischen Arbeiten geknüpft 
worden sind (die Untersuchungen über Homer, die Abhandlungen 
über die Gruppe des Laokoon u. e. m.). Wie die gelehrte Theorie 
in Boethius eine gegebene Grundlage der theoretischen Musik, so 
fand die Praxis im Gregorianischen Gesänge einen gegebenen Stoff 
ma mnnkaliseher U»0)ung: er wurde der cantiis firmus, der feste 
Gesang" oder der Tenor, die feste Bestimmung", welche durch 
schmückendes Ui'berbanen mit dem harmonischen GeHlge einer 
zweiten, dritten oder noch mehrerer Stimmen zu kunstvollen reichen 
Musikstücken Anlass bot, ohne dass an sie selbst getastet werden 
durfte. Das Mittelalter hatte ein tiefes Bedürfniss nach Glauben, 
nach einer AutoritSt, nach einem gegebenen Gesetse, nach dem 
Dogma. So nahm es seinen Boethius, seinen Giegorianisehen Ge- 
sang eben wie Dogmen hin, glHubig darin höhere Autoritttten ver- 
ehrend. Die Gregorianische Melodie war der Kern, nm den alles 



1) In einem lateinischen Gedichte aus dem 13. .lahrhumlert (^Iscpt.- 
Codex der Präger Universitätsbibliothek I. U. 11.), das Lob Erfui't's und 
bescmders der dortigen Gtolehnamkeit enthaltend, heiast es: 

Qnidam Orammatioi, quidam probitatit amid, 

Quidani lef^istae, quidam vel in arte sophistao, 
Quidam steliamm cursus et tempus earum 
Explorare sdnni «t cor bona Tel mala fiont, 
Quidam mstronan praeiiilgent dogmate, qnornm 

Lans non est minima, scd erit, me judicc prima, 
(Quidam cordarum tactu cor mulccnt amtrum, 
(Quidam cantore wwermU Oamma.,ut, A-rt 

Hier ist also auch Musik und zwar Instrumental- und Vocalmusik 
als ebenbürtig in den Kreis drr Wissenschaften eingeführt. Uebcr ib'n 
Werth der Musik und ihre gemütbauregende Macht finden sich bei Hrabau 
Manms (De uniTerao III. 4 und XvUI. 4) bemerkentwerthe Stellen: 
Sine tnusica nulla disciplina j)i)test esse perfecta, nihil enim sine illa; 
und: Muaica movet affectus, provocat in diversum habitum sensu». 

2) Bnlaei bist Acad. Paris. I. Bd. S. 224. 



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122 Die Anfänge der europäisch -abendländischen Moiik. 



Andere krystallisirend «iBchoM, sie selbst aber durfte kein Frodact 

menschlichen (it istes sein, sie war insjiirirt und damit von einer 
keiner Avcitereii Kritik uiilorliejrenden iieglaubij^np. Man wies 
daraufhin, dass ja seihst Pythaf^uras die Grundsätze der Musik nur 
durch gottliche Eingehung gefunden^). Im Gregorianischeu Go&ange 
lug alle Ordnung der Musik. 

Abt Letaldne von Bt. Menin bei Orleans (der selbst einen Lob- 
Gesang auf den heil. Julian gedichtet hat) beklagt sich schon zu 
Knde des 10. Jahrhunderts ttber die anmassliehen Nenmngen 
einiger Musiker, welche so grosse Abweichungen hören lassen, 
dass sie es durchaus verschmähen sich den alten Autoren anzu- 
schliessen 2), Der Kirchengesang war eine geheiligte Sache, und 
so hatte denn die Melodie gleiche Wichtigkeit, wie der Text, la 
einem von Ilartker von St. Gallen, einem Keclusus (einem from- 
men Bttsser, der sich freiwillig in eine Eiuzelzelle zurückgezogen 
hat) geschriebenen Codex stehen die Verse: 

Carmina diversaa sunt hacc celubranda per horas: 
äollicitam rcctis meutern adhibctc sonis. 

Discite vcrborum legales ^ergere Calles 
Duloiaque egregüs juagite diete modis, 

VerhoniTn iw cura fioiioB, ne cura sononun 
Vcrborum uormas nullilicare queafe. 



Huebald ▼ob Bt. Amand and das Otgaaum. 

Die eigentbUmlichste Erscheinung dieser Epoche, zu welcher 
theoretisirende Specnlatton und praktisches Ezperimentiren gleich- 
viel beigetragen an haben scheinen, ist das sogenannte Organum. 

Der Mttnch von Angonlime erwldint, dass die filläcischen 
Sftnger KarVs des Grossen in Kom unter anderem auch die Kunst des 
Organisirens erlernten. Wflre die Nachricht snverltfssig, was sie 

1) Aurelianus Reomentis sagt: Pnto enim, quia «ton msi divino mtiu 

jani siicpf «lictus Pythagoras proportionum varictatrs ut sonoriun junge- 
reutur coucordiae inveuire potuit. Von einem Blindgeborenen Namens 
Victor enihlt Aurelian, derselbe habe, naehdeni «r die fiblichen Melodien 
auswendig gelernt, eines Tages vor dem Altare in St. Maria Rofuiula d. i. im 
Taiitlioon zti Rom sitzend durch göttliclie Eiii^jflduifr (divino luvente mitu) 
das Hesponsorium „(iaude Maria" erdacht und dun l» ein zweites Wunder 
sogleich ilas Augenlicht erhalten. Aurelian entähltzum Schlüsse seinesBaohes 
(Ciip XX ), wie ein Mönch aus dem Klosti-r St. A'ictor «nf dem TiergOarpanus 
von Engeln das Kesponsohum „Cives apostolorum" singen hörte und nach 
Rom rarfickgekehrt es dort lehrte, wie er es vernommen. Ein anderer Manch 
hörte von Bngeln ein Alh luja mit angehttagtem 148. tmlm singen u. s. w. 

2) Non enim mihi plaeet (luonmdam musiconim noN-itas. qui tanta 
dissimilitudine utuntur, ut veteres sequi ouuii modo dedigneutur auctores. 
(Citirt bei MabiUon, Annal. Bened. IV. S. 110.) 



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&Qeb«ld von St. Amand und du Organum. 



123 



aber bei den vielen offenbar nor halb wahren oder aach ganz un- 
richtigen Angaben jener ganzen Erzählung gewiss nicht ist , so 
würde sie das Vorhandensein einer Art des Gesanges in den letzten 
Zeiten des achten Jahrhunderts beweisen, die man insgemein ihrer 
£ntstehung nach ura ein Jahrhundert später dutirt und als grübleri- 
sche Erfindung eines flandrischen Mönchs fUr gar nie in Wahrheit zur 
üebnng gekommen ansnsehen gewillt ist; nXmlich jenesOrganum, 
das im Wesentlichen darin bestand, dass eine Stimme, welche tint 
gewisse Melodie als Hauptmotiv sang, von einer andern zumeist in 
parallel mitgeheuden Quinten oder Quarten begleitet wurde. Wie 
eine solche Sing^i-eise, gegen welche sich das Ohr empört, aufkom- 
men, zumal wie sie sich in der Praxis der Sänger einbürgern konnte, 
ist allerdinfjs räthselhafl genug; indessen wirft der Name Organum 
einiges Liciit darauf, mag man dieses Woil als Musikinstrument im 
Allgemeinen oder als Orgel verstehen. Die Geigen der nordischen 
YöUEer, welche, mit flachem Btege und mehreren Saiten versehen, den 
Spieler nöthigten mit dem Bogen sMmmtliche Saiten sugleich ertttnen 
9EU machen, mochten, zumal wenn die tiefem Saiten Grundton und 
Quinte angaben, während die Oberstimme eine Melodie ausftihrte, 
das Ohr an den Zusammenklang dieser Inten'alle gewöhnt haben. 
Das Organihtrum lief seinem Wesen nach auf denselben Klangeffekt 
hinaus. Wo der Organist mit seinen zwei Fäusten die Orgel schlug, 
mochte er, in Erinnerung an die Geigeuiustrumeute, äliuliche Wir- 
kungen auf seiner Orgel erzielen, sodass er zu einem mit der linken 
Hand gleich einem Orgeipnnkt constant festgehaltenen Ton in der 
rechten einige oder vielleiGht eine ganze Reihe Noten hören Hess, 
oder zuweilen einen Ton dadurch besonders fitrbte, dass er ihm 
seine Quinte angeseilte. Wenn nun der Vorsänger im Chore irgend 
eine Vcr/ierung ausführte, während die andern den Ton anshielten, 
so geschah es in ganz älmliclier Art, dass zu oinom orjrcljninktartig 
fortklingenden i'one eine ganze Keihe Nuten ;zi'li"Ht wurde. End- 
lich konnte der von der Orgel her gewohnte EtVekt, zu einem Tone 
gleichzeitig seine Quinte anzugeben, von der zweiten Stimme leicht 
ausgeführt werden. Die Quinte war ja ohnehin nächst der Octave 
die vollkommenste Consonans. Da man das Gesets, welches nach- 
her die gerade Fortschreitung reiner Quinten verbot, noch nicht 
kannte, so trug man kein Bedenken den als schön erprobten und, 
einzeln hingestellt, das Ohr auch wirklich befriedigenden Zusammen- 
klang bei mehreren einander folgenden Tönen anzubringen. Sangen 
Männer- und Knabenstimmen in Oclaven und liess der Sänger, 
welcher tien (Jesang durch sein Organisiren auszierte, seine Stimme 
mit dem Gesang der Männer in Quinten fortgehen, so bildete sie 
gegen die hohen Stimmen eine Quarte. Das Diatessaion war aber 
nebst dem Diapente und Diapason anerkannte Consonans; es war 
nicht absnsehen, warum man nicht eben so gnt QnartparaUelen 



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124 



Die AnfUnge der earopäUoh-abeudländischen Madk. 



wie Qiimtparalleleii hStte anwenden sollen: so konnten also zmA 
Stimmen in (^>itai'ten fortschreiteiii und wenn die tiefere Stinime 
üheiMÜcs durch die höliere Octave verdopjielt wnrde, bildete die orga- 
nisirende Stimme geilen letztere wieder die Quinte. Der Parallel- 
gang der drei von der damaligen anf Boethios fussenden Muüik- 
lebre anerkannten Consonanzen: Diapason, Diapente, Diatessaron — 
Oetave, Quinte, Quarte, wurde als eine neue Art, als Temeinte 
VerachSnening des Gesanges eingeführt nnd mit Hinblick anf Xhn- 
liehe in der Instnunentalmasik bereits bekannte Effekte Organum be- 
nannt: eine Bezeichnung, die flir den Gelang von Menschen- 
Stimmen angewendet, nur dadurch erklärlich ist, dass man mit 
dieser Singmanier ganz bestimmt eine Xachalimnng der Instrumente 
(Organa) bcabsiebtigte. Auf solcbe Art tönte das ( )tf::;vnistrnm. auf 
solcbe Art wurde die Orgel gespielt und so wurde der ähulicbe 
Name für Cbüre gewäblt, die in völlig äbnlicher Art klangen. Die 
Ten nnd die Sexte galt für dissonirend, eine Reihe von Dissonansen 
konnte man nicht gutheissen, sie blieben von der den Quarten und 
Quinten unbedenklich eriheilten Erlanbniss gmndsXti^eh ausge- 
schlossen. Nur im Durchgänge auf einen liegenden Gnmdton, wie 
man es Ton den Verzierungen ber gewohnt war, durfte man sie an- 
bringen, ditcb so, dass Quart- und Quintparallelen zwiscbcndurch 
auttraten und d«'m (Jesange seine eigenthümliclie Färbung gaben. 
Wirkiicli finden sich alle diese Arten des Organums bei dem zuerst 
von diesem robesten Versuche der Mehrstimmigkeit handelnden 
Theoretiker, dem Benedictinermönch Uucbald, der in dem Kloster 
St. Amand snr VElnen in Flandern lebte (daher er auch wohl der 
Mönch Ton Einen, monachua WnoimriB, genannt wird), als tief- 
gelehrter Mann, ganz besonders aber als gründlicher Musikkenner 
berühmt war nnd im Jabre 930 in hohem Alter starb Hucbald 
war mit der antiken Literatur wobl vertraut, sehr oft aber beruft 
er sich auf Boethius, für «len er von Bewunderung durchdrungen 
ist, den er kaum je ohne ein lobendes Beiwort nennt. Öeino 
eigenen Tractate sind voll aus seinem Vorbilde heriibergenommener 
Anschauungen und Ideen, er legt ihnen durchaus die musikalische 
Theorie des Boethius (d. i. die antike) sn Ghrunde und sucht diese 
mit allem, was mittlerweile im Kirchengesange an musikalischer 
Bildung neu gewonnen worden, bestens in Uebereinstimmung an 
setzen und sie durch dem Ritualgesange entnommene Beispiele an 
erläutern. Selbst was er in seinem Boethius nicht findet, das Orga- 
num nnd seine eigenen Reformideen filr eine zweckmässige Ton- 
schrift, sucht er wenigstens in möglichst Boethianiscber Form vor- 
zutragen. In der Kunstübung des Kirchengesanges war das be- 
schränkte antike Wesen endlich wirklich Uberwunden und neue 
Kritfte waren geweckt, aber im besten Glanben bemttht sieh Hucbald 

1; Auttluhrlichus libur ibu in Cousaomaker's Traitö sur Hucbald. 



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Bnelnld ron St. Amand and daa Orgauum. 



125 



die seniBsenea Fiden wieder luaamiiieiiBiikiittpfeii und danulegen, 
den tteh alle Musik noch vtfUig auf antiken Qrnndli^n bewege. 
Daher denn wieder das System <I( i rünfitelin und ac}itz(>lin Töne, 
die langathmigen antiken Namen der Töne n. 8. w. ausführlich er- 
läutert werden, auch trotz des mittlens'eile eingebürgerten natür- 
lichen riclitigen Octavensystems, das übrigens llucbald auch gelten 
lässt, die für das bereits Gewonnene völlig ninnlose und unjtrakti- 
Bcho Tetracliurdeintlieilung wieder zu Ehreu gebracht wird. Viol- 
Mdit noch weniger die mannigfach eingerissene Entartung des 
Kirebengesanges, der man doreh das Eingehen auf antike Theoreme 
abhelfen wollte i), gab die Veranlassung an dnem sorgsamen 8tadium 
dmr antiken Musiklehre, als der Umstand, dass man jetzt die Musik 
wissenschaftlich zu behandeln anfing, eine Wissenschaft aber ohne 
ein Anlehnen an die Weisheit der Alten /u denken gar nicht ver- 
mochte. Aurelianus Keoniensis sa^t so<;ar ;:anz allgemein: ,,wie 
die Musik überhaupt, so strömen auch alle ihre ( 'onibinationen aus 
griechischer (Quelle*).*' llucbald will die überkununenen Lehrcu in 
ihrer Tiefe erfasseUf er möchte in ihnen und durch sie Neues und 
Eigenes gewinnen, Bahnen Öfihen, neue Ziele seigen. Er fühlt sehr 
wohl, mt viel neue Erscheinungen sieh im Laufe der Zeiten her- 
angedrängt haben ; diese möchte er mit der alten Lehre bewältigen, 
sie durch diese Lehre begreifen lernen und begründen und umge> 
kehrt in ihnen die alten T^ohren zur vollen Lebenskrafl aufVrwecken. 
Was aus der untehlbareu Kirche hervorgegangen, kann mit dem un- 
fehlbaren Bocthius nicht im Widerspruche stehen, eines luuss sich 
durch das andere erklären und beweisen lassen. So deutet llucbald 
auf den dritten authentischen und seinen Plagalton als auf jene hin, 
wo das „verbundene** und „getrennte Tetraehord meist veniuaeht 
werden, d. h. wo man naeh Lage der Sache bald das fr quadnm, 
bald das fr roiundum anwendet'). Die Eigenheit b r Kirchentöne 
basirt sieh (Ur Uucbald auf das antike System der achtzehn Töne: 
der erste authentische Ton mit seinem Flagalton wird durch Lichanos 

1) In dem Tractatus corrcctorius multomm crrorum, qui fiunt in cantu 
grs|[oriano in multia locit, erwähnt der Autor, dass die Sfttiger den Orego- 

rianisdhen Gesiui«: au virlen Oitt n aus-^crordcnflich verdorben liaboii fcnor- 
miterdepravarunt). Zm* Abhilfe greift er aber nicht nach griechischen Theo» 
remen; im GegenUieil, er sagt, er wolle alle Speoulation über die Zahlcnpro- 
portionender Töne und N ana ti wie Froslambanomenos u. s. w. bei Seite lassen. 
»Statt desficn gilit er Aiulcntuiigon über die wahren ITinaltOne und wss er 
sonst für seiucn Zweck uülzlich fiüdet. 

8) Seiat a Graeoorom derivari fönte una cum munca lieoDtia omnes va- 
rietates ibi contexta». (Cap. 18. bei C5( rl>crt, Script. 1. ]id. S. 53.) 

8) Cujus tetrachordi exenijda cum per omnes modos vcl tonos 86 fre- 
quentiuB offerant, tarnen praecipue in autento triti vel plagis ejus ita ubique 
perQ>ici poBsunt, ni vix aliqnod melum in eis absqne homm pennixtione 
tetrachordorum, synommenon icUicet et disengmenou, reperiatür Qaei Gcr> 
bort, Script. Bd. X. S. 114). 



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126 Die Anftnge der eoropÜMih-Abendlftiidiwheii Unsik, 

hypaton regiert, der zweite durch Hjpate meson, der dritte durch 
Parypate meson, der vierte durch Lichanos meson. Diese vier sind 
die SchlnsstlSne aller Musiki). x>aB Tetrachord auf Lichanos hypaton 
gibt, in höherer Lage wiederholt, mit jenem zusammen den ersten 

Kirclientüu {d e f g a h c (/); tlas Tetraebord von llypatc meson, in 

gleicher Art vordoppelt, die zweite ( e f g a h c d e) n. w. Mit 
dem ersten Ton <les liiilieren Tetrncliords liat daher der erste des 
tiefem einen inncru Zut^annnenhang, Liehanos hypaton mit Mese 
{D mit A), Hypate meson mit Paramese {E mit H) u. s. w.*). T>et 
tiefste disponible Ton ist Pxoslambanomenos At er liegt eine Quarte 
unterhalb des Finaltons des ersten Kirchentones; folglich kann sich 
dieser Ton nicht eigentlich tiefer als ehen eine Quarte bewegen, 
er soll sich aher auch nicht höher als eine Quinte steigern, zu jenem 
verwandten höheren Ton, was gerade den Umfang einer Octave 
ausmacht. Dies hezeichnet die (iränze eines regelmSssigen 
Gesanges. Kine Parallelisiruiig der Kirchentöne mit den antiken 
Tonarten kommt in den echten Schriften liucbahr» noch nicht vor 3). 
Das richtige VerstiCndniss der nähren antiken Tonarten war ver- 
loren, die Schriftsteller begnttgten sich mitunter, wie Aurelianvs 
Reomensis, die alten Vorlagen einfach absuschreiben, ohne in das 
Wesen der Sache auch nur die geringste Einsicht zu haben. So 
yiel wusste man, dass der hypodorisehe oder äolische Ton der tiefirte 
von allen sei, man nannte rlnher den ersten Plap:altnn von A~n 
äoHsch und traf hier mit der antiken T^ehre /nsamtnen, denn wirk- 
lich hatte bei den (Jriechen die MoUsc ala denselben Namen gefiihrt. 

Aber indem man die übrigen antiken Benennungen der Ton- 
arten den Eirchentönen anpasste, unterlief ein eigenthUmlichesMiss- 
yerstindtüis, dessen Folge war, dass die Namen in einer dm 
richtigen antiken Nomenelatnr gerade entgegengeselsten Reihen- 
folge auftraten: 

Antik. Kirchlich. 

Hypophrygisch g a h c d e f g . . . Mixolydisch (7. Ton) 

loniMm fgahcdef. . . Lydisch (5. Ton) 

"Pnrisrh e f g a h <■ d r . TMirygif>cli (.'J. Ton) 

Phrvgiscb d t f g a h c d . . . Dorisch (1. 8. Ton) 

Lymsch edefgake,.. Ionisch (6. Ton) 

Mixolydisdi hcdefgah... Hypophrygisch (4. Ton) 

Aeolisch ahedtfga... Aeolisch (2. Ton). 



1) A. a. 0. 8. IIU. Was üben im Texte folgt ist eine ZusammenfassuDg 
vieler serttretiter Stellen ans der oft nicht eben deutlichen Bai^teneng 
Hncbald's. 

2) Dass Hucbald wirklich mit Lichanos hypaton den Ton D meint u. s. w., 
ergibt sich aus der Zusammenhaltung dieser Stellen mit den Principien seiner 
Tonschrift in der musica enchiriadis. 

d) ]>ie nAlia murica" bei Oerbert rührt wohl nicht von Hucbald her. 



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Eubald TOB 81 Att«iid md dai Ofguram. 137 

Die Griechen nannten, wie gesagt, ihre tiefste Tonart, die Moll- 
skaU, s. B. Ä,H,cdefga, die Xoliscbe Tonart. Die Bwdihöhere Skala 
liieBs hypophrygtseh, also Hdsdefitga; diese in dem Umfange der 
Unkala von A — a mit ihren eharakteristiselien Tönen m nnd fis dar- 

gestellt ergab die Tonreihe A, H, eis de ßa g a, was die gleiche Inter- 
vallfolge enthält wie die Tonreihe y ahc de fg. Die dritthöhere Skala 
hiess ionisch, nämlich cdesf'goiibc^ oder inncili.ilh der erst er- 
wähnten Tonreihe Asbcdeafgaa, was die gleiche Intervallfolge 
hat wie f g ak c d e f; diW vierte nttchsthöhere Skala d 9 f g ah cd 
tiien dorisch, in der Reihe von A — a dargestellt ABedefga, 

was ideutitich ist mit e f g a h c d e. Aehnlich bei der l'iuit'teu, 
sechsten und siebenten Tonreihe, deren Tonfolgon das voranstehende 
Diagramm seigt. Die Griechen liebten es diese verschiedenen Ton- 
arten innerhalb derselben Oetave danustellen» was fUr das Stimmen 

der Lyren wie für den Gesang bequem befanden wurde, z. B. äolisch 
cdeafgasbc, hypophiygisch cdefgahc, ionisch c d e fis g 

a hm. s. w. Insofern man nun aber dics^e Reihen nicht innerhalb der- 
selben Hctavc, sondern mit Beibehaltung der sie charakterisirenden 
Stellung der beiden TTalbtöne aus den Tönen der diatonischen Skala 
cdefgahc con.struirtc, hicss, wie wir eben sahen, diese Reihe 
von C — c lydisch, die Reihe von Ä — a äolisch, von H — h mixo- 
lydisch u. s. w. 

Von diesen verwickelten und eigenthttmliehen Tonmetastasen, 
von der zweideutigen Art, wie jede Tonart einmal als höhere Trans- 
position der (Solischen) Mollskala und ein andermal als Oetaven- 
gattnng mit veränderter Stellung der zwei Halbtöne verstanden wird, 
hatten nnn freilich die mittelalterlichen Theoretiker keine Ahnung'). 
Sie nannten die Tonroihc A — (i ganz richtig äolisch, und da 
sie bei ihren antiken Lehren die Weisung fanden, die nächsthidiere 
Tonart heisse hypophrvgisch, so nannten sie die Tonreihe H — h 
unbedenklich hypophrygisch, die folgend höhere, welche nach der 

1) Mattheson sagt (VoUk. KapoUm.S.63§23): Obgleich der dreunalige 
Römische Bürgermeister Boethius welcher im 71. Jalire seines Alters A.Ö24 
od. 2H 7.n Pavia aus Staatsuraachen enthauptet win<h . der Erste und An- 
sehnUchste unter den Lateinern, so von der Musik gLsi lin> ))tMi, nachdem er 
18 Jahr zu Athen studiert hatte, mit keiner Sylbe der eiugudruugeueu Lage 
des halben Tones in seinen flinf Bflohem gedenket, snm anwidersprechliohen 
ZfUfTiii'^'^. ilass weder vor ihm noch zu seiner Zeit, etwa ums Jahr Cfirisf i r>()0, 
kein Mensch den l^nterschied der Tonarten in etwas anders als in der Höhe 
nnd Tiefe des Klanges gesucht hatte: so that sieh doch gantzer tausend Jahr 
nach ihm, nämlich A. 1514 ein gewisser Mailander und bestallter Professor 
der Musik zu Breoeia im Vencziuiiisrhfii, Xainen'! Franchintis riaforus her- 
vor, und wollte durehaus in den Bucthischen Musikhücbcrn, die etwa 2U Jahre 
vomer gedradrt worden, Dinge suohea, die doclrgar nicht darin stehen noch 
stehen sollten. 



188 



Die Anfänge der europäiach-abendlftndiachen Musik. 



antikeiiLelire ioniscli heiBten lollto, yenetetemiegaiiB eoBtequenter 
Weise auf den näcbsthdlieren Ton C u. t. w. Und so ergab sicli 
jene sonderbare VertauBchnng der Namen, dass das antike Hixo* 

lydisch bei ihnen HypophrypriHch, und umgekehrt das antike Hypo- 
phry^iscli bei ihnen Mixolydisch hiess, und so bei allen anderen 
Tonarten. Üiese mittelalterliche Nonienclatur hat sich fiir die be- 
trefl'enden Octavcngattungen bis auf den heutigen Tag erhalten: man 
spricht von phrygischen äieralen, welehe die Griechen aber dorisch 
genannt haben wlliden n. s. w. Die Ilteie Zeit machte aber wenig- 
stens swischen den Kirchentonarten nnd den griechischen Tonarten 
die allerdings etwas Fj itz ^^e^rifTme Unterscheidung, dass die antiken 
Tonarten nicht gerade die Kirchentöne sind, wohl aber von ihnen 
ropiert werd en. Denn es musste doch auffallen, dass fiir zweierlei 
im Wesen jranz verschiedene Tropen, den ersten authentischen und 
vierten plaj^alen, nur einerlei antike Benennung, vwdus Dorius, vor- 
liege. Ferner gingen die Kirchengesünge des ersten, zweiten oder 
welchen Tones sonst mannigfach über die Grenzen der antiken Ton- 
arten oder Octavenreihen ^nans nnd seigten sonst UnregebnÜssig- 
keiten, daher man sogar „unechte" (nattuu) Antiphonen unterschied, 
welehe in irgend einem Tone anfangen, in ihrer Mitte aber einem 
anderen angehören nnd in einem dritten schliessen 1). In der 
Schrift eines Unbekannten (rujimlam), welche im Strassburger und 
St. Emmeraner Codex den liucbahliKchen Tractaten beige^<'ben 
ist, heisst es daher: man wisse denn auch, dass die dorische 'l onart 
zumeist vom ersten authentischen '1 One regiert wird {quod Dotius 
nuixime proto regiiur)<, in gleicher Art die phr^ gische vom zweiten, 
die lydische vom dritten, die mixolydische vom vierten'). Aber 
derselbe Tractat sagt auch ohne Weiteres: „der fllnfte Kirchenton, 
den wir auch den lydischen nennen, der siebente Ton, der 
auch der mixolydische heisst" n. s. w. Der tiefgelehrte 
llermannus Contractus spricht von der Identität der Kirchentöne 
und der antiken Tonarten mit der grössten Bestimmtheit. ,,Es gribt, 
sagt er, vier authentische und vier Plagaltönc (plagae, laterales 
vel suhjugnhfi). Nach der Sprache der Alten heissen die ersteren 
Dorisch, rhrygisch, Lydisch und Mixolydisch, die Subjugaleu 
(Plagaltöne) aber Hypodorisch, llypophiygisch, Hypolydisch, Hypo- 
mixoljdisch.** Doch gesteht Herm annns dem anthentiBchen und dem 



1) Scire autem oportet peritum cantorcm, quod non omuis tonorum con- 
Honantia in quibustlam antij>honis facilc co^'noscatur. Sunt namquc quacdam 
antipbonac, quas nothas id cbt degeiuTHtHH et non logitiinas appellamus, 
qnae abono tono iucipiunt, altcrius sunt in uu-dio ctlntertio tiniuntur: qu0> 
vum dit^sonantiam et ambignitatem etc. (Begino von Prüm, de harmon. in- 
BtituÜone.) 

8) Bei Gerbert, Script. Bd. 1. 8. Id9. 



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Hucbald von St. Amand und das Organum. 



129 



PlagaltoB noch denselben Bchlasiton su. Das mittlere D endet den 
eraten Plagalton, wie seinen autliontischen ii. s. av." ^). 

Gans auBcIriirklich und rückhaltlos 8ielit auch Abt Wilhelm von 

llirst liau lind Al»t En^^elbcrt von Admont (um 1280) di«' Tonarten der 
(iiiechen und die Kii chcntöiie als eines und dasselbe an. Hoetliin.s 
hahe ja von gar nichtH anilercin gehandelt als eben nur von den 
Kirchentöuen ; weil er aber, wie er selbst sagt, au dcu hergebrach- 
ten Benennungen nicfats indem wollte nnd die alten griechischen 
Benennungen beibehielt, sei sein Buch gar zu schwer sn verstehen. 
Denn, fthrt Engelbert fort, „der erste anthentäsche Ton wird nach 
Boethius der dorische genannt, entweder n.u h der Provinz Dorien 
oder nach irgend einem alten griechischen Musiker Dorius^). Sein 
Plagalton, das ist in der Ordnniifr der zweite Ton, hcisst der hypo- 
dorisfhe, das ist der dem dorischen untergestellte, nämlich als 
zweiter gegen den ersten Principalton" u. s. w. Der bei 
Boethius vorkommende hypermixolydische Tou macht dem gelehrten 
Abt keine Skrupel, er ersetst ihn durch einen hypomixolydischeu, 
der zugleich der achte Kirchen' oder vierte Plagalton ist. Dieselbe 
Anordnung erscheint auch bei Johannes Cotton, auch ihm bt der 
achte Kiichenton dm hupomixalydicus'^). 

Die Bpeculation wagte es auch, und zwar schon durch Hucbald, 
ganz neue l'f'ade zu betreten. Dahin gehören die Versuche Ilucbald's 
eine neue Tonschrift, welche wirklich dem Bediirt'niss genügen 
könnte, zu erfinden, und seine Untersiu lmngen über das Orgaiium. 
In jenen Versuchen ist es ein merkwürdiges Schauspiel, wie Huc- 
bald sieh allmfilig von seinem verehrten Boethius losmacht, und so 
schwerlkllig seine Anstalten inr Bezeichnung der Töne auch sind, 
er hat eine Ahnung von dem was Koth ihut und wie es erreicht 
werden könnte, wie denn Hucbald, in dem man meist nur den tief- 
gelehrten Theoretiker erblickt, unverkennbar einen gewissen prakti» 
sehen Schick und Takt hatte. Er gerät!» auf den Pfaden seines 
Forschens endlich dahin, dass er mit seiner neuen Notenschrift auch 
ein ganz neues Tonsystem findet, neue Namen der Töne eintlilirt, 
die freilich kaum bequemer und mundgerechter sind als die griechi- 
schen. Hucbald tritt gegen die Neumenschrift scharf polemisirend 
auf: sie leitet, sagt er, nur auf unsicherem Pfade. Es kommt dar- 
anf an für die Tonhöhe ein sicher andeutendes Zeichen sn finden. 
Die Stelle des Boethius, wo von den an die Stelle der langen Ton- 
benennnngen abkürzend zu sct/cnden Biiclistabenzeichen die Rede 
ist, regte Uucbald zu einem ähnlichen Versuche und zwar mit Anwen- 

1) A. a. O. Bd. 2 S. 132 u. ff. 

8) A. a. O. Bd. 3 8. 844. Es wird kanm nOthig sein su erinnern: 

dass es keine Provinz Dorien, sondern nur ein Bergländohen Doris gab, 
und dass kein Tonkünstler ^lameus Dorius existirt hat. 
3) Bei Gerbert Script. IL 8. 243. 

Anbr«!, GMcbtehte 4« Mnilk. n. 9 



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130 Die Anfänge der eoropäisch-abendl&ndiBcheii Musik. 

dnng der lateinlBeheii Baohatftben an: Tsoll die Meie (il), m Lieba- 
OOS meson (G), P die Paiypate meson (F^ bedeaten, 0 die Hypate 
meson (fi), ^liehanos hypafton (D), i. B. 

TM M p im pe f . . - 

No-ne-uo e a ne, d. i. ^ 




ne <• no • e 



Dieser Tonachrift bedient sicli Tlucbald selbst nur gelegentlich ia 
demselben Tractate de harmonica iHdiMoiii»^ um damit einige 
AntiphoiieiianüKiige an notiren: 



I. M IM pm i PC f ^ ff ^ V ^ » ^ ^ 

£ruut pnmi novissiiui ZZZ 



mb ff 

Ave Maria 



fb f b p p e 



Emnt primi no - vi-si • mi 
A-ve ma-ria. 



veni et osiende r:^' ^ 



▼e • ai et o-stea-de. 

und andere mehr. Diese Nutirmip:fiart gcnti^o ihrem Erfinder nicht. 
Kr prrüholto ( ine andere aus, mit deren Auseinandersotznnp^ er seine 
inusica Enchirindis eröffnet. Er legt ihr den Buchstaben F zu 
Grunde, und weil es für die Kirchentonarten vier Schlusstöne 
{f^tKÜes) gibt, so erdmdtt er vier Varianten jenes Bachstabens. 
Wird an die Stelle des oberen Querstriches einlic ^eades 8 gesetzt, 
reprSaentirt diese Bildong den Ton D, ein abwirti gekehrtea 0 
dahin an^robracht soll den Ton E bedeuten, das 0 anfwlrts gekehrt 
den Ton G, der einfache, eiiiein / gleichende, etwas geneigte Hanpt- 
stridi (T simpler et inrHnnm) dvn Ton F. Kehrt man diese Formen 
nach links, so erhält mau die Zeichen fiir die vier tiefsten Töne 
(fjvares), nur muss das seine Form in rler Umwendung nicht ver- 
ändernde / in ein N vervvamieit werden. Gcstiir/t und links ge- 
wendet (das S umgekehrt) bedeuten die Zeichen die vier den Final- 
tttnen nKchsthöheren (superiort8)\ xur Beaeichnnng der folgenden 
vier noch höheren fexcdUidea) wendet mau die gestttnten Zeichen 
nach rechts: an die Stelle des I kommen zwei einander kreosende 
(itda perfixim)^ das ist X FUr die sswei letzten und höchsten Töno 
werden die zwei ersten Zeichen niedergelegt. Auf diese Art erhält 
Hucbald vier Tctrachorde : graves, finales, superiores, exreUeniea 
(mehr zwei T("mei. l inc Eintheilung der Töne, die auch bei den 
weit späteren Autoren .Johaunes Cotton und Engelbert von Adinont 
beibehalten wird. Im Tetrachord erhält je<les Zjeichen nach seiner 



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Hucbaid von St. Amand und das Organum. 131 

Stellung die nXhefe Beielehiiiuig: das erste, swette, dritte, vierte 

{archooSf deuterus, trilus, tetrardus, also s. B. Archoos gratfis, Den-, 
terus finalis, Tritus fiMoUs, Triiku MjMridr, Ardtoos exceUew, 

T^rardus excellens^). 

Die panze Anordnung ist den antiken Benennungen analog, 
und es hat dieses Schrift- und zugleich Tonsystem folgende Gestalt: 

•nbOM dcQt. trlt. totr. d. tr. t. •. d. tr. 1 •> i. «r. t. 

Till ITTin JVA il l,L^'~l^$-^ 

Graves Fin:iKs Superiores ExoeUentes 

Q, A, B. C D.E,F.Q, a. b. c d, e. f, g. aa. bb, ee. 

FOr die swei höchsten Tdne bestimmt Huebald keinen Namen, Abt 
Oddo (im Schema seines Monoebofds) nennt sie die „Übrigbleiben- 
den" (remanentes). 

Diese Tonschrift ist fireilich einfaehcr als die antike, sie hat den 

Vortheil jeden Ton genau nach seiner llühe anztigehen, und Huc- 
baid bedient sich ihrer oft, indem er die Zeiciien entweder über die 
Textessylben oder auch zwischen die- Textessylben setzt. Aber sie 
hat den sehr wesentlichen Mangel mit der antiken gemein, d ass sie 
das Steigen und Fallen der Stimme nicht versinnlicht. Uucbald 
dacbte an Abbilfe: er sog Linien und schichtete swisehen sie die 
Teztessylben, wobei die Zeichen 2* und S am Rande links a ndeuten, 
ob von t&aet Linie snr andern der Schritt eines ganzen oder eines 
halben Tones gemeint sei, and kniae Diagonalstriohe das Auge von 
einet Linie aar andern leiten. 

< ta 

K "~ K / \ bis \ ~ 

9 ~ £o \ Isra \ / in qno \ o / no\ 

8 ce\ II / he do / on\ 

9 vere 7 est 
f 

Hier ist nun allerdings das Auf- nnä Absteigen der Stimme bis 



1) Die EtntheUang der Töne sa je Tier, als graves, finales, aontae, 8ui>er^ 

acuta • und excellentes, findet sich auch bei Johannes Cotton (bei Gerbert, 
Scrript. Bd. 2 S. 235), der diese Eintheibmg doch wohl nur mittelhar oder 
unmittelbar aus Hucbaid genoiuineu haben kann, ob er ihn gleich nicht 
nennt. Die Anspielung: datur eis ad hoc et alia a quibusdam per graeca 
vocabula discretio, geht zweifellos auf Hucbald's Archoos gravis u. s. w. 
Auch Engelbert von Admont nimmt diese Eintheilung an (Tract. III. Gap. 14). 

2) u Gerbert*t Script. Bd. 1. S. 109 ist diesea Exempel auf nur fDnfLinisa 
gesetzt und geht nur bis zu den Worten in quo, obschon sich der erklärende 
Text Hucbald's auch auf das dolus non est ausilrücklich beruft. Ich gebe es 
hier nach dem mir vorliegenden Codex aus dem Ii. Jahrhundert, wo aber 

9* 



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132 Die AnfUnge der europäisch-abendländischen Musik. 



zur Handfjrciflichkeit vcrsinnlicht. Dape*ijen lassen sich die Töne 
nur a\is der Anordnung von Ton und Ilalhton errathen. Hucbald 
verband daher seine J>inien mit seiner Zeichenschrift, indem er 
seinen Archoos p^ravis, Deuteros gravis und so weiter als Schlüssel 
links an den Rand setzte: 



lu/ i\ 



das ist 



fi_Ai\ 

le\ u\ 

JF 

ff 



a 



32: 



t9 



32: 



AI - le 



lu 



Diese Schreibart wendet Hucbald auch und vorzüglich an, wo er 
das Zusanuuensingen mehrerer Stimmen versinnlichen will; wobei 
die leitenden Diagonallinien besonders dazu nützen, zu verhüten, 
dass der Sänger aus Veroehon in eine fremde Stimme gerathc: 



tx / roini\ pe \ ru \ 

»it \ oria/ iM\ cida bitur D<uninu8 in o / ri \ ; ia 

sat'/ \ ta / 
/ mini \ lae / 



k]o/ Do \ 

u _ 

tl/^Uitt oria/ 

Sj glo/ 



bU8 

pc\ SU \ 



cula bitur Dominus in o / ri \ / is 

bus 



sae/ \ ta / 
lae/~ 



pe\ 



BU \ 



bua 



/ mini \ 

t \ sit \ oria/ i n\ rnla bitur Dominus in o / ri \ / ia 

SP^ glo/ Do \ eae/ \ ta / 

sit \ oria / 
glo / ~ 



/ ntini \ 



lac/ 



pe \ 



in\ cula bitur Dominus in o / ri \ / is 



SN 



siio/ \ ta/_ 

fae/" 



bus 



wieder die sonst vorkommenden Diagonalstrichc fehlen, die ich hier bei- 
gefügt habe. In unsere Noten übersetzt, sähe jenes Beispiel so aus: 



*5»- 



IE: 



Ec-ce ve-re Is - ra - e - Ii - ta in quo do - lus non est. 
oder, nach den Andeutungen der alten Schriftsteller declaiuirt: 



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Hnobald von St. Amand und das Organum. 



133 



*v 6t — 

Sit glo - ri a 



6» O 



Do - nii - ni in sae - cu - la iac- 




-« (9 — 



«» g> €^ €^ ^ ^ & 



1 



ta - bi - tor Do 



Till 



nns in o - pe - ri - bus su - ig. 



DiPsc f^clireibart hat etwas ungemein Viibeliilfliches und Schwer- 
falliges; Augje und Sinn, so unaufhörlich über die Linienstufon anf- 
und abgeführt, fehlen sehr bald eine Ermüdun«:. jener Shnlich, die 
man empfindet, wenn mau in einer alten KittiTburg oder einem 
alten Kloster Uber fussbohe Treppenstufen steigen mass^). Aber 
darin, das« Hnebald die Tonhölie dwelt ein linien^item und dureh 
ein Tonngestelltes ScUllBselseichen sweifelloB andeutet, hat er nicht 
nur möglich gemacht was bei den Nennten unmöglich blieb, sondern 
es beruht, wie man sieht, seine Erfindung auf derselben Grundidee 
\*ie unsere Notenschrift, denn auch wir wenden Liniensystem und 
Schlüssel nn. Da in der Neumenschrift der Punkt einen einzelnen 
Ton bedeutet, so liJitte es sehr nahi' ^ele<ren statt des ungeschickten 
Einscliachtelns derTextessylben die Stelle des Tones auf den Linien 
durch eiueu Punkt zu bezeichnen, was wie von selbst weiter darauf 



£c-ce ve - re Is-ra - e - Ii - ta in quo do • lue non est 

1) Ein in Huc})akrs institutio Laniionica vorkommendes Schema fol- 
gender Gestalt (Siehe Gerbert. Script. 1 Band S. 110): 

(in dem von mir l)enützten Codex also: 

TbTTSTTT — 8 fi t 1) 

halte ich nicht, wie P ^fartini thut und auel» Forkd annimmt, für eine 
ei}?entliche Notenschrift, als u eiche Hucbald diese Striche nnd Punkte gar nie 
benutzt, sondern eben nur, wie der erklärende Text seifft, für ein Schema 
nur BrlAutemng der Folge von Tdnen and HalbtOnsn in dw Skala, nämlich: 

AUCD EF Ga .hld ff g 



134 



Die Anf^lnge der europ&isoh-abendl&ndischen MusiL 



geflUirt haben wttrde, nicht blos die Zwitehenribinie, ■oncleni eneh 

die Linien selbst in solcher Weise zu benutzen. Dass Hucbald auf 
diese naheliegenden EinflÜle nicht ham, hat ihn um den Rohm 
gebracht der Erfinder unserer Notinmg zu heissen. Seine Noten- 
sdirift blieb vorläufig unbenutzt; die Singmeister zogen die ge- 
wohnten Neumen der unbe([ueiiHMj Hucbald'schen Liniennotirung 
vor und mochten lieber in den MUckentanz ihrer Virgä, Podati und 
Cephalici schauen, als sich auf jenem plumpen Treppenbau auf- und 
abschleppen lassen. Eine entschiedene Verwandtschaft mit Hncbald's 
Linien hat die Notiningsweise, Ton welcher schon Vineenso Galilei 
durch einen befrenndeten Florentiner Edelmann ans einem sehr alten 
Codex (antichissimo Jihro) Proben erhielt, wie dergleichen auch 
P. Athanas Kircher in einem aus dem zelmten Jahrhundert, also aus 
einer nucliuld fast gleichzeitigen Epoche hemihrenden Manuscripte 
in der Bibliotliek des Klosters St. Salvator bei .Messina fand. ,,Es 
waren," sagt Kircher, ,,acht Linien gezogen, denen aniKande ebenso 
viele Buchstabeu entsprachen, auf den Linien aber war dan Auf- 
nnd Absteigen der Stimme in Fonkten oder vielmehr in kldnen 
Kreisen angedentet^)." Durch diese Pnnktirang war die Behreibart 
etwas bequemer als die Hoebald'sehe, ob sie schon eine Ihnliehe 
Un Vollkommenheit an sich hat, dass nicht die Zwischenräume der 
Linien, sondern nur die Linien selbst beuulat sind. Die griechischen 
Burlistaben am Kaude kilunen füglich keinen andern Sinn haben als 
Schlüssel zu sein, aber sie accommodiren sich keinem System und 
keiner Nomenclatur jener Zeiten. Hätte der ,,gute Kopf^* ( wie ihn 
Kiesewetter uenntj, der auf den Kinfuli kam zur Bezeichnung der 
TSne Funkle auf Linien sn setzen, statt der Beseichnnng a — B 



1) Mosorgia 1. Theü 8. SIS. Xirdier gibt fölgendes Beispiel: 




An der »Sache selbst zweifle ich nicht. Xircher's Gelehrsamkeit hat freilich 
etwas MoiutrOses und seine Leichtgläubigkeit ist ohne Grenzen: er hateioh 

aufbinden lassen, dass die Faulthiere das utre mi fasol la sehr trefB ich singen. 
Aber Kircher ist ein elirlicherMann ; ii-li xwt'ifle nicht, (Ih^h er jenen Codex in 
Händen gehabt und das» ergetreu Ix richtet. So heisst es auch in Galilei'sdia» 
logo : si servirono i musici prattici che furono pooo avanti ai tempi gl Guido 
Aretino per si^nificare Ic corde delle cantilene loco degli istessi caratteri che 
uaa vana gia gli antichi Greci e di quelli ancora de Latiui gegtiandoli sopra 
idte Hnee in questa maniera ad imitaiione forse delle sette oorde deU* «utica 
oithara. Galilei gibt S. 37 (erste Auflage von 1581) Proben gaius ähnlicher 
oder vielmehr derselben Notiningsweise, jedoch auf einfni System von zehn 
Linien und ohne Schlüsselzeicheu. Der Codex, in dem diese Notinmg 



Hucbald von St. Amand und du Organiini. 



135 



vielmehr die Gregorianischen Bncligtaben oder «llenfkUf die alt- 

^iechiächen Namen beigeBchrieben, sowire seine Erfindung schwer- 
lich ,,in die Mauorn soines Klosters vergraben*' und kein „ohne 
Natsen abgelaui'eiier Versuch geblieben"^). 

Diese Versuclio einer zweckmässif^eren Notiriuij; vcnnoehten 
nieht »ich Geltung zu verschaiTuu; dajj^egeu kam der zweite von 
Hucbald behandelte Haujjtgegenstandi das Organum, zu grosser Be- 
rühmtheit. Die Chronisten reden von der am wgeuumäi, wenn sie 
kunstreichen Gesang andeuten wollen *); auch in den Minneregeln 
des Eberhard Cersne von Minden (1404) hnsst es: 

der meyster selfysereti 

nicht waz vor irem Sange 

noch organiterm u. a w. 
und noch die Kirch enversaimnlnng von Toledo 1566 redet von 
„oiganischer Musik" (mu^'ca quae organica dicitur). Hucbald ist 
der erste, der von dieser Art zu singen umständlich handelt, und so 
erschrecklich dieses Orpranuni sein map^, Uucbald's theoretische Aus- 
einandersetzungen darüber bleiben ein bedeutsames Beispiel, wie 
Probleme, für welche sich in Boethius kein Anhaltspunkt fand, 
speculativ behandelt wurden. Der Ernst dieser Forschung verdient 
Achtung. Mit dem Worte Organum bes^ehnete man jeden Gesang 
mehrerer nicht im iSnklange oder der Octave mit einander singender 
Stimmen. Johann Cottonius erklltrt: es sei jene ttbereinstimmende 
Entzweiung mindestens zweier Sftnger, wobei einer die rechte Me- 
lodie hält, der andere mit fremden aber passenden Tönen beiher^ 
geht, bei den einzelnen Schlüssen aber beide in Einklang oder der 
Octave zusaunnentretiVu '). Der P^inklang (Unison) ist, wi«- Hucbald 
bemerkt, kein Intervall, keine wahre Consonanz, sondern Identität. 
Die Consonanz beruht auf dem Zusammenklingen zweier Töne, die 
nicht denelben Tonstufe angehSren, die also Jeder fUr sich ein Be- 
sonderes sind^). Die Diaphonie, auch Organum geheissen, besteht 

stand, gehörte jenem Florentiner Freimd»». Aus der Luft pregriffen hat 
Galilei die Sache also nicht, aber sein Zeuguiss ist doch nichts werth; er 
redet von dieser Notirang als von einer gans allgemein flblichen 
Sache, und das war sie nicht, sonst müsste sie h&ufiger vorkonunen 
als in panz vereinzelten Beispielen. Dit- Itci^'csi-tzten pnochisclu'ii Buch- 
staben bei Kircher unterstützen Galilei s Angabe in Etwas, aber sie sind 
doch keineswegs l'istessi caratteri wie die antike Notenschrift. 

1) So beurtheilt ihn Kiesewetter: Gesoh. d. abeodLMosik. 8. Aufl. 8.87. 

2) So der Monachus Engolismensis. 
8) 8. Gerbert» Script. 8. Bd. 8. 268. 

4) Et de aeqnahbns quidem vocibus, quoniam ipsae per se patent, nihil 
aliud dicendum, nisi quod communis vocis impetu profenmtur in modum 
solutae orationis legentis et quod una tantuni vux est, quotiescunque repe- 
tantor; veluti si unicam qnamlibet literam saepius scribas aut proferas ot 
n, n, a et quod nulla inter eas est consoiiniitia, sunt enim aequisonae non 
cousonae. Nam in conaonautia duae voces a se omnintodo disiautes simui 
Gonoorditer sonant (De harm. inst bei Qerbert, Script. Bd. 1 8. 101) 



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136 Die Aniknge der earop&isch- abendländischen MusUc. 

nicht ans gleichartigem, sondern ans einem „emtrlehtig 
spSltigen Gesänge"*). Es gibt einfache and zusammengesetzte 
Consonanznn (Syrnj^lionien): die oitifaclion sind Diatessaron, Dia- 
pente und Diapast)!!: aus diesen drei werden die anderen combinirt-). 
Die Octave uuler.->( Ii<'idet sieli V(nn Kinklaa^e nur wenig, denn jed»'r 
Tou wird an der acUtcu Stelle gleichsam neu geboren und leitet 
neue Ovdnnug, d. h. eine neue Octavenskala, eia^. Man kann 
einen Gfresang in swei bis drei Octaven verdoppeln, das ist der ein- 
fachste nnd fiuslichste (faeßior d aperücr), aaeli der erste Zu- 
sammenklangt). 



I 



I I I I 



Ttt pa - tris sem-pi • ter -naa e« fi • Ii • os. ' ''^ 

Der Name Organum oder Diaphonie kommt nun zwar allen Con- 
sonansen sn, aber ganz besonders den Quarten und Quinten Die 
Quinte entspricht ihrem Gmndton; sie seigt nimlich in den Fort- 
schreitnngen der Melodie gans dieselben Schritte von Tönen und 
Halbtönen. 



1 



^ Ä ja 3 ^"^^ 4^, 

R -r- T — r I I I i ' I 1^ ff^ P 

Tu pa - tris sem - pi • ter - nna «s fi • Ii • W 

Dieser gleichartige Gesang wiederholt sich erst bei der Quinte, wie 
der leidbt su machende Veisuoh augenfKlHg zeigt : 

G occcdi|AQ 
FABBBBB'^AGF 
EG A AAA A tl G lOs 
B F G G G GGAE^ D 



1) Dicta antem diaphonia, quod non uniformi canore constet, sed 
oonoenta concorditer dissono (Mus. enchiriadis Cap. 13 a. a. O. S. 165). 

2) Nämlich die Undecime, Duodecime, Doppeloctave u. 8. w. Auf- 
fallend ist es, das» die Oetave filr Hiicbald eine einfache Oonsonanz ist, 
du sii> iloeh aus der Zusuinmeusetzung von Quinte und Quarte besteht, 
was ilucbald auch ausdrucklich erwähnt: Fitque ut Semper diapasoa 
•patiom diateasaron ac diapente compleatur (a. a. O. 8. lo8). 

3) Ab unoqaoque sono locis ootavis renoto ut ita dioam Toce noras 
ordo emergat (a. a. O. S. 163). 

4> A. a. ü. S. 180. 
6) 8. 166. 



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Hucbald von St. Amand and du Ol^anum. 



137 



Hier trifit der Halbton immer avf eine andere Stelle, nnd nur ent 
mit der erreicbtMi Quinte bat man deoaelben Tropus wieder ge- 
funden; der Gesang ist dann wiedw genau derselbe, ohschon er um 
filnf Töne höher liejrt. l<nraiis folgerten einige Lehrer, der fünfte 
Ton, die Quinte, f^ei mit dt ni Gruiultone so gut wie identisch, dalier 
Bie beim Nutiien für den tiinften Tun dasselbe Zeichen setzten wie 
flir den ersten i). Verschiedene Tropen (zweierlei Tonarten) dttrfen 
nun, wieHncbald weiter lehrt, nicht gleichseitig mit einander gehen; 
daher iat das Organum mit der Quinte oder der Octave nnd Qninte 
maammen ganz nnbedenklicb ; das Organnm mit der Qnaite ist da- 
gegen nicht immer anwendbar, sondern muss kunstgerecht mit der 
nfUhifren Vorsiilit behandelt werden 2\ Es gibt daher auch mehre 
Gattungen des Organunis, je nachdem es aus Quarten, aus Quinten 
oder aucli aus deren Verbindung mit > erdoppelten Octaven besteht, 
Uabei ist die eine Stimme der llauptgesang (vox pnncipalis), im 
Sinne des gegebenen Themas, des cantiis firnims; die andere bt die 
Organalstimme (vooc organalia)^ welche den Hanptgesang in der 
Qnarte oder Quinte begleitet Singen die Stimmen alle in Octaven, 
so ist eigentlich gar kein Organum da, weil beide die voxjwjnc^poZw, 
nnr in zwei Tonlagen, Ubereinstimmend ausAihren. 

Der Oesnng in Quinten oder Quarten ist nun die eine Haupt- 
gattung des Organums : das Parallel-Organum könnte man es nennen. 
Eb gibt noch eine andere Gattung, welche man als das schweiiende 
Organum bezeichnen kann. Diese lasst allerdings auch noch Quart- 
parallelen vorwalten, mischt aber im Durchgänge Secunden und 
Tenen ein, letstere jedoch so, dass nie zwei Terzen auf einander 
folgen. Hucbald sieht es als ein Quartenoiganum an (daher das 
Yorhemchen der Quarte), bei dem wegen der gerügten Unvoll- 
kommenheit dieses Intervalls anderweitige IntervdUe surHUfe her- 
beigeholt werden. 

Jl mari8 \ 

t J mine/ un\ 

t / do/ . 

»r U/ maris\ \ ni 

coe/ mine/ vn\ %o f 

T 1 -Rex / coe Ii do/ di/ 

S M 



1) Diesen seltsamen Irrtbum erfahren wir gelegentlich durch Guido 
von Aresso, der sich mit Recht darflber ereifert, weil „einige Quinten, 
wie B (Sl|) zu F dissonircn, überhaupt keine Quinte mit ihrem Grundtone 
vollkommen übereinstimmt (perfectc concordet) und kein Ton ausser der 
Octave mit einem andern völlig übereinkommt." Daher denn einige 
Neuere (modemi quidam) sehr unklagerweise : quatuor tantum signa po- 
Buerunt, quintum videlicet sonum eodem ubique oharaotere figorantes 
(Micrologus V. bei Gerbert, Script. 2. Bd. S. 7). 

8) ikscipulua. Quars in diatMsaron symphonia vox orgsnaUs sie sibso- 



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13d Die Anfitaige der enropftisoh-abendlftndiichen Moaik. 

1 t • 4 4 4 ^ 4 4 11 




^ Q. O. 



4a: 



Rex coe - Ii Do - mi - ne ma •ris uu-di-so-ni. 
Ti-to*iiiiiii>ti*di •qiift»]i • di - que to • Ii 



nu m - Q • Ol tqna-u - oi - que to • iL 




Te hQ-mi-lM &-1D11-U mo^dn-Iis ▼e-ne-nn-do pi - is. 



m 



•7g~-g 



^ ^ 4^ ^ 



4 



t 



Tu |M-trit Mm-pi-ter-iM» et fl • Ii • oi. 

Dieses schweifende Orgennm ist, trota seines regellosen Aussehens, 
wie man sieht, kein Produkt der ^"illkthr, «her kaum sehr viel hesser 
als das andere und eigentlich ebenso roh. Es bleibt aber doch 
merkwflrdig, weil hier anm erstenniale Noten im iJurcbgange, ins- 

l)Psnnflor(» fnicli Dispornnzen, nnftroten. Es hat sclir lanpre geilnnert, 
ehe man mit dissoniienden Tonen anders fertig zu Merdt-n vuBbte, 
als si(^ im stufenweisen Durcl)gango anzubringen. Dieses Organum 
wird von Hucbald nur zweihtimmig angewendet, ist auch, wie er 
bemerkt, nicht flir jedes Thema gut anwendbar* 

Das parallele O^annm dagegen kann man, wie Hncbald ver- 
richert, auch in reicherer Stimmensahl Terdoppeln. Entweder die 
Principalstimme wird in der Octave mitgesungen — eine mittlere 
Stimme kann, da es zwischen eins und acht keine wahre Mittelaahl 
gibt, dann nur so mitgeben, dass sie gegen die obere Knabenstimme 
um eine Quinte tiefer, gegen die untere Männerstimme um eine 
Quarte liiiber mitgebt — oder umgekehrt \): eine soUlie Anordnung 
der Stimmen bringt also das Quinten- oder Quartenorganum zugleich 
xnr Anwendung. Oder es liegt die Principalstimme in der Mitte, 
und das Organum wird yerdop pelt, wo dann wieder die ^e 



Inte convenire cum voce principali non potest, sicut in symphoniis aliis? 
Magister. Quoniam, ut dictum est, per quartanns regioues non Odern 
tropi repernrntuTf aiveriarumgm tmponm modi per tohm HwmU ire 
nequeunt. Ideo in diatessaron qfmphonia non per totum vox principalis 
TOxque organalis quartana regione consentiuut (a. a. O. S. 192). 

1) Ubi attendendum est, nt vox media inter duas ne aequo spaiio ae 
ad utrasque habeat, quippe cum in octavo numero unitatis medietas non 
•Ü, verum si ab inferiori latere ad eantum diatopsarou spatio responde- 
tttnr a supcriore vero spaiio diapente (bei (ierbert, Script. Bd. 1 S. 166). 



HaclNtld von Si. Anuuid und das Orguunn. 



139 



gegen die Hauptstimme in Quarteo, die andttre in Quinten mitgeht 
Oder es können Mde Bliaimen in Oetaven verdoppelt werden: 

Tu pa - tris sem-pi - tor-nus es fi - Ii • us. 

. I I ! I 1 I J I , , 

g ^UTfl^ fi> fl^ fi> fiT^ » p 3 g H 

Yaler Hacbald sweifelt meht an der herrlichen Wirkung: „Singen 
ihrer,** sagt er, tiS^^i o^^i* niehr mit bedächtiger Ghravität zusammen, 
wie es diese Singwmse erheischt, so wirst du ans der Vermischung 
der Stimmen einen angenehmen Zusammenklang entstehen sehn** 
Das ver(lu|ij}t'lte Ori^anuni ist nacli Hucbald's Idee ein besonders 
schöner reicher KhmgeflVkt, denn ,, diese Symphonien werden ver- 
schiedene und süsse Cantilenen in einander mischen" (Qu;irt»'n, 
Quinten und Octaven); mit massigem Zügeru gesungen, ^enau aus» 
geführt, wird die Annehmlielikeit dieses Gesanges ausgezeichnet 
heissen dürfen"^. 

Sehr hemerkenswerth ist an beiden Gattungen des Organums, 
das» die Harmonie gleich in ihrer Entstehung nicht als accord> 
mfissiges Zusamnienklinp^en von zwei oder mehr Tönen in diesem 
Zusammenklange betrachtet, sondern als paralleles Nebeneinander- 
gehen zweier Stimmen verstanden worden ist. Die vox prinripalis 
tritt als cantus firmus auf, sie ist den überkommenen Kirchen- 
gesängen entnommen. Dazu lässt der andere Sänger sein Organum 
httren, das entweder der ersten Stimme Schritt fdr Schritt, aber in 
der Distans einer Quart oder Quinte folgt, oder eine Art barbari- 
sehen Gontrapnnkts, Ton gegen Ton, in yerschiedenen Intervallen 
mit Torwaltenden Quarten versucht. Diese zweite Gattung Or- 
ganum konnte der Sänger wohl auch nach Einsicht, Geschmack und 
Kegel improvisiren; sollte aber ein bestimmter Tongang ein- für 
allemal beibehalten werden, so musste man ihn natürlich notireu. 



1) Sic enim duobua aut pluribus in uuum canendo modesta duntaxat 
et ooncordi morotitate, qnod suum est hujus meli, videhU naaei tuavem 
ex hac sonorutn commixtiove coneenhnw (a. n. ().), Dieses Dictum ist 
für den ehrwürdigen Hucbald fast SO som Wahrzeichen geworden, wie 
für Cäsar sein Veni, vidi, vici. 

2) Vemmtamen modesta morositate edita, quod suum est maxime pro- 
prium et concordi diligentia procurata, lioitcstissinia erit rantinnis suavitas 
(im Dialog S. IbÖ). Unter morusitas ist uilera Auscheine nach nicht blos 
ZAgem (von Mora), sondern auch nach seiner eigentlichen Bedeutung 
eine gewisse ernste Yerdriesslichkeit, Pedanterie („nimia morositas" bei 
Sneton), am besten gesagt: eine gemessene Gravit&t zu ventehen. 



Frine. 



140 



Die Anfiknge der earop&i8oh>abendUndiaohen Moiik 



Beim PanUel-Organiim war dagegen die besondere Notirung dea- 
selben überflüssig, jeder konnte es nacb der aufbotiiten Prindpal<> 
stimme allein aasfUhren. Diese Unterscheidung wurde spfiter, bei 
bereits namhafi: ansgebildeter Kunst, wichtig. Wurde eine sweite, 
dritte u. s. w. Stimme nnch dem bl<»Rsen Einblicke in das den cantus 
firmus enthaltende Btu li improvisirt, so nannte man es ,.über dem 
Buche singen" (sujnd lihnoii (ayto'e). Die ordentlich ausgearbeitete, 
niedergeschriebene mehrstimmige Composition hiess „die fertige 
Saehe" (res facta) 

Erfinder des Organums ist Huebald auf keinen Fall. Ans 
seinen Worten „wir nennen es gewobntermassen Organum" (not 
assuete Organum vocamus) ist freilich nicht viel zu folgern, „weil 
(wie Kiesewetter bemerkt) Autoren, besonders die Didaktiker, von 
sich gerne, wie die fürstlichen Häupter, in der %-ielfacben Zahl 
sprechen." Aber an einer anderen Stt He sagt Huebald sehr be- 
stimmt: ,,I)ie Consonanz ist die \\ olin)egrUndete und zubammeu- 
klingüude Vermischung zweier Töne, welche nur dann vorhanden 
ist, wenn sw« yerschieden angegebene Töne in einer und derselben 
Modulation ausammentreffen, wie wenn Knaben» und Männerstimmen 
xusammen dasselbe singen, oder auck in dem was sie ge- 
wobntermassen die Organisation nennen" (quod assude 
organizeUumem vocant). Diese wenigen Worte dürften entschei- 
dend sein. Unter den SJingeni hatte hieb also jene Manier gebildet, 
die sie organisiren, das heisst nach Art der Orgel zusaiiiniensingen^), 
nannten. Guido von Arezzo weiss kein Wort von Huebald, al)er 
das Organum in C^uarteu und Quinten kennt er sehr wohl und redet 
davon wie von einer allbekannten Sache. Der schlagendste Beweis, 
dass das Organum sebon su Anfimg des 9. Jabrbunderts, also Tor 
Huebald, etwas allgemein Bekanntes war, liegt darin, dass Scotna 
Erigena davon redet und es mr Erliuterung eines pkQosopkiscben 

1) Res facta idem est quod cantus compositus (Tinctorii Diffinit.). 
Noch deutlicher und ansfDlirlicher erklärt Tinctoris den Unterschied 
zwischen supra libnim canere und res facta in seinem Lilier de arte con- 
trapuucü 2. Buch, Cap. 20. Auch Franchinus Gafor unterscheidet die 
„Organiiirenden" von den „Gomponiatmi*': Qua re sane dozimiii oondnden- 
(lum, foiif r;ipuii(tum divcrsis figuris et speciebus scu elementis, legalium 
tameu mandaturum observatione, posse constitui, quod organizantium atque 
comporitorum novimus arbitrio esse committendum (Mus. pract. HI. 10.). 

2) Bei Johann Cottonius: Ett ergo diajihonia congrua vocum disso- 
nantia, quae ad minus per duos cautantes agitur, ita sicilicet, ut altere 
rectam modulationem teneute alter per alieuos sonos apte circueai et in 
tingolis rmpintionibiu ambo in eadem vooe Tel per diapason eonveniant. 
Qui caneiHii modus vulfrariter oniayium dicitur: eo quod vox Liniuiria 
apte dissonans simxlitvulinem expiitnat instrummtif ^od Organum roca- 
tur. (Gerbert, Script. 2. Bd. S. 263). So erklärt auch du Gange organi- 
ssre „oanere in modum orgsm". Auch de Muris (Speculum VU. 4) 
nagt: quia vox homini» apte concorda&s et dttstmans Boavitatem'e^primit 
instrumenti, ^uod vocant Organum. 



Hucbald von St. Amaud and das Organum. 



141 



Satzes benatst^). Die Entstehung des Organums als Nachahnmng 
der Instrumentalmusik deutet Uucbald selbst in einigen Worten 
flüchtig an, oder wenigstens dass man (is auf Instrumenten anzu- 
wenden pticgo. Das Uiir wird tVoilicli von dem Geheul dieser 
Quinten uikI Quarten zerrissen. ,,Das Or^annin", meint Kiesewetter, 
„müsste schon Uucbald aufgegeben ha heu, wenn er es jemals selbst 
mit eigenen leiblichen Ohren zu hören bekommen hätte, was aber 
(fithvt Kiesewetter sohaUchftft genug fort) der Obere seines Klosters 
bei der Probe*) schon nach dem ersten Versett Teihindert bitte, da 
unter den Pönitenssen nnd Kastei ungen eine so empfindliche In den 
Ordensregeln nicht geoMniU sein konnte/' Dass das Organum je in 
HO strenger Conseqnenz ausgeführt worden, wie es Hucbald theore- 
tisch erläutert , will uns freilich kaum glaublich erschi inen ; aber 
Kemi von Auxerre, Aurelianus Reomensis, Uegino von Prüm rcflen 
davon so bestimmt als von einer täglich geübten Singweise, dass man 
diesen unverwerflichen Zeugnissen die grösste Qewalt anthun muss, 
um im Ofgannm nichts als einen yereinselten barbarischen Mönchs» 
einfall sn erblicken, der niigends ezistirte als im Kopfe seines Er- 
finders. Dass wirklich und wahrhaftig in solcher Weise gesungen 
worden, ist wohl zweifellos. Der eindringliche Quintenklang tönte 
damals den Zuhörern kräftig anregend; sie mochten gerade in dem 
was uns heutzutage unerträLrlich scheint einen eigenen Reiz finden. 
Man könnte fast auf den Gedanken kommen, <lass das Organum 
wirklich eine Pönitenz, eine Ascese für «las Ohr sein sollte, dass 
man dem Reize weltlicher Musik im Kirchengesange etwas Herbes, 
der Sinnlichkeit absolut Widerstreitendes entgegensetsen wollte, so 
wie die damalige bildende Kunst ihre Heiligen „bald mürrisch, bald 



1) . . . ut enim organicum aelos sot diversis qualitatibns et quan- 

titatibns conficitiir dum viritiiii separatimqne eentiuntur, lonjje a se dis- 
crepautibus, intciisiouis et remissionis pruportionibus segrcgutae, dum 
vero sibi invicem coaptantnr secundum certaa rationabilesque artis muiioae 
regnlas per sinyiilos tropos naturalem quamdam dulcctlincm rcddcntibus 
n. s. w. (äcotua Kriffeua, De diviua natura). Das Verdienst auf diese 
hOdist wichtige Stelle suent anfinwfcsam gemacht m haben gebflhrt 
Coussemaker, Hist. de Tharm. du moyen ftge (S. 11). Mau hat das Ol^ 
ganum bis auf Tsidorus Hispalensis zurückdatiren wollen, weil er sagte 
„bannouia est modulatio vucis et coucordautia plurimorum sonurum et 
Goaptatio.** Das ist nichts alt der alte wohlbekannte Begriff von Harmonie. 

2) Kicsewetter's Behanjttiuijr, das Orjraiium fei „uiiin");rli<:li" und dalier 
nie wirklich ausgeführt worden, ist eiue jeuer Liebliugspräsumtionen, die 
zuweilen sich ein Gelehrter in den Kopf setzt nnd sie dann um jeden 
Preis verficht. Seine Autorität hat mich lange bewogen seine Ansicht 
zu theilen; jetzt nach reifster Durch forschtmg der Oriffiiial«|utdl('ii denke 
ich andtT''. Kit'SfWf'tter beruft sich darauf, dass geübte »Sänger an einem 
Versuche das Organum zu singen sclieiterten. Das ist unbegreiflich, 
denn mit festem Vorsätze, (der allci iliiitr'^ dn/u nöthig ist) wird wohl 

Sier Musiker im Stande sein eine gesungene oder gespielte laugsame 
elodie in der Oberquinte mitzusingen. 



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142 



Die AniUnge der eoropftiscb-abendländisohen Maük. 



tiickiflch, immer aber hlMlieh** 1>ildete; aber die Scbriftsteller wiMen, 
wie wir bSrten, nicbt genug von der „SUmigkeit" des Or^anutus /.n 
roden. Das sogenannte „Qiiintiren" galt sogar als allgemeine Be* 
leiehnnng jeder kanstrollen Musik überhaupt: 

sie wissen als viel vom Kirchen regieren, 
als rnftUers esd vom guinUrm 

sagt Sebastian Brant in aeinem Karrenschiff i). In Frankrdch 
brauchte man dasselbe Wort «ijniiifoyir'*. Für den Gesang in 
Quarten wendete man den Ausdruck „diatessaronare" an^. 

Endlich milSStd es denn aber doch einmal geschehen, dnss man 
das H(»rrible einer naturwidrig und hartnäckig fortgesetzten Quarten- 
ridcr (^Miiutentolge cuii>t;ind; unbcgreiiiit h, dass es niclit .sclion früher 
dvv Fall war. Das C^uintiren wurde dann jedenfalls nicbt so ab- 
strakt, wie es die Theorie des Organums lehrte, nicht iu ununter- 
brochenen Parallel gängen angewendet, sondern auf tSai gewisses 
Mass beschrKnkt Der oiganisirende Sänger beruhigte nach swei, 
drei bis vier Quinten das Ohr wieder durch eine daswiscbentretende 
Octavc oder einen Kinklang, auch wohl eine Sexte u. dergl. Diese 
Manier bildete den Uebcrgang zu dem sogenannten Discantus oder 
l)('chant, wie er in Frankreich in Aufnahme kam und der von den 
Schriftstellern sogar als mit dem Organtnn iranz gleichbedeuten«! 
g«'nonunen wird. Pater Martini fand iu eiucui .Missale des 13. .lahr- 
hunderts ein in rotbcu und schwarzen Noten geschriebenes Agnus 
Ddf welches von diesem gemässigten odw modifiairfeen Organum 
eine deutliche Vorstellung gibt^). 




mimdi mi-se - re-re no • bis 



Die Quintenfolgen mochten in solcher Anordnung den harten Ohren 
nicht so übel klingen. So wie m:\u das Ohr gegen jede Quinten- 
folge» auch die berechtigte, zu krankhafter Keizbarkeit verbilden 
kann, so kann man es um kehrt gegen den Missklang ungerecht» 
fertigter Quintparallelen abhärten. 



1) Fol. 206. 

2) Vcr^rl. BumcY 2. Bd. S. Ifif) und ICl. 

3) S. auch Buniey 2. Bd. S. IGö und Forkcl 2. Bd. S. 451. 



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Hucbald von St. Amand und das Oi'ganimi. 



143 



Da Haebald der Kunst des Orgsnisirens snerst enHOint, dürfen 
irir flue Heimat yielleiclit in jenem Nordwestwinkel Enropa's snehen, 

welcher dasn prfiriostinirt war, der Welt eine Reihe berühmter 
Musiker und masikalisclier Theoretiker zu schenken, ja welcher, 
ehe im sechzehnten Jalirlunulort dns Sceptcr an Italien ühorj^inp^, 
fiir die wahre Ueimat aller kunstreichen, insbesondere aller hanno- 
nisch reichen Musik galt. Aber, muss man entgegenhalten, wie 
hätten denn dann die Säuger Karl's des Grossen nöthig gehabt diese 
»,neiie Kunst" erst in Rom su lernen, die sie daheim in nächster 
Naehbaiaehaft gefunden haben wttrden? Was Goido, mehr als ein 
Jahibnndert nach Hnebald, darttber sagt, IXsst wenigstens ericennen, 
dass sie inItalien durchaus bekannt war, ohne dass auf eine flandrische 
Abstammung derselben irgendwie hingedeutet würde. Es kann höchst 
seltsam scheinen, dass die harmonische Kunst, aus der sich später 
das WundcnvUrdigste entwickeln sollte, mit Combinationen anfinj^, 
welche die spätere reifere Einsicht als durchaus f'elilorhafl und widri<^ 
verwerfen musste. Sehr wahr sagt Jul. Braun irgendwo, dass an 
dem, was heutzutage jeder Schulkuabe weiss, Deukerqualen hängen. 
Wir haben nieht Ursache ttber Huebald und seine Zeit an spotten, 
weil wir schon als Lehrlinge yon unsem Heistern hSrten, dass swei 
reine Quinten in gerader Bewegung eine durchaus verbotene Fort- 
schreitung bilden. Huebald bleibt eine ehrwürdige Erscheinung; 
liest man seine Schriften, so macht er durchaus den Eindruck eines 
milden, liclx vollen Greues: „eine Taube ohne Galle" nennt ihn 
seine nialtsdirift. 

Ilucbald's Tractate und Ideen fanden mannigfach in den 
Klöstern Eingang und Nachahmung, besonders, wie es scheint, in 
dem Kloster Reichenau {manastenum Augiente)^ weil die Schriften 
des dortigen Abtes Berne (gest. 1048) sich selbst in einseinen Wen* 
düngen an ihn lehnen. Berne wurde selbst wieder eine Autorität. 
Johannes Cotton erwähnt, dessen Schriften neben jenen des Boe- 
thius und Guido, studirt zu haben. Der dem Kloster Keichcnau 
angehörige Herrn annus Contractus bedient sich sogar neben seiner 
vorhin beschriebenen Notiriincr auch der lliubald'schen Scliliissel- 
schrift (ohne Linien). Dass Hucbald's Schriften doch auch nach 
Italien drangen (wenigstens im Laufe der Zeiten), beweist der Um- 
stand, dass nch Marehettus von Padua auf ihn beruft Die ganse 
grosse Hasse der Traktate musikalischer Mönche, wie fast in jedem 
bedeutenden Kloster gelegentlich einer oder der andere die Biblio- 
thek mit einer tiefgelchrten Schrift dieser Art bereicherte, dreht sich 
ewig in demselben Kreise: Mensur des Monochords, Bationen der 



1) In seinem Lucfdarium nm^icno planae, Tractatus V, Cap. 4: Hanno- 
nia, «t {/&a(d!u« (al.Hugbaldus) refert, est diversarum vocum apta coadunatio. 



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144 



Die Aufiinge der earoplitoh-abendUndischen Musik. 



TonverhlÜtiiiaM, antlieiilische und plagale Modi, «itike Tonaiten, 

Intervalle. 

Mit dem 10. Jahrhunderte endet die von altchristlicher, noch 
antikisiroTiflor Kniist .'il)liHngig gewesene Periode. In <\er Baukunst 
beginnt die Ilcrrsdiatt des rnnifinischen Styls, mu\ wie dieser, wenig- 
Blens in Deutschland, rs licht im |tliautastischen Heiclitlunnc 'riiunn 
gegen Tlairin, Chor gegen ('hör zu stellen, Kirche über Kirche (iu 
der Kiyptenanlago) aufzuführen, wie er im rfaythmischeu Wechsel 
von Sibile nnd Pfeiler eine gans nene Belebung sn gewinnen Ter- 
stand nnd bei festgehaltener Anlage der altchristliclienBasilike diese 
Anlage neu, reich und vielfach gegliedert an rcprodndren wnsete: 
so war fiir die Musik die Zeit gekommen, dass sie bei fes^ehaltener 
Disposition des altehristlithen Gregorianischen Gesanges Stimme 
gegen ^^itiinine, Chor gegen Chor zu stellen, Motiv Uber Motiv zu 
bauen anfing. Es ist kein luUss^iges Parallelisireu, wenn man solche 
analoge Aeusserungen eines tiiul desselben eine Zeit durchdringenden 
Geistes in den Entwickelungsphasen der verschiedenen Künste auf- 
sucht Im ersten Jahrtausend hatte die Musik durch den christlichen 
Kirchengesang eine gans bestimmte Richtung und Firbnng ethalten, 
sie hatte sich allgemach von jeder Verbindung mit antiker Kunst 
thatsficlilich losgelöst und Keime einer zum höchsten Lichte empor- 
drängenden Entwickelnngsfahigkcit gezeigt, üie Keime trieben nnd 
sprosstou, und jetzt kam der Augenblick, dass eine neue, früher gar 
nicht gekannte Macht, die Vi e 1 s t i ni ni i gk e i t , das Zusammenklingen 
tncdirerer Stimmen in jener ,,eintrii(iitigen Entzweiung", welche man 
Harmonie nennt, in das Leben der Musik eingeführt werden sollte. 
Zn den bereits bekannten swm Elementen der Tonkunst, der Melodie 
nttmlieh und dem Rhythmus, gesellte sich jetst vollendend und ab- 
schliessend jenes dritte Element. Damit war der Trennung von der 
antiken Musik das Siegel fUr alle Zeiten aufgedruckt, und wie ftir 
die Welt, so beginnt auch für die Musik mit dem swttten Jahrtausend 
unserer Zeitrechnung eine neue Epoche. 



Guido von Aresso und die Bolmisation* 

Es bt bekannt, dass mit der Erfüllung des ersten Jahrtausends 

der Untergang der Welt en^'artet wurde. Als aber nun das ge- 

fiirclitete Jahr vorüberging und Tage nndNÄchte und Jahreszeiten 

nach wie vor in regelniSssigem AVccbsel einander ablösten, athmete 
die Welt auf; mit der neu gt'>i( li< rti ii Fnitdauer war frische Lebens- 
lust geweckt, die ^icli ganz besundci^ auch in der Pflege der das 
Leben ausschmückenden Künste äus.surte. Prächtige Bauten des 
jetzt seiner reichsten Entwickelnng entgegeneilenden romanischen 



Guido von Aru2zu und die Sohuisation. 



145 



Styles stiegen empor, TielgethUrmte Dome, weiüinfige Kloster- 

anlajren, stolze Kitterburf^en. An der Architektur erstarkte die bil- 
dentle Kunst, sie hob sich von fratzenhaften Zwergen und phan- 
tastischen Unfreheucrn allfremacli in Deutschland bis zu den edcln 
Gestalten der goKIt Tien Pforte zu Freiberg, in Italien bis zu den die 
antike Form und ISchünheit lanj^e vor der Kenaissance in das Leben 
zorückrafenden Arbeiten eines Nicola Pisano. Das ganze Leben 
war ein bewegtes, kritftigeg, anfetrebendeB. In der Beihe der tali- 
Bchen wie der hohenstattfiBchen Kuaer erschienen grossartige ge- 
sehichtlicbe Charaktere; den pipstlichen Thron bestiegen gewaltige 
Kibmer, wie Gregor Yll. nnd Innocena III. Das Auflreten dieser 
grossen KrSftc im Zusammenwirken und Gegeneinanderkampfen er- 
schütterte die Welt. Mit dem 12. Jahrhunderte kam die romantische, 
wunder>auie Zeit der Blüte des Kitterthuraes mit ihren bewegenden 
Mächten, der Tapferkeit, der Liebe und der Religion: eine jener 
Epochen, wo die Poesie lebendig und das Leben poetisch war. 
Religion, Thatendrang nnd ein Hinansstreben in den Wundem 
femer Lllnder verbanden die christlich^abendlXndisehen Völker au 
der grossen Unternehmung der KreuzzUge; hier lernten sie einander 
erst kennen, dag GefUbl graMinsamen Glaubens, gemeinsamer, wenn 
auch im Einzelnen noch so verschiedener Sitte durchdrang sie hier 
zum crstenmale mit voller LeluMidigkeit. Der Horizont der Welt- 
anschauung erwi'iterte sich niiichtig: fremde Länder und Meere, 
die Bilder fremder Völker und Sitten rollten sich vor den kämpfenden 
und pilgernden Abenteurern auf; die KreuzzUge sind zugleich die 
Uiaa nnd die Odyssee der chrisdichen Welt. Mit den reichen Gtttemi 
insbesondere jenen des Ostens, die man kennen gelernt und welehe 
der Handel der Pisaner, Genuesen und Venezianer herbeiziischafTon 
sich angelegen sein Hess, gestaltete sich das Leben reich, bunt und 
freudig. Der Kunstsinn der Zeit bewahrte sich selbst in Weberei, 
Stickerei und Schmnckwerk jeder Art, in köstlichem Hausrathe; 
malerische reiche Kleidung erhöhte die Würde und den Keiz der 
persönlichen Erscheinung. Kitterzüge, Feste, prächtige Aui^züge 
entfalteten erst recht all diesen Glanz und Reichthum. In so poeti- 
•eher Zeit waren Dichter und Silnger wie natürlich Hauittpersonen, 
und wenn sie flir edle geistige Unterhaltung thitig waren, so dienten 
8pielleute, Gaukler, TKnser und Possenreiiser der Ergötzung und 
Zerstreuung. Alles aber, was da auftauchte, trug die volle Farbe 
des Lebens. Wie sehr wäre nicht eine voll ausgebildete, aller Kunst- 
mittel niadititre Musik willkommen gewesen! Wenn gerade damals 
die Architektur, deren Werke gleich jenen der Musik nicht vor- 
stellen, sondern sind, einen Indien Formen- und Schönheitssiun 
entwickelte: so lag auf der Musik einstwrilen die Last der Arbeit, 
sich aus rohen Anfitngen herauszubilden, noch viel zu schwer, als 
dass sie mit den anderen Künsten bitte Schritt halten und sich lur 



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146 



Die Anfänge der europäiscli-abendl&ndischen Musik. 



freien Schönheit erheben können. Den harten, fassbaren Stein ver- 
stand diese kra ft ige Zeit dnrdi kräftifre SchlSge mit Hammer und 
Meissel in linnnniiischer Form zu gestalten, aus ihm Bchwungv«>llc8 
Laubwerk aufblühen zti lassen und den ursprünglich so derben, 
schwer lastenden romanischen Bau zu so prächtigen, als fein durch- 
gebildeten Foimen su veredeln; aber das Lnftgespinnst der rer^ 
webenden Töne vemiocbte sie nicbt sn erfassen, nm es som banne* 
niscben Wecbselspiele, zum reinen Zusammenklange zu verbinden. 
Der poetische Drang der Zeit, der ScbSnbeitssinn, das Verlangen 
nach wirklichem (lenusse konnte von dem hier Gebotenen nicht 
befriedigt werden. Da mit der Kunstmusik einstweilen nichts anzu- 
fangen war, so machte sich der Dichtersinn der Zeit als lyrisclier 
Gesang Luft, wu AVt>rt und Melodie vereint erklangen, wo nicht 
die Schulrcgel des Tonlehrcrs, nicht die profunde Wissenschaft des 
Höncbes dareinanreden batten, sondern wo nnr der Drang des Ge- 
mtttbes das Wort des Liebes- oder Frttblingsliedes gleicb mit dem 
recbten dasn gebörigen Tone fand. 

£be wir aber auf den bunt blttbenden Garten dieser Dicht- 
und Gesangeskunst, des Troubadour- und Minnegesanges, einen 
Blick werfen, müssen wir uns noch einmal in das Düster von Kloster- 
gängeu und Mönchszellen verlieren ; denn von ihnen ging mit dem 
Beginne des neuen Jahrtausends einer der grossen Ei)uchenmäuncr 
der Tonkunst aus, der Bcnedictiuermöuch Guido von Arezzo 
(Quido Aretmu) ans dem Kloster Pomposa bei Bavenna. Sein Anf* 
treten wurde dt die Entwiekelnng der Münk folgenroicber als je 
das Auftreten eines Lehrers oder Meisters vor ihm; mit Recbt nannte 
man seinen Namen neben dem des Boetbins^) und der Iftfnebswitn 
pries ibn in den Versen: 

Hacc fiiixU Guido, distinxit et ordine diffuo 

INIiisica (jiK) vixit vivo, morieiito refrixit/*) 

Die ganze Mühe, welche das Mittelalter an die Bearbeitung des 
Tonstoffes wendete, wird insgemein auf seinen Namen zurück- 
geflibrt: Guido von Areao ist gleichsam ein Abstractum, ein mythi- 
sches Wesen geworden. Man hat auf diesen „EbrensebKdel" alle 
möglichen Kronen gehXnft. Guido hat naeh den stets nachgesagten 
Ueberliefemngen Alles erfunden: die Notenschrift, das Monochord, 
dasOlavicr, die Holmisation, den Contrapunkt und endlich die Musik 
in Pnusch und Bogen : Beatus Guido inventor mufdcae" steht unter 
einem (aii^'cbliclicn i lüldnisse Guido's, das zu Arezzo gezeigt wird. 
Guido, wie er uns in seiueu ISchrifteu entgegentritt, war ein Manu 

1) Johannes Cotton sagt: Dominus Guido, qnem postBoetium nos in 
hsc arteplurimum valuiss»« fattniur (bei Gcrbort S(riptorcs2. Bd. S. 235), 

2) ^ngt das nicht wiu die berühmte Grabschnft Kaphaers? 

. . . timoit quo sospite vinoi 
remm magna psrena, et moriente mori. 



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Guido von Arezzo oud die Solmisation. 147 



▼on TOTwiefend prakti«clieiii Sinn nnd angeborenem entBchiedenen 
Lehrtalent; er nahm Aergemiss an der Unbüliolfenlieit der Sing- 
lehrer und SSnger, welche bei unendlicher Mühe sehr wenig lei- 
steten, und er Hess sie solches tiihlen. Diese nahmen es ihm ihrerseits* 
sehr übel, dass er der Klii«x('rc war und es oftVn zeigte. So hatte 
er nicht wenig Verdrutis und Verfolgung auszustehen. In seinen 
Werken ist daher auch jene Gereiztheit zu spüren, die unter solchen 
Umetltnden Charaktere seiner Art an bekerriehen pflegt; seine 
Schriften stehen bestindiff in Fechterposition nnd wimmeln von 
AnsfiÜlen nnd Seitenblicken oder nehmen geradezu einen Ton der Po- 
lemik an, der ^e^en denmllden Lohroi-ton llucbald's sehr COtttrastirt. 

Zur Zeit Guido's war musikalische Ausbildung schon -weit ver- 
breitet; Musikk'hrer aus Italien, Griechenland, Frankreich und 
Deutschland waren gcsch.'itzt und gesucht^). Von der Unwissenheit 
vieler davon gibt Guido starke Proben, wie z. B. dass sie Grundton 
und C^uin^e für gleichbedeutend nahmeu. Dazu waren die Sänger 
in hohem Grade von ihrer eigenen VortrefHichkeit eingenommen, 
obsdion ihr Unterricht gana nnd gar nngentlgend an heissen ver- 
diente. ,,Wenn die kleinen Knaben," sagt Guido, „es einmal dahin 
gebracht haben das Psalter an lesen, so vermögen sie es auch 
mit allen andern Büchern, und Landleute verstehen sich auf ihre 
Arbeit ein- ftir allemal; wer nur einen einzigen Weinstock be- 
schnitten, einmal ein Bä'umchen gepfliinzt oder einen Esel beladen 
hat, wird es ein andemuil \\ieder so oder audi wohl noch besser 
machen; diese bewundernswürdigen Singemeister aber und ihre 
SehlQer mögen hundert Jahre lang Tag ftlr Tag singen, sie 
werden dennoch ohne Unterweisung auch nicht die kleinsten Anti- 
phone herausbringen, wobei sie eine Zeit mit ihrer Singerei verderben, 
welche hinreichen wttrde alle heiligen und weltlidiou Schriften voll- 
ständig kminen tu lernen" ^ ; wer es aber nidit dahin gebracht hat, 
dass er ,, einen neuen Gesang fiisclnvpg und riclitig singt, mit welcher 
Stirn kann er sich einen MuBikus oder Sänger au nennen wagen' '?^) 

1) Vidi enim xnultos aGutissimos pliilosophos, qui pro studio hujus artis 
nOD tolnm Italos, sed etiam Gallos nt(|iie (icnnaiios, ijisosquc ctiam (iraecos 
qnaesivore magistros (Epist. ml Mich. Mon., Itci GerbertSGriptore«ILS.46)^ 

2) Hegulae de iguuto cautu a. a. U. S. 34. 

^ HicrologuB (Proloffns) a. a. O. S. 8. Guido ftngt seine venifiBirbe 

musikalische Theorie mit den AVintcn an: 

Musicorum et cautorum magua est distantia: 
Isti diennt, iUi ■dunt, qaae oomponit ma«!ea| 
Kam qui ueit, qnod non s i |>it , diffinitur besba. 

Ceterum tonnnti« vneis si laudent acinnina, 
Superahit uhilouieluni vel vocalis asina u. s. w. 
Diese Stelle, welche in ihrer naiven I'nliöflichkeit einen ungemein gemüth« 
liehen Eiiulnick macht, wiid v(in diu Xadifdlgcni Guido's ^vhr oft citirt. 
£in offenbar damit in Zueammeuhaug stehendes Adagium sind zwei Verse, 
die ich io dem Traktat des S. de jSeelsndia und fiberetastimraend in einer 

10* 



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148 



Die Aufilnge der «i^rupilisch-abeiidländiseliGn Musik. 



Bm lolehein Stande der t)inge konnte natürlich der Kirchenge* 

sang nicht gut gedeihen: ,,wenn der Gottesdienst gefeiert wird, 
klingt OS oft, nicht als oh wir Gott lobten, sondem als seien 
wir untereiiiiiüder in Zank geratheu" 1). 

Ein besbcrer, rascher und sicher zum Ziele führender l'ntcr- 
richt that Noth. Guido machte ihn zu Bciner Lebensaufgabe: „^er 
Weg der Philosophen ist nicht der meine**, sagte er> „ich kümmere 
mich nur nm dasjenige, was der Kirche ntttst und unsere Kleinen 
(die Schttler) vorwärts bringt"^). Er begann den Knaben Musik 
BU lehren 3) und hatte die Genugthnung sie durch seine Lehr- 
methode dahin zu bringen, dans sie nach Monatsfrist ihnen unbe- 
kannt gewesene Gesänpre sicher vom Blatte santren zur trrösstcn Ver- 
wuudening aller Hörer*), aber auch zum Nciili' und Aerger der 
Meister und Klostergcnosscn, welche Guido mündlich so wenig 
schonen mochte, als er es schriftlich thut. Zwar erklärte er, dass er 
lieh um Neider wenig kümmere'^), aher die Kdnche von Pompos* 
wnetten es, und iwar schwerlich durch ehrliche Mittel, dahin in 
bringen, dass er, wenn nicht förmlich aus dem Kloster gejagt, so doch 
hinatis gedrängt wurde. Er vergleicht sich selbst mit dem Künstler, 
der für seine Erfindung eines nicht zerbrechlichen', hämmerbaren 
Glases statt der verdienten Belohnunp: den Tod durch IIenkcr>hand 
zu finden das Unglück hatte ^). Guido liess sicli nicht irre machen, 
und wahrend er sich als Verbannter an fernen Grenzen') herum- 
trieb, aher auch an Bischof Theodald von Arezzo einen Schtttaer 
und GSnner fand, verfolgte er rastlos sein Ziel. Man äeht, der 
mythische Guido bekommt bei nitherer Bekanntschaft sehr mensch- 
liche Züge, aber tüchtige und ehrenwerthe. Eine Taube ohne Galle, 
wie der alte Hucbald, war er freilich nicht; er war ein tüchtiger 
Streiter, der für das als gut Erkannte mannhaft und rückhaltslos 
einstand. Guido tröstete sich, er werde mit dem Apostel sagen 



andern Handschrift des 14. Jahrhundcrs (wo ^'w quer ühcr eine Zeichnung 
der Guidouischen Hand geschrieben waren) gt luudcii liabe: 
Hcstia, non eaator, qui non canit arte, sed nsn, 
Kt non vox cantorem facit, sed litis docomentum. 



¥| . . . id Bolnm proonrans, qnod eoolesiasticae prosit ntilitatt, nostris- 
que sobveniat parvnUs (Epist. ad Tcdaldnm Episcopum a. a. O. S. 

9) . . . nairu]uc postquam hoc argumentum ooepi pueris tradero etc. 
(ad Midi. MuQ. a. a. 0. S. 45). 

4) Tandem adftut mihi divina gratia, et qnidam eornrn imitatiouo chor- 
dae, nostrarum notarum usu excrcitati, ante uniun mensis spatio invisos 
et inauditos oantus ita primo intuitu indubitanter oautabaut, ut maximum 
speetaeolum pturimis praeheretor (Microlog. in Prologo 8. 8) 

5) . . . non curans de his, si quorundam animus livescat invidia, dum 
quonmdam proficiat disciplina. (Micrologus in Frologo.) 

ö) S. 43 de ign. cantu ad Mich. mou. 

7) Inda est qnod me vides prolixis finihus enulatum (a. a. 0.). 




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Quido TOD Areuo and die Solmisation. 



149 



dfirfen: t^eh habe einen guten Kampf gekämpft, meine Laufbebn 
durehmesMi, den Glanben bewaliTt, nnd so ist mir die Krone der 

(•erechtigkeit aufbewahli.*' Doch endlich kamen ihm „wie dem 
Schiffer nach vielen Stürmen die ersehnten heiteren 'l'age und glttek- 
liehe Fnliii" ^). Der Ruf von den glänzenden Resultaten seiner 
Sinfrschule drang zu Papst .Johann XIX. ( \ 024 — 1 ().S.S\ der den noch 
immer Exilirton durch drei liuten nach Horn einladen liess, wohin 
dieser auch in Gesellschafl eines Abtes (irunwald und des Dom- 
propstes Peter von Arezzo reiste. Der Papst liess sich von ihm 
umBtXndlieh Uber alles beiiehten, blStterte in dem ihm ttbeneiehten 
Antiphonar ,fWie in einem Wanderweike" hin und her, „las wieder- 
holt die vorangestellten Regeln und stand nicht eher von seinem 
Sitae auf, bis er einen ihm anbekannt gewesenen Vern richtig sang 
lind so an sich seihst erfuhr, was er den Andern kaum hatte glauben 
wollen." So hatte sich Guido's Verdienst unter Umstünden be- 
währt, die gar nicht gUnstiger sein konnten. Unglücklicherweise 
vertmg er das römische Klima nicht: es war eben ein heisser Sommer, 
er erkrankte bedenklich und musste Rom verlassen, doch nicht ohne 
dem Papste an Teirsprechen, dass er sich anr Winteneit wieder in 
Rom mnfinden nnd der Geistlichkeit gründlichen Unterricht erthetlen 
werde. Vom Oberhanpte der Kirche so äusserst ehrenvoll anf- 
genonmien, hielt es Guido an der Zieit sich dem Abte Guido v« n 
Pomposa vorzustellen. Was zu em-arten war, geschah: der Abt 
besah das Antiphonar ebenfalls und Mar, wie (!ni<lo mit naiver 
Treuherzigkeit erzählt, diesmal sogleicli von dessen \'ortrefflichkeit 
überzeugt und bereute es, je den (Jegneru (iuido's (iehor gegeben 
zu haben. Aus diesen seinen Andeutungen ist leicht zu errathen 
was man aar Handhabe genommen hatte, um ihn zu beseitigen; die 
Handle hatten ohne Zweifbi sein Antiphonar als eine höchst geftthr- 
UcheNenemng verketaert. Einen Mann, den der Papst so ans- 
gezeichnet, musste man nothwendig wieder in's Kloster bekommen; 
der Abt forderte ihn dringend dazu auf: er (Guido) habe zwar Aus- 
sicht auf ein Bisthum, aber für ihn, den Mönch, sei das Kloster 
passender, zumal Pomposa, wo er ganz den dort durch des Abtes 
Bemühung florirenden Studien leben könne u. s. w. Hei dem gnt- 
mUthigen Guido, der alles dieses an seinen Freund Michael im Kloster 
Pomposa schreibt nnd seines ehemaligen Verfolgers ohne eine Spur 
von Bitterkeit gedenkt, brauchte es keiner grossen Uebenrednng; 
er erinnerte sieh, „das die meisten Bischöfe sich von Simonie nicht 
rein zu halten wissen," und aus gewissenhafter Hesorgniss wie aus 
Gehorsam gegen seinen Abt beschlos.s er ,,als Mönch mit Mönchen 
zu leben und «las Kloster durch seine BemühuiiL'^en in Kliren zu 
bringen.'^ Zugleich erfahren wir, dass er im Kloster doch auch 

\) Post muhuH temi^estutes n diit diu optata M-reidtas (a. a. S. 44) 



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150 



Die Anfüge d«r europftiick-abflBdlftiidUchen Mnsik. 



seine Prosdyten hatte, aiiBser Bruder Michael auch den Prior 
Martin, seinen „besten Mitarbeiter,** und den Bruder Petrus, den er 

„mit seiner Milch genKhrt" und der jetzt „statt Weines ans goldenen 
Bechern ein aVischeulicIioH EBsiggemisch trinken mttsse/* Dieses 
naive Selb stgetuhl drückt Giiitlo so trou]ipr/i«2^ ans wie alles andere. 
Vermuthlich ist er tlanu nach Poinposa zuriickgckt'hrt und nia;^ dort 
der treffliche Mann seine Tage in nngetriibtem Frieden liescidosseu 
haben. Sein Exil hatte wenigstens die guten Erfolge, dass Giuido'a 
Geschicklichkeit als Lehrer nicht auf sein heimisches Klostw be* 
schrSnkt btieb i). Er wurde ein Mann des Volkes, und weil er es 
wurde, hat ihm die Volksstimme alle mtf^lichen Ehren bis auf den 
heutigen Tag zngedacht; er ist der einzige popnlär gewordene 3Iu- 
siker des frühen Mittelalters. Die gelehrten Mönchstraktate, in 
fremdem Tdiom,.voll dunkh^r, Tiefsinnigkeit, voll fremder Theorien, 
wanderten entweder ans der Klosterzelle des Verfassers in die 
Klostcrbildiothck oder luichstens anch noch in die Bibliotheken 
einiger anderer Klöster, wo sie noch jetzt die Jland des nachsnchen- 
deu Sammlers zuweilen aufzustöbern und gleich irgend einem ver> 
wunderlichen vorweltlichen GesehOpf an*s Lieht heraussuholen das 
Glnck hat. Meist dedicirte der Verfasser seine gelehrten Werke 
irgend einem vorgesetzten Abte oder Bischof, der gleich in der Vor- 
rede mit eben so viel Demuth als frommer Salbung angeredet und be- 
grUsst wurde *^). Guido ist in seinen Traktaten freilich auch ein Mann 
der prauen Theorie, wie alle Musikgelehrten seiner Zeit: aber er lehrte 
seine Knaben in der \'olkss])vachc was ihnen fassHch und was für sie 
brauchliar sein konnte, er übte ihr (ieliör, er lehrte sie nach sicheren 
Kennzeichen unterscheiden, wo der Schritt eines halben und wohin 
jener eines ganzen Tones gehöre; er schrieb die Gesänge mit einer 
Notirung, die an das GedXchtniss des Lehrlings keine masslosen 
Anforderungen stellte, wie die bisherige Notirungsweise, und die 



1) Die Ersfthlang, als soi (ruido auch nach Deutschland gekommen 

imd pf'i insl)r>sondere vom Hrzbisdiof Hermann nach Bremen biTufcn 
worden, um doi*t den Gesang zu regehi, hat Augeloni als Miirchen nach- 
gewiesen. Näheres darflber, so wie über Verwechselang Guido's von Aresso 

mit jenem Guido Au^ensis s. in Kiesewetter*8 Monographie nGuido von 

Arezzo, sein Leben und Wirken" S. 9. 

2) AnrelianuB Keompnsis wiilniet sein Bucli dem Archicaiitor und künf- 
tigen BrsbiMdlofe Benihartl unh r iiljeraus demüthig-cn Bitten um Ver- 
zeihuncr, welche so sehr den Ausdrm k mifii-luMichelter Bekünimerniss und 
Seelenangst au sich tragen, dass mau sich noch jetzt einer mitleidigen 
Theilnahme nicht erwehren kann. Regino von PrOm beehrt mit seinem 
Buche den Erzbischof Rathbo l von Trier, Berno von Reichenau den Erz- 
biscliof Perejjrin(PdigrinuH) voii Iv«')ln, Arilx) den Erzbiachof EUenhard von 
Freisiug, Oottou einen englischen Al)t Fulgentius, Guido von Auge (in der 
Normandie) den Abt Wilhelm von Kinval in England. Auch Guido von 
Arezzo macht von dieser fast allgenieinoji Sitte keine Ausnahme und widmet 
seinen Microlog seinem Wohlthiiter, dem Bischof Thcudaidus von Arezzo 



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Guido ¥0& Arezzo und die Solmisation. 



151 



sieh mit weniger Uebting leieht wegleien liesa. Die Unterriehts- 
weiie Guido's iSsst deh aas seinen allerdings ma andeutenden 

Worten einigermassen errathen. »«Wer unsere Lehre begehrt," 
fiingt Guido seinen Microlog an, „lerne einige mit unseren Noten 
nieder«^escliriebene Gesänfj^e, llljo die Hand am Monochord und 
iilM-rdenke Heissig die Kegeln." »,L)a der Gesang aus wenigen Inter- 
vallen (claiisitUs) besteht, so ist es höclist nützlich sie dem Ge- 
dächtnisse genau einzuprägen, bis man sie im Singen vollständig 
erkennt und nnterseheidet." Guido lehrte seine Sehttler die Ttfne 
und Intervalle nach dem Monochord kennen, dessen Elrfinder er 
allerdings nicht ist, da es nicht allein bei Boethius, sondern auch 
bei den musikalischen Mönchen vor Ghiido (Hucbald, Oddo u. s. w.) 
eine so grosse Holle spielt, dass man wohl sagen darf, dass das 
Gebot, das einst Pytha'joras seinen antiken Ordensbrüdern gegeben, 
auch noch von di-n christlichen Ordensbrüdern respectirt wurde. 
Guido's iSkala umt'aaste einundzwanzig Töne: 

„Dieses sind die Noten des Monochords," sagt er. Vorerst wird 
das r ((lamma) gesetzt, welches die Neuern beigefügt haben." 
Dieser Zusatzton war mehr als ein Jahrhundert vor Guido bekannt 
und gebrXnchlich (wenn auch nicht allgemein), da schon Hucbald 
ein eigenes Tonseichen fUr ihn bestimmt und ihn Arehoos ffravis 
nennt Man hat dieses Gamma lange auf Rechnung Guido^s gesetst 
(trots seiner ausdrücklichen Gegenversicherung), ja Mattheson findet 
darin eine Anspielung, ,,weil des Aretini Vorname (iuido gewesen 
nndhiemit sidchesNaniensGedächtnusshat j^estifTtet werden sollen"*), 
wogegen Marchcttns de Padua und nach ihm Glarean und Printz 
von Waldthun» meint, es sei diest^s Gamma den Griechen zur Ehre 
gesetst worden als den wahren und ersten Lehrern der Kunst und 
Wissenschaft*). Aber der wahre Grund ist, dass man in den höheren 
Octaven bereits ein Q und g hatte und dabei; Ar den gleichlautenden 
tiefsten Ton den griechischen analogen Buchstaben nehmen musste'). 



1) Neueröffnetes Orchester S. 290. Am bequemsten macht < p su li Elias 
Salomunis (Ende 13. Jahrb.), er sagt: quia ita placuit primis inveutoribuB, 
majoribas nostris (Musica cap. III). 

2) Sed (}ttare Gamma et non Alpha, quae est prima litera Alphabeti Grse- 
corum? Dicimus: eo quod Gamma est jiriiiia litera, qua descril>itur oonim 
nomen(Marchettide Padua, Lucidarium musicacplauac,Tractatus IX. Ca]).!.) 
. . . nempe ut band immemores essemns, hanc diseiplinam, ut alias omnes 
aGraecise-!se(fTlaroanus,Dodecachordon I.l). „Dem ersten, nftmlich dem .-1, 
hat er das griechische /' vorgesetzt, damit er andeutete, dass die Griechen die 
Erfinder der Musik gewesen." . . . „Zwar scyn etliche die da wollen, dass er 
mit dem r ut, gleichsam als hiesse es Gut oder Guido, seinen Namen hebe 
wollen ausdrücken" (Printz, Edle Sing- und Klinfjknnst S. lOG). 

3) Daher singt ein alter Tractat Ars nmsica, der (s. Buruey 2. Bd. S. 129) 



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152 Die Anfänge der enropäisch- abendländischen Musik. 



Unser Ausdruck ,,Gamine" für „Tonleiter** sdireibt sich davon her. 
Die Töne, zu deren Bezeichnung die grossen latcinischtMi Buch- 
Btalx'ii (li<'n«'n, nennt Guido tiefe (gfaves)^ die mit den kleinen 
latt'inisi hen Butlistaben bezeiclinettMi hohe (arutat'), die fünf mit 
Doppelbuchstaben bezeichneten hei>üen überhoch {superacut ae). 
„Manche schelten sie überflüssig, wir wollen aber lieber Ueberfluss 
haben als Mangel leiden,'* meint Guido. In der Oetave der hohen 
nnd unter den ttberhohen wird das B in das runde und das quadrate 
unterschieden: „das runde fr« ^ aussergewöhnliche ist, 
nennen sie auch das hinzugefügte (adjtinctum) oder weiche fmoüe)\ 
man liat es deswegen beigetVigt, weil F mit der von ihm um einen 
Tritonus entforntcn Quarte Jj übereinzustimmen nicht vermochte; 
beide aber, b und J, dürfen in derselben musikalischen 
Phrase {nemna) nicht vorkommen", „so wenig als am Hinnnel 
zugleich die Zeichen des Widders und der Wage funkejn können," 
bemerkt dasu der stets bilder- und gleichnissrriche Aribo^). Also 
strenge Biatonik; im ungehörigen Gebrauche dieser zwei TOne, im 
widrigen Zusammenstossen derselben erblicken die späteren Lehrer 
den „Teufel der Musik", vor dem ll.irmonie und Wohlklang flieht. 
„Dieses weiche 6," fahrt Guido fort, ,, benutzen wir zumeist in den 
GesHugen, die von F oder / ihren Ausgang nelnnon; G gehört (als 
Qarte) zum ersten (authentischen) Ton, a zum zweiten, h aber zum 
ilritteu; daher es viele «rar nicht erwähnen. Willst du das weiche b 
vermeiden, so stimme die Neume, in der es vorkommt, so {neumas 
iia tempera)t dass dn statt F, 0, a 6 Tielmehr Gal^e habest** Ein 
bemerkenswerlhes Seitenstttck au dieser Tran^rition erwtthnt Guido 
an einer anderen Stelle. Es sei ütr im Gesänge Geübte sehr nUts- 
lieh denselben Gesang nach den vier (Kirchen-) Tonarten zu ver^ 
findem {variare) und Töne und Ilalbtöne jedesmal dort zu singen, 
wo sie nach der Tonart hingehören. Er erläutert es durch jenes 
schon aus Hucbald bekannte Tu patris sempitenius es fiUus: 

LTonJ) FQQQQOaF'ED 

2. Q a a a a a \ 0 ^ 

3. „ F aj^^ ^ ti aG F 

4. „ O jj^eceeed^^aG 

den Gerbertus Scholasticus zum Verfasser liat und sich in der Bawlin- 
sou'schcu Manuscriptensammluug zu Oxford betindet: 

Oamma in primia jKMita 

Quibusdam est incognita, 

Nam /' graecum nomine 

Non invenitur iu A B C. 
Auch Abt Oddo (im Dialog) meint: qnae (Utters) quoniam raro est in 
ustt a multus non hulM-fur. 

1). . . et inter b at^ uulla ait consuuantia patet profccto, quod illae duao 
Uterseiint pro nno disorimine. niamm Hterarum neomse nnnqnam in uaum 



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Quido von Areno und die SoUniMtioB. 153 

(Von a aus wUrde der Gesuiig wieder dem ersten, um eine Quinte 

tieferen gleichkliuf^end a c d d d d d e c 5 «•) Uiese starr diatonische 
Umsetzung ist eine wirkliclic Veränderung des Mutivs, wKhrend 
jene andere (zur Vermeidung des runden b) keine ist^ sondern 
nur eine genaue Wiederholung des Gesangs um eine Tonstufe höher. 
Beide aber nebmen auf die Zwischenstafen der normaleii Tonreihe 

von bis ^ (nämlich gis, eis, dis u. s. w.) auf die llalbtöne, welche 
möglich sind, aber ausserljalb des Systems liegiMi, keine 
KUcksicht. ,, Es gibt Manche/* sagt Guido, welche stritt der kleinen 
Terz nur einen Ton nehmen: c. B. im Gesänge diffusa est gratia 
steigen Viele, da in F ansufangen ist, um einen gansen Ton herab 
(statt nach der kleinen Tem D naeh Es), wo doch vor F ein 
Ganston nicht zu finden ist (cum ante F (onus non sit) — und so 
kommt auch das £ndc dahin, wo kein Ton existirt (ubi nulla 
VCX est).^^ Dagegen konnte kein Bedenken entgegenstehen, dass 
man, eben so gut wie der Gesang von a aus mit jenem von D aus 
identisch wurde, auch von einer andern Stufe aus anfangen mochte, 
aber die Halbtöne genau an die rechte Stelle zu setzen bedacht war. 
Man verständigte sich Uber den Ton, in dem man singen wollte ; es 
kam nicht auf die absolute TonhQhe, sondern auf die genaue Ein- 
haltung derselben Intenrallsehritte auf beliebiger Grundlage, ins- 
besondere auch darauf an die zwei Halbtöne der allein angelassenen 
diatonischen Skala an ihre gehörigen Stellen zn setzen, worin ja das 
charakteristische UnterscheidungsiMchen der Kirchentonarten lag. 

Indessen blieb die Skala P — ^, wie man sie sich auf dem 

Honochord, als dem Fundament aller Musik, durch die vorge- 

schricbcue Theilung der Saite versinnlichte, doch die eigentliche 
Grundskala, und man empfand die Transposition sehr wohl als 
solche. ,,Wenn du," sagt Franchinus (iafor, ,,das tiefe H [Cvii gran ) 
um einen Halbton tiefer nimmst, so nuisst du die Tonreihe auf 
einem hinzugefügten F, einem unter das Gamma nieder- 
gedruckten Ganzton anfangen, daher man solche Musik füglich 
die hinzugefügte (acguisita) nennen sollte'*^). Erhöht man dagegen 
im Systeme der Qraves das F um einen halben Ton (in Fia), so nimmt 
die Sechstonreihe (das Hexachord) mit Ä statt mit C ihren Anfang*). 

conveniunt, sicut libra et aries pnriter non videntur . . . consurgens aries 
Ubram, libra vellera mergit (bei Gerbert Script. 2. Bd. S. 209). 

1) Diese tieferen TOne unterhalb des Gamm« soll (nach der Annbe 
Adams von Fulda) zuerst der berühmte Wilhclni Dufu N . zu Ende des 14.^Mir- 
hundcrta, angewendet haben. »S. hei Gerbert Script. Bd. 3 S. 350. 

2) Indo, si in E-la-tni gravcn» i)erniutuvenswuiu /'a, deponetur /(»majore 
lemitonio in grave (das E4affa oder gensaut fa fiehm)^ eajoM eiacht ruum 

in t| mi giavem squiret exordinm (BCß^F O). Qqod si in Cfa ut grarem 

at re ml fft $ol I» 



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154 Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik. 

Pietro Aron warnt die Yonteher der SingchSre, me. sollen nicbt 
dtireli unvorsichtiges Transpomren der OesXnge dem begleiten- 
den Orgelspieler außzuruhren zumuthen, woftir seiner Orgel die 
entsprechenden Töne fehlen*). Das Alles fallt freilich in weit spätere 
Zeit. Durch die finp^irtfii Skalen lernten allinnlit^ die Sän<rer die 
Zw ihrlifiitöiu; nacli dem (itdiör wohl untersclieid»'!i und sie rait 
der Stimme riilitifji; hervorbringen. Die dritte authentische Tonart 
musste ihnen die Ueberzeugung verschaffen, dass das Ohr von einem 
unterhalben Tone des Gmndtones (dem Subsemitoninm Modi oder 
Leiteton) bei weitem mehr befriedigt werde als durch einen Gans- 
ZV» ppnnntaveris in wi (f. in fis) per tntnutuni innjoris semitonii in ncntum, 
exachordum hujusmodi in A re initium aisuuiet. ^uum autem in 0^ mi gra- 
vem permutaveris fiii in /a (t| in B) per trantitnm mqoris semitoiiii m grave, 
«cachorduni ipsuni inoipies in actjuisita Ffaut, tono sub r depressa, tpiare 
non incongruun» est, vocmii liujusmodi considerationeni Afufficam acquisitam 
vocitarc (Francliinus Gafur, I\lus. pract. Iii. i'M). Das sogenannte natür- 
l icfee Hexachor d, wie es die Sofankation mumte, mniaist £e grosse Sexte 

CDEFil A. Wird nun HiaB emiedrigti so mois das analoge Heaca^ 

ttl M ai fm »Ol i» 

' vi ^ 
F '* 

cbord sein: p r A B C D. Bei Erhöhung des F in Fi» wird als SUmmton 

ut re mi fa ao i« 

natürlidi A genommen werden müssen, weil letsteres eine grosae Sexte tiefer 
li^ als Ft9\ flbe rdies wird aber (was Franohinus fibergiAt) anch C eihöht 

VI. 

werden müssen: A II Cis D E Fis, Aron gibt in seinem Lnoidario (VI. Bach 

nt re mi fa lol 1« 

Cap. 6 dcl modo di procedere con sei siUabc accidentali nel stromento dd 
organo) die Transpositionen dieses Hexachords in Notenschrift 

A H 1) 




ut re nii i'a sol la 

und so weiter. Solche Weitläufigkeiten hingen sich an Sachen, die uns heut- 
zutage selbstverständlich scheinen. Das Niili«>n' ül)er die Bedeatnng der 
Sylben ut re mi fa Bol la weiterhin bei Darstellung der Lehre von der 
bolmisatiou. 

1) Maestri di Cappella: . . . che quando aleana volta aviene, die ne 

loro cori ritrovano qualche conconto coniposto regidariiumto sopra Tsssto 
overo sopra Tottavo tono, il quäle lor parva, che loro sia iucommodo fl 
8UO ascenderc, essi non deono per accomodarse discomodare il loro suo- 
natore delT organo con l'argli a sapere, che per Inro commodita a voglio 
rimovere dal sesto tuono la corda di ^ et colloearlo un tuono piu ba^so, 
il quäle tuono nascera in E ma col segno dcl B inolle . . . questi tali musict 
solo attendono alla loro commodita sensa considerar quelle che l'organista 
puo Operare. — Die Orgeln hatten nilmlich die Tasten />(.s r^is, aber nicht 
Es und As. Wenn also die Sänger den Accord Es (r B angaben, musste 
der Orgler begleiten Dis Q S, wo\m das Dts nicht rein stimmte. Die 



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Chiido von Arauo nnd die Sobnintioo. 155 

ton, ja ihn bei TouBchlUssen dringend begehre. Es setzt sich daher 
im Laufe der Zeit die Uebung fest, auch s. B. im eisten Kireben- 
tone bei Scblttssen itatt des in*der Skala befindlichen C das fremde, 
nur ans einer ün^patm Skala herüberzuholende Ois ansngeben. 

Dieses und Khnliclics Einmischen fromdor Töne in die T'nnc, ,,der 
Hand'* hiess, da sie aus fingirton ,,Hnndeu*' oder Skalen herrühr- 
ten, fingirte Musik {mimra firfa), welche, wie II«^rmann Finck 
(lf)f>(Vi saL't, um der Consonaitz willen auf jeder beliebigen Ton- 
stute jt'den beliebigen Ton lingirt'). 

Diese sugcnannte fiugirte Musik, vun der nuch die Theo- 
retiker des 16. Jahrhnnderts, s.B. Hermann Finek und Nieolans 
Listenins, wie Ton einer wichtigen Sache reden*), war, wie 
Tinctoris definirt, ,Jeder ausserhalb der regelmitssigen Hand (d. i, 
des Systems F bis dd) vorgetragene Gesang"*), ein Gesang also, 
der auch die chromatischen ZwischentSne berührte, wie denn 
Franchinus Gafor geradezu erklärt, dass chromatist he CtesSnge so 
viel bedeuten wie fiugirte-*). Dieses Kinniisehen der Zwischeiitöne 
in die strenge diatonische Skala des Systems geschah aber, wenig- 
stens in den älteren Zeiten, keinc'swegs im Sinne der wirklichen 

Chromatik (z. B. c^cdef^fg, mit weh In r man erst zu Knde des 
16- Säculums, angeregt von den antiken .Miisikschriftsfellen, eiu 
zelnc wunderliclie Experimente zu machen anling), sondern um durch 
gewisse Wendungen, wie die Anwendung des Subsemitoniums, die 
Härte der ungebrochenen Diatonik sn mildem und den unabweis- 
baren Forderungen des Ohres gerecht su werden. So lange man 
den Gregorianischen Gesang, den „pur lautem Choral", im Einklänge 
ausführte, ging es sehr wohl an, keine anderen als die jedem Kirchen- 
tone nach strengster Diatonik zugewiesenen Töne anztiwenden; so- 
bald man aber mehrstimmig zu singen anfing, musste sich das Miss- 
liclie eines starr diatonischen Gesanges fiiblbar machen, und es 
mussten die fingirten Töne auhhelteu. Div> war die eine Üedeu- 
tung der Mwsica fida. Sie hatte aber noch eine sweite: sie bedeutete 
auch so viel wie transponirte Musik. Die Solmisation, wie wir 
bald h5ren werden, erkannte drei Haupt- und Ausgangstöne an: 
Ct g und welche simmtlich vt genannt wurden; der nächste Ton 

Sänger dnrflcn aber nicht in Dis singen, sonst hfttte in der Orgel wieder 
das B (statt Ais) nicht gestimmt. 

1) Muaica ficta fingit in clave «luacunque voccm qualemcanque, oon- 
sonantiae causa (Mii«'. pract. Regula IX mutationumV 

2) Selbst uocb Büttstedt in seinem 1719 erschienenen Buche ut re 
Mi u. 8. w. redet S. 125 vom „tono ficto: a—eis'* im Glegensatie zum 
»tonns natmwlis c"! 

3) Ficta musicn est cantus praeter regulärem manus traditionem 
editus (Tinctoris DitTinitorium). 

4) . . . quae chromatica dimensione ducuiitur coloratas demonttrant 
csntüenas, qua« et fietaa dicunt (Franchinus Qafor, Fract mos.). 



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» 



156 Die Anfänge der europäisch -abendländiadien Musik. 

(d, a und fj) hiess re, und so weiter: mt, /a, m2, la. Wurde nnn 
ein anderer Ton als einer jener drei zum irt genommen, s. B.: 

at re ni f» lol !• 

das heisst: sanj? man transponirt, so war das ebenfalls yinsica 
fivla , weil sie freimle ZwiHchentöiie , die nicht im Stammsystem 
waren, anwendete. „Cuiäus fictus", snjrt Hermann Finck, „heisst 
bei den Musikern deijeuige, bei welcljcui ein Ton aiü" einer an- 
deren Stufe gesungen wird, auf der er seinem Wesen naeh nicht 
ist**!); und Nicolaus Listenius in seiner Jlkmca (1547) erkllrt: 
„er sei ein solcher, wo die Tüne nicht an ihre herkömmlichen 
Stellen 'gesetzt werden" 2), 

In einer Han<lschrift der Bibliothek von Gent^) wird erklärt: 
die „finfrirte Musik" bestehe darin, dass ein Halbton oreuommen 
wird, wo ein Ton btelien s(dlte, und umgekehrt*). Das Krböhungs- 

kreus {Diesia) kommt in der Fonn ^ ^ schon bei den ftltesten fran- 

sösischen Contrapunktisten an Ende des 18. Jahrhunderts (in dem 

1) AUditur et cantus, quem musici fidum vocant, quando vox (es ist 
eine der Sythen der Solmiration pemeint, wovon später) canitur in clave 
aliqua, in qua esseutialiter non est, neque in ejusdem OCtava, videlirct 
fw» in f-fa-ut, fn in n-la-miro et e-lii-nii. (^uo utiniur i>ropter euplioniam 
cantus, ac ad vitanda prohibita intervalla ^llenn. Finck, Tract. nius.). 

2) E«t igitur mwsiea /feto cantus contra scalae titom editus, hoc est 
talis, in (]un vfM'cs dchitos suos Inco-^ nnn sortiuntur. veluti cum ut in E, 
re in J^', mt in Cr etc. aiit sccus canitur. ITiugit enim hacc in quacunque 
clave qnamcunqne vult peregrinam vocem contra clavis naturam et proprie» 
taten). Cujus mutatio et evitatio in plerisqne cantilenis est transpogitio. Li 
«|uil>us(laiii «^ino discrepautia omnino niMt:iri ncipiit. Exoni])hi sunt ubique 
ubviu, quure tautum hie cxemplum uiuus vocis pro ejus declaratioae ac 
immutatione ponam: 

Exemplum cantus fictL 




8) M. S. No. 171. 

4) CoiisRcmakcrfHist. de rharm. dumoyenaf?eS.39u. 10) srhroil)t dieses 
Manuscript dem Kailhiiuscr Dionysius Lewis aus Kuremonde zu, wogegen 
es F^tis (Rev. mus., Jahrg. 1834 S. 19 fg.) ftlr ein Werk des Karthänsers 
von Mantua h&lt. Die betreffende Stelle lautet im Ori^^ri»»!«-: Ficta musica 
nihil aliud est. (|iiain popitio toni pro scTnitoiiio et eontra. Et si inter duos 
gradus nmsicaU's imniediatossemitouiujnponeretur, ubi regulariter puuendus 
esset tonus, vel e contra, filcta musica est, quam fictam mosicam appellant 
plerique „cantare per conjuiictas". ünde scicnduin. iiuod conjuncta dicitur 
alicujus deductionis vel proprietatis musicalis de loco proprio adlocum alienum 
secunJuni sub et supra transpusitiu. L'nde sequitur quod tunc cadit semito- 



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Guido von Arezzo und die SolmUation. ^ 157 

Bondellns „finea amotträte^ Ton Adam de la Haie aasdrücklicli 
der BU erh&henden Note beigesetst) Tor. Fra Angelieo Ottobi 

wollte dann in seiner „Calliopea lighM' dieses Zeichen auch in 
die Familie der h eingereiht wissen: er nannte es das liegende h 
(Jb giacente _a), als Seitenstttck in dem b rciundum (|?) nnd b 

qua>hum (!s)^1. 

kSowolil der alte einfache Gregorianische Gesang, als die 
spätere kunstvolle Mensuralmusik konnte auf fingirten Stufen 
ausgeführt werden^. 

Die strenge Diatonik erlaubte nisprOnglicb nlcbt diese fingirten 
Töne ansdrücklieh sn schreiben oder sn nennoi; die Singlehrer 
nmschriebeu die Sache, indem sie den Schüler anwiesen in he» 
stimmten Fällen den Ton unter der Finalis „scharf in singen"^, 



niam abi regniariter deheret cadere tonns et contra. Quae tamen conjunctae 
dicuntnr proptcrea inventae nt si qnis canius irregnlaris foret pereasnd rc^'u- 
larcm caiitum dpMte rt-diK^i posspt. Undo fcicndiiTn ept. quod apud veteres 
ticta musica solum in tribus gradibus ^onebatur, scilicet: 

1. «H per Bj durum in f fo «< in Iraea cujus vox «t cadebat in D §ol 
f§ cum COnreppondcrifia cf (crnnim vociiTn ad ippani rf'jiKr(|tieTit i; ni. 

2. Ponehaut fa pro b molle inJL-la-tni iu linea cujus vo^ ut cadebat in \f fa 
^mi in Rpacio cum correspondentia caeterammvoeumadeameonsequentiam. 

3. £t ponebant mt per ^ durum in ffaviia qMioio. a^u« tox i^ cadebat 
m d In sol re vwm correspondentia oaeterarmn Tocum ad eam consequentiam. 

Unde tales exstant vcr»us: 

Ut D sol re tenet |? fa p simul et d )a tol re, 
Qiiundo ficta puinii dci rinit niu^ica cantuin. 

Bei 1 und 3 ikt fi» {d e ]^ f g a h u. b. w.)i bei 2 ist e« (6 c d e«/'y)zttver- 

stehen. 

1) Durch E. Coussemaker (Hist. de l'haim. du moycu flge) besitzen wir 
jetst den ToUftändigen Text der Calliopea leghale. Auch Pietro Aron rc dct 

davon in der Aggionta al TotcaneUo: . . . „il quäle legno presente^.; \ e 

stato chiamato 6m Bartolom eo Rami musico dignissimo, vcramente d'ogni 
dotto vent rato, scpruo ^'\h rfuti/lrn e da träte Giorainii O/^oft/ r st ato chiamato 
legno di b «luadrato iacente, e i^ucsto ^ da lui e «lato chiamato scgno di b 
gnodroto retto." Weiterhin bemerkt Aren : „dico che qnesto bcguo sara 

Ei&rai^onavolinento chiamato & giiodfo ehe dieiris — ^lo effettoetünomenon 
anno insieme corriepondenza." 

2) Possunt autem ambae, simplex et mensurabilis, esse vera aut ficta. 
(Adam von Fulda.) 

3) Iii cinemManuscript aus dem 14. .Tahili. inderLaurentianisolioii Pil>li<>- 
thek zu Flurenz hoisst es : Non debet falsa musica signari. Büttstedt (a. a. O. 
8. 144) sagt: „In dem grossen Veni sind die limites gleich anfangs um eine 

c d d 

Second überschritten do re re, allein weilen das do (ut) scharff ge* 

▼«bI 

sangen wird, als wenn das Signum dicsrns darbcy stunde, so 
macht es nur eine halbe üccnndc aue.'^ Also cü-d ti. Das 6 molle 
sollte aber ansdrficklioh angesetzt werden. Johannes Cotton (bei Gerbert 
8<vhpt.9.Bd.S.S8S)8agtdartbKr: Qu<>d in iiua neuma b molle sonat, super 
eandem a scriptore ponwkdnm est. Es fehlt indessen nicht an Beispielen, wo 



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158 Die Auftixtge der europäisch-abeodländiscbcu Musik. 

das heisst nm einen halben Ton zu erhöhen. Solidie Töne durfte 
man als zuIäsKige Ausnahmen hören laateili imd •§ war eine Uanpt> 

nnfjrabc fiir den Bnnfrer die Stellen, wo sie anzubrinfren waren, 
riclitig zu trefiVn. ,31 nn dürfe nach Bediirt'iiiss des Tons und nach 
Nötliifjnng (rogcnte tono et neccssitatr) der<rleichen anlningen,*' meint 
Adam von Fulda; „denn wie eine richtige Anordnung (coaptatio) 
der Modnlationen ^e ganze Seele erfreut, eo wirkt es Terletsend, 
wenn man etwas Falscbklingendes (depranftimi^ an httren bekommt". 
Die fingirte Mnsik nnterhöhlte allmKlig den Gkund, auf dem die 
starre, unbeugsame Diatonik stand, und bereitete die Befreiung der 
Musik aus den einengenden Banden der authentischen und plagalen 
Töne vor. Guido kennt diese sogenannten Fictionen noch nicht, 
er würde sonst irgend eine Erwähnung davon machen, und sieht in 
dem b rotiot/lion keineswegs eine Fiction, was es doch in der That 
ist^). Zu Ciuido's Zeit war die Gesaugkunst und die musikalische 
Grammatik noch nicht ausgebildet genug; es kam vorläufig darauf 
an die Töne der rein und streng diatonischen Skala richtig unter- 
scheiden und angeben su lernen. Selbst das Snbsemitonium kielt 
die strenge, starre Diatonik jener Epoche ftlr unzullssig, das beim 
dritten authentischen Tone aber im Systeme lagi. Guido findet 



es durchaus nur supponirt wird, z. B. in einem spRtcr zu erwähnenden drei- 
stimmigen Hegina coeli laetare aus der Strassburger BibUothek, welches aus 
dem 15. Jahrhundert herrührt, u. i. w. 

1) Fraiuhinus a. a. 0. f^^laubt in Guido an dem h rotundum eine Andeu- 
tung der iin^irten Musik zu erkennen : in diatonico autem Guidonis introduc- 
torio musica ficta unico toni mon&tratur intervallo, ubi videUcet b mollis ex- 
achordum quartam disponit chordam /a, quae tonicam scindit distantiam in- 
ttr A-la-mire etijwi, seu inter Mcsrn et Parameten instar tetrachordi con- 
junctai-um. Franchiuus hält, wie man sieht, das b rotundum speciell deswegen 
für fingirt, weil in dem ihm idt Autorität geltenden antiken System der 18Töne 
zwischen ÄIcse (a) und Paraninse (h) dicstT Zvviachenton b nicht, sondern 
erst im höheren Tetrachord synenimenon vorkommt. Aber er hat in der 
Hauptsache vOUig Redit Denn legt man die diatonische Skala von C zu 
Ghnmde, so ist das b rotundum nur im Sinne der musica ficta (für die gleicho 
Tonreilio von F) zu deuten. Adam von Fukla (I. 1) safft: Regulata ficta 
est, quando in clavibua voceJi tramponuntur ut puto iu omnibus, in quibua 
fa loeaUier tum ponitur, potestponi b motte, simfliter in omnibus davibus, 
in quibns fa localitcr ponitur, /jofe^sf ;;o»i ^ durinn cogcnte tono et neoessi- 
tate. Üraitoparchus gibt folgendes Musicae hctae exercltium: 



g j t i 1 ht9 1 







L— — SL_ \y^j2J9_:si: 


L- ^ U 







Hier ist iiii'ier J'^x-Dur mit seinen drei "B so vollkommen da, wie man es 
nur wünschen mag. f igulus (mus. elem. brev.) lehrt: (transponitor) tribus 
media: ex \ duro in b moUe, ex d rnoBi in || durom, w b mM wi /Scfum. 



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Ottido von Aresso und die Solmisation. 



159 



gerade deswegen im dritten Kirchentone eine Unvollkommenbeit: 
tmUmtui Mius . . . propter nUbjedam semüomi imperfedumem. 
Uebereuislunmend erwXhnt es das (fUschlich) dem heil. Bernhard 
angeschriebene Tonale als besondere Ei|;cnbeit des fiinften und 
sechsten Kirchentones, dass sie unter dem Finaltone ein Scmitoniam 
haben Kepno von Prüm bemerkt gana ausdrücklich, dass in den 
aclit Kircbentönen „nicht allein alle Harmonie der geistlichen Me- 
lodie, sondern auch alle natürliche Cantilena enthalten sei, und ilass 
sie kein i^emitonium, keine Diesis, keine Ajiotome annclmu n." 
Die ältesten Orgeln besassen nur die diatouiscbo Ökala, böcbstuns 
mit Unteneheidung des runden und quadraten (. Was uns bei 
solchem Yerfohren hart oder geradem unleidlich klingt, erregte da^ 
mala keinen Anstoss; die Musik war ein Produkt des rechnenden, 
combinirenden Verstandes, nicht der Phantade, rie brauchte nicht 
schön zu sein, wenn sie nur den Anturderungen einer imaginären 
Regelrichtigkeit entsj)rach. Höchst bemerkenswerth ist in dieser 
Hinsicht das rein nicclianische Verfahren, welches Guido zvir Er- 
findung neuer Melodien vorschreibt. Zum Gesänge, zum Angeben 
der Töne sind die Vocale dienlich, welche ja in keiner Sylbe fehlen. 
Man selm denn ^e Vocale unter die Koten des Monochords: 

^ a b'^ c d 

r A BCDEFQab^cdefgah\cd 
a«ie«aefo«aeio«ae io 

Jetzt nehme man irgend einen Redesatz, der gesungen werden soll, 
und ordne die Töne nach den Vocalen, die darin vorkmiinuMi, 
z. B. den Satz: Sande Joannes met Horum tuorum copias tiequco 
digne canere. 

Ton.Vocal. 

g — tt rum-tu — rum 

f — o Jo to — o CO 0 

e — t n ■ pi — dl 

d — e te nes— me ncque — gne — nere 

C — a Sanc- au aa ■ ca- • 

Hiemach gestaltet sich in Noten folgende Melodie: 



=f: 




Sano-te Jo» an-nes me-ri - to - mm tn - o-mm co - pi - aa 




ue - que - o dig • ne ca • ne • re. 



1) Similiter omnes cantns quinii toni debent habere sub finali vcl sab 



160 



Die An^nge der europäisch-abendltodischen Musik. 



Das ist niclit etwa eine blosse Spielerei, wie jene Invention des 

Übrigens obskuren Malers Labruzzi zu Rom (um 1800), der die Ge- 
schicklichkeit besass aas je fünf Punkten f\ir Kopf, Arme und Beine 
eine Mcnscliengrestalt horfiuszufinden, und nach fünfzehn ihm von 
einem doutsclion Prinzon {reprehenen Punkten einen Hercules am 
Scheidewege zwiselien Tuf^end und Laster componirte ; kein Messer 
Scherz, wie man nach zufalligen Worten und Heiniklängen Gedichte 
improvisirt, sondern es ist wirklich der „Kern melodischer Wissen- 
schaften^S die Art „alles mögliche Geschriebene in Gesang an setsen** 
(quod aä eanfbm redtgitur omne qwd sarüniur)* Johannes Cottonins, 
der Commentator Gnido's, findet diesen Weg der Melodieerfindung 
durch Vocalc (qualiter j n- vnrales rniifus possunt eompom) wahrljaft 
schün; doch sei er vor Guido nicht gebräuchlich gewesen {modulavdi 
viam j)}drrayn sniic, sed atde Gnidonem intmtatam). — Es bedürfte 
kaum dieser letzten Versicherung, um uns vor der Besorgniss zu 
bewahren, daüs die alten Hchwungvollen Gregorianischen Melodien 
etwa auch Bolche in der Retorte der fünf Vocale erzeugte Homunculi 
seien. Wir werden übrigens noch an Ende des 15. Jahrhunderts 
dem Cnriosnm begegnen, dass Josquin des Pr^s das Thema einer 
grossen Messe auf diese Art nadi den Vocalen des Namens Hercules 
Jhix Ferrariae construirte. Aribo Scholasticusi), der ganz kurz nach 
Guido's Zeit lebte und schrieb, erfasste mit vielem Interesse dieses 
Hlcigiessen von Melodien, wie man es nennen könnte, Meil bei der 
erwähnten harmlosen Belustigung auch zuweilen etwas herauskunmit, 
was beinahe wie eine menschliche oder thierische Gestalt aussieht, 
so gut wie bei dieser Compositionsart zuweilen etwas, das beinahe 
wie eine Melodie klingt. Nicht allein nach dem, was der „ehr- 
wflrdige Guido" {penerobilia Owdo) gelehrt, ordnete unser Scho- 
lasticus seine Vocale, sondern er trieb die Sache noch weiter und 
setzte unter die erste Vocalreihe nun eine zweite ▼erändertOf wo- 
durch dann jeder Vocal zwei Töne aur Verftigung erhtflt: 

a^i^e d 

Töne: rABCDEFOabilei0fga}^i\e4 
Vocale: a e i o u a r i o n a e i o n a e io 
0 u a e i 0 u a e i o u a e i o ti a e 

Er erweitert femer den Umfang auf sieben Stufen und erhält so- 
fort folgenden Melodiehomunculus: 



qointa semitonium, vcl supra sextum ionum, omnos vero cantus soxti 
toni rxiLMmt Hub finali vel auh quinta semitonium' (Tonale S. Bemardi, 
bei üerbert, Script. 2. Bd. S. 268.) 

1) Aribo Seholftsticoi Aarelianeutis (von Orleans) nennt ihn Engel- 
bert von Admont (l)ei G er! M it. Script. IT. S. Aber Aribo dedizirt 

sein Buch Domno suo Klleuhardo ; dieser war Bischof von Freisiug und 
starb 1078. 



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Ghiido yoD Areaoto und die Solmisation. 161 
o.* • - — ll 

9 d- Bai— mn Ten 

9 e c ^ tor— «o fo do o— 

- i; U- — in nf 

V c A Are— tMopaw* ne bor - tm — n» tM 



C,^ U LingUMB BHM tii g^i im liat 

y V p ! • ■ ■ ■ ■' h > n — 



Linguam i« - fre-nuis tem>pe - ni ne U • tU hor-ror in-ao- 

£t. ^ A ^ A ^ ^ ^ ^ 

» tu » " Kj ^ ^ m» » 



net vi - ram fo • ven-do oon-te^t ne va • ni - U - tee lura-ri • at. 

Durch die grössere Zalil dor verwendeten Töne wird d.is Ziisninmen- 
hanprlosc und "Willkürliche, wie bep:reinich, nur noch fnlill)arer. 
W«'iiii irp;end et\\as der liariiionie des Orfjanunis ebenbürtig 
lieissen darf, bo ist es ohne Zweifel diese Art Mel<»dio, und in der 
an Sonderbarkeiten nicht eben armen Geschichte der Musik gehören 
diese swei coXven Erscheinungen gewiss sa dem Allersonderbarsten. 
Glttcklicherweiso aber liess man es doch nicht bei dieser Art Me- 
lopöic bewenden; Guido verlangt, dass die Wirkung des Gesanges 
dem Wechsel der Dinge, von denen er handelt, angepaHst werde: 
fiir traurige Sachen traurige Tonverbindungen (yienmas), Tür heiter 
ruhige Badion aiijreiiehuie , für den Ausdruck des Glilcks jubel- 
volie*); und (NtHonius (nii;u^t s(!in ('a|iitel von der Melodiebihlung 
sogar mit einem ästhetischen Machtspruche au: ,,da8 erste tJcsctz 
der Melodik {praeceptum modulandi) ist, dass der Gesang nach dem 
Sinn der Worte ein verschiedener sei. Gleichwie der Dichter, wenn 
er Lob ernten will, darauf bedacht sein mnss seine Darstellnngs- 
weise nach dem behandelten Gegenstände einzuricliten {tU facta 
üdU exaequet) und nichts den behandelten Begebenheiten Unan> 
gcmesseneB sage: so mnss auch der Musiker seine Gesänge so ein- 
richten, dass sein Gesang ausztidrUckeii scheine was die Worte 
au8S])rechen. Soll er einen Gesang für einen Jüngling coniponiren, 
80 sei dieser (iesang eben auch jugeudfrisch und ülierniütliig {juve- 
nilis et lascivwi)] gilt es einem Greise, so muss der Gesang ver- 
driessliciie Ernsthaftigkeit ausdrucken (morosus sU H Mvmtaiem 
exprimms)* Ein Comddiensehreiber, welcher einem Jflngling die 
Sprache eines Greises zutheilen oder einen Geisigen gleichwie 
einen Verschwender reden lassen wollte, würde ausgelacht, wie 



1) Item ut rerum eventus, sie cautiuuis imitetur uH'cctus, ut in trist ibus 
rebus gnves sint nenmae, in tnuMmfllis rebus jucundae, iu prosperis exul- 
tantes et reliqnae. (Miorologns Xv.) 

Ambrot, OtMblehto der Mnrik. IL 11 



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163 



Die AnHüige der enropftiioh • abendlftndiaolien Münk. 



bei Iloraz Plautus und Possenns eingerührt werden ho ver- 
dient ein Mubiker {modulator) Tadel, wenn er bei einem trau- 
rigen Gegenstande eine hüpfende oder bei einem firöhlicbcn eine 
tranenrolle Weise {fnodum) anbringt Der Mosiker denke also 
daran, dau tein Gesang bei Trauennusiken herabgedrackt, bei 
fröhlichen AnlSssen hoch klinge. Dieses wollen wir nicht also 
einschärfen, als müsse es stets so sein; aber wenn es so 
isti so wird es für einen Vorzug gelten kfinnen (ornatui 
esse dicimxs). "Wir haboii dafür einige Beispiele. Die Antipbonc 
am Aufersti'huiigsfeste hat selbst in ihrem Klange eine Art freiuliger 
Erhebung. Die Antiphone vom König David aber scheint nicht 
blos in den Worten, sondern auch in den Klfingen von Trauer za 
tVnen. Klagelieder werden meist im hypoljdischen Tone gesungen, 
weil er klüglich klingt**^. Gotton will Ausdmck, sogar Charakte- 
ristik, freilich aber nur nach der grossen primitiven nnd allge- 
meinsten Unterscheidung, die selbst das Volk in seinen Liedern 
macht und deutlich empfiiidot, ob nämlich etwas lustig oder ob es 
traurig klinge ; ferner ist der Ausdruck doch nur Zier, entbehrliche 
Beigabe; und endlich sucht ('otton, ganz im Sinne seiner Zeit, den 
entscheidenden Punkt in den eigentlich unwesentlichen Aeusserlich- 
keiten des Modus: will man ein Klagelied, so singe man hypolydisch, 
nnd damit ist alles geleistet. So laufen andi die Regeln, die Cotton 
für (nicht an die Vocale des Textes gekettete) Melodiehildung 
gibt, darauf hinans, wie weit jede Tonart in ihrem Umfange gehen 
könne und dürfe; man solle die unangenehme Wiederholung gleicher 
Töne vermeiden, die Melodieabsfitze möglichst nach den Abschnitten 
der Kedesätae ordnen u. s. w. Sehr schön sei es, wenn der (paarte 

mweOen die grosse oder kleine Ten Torangehe (also s. B. |j « • J « 

oder e d f t d e\ wir finden diesen Schritt Sfter in den Sequena- 
melodien angewendet); sehr schön sei es auch dnreh drei T5ne ab- 
steigen und gleich wieder durch dieselben aufsteigen (wie ag f, f g a). 

Man sieht, dass es der Musik auf der mathematischen Schul- 
bank zuweilen unheimlich wurde, und dass sie sich wie im Traume 
erinnerte, sie habe ja irgend einmal mit der Schönheit etwas zu 
thun gehabt und ihre ganze Bestinimnng bestehe denn duch nicht 
darin nachweisen zu müssen, dass die halbirte iSaite gerade um eine 
Octave höher klingt als die ganze. Der gelehrte Abt Begino Ton 



1) Cotton meint die Stelle im Bhefe ad Angustum Lib. II Epist. L 
170. 

— — — adsiiicc. Plautus 
quo ]incto partes tutetur amantis cphebi 
ut patris attcnti, Iciionis ut iusidiosi; 
quantus sit DosBcnus edaoibtts in parasitis n. a w. 
8) Oerbert^ Script. 2. Bd. S. 253. 



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Guido von Arezxo und die Solmisation. 



163 



Prüm gibt ihr das Zeugniss: rie offenbare die Sitten der Henflchen, 
harte und kilftige VSlker Heben krSftig harte Weisen, friedfertige 

und sanfto Völkorschaften eben auch sanftere Lieder; sie wecke 
Isriegerischcn Muth, beruhige «nm Schlummer u. s.w. Dann kommen 
wieder die alten Geschichten von dem durch l^ytliapriras b<*schwich- 
tigtcn Zornipren u. s. w. >Mit den aus den Textvocalen heraus- 
bachstabirten Melodien wenigstens konnte man sicher keine "Wunder 
wirken. Im Grunde Hess sich auch diu Schönheit der .Melodik bo 
wenig Im 11. Jabihnndert als noeh heote auf feste Regeln surlleh- 
Dlhren oder lehren. Melodie ist die Blttte der Mosik, welehe frei 
spriessen nnd sieh entüslten mnss, deren Schönheit sich empfinden 
aber nicht erklären lässt, so wenig als man (nach Justus Möser's 
treffendem Ausdruck) das Unendliche durch die vier Speeles be- 
rechnen kann. In den Zeiten Guido's und Cotton's aber lief Musik 
wirklich auf die vier Speeles hinaus und harrte, in den Kasten des 
Monochords einpesarfit , einer fröhlichen Auferstehung:. Die von 
Guido (dem angeblichen Erfinder der ,,i)iaphonie** oder gar des 
Gontfmpnnktes) gelehrte Mehrstimmigkeit ist eben das alte Hnebal« 
dische Organum in seinen beiden Gattungen. Das Parallelorganum 
in Qointen ist aber, wie Guido meint, doch gar au hart; das von 
ihm angenommene, in Quarten, sei weicher. Das Org:anum bestehe 
ans Tönen, die in Eintracht verschieden und in der Verschiedenheit 
einträchtig^ sind: ein Antitliesenspiel , das so sehr an den p-anz 
gleichen Einfall llucbald's mahnt, dass num versucht wei-den könnte 
zu glauben, Guido habe die Hucbaldischen Tractate doch gekannt. 
Aber dann hätte sie der redliche Guido sicherlich so gut citirt, wie 
er des Oddonischen Dialoges mit grossem Lob gede^t Auch die 
mne Art Organums mit der „scharfen Quinte", eben jene, die er 
hart nennt, ist TVllig das wohlbekannte, wo die Mittelstimme nicht 
die „wahre Mediation" einhalten kann: 

Diapason c d e c d e d r rcbagcded d c 
Diapente FGaF Ga QFFFEDCFOaQGF 
DiatssMuron CDECDEDCCCBÄQCDEDD 0 

Statt dessen lehrt Guido ein Organum in lauter Quarten: „diene 
unsere Diaphonie Ist weicher" {nottra vero moUiar) verüchert er: 





— <5> 


/3 






o 




1^ 
















a 


~f» — 


— — 












8er - 


TO 




dem — 







Indessen dürfen die Stimmen sich zum Schlüsse einander nahern 
und im Einklänge austöueui diebü Manier nennt Guido den Zu- 
eammenlauf {Occursus) : 

n* 



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164 I^ie Anfänge der enropäischoabendländisohen Mank. 



A 



4 

~4 



9 

-4- 



De • vo • ti * o - ne com - mit • to 



1 — r 



i 



o - ne com - mit - to — — — 

Das schweifende Organum Guido's lässt, f^leich jenem Iluchald's, 
d\v <^iiarte vnrwnlten und mischt die atiih-rcn als zuh'issip; erkannten 
Intervalle (er nennt als solche den (Janz-toii, die Quarte, die grosso 
und kleine Tera mit Beseitigung der Quinte und des Halbtous) im 
Durchgatigu ein, auch, and voi-zUglich, die Secunde. Alles ohne 
eine Spur eines geregelten Gebrauches dieser Intenralle, s. B. : 



4 



4 

. .. -t 



Ho - ino e - rat 



Je - ru 



sa - lern. 



Sonderbar schlingt sich in folgendem Beispiel die eine Stunne um 
die andere: 



<9 f9- 



fJ 



^ G 



49 



Sexta ho - ra se-dit snper pn-team 



<g ^ <S» -49 ^ 49 



Und wie nun (luido's Organum weniger beweglich ist als das linc- 
hahl'sche, so urstan*t es auch wohl ganz und gar zum ausgchaltenen 
Tone {susyeiisum tendur)^ während die Hauptstimmc sich darum 
gleichsam taumelnd bewegt: 



Sexta ho - ra se-dit taper pu-te-mn — — — — 



O 



I T r~r — p 



1 



An dem Occursus in die grosse Tera hat Guido sein Wohlgefallen 
(dttoni wxwrsm vü simplex vel inUmUssus placel): 

1 2 1 « > :i a 2 1 1 









Kl 










o 








Ho- 


mo 


e - 


rat 


in 




- e - 


ru - 


sa - lern. 
















— « 


— «» — 


— <9 

























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Guido von Arezzo und diu iSoliuisatioo. 165 

oder 

Ve-ni ad do-oen-dnm nos vi -am pra-den-ti • ae. 



Zum Schlnsse aber biin^ er gar ein Organum, in welchem die 
Ters vorwaltet : 



m 



r 



I I 



Ysoui-ta ad-* 



0 - re » in Ol. 



So weit aoch noch dieses letzte Beispiel von Schönheit entfernt ist, 
es macht neben dem heulenden Quartenor^aniim und den andern 
verworren anmmenden Beispielen, wo die Töne im Finstern auf- 
einanderstossen wie es kommen mnjr, doch den Eindriuk wie ein 
CJesicht mit aniiHliernd menschlichen Zü;ren unter gi>r^onei.schen 
Fratzen. Dass (4uido die reine Qnintenfol<;e weni^rstens allzuhart 
findet, iht gegen Hucbald jedenfalls ein Fortschritt; auch das gün- 
stige Zengniss, das hier snm erstenmale der Ten ertheilt wird, 
mag bemerkt werden. 

Guido bediente sich anch noch der einfachen Buchstaben' . 
notirung, die sich, wie er selbst in einem Verse sagt, als die beste 
bewährte nnd bei fleissiger Uebung binnen drei Monaten zu voll- 
ständiger Erlernung des Gesanges genügte. Aber sein wesentliches 
nnd Hauptverdienst besteht darin, dass er die Neumen, statt die 
Beurtlieilnng ihrer richtigen Stellung dem blossen Augenmasse des 
Abschreibers oder Lesers zu überlassen, auf ein Sy stem von vier 
Linien setzte. Es war angeblich lange vor smner Zeit, vielleicht 
aber erst durch ihn selbst in Uebung gekommen durch die Neumen 
jene Chorda zu ziehen, d. i. die rothe Linie, welche die Tonhöhe von 
i** andeutete; die gelbe Linie des r, welche man oberhalb der rothen 
Linie des F xog^), erleichterte das Lesen sehr wesentlich nnd ob 



l^i T'iiter ilic sftfreiiaTiutcn Daves signatas rechnete man neben dem F, C 
aucli noch /', y umi ihl zur Jit zt u hnuiig der bei der Solmisationslehre wi itcr- 
hin 7M erwähnenden Tonst ut'en des OonnM'Ut^ des G^sol re ut und des dd-la- 
ftol, sfi (lass also fünf (Mavcs Signatar ;iii;j< ijf miMirii wann f' F-C-g-dd. ])r»ch 
wurden in der Folge nur die mittlem drei beibehalten ^uuser -,6-«äcblä88el) 
und selbst ursprünglich das r und dä meist nur in Verbindung mit einem an- 
deren Schlllssel angewendet s. B. dd Alle swansig Töne des Sy- 

9 



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1G6 Die Aufknge der europäisch-abendländischen Musik. 



man gleich durch die Farben der Linien genügend belehrt wurde, 

welche Töne geraeint seien, pflegte man doch auch wohl das f und 
e als Sc})lüssclzeic]ien {CAaves signatae) an den Rand zn schreiben, 
zumal aber wenn dor Abschreiber die nöthigen Farben nicht zur 
Hand hatte und daher einfarbige Linien zog. Unser J'-Schlüssel 
und r* Scliliissel sind noch heute eine Erinnerung an diese alten 
Uundbuc-hhtabeu^). Schreiber, welche die Neumuu recht genau 
{airiose, wie Guido sagt) in der rechten Höhe und Stellung gegen 
einander anbringen wollten, ritaten nun auch wohl In das Peigameni- 
blatt aiemlich jÜcht Querlinien. Diese dienten sowohl den Text 
gerade zu schreiben, als die ruthe und gelbe Linie in stets gleicher 
Entfernung zu ziehen und die dazwisclien stehenden Neumen ge- 
Ijöritr anzubringen. Von dieser Gewohnheit war nur noch ein Schritt 
seil »b'r Erlindung ( iuido's, der zu der rothen und gelbiMi Linie noch 
zwei aiubMO, einfache Linien zog und so ein ge8chb)ss(*nc's System von 
vier Linien i ihirlt, welches neun Tonstufen (den zu Guido^s Zeit 
giltigen Umfang eines Kirchentones) reprXsentirte, da Ouido auch 
die ZwtschenrSume der Linien an benutaen lehrte. An den linken 
Band gesetzte Buchstaben aeigten die Bedeutung der Linien und 
Zwischenspatien. ,,So genau die Neuraen angesetzt sein mögen," 
sagt Guido, ,,uhue Beifügung der Farben und Buchstaben bleiben 
sie unverständlich"-). Letztere dienen also als Schlüssel. Guido, statt 
wielfueliald iilxirall das Sidililsselzeichen hinzuschreiben, deutete und 
/"durch Farben an, die zwei andern Linien entweder durch Buch- 
staben, oder er lässt sie ganz unbezeichnet, ebenso auch die Zwi- 
* schenrSume, deren Bedeutung rieh von selbst ergab: 



stcms biesaen überhaupt Claves (Schb'lssel), jene aber, die auf dem Linien- 
system eigens bezeichuut wurden, hiesaen eben deswegen bezeichnete Claves, 
OL signatae (quia hae solum tu oantoa exordio exprene ponuntnr. Et po- 
nuntor mniicH in linea, distanttnio inter sr» per quintara: praeter J'* ab I* 
per septiinain. H*-inrioh Faber Compeudiolum Musicae). 

1) Uuido Hugt: 

Quisque Bonns quo sit loco lacüe colligitur, 

Etiamsi nna tautam litera praefigitor. 

Ut proprietas sonomra discematur cIhHiis, 

Quasdam hneas signamos variis colohbua. 

Üt quo loco quis »it sonns mox diaoemat oculus, 

Ordino tertiae vncis Rplendens crocus radiat, 

Sexta ejus sed aftinis flavo rubel minio. 

At ri litera vel color neumis non iutererit, 

Tsle erit, qaaai fnnem dorn non habet puteus 

Cujus aqnae, quamTis multae, nU prosunt videntibus. 

V) Ideo quamvis perfecta sit positnra neumamm, oaeoa omnino est et 

Tiiliil valot sine adjunctione litterarum vel colorum. Duos enim colores 
puuimus, crocum scilicet et rubeum, per qaos colores valde utilem tibi 
regulam tndo u. s. w. (Eegulae de ignoto oantu, in prooemio.) 



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Onido roa Areiso and die dolmiaatioiL 167 
(XM* 4. LiBte dnk* wn iMt grfln, dl« tothO*) 

Die Neumen behiclteu, wie man sieht, ihre Formen: wir erblicken 
die alten wohlbekannten Charaktere, welche Guido umsomehr bei- 
■nbehalten fitnd, als sie nicht bloB Töne sondern anch Yortrags- 
manieren bedenteten. Aber statt dass sonst diese Pnncta, Virgae, 

Podati, Cephaliei n. s. w. wie Infusorien im Wasseitropfen durch* 
einander fuhren, wnrde jetzt ein jedes nn eiiu in festen, iniTerrQck- 
baren Platz fixirt. Guido's vom Papste als Wunderwerk angestauntes 
Antiphunar war zuverlSssig auf diese Weise tiotirt, und es ist be- 
greiflich, dass der Papst nach einiger Unterweisung einen Vers 
darauM vom Blatte weg zu hingen vermochte. Von jetzt an stand 
M nicht mehr im Belieben des Mmsters IVndo, Albinus oder Salome, 
ans eigener Machtvollkommenheit so oder anders singen an lassen; 
ein jedes Zeichen konnte an seinem Piatee nur eine einnge Bedeu- 
tang nnd keine andere haben, und die Zahl der Tonstnfen, um 
welche die Stimme zu steigen oder zu fallen habe, konnte kein 
Gegenstand des Streites mehr sein. Die Verwendung der Zwischen- 
räume niaclite die Unzahl der llucbald'schen Linien überHüssig und 
das System äusserst Uberschaulich. Das Alles lag freilich, nachdetn 
der Anfang mit der rothen und gelben Linie gemacht worden, sehr 
nahe, so nahe wie die Lösung des Problems vom Ei des Golombns. 
Eben dämm ist fttr Guido, der nicht allein das Wahre traf, sondern 
es auch gleich praktisch anf das Beste su yerwerthen wusste, der 
Kuhm der Erfindung nicht geringer, weil ein Anderer, ebenso gut 
wie er, den glücklichen Einfall hätte haben können. Mit dieser 
Notirungsart wurde auch die Notirung in blossen Buchstaben über- 
flüssig, obschon sie sich bis in's 15. Jahrhundert und in der soge- 
nannten deutschen Tabulatur noch sehr viel länger erhielt. Noch 
das Manuscript der altdeutschen „Minneregeln" des Eberhardus 
Cersne von Minden vom Jahre 1404 in der Wiener Hof bibliothek 
enthält in Bachstaben notirte Liederweisen. Notker Labeo erwühnt 
^nttr Notirung mit den 15 ersten lateinischen Buchstaben, welche 
die 15 Saiten der Zither (Plarfe) bedenteten und bei den fränkischen 
Musiklehrern gebräuchlich gewesen sein mögen. Ein Tonarius in 
Montpellier ist mit diesen 15 Buchstaben und überdies noch in 
Neuuien notirt; auch ein Ditectorium Chori zu Engelberg zeigt diese 
eigeuthUmliche Notiruugswcise'^). Die gewöhnliche Notirungsart in 

1) Aus dem Antiphonar von St. Bvroolt XU. Jahrh. (Gnidonis (^pera). 

Jetzt in der Biblioth^que nat. zu Paris. 

2) Schäbiger, die S&ngeraohale von St. Gallen 8. 15. 



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168 



Die An&nge der enrop&iick-alMndliadiMheii Mouk. 



Bnchstaben bestand gans ein&ch darin, daaa man die Buchstaben, 
welche die TSne andenten sollten, neben einander setste, meist in. 
lateinischer, selten in gothischcr Schrift (so in den Minneregeln), 
zuweilen olnio die Unterscheidung der grossen, kleinen und Doppel- 
buchstaben; Wdbei denn oft problematisch blieb und mir nach dem 
natürlichen Oaug der Melodie errathen werden musste, ob z. B. mit 
C G ein C^iiartenschritt aat'wärtb oder ein (^uartenschritt abwärts 
gemeint sei. 

Zuweilen suchte mau das Steigen und Fallen der Stimmen 
durch die Stellung der Buchstaben su versinnlichen, wie in jenem 
ans dem Zeitalter Guido*8 herrührenden, tou dem Camaldulenser 
Anselmo Costadoni aufgefiindenen Codex, aus dem P. Martini eine 
Probe mittheilt: 




je: 



jQvi 



toi 



US peo 



Meist wurden aber die Buchstaben einfach neben einander Uber 

die Äupehöriiren Textessylben gesetzt, wie das bcige}:^ebene, einem 
(J(»de.\ der Wiener Hof bibliothek (Nr. 182 1) entnommene Beispiel 
der Notker'schen Öcqueuz de nativitate Domini zeigt: 



Es bedarf keines Beweises, dass die auf Linien gesetzten Neu« 
men Guido*s vor der blossen Buchstabennotuning erhebliche Votzfige 
hatten. Noch besser wXre es gewesen, wenn man statt der Neumen 

blosse einfache Punkte genommen hStte. „Töne, die auf derselben 
Linie oder in demselben Zwischenraum stehen, klingen völlig gleich," 
lehrte (Juido, ,,inid was im Aiiti|»lir»nar oder sonst in einem Gesänge 
die {gleiche Linie oder dasselbe i^patiuni, welche denselben Buch- 
staben oder dieselbe i'urbe zeigen, behauptet, tüut jedesmal ganz 



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Ghsddo TOB Aresio und die SolmiMtimi. 



169 



fleich, völlig als üb es iu einer Keihe stünde; Neumeu aber, die 
auf Terschiedenen Linien oder Zwigehdnriiimeii «ngebmelit sind, 
tönen Tenehieden, anch wenn sie sonst gana dieselbe Ge> 
stalt hXtten". Hau sieht, dass man die Neumen noch immer als 
etwas Eigenherechtigtes gelten liess; man hatte sich an den Cepha- 
licus, Bcandicus und Salicus und wie sie alle hiessen, einmal ge- 
wöhnt und als rJuido den (iebrauch der ^^e^ Linien einführte, hatte 
man nicht den Muth einfach nach den Urformen des Punktes und 
der Virga zurückzuirreifen und den Gebraurh der Notiruug auf sie 
zu beschiänken. iSehr bald entwickelte sich aus der Guidonischen 
Kotirung eine Tonschrift, welche, wie wir gelegentlich von Tinc- 
toris erfahren, JMes miuearum, die Fliegenflisse, genannt wnrde, 

weil die häufigst vorkommenden Züge *^ »nid wirklich 

einigennassen an den Fuss einer Fliege oder Mücke erinnern. 
Die Aehnliclikeit war besonders gross, wenn, wie sehr oft geschah, 
diese Noten in feinen, kleinen Charakteren zierlich und winunelhaft 
geschrieben wurden. Es waren die Zttge der Neumen, die durch 
die Unterlage der Liniimng eigenthttmlidie festere, gleichmlssigere 
Grandformen angenommen hatten. 

Aus diesen FliegenfUssen oder gleichzeitig mit ihnen au« den 
Neumen bildete sich eine sehr eigenthUnilich stylisirte Tonschrift 
heraus, die man die Na^^'l- und Hufeiseiisclirift nennen k?hinte, und 
die sich in der Handschrift und spNter sogar in der Buchdrucker- 
type bis zu Ende des IG. Jahrhunderts behauptete und sich, wie ihr 
hSufiger Gebrauch zeigt, grosser Beliebtheit erfreute, wie sie sich 
denn in der That rasch und leicht hinschreibt und mit ihren Liga- 
turen (Grappen verbundener Noten) gana dem Geschmacke jener 
Epoche ansagte, welche auch in der Buchstabenschrift mit AbkUr> 
Zungen und Zusammenziehungen des Guten gar nicht genng thun 
konnte. Die ältesten Denkmale dieser Notining pehiiren dem 
12. Jahrhunderte an: sie kommen aus dieser Zeit in einem Codex 
zu i^nghien vor^j mid die Universiliil^bildiothek zu Prag besitzt v\\\ 
Fragment eines derselben Zeit angehörigen Antiphonars, wo diese 
Schrift auf einem System von fünf Linien (mit rother und gelber 
Chorda nnd ohne sonstige 8chlttssel) in derlichen, schwungvollen 
Zflgen auftritt Die Formen des Clinis, des Torculus u. s. w. sind 
leicht wiedenuerkennen. Die Grundform bleibt auch hier der 
Punkt, der znweilen verdoiijielt oder gar verdreifacht wird. Die 
Virga wird zu einem derben Stift, der I'es fiexiis resiijtivus zum zer- 
brochenen Hufeisen. Diese beiden l'nniu'n bilden v(»rzuj;>wrise den 
Charakter dieser Schrift, die oft in tiUchtigen, liederlichen, oft iu 



1) Tm Besitse de« Decfasnten Hnari, Dss Facsfanile sehe man bei 

Lsmbillotte. 



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170 Die Anübige dw enropftlsdi-abciidlAiidisoheii Madk. 

höchst ungeschlaclitenZUgeii yorkommt und im Druck eigenthUmlich 
unbeholfen und abenteueilich «uwieht: es ist die wahre Fractornote. 

ikm Henman Finok*t Fhict mnt. 1686. Brack.) 




Do-mi - ne Rex 



Cali - cem salutaria ac - ci - pi - am 
(Ans den Flor. Otnt. Qreg. des Hngo Benilingen.) 

Diapason. Ferfectae Septituae. 

Noch verwunderlicher wird sie und sieht last gespensterhaft aus, 
wenn sie weiss auf schwarzem G^nde angebracht ist, wie in den 
Bttchem von Omituparchus, Figulns n. a. 

Guido hat also unsere Notenschrift keineswegs erdacht, erst in 

den Zeiten nach ihm kam man auf die Idee, mit Beseitigung der 
▼ieliachen Chiffern der Neumenschrift, jeden einzelnen Ton durch 
einen einzebicn Punkt (dieX(»te) zn hezeichnen, welche quadratische 
oder rautenlV)rmi^e Fif^nr sich dann den vicrLiuieu des Guidonischen 
Systems n(»ch besser anbequemte als die Häkchen und Circumflexe 
der Neumeuselirit't. Wcnu Guido hier nicht als Eriinder, aber als 
wegbahnender Begründer anansehen ist, so gilt Adinliches aneh 
von der sogenannten Bolmisation (auch wohl Solfisatton^) oder 
ars golfanäi*) genannt), welche mit Onido*s Namen in Vnrbindnng 
zu setzen man sich so sehr gewölmt hat, dass sie überall die „gui- 
donischc^' heisst, gleich als habe er diese yielverwickette fichro so 
vollständig zusammengestellt wie etwa einer der alten Meister der 
l*liil()S(ij)hie sein System. Guido selbst schreibt an Bruder Michael 
blos ganz kurz: um seinen Knaben das Toumerken beizubringen. 



1) Bei Tinctoris und Oafnr, 

2) Bei Engelbert von Admout (s. Gerbert Script. 2. Bd. S. 322). 



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Qnido von Areiso und die SolmiMtai». 171 

pfll^ er sich beim Uuterrichte nachsteheader Meludio (symjjhonia) 
m bedienen: 

C DF DBDIDDOD SBIEF GB DEODI 
Ut queaat lud« | rawMMn fibrii i Mi - r» gertomm | 

FGa aFEDDIGaGBE FGDlaOa FGaal 
/barali tamnun | iolve poUnti | labü reatom | 

G P D OED 
Sancte Johaimea. 

In Noten 1): 

(Der Text hier Tollständig nach A. Banchieh's L'organo Buonariiiü.) 







-Jl — ^ — (9 — y ■ m — » — * — 


— «9 — ^ — — ^ » » 







n( quc - ant la - - zis re - so - na - re fi - bris 
U - le pro - mi - fi du - bi - ua su - per - ni 
glo-ri-e pa--tri ge-ni-tae - qne pro - IL 



mi - - - ra ge - eto - rum fa-rau-li tu - o-ruin 
per - - - di -ntt proniptae mo-da-la lo - quelae 
Et ' ti • bi Gompar n - tri« na -qne lemper 

80l • - ve i)ol-ltt • ti la - bi - i re • a • - tum 
•ed re • for • ma • ati ge - ni • tus per - em - tae 

q»i - • ri>tiiaal - mae De-na u - nns om - - ni 



Sanc • - te Jo - hau - ucs. 
or-ga-na vo eis. 
tem - po - re te - - - olL 



Der Text dioscs Tiiedehcns ist sn prosaisch als die Melodie holprig. 
Die Sänger bitten den heiligen .Iidifinnes, sio von Heiserkeit zu be- 
freien, damit sie (wird mit diplouuitischer Schlauheit hinicu gesetzt) 
die Wunderthateu des Heiligen »ingou küiiuen. Die zweite Textes- 
stropbe spielt anf das Ventommen des Vater Zaebarias an und er- 



1) Hermann Finck bemerkt sa diesem Hymnus: (^ucm Paulum Dia- 
conum composaiBAo fcnint; at si credimua Alberto Magno, in liBOam 
aertbeuti, divus Uieruuymua eum cumpoauit. 



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173 



Die Anfonge der europftuoh^abendl&ndisGbea Musik. 



klirt 80, warum gerade 8t Jobaniies als Patron gegen Heiserkeit 
aagemfen wird. Das Liedchen schien dem lehrenden Guido he- 

sonders deswegen zwockuiässig^, weil seine sechs Verse nacheinander 
mit den sech» Tönen der Skala von Cbis a in regelmässiger Folge 
anfanpron, auch die Melodie recht gut von einem dieser Töne zum 
jnidcni liiuiihcrleitet. ,. Diese Svnijdionie," schreibt Guido, ..Hingt, 
w ie <lu A\ ulil siehst, in ihren sechs 'I heilen mit sechs verschiedenen 
Tönen an. W\'r es nun durch L'ebun^ dahin bringt, dass er sieb den 
Anfang dieser sechs AhsStie gut merkt, nm jeden Absats, welchen 
er eben will, mit Sicherheit angeben sn können, wird im Stande 
sein dieselben sechs Töne, wo rie ihm sonst yorkommen mögen, 
leicht ansnschlagen". — Das ist nun freüich Torlünfig noch sehr 
weit davon entfernt irgend ein Syste m vorstellen sn sollen; es ist 
weiter nichts als ein praktischer Handgriff beim Singnnterricht: 
sechs Verse und sechs Töne. Die Sechstonreihe, das H ex ac h ord , 
ist die Grundlaj^e der Sohnisation, In dem Hexachord nannte man 
nach der in der Johanneshymne darauf treffenden Anfangssylbe 
eines jeden Verses jeden ersten Ton tU, den «weiten re, den dritten 
fiit, den vierten fa, den ittnften 8ol, den sechsten nnd lotsten la. 
Zwischen denSylben und Tönen mi'fa ist der Schritt einesHalbtones, 
Bwischen den übrigen der Schritt eines ganzen Tons. Aus diesen 
wenigen GrundaUgen ent^vickelte sich die ganse Solmisation, dieses 
Kreuz der armen Singknaben" (rrux teneUoynm pueronim), diese 
Qual der Lernenden (tmtura discentium), wie man sie nachher zu 
nennen pflegte l). Hat Guido selbst an diesem Kreuze mitgezinunert, 
Bö muss er es im mündlichen Unterrichte gethan haben; denn in 
seinen Schriften findet sich ausser der kurzen ErwlÜinung der Jo* 
hanneshymne keine Spur davon; selbst seine CommentatorenCotton, 
Aribo n. A. wissen nodi wenig dartther zu sagen, nnd erst bei dem 
späteren Engelbert von Admont (um 1280) findet man das 
schon ausgebildete System, wobei m bemerken ist, dass er, der sehr 
oft Guido's Autnritiit flJr dieses nnd jenes citirt und genau bemerkt, 
welche Tone (iuido eingeführt hnhe, mit keiner Sylbe seiner als des 
Ertindi'rs der Solmisation und der harmonisclien Hand gedenkt. 
Dagegen schreibt Sigebertus Gemblaceusis (st. 1113) in seiner 



1) Buttstett (a. a. O. S. 129) sagt: „Ob nun wohl dieses eine Kunst 

und schöne AVisHenschafl ist. welche keinem auf cineixi Bntterfladen oder 
mit dem Brei kann eingestriehen werden, so ist es docli auch keine Tor- 
tura, sondern ist durch einiges Nachdenken und Exercitium zu erlan^eu^' 
u. 8. w. Dagegen äussert sich hundert Jahre vor Buttstett der Magister 
Abraham Bartolusin seiner !Musi<n mntliematira (Altonburg 1614) sehr 
drastisch über die Schwierigkeit und den geringen Nutzen der Sohnisation: 
„Dieweil solche Art singen zu lernen nicht allem ausi der Maatsen schwer, 
solidem auch gar sehr verwirret ist, darüber denn mancher wie ein elender 
Hund sidi m\\»n bläwen nnd schlagen lassen, und kömmet dooh wohl nicht 
zum gcwüntzschteu Ende der singe Kunst." (S. 102.) 



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Guido von Arezzo und die Solmisatiuu. 



173 



Chronik zum Jahn* 1028: „er (Guido) war seinen Vorgängern darum 
Tor/u/iohcn, weil KiialuMi utkI jnii^'<> Mädoben naeh seinen Kegeln 
nnhckamif (' ( H'sän«rt' Icu litcr crlonitcu, als wenn sie ilinon der Lohrrr 
vorsHup; oder wenn dazu ein I nstruincnt aii<:<MV('nd('t wurde, sohald 
sie nur zu sechs Tönen jresanfrwcise seclis Sylhen setzten, welche 
regelmässigerweisu die Musik allein auninunt, und, indem sie diese 
T8ne auf den Fingergliedern der linken Hand nnterschoidcn, durch 
eine volle Oetaye mit Auge nnd Olir dem Steigen und Fallen der- 
selben Töne folgen.** Also keine hundert Jahre nach Guido wurde 
ihm die Erfindun^r der Solmisntion und der harmonischen Hand all- 
gemein zti;rcs( lui( l)en, und das ))eacht6n8Werthe Zeujrniss Sifrebert's 
wird durt Ii den l instand nicht ^'era<lezn entkräftet, dass (iuido in 
Beinen Schlitten der Sach«' kaum «relej^entlich und jjanz all^'eniein 
erwähnt. Wn er seinein ( )rdejishruder Michael von dem Kunstirrift'e 
des ut re mi ja schrcihl, setzt er hinzu: ,,daH alles sei schwer zu 
schreiben, im Gesprtfche dagegen leicht zu erklären." Folglich ist 
jene Briefstelte weit entfernt eine yolIstMndige ErklXrung der Sol- 
misation Torstellen su sollen; vielmehr ist sie nur eine vorbereitende 
Andedtnng dessen, was Guido dem Freunde späterhin miindlich 
erküren will. 

Marehettus von l'adua uml .lohann de Muris in «ler 
ersten Hälfte des 14. .lalirhniiderts heseliät'ti^rcn sich schon viel mit 
dem System und der Hand, Mn<l .1 o h ;\ n ti e s Tinctoris, <ler um 
1470 einen i lactat üher die Sidmisatiun unt»'r dem Titel Ejrpositin 
maims geschrieben hat, in welchem bereite» alle Feinheiten dieser 
Lehre vollständig dargelegt werden, definirt: „die Solfisation Ist die 
Auseinandersetzung der Töne beim Singen nach ihren verschiedenen 
Namen*' Die Sohnisation theilt die Töne in Gruppen von je 
sechs Tönen (eben jene Hexachorde) ein, die in einander ein^rreifen. 
Von jedem in der Skala ersclieinenden G aus bilden sechs Töne 
(nach uheii) (Ins harte Hexachord (licrarhorihim (Inrnui), also rtQ. 
nannt, weil unter diesen sechs Tünen das harte och'r viereckige 6, 
das ist der Ton A, vorkommt. Von jedem i^'aus bilden sechs Töne 
das weiche llexachurd {hexachordum moUe)^ in welchem das weiche 
runde h cur Vermeidung der HXrte des Tritonus angewendet wird. 
Von jedem c aus bilden endlich sechs Töne das natürliche Hexachord 
{hexachoräxm naiwae oder naturale)^ denn die natttrliehe Ton- 

1) Süllisatio est csneado vocum per sua nomina expressio. (Tinctoris, 
expositio maniu.) Oanz Ähnlich Franohinns Gafor (Mus. pract. L d): Sol- 

tizando, id est syllabas ac uoniina vocum expriniondo. Und Engelbert von 
Admoiit: . . . eircn ip'<am arteni et usiirn solfandi, id est per voces adscriptas 
litteris eautuin invcniendi et caniandi ui vucilius illis ut in verbis ipsius 
cantas (Tract. HI. cap. 4). Hermann Finde de Ii nirt: Solmisatio ettdebita 
exprewio cqjuslibet cantus per sex vores niusii-alcs. 

2) Tinctoris eaprt in dem Capitel de projirietatibus: Tres autem sunt 
proprietatea: [| dwrum, per quam in omni looo caiiitur, cigus olavis est g ut, no- 



174 



Die Anfange der europäisch-abendländischen Mnsik. 



leiter nimmt eben vom Tone c ihren Ausgang. „Das Kexachordwoi 
moiU^', tagt Hermann Finck, i^pht einen >^( ichen, das naturale^) 
einen mittlem, das durum einen harten Klanp;**. In der Skala 

knmnion zwei TIaIhtönc V(ir; bei »Ut o})i;i;on Aiinrdnunpr posrliiolit 
OS nun, (lass jt'dcsinal aut" den lialbtonscin'itt, in jedem licxacliord 
von der dritten zur vierten Stufe, die Sylbeu mi fa treffen. Das 
Schema der 2U Tone oder Schlüssel {Claves), welche alles Ver- 
■Ubidniss des Gesanges dfinen^ ist folg^endes: 



ee 

dd 
cc 
bb 

r 

e 

d 

e 

b 

a 

Q 

F 

E 

D 

C 

B 

A 

r 



la 

f. 



• • 


• • 


In 


. • .In \ 


sol 


» • 


.80l\ 




• • 


.fa\ 


mi 


. lal 




* re 


. 80l\ 




ut 


. fa\ 




' • 


mi 


1=' 




re 













re 




Hcxachordum dnnnn 
lioxachordum molle acutum 



Uexachordum naturale acutum 

Hcxachordum durum acutum 
Hexachordum molle grave 

Hcxachordum naturale grave 

Hexachordum durum grave 



Hier sehen wir sieLen jedesmal mit der Syllie id bepimeude An- 
fänge^). Nach dieser Anordnung wird jeder Tou bei der Benennung 



tura per quam in omni loco canitur, ci^us clavis est 6 molle per quam 
in omni loco canitur, cujus davia est f, Dicta natwa^ eo qnod omnes 

ejus proprietatis voccs repdariicr fixae manent et Htubiles inÄar nstora- 
lium, undü quidam: „quod natura dedit et toUit (tollere?) nemo potest. 
B molle dicitur quare per eam iu eo loco cujus clavis est b rotunduin 
canitur, (|uod quidem fa MOUe, id est (IhIcc est... respectu mi in ipso 
intenium loco per ||| duro ranendi." üeljcr diese drei hexachorda prin- 
cipaUa (wie bIc Buttstett a. a. O. S. 121 nennt) »ehe man auch i*Vauchinus 
Gafor m. Cap. 4. 

1) Naturalis enim oh hoc dicitur, oo quod vox humana iu omni quarta 
voce, sive iuter quatuor voces Semper proferre semitoniom delectatur, sagt 
Marchettus a. a. O. S. 91. 

2) Quid est davis? Est vods fbrmandae index. Qaot sunt claves? 
Viginti, atqne ex »equenti fipura, quae vtdcro scala dicitur, patent (folgt 
das Schema). Heuric. i^'aber, compcudiolum Musicae. V'^ou den Glaven sind 
die „Vooes^^sn nntersdiddeii, deren es sedis f^ibt, nämlieh irf rem« fnaoiia, 

3) Hacc vox uf, quae est prima in ordiue, occurrit . . . in VII locis 
in manu musicali (Engelbert von Admout HL 11} bei Qerbert, Script 
2. Bd. S. 326). 



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Guido von Arezzo und die Solmisatiou. 



175 



mebt allein mit dem Gregorianischen Buchstaben, sondern auch mit 
den auf ihn augfallenden Sylben bezeichnet; z. B. Gamma ut, 0 
fa iit, G sol re ut, Ä la mi re, c sol fa ut. Da das natürliclic Hoxa- 
chord seinen Ausgangsjmnkt von c ninimt, und die Sylbon ut, re, 
mi, fa, sol, la (ui'spriiii'rlifli in der Jolianneshynine) die Töne C, 
Dl E, F, ü, A bedeuteten, die andern zwei llexac iioide aber ihren 
Ausgang von Q und jPd. i. von der Ober- nnd Unterdorainante jenes 
ursprünglichen C nehmen, so treffen in den dreisilbig benannten 
Tönen immer neben der Orginalbenennnng auch die Andentnngen 
der Ober- und der Unterdominante sneammen, also der drei Töne, 
deren innige Wechselbeziehung auch unsere Musiklehre anerkennt, 
z. B. A-la-mi-re d. i. A, E, D; C sol-fa-ut d. i. Gr, F, C u. s. w. 
Nur das B ist immer nur entweder B mi oder B fa, je iiadidem 
es als b quadium oder b rotundum zu gelten hat} es kann uie zu- 
gleich B fa-mi sein. 

Dieses Tableau von Tönen versinnliehte man sich in den Sing- 
sehttlen durch die sogenannte harmonisdie oder Gmdonische Hand, 




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176 



Die Auiknge der europäisch - abendländischen Musik. 



von der iwar Guido selbst nicht die leiseste Andeutung macht, deren 

aber schon Cotton unzweifelhaft erwähnt und Uber welche Engel- 
bert von Admont wie über eine wohlbekannte Sache 'öHm und aus- 
flibrliclicr i fMlot. Schon in dem Tractat des Elias Salomonis (1274) 
wird die KinthcMlunj; «Icr Hand durch eini^ Zciclunin'^ versinnlicht, 
und in der E ij'oslf io manits d<^s Tinctoris kcuiinit sie in den 'I'ext 
zierlich ein^^j^cichuet vor, in gleicher Weine auch »chou iu liugo's 
▼on Reutlingen Floreacantus GVe^mom (angeblich 1332 geschrieben, 
gedruckt 1488 xu Strassburg) und sonst öfter, sogar schon in einem 
angeblieh dem 12. Jahrhundert angehSrigen Codex, der den Tractat 
des heil. Wilhclmiis Hirsaugiensis de Mimra et Tonis enthält und sich 
in der Sammlung des Herrn von Murr in Nürnberg befand'). „Die 
Hand," saj^t Tinctoris, „ist eine kurze und nützliche Unterweisung, 
welche cumpendiös die t^iiantitäten iler nnisikalischen Töne z<'i^t". 
Diese Hand war im grössten Ansehen, oluu' si(^ durfte niemand liotVen 
den Gesang je richtig zu erlernen, wogegen ihre Kenntnis» allein, 
wie man meinte, hinreichend war die volle Einsicht in das Wesen 
des Gesanges zu verschaffen. Sie allein schuf den kunstgebildeten 
SKnger; wer ohne sie sang, war ein Naturalist, ein Kunstvagabund, 
ein Jongleur. Man fand an der nienschliclien Hand, die Finger- 
spitzen mitgerechnet, 19 Glieder'^), alMf gerade so viel als die Skala 
Ouido's TJnie zwischen 7^- r/»/ hatte iwenn nämlich das b nicht als 
h und !! zweimal angerechnet wurde i. Man liiig an <ler Spitze des 
Uauiaeub der linken Hand au, dort fand das JT tU seineu l'latz und 



1) Tu vt'iiio^ iliani nrficidis iiKululari sedulus assiicscaf , ut ea pnst 
quoliuus voluerit w o monochordo utatur et in ea cautum probet, corri^at 
et componat. (Joannes Cottonius bei Gerbert Script. 2. Bd. S. 2.S2.) 
Wenn also Kiesewettcr (Guido von Arezzo S. 'M) sapt, dass von der Hand 
auch in den Traktaten der zunächst naeli Guido folpriKien Srlniftstcller 
nicht die mindeste Spur zu finden ist, so muas Cottou jodeutails aus- 
genommen werden. 

J) Kit! Fnesimile sehe man in Oerber*s „Neuem Tonkflnstleriezion" 
4. Bd. S. 575. 

3) Unde dicit Remigius in libro expositioniB et abbreviattonis Macrobü: 

quo«! manns musicalia XXI voees ut AVUll littcras habens per tpoHa 
et lineas in XVIII artirnliH digitorum inscriptas, ideo tali vocum et 
literarum numcro est coutenta etc. (Engelbert von Admont bei Gerbert, 
Script 2. Bd. S. 290). Nach dar Erkl&rung, die Tinctoris in seiner Expo> 
sitio manus fribt. wcclisfln an der musikaliscliini Hand linca und s]iatiuni: 
80 ist z. B. i ut liuea, Ä re spatium^ JB tni linea, C fa ui spatium u. s. w. 
bis ee-la spatium, „hinc dtcitarAit m linea, ^ rein spatio esse.** Diese 
1 Unterscheidung nulun Beziehung auf die Notenschrift,, welche auf solche 
Art beim Erlernen dt r irajid tbu Kiuiltcn {geläufig wurde: Posito igitur 
prius ordiue et distinctiunc vocum in manu musicaU, qui ordo et distiuctio 
pneris primo addisoentibus muricam est notistimus et per atpeotum ipsias 
manus patet. quae litterae et voccs seril»antur in spatio et in linea m 
manu, ut per consequens in libria voces codem modo spatiis et lineis proptur 
artem et nsom cantandi per musioam adBeribantor (Engelbert m. 4). 



Digiti-iCG 1 y C AK^gle 



Guido Yon Areno und die Sohnisation. 



177 



verfolgte die Glieder sofort in einer Art Spirallinie, wonach das 
dd la sol zwischen das erste und zweite (ilied des Miltelfiiifrers zu 
stehen kam Das hoehste ee la, das i lmehin nur lu i-^etufit war, 
um dag oberste Hexaehord (dumm i>u}tti ixadum) zu verv'olltitäudi«ren, 
musste sich gefallen lassen ttber dem Mittelfinger in der Luit zu 
schweben. Die gleiehbenannten Tdne kamen an den Spitien und 
Wnneln der Finger in eine Art regelmSinger dftfilpurang, nXmlich 
in Opposition gegeneinander, zu deren eymmetriseher Vollstftndig- 
keit nur das tiefe F unterhalb des Gamma, oberhalb der Spitae des 
Daumens fehlt Die Hexachorde hiessen auch Dednctiones, man 
sa^e: prima, secunda u. s. w. dedurfio; ihre Eifrenschaft, je nach- 
dem sie hart, weich oder natürlieh waren, hiess praprid as'^). 

Das Wichtigste und Schwerste in der Solmisation war al)er die 
Mutation. Wurde nSmlich im Gesänge ein Uexachord überschritten, 
fo munte dannf Rtteksieht genommen werden, dasa man das Gebiet 
eines anderen Hezaekords betreten habe. Im Singen nannte man die 
Töne nicht mit den langen mehrsylbigen Namen, sondern mit der 
Sylbe, die ihm nach dem Hexachorde ankam, in dem man sieh 
bewegte, a. B. 

^ * , *^ 

naturale 

Mt rs m» fa fol la 

Wurde nun ein Hexachord auf- oder abwh'rts überschritten, so 
musste mau die dem neu betretenen Hexaclionl zujrebi»rigen Töne 
gehörig benennen, und zwar so, dass das »i/ fa \vi«'(ler auf den 
gehörigen lialbtonsclu-itt zu stehen kam. Um solches zu können, 

1) De Huris ^umma mns. ViU) unterscheidet bei der Besdureibnng 
der harmonischen Hand am Finger die Funkte radix, gremium, sinus oad 
frone (oder pulpa). 



2) e la mi d »ol re c sol fa ut 




b mi C fa ut d »ol re e In mi F fnnt 

Räumen) (Zeigefinger) (Mittel- (Gold- (kleiner i*'ingcr) 

finger) finger) 

Anffidlend mag es heissen, dass keiner der alten Solmisationslchrcr in 
seinen Schriften diese merkwflrdige Begelmässigkeit der Erwähnung 
Werth hält 

10 Tiofltofis a. a. 0.: Bropriotas est Toomn dooeodarmn quaedam 
ringuens qnsütas. 

▲■bT»s, «MShSAto te MMik. n. 12 



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178 iJic Anfänge der europäisch-abendländischen MubUc 



mnsste aber der Ueberleitangston scbon im Sinne deg neu zu be- 
tretenden Hexaehords benannt werden: also im obigen Beispiel, 
wenn z. B. nach h c gesungen wurde, das a la mi re, welches ohne 
Uebrrscbroitung dos natürlichen TToxachords la goheissen lintto, 
mnssto statt dessen re, im Sinne des harten Uexachords, heissen, 
nantlieh : 




ut re mi fa bul re mi ta» 



Oder wenn h rotandnm in singen war: 



nat. molle 

<9 i ? < g 



nt re mi fa re mi fa soL 



Analog beim Abstei;r<'n: fa. mi, la sul und sol, fa, mi, sol fa n. s. w, 
Datt war nun eben das Mutireii Man zählte solcher Muta- 
tionen auf der Hand aweiundfünftig; das F vi, A re, B mi nnd ee la 
konnten gar nieht mutirt werden, weil sie inkdn anderes Hexaebord 
binttberAlbren. Bei den anderen Tönen deuten die Sjlben sogleleb 
die mQglieben Mutationen an. Daber sagte man: . 

si vox est simpla, fiet mutatio nuUa 
ii vox est dnpla, fiet matatio dapla 
si Toz est tri^a, fiet mutatio sena*). 

So hat also z. B. A-la-uii-i e dweu soclis: auü la oder rs in mi, aus 
mi in la oder r«, aus re in la oder mi: 

aua la in mi beim AafiAeigen ans dem dämm in*i molle 

„ mi „ la „ Alisteigeii „ „ iimllo ,, durum 
la 

n II Aufateigcn „ „ uaiurale,, durum 

„ re ,1 la „ Absteigen „ „ durum „ naturale 

„ mi „ re ^ Aufsteigen „ ti molle n dnnun 

„ re „ mi „ Absteigen „ « dnmm „ molle 

\y Marchettns von Padua dofinirt : Mutatio est variatio nominis vocis 
seu iHitae in codem spHtio: fit numque mutatio vel tieri potest in quoiibct 
loco, ubi duae vel trci« vooes sive notae nomine sunt diversae (Oerbert, 
Script. H. B;.'i.l S. W) 

2) Diese Verse konmieu schou bei Adam von Fulda vor ^Uerbert| 
Script. 3. Bd. S. 848). Andi Hermann Fiuqk citirt sie. 



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Guido von Arezzo und die Solmisation. 179 

Aus gleichem Grunde hat auch G'Sol-re-ut sechs Mutationen, da- 
gegen z. B. D-sol-re nur zwei: 

aus 8ol in re beim Aufsteigen aus dem durum in's naturale 
„ re „ 8ol „ „ „ „ naturale „ durum*). 



Das natürliche Hexachord war stets entweder mit dem harton 
oder mit dem weichen verbunden, es hiess daher auch hexachordum 




1) Sehr umständlich , aber auch deutlich sind alle möglichen Fälle 
der Mutation in dem Tractate des Tiuctoris aufgezählt. Er bringt die 
Sache auch noch insbesondere in die holprigen Gedächtnissverse: 

12* 




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1 80 Di« Anfilnge der europäisch - abcndlftndischea Musik. 



servutHy das dienende Hezachord^. Man durfte nielit eher mntiren, 

als bis es die NoUiwendigkeit erheischte^. Immer masste das mt-/a 
auf den Halbton treffen. Tinctoris stellt die sämmtlichen Mutationen 
in einem eigenthllmlichcn Aufrisse dar (s. vorhergehende Seite). 

Ueberrascht von der Kot::('liii!issi<;kcit dieser Figur ruft Tinctoris 
ans: ,,Es ist wahrlich in (h^r Disposition dieser Mutationen eine 
Art göttlicher Ordnung zu bemerken" 3). Die Mutation war in 
der Solmisation das Wichtigste, wie selbst schon ihr Name an- 
leigt; denn ml luum «of «o2 nnr folgen, wenn man ans dem 
natnrUchen in das weiche Hezaehord flheigeht: 

nat ' molle 

g \ a b c 
Ml mi fa nt 

Durch die genaue Anwendung der Mutation und die dadurch be- 
wirkte Erscheinung des mi fa an der rechten Stolle wurde, zumal 
im mehrstimmigen Gesänge, das berufene mi contra fa vermieden, 
von dem mau in den Singschuien sagte: 

mi oontra & 

est diaboloi in musioa 

mi fa 

est coelestis harmonia. 

Ut re, re ut, re mi cum mi re 
Fa, ntqne sol utque^ 

Sei reque, la re, la mi 
Scandere to faciunt — 

Ut fa, ut sol re, sol cum 
Re la mi laqae fi» sol 

Sol faque, sol sol, la la sol 
Dum canis ima petuut. 
1) Buttstett a. a. O. S. 124: „Erstlich stehet das hexachordum naturale 
unten in der Tiefe, zweitens stehet es eine Üctav höher, dazwischen setzt sich 
b quadratum mit seiner Gemalin dem b rotundo als Priuc ops clavium mitten 
inne; jedes will seine Aufwartung haben ^eide erfordern em anderes ut, con- 
seqnenter auoh ein anderes toi and 2a). iHt masa das hexachordum naturale 
herhalten, deswegen es auch Exachordum servum ponrnnct wird . . . Das Ex- 
achordum naturale ist allemal eutweder mit dem duro oder moUi verbunden, 
es stehe nun unter oder über einem von beiden, und dieses ist die ürsaohe, 
dass es servum genenne t wird, weil es jenen beiden dienen muss." Dtmmi soU 
feggiric man bei der Tonrcihe g ahc nicht im Sinne des hexach. durum ut re 
mi fUf sondern sah das erste als dem hexach. naturae angehörig an und sagte 

n * 

g a h c 
8ol ro mi Cs 

8) Nee praetereondnm est, quod mntatumei inrentae sunt propter 
disgressum mitus proprietatis in aliam, unde postquam aliam proprietatem 

ingressi ftumtis, anto tinah-m ejus vocem mutaro nun(iuam dcbemus. Et 
sie intelligitur, quod rarim ac tardius ut fieri polest mutandum est. (Tino 
toris a. a. O.) Hermaim Finde begannt seine Mutationsregeln liut im Tone 
des Decalogs, Heg. I: Nunquam mutabis, nisi sit mutare neossse: ein Hexa- 
meter, der schon in den ¥ioT. cant. (ireg. vorkommt. 

fl) Finaliter notaadmn est^ in dispositione islannn matationam 
divinus quidam ordo habetur, qm per fignram sequentem &ailliune intelli- 
gitur (folgt die Zeiohnun^. 



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Guido von Arezzo und die SolmiMtion. 181 

Dieses mt contra fa konnte in der einzelnen Stimme m der nnge- 

hörigen Anwendung der ttberrnttMigan Quarte erscheinen, wenn 
man im hcjcachordum moUe statt des mnden b das b quadnm hören 
liess; der Ton sollte als fa «:^onommo.n worden und wurde statt 
dessen als mi angegeben, das mi fa traf uu^^eliUrig zusammen *) : 
es war der so selir gefurchtot»; Tritonus. Im mehrstimmigen Ge- 
sauge hatte es dieselbe Bedeutung: 

Tritonus. Semidiapente (vermind. Quinte, ümkebrung des 
fa m\\ 8ol fa Tritonus). 




oder jene eines Qaerstandes: 



(hexachord. 
Tni re ut donun) 



mi ük soI (moUe) 

den mau auch im Querstehen des Tritonns fand^: 

fit mi mi fii (dnmm) 




& sei fis re fis (naturale) 

wobei zweierlei Hcxachorde gleichzeitig zur Oeltung koromen, 
oder es trat als Folge von zwei grossen Terzen auf: 

(lioxftchord. 
re mi fa durum) 



H iol la (natarsle) 

wobei ebenfalls zwei verscliiedenartige Hexachorde zugleich ge- 
hört werden^ 



1) Praetcrca \n h fa^ mi acuto et superacuto nulla fit mntatio {h fa 
kann nicht in h tni mutirt werden und umgekehrt), qnia mutatio dcbet 
fteri necessario per duaa voces unisono convenientes, id est, quod vox illa 
qnae mntatnr, et alia quae per mutationem assumitur, sint in uno et eodom 
««ono, immo ab invirem ili«tpnt majori somitonio ost impossibile, quod 
uuum in alterum sit mutabile. (Tinctoris a. a. ü.) 

8) Daas die Alten solobe Fortschreitnngen wegen der entstehenden 
Qnerstände untersagten, erwähnt auch Dehn, Lt lire vom Contrapunkt S. 7 

3) Daniber zu vergleichen in Piotro Aron's: Libri tret de institatioue 
harmonica III. 15: mi contra fa cur vitari debeat. 



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182 Anfönge der enropftisch-abendl&nditchen Mutik. 

Wurde nur ein Ton Über la gesungen, so mnsste fa ge- 
sungen worden, wieder um jenem iliah(Aus auszuweichen; es galt 
in den öchuU-n der Cnundsatz: tota uota aficemh'iite sitper la, scmper 
est catiendum fa. Die>es fa galt für keine eigentliche ]SIutation; 
CS musste stets gesungen werden, wenn nicht ein ausdrücklich 
▼QigeieichiieteB ll| oder 1 es anders vorsehrieb i): 





nat. 


molle 




















-<» — ?s— j 






— 0 a — 









ut re mi fit re mi fit mi fe vt 

sol la 



nicht aber: 



m 



Triton. 



I 



la mi 
nt ve mi ft sol re 



Stieg man mehrere Noten Uber das \a, so blieb es bei dem Ge- 
wöhnlichen, wie Vorhin in dem erstgegebenen Heispiel einer Mu- 
tation. Wurde, statt wie im vorstehenden Exempel vom hexachor- 
dutn naturcUef der Ausgang vum hexachordum malle genommen, so 
mosate bei gleicher Tonfolge gemltss der Begel una iwta ascendetUe 
wper la smper est cameiidiim fa statt « Tielmebr es geäungen werden, 
es hiess diese Note fa fiätm^ 







— " 


[la- 


— Ö»— 


■ ff- 






-B ^ 














nt le 


mi fit sol 


la fit 

mi 









Daiiiit war thatsächlich eine Modulation nach b-dur bewirkt, und 
somit das Gebiet der musira ficta berührt. Dieses fa fictum wird 
von den strengen Thcnretikcrn der älteren Zeit nicht erwähnt; noch 
Tinctoris kennt es nicht und ob er gleich alle möglichen Mutationen 



1) Propter unam notam ascendentem super la non fit mutatio, sed 
sempur fa iu ea est cnntandum, nisi hoc ^ vel hoc j(f assignatmn Bit. (Hermann 
Finck, Pract. mus. Reg. VIII mutationum.) 

S) Buttstett ^ut rc mi fa etc. 8. 311) erwähnt, dass die Alten, welche 
alle ihre Melodien in genwe diatonico ufesettt haben, das fa fictum, 
welches sie rait dem b bezeiehnet, fast zu viel }Tel)raucht, indem das fa 
naturale mit dem oben liegenden mi oder b quadrato sich gar nicht ver- 
tragen kann, sondern allezeit das fa ^cttun erfordert, so haben die Alten 
lohier einen Ezoess in speoie in tertio et qnarto tono darinne begaagen. 



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Guido Ton Atmo and die Solmiaation. 



183 



an&fthlt, lo weiss «r doch nichts von der YerXndening des E 2a mt 
in B la fa. Dieses fa fiäum ist jedenfalls in den Kngsehulen bei 

Anwendung ätac musica fida aufgegriffen worden und hat sich all- 
mäW^ ciii^-^t-lnirg ort. Noch bis in die neuere Zeit hiess in Italien der 
Ton Es „E la fa". Sang man nun nach einer fingirten Skala, so 
nnissten die Syllicii den entsjiroclu'iulcn Timen zu^ctlicilt werden, 
und es ist begrtMliit li, dass die; Zöglinge der Siiigsclmlen die Ilex- 
achorde und insbesondere die Mutirungen zu den ärgsten Qualen 
rechn eten, mit denen sie in diesem irdischen Leben heimgesucht 
worden. Aber auch Theoretiker, welche an die unantastbare Anto- 
litkt der antiken Tetradiorde fest glaubten, wurden durch die Hez- 
adiorde nicht wenig in Verlegenheit gesetzt; schon Engelbert von 
Admont deducirte die Verwandtschaft beider in der spitsfindigsten 
Weise, bis endlich der Spanier Salinas zu dem Auswege griff zu 
behaupten, die Ilexacliorde seien ja gar nichts anderes als wahre 
Tetrachorde, denen mau aber in der Tiefe je zwei Töne zuge- 
setzt Franchinus G afor hat darüber eben so wenig einen Zweifel, 
nnd nach einer Kechenkunst im Sinne des Hexeneinmaleins kommt 
er SU dem Besultat: sechs sei vier und vier sei sechs. Das erste 
Hezachord (iunm grave) F Ä B C D E hat freilich sechs TQne, 
ist aber doch ein wahres Tetrachord, denn auf dem vierten Tone 
' C föngt ja schon wieder ein neues Hexachord {nahtrah grave) an, 
welches wieder nur ein Tetrachord ist, obschon es sechs Töne 
C D E F G a umfasst, denn auf dem fünften Tone G beginnt wieder 
ein neues Hexachord {durtm acutum) u. s. w. Boethius und (iuido 
durften einander nicht widersprechen und mussten um jeden Preis 
in Uebereinsdmmung gebracht werden^. 

Die Solmisation war unverkennbar ein sehr weitllufiges aber 



1) Sciendum autem est, haec hexucborda recentiorum eadem esse cum 
tebradiordiB, additis infeme vodbns dnabui, ex qnibns et quatnci* fllomm 
sex vnces, quas musicaics vocsnt, originem traxemnt (FnuDMnsd Sslinss 

Lib. IV. de mus. S. 1Ü3). 

2) Namquc (G uido) uninscujusque exachordi principium vel primo prae- 
cedentis exachordi tetrachordo conjunxit, vel ipsum ab eo toni diqnnctmn 
instituit intcrvallo (Mus. pract. T. 2). Erstcres int bei dorn h. durum prave in 
Beziehung uut dua h. nat.gr. der Fall, das Zweite beim h. uat. gr. inBe/iehut)g 
anf das h. dumm acutum. Soharftinnig ist, was Zarlino (Instit. bann. III. 
cap. 2) über diesen Gcpenstnnd sap^t : la ondc bisuffna sapcre che Guiduno 
conginnse ogni deduttione con uuo delli Tetrai Imrdi grcci, agguingendo a 
dsscnn tetrachordo dae ootde di piü dalla parte grave, oomfe e qiidla dell* 
Ut etquella delRe : perciocche ornii tretachordo hh principio nellaohorda del 
Jli; come nella seconda ]>artf fu rommemorato, di inaniera: che ogni Esm- 
chordo contiene ciaacuna sptcie dello diatesseron, che souo Ire. Hiernach 
besteht also jede« Hexachoid aus drei in einander geschobenen Tetrachorden: 



cdefga^g ahedBlfgabcd 



uiyiii^Cü by GoOgle 



184 



Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik. 



auch schaifnnniges System, erdacht um g^cwisse Schwierigkeiten m 
beseitigen; was ihr frtjilich nur um den Preis gelang, dass sie weit 
grössere, nämlich sich selbst an deren Stolle setzte. Die in der 
Natur solbst be^rründeten Octaven werden durch die Ilexnchorde in 
Htüeke gerissen, und die V^i'rl)indung durch die Aufl'assung des 
natürlichen Hcxacliurds als licxarhordum servum nur nothdürtYig 
horgestelit. Derselbe Name, ut oder re oder wie sonst, bezeichnet 
gans verBcliiedene Töne; derselbe Ton nimmt verschiedene Namen 
an nnd heisst bald lU, bald re, bald «o{ n. s. v. Die Zeit, in welcher 
die Solmisation entstand, besass noch keine Harmonielehre, sie hatte 
keine Kenntniss yon der Verwandtschaft der Harmonien und Ton- 
arten, von Modulation u. s. w. Für alles dieses mnsste die Solmi- 
sation Ersatz leisten. Darin lieji^t bei allen Mängeln ihr Werth. 

Der Zweck der Solmisation war keineswegs den l\>nen neue 
Namen zu geben. Die Töne behielten vielmehr die alte Gre- 
gorianische Buchstabenbezeichnung; dazu kamen durch die Sol- 
misadon dann noch die Sylben, durch welche die Stellung jedes 
Tones im System und seine Bestehung su den nlehstverwandten 
Tönen ausgedrAckt wurde. Die schon in der Verbindung der 
Plagaltöne zu den authentischen anerkannte Verwandtschaft zMrischen 
Grundton und Quinte, als Tonica nnd Dominante, wird hier noch 
«•ntsclnedener hervorgehoben, indem auch die Unterdominante mit 
hereinge/.o<;en wird, d. h. jene drei Ton-ituten znr (leltniifr kninmen, 
deren drcif^eeinte Verbimlnn«^ den Bt'ji;riff des abp^esclilossenen 
Systems einer Tunart gibt. Das h. naturale (C) steht gegen das 
h, ämrwm (O) und moUe {F) im VerhlQtniss der Tonica sur 
Ober- und der Unterdominante und ist seinerseits die Oberdominante 
des weichen und die Unterdominante des harten Hexachords. 
Das Nxciche Hexachord gewinnt durch das fa fictum auch die ihm 
nach dem strengen System felilondo Unterdominante {b c <1_ es 
f (ß. Sollte nun aber das harte llexachord in gleicher Art durch 
die ilun t'elilende Oberdominante eine den beiden .indem Hexa- 
cliDiden analoge Stellung erhaltiMi, so miisste man zu einem mi 
fictum durch Erhöhung des f um einen kleinen Halb ton greifen, 
das die fingirte Musik, wie ivir durch Gafor*s ausdr flckliche Er- 
wähnung wissen, kannte, aber nicht benannte und als höchsten Ton 
eines fingirten (transponirten) mit Ä beginnenden Hexachords ansa h i), 
wShrend seine eigentliche Stellung im Zusammenhange wXre: 

c d e f g a . . . hcxach. naturale 
g a h c d c hexaoh. duruta 

d e jj} g a h f 

1) Doni (Sopra i tuoni S. 125) meint: non ardivano nel rpooIo a 
dictro serviräi di tal speziu, h jjf fj quasi che non sapessero con ajuta 
<ran corda pellegriaa formarvi la quinta. 



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Guido von Areszo und die Solmisation. 



185 



Dm erbttliende Krens fttr dieses in seiner Wichti^eit nnbeachtet 
gebliebene, nicht eigens hervorgehobene mt fidum wkre für die ganse 
Musik das Zttchen der Erlösun^r geworden. Denn auf demselben 
Wege wäre man dann durch das Hexaohord jenes mi fidum zu dem 
ilini nSchstanj^rKnzenden n h ^ r d e ^ f und so weiter durch den 
ganzen Kreis der Tonarten «geleitet worden, die man auf diesem 
Wege in iiiron Wecliselbeziehungeu verstehen gelernt hStte. Dass 
man aber aus Respekt für ttberkommene Traditionen und der Con- 
seqaens der Diatonik sn Liebe diesen entscheidenden Schritt nicht 
wagte, obglmcb man an den Beziehungen desnatQrlichennnd weichen 
Tetrachordes Vorbilder hatte nnd da« fis durch die miisira ficta selir 
wohl kannte, ja obschon man durch das fa fidum diesen Schritt 
nach einer andern Seite hin bereits wirklicli pethan: darin liegt das 
Gebundene und Unvollkommene dieses öystems Die der strengen 



1) Elias Salomonis (1271) sn<;t ganz bestinmit und deutlieh: CFG qassi 
eandem naturam habent et in utraque istarum triam possumu» dicere, (|no« 
niam est de natura artis ut et fa et sol et re . . . tn ^ non dicUar fa, scd re- 
compensatur rc (Cap. III). Wenn also g niemals fa sein kann, so kann SS 
nie lieisfen jj/— .7, fr — mi — fa. Da^'efjen Huttstett (a. a. O. S. ,'{!>): ^,01) nun 
wohl dicAiteu die Noten /oder /'anicht murkiret, so haben sie solche dennoch 
elevatione vods exprimirei, als wenn das Signum diaeseot oder das doppelte 
OreuT wörklich darbei stünde. "Wovon sowohl die heutige als die für etlieben 
100 Jahren übliche praxi» Zeugniss gibt: nach unserer heutigen Art aber wird 
das Signum diaeseos expresse beigesetzt " Stehlin in seiner Chorallehre S. 8 
gibt folgendes Beispiel einer „hinten Uebenehreitnng** des H«iachords, wo 
er yiehnehrvoneinerTransponinmg im Sinne der musiea fictaspreohen sollte: 

( y a h c d e fis g 

\ ut ro mi fa roI la mi fa 

„Es wird aus diesen Beispielen klar", sagt er„da8s durcli «Ifti BogrilTvon hart 
und weich bei der unvermeidlichen Ucberschreitung des llexachords das Ton- 
TerhKltniss bei den Buchstaben b ef sich verftndem muss'* (sich yerftndem 
sollte und sich ])v'im h gleich ursjjrünglieh, hei e durch ilas fa fidutH ver- 
änderte, wogegen für die Veränderung des f kein Zeugniss vorliegt). „Die 
siebenten Stufen .... erweisen demnach unbestreitbar die Töne, die in der 
modernen Tonschrift als h es fis bekannt, im Ohoral aber im System des 
Hexachords enthaUen sind." Für dif l^-h.iuptung, welche Stehlin anderwärts 
ausspricht, dass die zwei i'uukte den -äclilussels die zwei Hulbtöne f — fis nach 
der Neumensohrifl (?!) bedeuten, ist er den Nachweis schaldig geblieben. 
Tinctoris (Expositio manus) redet über die Hi'dcutunLT der Schlüssel anders: 
man habe ff pro ff fa ut gravi gesetzt, qua quidum clavi voteres usi sunt, jpro- 
priam ipnim Iwrae atmtmetUes /brmam,'ut patet in vetnstas codidbns; sed 
nescio, quo motu moderat a m^j<Mram vestigüs deoUnantes, davem istam for- 

matam vel ^ . . . etiam in cantn piano aooeperint, vel sie , maadme 

in re fiicta, quamqnam frequentins vacna sit nt hie 'jj n. s. w. — Also die 

Zeitgenossen des Tinctoris, die moderni, führten um 148U jene swei Puncto 
eiu, wo von Neumen lange keine Rede mehr war. 



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18G 



Die Anfänge der europäisch- abendländischen Musik. 



Diatonik auch widorstreiteade Inconsequenz der Untersclicidung des 
h mi und b fa rcciitfertigte man eben durcli das Ansehen der iiber- 
koinnieiien Tradition, besonders durch lllnweisung auf das \ er- 
bundene, uiul das jrefri'unte 'l'etracliord der antiken Musik, welche 
eben um jener Unterscheidung willen da waren; das fa f'utum war 
eine Nachbildung des h fa. Man hätte nun ebenBogut den Ton f 
eigens in ein Fmivi and F favt nnterscheiden kOnnen, wie das • 
in ein e la fa (es) and elami (e)^ man hiftte erwXgen sollen, dass 

das ela fa nardem auch nicht aasdrflcklich anerkannten Hexachord 
h e des f angehören könne. Aher man wagte m nicht. 

Dass die Solmisation sich, statt aus Octaven, vielmehr ans 
Gruppen von je sechs Tdnen zusammenbaut, ist von ihrem Stan«I- 
punkte aus so wenip fiue Willkürlichkeit oder Uuvollkoninienheit, 
als es in unserer Ilnnnouielehre willkürlich und uuv<»llkouiinen ist, 
wenn wir die ihr erstes Element hildiMuleu Dreiklänge aus einem 
Pcntachord, einer FUnftunreiiie, in ihren drei weseutlicheu Tönen, 
Grandton, Terz, Quinte, und ohne die verdoppelnde htthere Octave 
des Grandtones bilden. Die Uebersehreitung des sechsten Tones 
ist allerdings ein wichtiger Schritt Geschieht sie um einen ganaen 
Ton, so drSngt der Gang nach aufwibrts zur abschliessenden Octave; 
geschieht sie um einen halben Ton, so wird sie ein Punkt der Rück- 
kehr, der Gang drSngt abwSrts zur Unterquarte {cdefga h-c oder 
r (1 f f g a b-a g f). Im Ductus der Melodie drückt sich hier die 
harmonische Modulation aus, und wie nun auf solche Art die Me- 
hnlie in ilireni (Jaufre die ihr zu Grunde liegenden harmonischen Be- 
ziehungen erkennen lässt, so liegt eben deswegen in der iSolmisatiun 
der Keim d«r Harmonie, und swar jener homophonen Harmonie, 
welche nicht neben der melodischen Hauptstimme als einem cantus 
fmnuB andere gleichberechtigte Stimmen parallel einhergehen iSsst 
(der Keim dieser Harmonie, der P(dyphonie, liep;t im Organum), 
sondern durch accordmässi^en begleitenden Unterbau, den man tnt 
Ende des 16. Jahrhunderts durch den allgemeinen Bass (bas!tus ge- 
mrali.s) und beigeschriebene Zifleru andeutete, die harmonischen 
Bezieliun/.'en in der melodischen Führung hervorhebt uiul eigens 
hinstellt. Das Uexachord hat hier beinahe die Bedeutung wie der 
Dreiklang, das natOrliehe die Bedentang des Dreiklangs der Tonica, 
das harte die des Dreiklanges derOberdominante, das weiche jene der 
Uuterdominante, letsteres mit gleichseitiger Andeutung jener Mo- 
dulation, wodurch es seinerseits Tonica, das natürliche aber dessen 
Oberdominante wird. Der secliste Ton wird mit in Anschlag ge- 
bracht, weil beim melodischen zeitli< lien E<trts< lirriten, im Gegen- 
sätze zu d«'in lianuonisclien gleichzeiti^^en Anschlagen des Accords, 
jene ilircui Wrsen nach liannonischen Hezielmngen erst bei Ueber- 
schreiiung der sechsten Stufe sich geltend machen. Mit der siebeuten 
Stufe wird der Punkt erreichti wo sieh der ftir die Solmisation so 




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Guido von Areszo und die SolmiBation. 



187 



wichtige Halbtoniehritt wiederholt und den aie also, ohne ihm eine 
eigene Bylbe sosnweisen, wieder mit dem den Halbton bezeichnen- 
den mi'fa benennt. Hat doch, meint do ^furis, die Seehszahl (die 
BechB Tage der Schöpfung) zur Krsciiafliung der Welt genügt; 

warum sollte sie nicht aiich ttir die Musik zureichen ^)? 

Die \'ermeidung des mi contra fa lir^riff lür jene Zeit die 
ganze Sunnne der Reinheit des Satzes in sit li; diese Solmisations- 
regel lief wesentlich auf die Beseitigung der (.^uerstände hinaus, und 
es lag somit die Anerkennung des wichtigen Gesetzes darin, dass- 
sich zwei Terschiedene Tonarten gleichzeitig nicht geltend machen 
dürfen. Ein solches Oesetz konnte ans dem was man damals Ton- 
arten nannte, aus den Kirchentönen, nicht klar werden, trotzdem 
das» es Hucbald anch fttr diese gelten lassen wollte. Da sie keine 
wahrhaft von einander verschiedene Tonarten, sondern bhts Octaven- 
umläufe einer und derselben Tonart waren, so konnte gar wohl th-r 
Tenor im ersten, der Alt im dritten authentischen Toue u. s. w. 
singen, da sie thatsfichlich beide in d-moll standen. 

Auch die sogenannte hamonische Hand verdient nicht den 
Vorwurf einer völlig nnntttsen Spielerei^. Sie war ein mnemo- 
technisches Hilfsmittel, welches dem Schüler die Nothwendigkeit 
ersparte stets eine geschriebene Tabelle der Solmisation bei sich an 
* tragen, nnd war bei der Seltenheit der Schreibekunst und der Kost- 

1) üt re, mi, fa, sei, fa — notulamm uonina sena 

SufHciunt notulae, per quas fit musina plena. 
Nec mirum, numerus idem perfectus habetur: 
Machina mundana per eunaem facta doceUtr. 
Quod sex sufficiunt, potes hac raüone, probare, 
l'ltiinn hl, iiolulam si totitas continuare; 
Aam nmgxs ascendem quod erat po»Uum rtpltcabis 
Sive quod est minimiira, qnod ahundat in arte 1ocabiS| 
Semitonus quoniam praccessit et hoc eequeretur. 

Est ergo mdius, quod pratcedem ite^ etur u. s. w. 

(Summa Musicae Cap. VII.) 
Hiermflgen gelegentlich auch die vonFigalascitirten Verse ihre Stelle finden: 
üt re 8ol ut a /avis wHo'ntur dulcia melto 

Sic miscet ^actis blauduia verba Venus 
ü^m dum «fNtiB favor est, dum sola fohonun 

Est requies: constaiis nulla in ain(»ro fides. 
Ex hoc exemplo discent studiosi syllabannn et clavium usum u. s. w. Zu so 
wunderlicbenJIditteln griffman ! — DieS} Iben gabenzu zahllosen rebusart igen 
Spielereien Anläse. Selbst ein Papst musste »ich gefiülen lassen, die Noten 

»edeutpf zu sehen: io\ re mi fa; man schrieb nämlich seine AVahl dem 
£infiusse des Köniffs von Spanien zu. Wo in ileni Numen eines Musikers 
ein Ut oder fa vonicam, ersetzte man es wohl beim Schreiben durdi die 
entsprechende Note, z. B. l'ierre de Ui Kne, Guilelmus Du/hy. 

2) den ihr Forkcl macht, GescU. der Musik 2. Band, iftbeoso Kiese- 
wetter, Guido von Arezzo S. 37. 



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188 



Die Anftnge der «iropftiMli^abendlliidiMlien Musik. 



spi eligkeit des Sclireibmaterials ein ganz gatea Surrogat Der Schüler 
hatte das Schema der Sohnisation in «einer linken Hand gfeets ro 

Bciiier Verfügung, sobald er die Namen and die Stellen derselben 
an den Fi n «zergliedern ein- für allemal seinem Gedächtnisse ein- 
{^cpräf^t. Bios aus dem Kopfe zu solmisiren war schwierig, jeden- 
falls (liT Blick auf eine Tabelle oder die ihre Stelle vertretende 
Hand cino sehr wcsontliclie Erleichtemng, zumal wenn ans einom 
fingirten Tone, z. B. aus ^'.s oder ais gosungen wurde*). Der Schüler 
mit dem Zeigefinger der rechtenllaud auf die linke oder auf dieNoteu 
selbst deutend^ und die gewohnten Intervalle angebend, konnte 
nicht fehlgehen, sein mi fa sagte ihm, wo er anch bei veränderter 
Tonhöhe des Gesanges die Halbtttne ansageben habe, und so konnte 
er denn leicht und sicher jeden Gesang in jeder beliebigen Tonhöhe 
transponirend vortragen. Daher wies man auch in den Singschnlen 
gern auf den Vers des Hugo von Reatlingen hin: 

Disco manum tantum, si vis beue diacere cautum. 
Absque mann finutra difoes per plorima histra.*) 

Die Mutationen konnte der Schüler mit Hilfe der Hand gleichfalls 
leichter ausrtlhren, weil sie ihm die Ueberf^^angspunkto aus einem 
llexachord in das andere dcnitlich machte; besonders war es bei dem- 
jenigen Mutiren in mmte fast unentbehrlich das Schema vor Augen 
zu haben, wo in einer Melodie mehrere Tonstufen übersprungen 
worden nnd der Singende beim Solfeggiren sie mit in Anschlag 
bringen mnsste, natllriich ohne ne hören sa lassen, nnd die Hntirang 
danaieh einsoriehten hatte, s. B. (aus Bnttstett) 




fa mi fa (mi la) sol mi sol ni sol re mi fa (la sol) 



dumm 

fa mi fa ut fa 



1) „Uebrigens mag man es transponiren, in wolrhrn Ton oder Clavcm 
man nur wilL so heisst imd bleibt es vi re mi fa 80l la" ^Buttstett a. a. 0. 
S. 121). 

2) Nam cum deztra facimus pausat, ostendimns pvnctos com digito 

et stylo (Elias Snlomo a. a. O. 8. 24). 

3) Fiurea cantus (iregoriani 



Guido von Arezzo und die Solnüsation. 189 









i 9 C 


^ r — 




1 1 1 L 1 1 







la Bol U mi Ml re mi ft sol 



fk mi fa Qtk sol) f» sol la re 

Hier bedeutet mm s. B. die unmittelbar wiederholte Bylbe fa (fa-fa) 
in Folge des dazwiadien fallenden Mutireni tn nmte jedesmal einen 

andern Ton, einmal f-fa im natürlichen, das andcremal c-fa im harten 
Hexacbord^)- Finck beceicbnet diese Mutationen de fa m fß, ex sol 
in sol u. 8. w. als saltvs sive mniaiione de nota ad uoiam und fiijrt 
an einer anderen Stelle bei: in quartis, quintis et actafis fit mltus 
de nii in mi, dv fa i)t fa. Die oben vurkoniineiide Sylbe ui ist eine 
Modification, die der ä|iätzeit der Solmisation angehört, wo man 
ber^ nngeMhent Bemitonien eimnieebte. Buttstett, der letzte Bitter 
der Solnüsation, sagt darttber: „dieSemitonien eis, iis, fi», ffis werden 
iievaium voeis gemacht, ftllt das doppelte Ereus in's fa, so nimmt 
man statt fa ni, das ist instar mi, weil es wider die Natur ist, dass 
man fa scharf singet". Durch diese „Erhöhungen der Stimme" oder, 
es mit dem wahren Namen zn nennen, durch den Gebrauch der 
Halbtöne gerieth die alle Magnetnadel des mi-fa, die nonst unver- 
rtickt nach den zwei Stellen der Hnlbtonsehritte in der Skala (dem 
Kord- und Südpol) hingewiesen hatte, in s Schwanken und zeigte 
bedenkliehe Dedinadonen; es traten luftllige Halbtonschritte auf, 
ohne dass sie durch das mi'fa bemerkbar gemacht wurden, man griff 
XU dem m, oder su do (statt ei», wiewohl do meist für itt, als im 
Singen leichter ansprechend, angewendet wurdet Selbst die an- 
scheinend untrennbare Nachbarschaft von tnt-/*a war keine gesicherte, 
man trennte sie z. B. der Kegel „una nota super la sempa- est ca- 
nendum fa" an Liebe und solfeggirte a b a * man mutirte beim 

U üb 1* 

Absteigen vom fa im hexachordum naturale bis unter das ut, gleich 
nach dem fa mit la, f,weal das Exoehordwm diinm sich da anftuget" 
erkUrt Buttstett: 





1 











la la lol & mi re ut 



1) Die Mtttatio in mente wird der Sache nach schon bei Engelbert 
von AdmonI JJL 10 erwihnt 



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190 Anflknge der earop&isch- abendländischen Masik. 

und diese Matarungsark wird aneh wlioii yon Tinctoris auBdrUcklieli 
gebilligt, ob sie gleich der Regel so spXt als mttgUch sn matireii 
widerstreitet, nach welcher et hebsen sollte: 

f e d e a g 

ja mt re fa mi re ut 

übrigens eine Mtitirung, welclie Tinctoris filr denselben Casus, nHm- 
lich filr (las Al).sl('ij;«'n aus <l«'m natürlichen iu's harte Hexachord, 
gleichfalls ausdriicklidi j^utheisst Zu soIcIkmi feinsten üuter- 
schcidungcn inussten die Schlüssel aushelfen: der F-Schliisscl im 
Batiä, wie der C-SchlUssel im Tenor, deuteten beide den Ton fa 
•a, aber ersterer fa im natflriieben Hexaebord 

letsterer fa im harten Hexachord 

aUo zwei um eine C^uinte aaaeinauderätcheudc Töne. Stieg man 
nun im letiteren Falle unter das in das Hexachordnm natnrae, 
so durfte man nicht wie beim F-Schlüssel nach fa gleich la, sondern 
man musste mi singen, „weil das h qitadratim hier seine natürliche 
Stelle bekleidet«* (Bnttstett), und es musste heissen 

durum nat. 
(re ut) 

fii mi la sol & mi re ut 

Für diese Aenderang des re in !a fand sich in dem Namen des Tones 
ÄlanU re die erforderliche Andeutung, wie auch Tinctoris lehrt: 
re la sei die Mutation in beiden Alamirc, um aus dem harten in's 
natürliche Hexachord Jibzustcij^en. Die Schüler, denen es ohne 
Zweifel von alle dem wurde ,,als ging ihnen ein Mühlrad iui Kopfe 
hcrum'^: mussten nothwondig Töne und Mutirungen, wie man 
sprichwörtlich sagt, was hier aber gäns buehstlCbUeh an nehmen ist, 
an den Fingern abaVhlen ktfnnen. 

1) üt fa est mutatio quae fit in C fa ut et 0 sol fa ut ad dp-^condendum 
de natura in k durum et in utroque f fa ut ad desoendeudum de b-molU in 
naturam. . . . la est mutatio quae fit in ntro<iae Bland ad detcenden- 

dum de natura in ^ durum et in utroque Alamire ad desoendendum de 
l)-mrdli in naturam. Die ^Ir-j^üt hk.'it dieser Mutirungen deuten allerdings 
auch schon die Namen (J fa ut und £ la mi an. 



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Gaido TOD Arezzo und die Solmisation. 



191 



Der Spott, mit welehem Mattheson la Anfang des 18. Jahr- 
handerts „des Aretini Fibel*' verfolgte, hat seine Bereehtig^g den 

Lehrern gegenüber, die zu einer Zeit, wo die Musik längst über 
viel andere Mittel gebot, zähe an ihrer Solmisation festhielten. 
Sie selbst war ein nothweiidiger Durchgangs- und SntwickeliingS- 
pnnkt in der Gcscliichto der Musik. 

Ohne nun die ganze Sohnisation mit allen ihren Feinheiten auf 
Guido*» Recluuiug setzen zu wollen, muss man ihu^ doch und zwar 
anf sein eigenes Zeugiüss hin meht allein die Einfilhrung des prdt* 
tischen Hilfiimittels des ut re nU fa aol la ia den Singschnlen, son- 
dern auch die Begründung des Systems der Hexachorde 
snsehreiben, weil es eben nicht mehr nnd nicht weniger als sechs 
Sjlben sind, die er in solcher Weise anwendete. Es ist kein Gegen- 
beweis, dass weder er noch Cottonius diesen Kunstausdruck an- 
wendet; die 8ache selbst war ihm au^'enscheinlich nicht fremd. 
Aribo Scholasticus und Engelbert von A<hn'int, die sehr viel von 
den antiken Totrachorden, ja von Dichorden, Trieliorden und Pen- 
tachorden reden, hranehen gerade nnr den Kunstaasdruck „Hexa- 
chord" nirgends, nnd doch wendet insbesondere Engelbert nicht 
allein schon die Namen E lanU, D solre, (? «ol rs itt n. s. w. an, 
sondern erklXrt auch, warum denn anf der Hand sechs Noten (8ylln'iii 
und sieben mosikalische Buchstaben, und nicht inehre zu finden sind. 
,,Dic Mndomen sclireilien," Hfi'^t «t, ,.den ein/.elnen (musikalischen"/ 
Buchstaben auf tler Mui>ikalist'Iien Hand und auf den Musikinstru- 
menten statt deren eigener N amen die seclis Noten (la sol fa mi re ut) 
bei; den tiefsten Tönen wird nun blos eine einzige Sy Ibo beigeschrieben 
(r ut, Ä re u. 8. w.), den hiSchsten dagegen zwei Sylben (f fa ut, d 
aUretLB, w.), den mittleren endlich drei Sjlben (A 2a mt re, sol 
rs ut n. s. w.). Die tiefsten bedttrfen nnr einer Sjrlbe, weil man au 
keinen noch tiefem TOnen mehr hinabsteigt; den höchsten geniigen 
cum Absteigen zu tiefem nur zwei Sylben. Die mittleren aber 
brauchen drei Sylbon wegen der dreifachen Veränderung des Auf- 
und Absteij^ens, die in ihnen anfangt und endet (propter tripUrem 
mutationem asrensiis et (Irscnisus , qiii incipit et tenninat in ipsis). 
Iiier ist bereits das Wesen der llexachorde mit ihrer Abgrenzung 
und auch schon die Mutirung ausdrücklich, aber doch nur so an- 
dentnngsweise besprochen, dass man sieht, wie alles dieses we> 
senüich auf ttberlieferter Lehre und anf Uebung in den Singe- 
sehnlen beruhte^). Doch gibt t^ngelbert an einer andern Stelle 
eine deutlichere Anweisung, wie man au mutiren habe^. 

1) Engell)crt beriifi sicli wo iieriün darauf ganz aasdrfioklich ; sein Work 
soll daher auch kein Lrlulmt h der ars solfandi «»ein: Cetera de bis v'>< il)us 
et earum mutationibu.s, quia apud pritnos addiscentes numicam sunt coni- 
mnmia et mUga^t, ad praesens ommittantur (JJL 11). 

2) II.Tract. ( 'ap. 2!) sagft Engelbert : Facta in C sol fa nt mntationeut in sol. 
»icdioendoFfa, mi reut sol fami, und ausführlicher in Cap. 8 dos Tractatus LH. 



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192 



Die Au&nge der europäisch -abendlftncLischeii Musik. 



Wie man aUerdings in Gnido etwas Nenea und Eigenes anni- 

erkennen fand, beweist der Umstand, dass sich Ausleger um ilin zu 
scbaaren begannen, wShrend frülier die Commentatoren ihre Arbeit 
nur auf ihrm Hoethius und Martinnnn rnjiella zu verwenden ge- 
funden hatten und selbst Iliicljald, der iiiniulios Neue braclite, ver- 
cins.nnit blieb. Freilich «iber hatte hicli liiu bald selbst in das Gefolge 
düüBoctbiuB gemischt, währcud Guidu die Neuheit heiner Auffassung 
und Methode nidit ohne Selbstgefühl oft genug betont. Als die 
ersten Jünger Ouido's können Johannes Cotton^) nnd Aribo 
Seholastiens gelten: eisterer folgte den Schlitten des Meiatera 
erklSrend, andeutend, fortsetzend; der andere griff eigens „dunkle 
BStse Guido's'' (obscuras Guidonis senfeiiiias) hervor, um darüber 
eine ,, nützliche Auseinandersetzung" (utilis exposifio) zti geben. 
Aribo lebte im Bisthum Freisiiig, also in l)eutschlniid, Johannes 
Cotton war allem Anschein nach ein Engländer: ein Beweis, wie 
rasch sich Guido's Name und Anseheu weit genug zu verbreiten 
Termocbte. Cotton erztthlt, dass die Sylben vi re n. s. w., welche 
der Hymne vi gtieamt laxis n. s. w. entnommen seien, in England, 
Frankreich nnd Deutschland allgemein angenommen worden; „die 
Italiener aber," sagt er, ,, haben andere: wer sie wissen will, hole 
sich darüber bei ihnen Auskunft**. Es ist unbegreiflich, wie gerade 

1) Der Anonymus von Rlölk macht den Johannes Cotton zu einem Eng- 
llader: Joannes Aliisicue, uatione Anglus, vir admodum subtilis ingenii, qui 
et praestantiBsimum libi lluin de musica ai-te ooniiiosuit. (Vergl. die Vom do 
Gerbert's zum 2. Bde. der Script.) Das ist ganz glaublich, denn nicht allein 
dass der Name gsns englischen Klang hat, so hat Ootton «ein Werk dem 
englischen Abte oder Bischof (Anglorum antistiti)Fulgentius. seintra , .Herrn 
und Vater" (Domino et patri suo venerabili), gewidmet. Älan hat Cotton, 
weil er sich in der Dtdication sci-vus scrv orum Dei nennt, für einen Papst 
(im Leipzi^'er Manuscript: Joannis j)u])ae musica ad Fnlgentinm Anglorum 
antistitem) und zwar für Johann XXJl. gehalteT», und noch neuestens glaubt 
Neumeier dem Fapst Johann XJiLil. über sein „gelehrtes Werk" ein Compli- 
meni machen >a foUm. Wie man glauben mag, dast bei dsm Stande nnd 
Entwickclung^grade, den die Musik zur Zeit Johanns XXIL'bereits fjewnn- 
nen hatte, noch ein Buch wie jenes Cotton's möglich wäre, wo z. B. von Mensur 
und Notenquautität nicht die Spur ist, wo noch von den Neumen als etwa- 
idltäglich im Oebranche Befindncliem gwedet wird u. s. w^ kann man nnr 
unter der Voraussptzung verzeihen, dass man Cotton eben nur vom Hören- 
sagen kennt. Gerbert hat übrigens bemerkbar gemacht, dass jene Demuths- 
pluase auch bei Kicht-Fftpsten sieht ungewöhnlich war (titnu» olim neqaa> 
quam solis poiitificibus Romanis consueto); und wie kftme ein Php^t dazu 
einen englischen Abt „seinen Herrn und Vater" zu nennen ? Eine Hypothese 
Gerbert's, als sei Cotton ein Mönch Johann ans St. Matthias bei Trier ge- 
wesen, der von Trithemius belobt wird, „qui ad honorem omnipotentis Dei 
et Sauctorum ejus multos eantus et prosas composuit ac regulari melodia 
dulciter omavit", steht völlig in der Lnft. Es hat noch mehr musikalisch- 
Hönohe gegeben, die Johann hietsen. Der Käme Gottonius kommt im 
Pariser und Antweq>ncr Manuseri]>t vor, sonst heisst das Buch kurz „Joannis 
musica" (zwei Mauoscripte in Wien, ein nicht mehr vorhandenes in 
St. Blasien). 



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Guido vou Are/.zo uud die Solmit>ation. 



193 



in Italien, y>o Guido persönlich lehrte und wo sich die ungefügen 
Namen der ßolmisation noch bis in^8 vorige Jahibnndert hinein er- 
halten haben*), andere Sylben in Aufnahme gewesen sein sollten. 
Cotton, der weit genug von Italien lebte, ning vielleiebt durch einen 
auf Guido's Ixuhni ueidisclien italienischen »Sänger, der t>ich seine 
eigene Solmisation zurecht gemacht hatte, in-egelührt worden seiu. 
Auf keinen Fall kann seine Angabc richtig sein, und sein Zeuguibs 
venchwindet gegen das gewichtigere Gnido's, der seihst enShlt, wie 
er seine Sdifller nach dem von ihm ersonnenen iä remi fa lehrte. 
Man kann daher als gewiss annehmen, dass die Gnidonische 8ol- 
xnisation sich ho gut in dem ganzen mnsikalisch cnltivirten Europa 
verbreitete, wie einst die Kirchentonarten, und swar nicht durch 
die Autorität der Kirche oder durcli Sendboten, sondern durch 
die Zweckmässigkeit, mit welcher bie den Bedürfnissen der Zeit 
Genüge that. 

Unter den angeblichen Erfindungen, womit G uido von Arczzo die 
Tonknnsiansserordentlichgeförderthahen soll, wird aneh dasGlavier 
genannt Kiesewetter meint dagegen: es kSnne gar keinen schlagen- 
deren Beweis gehen, dass Guido das Ciavier, Clavichord, Spinett 

oder Clavicymbcl nicht erfunden haben könne, als die Beispiele von 
Diaphonie im Microlog. Das Ciavier wUrde ihm n^^'i S^^^iible einer 
solchen Diaphonie gezeigt und ihn wohl andere, Ton ihm noch gar 
• If* • \ r Dinge gelehrt haben" 2). 

' • laer solchen experimentirenden Probe konnte mau ja 
I- 'iie ebensogut auf jeder Orgel unterziehen, auf welcher 

'.'ui.i •..( '.^en noch weit Srger klingen als auf dem Ciavier mit 
6Muxcu V . . abbrechenden Tönen. Als gewichtigeres Argument 
dürfte anxnerkennen sein, dass nch Guido snm Singunterricht ge- 
wiss lieber des bequemen Claviers als des unbehilflichen ^1 ikk hords 
bedient hätte, wÄre es ihm bekannt gewesen. ,,AVie der Lehrer", 
sagt der Oddonische Dialog, ,,dem Schüler die Buchstaben erst auf 
der Tafel ^veigt, so bringt der Musiker ihm alle Tone der Cantilena 
mit Hille des Monochords bei". AlK-rdings aber hat das Monochord 
unverkennbar zur Erfindung des Claviers die Anregung gegeben. 
Das praktische Bedürfniss, auf der Monochordsaite nicht bloss die 
mathematisch-akustischeny erhaltnisse der Intervalle ezperimentirend 
uachsuweisen, sondern auch den 8chttler die verschiedenen einseinen 
Tonstuto der acht KIrchentOne deutlich hören au lassen^, hatte 



1) Jetst werden in Italien die Sylben do re mi fa ta H wie in 

Frankreich angewendet. 

2) Oescb. der abcndl. Musik. 2. Aufl. S. 25. 

8) I>nm pneria per ipsas literas aliqua notatar antiphona ÜMsflint etmdius 

a chorda (monochnrdi) disciiiit (juiim si ul> lidniine illam atidirent — hcisstes 
im Dialog des Abtes Oddo. Der Schüler fragt verwundert: qua ratiune fieri 
potest nt melius quam homo doceat chorda? worauf der Lehrer ganz gut er- 

Amhf, OMcbicIrti dw UwSk. JL 13 



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194 Die Anfänge der earopäi8ch-abendläudisch«n Musik» 



kun nfteb Gkiido's Zeit^) die sogeimniite viert heilige Fig^r des 

Äfonochords {quadripartita fiffura monocliordi) in Aufnahme ge- 
bracht. Diese bestand darin, dass in ä Ii nlicher Art, wie auf manchen 
Thcrmometerskulen «lic (Irade nach Keauninr und nach Celsius %wt 
Vcijrloicliuiifj n(d>en «'inander pcstidlt sind, auf dein Hrct dos Mono- 
chortls auf vier mit der Saite ])arall('l laufcinh ii Linien dir (irade 
angegeben waren, nach denen man die Tonstufen des ersten, des 
zweiten u. s. w. Kirchentones nach einander hören lassen konnte^ 
wenn man den beweglichen Steg auf diese Grade hinführte; jede 
Linie enthielt die Intervalle von cwei Kirchentönen, des authenti- 
schen mit Keinem Plagalton ^: mit Hilfe der ersten konnte man 
daher die Skale von A bis d, auf der zweiten von H (B-mi) bis 
e u. s. w. zu (iehör bringen. Diese Kinriehtung fajid den grössten 
Beifall: man fand, wie Aribo bemerkt, sehr wen i<r Monochorde, auf 
denen sie nielit angebraelit war^). IlKtte man das ('lavier gekannt, 
8«» würde mau gewiss nicht zu einem so dürftigen Nothbehelf ge- 
griffen haben, gegen dessen Unbehilflichkeit und Confusion Aribo 
sehr energisch an Felde sieht, weshalb er aneh „dtureh die Gnade 
Gottes eine Honochordmensnr erdacht habe, die er wegen der 
Schnelligkeit der Sprttnge, welche man mit ihrer Hilfe machen 
kSnne, das Zicklein {caj/rea) nenne". Sehr zweckraäsrig und he<)nem 
musstc es aber scheinen fiir jede der vier Skalen eine 'eigene Saite 
anzubringen. Schon di<; antike Kanonik hatte sich zur Messung und 
Vergleichimg der Tonverhiiltnisse eines Monochords bedient, das 
aus vier auf einen viereckigen Öcliallkasten gespannten Saiten be- 
standf und dessen Ptolcmäus unter dem Namen llelikon gedenkt. 
Jean de Maris, nachdem er in seiner 1323 geschriebenen musiea 
speciUatwa gelehrt, wie man auf einem Monochord mit einer ein« 
sigen Saite die Tonverhfiltnissc aufzusuchen habe, räth an, sich eines 
viersaitigen zu bedienen und beim Ezperimentiren bald zwei, bald 
drei, bald alle vier Saiten anzuschlagen, ,,wenn man durch das Ohr 
den Sinneneiudnick früher unbekannter Intervalle prUfen und sich 

widert: Homo prout voluorit vel potucritcantat, chorda autem persnpradictas 
Uteras a sapieutissimis homioibus tali est arte dis^tincta, ut meutiri uou possit. 

1) Kurz nach 6uido*8 Zeit; denn er selbst, der die Monoehordein- 
theilung nac^h zwei Manieren auRftihrlich bespricht, weiss von einer vier- 
theiligen Bezeichnung der MonochordBkala noch gar nichts, während der 
keine iunfziir Jährte spÄtere Aribo diese Erlindung der „Modemen" weit- 
Iftufig bespricht. Dem Dialog des Abtes Oddo ist fnnlich ein Aufriss bei- 
gegeben ; eiti Monoi-luirdum (inidouis, dn« diese vierrrctlieilte Skala hat, 
aber danubou ein einfacheres Mouochorduui Enchiriadis Odd(/7iiii, so dass 
jenes angeblich Omdonisohe Monochord wahrscheinlich der Zosats eines 
spfttern Al)selireiber8 ist. 

2) Quao ita constniitur, ut uua series prinii insinud et s»'eundi toni 
mensuram coutiueat, sccunda tertii et quarti, tertia quinti et se.\ti, quarta 
septinu et octavi (a. a. O.). 

'{) Ut paaciBsima sine ea sint monochorda (bei Gerbert, Script. 2. Bd, 

8. rj7>. 



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Guido Ton Arezso nnd die SoUniattttoii. 



195 



deien YentHndiuBB aneignen wolle", wobei de MnriB an die alte 
▼ienaitige Lyra det Mercnr erinnert*). Hatte man nun für jeden 
der yier authentischen TSne nebst Plagalton eine eigene Saite, 8o 
musste es niijr^'mein bequem scheinen, statt des Hin- und Her- 
Kchiebens des Steges, vielmehr an gewissen Theilunf^sjunikten ein- 
fiir allemal einen eigenen Steg anzubringen. Dieser durfte, wiv 
natürlich, die Saite nur dann berühren, wenn sie mit seiner Hille 
gerade abgotheilt werden sollte; dazu war das Zweckuiässigste ihn 
durch einen Apparat in die Höhe heben nnd an die Satte aadrficken 
zu lassen, welcher den Tasten der Orgel nachgebildet wurde ^. 
Bekaanilieh findet sich diese Einrichtung, dass eine einsige Saite 
mehrere Töne dadurch angibt, dass die zu^m hr<rigen Tasten die Saite 
nicht nur anschlagen, sondern auch gleich gehörig abtheilen, auf 
Ältem noch hin und her in einzelnen Exemplaren erhaltenen ('la- 
vieren, die man eben deswegen nicht-bandfreie nennt, im Gegen- 
satze zu den bandfreien, wr» jeder Tun seine eigiMio Saite hat. 
Ebenso ist es bekannt, dass mau die Tasten noch jetzt Claven oder 
Claves d. i. Schlüssel nennt, nnd Sebastian IHrdung in seiner l&ll 
erschienenen „Mnslca getatscht" braucht daftlr geradem das deutsche 
Wort „Sehlilssel". Diese Beseichnung rührt yon den Tönen im 

1) Sit A B data linea tanquam proportionis fundameutum, quae sit 
secta qer medium in puncto C, diapason dalciBsiine monabtt, nam A B 

dupla v^t ad A C. Scindatur iteruni .1 B in trcs partes, quae sint Ä D \ 
DK E B — ; A E vorn Rii])cr A B dulecm diapcnte sonabit, quoniam 
A Ü ad D B ißt C B nd E B) Besquialteram facict proportionem. Sique 
il B in qnatnor partes dividatar in puuctis A F \ F C\CO\ 0 B ; — 
A G comparatum A B dint» ssaron adimplebit, idemqoe fuoie^ 3 ad 
JB A, sive EG ad CA, tuncque inventus £ O tonus. 

rnj 3 2—5 'B 

Sed quoniam eadein chorda nunc ad 8ui partes rclata rst, fiant plurosBCCun- 
dnm divisioncm dictam et erunt ([uatmr chordae sie dispusitae sicut sunt 
hic, et debent percuti, nt lonent anno dnae, nunc tres, nunc quataor. Si 
tu ▼eUs nt aures habcant oonsonantiss judicarc, quas prius ignorabas, et 
informatione iutolloctu» et sonsus mirabilos tuix^ sonomra consonantias 
apprehendes et instrumcutum Mcrcurii teti'achurdum. (Musica speculativa 
Cap.: primas harmoniaa in piano acribere ▼ere, bei Oertiert, Scri]>t. 3. Bd. 
S. 274j Ob (lif vier Linien der Zeichnuiipr. welche mit der IJeischrift 
„moQOcbordum üuidouis'' dorn Dialog des Abtes Oddo beigegeben und 
deren Skala nach den yier KirdientAnen geordnet ist, wirklioii vier Saaten 
vorstellen sollen, oder ob sie nur um der Deutlichkeit willen gezogen sind, 
ist nicht wohl zu unterscheiden. l)m daneben gezeichnete mouochorduiii 
euchiriadis üddonis hat nur eine einzige Linie. Ueber die beste Art ein 
Monochord mit zwei Saiten (welches also streng genornnicu Dichord 
heiisoTi sollte) zu rrebrauchen, sehe man Mattheson's „Vollkommenen 
Capollmcister" S. 45—50. 

S) Darumb hat man nach derselben Mensur uff ein jeglichen Punkt 
(des Monochords) ein Schlüssel machen lassen, der die Saitte gar genau 
auf denselben Ziel oder Punkten ansehlügt und die rechte Stimm, so ihr 
die Mensur von Natur geben, herfürbringet (Prätorius, Organogr. S. GO). 

13» 



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196 



Die AniUnge der eQro2)äi8cb-abeiulländittchen Musik. 



Systeme selbst her, die, wie wir hörten, Schlüssel {(Zaves) genannt 
wnrden. In solchem Sinno hiessen auch die Eiutheilun^spunkte des 
Monochords Schlüssel oder Claves, und es ist begreiflich, dass dieser 
Name auf die Tasten übciirnfren wurde, durch deren Anschlagen 
jene Kiiitltcilungspunkte sich dem (Jchör l)emeikbar machten, lieber 
die Entstehung des Cla>ner8 aus dem Monochord sagt Virdung: 
,,Clavicordium glaube ich daz zu sein, welch» Gwidu aretauus mono- 
cordom hatgeneimet**. Er folgert dieses ans der Aehnliehkttt heider 
und fthrt nnn fort: „wer aber darnach der sey gewesen, der das er- 
funden oder erdaeht hah, das man nach derselben Mensur auf yet- 
lichen Punkten ain schlflssel gemacht der die Sait eben auf den- 
selben zile oder punkten anschlagen tut vnd alsdann eben diese 
Stimm und kain andere ))ringt, dann die yr die mensur von natur 
gebent zu dürfen auf denselben punkten, das mocht ich nyc erfaren, 
wer auch tlaz Instrument nach denselben Sclilüsseln also Clavi- 
cordium hab getauffet oder genennet waiss ich nif. Auch Prätorius 
nimmt an, dass „das ClaTichordium ans dem Monoch<ndo erftmden 
und aussgetheflet worden" 1). Wollte man Harmonien anschlagen, 
so mussten mehre Saiten tn Gebote stehen, weil man auf einer nn- 
zigen Saite, mit Virdung in sprechen, „simul und eemel oder gleich 
mit ainander kein Consonanz machen mag klingen". Das älteste 
Inatninient, dessen Saiten (chnrfhie) mit Schlüsseln (claves) ange- 
schlagen wurden, und das man also Clavichord nannte, oder nach 
dem plockenähnliclien Ton Clavicymbalum, mag vicdleiclit nach Art 
des viergethciltcn Monochords wenige Saiten gehabt haben. Aliein 
es war noch ein anderes saitenreicheres Musikinstrument zur Hand, 
welches um so mehr als Vorbild des Clavichords dienen konnte, 
als es mit dem Monochord die grtfsste Aehnlichkeit halte, ja cur 
Alexandrinischen Zeit wirklich Monochorddienste leistete, das Psalter. 
Es war wohl erst durch den Verkehr mit dem Orient in das christliche 
Europa gekommen. Auf dem TJelief von St. Georg in Bocher- 
ville, das als eine ziemlich vollbtandi<:e Darstellung der Instru- 
mente des 12. Jahrhunderts dienen kann, ktannit es bereits vor, 
doch in kleinerem Format. In einem prachtvollen Psalmenbuche 
aus dem 13. Jahrhundert in der Bibliothek su Douai findet sich 
eine Figur, die eine Abart dieses Instrumentes spielt; der ur- 
sprünglich viereckige Kasten hat hier an den Seiten £inbn^> 
tnngen, so dass das Instrument die Form hat, die unsere Flügel- 
pianos gleichsam halbirt vorstellen. Genau dasselbe Instrument 
bildet Prätorius in seinem Theatnm visfrmnnifontm (oder Sriagra- 
phia) als ein ,,gar alt italieniseh Instrument'* ab, mit 30 Saiten, 
also genau so viel als nach \'irdung's Bericht die ältesten Clavichorde 

hatten (von jT bis e mit fr / a), wiewohl Prätoriufi bchauj»tet, dass sie 
1) Organographia S. 60, 



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Guido von Aretso und die Solmisudim. 



197 



anfiuigs 20 Clayen, nieh der Skala Gmdo's» gehabt Die Balten 
jenes alt-italienischen Instrmnents sind an Wirbel gespannt, die 
beiderseits dem Sehwnnge der Seitenwinde folgen. Im Texte sagt 

Prfitorius: „es verde von dem gemeinen Mann in Italien genennet 
htromenio di porco, zu Teutscb ein Saw- oder Schweinekopff, von 
Ludovico de Victoria Istrometäo di Laurento, von Josephe Zurlino 
(•lodiensi, Music(»rum principi, Tsiromento di alto hassn, aiiff der ei- 
nen Seiten sind die Wirbel von weissen Knot hen etwas länger als 
die eiserne auf Clavicimbeln zu seyn pflegen, haben in der Mitte ein 
Löchlein, dadurch die Saiten gezogen werden: uff der andern Seiten 
sind die Wirbel ans Hols geschnitien. Die Saiten sind an der Zahl 
drdisag und eine immer länger als die andere.** Im Psa men buche 
von Douai spielt der Musikus dieses Instrument mit bloss^en Hfinden. 
Prätorius bildet zwei kleine Plectra ab, mit denen die Sai ten geklopft 
oder gerissen werden. Auf dem Relief von Luca della Koljbia, wel- 
ches sonst den Orgellettner im Dom zu Florenz zierte und jetzt 
in den Uffizien aut bewahrt wird, spielen neben andern Instrumen- 
ten auch fUnf solche Istromenti di porco zusammen und begleiten 
die Stimmen der Sfinger. Fiesole (st 1455) iMsst anf der Darstel- 
lung einer Engelsmniik das IsirmMiito da poreo von einem so nn* 
sXglich schönen Engel spielen^), dass man an den unfeinen Namen 
gar nicht denken mag. 

Auch in Deutschland kannte man dieses Instrument. In der 
Kathhauscapelle zu C()ln befindet sich ein aus St. ITrsula herrühren- 
des metallenes, mit emaillirten dem 14. Jahrhundi-rt angehörigen 
Malereien geziertes Antipendium, eine Art pala d' oro, auf welchem 
man einen musizirendeu Engel sieht, der ein den italienischen völlig 
gleiches j&lromsnto ibi püre» spielt^. Gans dem arabischen Kanun 
Xhnlich findet sich das Psalter anf Malereien des 14. Jahrhunderts. 
Eine der ältesten davon istOrcagna's berühmter „Triumph des Todes** 
{trionfo della morte) im Campo santo zu Pisa. Auf diesem riesen- 
haften Wandgemälde sieht man eine Dame, welche ein solches In- 
strument spielt. Die Abstanmiung^ desselben aus dem Oriente steht 
zweifellos fest, wenn mau sieb erinnert, dass die fransdsischen Könige 

1) Dieser wunder\'olle liebliche Enpel mit mächtigen Flfigeln, ein 
FlflmTTiohon im Haare, in langem goldverzierten bräunlichen Talar, das 
himmlischschöne Haupt lieblich gesenkt uud atin Instrument anmuthig 
mit einem Fleotrum rührend, gehört einem sehr reich besetzten Engels- 
orchester an, womit Ficsole ein Madonnenbild (in der Florentiner Aoa- 
demie) umgeben hat. Ein seltsames riesenhaftes, der Theorbe ähnelndes 
Pnlterinstmment in nsturs wolle der Besadier der Ambrsser jSsmmlung 
in Wien nicht übersehen. Es ist recht interessant einer Abbildung un- 
verkennbar (lefisel!)en Instrumentes auf den Wandbildern der phantastisch- 
prÄchtigen Kreuzkapelle in der Burg Karlstein (14. Jahrh.) zu begegnen. 
1)08 Gemälde stellt eine YershruBg des TAimw«« vor und findet sich in 
der linken Fensternische. 

2) Die Abbildung in „Das heilige Cöln" vonDomcuBto8BockTaf.XVIII. 



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198 



Die Anfänge der enrop&isch-abendlftndiflohen Musik 



Bilm Spielen Verfremden orientaliselienlnslnuDente Psalterion, 

Canon und Demi-Canun eigene Musiker im Sokle hatten^). Im 
14. Jahrhunderte war das Instrument in die liüude mu»iklieben- 
dcr Dilettanten lUier{?('<rangen. Die Dame auf Oreagna's Bild (nach 
ihrem ])r!ic'liti;::('n Anz>i^ und dem Platze neben dem vornehmsten 
Herrn der Cfehcllsolinlt ktMu»'. bezahlte Musikantin, s<jndern vornelinu* 
Dilettautiu) spielt sitzend ihr lustrument, indem sie es, die Saih n 
naeli auswärts, mit seiner scBmalsten Seite (es ist trapeaförmig-), 
wie das arabische Kannn) anf die Kniee sttttst und es oben mit der 
linken Hand gnudiJs festhält und sugleich mit ausgestrecktem sweiten 
Finger die tiefste Saite am breiten Ende des Instruments als Basston 
anzuschlagen scheint^), während die rechte mit dem zweiten und 
dritten Finpfer die höheren Saiten in Vibration setzt, welche in Grup- 
pen von je drei horizontal und über einen schmalen an der Diagonal- 
seite, der Spielerin links, hinlautenden Steg gespannt und an jener 
Diagonale mit Wirbeln befestigt sind. Die Saiten sind vielleicht 
immer au dreien in demselben Ton gestimmt, um dureb ihre Drei- 
sabl die Scballstldrke au yermehren*), wie audi bei den alten Clavi- 
chorden der Fall war: „gemeiniklich," sagt Virdung, „macht man 
drei Saiten auf unen kor (Chor), darumb dass ob ain Saiten ab- 
springe, alsdann etwann geschieht, das er dann darumb nitauff muss 
hören zu sj)ielen." Auf dem Instrument der Sängerin Orcagn.Vs 
sind grade 24 Saiten oder acht Töne: eine Octsxve. Doch sclireibt 
(wie wir sehen Merden) de Muris dem Instrumente einen w»'it 
grösseren Umfang zu. Das obere 13ret des Schallkahtens unter den 
Saiten zeigt eine grosse runde, mit durchbrochenem Arabeskenwerk 
gezierte Schallöffnnng, daneben vier kleinere^), auch hierin dem 

1) Vergl. düu Icseuswertbeu Aufsatz von Felis j^ecberches sur la 
musique des rois de France au moyeu ägc'^ in der Ker. mus. Jahrgang 

1832. No. 25 und folgende. 

2) Trapezförmig ist es auch schon auf dem Relief von Bocherville, 
hier wird es aber vom Spieler so gehalten, dass dio Saiten senkrecht ZU 
stehen kommen. 

Bei Ln»inio ungenau wiedergegeben, auf dem Onginslgemalde ist 

es aufikllend markirt. 

4) In Iisnnlo** Kupferwerk sind die je drei Seiten deutlich angegeben^ 

auf dem Originale bei genauer Besichtigung auch noch zu crketuien. Deut- 
lich sind sie auf jenem vorhin erwähnten Wandgemälde derselben Zeit in 
der Burg Karlsteiu, welches durch seine Stelle vor Verstauben und Ueber- 
mulen bewahrt blieb, kenntlich. Mersenne, Harmon. I. S. 71 beschreibt 
das l'salter als mit 13 Tönen inistrcstattet, aber für jeden Ton zwei Saiten 
von Metall (aenea vel ferrea), welche ganz nahe neben einander liegen, 
im Oaosen also 36 Saiten. Die Stimmung ist: rODEFQahedefg, 
Er bemerkt aber: neque ita certo fidium numero deHnitur, i|uiii pluribus 
lut paucioribns instrui queat. Die beigegebene Abbildung zeigt das In- 
atrumrat gleichfalls in Trapezform, oder in Form eines abgestalzten gleich- 
schenkligen Dreiecks; dazu kommt ein zieriich gesohnitstes an der Spitse 
seicht gebogenes Plectmm. 

6^ Auf demOrigiualbilde kaum uuch kenntlich. Mersenne sagt: Dupli- 



Dlgitlzed bv Goo<?le 



C^oido von A roMiO and die äolmiiation. 



109 



ArabiBchea Kamm IniMnt Khnlicb; em TOii^eiehender Blick «nf die 
AbbildangdMletstefen im franzÖsisch^SgyptiBchen Expeditiouswerke 
zei^, dassmaaein und dasselbe Instruraent vor Aogen hat Gleich- 
falls im Ciiinpo Santo ist es in den Darstellungen ans dorn Leben des 
heil. Kanieri abgebildet. Einmal in den obern, fölsciilidi dein f^inione 
Memnii zugeschriebenen Bildern trägt es der Heilige, wo er no( h 
im heiteren Weltleben sein Glück findet, an einer Schnur um den 
Hals gehängt und spielt es ganz so wio jene Sängerin, aber mit 
beiden HHnden. Das Instmmeat entspricbt auf das Genaueste dem 
Instrumente auf dem Bilde Oieagna*s, nur dass es 88 Saiten hat 
Mne kleinere Gattong desselben Instrumentes spielt bei dem yon 
Antonio Veneziano gemalten Begrttbniss des heil. Kanieri ein sitzen- 
der Miiiuli; diesmal ist es im Format bedeutend kleiner und hat 
24 Saiten, je vier zusammengeordnet. Jean de Muris kennt und 
beschreibt es ebenfalls, reihet es aber unter die Monochorde ein, 
unter die wisnenschaftlichen Apparate der Musik: ein Itenierkens- 
verther Rückblick auf die ursprüngliche Bestimmung des Instru- 
menta n den Zeiten des Ptolemltas, nnd eine Bfligschaft mehr, dass 
es eben auch mit dem ptolemXisehen Helikon nnd arabisehen Kanun 
eines und dasselbe ist. „Dieses Instrument," sagt de Huris, „hat 
19 Suten und nmfasst eine Doppeloctave und noch eine Quinte 
darüber (also gerade so viel Töne, wie auf der harmonischen Hand 
bezeichnet sind); an zweien seiner Seitentheile bildet es einen rechten 
Winkel, der Umfang des dritten geht durch drei Punkte (das heisst, 
bildet einen stumpfen Winkel, so dass der Umriss des ganzen In- 
strumentes die Trapezfomi erhält) ; doch kann es auch einen andern 
Unuiss annehmen, als nmd geschwungen oder concar. Dieses In- 
stroment fasst in seinem Vennögen gleichsam alle anderen in 
sieh n. s. w.*)/' Dieses letztere Zengniss würde de Muris dem In- 
strumente sehwerlich geben, hätte er schon das Ciavier gekannt. 
Aber er kannte es sicher nicht, er ziihlt die Saiteninstrumente wieder- 
holt auf, ohne es zu nennen*): ein sclilngender Beweis, dass es an 
bciuer Zeit (um 13*20 — 1330) noch nicht existirte. 

oem rosant, ein Ausdruck, der von den Fensterrosen der gothischen Dome, 
mit denen jene Schulloirnungen allerdings grosse Aehnlicbkeit haben, ent- 
lehnt scheint. 

1) A. a. O. S 2Hli. — Die italienischen Künstler, welche die alle- 
gorischen Figuren der freien Künste zu malen oder zu mcisseln hatten, 
gaben «nweflen das I^slter (sIs AU-Instmment) der Figur in die ffibade, 
welche die Tonkunst repräscntirt. Im Hortus dcliciarum der Herrad von 
Landapcrg spielt die allegorische Figur der Musik eine Zither wid hat 
neben sich ein Orgunistrum. 

S) Ghordalia sunt ca, quae per chordas metallinas, intestiimles vel seri- 
ceas exerceri videntur. (|unlifi sunt citharae, viellne et jihinlne (Violen), psal- 
teria^ chori, uionochorduni. symphonia seu oivanistrum et bis similia (Summa 
If Qsicae Iv. bei €terbert, Script. 8. Bd. 8. 199). Allerdings nannte nsit, wie 
man ausPrütoriusCOrgtinographiaS 02) sieht, dasriavicliord auch wohlSym- 
phonia ; auch Uerrmsou F i n c k (f ract. mua. foL 8) sagt: Jin viiginaUbos sea 



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200 Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik. 



Man braucht nur die Abschilderung jenes Psalters in Bild und 
Ton mit den Abbildun<;en der ältesten Clavichorde im Virduug, im 
Prätorius (besonders das sogenannte „Octavinatrunientlein" und das 
„Virginale") im Mersenne oder mit dem Instrument zusammen- 
zuhalten, welches auf dem unter dem Namen des ,,Coucertes" be- 
kannten Gemälde Giorgione's (1477 — 1511) in der Galerie Pitti za 
Fl<Hmiider GMstfiehe spielt, um nch sn Ubeneugen, daai das Gkm- 
diord, Virginal n. s. w. in seiner Kltesten Foim nielito ist ab eine 
Yerrollkommnnng jenes Psalters^: statt die Saiten mit den Fingern 
SU rtthren, w(<rden sie durch eine Tastenmechanik mittels anschla- 
gender schmaler Tangenten von Messingblech oder Federkiele in 
Vibration versetzt. Das Instrument zeigt in dem Ste^r, über den die 
sich mehr und mehr verkürzenden Saiten gespannt sind, die Triangel- 
oder vielmehr Trapezgestalt jenes Psalters, wit wolil die ältesten 
Clavichorde auch wohl mit gleich laugen Saiten eine völlig recht- 
eckige Form annahmen. Diese Instrumente waren ohne Ftlsse» leleht 
tragbar beim Spielen, die entweder wie das Psalter auf die Kniee, 
oder, so spielt Gioigtone's Geistlieher, anf einen Tiseh gelegt werden 
konnten^. Bei dem Virginal wurden die 19 oder 20 Saiten dorch 
ebenso viele Tasten gerührt, fUr das kleinere Clavichord aber ent- 
nahm man dem Monochord jene Einrichtung, dass mehr als nur eine 
Taste auf dieselbe Saite schlug. Um die Hebelarme zwischen der 
cigentlictien Taste und dem die Saite ansclilagenden Kiel nicht gar 
zu unbehiltiich lang macheu zu mUssen, drängte man die Saiten 
Bgher Bosammen, als de «a£ dem Psalter gespannt geweseq, was 
wieder auf die Süssere Form des Instrumentes ^nigermassen nnfick- 
wirkte und es der Qestalt eines litngliehen Yieredu annltherte. 

synphoniis, ut Tocant". Da rieh aber de Horb ansdrflckt: „symphonia ten 

organistrum", so siolit man, dass hier kein Cla\'icr, sondern jenes uralte Instru- 
meutgemeint ist, welches, wie wir wissen, auch Symphonie oder Chifoniehiess. 

1) ÜL-ide im Theatrum Inst rumentorumTaf. XIV Fig. 2 und 3 abgebildet. 

2) Virdung ist derselbonMi iTiuiiLr ; „das Psalter, so noch jetzt im brauoh 
ist, halK' icli niemals anders gcst-luMi als drcyt-cket, uIxt idi In'ii der Meinung, 
dass das Virginal, welches man mit den Clavibus oder Fedderkielen scbl&fft 
und tractiret, erstlioh von dem FSalterio sn machen erdsdit seif und obwohl 
das Virginal gleich einem ('lavichnrtlio in ein langen Laden gefasset wird, 
10 hat es doch viell andere Eigenschaften, so sich mehr mit dem Psalterio 
als mit dem Clavichordio vergleichen, sintemal man zu eim jechlichen Clave 
eine sonderliche Saitke liaben mnss und ein jegliche Saitte langer auch höher 
dann andere mnss gezogen seien, daher dann aus dem verkürzen und ab- 
brechen der Saiten fast ein Triangel uQ' dem Instrument oder Virginal- 
kästen erscheint. Ckdilei (Dialogo 8. 144) sagt vom Harpichord: che dall 
haqia dmctte vrrisiniilTnciite (per la convenienza del nome, della forma et 
dcUe quantita, dispositioue et materia delle corde, sc bene in Italia i pro- 
fessori di essa dicono haverla loro inventata) havere origine l'harpicordo, U 
quäle strumento altro non che una harpa giaccnte. 

3) Prätorius (Organogr. S. 72) moint : „Clavicymbcl sind in voller 
Music gar zu stille und können die Saitten ihren Klang und Kesonantz 
tfber einan halben Taot nicht viel continuireu". 



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Guido von Arezzo und die SoIiuisati<m. 



201 



Die Erfindung des Clavichords ist mit allw Bestimmtheit in 
das Jahr fUnfzig zwisclicu 1360 und 1400 sn setzen. De Muris 
schrieb sein Buch 1323, Orcagna malte sein Bild als Godüchtniss 
an die schreckliche fltokanntlich von Boccaccio in der Einleitung 
seines Decamerone geschilderte) Pest von l.'MH, Antonio Veneziano 
malte die Legende des heil. Ranieri um 1386. De Muris hat 
noch keine Ahnung vom Clavichord, nnd za den Zeiten jener Maler 
war jenes alte Psalter noch allgemein im Gehranche. Aber in der 
altdeutschen Handschrift der Hinneregeln vom Jahre 1404 ist 
davon bereits die Rede und zwar wwden bereits die Ahaiten 
„Clauicordiuni" und „Clani<^mbolum" unterschieden. 

Das neuf Instmmentmnss gleich nach sein or Erfindung sehr popu- 
lär geworden sein. Ucl»er den ( )rt dieses glUcklit-hen l'undes lässt sich 
nur negativ sagen, es sei Deutschland nicht oder wenigstens schwer- 
lich gewesen. Virdung hat tiir alle diese Instrumente nur fremde 
Namen „Clavicordium, Clavicymbalum, Claviziterium, Virginal (.1 ung- 
femelavier, und da es schon 1511 bei Virdung mit Namen und Abbil- 
dung vorkommt, nicht an Ehren der Königin Elisabeth von Eng> 
land also benannt) ; erbarbarisirtdasClavicymbalum sogar zum „Clavi- 
taimel". Und ebenso gehört der Name Spinett nicht dem deutschen 
Idiom an, er kommt schon in Galilei's Dialog vor (IHHl una stridule 
spinetta) und wird vom deutschen Prätorius in sein Syntngma her- 
übergenommen 1). Da jenes Psalter ganz vorzüglich in Italien be- 
liebt und verbreitet war, so möchte wohl dort die Entstehung des 
Glavicords zu suchen sein; aber freilich muss es, man sieht es aus 

_ • 

1) Prfttorius erwfihnt (Organographia S. 62) bei Gelef^enheit des Spinettea 
(ifalicc Spinpttt>): .,Tn Enj^land werden alle Instrumente, sie Beion klein 
oder gross, Virgmall genannt, in Jb'iankreich Espiuette, in den Nieder- 
landen Clavioymbel mid anoh Yirginall, in Dentaehland Imtrament üi 
specie vel peculiariter sie dictum", welclie letztere Allgemeinheit perado 
wieder auf fremden Ursprung schlieaseu lässt; für das was man duhcim 
erfindet, findet man anon in der heimischen Sprache einen bezeichnenden 
Namen. Üeher alle diflie Instrumente »ehe man am li Mcrsenue (Harmonie, 
libri XII). Bei (h'u auRgehildeteren Fln<reliiist ninirnteu (Mersenne S. 61) 
erinnert die Auordnung der Saiten schon mehr au die Harfe als an das 
Psalter. Das Spinett ist eine spfttere Brflndang oder weni^fstens ein 
späterer Name als das Clavicymbalum ; es bekam seini-n Xameti von den 
domenartigen Tangenten. S(»Uger (lib. 1. Poet. cap. 4b> sagt: Me puero 
Clavicymbuom et Harpiehordnm, nunc ab illii mucronibiis Spinetam 
nominant. Den Unterschied zwischen Symphonie un l ( I i vi li nd hebt 
Cocleus in seinem Tetrachordum Musieae hervor: si duh'U)ris t'uerit re» 
Bonantiae dicitur sympbonia, si vero magis sonorum dicitur elavicymba- 
hnn. Das Spinett war entweder ein kleines Instrument für sich, oder 
es wurde mit dem Clavicymbalum verbunden (wie eine nn (hu Dom an- 
gebaute JELapeUe oder ein JBrkerthürmcheu am grossen Burgthurm) ^ dem 
Spieler stand dann em swdtes Hannsl so Gebote. Diese Verbindung 
des Spinettes mit dem Clavichord hatte wohl auch, insofeme das Spinett 
ein „Octavinstrumentlein'* war, den Zweck, den Tonumfanpr des ganasn 
Apparates zu vergrössem. Abbildungen sehe mau bei Pnitorius. 



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202 tAe Anfänge der eiiröpäifo1i-at)eiicltftndi8cli«n Musik. 



den Minnerogeln, sehr schnell auch in Dentschland Eingang ge> 
fanden haben. In It.ilioii unterschiod man: Clavicordo, Harpi> 
cordo, Clavicinjhalu, Spinetta, Buonaccordo, Uarcliicimbalo M. 

Aber tnttz des neuen zweckmÜHsigeren Instrumentes, des Cla- 
viers, kau» da» rsalter doch keineswegs ausser Gebrauch. Noch 
AÜlttiiM Kixcher bildet ea in seiner Muiorgie (1650) ab und redet 
davon wie von einer allbekannten Saebe: uinrd es von einer ge- 
flcbickten Hand gespielt*', sagt er, „so stebet es keinem anderen In- 
strumente nach"^. Er erwähnt auch, dass das Spielen grosso 
Fertigkeit erheische, weil der Musiker, während er die Saiten mit 
zwei Federkielen rührte, seine Finp^or zuo^leich auch als Dämpfer 
bi'Hiitzen niussti*. nni deren Nachklinf^en und die daraus entstehende 
Verwirrung zu ])es(Mtigen Das Anschlagen der Saiten mittels 
Federkielen (penneia niq/uHs) deutet abermals sehr bestimmt auf die 
Verwandtsehaft des Psalters nüt den befiederten davierett. Das 
Psalter sebeint sogar noeb namhafte Verbesseningen erfiüiren an 
haben: an Kircher's Zeit hatte es drei Reihen yon Sidten*) und einen 
Umfan<^ von A — cee, dazu pflegte man die Saiten an verdoppeln, an 
verdreifachen oder, nach der Grösse des Instmmentes, auch wohl an 
ver\'ierfa( li('n. DerTonkünstlerGiovanuiMariaCanari inRom besass 
ein Psalter mit 148 Saiten. Zur Notinniir bediente man sich dafür 
»'incr der Lautentabulatur ähnlichen Sclncibwoise : auf drei liinien, 
welche die drei Saiteureihcu bedeuteten, wurden die anzuschlagen- 
den einzelnen Pa'ten durch Buchstaben beaeichnet, die rhythnkdie 
Bewegung aber durch darttbeigesetate eigene Zeichen angedeutet. 

In Dentschland war das Psalter, nach Virdnng*s Zengniss, an 
Anfang des 16. Jahrhundei-ts und auch wohl noch später bekannt. 
Auch Mersenne '"dessen Buch 1648 zu Paris erschien) nennt es ein 
„gebräuchliches Instrument" 5) und rühmt seinen Silberklang, den 
kein anderes Instrument besitze 6). Dieser Vorzug fristete dem 
Psalter noch eine Zeit lang neben dem weit bequemeren Clavaere 
das Lelicn, bis allmälig der anfangs durch das Anschlag- en, Thcilen 

1) GaUlei Dial. 8. Gl. „Solo per la diversa ouantitä e qualitä dcUe cordo 
et de reiiifistri e della grandezsa et forma dello «tramento, e pur nella 

•ua essentia 6 l'iBtessa cosa Tano che Taltro. 

2) Psalterium, instmmentum fidicinum, »i peritnm rnnrium sortiatiir, 
tale estj ut uulli alteri, sive harmonicarum varietatem ]»roporlionum sive 
harmomon warn, insignitatem speotes, cedcre videatur (Musurgia S. 495). 

3) . . . ut, siinul ac chordae stipulis pennaccis sollicitcntur, mox 
reliqui digiti tactu leni chordarum solhcitatarum tremorem ad Bonorum 
evitandam confutionem tistant (a. a. O.). 

4) . . . ut instrumentum reddatur sonorius, periti artifices singulonim 
pyfstomornm chordas duplicare vel triplicare vel etiam qoadraplioare pro 
iuatrumenti niaj»^nitudinc Hulent (a. a. 0.). 

6) Pfealterium usualc (a. a. 0. S. 71) 

6) . , . rjuiul et peculiarom habet pjratiam, quac miTiimp notatur in 
ftliis instrumentis, liinc illius nonuB aplerisque ob singularcm praeatantiam 
argentew appellatur (a. a. O.). 



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Guido von Arezzo und die Solmisaiion. 



203 



und das dadurch bewirkte DSmpfen der Saite gegen den silbernen 
Psalterton ohne Zweifel noch etwas dUnne, schwache und stumpfe 
Klang des Claviers durch Vcrliesseninpon in der Mechanik gewann 
und das schwer zu bcliandeliule ältere Instrument entbehrlich 
machte. Gute C'la\ ichordc scheinen schon frühzeitig in Italien 
verfertigt worden zu sein^). 

Wenn das Clavier der Gaidonlsolieii Epoche ^e noch unbe- 
kannte Sache irar, so kamen dagegen die Oigeln um diese Zeit mehr 
und mehr in Aolbahme und im Laufe des sehnten und elften Jahr- 
honderts fanden diese Instrumente in ganz Europa Verbreitung, 
ohne doch für ein unentbehrliches Bestandbtück der Kirchenmusik 
zu gelten, wie Concilienscliliisse ansdriUklich zu bemerken finden 
und wie auch der Bischof lialdrik von l)ol meinte: Orgeln dürfe 
man nach kirchlichem Gebrauclic benutzen, wo nie aber fehlen, könne 
man sie ohne Sacrilegium entbtdireu'^). Es gab schon im zehnten 

1) Alspiner der vorzügflichsten italienischen V('rf(>rti<rer von Clavichorden 
undClavicynibelu zu Aulaug des 16. Jahrhunderte wird ein Lorenzo Gusuasuhi 
▼<m Vtifi» (LaarentiiiBGiinuMehmPainenns) gerfihmt; er wurde, ala er ttarb, 
in iMuTittia durch ein Grabmal jjeolirt. Der erste oder doch einer der ersten, 
der Ciaviere zu bekielen unternahm, war der Cauonicus Paul Belisonius von 
Pavia. Diese Notizen stehen in einem Boche, wo man ne nicht tuehen sollte : 
ItUroduetio in C%aldaicam Hnguam, Syriacam atqu» Ärmenicam et decem 
alias linguas, Characterum diftVrentinm Alpliabeta cireiter quadraginta et 
eorum invicem formatio Mystica et cabhuhütica quampluriraa scitu digua. Et 
dneriptio ac simulaehrum PhagoH Afranii. — Thesco And>rosio ex oomi- 
tibui AIho}iemii. .T. U. Doct. Papiensi (•ononico rc^ulari Lateranensi ac 
Sancti Petri in Coelo aureo Papiae praepoaito, authore. MDXXXIX. Der 
(^onicuB von Ferrara Afranio, der Erfinder des Pagets, war der väterliche 
Oheim des Verfassers : das Buch ist ihm dedicirt. (Theseus Ambrosius ex Comi- 
tibus All)onensii et Palatinis Lomellen. . . . Reverend. Domino Afranio, Cano- 
nico Ferrariüusi, patruo suo S. P. D). Die im Texte bezogenen Stellen stehen 
fol. 188 n. i. w. Tanti praeterea Laarentii Papiensis ittius instrumenta fuere, 
ut, si quando in prapciinii** Ttniiac civitatibns venalia forent, cum Laureutii 
Papieusis fucientis inscriptiouem habereut, quamquam pretium ingens esse 
videretur, non pigeret tarnen «uptorenif ob autoris famigerati autoritatem 
ezodlantiamque pecunias effimdwe. De eo Muntua, apudquam in honorato 
sepulcro qniescit. potiua quam praesens nnsfcr liher loquatur. Verum quia 
parum omnino fuissct Clavicymbala, Glavicorda ut diversa aliac Musicae fap 
enltatis organa esse, nisi foret etiamf qai calamoram et cordarum urdines in 
cortam liannotiiam pi rfVctiimque conccntum revocaret. Hoc in loco non 
t'raudandum laude sua Paulum BeUsonium, Concivem et Canonicum meum 
censnerim. Qui praeterid qnod Lutina (Laute) perfecta utitur et Organomm 
calamos in concordem vocum coucentum, cum opus est, optimc reducit, 
plectri lingunm. quam, ut inquit Cicero, nostri dixere cordarum dentes, iUi 
ex avium, vuUHrm scilicet aut corvi pcnnis in Clai'icymbalis aptat, ut nuUi 
omniBO quautumvis exeeUenti musico herbam dare vt lit. Tantum enim et 
aurium et difritornm apta promptitudino j^iiiLndaritor vah-t . ut saci)c ot 
saepius cum Clavicymbalum,quodjgemino8 cordarum ordines habet, iuveram 
liamoniam rednxeht, angelos ilhns hannoniae optat adesse testes. 

2) Forkel, Gesch. d. Mus. 2. Bd. S. 374. Die Wnrio siiul: Si igitur 
onrana lial.cmtis. eis uti eccleaiastica consuetudine permittimus, sin autejn 
siue sacniegiü eis carere possumus (zitirt bei Mabillon Annal. Ben. V. S. 505). 



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204 Anf^Uige der europäisch -aben^ändiscben Musik. 



.fahrhundorte mitunter grosse oder doch starke OrgelwQlke: im JalurO 
951 liess Uiscbof Elfcg fUr die Kirche Ton Winchester ciue Riesen- 
orgfl l»juu'n, welche Wolstan, ein Benedictinermöncli und Sänger 
der dortigen Abtei, in den» lieben des heil, öwithiin voll Bewun- 
derung j)oetiscb beschreibt und ])reist. Aber eben diese Beschreibung 
gibt einen Begriff von der bei ungeheuerlicher Unbehilfiichkeit doch 
grossen Armnth dieses Apparates Die Orgel hatte zu 400 Pfeifen 
26 BlubKlge (zwölf oben, Tienehn naten), sn deren liegierung Hie- 
bensig starke MXnner nSthi^ waren* die, wie Wolstan naiv bemerkt, 
ungemein schwitsten nnd einander hei der Arbeit zu Muth und Aus- 
dauer crmunterteni wShrend sie rastlos die Armertthrten. DasOrgel- 
s])iel wurde von zwei Organisten besorgt, deren jeder sein eigenes 
Alphabet (seine Octave) regierte. Man begnügte sich also nicht mit 
ZAveistiramigem Spiele, wie es ein einziger Spieler auf dem breiten, 
plumpen Orgelkasten herausbringen konnte, sondern man zog einen 
zweiten Spieler herbei, um auch drei- nnd vierstimmig spielen zu kön- 
nen, etwa wie jetst das Piaaoforte hXufig zu vier Hunden gespielt wird. ' 
Natflrlich konnten aber die beiden ni vier HSnden, oder eigentlich 
KU vier Ffiusten oder vier Ellenbogen, Orgel schlagenden Si)ielernie 
mehr als höchstens vier Töne zugleich hören lassen. Nach Wolstan's 
Beschreibung besass diese Orgel nur die „sieben Unterschiede der 
Stimmen, eingemiscbet des lialben Tones lyrischen Klang", d. h. 
die diatonische Skala unserer Untertasten mit der Unterscheidung 
des nunlen und eckigen 6 -j. Das ganze Riesenwerk hatte angeblich 
nur zehn Töuo, so dass vierzig Pfeifen auf einen Ton kamen; 
dafttr tOnte es mehr stark denn angenehm: 

Als wie des Donners Gebrüll erachüttert die eherne Stimme 
Bings die Lfifte, nnd nichts, was es sei, hörest da sonst: 

Also mftchtipr crtf^nt der Klanpr. dass jeder die Ohren 
Sich mit den Jb'lächeu der Hand zuhält nnd nicht. es erträgt, 

Wenn erklingt das Oebran« der vielvermischeten TOne ~ 
Ja in der gansen Stadt hört man den singenden Ton o. s. w. 

Eine andere Orgel, deren kupferne Pfeifen dreissig Pfbnd Sterling 
gekostet und deren Klang, im Oegensats gegen den Donnerspektakel 

der Elfeg^schen Orgel, als „wundersQsse Melodie*' (praedulvis me- 
lodia) gepriesen wird, besass das Kloster zu Ramsej. Dass übrigens 
nicht die ungewöhnliche GrJisse der Orgel zu Winchester die Ursache 
wiir, zwei Organisten dabei zu verwenden, zeigt eine merkwürdige 

1) Talia audstis et Uo organa, qualia nosqnam 

Conontur, gemino constabilita sono. 

Bis seni snpra ordinnntur in ordine folles 

luferiusque jaceut quatuor atque decem 
Blatibas altemis spiraoola maarima reddnnt, 

Quos agitant validi septunginta viri u. s. w. 

2) Auffallend ist es, wie dann doch jeder der beiden Orgler ein 
eigenes „Alphabet" aar Verfügung haben kmmte. 



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Guido ▼€« Armo oud die Solmiratifm. 



205 



alte Miniatunnalerei des 12. Jahrhunderte (auB dem Psalter Kdwiu'g 
BQ Cambridge) Die danmf abgebfldete Oigel ist klein, hi ( ^ 1 ( icht 
einem ansehe, ans dem in etwa handbreiten AbstXnden nur sehn 

Oigelpfirifen (also auch Ahr nur zehn Töne) hervorragen; nichts desto 
weniger sind zwei Orgler und vier Calcanten beschäftigt, letstere 
arbeiten mit sichtlicher Anstreiiprunf;', während die Organisten, paa- 
sirend, ihnen irjj^end eine Weisuuj:^ zuzunifen scheinen. Diese Diener 
treten nicht die Blasbälf^e, können also nnr nneigentlich Caltuntcn 
heissen, sondern handhaben sie wie Schiuiedebäl^e an Hebelarmen, 
nnd man sieht deutlich, dass sie diese Hebel auf- und abwärts 
regieren, dais nimlieh der aufgezogene Balg sich nicht Ton selbst 
mittels eines Gewichtes senkt (bd weldier Einrichtung ihm eine 
weit grössere Menge von Wind gegeben werden konnte), sondern 
anch wieder durch die Kraft des Calcanten niedergedrückt werden 
mnss; man crräth denn anch, wie anstrengend diese Arbeit war, 
wenn sie längere Zeit fortgesetzt wurde. 

Den Umstand, dass die ( )rpeln antan^^lit li keine reicliere Rkala 
gehabt als die oben erwähnte, bestätigt Prätorius au.sdriicklich ; er 
erzShlt dass an den ältesten Clavichorden „nur zwanzig Claves allein 
im genere diatomeo, damnter nnr snnreene schwartze Claves, das 6 
nnd If gewesen, denn sie haben in euier Octav nicht mehr als dreierlei 
Semitonia gehabt, als übt |( vad ff, wie dasselbe in den noch 
gar alten Orgeln an ersehen''^). Insgemein waren die Orgeln 
weit entfernt unsern grossen Werken oder auch der für ihre Zeit 
riesenhaften Org^el des Bischofs Elfeg zu gleichen ; es waren, mit 
Prätorius zu sprechen, ,, solcher Inventi«)n und Erl»awungen keine 
grosse, sondern gar kleine Werke, so stracks an einem Pfeiler oder 
in die Höhe bei die Chor als Schwalbennester gesetzt, und mit engen 
ranm nnd vmbfknge gemacht worden, haben seharff und stark ge- 
klungen nnd geschrieen, ihre Claviere sind aber ohne Semitonia 
gewesen, wie folget: ^edefgatiedef, etliche aber also : cdefg 
ah c d e f g a"^). Der sogenannte Orgelfuss im Wiener Steidiansdom 
würde in der That nur eben hinreichen ein ganz kleines ( )rgelwerk 
wie ein Schwalbennest Rufzunehmen ; etwas Aehnliches sah Pr.'itorius 
in St. Jak(d) zu Ma^debtirj;. Deutschland zeichnete sich früh dureh 
geschickte Orgelbauer aus. Noch Ludwig der Fromme niusstc 82fi 
einen venetianischen Priester Georg mit dem Sacellau Thancolf nach 
Aachen schicken, dass er dort eine Orgel baue; aber schon Papst 
Johann VIIL (872—880) erbat sich brieflich vom Bischof Anno 
von Freising „eine Orgel besler Art nebst dem Kttnstler, der sie 
nach allen Bedflrfiussen des Spielens in Tcrfertigen und einsuriehten 

1) Abgebildet in Otie*8 K.uuBtarchiiologic 3. Aufl. S. 40, auoh in den 
Anhftngpen zu GoQSftemaker's Hucbsld. 

2) Organographia 8. 60. 
Ii) A. a. 0. S. 03. 



Digitizoa Ly Li(.)0^le 



206 



Die Anf^lnge der europäisch-abeudlaudischeii Musik. 



im Stande wXre'S einen Mönch; denn auch die Kunst des Oi^el- 
baues, wie jede andere, befand sich in MönchsbA'nden. Gerbertoa 
Latro, nachher Papst Sylvester II. (st. 1003), das Wander seiner 

Zeit, waranoli Orp^elliauer; als er nocli A)»t von liobbio in der Lom- 
bardei war, erbat sieb Gerald, Abt von Aurillae, Vf»n ibm eine Or^el, 
die ibni Gerbert aueli aus Italien zu verhehatVen zusajjte, sobaltl nur 
Friede im Lande werde; ermusste »ich jedoch bei Gerald's Nachfolger 
Kaymund entschuldigen: weil «(^die Kaiserin Theophano (Otto*sIII. 
Gemahlin) nach Sachsen begleiten müsse, so könne er tther die in 
Italien aufgestellten Oi^eln und den daau gehörigen Mönch, 
der damit umzugehen wisse, vorläufig nichts sehreiben. UeV>er- 
haupt scheinen in Frankreich die Orgeln noch bis in das 12. Jahr- 
hundert hinein keine ganz gcwöbnlielie Saehe gewesen zu sein, 
wenigstens sebreibt noeh Baldrik, Erzbisebof von Dol (st. 1131): 
,,er habe zu Feeninp ein niusikalisebes Instrument gesellen, das aus 
ehernen Köhren zusammougeuetzt und mit Schmiedcbalgeu ange- 
blasen eine angenehme Melodie hören Hess; sie nennen es Orgel und 
spielen es zu gewissen Zeiten". An ordentlich ausgeführte Orgelstttcke 
darf man dabei freilieh nieht denken. Die Orgeln dienten anfangs 
eben nur dazu, die Intonation des Priestergesanges zu unterstützen 
und dafür den rechten Ton anzugeben. Da man aber die barbarische 
Quinteniiarmonie fllr etwas Schönes gelten zu lassen anfing, schien 
es wüiiHehenswerth diese sogenannte Verschönerung so anzubringen, 
Hass der Organist nielit nötbig liatte beständig je zwei oder (wenn 
die obere ( )ctave mitgehen sollte) gar drei Tasten (was gar niclit 
möglich gewesen wäre) niederzudrücken. Sehr früh, scheint es, 
erfand man jene sc^ge nannte Mixtur, bei welcher sum angeschlagenen 
Tone dessen Oberqninte und höhere Octave mittönt. Mit sehr rieh- 
tiger Ahnung des Wahrm Kussei*t sich darüber Calvisius in einem 
an M. Priitnrius gerichteten Briefe, dem. dieser in seinem Syntagma 
nnttheilt: ,,Nun ist die Frage, ob man nicht noch Vestigin der alten 
Ifnt vioiiiae finden könne? Dieselbe ist ohne Zweifel erhalten worden 
in den Kirc hen, Wir haben noch zu unser Zeit zwei Ittstrnmenta 
von der alten }fimca, welche in stetem Brauch sind, als die Sack- 
pfeiffe und die Leyre; in denselbigen klingen besonders fttr und fUr 
eine Gonsonantia, auff der SackpUsüffe nur eine Quinta, aaf der Leyre 
aber wohl drey oder vier Saiten, als nemblich eine Quinta und Octava 
zugleich durch drey Saiten, und wird darnach uff andern Ciaviren, 
welche die vierde 8aitc treffen und anrühren, etwas anders im fUgp- 
lichen Choral darin moduliret.'" PrKtoriiis bemerkt dazu: Solches 
ist ohne zweiffei stets in den Kirchen bliel)en . . . Dieselben Claves 
haben sie stets gehen und thönen lassen und darnach einen Choral, 
der aus dem c, d oder e gegangen und sein Fundament darinnen hat, 
darein geschlagen, wie man auf dem Instrument einen SchXffertants 
Bchlegt Und dieses ist anff allen Instmmenten von anbeginn der 



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Chrido von Arezzo und die SolnuMtion. 



207 



Welt die Mksiea gewesen/* Und damit habe man ansgereicht, meint 
PrtttorinB, „sintemal keine Composition mit vielen Stimmen, sondem 
nur der schlechte (schliclitc) Choral einfaltig (einfach) darauff ge- 
macht worden", d. h. der Orjr-uilst scliltij:!^ mit soinon Fäiistcn eben 
nur die simple Chor;ilmelodic, wozu t^uiutc und Octave, kraft des 
Apparates der Mixtur, von selbst mittönten. Wie menschliche Ohren 
das aushaltou mochten, bleibt freilich ein Geheinmiss! 

Da die Oigel ursprünglich allein wegen des I^estergesanges 
in der Kifohe Eingang fand, so wurde sie in der Nihe des Chores, 
besonders anf dem Lettner (Odeum) aa%e8tel It, und erst als man 
{grosse Werke in banen anfing, fand sie gewöhnlich auf einer hohen 
Emporbtthne am Westende der Kirche ihre Stolle Die Tausend- 
künstler jener Zeit (natürlich wieder Mönche) erfanden aiicli wolil 
zur Verwunderunf; der Welt, und wolil gar nicht ohne Verdacht der 
Zauberei, Wunderwerke wie; Jene Or^el von Gorbert- Sylvester, der 
durch „Hülff seiner Malhemaiica eino Orgel gebawet, wclclio durch 
die vngestflhme Gewalt dess heisren Wassers jhren klang be- 
kommen** Veirnnthlich brachten einströmende heisse Wasser- 
dXmpfe den Ton in ttmlicher Weise henror, wie es an den Signal- 
pfeifen nnserer Locomotiven der Fall ist 3). Damit waren die 
Calcanten, deren Stelle eben der Wasserdampf vertrat, ihrer Hercules- 
arbeit überhoben; eine andere Fra«je ist, wie es dabei mit der 
Stimmuiif? der ( )rgel und mit dem Wohlklaufre aussah. Vom 12. Jahr- 
hundert an machte man ganz kleine tragbare Orgeln, man nannte sie 
Portative: der Spieler trug sie an einem Kiemen umgehängt, regierte 
mit der einen Hand den Blasebalg nnd mit der andern die Tasten^). 
Diese Dnodesorgeln konnten natürlich nnr einen kleinen Umfang, 
nnd mnssten bei der KOne der Pfeifen einen hellen hohen Klang 
haben; auf einer Abbildung aus dem Anfange des 13. .lalirliunderts 
hat ein solches Portativ acht Pfeifen, also wohl den Umfang einer 

1) Otte a. a. 0. 8. 89. 

2) So erzählt Prätorius anf die Angaben dos Erfordicnsis (Joannes de 
Erfordia) und GencbranduH (Organographia S. i)2) hin, und zwar sei dieses 
Werk im Jahre 997 „gebawet" worden. Das» Qcrbert's Orgelwerke Waascr- 
orgeln gewesen Bind, gibt Wilhelm von Mahnesbury an (a Ferkel, Gteach. 
4 Musik 2. Bd. S. 'MM). 

3) Ein Amerikauer Arthur Denny hat in neuester Zeit eine Dampf- 
orgel erflmden, die er „Calliope'* nennt, nnd von welcher die Leipziger 
illustrirte Zeitunpr .Jahrpantr 1^<>0 S. 33 eine Abbildunpf und Beschreibunpr 
gebracht hat. Diese Dampforgel war im Krystallpalast ru London ausge- 
■tellt, wo rie vielei Aufsehen ezregte. Der Klang soll also verstärkt werden 
köimeu, dass man ihn selbst anf 19 enfflisclio Meilen Entfernung hört, 
weshalb auf einem Tjeuchtthurm in Nensehottland ein snU Iit^-^ ri>sirunn'nt 
zum Si^nalgebeu aufgestellt worden ist, während es auf den Tiiiirmeu von 
8t. Lonu nnd Nen-Orleans die Stelle eines Glockenspieles vertritt. Doch 
wird berichtet, dass „die Harmonie in folge Anwendung des Danpfias 
nicht immer vollkommen ist.'' 

4) Abgebildet bei Couesemaker a. a. 0. 



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2UÖ i^i e Anfinge der euro|)&i8ch-abcudläudibchen Musik. 



Octave. Orcagna Lässt in seiner herrlichen Dantellung dos Para* 
dieses (in S. Maria NoTella, Capelle Strozsd, m Florenz) ein ähn- 
liches Portativ von einem Knpcl spielen; in pnnz gleicher Form 
kommt es auch bei andern Maleni des 14. .TaliihundertB äusserst 
häufig vor, wie auf den ricmälden des \'onczianer8 Nicolo Senii- 
tccolo auf einem Waudbildc ^die Vcmiählung Maria s) von Taddeo 
Gaddi in S. Croce (Capelle Baroncelli). In nnverfinderter Gestalt 
geht es auf das 15. Jahrhundert Uber; ein GemSlde ans der IVOhaeit 
dieses BSculnnis, eine Verlobung St. Katharina's, von einem unbe- 
kannten NiederlKnder in der Akademie zu Venedig^ seigt es in 
der wohlbekannten Gestalt; auch in dem Oniament eines 8ch(>ncn 
liisclinfstahes aus dieser Zeit kommt es vor*^). Dass so viele Künstler 
an weit voneinander gelegenen Urten das Portativ in ganz gleicher 
Weise darstellen, beweist, dass es nicht etwa ein Phantasieinstrument 
ist, was wir auf ihren Tafeln erblicken, Bondem ein damals weit 
verbreitetes und popnlires Instrument (auch die Minneregeln von 
1404 nennen das ^iBoriatiff**) und es ist dieses nieht ohne Wiehlig- 
keit, veil bei Martin Agrieola (15dS) nnd Ottomar Lnseinins (1586) 
unter dem Namen Portativum ein ganz anders gestalteter Apparat 
abgebildet istj ein länglich viereckiges, flaches Kästchen mit Tasten, 
auf dessen oberem Deckel sidi an der einen Seite ein Conglomerat 
gehrauhen- oder weudeltreppenartig aufsteigender Pfeifen wie ein 
hahylonisclies Thürmchen erhebt; ein l^lasbalg zum Regieren mit 
der einen Hand ist iihulich wie auf jenem ältem in der Anordnung 
seiner Pfeifen unseren Orgeln Ihnliehen Portativ angebracht. Das 
Xltere Portativ eraeheint bei Agrieola und Lusoinius cum „Positiv** 
ausgebildet nut mwel BlasbiQgen, folglich schon einen eigenen 
Oalcanten erheischend. 

Sehr beliebte Instrumente waren auch die Glockenspiele ^Im- 
Hnnabula oder n/mbala). Sie bestanden ganz einfach aus einer 
Reihe aufgehängter gestimmter (ibickcn. denen man durch An- 
schlagen mit einem Hammer eine ^Mt ludie abgewann. Die alten 
Glockenspiele auf Kirchthünuen, die sich hin und her erhalten 
haben, bei denen abw ein mechanischer Apparat oder mitunter 
plumpe Claven, die ein Spiel w mfihsam mit der Faust niederdrllckt, 
die Stelle des unmittelbaren Anschlagens mit Hand und Hammer 
vertreten, geben noch jetst einen Begriff von diesem Tintitmabulum 
oder Otfmbaihm*)y wie man es nannte. Auf der Miniatur eines Codex 

1) Acad. 2U Venedig. 

2) Dort als Luca d'Olanda beaeichnet. 

3) AbfTobildet bei Hcidolofl: 

4) Die sehr anschauhchc Abbildung eines solchen (ilockeuspieles mit 
Manual und Pedal, wie es eben von einem Spieler ndt Fftusten und 

Füssen pf"<])ielt wird, findet sich in Mcrsenne's Iiarmoiiicorum libri XU. 
und in s»einer Harm, universelle V. Virdung rangirt „Zymbeln und Glocken" 
zu;>Rramen. DeMurissagt: „tyisu/ia (instrumenta) sunt, quae foraminibus 



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Guido von Aiezzo and die Solmisation. 



209 



ans dem IS. Jahrhundert im Stifte Bt. Blasien deht man ein junges 

Frauenzimmer, w^leheadiefesiEDttnunent spielt; auch auf demKelief 
' von Bocherville kommt es vor. Seine Seelenlosigkeit und Unbehilf- 
lichkeit ^Ijt ihm etwas Barbarisches, man wird unmittelbar an ahn- 
liche Apparate der Chinesen und Javanesen gemahnt. Jener Zeit 
geuüj^te es, wenn man Klän^rc von bestimmter Tonhöhe liervorzu- 
bringen vermochte, durch welche Mittel galt dann gleich aber da^s 
der Ton aneser leiner mathematisch bestimmbaxen HSbe auch noch 
die Flrbnng der ans dem Innersten strOmenden Empfindung, dass 
er Ausdruck nnd Seele annehmen kVane, davon hatte man Torllnfig 
gar keinen Begriff. 

Die Zeit von Uucbald bis auf Guido und selbst auch nach 
Guido's Zeit ist in der Musikgeschichte die Periode der aller- 
ticfsten Dunkelheit. Es wiederholt sich hier dasselbe Schauspiel, 
wie in der Geschichte der bildenden Kunst der christlichen Zeit. 
So lange diese letztere noch antike, wenn auch schüchtern oder un- 
geschickt behandelte Motive mit ihrem neuen Gebte zu durchdringen 
strebte, errang sie bei oft ungenügender Technik doch bedeutende 
Erfolge. Als endlieb das am^e Eibe venehrt war, ging die Kunst, * 
jetzt auf Eigenes angewiesen in dunkler Grabcsnaoht scheinbar 
völlig unter, aber nur um neubelebt aus dieser Nacht hervomgehen. 
Eine Epoche, die in der Musik Dinge wie das Organum oder wie 
die nach den Vocalen geformten Melodien als schön preisen konnte 
(und beides ist, wie wir hörten, geschehen), tappte einstweilen mit 
ihrer Öehusucht nach Licht, aber ohne den kleinsten Schimmer eines 
solchen, im Finstem, ob man gleich gerade dieser Zeit und zwar in 
der Person Guido's eine Reihe der allerwichtigsten Entdeckungen 

carent et chordis per modum vdsorum concavorum formata, qimlia sunt 
cyn^bala. pelves, campanae, oUae et similia, quae secondum materiae et 
formte oivorritatem mversos sonos emittunt . . . 

Blusira fit nobis etiam per vascula nota 
Pniiilere quae distant et forti vrrbere mota 

Cymbala, campauae, pelves, ollaequo videntur 
Talia quae retonant, qnando pnlsatae moventur. 
Das find mm die „cymbeln mit ir* flauere , wie die ^liniu rpcrdn sagen. 
Cotlon (Cap. iV) bezeichnet die cymbala als Inatrumente mit (»estimmter 
Tonhöhe. Aribo (8. 219) stellt cymbala et chordas ni lieneinandcr und 
lehrt^ wie man Cyml)algl()( kL'n durch eingegossenes Wachs messen könne 
(8. 2!?1) Eii<iclbert von Adniont (S. ']01) spricht vom Cymbalum horologü, 
ührglockc /.uui Auschlagen der Stunden. 

1) Ein Xachhall dieser Auffassung ist ni)ch im Virdung zu spüren, 
der freilich ganz verständig dagegen j olemisirt: „pfeiflein aus den feder- 
kielen, lockpf'eiffcn der f?>gk'r, wacli(< ll»aijdciti . plVirtWu vnii «Icii saftigen 
Rinden der Büm, von den hietem <lcr Üoui, das hülzig Gclcehter, schwegula" 
(pfeifen) „mit dem Mund oder den Leflken, dornohe Listnimenie, die 
man aucli für Musicaliu athtet oder haltet . . . die acht ieh alle 
für giickelspiel, darumb verdreusnt e» mich die su nennen, vil mehr zu 
malen, und allermeist zu beschreiben.'* 

Ambrot, OMChMrt* der Mmlk. H. 14 



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210 



Die AnfiLage der ettropftiBch*abeDcUttndi8chcn MusUc. 



und Erfindungen inschrieb. Aber Guido hat weder, wie ihm die 
glXubige Ueberliefeninp nacliriilimt»', das Monochord, noch viel 
weniger das Cla>'ier erfunden, <lic Tropen oder Kin-lientonarten 
nicht festgestellt, das Gamma nicht beigefü'rt, die lateinischen Buch- 
staben zur Bezeichnung der Töne nicht eingeführt, die Notenschrift 
nicht erdac lit ; er hat die Diaplioiiie nicht als der Erste angewendet, 
vuni Cuutrapunkt, Bclbbt von einer vernünftigen llamiuuie halte er 
kaum eine Ahnung. Guido mag den Ruhm aller angeblichen Er- 
findungen ohne Weiteres entbehren, Bein wahrer Ruhm bleibt unge* 
schmlAert: er hat der Münk, die Tor ihm aus einem unsicher und 
ungenau vom Lehrer auf den Schüler traditionell überlieferten Musik- 
machen bestand, eine sichere, nicht su verrückende Norm in Schrift 
und Uebung gegeben; und so gut wie jener Unbekannte, der zuerst 
den gehöhlten Baumklotz in's Wasser schob und zeigte, wie man 
durdi Hanilhabung einer Schaufel ihn beliebig leiten und mit seiner 
Ililfe Strümu Ubersetzen könne, der Begründer der Schififahit zu 
heissen verdient, wie armselig sein Canot auch neben dem das Meer 
stols durchschneidenden Linienschiffs heissen mwa, ebenso hat 
Guido durch die Anwendung der Sylben ut n mi fa 9oi la und 
durch Fixirung der Ncomen auf ein System von vier Linien der 
bisher haltlos und unsicher ausgeübten Tonkunst einen festen Weg 
gezeigt, der alle I-iehrer und Schüler t'in tan auf ■.-^leii lieni und sieherem 
IM'ade erhielt: und in diesem Sinne darf er iiestaurator, ja BegrUuder 
der Musik heissen. 

Wo man Musik trieb, wurde Guido'» Name mit Ehrfurcht ge- 
nannt, das utremifa aol la wurde der Grundstein der ganzen Musik. 
„Ifit diesen Namen (trf re m» u. s. w.) werden die Noten," sagt Johann 
de Muris, „von den Fransosen, Englilndem, Deutschen, Ungarn, 
Slaven und Daciem und den ttbrigen cisalpinischen Völkern be- 
zeichnet" VeriiXltnissmllssig spXt fanden die Guidonischen Lehren 

1) Bis nomitiibns notae, ut dictum est, appellantur a GaUicia, AnKtids, 

Theutonifis, Hutitraris. Shnis ol Dacis vt ccteris Cisalpinis. Ifali (tufmi 
alias notas et uomina dicnntur habi re, quod qui scire volucrit quaei<it 
ab ipsia (de Muris, Summa Musieae Cup. VII; bei Gerbert Script, «i. Bd. 
S. Der Schluss, weit < utiVi nt l in bekräflif^eudes Zengniss f&r Cotton*8 

Anjiahe zu Bein, ist vielmehr ein selir j^ewirlififres Argument gopren deren 
Richtigkeit. Sie bekräftigt nicht; denu die buchstäblich übercinstimmcn<lc 
Schlnsswendung, steh bei den Italienern Bdehmng sn holen, beweist, 
dass de Muris den Passus aus Cotton {rerude/.u absehrieb. Wie nun aber? 
Seit Cotton's Zeiten, seit der zweiten iiultte des 11. Jahrhunderts Insauf 
die Zeiten das de Moria d. i. auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts, 
also durch dritthslb Jahrhunderte sollten in Italien ganz andere Sylben 
in Gebrauob powesen sein, olme tlass wir auch »mr wüsstcn was es für 
Sylben waren, ohne dass sie ein italienischer Schriftsteller der Erwäh- 
nuni? Werth hftlt? Ein Blick in die Schriften des Marcbettua von Padua 
(des Zeitgenossen des de ^luris), z. B. pleich in das erste Capitel im 
9. Tractat seines Lucidarium musieae planae, reicht übrigens hin zu be- 
weisen, dais man in ItsUen wie ttberau das re mt sm la anwendete. 



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Guido von Anno mid die SolmintScm. 



211 



in den Niederlanden Eingang: in der DiScese von Lttttieh wurden 
sie erat 1108 dorch einen Geiatliclien Namena Rodnlpb ^geflilirti). 

Die Sfinger der Provence, inabesondere jene von Toulouse, brauchten 
statt der Solmisationssylben zur Bezeichnung der Töne blosae Bttcli- 
Stäben, worüber sich der gelehrte Klias oder Helyas Salomnnis von 
St. Astor in der Diöcese Perigord {<{c Sf. Asferio Ftt rigor icen.sis 
dioect sis) sehr aufliält^). In der Provence blühte eben damals jener 
vorzugsweise naturalistische melodische Liedorgesaug , der seine 
anmndiigen Weiaen ftOhlieh Mnatrümen lieM, ohne t&ush einatweilen 
ttber die reehte SteHe dea mt fa oder Uber die Ifyaterien der Mutation 
aonderliehe Scmpel an machen. Oerade an dieaer ÜBinen Caaniatik 
und subtilen Distinction fanden aber die Gelehrten ein willkommMiea 
Feld sich in ebenso weitläufigen als tiefsinnigen Tractaten zu er« 
gehen. Ein Hauptgegenstnnd in den Schrifton eines Engelbert von 
Admont (um 1290), Elias Salomonis (der sein 1274 geschriebenes 
Bucli Papst Gregor X. widmete), de Muris u. s. w. ist die (iuido- 
nische Hand. Auch hier fehlte es nicht an wunderbai*enZcichuuugeu. 
EUaa Salömoiüa reihet die Gnidoniadien Sjlben an föimUehmi Zauber- 
kreiaen, wüiar$mfa$olla und laaci famreut „anf- und nieder- 
atdgen und sich die goldenen Eimer reichen** ; er aeigt ihre Ver- 
bindung in den Kiichentönen und entwickelt die Verwandtaehaft 
der letzteren in einen wunderlichen (natürlich wieder gezeichneten) 
Stammbaum, Der Ahn ist der mystische allgemeine Tonus," hier 
so abstraft gefasst wie bei einem menschlichen Stammbaum (Um- all- 
gemeine üegrifiF Mensch ; der Sohn dieses Tonus ist der erste Kin heu- 
toD, welcher seinerseits der Vater des zweiten, der Bruder des dritten 
KiieheDtonea iat; der aweite Ton iat Enkel dea Tonua, Sohn des 
eraten» Genoaae dea Tierten Kirehentonea und ao weiter fort Daas 
der myatfaeh-aeholaatisehe Geist dieser Epoche durch den eigen ge- 
heimnissvollen Reiz der musikalischen Töne angeregt wurde, ist 
vollständig begreiflich. Das Alterthum hatte in den Tönen Götter, 
Himmelskreise, Planeten erblickt; das Mittelalter behielt diese An 
Behauungen, so weit sie seinem religiösen Glauben angepasst werden 
konnten, bei; es schlug aber auch die Bibel auf und fand auch hier 
geheimnissvolle Beziehungen, weil es Beziehungen finden wollte. 
Ea ▼ersinnBefate sieh die Tonyorhiltaisae dnreh Figuren und Auf* 
riaae, die auf ein Haar magiachen Zeichen oder Regenbogen, Blumen, 
Contignalionen u. s. w. glichen, deren phantasmagorischerKeia dann 
durch bunte Farben, auch wohl durch beigezeichnele Engel, Heilige 
oder allerlei Phantasiegeschöpfe noch erhöhet wird, welche Figuren 
dann insgemein wunderlich durch einander gckren/te Bfinder mit 
Inschriften halb-orakelhaften Tones in Händen lialten. Ks genügt 
z. B. dem Scholastiker Aribo nicht die >im|»lo W ahrhuit einfach 

1) Vergl. Forkel, Gesch. der Musik 2. Bd. 8. 244. 

2) Bei Gerbcrt iScript. a. Bd. S. 23. 



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212 



Die A.Dfibige der earopftiach-abendlAndiMhen Mosik. 



anfsusprechen, daat jeder antbeutiscbe Ton einige seiner Töne mit 
seinem Piagaltone gemein babe, andere aber nicht, nnd swar daaa 
in dem Umfang dieser beiden Töne die fünf mittlem gemeinsam 
seien, drei obenvfirts dem Authentus, drei nnterwXits dem Plagius 
gebUren. Er bringt die Sache in eine seltsam anznscbanende Zeich- 
nung: zwei RKder, deren Peripherien einander durchschneiden, die 
ftlnf gemeinsamen Töne sind in diesen DurchschiiittiHum gusetzt, 
die sechs nicht gemeinsamen zu dreien rechts und links in jedes der 
beiden Räder. Das mahnt ihn nun sogleich an die Vision Esechiers 
von den ineinandergreifenden BXdem und an die dadnieh bildlich 
angedeuteten Evangelien mit ihrer Concordans und Verschiedenheit. 
Seine geschSflige Phantasie findet sofort zwischen den Tetrachorden 
nnd dem Leben Christi eine geheimnissvolle Verwandtschaft: das 
Tetrachord der Tief'töue (gravium) entspricht vorbildlich {tyj'irc) der 
vom Evangelisten Matthäus beschriebenen Menschheit Christi, wie 
er arm war, dass er nicht hatte wo er sein Haupt hinlege ^ das Te- 
trachord der Endtöne {finalium) bedeutet seinen Tod, wo er nicht 
aliein das Ende seines Lebens erreichte, sondern auch der Tempel- 
vorhang, die Festigkeit der Felsen, die Klarheit der Sonne nnd Un- 
beweglichkeit der Erde ein Ende nahmf das Tetrachord der obem 
Töne {auperiorum) verainnlicht Christi Anferstehung, da er uns die 
Erbschaft Des im Himmel oben sicherte; das Tetrachord der aller- 
höchsten Töne (excellentium) bedeutet die glorreiche Himmelfahrt, 
so dass von der Tiefe gegen die Höhe die \ner Tetrachorde dem 
Verlaufe der evangelischen Er/ählun;^ folgen und, wie Aribo eigens 
bemerkbar macht, zwei Tetrachorde auf Christi Erniedrigung, zwei 
auf seine Erhöhung deuten. Die authentischen und Flagaltöne sind 
dann wieder vier Brautpaare, die ans ihrer Brautfcammer (ihaXamm) 
hervorgehend dnen Choireigen schlingen, die Brantkammer ist aber 
eben jene Durchschneidung der zwei Räder und so weiter. Man 
fühlt sich dab^ an die Schilderung der mittelalterlichen Alchymie 
gemahnt, oder an die alte Astrologie mit ihren Plauetenhäusem, 
(Jcgenschciiicn u. s. w. Wie sich jene Alchymie der Chemie, die 
Astrologie der Astronomie hindernd in den Weg stellte und die 
Weisen statt einfach die Natur der Sache zu befragen sich in Myste- 
rien verloren, die an alles und an nichts mahnten, die um su tief- 
sinniger schienen, je nnverstindHcher und inhalüoser sie waren: 
so siäilte, wie wir sehen, auch die Musik diesen Tribut der Zeit 
nnd konnte zuweilen vor lauter Visionen den einfachen geraden 
Weg nicht sehen. ,,Wie bewundemswerth ist nicht dieser Baum 
der Musik", ruft Marchettus von Padua aus: seine Zweige sind 
schön nach Zahlenverhältnissen geordnet, seine Blüten sind Wohl- 
klänge, seine Früchte süsse Harmonien, welche ans den Blüten 
reifen." Sagt ja Bernardus: ,,es sei die Musik des Universums ein 
grosses Ganze, das auf den Wink der Gottheit alles in^ Umschwünge 



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Guido vou Arezzu und die tSulmiäutiun. 2l3 

erhttlt, was sich im Himmel, auf Erden und im Meere bewegt, was 
in der Stimme der Menschen und Thiere tönt, was in den Kör]iern 
lebt, woraus Tage und Jahre und Zelten }>estehen!" Die r){ tave 
ist nach Bernhard's Ausspruch ein »Sinnbild der Gerechti)i:k( it, 
denn die Acht hiess bei den Alten Justitia^). Die Quarte malmt, 
wie Marchettus bemerkt, au die vier Jahreszeiten, die vier Welt- 
gegenden, die vier Elemente, die vier ÜTaiigelieii und die Tier Tem- 
peramente; die YienaU, deren Snmme 10 ift, &88t alle anderen 
Zahlen in nch, eie drttckt in üiren P^portionen die Oesetxe aller 
Consonanz aus (2 : 1 die Octave, 3 : 2 die Quinte, 4 : 3 die Quarte, 
3 : 1 die Duodezime, 4 : 1 die Doppeloctave) 3). Nicht umsonst (be- 
lehrt uns de Muri») haben die ersten Lehrer der ilusik die TJine 
durch die Vierzahl gethoilt, nämlich den ersten, zweiten, dritten 
und vierten Ton {D E F G) zum Fundament aller Tonkunst gemacht. 
Denn wie die Musik auf der grössten und bewondemswerthesten 
Znaamaieiiitimimmg {coneoriia) der Klinge beruht, go wirken aneh 
in der Harmonie dea Macroeosmoa, des WeltaUs, vier Elemente m- 
sammen: das wanne Fener, die fenehte Luft, die trockene Eide, 
das kalte Wasser; im Microcosmus aber, das ist im Menschen, 
mischen sich diese Elemente in den Temperamenten des Cholerischen, 
Sanguinischen, Phle^atischen und Meliineholischen, welche an 
den elementaren Qualitäten des Macrocosmus Antheil nehmen. ?]le- 
mentare Ordnung findet sich auch in den vier Jahreszeiten, den 
vier Wochen des Monats, den vier Zeiten des Tages. Wie die 
vier UnaltSne der vier Anliieiiten D, F, Q sieh ilbereinaDder «nf- 
banen, so aneh die Elemente: antie&t die Erde, dann das Wasser, 
Uber beiden die Luft, suhSchst, im Empyream, das Fener. Anf 
jedem der vier Finaltttne trift ein andientUicher nnd ein Plagalton in 
ihren Schlüssen zusammen, deswegen gibt es aber doch nicht acht 
T3ne, 90 weni^ als es acht Elemente gibt. Es ist hier zwischen dem 
Authentus und Plagius dasselbe VerhSltniss wie in den elementa- 
rischen Qualitäten, kraft deren jedes Element neben seiner Haupt- 
eigeuschafl auch noch die Eigenheit eines andern Elementes als 
Nebeneigensehaft herttbemimmt: das Fener i. B. Ist «inlehst warm, 
aber es ist beiher gleieh der Erde trocken; die Erde ist mnSehst 
trocken, abor beiher gleieh dem Wasser kalt; die Luft ist feQeht,aber 
beiher wann wie das Feuer; das Wasser ist kalt, aber beiher feucht 
wie die Luft. Dieselbe ebenso geheimnissvolle als innige Wechsel- 
beziehung findet ihr Ge^enbild in dem Zusammenhang jedes authen- 
tischen Tones mit seinem Plagalton Die Uebereinstimmung^ in 
der Zusammenstellong der Eigenschaften der Elemente und Tem- 

1) Luddarium II (Gerbert, Soript 8. Bd. S. 6Q. 

2) A. a. 0. S. 85. 
8) A. a. O. S. 84. 

4) Somma munoae a. a. 0. 8. 217 fj^. 



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214 IMtt Anflbig« der eoropiiBeli-abendlftndiBohen Musik. 



peramente und der äymbolisirang beider durch vier Haiipttöne mit 
den phantastischen Lehren der arabischen Philosophen ist hier so 
gross, daas der rTcdanko nicht abzuweisen ist, es habe dabei ara- 
bische Philosophie aus dem Maureustaatc in Spanien, wo sie v\n'n 
damals in voller Blüte stand, nach Frankreich herübergewirkt. 
Kennt doch der firansOriflche Mönch Vincentias BelloTacensb den 
Alfiurabi nnd insbesondere dessen gelehrte mosikslisch-theoretische 
Schriften sehr wohl, wie er ihn denn auch fleissxg citirt 

Aber in eigenst christlich-mittelalterlichem Geiste ist die grosse 
Symbülisining des de Muris gedacht, kraft welcher er in dem System 
der Musik ein Bild der Kirche erblickt. Die Musik ist ihm, gleich 
der Kirche, ein grosses Ganze, aber in mnnnigfachste Theile getheilt. 
Die Zweizalil der Weltmusik und menschlichen Musik cutspricht den 
beiden Testamenten, in welchen die Kirche vergleichend liest und 
die geheimnissraiehe Znsammenstimmnng heider nachweist 0ie 
Kirche theilt das Lehen in ein heschanlidies nnd thidges {vüa eon- 
Umplativa ei adiva), welche ihr Vorbild in den Schwestern Maria 
nnd Martha finden: so ist die Musik contemplativ bei dem, der sie 
im Herzen und Ged.ächtiiiss hat, dass er zu ihrer Ausübung eines 
Buches nicht bedarf; thütig bei dem Säuger, der zu Acusserlichem, 
als Büchern und dergleichen, greifen muss. Auch hier hat Maria 
den bessern Thcil erwühlt, denn was sie besitzt, kann ihr nicht ge- 
nommen werden; „wer aber im Gesauge nicht Maria sein kann, sei 
wenigstens Martha." Der anthentische and Plagalton sind Sinn- 
bilder des Gebotes der Liebe, jener h5here: Sinnbild der Liebe sn 
Gott, dieser, als der mehr in der Tiefe weilende: Sinnbild der Liebe 
zum Nächsten. Die drei Octaven der Musik sind gleich den drei 
Stufen der Busse: der Tief klang der Graves gleicht der Herzens- 
Berkuirschung des Bereuenden, die Acuton sind das Bckoiintniss des 
Beiclitenden, die Superacuteu sind die Thiitigkeit des Genugthuung 
Leistenden. Dreierlei Instrumente wendet die Musik an: Schlag-, 
Blas- und Suteninstrumente (vascUeSf foraminales, choräfiXes); dreier- 
lei Tngend ttbt die Kirche in dem Znsammenklange Ton Glaube, 
Hoffiiung, Liebe. Kehn Tonsati kann ohne Anüsng, ICtte, Ende 
sein; davon kann keines des andern entbehren und alle drei sind 
eins, ein Bild des göttlichen Geheimnisses der Trinitüt. Vier 
Kirchentöne gibt es, gleich den vier Cardinaltugenden der Klugheit, 
Mässigung, Tapfei'keit und Gerechtigkeit, deren Vorbilder eitjst 
auch schon Moses an dem Zelt der Stiftshütte anbrachte. Auf vier 
Linien schreibt die Musik ihre Noten, ohne sie wäre keine Erkennt- 
nis» des Gesanges; so ruht die Erkenntniss in der Kirche anf den 
vier geschriebenen Evangelien. Wie neben Sacramente die Pforten 
des ewigen Lebens öffnen, ttffhen sieben ScUtlssel (die Claven A, B, 
C,D, E, F, G)) die Pforten der Musik ; und wie die acht Seligkeiten der 
Beigpredigt den vier Cardinaltugenden entsprechen, so dass je swei 



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9 



Guido Tou Aieno und die Solmisation. 215 

Seligkeiten als Frucht einor jeden dieser vier Tugenden verheissen 
sind: HO tlieilt sich die Musik in acht Kirchentöne, die alle acht auf 
den vier authentischen heruhen. Neunzehn Töne bilden den Um- 
fang der Musik, acht in den Tiefen, sieben in den Acuten, vier in 
den Superacuten: so hat die Kirche ihre Stufen, auf der ersten 
stehen die Laien, die fromm und gläubig leben, auf der zweiten die 
Pilger n. 8. w., nacb der Höhe sn stehen die Orden, auf der Tlerten 
8tnfe die Templer, anf der ftnften die Hospitaliitter n. ■. w. Die 
nahen Stufen der Acuten umfassen die geistliehen Peiaonen, eie 
stehen höher als die Graves, aber tiefer als die Snperacuten, das 
sind die Eremiten, die von den Heiden in Gefangenschaft gehalte- 
nen Christen u. s. w,, die um des Glaubens und der Liebe willen 
mehr leiden. Wie der Finalton den authentischen vom plagalen 
scheidet, so wird einst Christus die Schafe von den Böcken tren- 
nen, und wie dos Ende jedes Gesangs mit Noth wendigkeit durch 
dessen Anfimg und lütte bestimmt wird, so bestimmen Anfimg 
nnd Mitte des Menschenlebens mit Nothwendigkeit dessen Aus- 
gang in einem seligen oder unseligen Tode. 

Das Buch, zu dessen Schlüsse de Muris dieses merkwürdige 
GemKlde aufrollt, ist mutliniasslich noch zu Lebzeiten des Dichters 
der Divina commedia oder doch nur wenige Jahre nach seinem 
Tode (Dante starb bekanntlich 1321) geschrieben. Erinnert man 
sich nun, wie auch in dem bewundernswürdigen Gedichte des 
grossen Florentiners jede anscheinend zufällige und unbedeutende 
Erseheinong eine tiefe Symbolik birgt, wie Jede auftretende Person 
neben ihrem historisehen Charakter sum Sinnbflde irgend eines 
religiös- philosophischen Gedankens wird, wie der Dichter in die 
höchste Höhe und in die tiefste 'J'icfe greift, um ein gewaltiges Bild 
der alles umfassenden, alles (Uirclulringenden, alles beherrschenden, 
alles richtenden Kirche hinzustellen; hält man, um auf Einzelnes 
einzugehen, die Scene im Purgatorium, wo der schwertbewaffnete 
Engel dem Dichter sieben P {peccaio) auf die Stirne schreibt, deren 
eines nach dem andern schwindet, wie er Stufen (es siudt die Stufen 
der Busse) hinansteigt, mit dem EinfUljs des de Muris susammen, 
die drei Octaven ebenfalls den Btaffaln der Busse su vergleichen; 
oder erinnert man sich bei der BUerarchie der neunzehn Tonstufen 
an die AbsKtze des Fegfeuerberges und die Blätterkreise der Para- 
diesesrose im Dante: so fiiblt man lebhaft, wie diese Symbolisimng 
der Musik so ganz im (J eiste der Zeit laj;, und wie sie mehr ist als 
ein vereiTizelter pjinfall eines mittelalterlichen Gelehrten, der in 
seiner faustischen Zelle mit Geistern wunderbare Zwiesprache hält. 
Anders sah es freilich aus, wo sich der Musiker im Olanze des Königs- 
hofes, im frohen Saale oder firtthünghellen Oarten der Bitterbnrg, 
in der lebensfreudigen Gesellschaft edler Kitter nnd schOner Frauen 
mit seiner Kunst beschäftigte, ffier wurde der Musik nicht die 



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216 Die Anfiknge der eorqpliicli- abendl&nduchen Musik. 



Fariw der Reflexion, der tiefsinnigen Speculation angekränkelt: hier 
trn? auch sio die frohe Farbe deeXiebeiUk Aber die bunten Blüten, 

welche liier der helle warme Ta^ rasch hen-orlockte, welkten auch 
über Nacht. Von Guido von Arezzo lülirt ein direkter Pfad bis iu 
unsere Musik hinein, von den Gehängen der Troubadours, der 
Minnesinger aus nicht. Allenfalls die InstrunientalniuHik der Jong- 
leurs mag auf die Tanzweisen, denen wir im 16. Jahrhundert be- 
gegnen werden, nachgewirkt haben. Wie wichtig die Tansmnsik 
geworden, das werden wir an gehöriger Stelle seigen. Wir mfltsen 
aber die Tronbadonrs und ihre Verwandten schon als historische Er> 
scheinung von hoher Wichtigkeit in's Auge fassen, denn in ihre 
Gesiinge flüchtete sich der Wohlklang der Melodie zu einer Zeit, 
wo die übrige Musik in den Händen der Scholastik ein abschrecken- 
des Aussehen erhielt, und sie hegten und pflegten die Freude an 
tiesang und Wohlklang bis die Zeiten kamen, wo auch die höhere 
Kunstmusik die Mönchskutte auszuziehen anfing. 



Die nronbadenn \uiid Mlnetrale. 

Unter dem lieblichen TTimmel Sildfranki cich's, in dem garten- 
gleichen Lande, wo Krln-, Oel und Mandelbaum in reizendem 
Gemische die Fluren bedecken, wo weibliche Schönheit und ritter- 
licher Muth dem Leben Glanz verliehen, mussteu nothweudig Dicht- 
kunst und Gesang mit ihrer idealen Sprache dem Leben die letzte 
und höchste Weibe des Poedschen leiben. Die HOfe der Grafen 
yon Tonlonse, der Provence nnd Ton Barcelona waren Pflegstttkten 
der Dichtkunst (art de trohar, spftter gay saher oder gaya eiemeia, 
die firöblicbe Wissenscliaft). Nach dem Erfinden {trohar, trouver) 
nannte man im südlichen Frankreich die Dichter „Trobadors"» 
Als erster von ihnen wird Graf Wilhelm von Poitiers (1087 — 
1127) genannt. In Frankreich sang der Troubadour nur selten, 
wie es in Deutschland bei dem ihm verwandten Minnesänger der 
Fall war, seine Lieder selbst; dazu hatte er kunstfertige, im Gesang 
nnd im Spielen mnsikalischer Instmmente woblerfabrene Diener inr 
Seite, denen er seine GesXnge ttbergab. Sie bieasen «fJonglenrs" 
d. i. Spieler oder vielmehr, da sie ancb durch allerlei Possen fttr die 
Erheiterung der Gesellschaft zu sorgen hatten, geradezu Spass- 
macher (joculatores , proven^alisch Joglar, nach jetzigem Idiom 
Joucurs) als SSnger „Chanfeors" , und insofern sie Instnnneutnli^ten 
waren und in dieser Eigcnschatt zum Tanze aufzuspielen hatten, 
„Eatrumanleors" 

1) Wace (um HIT)) sagt im Brut: 

Mult ot k la cor! JugleorSf 
Chantiort, €strumanUar$f 



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Die Troubadours und Ifünatreli. 



217 



Gtogen die eigentlichen IVobadon ittiideB ile Immer nur in 
anem aehr «ntergeordneten YerhSltnlBi: jene waren die eigen^ 
Uchen edeln, freien Dichter und SSnger, welche nicht um Luhii 
Bangen, diese die bezahlten Diener. Sordel nahm es sehr übel, als ihn 
ein anderer Troubadour einen Jongleur genannt hatte: ,,cr gebe 
ohne zu nelnnen", sa^^te er, „und er wolle ftlrseineKunst keinen Lohn 
als Liebeslohn" (e uou voiU gniei dournas sol (Vamor)^). "Wer aus Poesie 
und Mujiik ein Lohngewerbe machte, der „Hofdichter*' (wie sich 
Biete ansdHIckt) oder der Trenbadovir für baare BesaUnng, wie wir 
ihn auch nennen kSnnten, mnsste lach gefallen lasaen, Jongleur an 
heiaaen, so |^ wie der bleue fahrende Mnnkant aach Jonglenr 
genannt wurde. So wenig aber nun der tapfere Bitter die hilf- 
rmehen Dienste des Knappen entbehren konnte, so wenig mochten 
die edeln Troubadours die Dienstleistung der Jongleurs entbehren. 
Wo der Troubadour nicht in IVrson erscheinen konnte, dahin 
brachte der Jongleur d. i. der LolintrnuLadour die ihm unvertrauten 
Gedichte und Weisen, und wenn der Troubadour Marcabruu sagte, 
er wolle „VerM nnd Ten ttber*» Heer aenden"*), ae lal eher, alt an 



Mut ponssiös Dir changons, 

Rotruengoa et noiritx toni, 

Vieläures, lais et notes, 

Lai de vieles, lais de rotes, 

Lais de harpe et de fretiax, 

Lyre, tympres et chaleinia», 

STmphonies, psalt^rions, 

Monacordes, cymbes, chorons. 
Eine Stolle in Hngon'a de Mery „Toumoiement de l'antichrist" sagt: 

Ogoand les tablcs osti^c« fureni 

^1 jou^i^our eu piäs s'estureut 

S*ont Tieles et harpes prises 

Canrons et sons, vcrn et rcprises. 
Von dem Spielen cum Tanze n-dct der Kornau de Jaofire: 

ETls juglar, i^ue son el palaas 

Violons descorta e aons e lais 

R dansas et cansonr. de pesta. 
Dass die Jongleurs auch i»ei religiösen Aufzügen ihre Instrumente spielten, 
beweist eine Stolle aus Guillaum^s deSt.Plur Chroniqne de l'abbaye miMont 
St. Michel, wo von den di( Ort Itosnrhnnilen ProMssionen die Bede ist: 

Cil jougleor la oü il vunt 

Tottt lor vieles traites unt 

Lais et eonnez vunt viollant. 
Die in diesen Stellen penanntcn Instrumente sind meist die lit kaTinlen; 
sweifclhaft ist, was unter Choron zu verstehen sei: die Sackpfeife (Chorus) 
schwerlich, eher ein Haiteniustrument. Der Lebensbeschreiber des Henogs 
Ludwig III. von Biirbnn (sl. 1419) erwäliiit: ..qn'nn lui trouva Ic corps 
oeint par peuitence d'une curde a fouet et d'une cordt de cAoron." (De 
1b Borde, Bssai 1. Bd. S. 998.) 

1) Dietz, Leben und Werke der Tnmbedooia & 

2) Lo vers e'l son vulh enviar 
A'n Jaufife Rudel oltra mar. 



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218 AnftlDge der europäisch* abendländischen Masik. 



eine Notimng, an die Abscliiokiiiig eines anderen, dienenden 
Sängers zn denken. Poire von Auvergne (1155 — 1215) bittet 
die Spieler dringend seine Dichtun^on nnd Melodien doch ja 
iiic lit zn entstellen Den Troubadours lag bepn"eiflicher Weise 
daran, ihrer Kunst sichere Jongleurs zur Seite zu haben. Guirault 
de Cabreira und Guiraat de Calanson haben fUr sie aoaführliche 
Unterwebungen (Emenkamma) hinterlassen^. 

Im nitrdliehen Frankreich nnd in England hatte dieses 8lnger> 
Wesen einen etwas ernsteren, gehalteneren Ton als bei den feurigen, 
leichtblütigmi stidfranzösisehen Troubadours. Die edeln Dichter- 
Sünger hiessen hier Trouvotirs. Selbst unter den musikalischen 
Dienstmannen gab es wieder talentvolle Dichter, welche als Me- 
netriers, Menöstrels oder Troveors hastarts, anglo-nonnannisch als 
Minstreis, Menstrelles oder Mynstrellis, aber auch als Jestours 
oder G^atours, Juglers, Jonglers oder Gleemen bezeichnet wurden. 
8o hatte endlich das Wort Men^strel doch auch die Nebenbe- 
dentnng eines Musikanten, wie Jongleur im Sttden^. 

Die Mittelpunkte feiner Bildung, ritterlicher Sitte und geläuter- 
ten Geschmackes wurden auch Mittelpunkte dieser ganzen Dicht- und 
Singekunst. Die Kihiigshöfe von Frankreich und England, der Uof 
des Herzogs von Brabant, des Grafen von Flandern, des Grafen von 
Champagne waren in dieser Beziehung berühmt. Unter den Grossen 
gab es gepriesene Troubadours; selbst Richard Löwenherz versuchte 
sieh mit Olflek auf diesem Oebiete; Thibaut von Champagne, König 
▼on Navarra (1201 — 1354), Robert Delphin von Anrergne (meist 
der Dalfin genannt), Johann von Brienne und andere Vornehme 
aeichncten sich als Troubadours aus. 0 raf Heinrich von Burgund 
brachte die edle Kunst nach Portugal ; das im Collegio dos nobres 
zu Lissabon aufbewahrte Liederbuch enthfilt, obschon nicht mehr 
ganz vollständig, noch 2GU Lieder in proven<;alischen Versmassen 
und bildet das älteste Denkmal portugiesischer Poesie. König 

1) Mas no m'es bon, que l'apreigna 
Tals, que mos chans non conveigna. 
Qui'ou non voill avoll chsntaire 
Crl, que tot chant dessazona, 

Mon dons sonet tom en bram. 

2) Dietz, Poesie der Treubadonrt 8. 391. 

S) Bs genfige auf Parnllclstcllen biuzuwcipcn. wie: 

£ cantent e vieleut e rotent eil juylar. 

(Gharlemagne, ein Poem des 12. Jahrh.) 
VieUent menestrels, rotnenges et scms. 

(Cliarpontior, suppl^m zu du Gange.) 
Sehr be/.eichnend ist eine Stelle aus dem Hegistr. Prioratus St. Swithuni 
Winten, (ad umum 1374). Hier wird erzählt, wie lioh beim Feste des 
Bischofs Alwynus KfcliH Miir^tn-ls mit vier Harfenschlftpem hf\ren Hessen 
(in aula conventus sex miniatraUi cum quatuor citbarisatoribua faciebant 
minittralcias suas). Und einige Zeilen weiter wird von ihnen gesagt: 
Yeniebant antem dioti joeiUatore» a eastello domini regis n. a. w. 



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Die Troubadours und üklinstrels. 



219 



Pinniz (reg. 1279 — 1325) war ein grosger Freund proven^isclier 

Poesie und umgab sieb an seinem LieblingHsitzc Santarem gerne mit 
sangcskuudigeu Troubadours. Auch sein Naclifolji^er, der strenge 
Afl'onso IV. (reg. 1325 — 1357), lirbte die l'otsie. Die heitere 
Kunst blühte auch in dem benachl)arten Spanien, wo die Abenteuer 
der Haurenkämpfe den romantischen ritterlichen Sinn ohnehin 
nlhrfcen. Die Könige von Aragon und CaslOien wendeten ücfa der 
Poerie besonders an: Alfons X., Peter III. nnd IV. waren selbst' 
Troubadours Die Poesien Alfons X. nebst Singweisen (mehr 
als 400) befinden sich in zwei kostbaren Pergamentbänden in der 
Bibliothek des Kskorial und in einem ähnliehen der Kathedralkirche 
von Toledo gehörigen Codex 2). Neben den „Trobadnres" standen 
auch hier .Joglarea oder Juglares, und es gab sogar weibliche Jog- 
laresas^). Dieser ganzen Bewegung blieb auchltalim nicht f'renid. 
Der König von Neapel, Carl von Anjou, der iinstere, mit dem 
Blute des e^'^'^n Gonradin von Scbwaben befleckte Despot, dichtete 
Lieder der Liebe nnd Terpflanste die in Frankreich blühende Kunst 
nach Süditalien; im ni'irdlichen Italien wurde Markgraf Asso von 
Este als Gesangesfreund gerühmt. Doch konnte die ganze Richtung 
in Italien nicht zu der Bedeutung gelangen wie in Frankreich. 
Der grosse Kainjif zwischen l^apst und Kaiser, dessen Schauplatz 
Italien war, der bis in die Städte hinein den Zwiesjialt der (Juclfcii 
und Ghibellinen warf, die ewigen Befehdungen dieser Parteien, 
die Kämpfe der Städte unter einander liessen das ruhige Behagen 
des Genusses der Dicht- nnd Tonkunst nicht wohl aufkommen. Die 
edeln Geschlechter, die entweder in der Stadt in ihren burgartigen 
Palästen stets kampfbereit sein mussten oder von der Gegenpartei 
aus der Stadt gedrängt als Extrinseci vor den Thoren lagen, bis sich 
das Blatt wendete und sie ihrerseits ihre Gegner verdrängten, fanden 
bei den unaufliörlichen Fluctuationcn de- Paiteikanijifos keine AIiisKe 
für die Gesänge der Liebe und des Leu/.es. Zudem war die italie- 
nische Sprache vorläufig noch nicht als Dichtersprache anerkannt, 
die Gebildeten schreiben ihre Briefe oder was es sonst war latei- 
niscb^); noch Dante (1265 — 1821) ringt gewaltig mit der Sprache. 



1) Der mmiksliflche Hofstaat der spsnischen EOnipre war aeltsum genug 
«nsammengestellt. Terrerns erzählt davon in seiner Paloopi-aphia Espafiola 
S. 82: En los lihros de ciu iitiis de eiitmda y gasto de! liey Don Saiicho IV., 
Nieto de San Fernando de la era 1331 (jniiio r2i»3) liay mueliav partidaa 
del vettuario y nuriones que ae daba Ii quince Tamborera» o Omes de 
lo8 Atambores, h quatro Tromperos. h dos Siiltadores y h los Joglares 
öMusiooi del Tamboret, del Äyabeba, del Ahafil, du la kota^ al Maeiitre 
de lot Orgtma», 

2) Vgl. Christian Bellermann, DieiiltestenLiedorbürli. i d. rrortngiesen. 

3) P. Estevan de Terreros, Pnlenjrmtia Kspanoln S. 82. Kr erklärt : 
„Joglare*, Musicos y Cantores; und weiterhin: .Jogiares <> Musicoa antiguus.'* 

4) So besang ein Dichter den Kriegszag der Piaaner nach Afrika 1088 



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^20 Die Anfilnge der europftisch-abcndländiRcben Musik. 

Als dieser grosse Geist den Grundstein italienischer Poesie legte, 
war andcnvfirts die Poesie der Troubadours bereits über ihren 
Höhepunkt hinüber, und er selbst, voll classischer Kcminiscenzen, 
voll bittern Scljineraes um sein Vaterland, lümmel und Hölle mit 
Seherblick durchdringend, hatte nicht die Stimmung die Nachtigallen 
dea IVQbliiigs und die schönen Augen der Frauen zu besingen, seine 
Bealriee winde Qim als veiidibrCer Gebt Fabieiiii dvidi hOliefe 
Spihireii; er seUiiif endef«, tief ernste T5ne an, und selbst wo er 
als lyrischer Dichter auftritt bleibt er grossartig und bedeutend. 

Als im 13. Jahrhundert Italien sich von der Oberhoheit der 
deutschen Kaiser für immer befreit jrlanbte, erfolgte allerdings eine 
Art Invasion von Troubadours, Jongleurs und was dahin gehörto ^). 
Die glänzenden Feste, welche Florenz, Venedig, Genua, Padua 
und andere Städte damals feierten, lockten Schaaren dieser bunten 
Singvögel herbei: der Sagenkreis von Karl dem Grossen, die Aben- 
teuer der Bitter yom Hofe des Königs Aitas wurden populür und fllr 
die spftteren Dichter die QaeUe, ans der sie Ihre Stoffe schöpften*). 
Auch Friedrich II. von Ilohenstaofen, der selbst so wie sein 
Kansler Peter de Vineis Dichter war (von Letzterem soll das erste 
Sonett herrühren), versammelte an seinem glänzenden lebensfrohen 
Uofe Sänger, Musikanten, Tänzer, Gaukler: alles dieses zn stark 
mit fremden, maurischen Elementen gemischt und zu sehr den 
rauschenden Vergnügungen des flüchtigen Augenblicks dienend, um 
ein wirklich anregendes Bildungselement zu werden. König Maufred 
war von einer 8«äaar dentseher Geiger nnd Fiedler mngeben^. Ea 
kamen wieder sehwere» blntige Zeiten nnd macbten der Lost ein 
Ende. Wirklick ans dem Volke erklangen damals nur die GesXnge 
des heil. Franz von Assisi und seiner GonoBsen, des Giacopone von 
Todi, Bonaventora, Giacomino von Verona nnd anderer, GesXnge 

in lateinischen Venen «nd bekaantliob diflüitete sdbit noch Petnurca ein 

lateinisches Hildengedicht. 

1} Benvenuto Alipraudi erzählt in der Schilderung eines Festes, welches 
1840 am Feste der Gonzaga gefeiert wird: 

Quatfro Cents sonnt or si dicia 
(Jon butibni alia curte si trovoe. 
9) VergL Les poetes firanciscaiiis voll Ozansm. DerVerfiMter erwlhnt| 
dass nach Älbertinu ]\fuB<üit(i's Zeugniss um das Jahr 1320 Schauspieler 
auf den Biilincn die Thaten Koiand's und Hol^er's des Dänen sangen. 
'd) Ottukar von Uomeck sagt in seiner Reimchronik: 
Daz er (Manfred) tidi sO Uez vermaerea 
Mit stnrn jrtpacrcn — 
Und daz ich siu nu h&n gedÄlit, 
Das maobet wen der grftse brlkti 
Des der küni^ Prin/.e pflak 
Bei, nalit undc tak 
Mit sinen videlaeren. 
Ich sag in, wer si waeren: 
Einer der was nicht zc junk, 
JDer hiez meister Wildunk u. s. w. 



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Die Troubadours und Miustrels. 



221 



voH hiiiniiaeiider Liebesglnt: „0 ommr, Hvkio amore, pertsh» m*hai 
autäjßX»? £• foeo amor mi mise und andere, snm TheQ nooh 
W^^f1f^, wie jenes reisende Frtthlingalied Bonaventara's: 

Phflomela praevia temporis amoeni 

Quae rpcpssiifl nuntiat iinliris atque cocni 
Dum demulces animus cautu tue leni 
Ave pudentinima, quaeeo ad me yeni! 

Es ist kein Zweifel, dass alles dieses in frischem Gesauge liin- 
strihnte, ja man kaiui aieh den dueh und diureh diefatensehea stete 
begeisterten Frani yon Assisi, dessen poetieelier 8inn sieh In dem 
ritterlichen Olanie seiner Jugendtage so gut aasspricht wie in der 

Ascese seiner spflteren Jahre, in der reizenden Bergeseinsamkeit von 
Umbricn umherirrend nicht anders denken als laut singend und 
wie ihm mitten in einer seiner feurif^on Hymnen die stralilende Er- 
scheinung des Seraphs die Wundemuiile aufprägt. Wie reizend ist 
die Erzählung, wie dieser kindliche Dichter, der in allen Ge- 
schöpfen seine Brüder und Schwestern erblickte, mit der Schwalbe 
ahweehselnd GK>ttes Lob sang! — Aber Ton sillen den Melodien 
■a den Liedern der Fraosiskanerdichter, welche oft die Begeiste- 
rung des Augenblickes schaffen mochte, ist, wie natürlich, nichts 
erhalten 1). Eine Menge anderer Melodien jener Epoche aber liegt 
glücklicherweise in Notirung vor. Die Notirung war die schwarse 
Nota quadriquarta , so dass die g(?schriebenen Melodien für den 
ersten Anblick völlig den rituellen Cantionalen mit der dreifatlien 
Abstufung derNotenwerthe (Longa, Brevia und Semibrevis) gleichen, 
zu denen sich zuweilen noch die sogenannte Plica gesellt. Bei nähe- 
rem Einblick neigt sich jedoch eine Ton der rituellen Qregorianischen 
völlig ▼erschiedene, gans liedmissige Melodik. An dem durch das 
Band der Beime aierlich insammengehaltenen Bau der, nicht nach 
dem yerwickelton Schema eines künstlichen, auf Sylbenquantit^ten 
gebauten Metrums, sondern nach dem natürlichen Rhythmus in Uo- 
bung und Senkung gebildeten Verse bildete sicli, angeschmiegt und 
dem musikalischen Wurt^^cfiigc folgend, die Melodie zu einem in 
sich gerundeten, auf Wechselseitigkeit seiner Theile und symmetri- 
scher Gliederung beruhenden Organismus aus. Während die Weisen 
der lUteren Meister, Gmcem Faldits*), Blondel des Nesle, Baoul*s 

1) Eine Composition der Philomela praevia findet sich in Kircher's 
Mnsurgi« S. 5^«?, und Claadin Sarmi^ hat eine Missa super philomela 

praevia cunipouirt. 

2) UebwGuioem Faidit (1100— 12-40), einen zinnlidi al» utriu rlichen 
Gesellfn. vergL man Friedrich Dietz, Leben und Wprko der Troubadours 
S. 361. Blondd und der Ghatelain von Coucy sind zu halbmythischeu Fi- 
guren gewcNfden. Die Sage, wie Blondel den gefangenen König Riohard sucht 
und findet, und Coucy's Liebe aar Dame von Faiel, so wie sein trafrischcs 
Ende (das unter anderen» Uhland in einer schönen Ballade besungen) sind all- 
bekamite, aber historisch nicht beglaubigte Erzählungen. Wirklich Histori- 



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222 



Die Aniltnge der enropäisoh-abendländischen Musik. 



▼on Coucy u. s> w. noch etwas Starres tmd wenig Bewegliches babea, 
findet mcb kaum ein Jahrhundert spXter bei Thibaut von Navarra 
II. A. bereits eine fni in leichter Anmuth hinschreitende Melodie, 
die kaum noch etwas zu wünschen übrig lässt. Aber die Harmonie 
war ihrersrits nocli nicht nuspjebildet p'nnp, um diese scliönen 
Bluten zum Kranze versclilin^en und sich ihnen, ihre volle Bedeu- 
tung erst recht und g.inz Imm n orhebend und ihnen dienend, unter- 
ordnen zu können. Daher verging dieser Melodienfriihling rasch 
und spurlos, und was sieb etwa die kanstroUe Harmonik davon 
aneignete, wurde in deniGedrttnge ihrer Vielstimniigkeit aerquelaeht 
und bis cur Unkenntlichkeit entstellt. Manche dieser Melodien 
haben einen eigenthümlich edfl-sentimentalen Zug, wie die Weise 
quant Ii UnueiffnoU (Qttant U Massignol) vom Chatelain von Concy. 



sfhps über Bloiidrl scIic man in Raumrr's Holieiistaiifi'ii III. 33, über den 
Castellan von Cuucy iu de la Bordes Essai, femer: Bellay's Mcmuires histoh- 
ques sur la maiaon de Goncy and Crapelet's Histoire du ch&telain deConcy. 

1) Bnmey hat (BkL of mus. 2. Bd. S. 284) eineEnt/ifroruag in geradem 
Takte ven^ucht, wogegen jedenfalls Einwendungen zu erhöhen sein mftchten, 
da auf solche Weise die Melodie holpri^^ und unsangbar herauskommt, 
wahrmdmaa nur ganz einfech den Numerus temarius sn beobachten brandit, 
um eine natürliche und sn^rar <:rf:illijrc IMelodie zu finden. Auch scheinen 
von den Textworten „conhns amis'' an indeul<ioteu i'^ehler des Abschreibers 
untergelaufen zu sein, denn der sehr verlftsilit^e Perne bringt theilweise 
andere Noten, welche sicherlich die richtigen sind, da jemand, der einen 
80 glückliehen Aiifaiipr einer Melodie zu finden vennochte, schwerlich mit 
80 ganz unsinnigen Wendungen geendet hätte, wie die Melodie bei Burney 
scUirast. Perne bat einen andeni und wie es scheint richtiger gescbrie- 
1)t ririi C'ndi'x bcnutzt. Gegen seine Ent/ifTerung sind aber aUe mOglioben 
Emweudungcn zu macheu. Man urthciie selbst: 



Quant Ii 



lou - sei - gnolz jo • • Iis 




mm 



chaute 



seur la 



flor d'e - stö u. s. w. 



So kann kein ISIensch pesungcn haben, weder zur Zeit der Troubadours noeh 
8onst jemah! Perne i\»hm »lie Noten streng nach dem Sehulprinzip der Men- 
suraltlieorie, er Huj,'n»enlirtejTehörifr die scmibrevis altera uiidlii*achtc so jene 
Triolen (tripolas) heraus, welche (h in Satze ein so hflohet absonderliches A us- 
pch<Mi «jehen. <ierade so ticftreU'lu'ten Leuten peht es zuweilen wie dem klei- 
nen Karichen im Götz von Berlickingen, das „vor lauter Ueiehrsamkcit seiuen 
eignenVaternicdit kannte.** DeredleChatolain von Concy war kein gelehrter 
Wensuralist, sondern eben nur sin ritterlicher Foet und Sänger, der sieh um 
die Alteratinn undlVnlation derSchulpolehrtheit und üherkünstlichen Praxis 
der tSiugchörc vermuthlich sehr wenig kümmerte. Sein Lied ist der Gesang 



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Die Troubadours und Minstrela. 



223 



Quant Ii Bo - ri - guol jolis chante aeor 1» 



flor 



d'esiö que naisi la 



Rose et 



le Ida et la nrase 



♦ ♦ » — 

et vert prt: 



:£fa: 




Ua 



qne 



j*ai ai trto haut pen a< 



qu'a painea ext ac-oom - plis 



^ ♦ .4, ♦ - 



u 



-■ — » ^ ^ > 



doat fai • e grft. 



eines poetisch angeregten Improvisators oder Naturalisten, ein Vulk.sliid, wie 
dergleichen so allen Zeiten völlig ohne alle Rücksicht auf das eben (güt ige 
Olaubeiisbokenntniss der Mnaikgelehrtheit entstanden. Auch Kieaewetter 
moitjt über IVnic's Etitziffprung: .,8oiiioTrii)Mlac, cino Art Prolatio prrftM ta, 
w areu in seinem Original gewiss nicht angezeigt ; sie sind nur imConlmpunkte 
d. i. im mehrstimmigen Satse denklMir, in der simpeln Melodie ein Undinnf.*^ 
(Leipzifr«'!- allfTfin. Muf. Z. Jahrg. 18.'W Nr. lö ) lr]\ liabt- ««ine ik-uc Ktit- 
zilTerung verbucht: es liegt ihr die Abschrift zu Grunde, die Burney vor 
Augen hatte; gegen den ScUnia hin habe i«;h aber die Leseart Peme^s 
vorgezogen. Die Pansen (Suspirieu) sind im Original nicht angezeigt, aber 
rie sind sicher angewendet worden; der »Schreiber verliess sich anf tlir 
ohnehin aus dem Texte sichtbaren Versscblüsse. Wollte man z. B. nach 
dem Wort est^ ohne Pause gleich weitergehen, so würde die ganze muai* 
kaliscbe Periode ans den Kucfen genickt: eine Periode, dw iti synimet- 
riacher Wiederholung der Melodiewendongen nach dem natürlichen tie- 
fthle ao richtig angelegt ist, wie daa Volk dei|^eiohen in eeineD Liedern 



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224 



Die Aofhiige der earopaaM]i-abendlftndiMlie& HnsOt. 



Qve&t Ii lon-tei * - gnob Jo - Ha obeiito tue la flor 



d*e - rt^ 




quentitila ro - ee ei 



lys et la re 



•fte et vert prft 



plains de 



Pern«. 

ben • ne vo - len-tft ohante-rai eoadbw e - nli 



(fUil«AM 




Perne. 

male di tant tai8es*ba*liii 



qae 



j*ai si 




trte haut pen - 96 qu'a pain ea iert acoom-plia U • 




(fehlt b<ti Perne ] 



m 



•er • - Tirs dont jai - • 6 



gr^ 



ohne Kunstanleitung richtig tiiilt. Eine ähuhohe Symmetrie der maaika- 
liflchen Periode sei^ sich in dem Oesange „Cknumenoement de doace saison 
Itelle'", wenn man ihn im un'jrrrailiii Takte recitirt ; im poraden Takt geht 
wieder alles haltlos durcii eiuauder. Hier lind die länger anzuhaltenden 
Noten der einzelnen Abschnitte sogar in dem alten Original markirt. 
Dia hier beigeaetsten Sternchen denten die Sintheilung nach TalÄea 



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Die Troubadoon ttnd Minstreli, 



225 



Solche Melodien sind nicbt, wie die leblosen Vocalonmclodieii 
6tiido*B, dem radinendeii Ventande oder vielmehr oiechaiuBchgeist- 



an. Nimmt man den Takt von '/a und «soiaisSjö'^rs^ so erstaunt 

man über die regelmAaaige BUdimg der Melodie, waa Takt and BhyÜuaua 

betrifil. 




ComneDoenent 



de dou • ce ae • 



bei 



le (^ue je vois re • - • 



ve 



m m m tUT. 



■m — 



Remembraace 



d'amora qoi me r^pe 



le dont ja 



1 

ne 



qmera 



par 



dr&o. 



De la Borde t'ntziflV'rt folgendcrmasscn und, wie ich glaube, n c'it fjut, 
wobei dem in der Melodie selbst klar genug ausgeBprochenen Khytlmiua 
Gewalt angethia wird: 





— 1 1 


r 1 
























•7 * 


- - • 



iß 



II. «. w. 



Bei , .parftV* hat das alte Original (folglich auch de la Borde und Perne 

in ihren Entzifferungen) auf die zweite Sylbe g, was offenbar nur ein Ver- 
liehen des alten AbBchreibers ist und /' heiswn soll. Mit Vergnügen Iüih! 
ich an dieser Stelle von Kiesewetter ein /' mit einem Fragezeiehen \<vi- 
geaetatf was mich in meiner ^h-ic)) xut drn «>rst(>n Blick ^t■^aH^t('ll Ver> 
mutbuiipr bestärkte. Ferkel ((teM-h. il Mus. 2. Hd. 8. 757) luinixt das 
Xiied quand U rotmignol in geradem Takt und meint: „ein saugbarer und 
natürnch flicaaender BaM iat an aolehen Melodien nudit m aetacn.** 



15 



uiyiu^uu Ly Google 



226 



Die Anfänge der europäisch -abendländischen Musik. 



und gedankenloser ZusammenBelsiing, sondern dem GefiihlRdrangc 
d6r schaffenden PhantaHie entt^rongen, und wvW sie es sin^, dürfen 
sie wirklich Knnstgrbildo heissen. Faidit's Klagelied auf Kichard 
Löwenherz ist roher, aber doch auch nicht olnie Ausdruck w ahrer 
Empfindung. (Im Original lauter Longac, nur die Ligaturen Breves.) 



Klagelied auf König Richard'« Tod von Gaacelm 1 aidit. 
(Vaticana BibL Ko. 1669 Fol. 89.) 




Fori duHiHW es que tot lo — — — ma-jor 



i 






dan el ma-jor dol-ias <^eu ouc mais a - gues. ^ 



«I I J ^ ^ I * " "I I 



ao dou Bei tos iors plai-gner plo 



wia. 




-BtL 



=4: 



dir 



ohantar 



retralre 



oel q'e - ra di va - loiir öUef et paire Ii 



2 



2 



Beiava-lena Bi • - liid BeiadesBn • giea. Se 



mon ai De • ns cals perte et cals daiis 




Goa 



I 



^ ' g * ^ '" j» " » # - - 

eelraing moa et eaa greupei au-«r bcn a dur cortoa 



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Die Troubadours und MinstrelB. 



227 



Uom qi po tof 



frir ben a dnr oor 



ioi 



bom 



qui po lof - - - frir. 



Noch weit ausgehildeter und wirklich in ihrer p^aziöscn Munterkeit 
liebenswürdig ist folgende Melodie des Königs Thibaut von Navarra. 



Lieder des Königs Thibant. 



Nr 1. 



rantri - er par U matinte «to. 



Rop. 



Ko. 2. 




Je me quidoie eta 
Rep. 



1 1 • i-r 



I i 



3: 




1) In der Origina'notirung bei Bumey 2. Bd. S. 242. 



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228 



Die Anfluge der eoropäisch- abendländischen Musik. 



L'autrier per la ma-ti-n^e eut'r un bos et uu vur-gier 
One pa-ito-xe «i tro-T^e ohantantpouraon qq • Toi^sier 




ei di - rait nn aon pre-inier chi mi tieot Ii mais d*ft • mor 



JL 



t 



Taatost eel • le per entor 



keje loi 



de 



3 



ri Ii diisana de -lei-er: Belle, dies Tona doint bon jonr. 

Einon eigenthiimlichen, kühnen nnd phantastischen Wecliscl 
zwei- und (h-eithciliger Rhythmen, wohfi aber das anscheinend Kegel- 
h>se in streng symmetrische Bildungen gebracht ist, zeigt folgende 
Melodie, welche ehnntalls dem KfJnige von N u airi nn;r(^}iört: 



Je mc qai »do - ie 
Ii doos meiia moi £ait 



{>ar • tir d'a • mour muie 
an - gair qni nnit et 



C a 



nen 
jonr 



ne im 
ne nii 



vaat 
faut. 



le jonr ni fiüt 




c 



14: 



maint as - saut et la uuit 



ne 



puis 



dor- 



1) Dieser anmaihTollen Melodie sehr verwandt Ist die Weise eine« 
/u dem sogenanntMl Iiai d'AcIis (aus doni 13. Jahrhundert) geliöripren 
Gedichtes „Docc amie fjenticx"* (Hibl. nat. zu l'aris Suppl. franr;. Nn. 1H4). 
Diese Ohgmaluotiruug und eine Kutzitiurung wolle mau in i?'erdinand 
Wolfs Bmüne „lieber die Leit" nachsehen. 



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Die TroabacUran und Minstreli. 229 




mir aini plnr et pldiit et M • • pir dieastaatfiHrtquuit 




la rc - mir mais bien sais que ne len • ohaut. 



DiM6 beiden Lieder Tliibaut's gehen entschieden in G-dnr, jenes 
Faidit'i in I>-iboU. Dms die Bubieinitoiiidii wirkUeh jjif und jf^c ge- 
rongen wniden (ßievaiimie voci»)» ist wohl eicher; wer so viel rich- 
tigee Gefithl lllr Melodiehildang hatte, wird kanm einer eingebil- 
deten Consequenz zu Liebe anders gesungen haben. 

Die gemeinschaftliche Physiognomie aller dieser Melodien ist 
unverkennbar. Ihr Gang ist im Ganzen ruhig, gemessen, gewisse 
Wendungen und Schlussfomudn treten mit geringen Abweichungen 
Uberall charakteristisch hervor. 

Eine eigene Classe bildeten die Lieder zum Tanze, die Keiheu- 
tlnie, wobei die Tarnenden einander im Kreise an den HXnden an- 
faaeten (ömoU, naeh dem lateiniachen Gftoreoto, spSter Sondä de 
CamiU, belgieeh Soitdeau, dentech ,jmme ffmde Mf'O* und die 
IlUpftänze ( Esjmngale oder Etpringerie, deutsch „sprinjrende teiäz")^ 
die beiden Hauptgattungen der zu jeuer Zeit gebräuchlichen TKnze^). 
Ein solches Tanzlied trug eine Person Solo vor, otlt eine Dame 2); 
die Tanzenden fielen dann mit dem Ketiain im Chore ein^). Auch 
die Ballade war, wie ihr Name andeutet, ursprünglich ein Tanzlio«!, 
sie wird zuweilen ursprünglich geradezu „Ballet'' genannt, wie denn 
8. B. Jaeob Bertant, ein TrouTenr ans Flandern (Ende des 13. Jahrb.), 
nnter seinen Poemen ,/eHl guaire vinf/t kirii haHUUa ou hoBade^* 
hinteilassen hat Ein Ided tmn Tarne in missiger anmnthiger 
Bewegung von Guillanme Machaud ist folgendesi in welchem der 
Tansrhydbmns nicht an verkennen ist: 



1) Ferd. Wolf a. a. O. S. 185. In Boman de la Violetla v. €687—6688 
werden sie neben einander genamit; Ni finent pae mis ea defois, les ooroles, 

les espringales. 

2) (Koman de la Rom v. 746—748.) 

Geste gens dont je vons parolle 

S'estaient prins ii la carolle 

£t une dame leur chaatait. 
8) So ersihlt Bocoaooio (Deoamenme Oiom. IL Nov. 10): Mensndo 
Emilia la carola, la segaente oansone da Pampinea ri^ndendo Taltre 
in oantata a. s. w. 



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230 ^ Aa&Mge der enropAifloh-ftbeDdlftnditQhen Maulu 

(Nach Bottte de Toulmon.) 



^w» II • 




Dunea vowaaiif re-tol • Ur dongmir penitfe d»«ir oorpi 



et «mour oonune a tonte U inil-loiirqii'oii poift 



m ne Tirre ne minurir poiit a oe jonr. 
£me andere sebr annrntbige Melodie Haehand'e iit ein Lay: 



CNadi der Origiuilnotimiig.) 



J'aim la flonr de va • lonr mos fo • • loor 



est raoar nuit et jour par ea voor 



oor d*«t(Nir de oo- 



lonr de dou • - - lovr 



et d*odoar ne roimoor 




ne mil • - • toor ii'est du Ii pour c*en-lau 



gour 



^^^^^^ 



Teil bieu mo • rir 



pour 8 a - jnour. 



Ungleich schöner als alles, was uns von diesen Sing^wcisen er- 
halten worden, verdient ein Marienlied {Shx'ente) von Adam de 
la Haie (um 1270) zu heisseu, desseu Melodie von grosser Zart- 
heit und Innigkeit ist: 



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Die Troubadours und Minatrels. 231 

Adan de la Häle. 



^O'ri • en - ae vi 



er-ge 



• • • ri ■ • 



jSZ_ 



-Jl ! ^ 



puia-que tos ter - vi - • • • che« m'est biaus £t je 



Toussi en - CO - - r« - 



gl . e 



puis en 



ae 



ra 



uuoUant nou-viaus De moi qui 



ohant oon-ohieaz qui pri 



De ses fiws er- 









4=j 







re 



mens a • i - e Car chier oomper • rai-mes a- 




▼iaoa quantpomr ja - gierae • ra Csia Ii ap-piaua ae d'axya- 







■ 'ff 










-4:= 


t 


mensu'e - 


stu» puur 




gar • 


• 


- ni • 


■ e. 





Adam de la Haie oder Adan d'Arras war überhaupt ein 
Genie mit all' den guten nnd schlimmen Seiten, die in Lesern 
Worte liegen. Man nannte ihn auch Ib baüeux d^Amu oder U 
bouu d'Arras', er will es aber nicht Wort haben in dieaer Aeaopa- 

gcstalt vor der Nachwelt zu figuriren: „on m'apelle hochu, mais je 

nele sui mie", sagt er. Um 1240 zu Arras als Sohn eines Bürgers 
mattre Henri geboren, wurde er in der Abtei von Vauxeellos nächst 
Cambray uuhgebildet und ;?ollte, als Kojif von eminenten Fällig- 
keiten, nach der Zeit Weise in den geistlichen Stand eintreten, war 
auch damit eiuver»taudeu, bin er eiues Tage» durch ein Paar »chüucr 



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232 



Die Anfüge der europäisch- abeadländiflclien Mosik. 



Au<^on plötzlich anderen Sinnes ^urde und ein junges hübscliM 
Müdchtni 1h ir:itliote. Die Ehe mit Marie (so hiese die Schöne) war 
nicht j;;lücklicli , wornn vielleicht wcnig^er Adam's Ilinkefnss und 
Höcker als sein uiihtites Wesen die Schuld trug. Genug, er lioss 
seine Frau sitzen und soll wieder in den geiHtliehen Stand einge- 
treten sein, was freilich nur bei der Ungenirtheit möglich war, mit 
der man damals solche Dinge behandelte. Bürgerliche Unruhen 
▼ertrieben ihn um 1263 von Aitm nach Douai. Robert II. von 
Artoia zog ihn in fl«ne Dienste, er fdgte ihm 1382 nach Neapel, 
wo er, wie es scheint, um 1287 starb. Die französische Literatui^ 
geschichte bezeichnet ihn als einen der Begründet der dramatischen 
Kunst in Frankreich. Die Musikgeschichte nennt ihn unter den 
ersten, denen wir Versuche in mehrstinuniger contrapunktischer 
Cnuiposition danken. Er und Macliaud bilden den verbindenden 
Uebergaug von den Trouvcurs zu deu eigentlichen geschulten Mu- 
sikern. Gleich jenen erfanden de Worte und Singweisen ihrer 
Gedichte frischweg, wie sie der innere Drang dasa a&tiieh, und hier 
glückten ihnen r^ende Prodnetionen. Als gelehrte Mnsiker setzten 
ne mehrstimmige SingstQcke, die wir s})Ster kennen lernen werden 
and die uns freilich nur als höchst ruhe, heinahe barbarische Ver- 
suche erscheinen. Wie Adam de la Haie den Herzog von Artois 
nach Neapel, so hegleitete Machaud den böhmischen König Johann 
von Luxemburg als Secrctär nach Prag'). Zahlreiche Gedichte 
beider Meister finden sich noch in alten Handschriften, von Adam 
auch heitere Liederspiele. 

Die Melodien der spanischen IVohadores haben eine entschie» 
dene Aehnlichkeit mit den proven^ alischen. Estevan de Terrecos 
hemerkt, dass diese Art von Gesang g^ans denselben Geschmack 
zeigt f wie er in den galicisehen und portugiesischen Lftndereien 
nodi jetst herrscht^): 

1) Machaud war keineswegs derZuname Wilhelms, sondern der Heimat- 
name ; er war aus Machaut (Mascandium), daher er auch Giiillielmus de Mft* 
scandio genannt wird (F<5tis. Biogr. univ. ad v. (JuillamnedeMachaud). Der 
Marques de •Sautillaua sagt vonMachaad: „Michaute escribiö asi miamo un 

nt Kbro de baladas, canciones, rondoles, lays, vhtilais e aionö m ndfco t. " 
ie grossem Ansehen er stand, beweist eine von Emil Deschamps Oebte 
unter Karl VI. 1380—1422) auf seinen Tod ^rcdichtete Ballade: 

Bubebe<i leuthsi vielles, syphonie, 
FSatteriooB trastoos iastnimeiu eoys 
Rothes, guiteme, flaostres, ehaleime 

Traversaiues — ei vous ujmphes de bois « 
Tympane aussi, mcttcz en oeurre dois. 
Et le choro: n'y ait nnl qni replique 

Faictes devoir, plourds gentils galnis 
La mort Machau, le nohle rltttoriqur. 

2) For ellas se v^, que el ayre y gustu de aqucUas tonadas y canciones es 
el auamogne dura hsstaoy (das Buch eradiien 1788) enloiPlijMnos de Ckk- 



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Die Troubadours und Minstreis. 233 



(Prologo der railagroa y loores de S. Maria von dem Kdnig Alfonso el 

Sabio, Xni. Jahrh.) 

A 





iv ti— 1 3 




6* p 3 


Por que 
B 




A^Ä^— 

tro - - bar 




i cou - 


sa en 
























mt'u-to 


quo iaz 


en 


ten - - - 


di 





po - ren quen- ö faz u. a. w. 



Die Notinin^^sweise, welche die spanischen Trobadoics un- 
vendeten, stimmt ebenfalls mit der Notirung^weise der franzögi- 
schen Trouveura vüllig zusammen, selbst bis auf den Charakter 
der ISchrifl und den Geschmack der Initialbuchstaben: 

Alfonso el Sabio XUI. Jahrh. 




licia y Portugal (Paleografia Espanola S. 81). Obige Notirung steht im 
Originale im C-Schlüasel, wie in der Uebertragung, das b ist vorgczeiclmet. 

1) Die mit J ^ J gegebenen Stellen sind im Originale, wie man 

aas dem Facsimile entnehmen wird, mit einer Plica notirt. 



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234 Die . Anlange der enroplMcb-»bendlftadiioiien Musik. 

Wiener Hofbibliotlielc Codex Kr. 9549 Boman TriiUii. 



In der Notinmg gelbst wird die quadratische Note bald mit, bald 
ohne Beitenstrich, die rautenförmige Note nnd die Bindung ange- 
wendet, dazwisclieu öfter eine Plica eingeschaltet und es werden 
die Abslitze durch senkrechte taktstrichühnliche Linien bezeichnet. 
Das System zeigt oft vier, oft fiinf Linien; als Schlüssel wird C und 
F vorgesetzt, letzteres mit den bei unserem ^-Schlüssel charakte- 
ristischen zwei Punkten. Wo das h rotundum au gelten hat, wird 
es ausdrücklich beigesetzt; soll es seine Oeltnng dnvdi ein ganaes 
Stttck bekaupten, so wird es nach Art einer Voneickniing liiÜLs an 
den Kand einer jeden Zeile geschrieben. Das Liniensystem wird 
snweilen durch rothe Farbe ausgezeichnet. Die Noten sind immer 
schwarz; die weisse Note war damals noch gar nicht erftinden. 
Die Rhytliinik wird durch die anpjewendeten dreierlei Notenfornien 
(die Longa, Brevis nnd Seniibrevis im Sinn der Ohoralnotei an- 
gedeutet, aber auch nur angedeutet) der eigentliche taktische und 
rhythmische Gesang der Melodie muss nehstdem aneh theils nach den 
BedeabsXtaen des Textes, theils nach der natürlichen Bedebetonnng, 
theils nach dem uelodlsehen Sinn nnd Znsanunenhang der Noten 
selbst enrathen werden. Der Sfin^rer musste das nöthige Feingefühl 
haben, um ans den Andeutungen der Notinmg den rechten Sinn der 
Mt'lodie, wie es der Componist pomeint, herauszufinden und die in 
den Noten aufgelöste fluctuin lulc Melodie inusste erst wieder in der 
Auslnhrniig durch den SSnger zu fcbten regelmässigen Krystalleu 
zusammenschiessen. Die Person des ausfilhrendcu Sängers trat 





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Die Troubadoun und Miutrek. 



235 



dabei sehr bedentnngsvoU iu den Vordergrund, er mamto die Sache 
aus seinem Innern herana nen Bebaifen. Knsikaliadie Bildung war 
allgemein, «e war ein wesentUehes Stttck einer guten Eni^nng. 
Jaeob Falke in seinem Bnehe „Die ritterliehe Gtoeellschaft im Zeitp 
alter des Frauencultas** sagt: „Fast ein grÖBseres Ei-fordemiss fiir 
die Bildung des jungen Ritters als Schreiben und Lesen scheint 
Musik gewesen zu sein: Gesang und Saitenspiel. In einer Zeit, 
wo das gesellige Lehen einen so raschen und geistigen Atit'schwmig 
nahm, musste die Weckung und Uebung der geselligen Talenti', die 
übrigens geschätzt wurden, von besonderem Werthe seiu. Musik 
war ein gewöhnliches nnd das eiste Unteihaltangsmittel, und wo 
sieh junge Leute ausammenfanden, wurde alsbald cum Reigen ge- 
sungen und gespielt. Ohne allgemein verbreitete Kenntniss der 
Musik» wie wKre diese Unzahl der lyrischen Dichter möglich ge- 
wesen, deren uns bekannte Namen allein zu Hunderten zühleu, und 
die ebensowohl singen wie sagen mussten? Wie den Vögeln im 
Walde scheinen der Kitterwelt Gesang und Dichtkunst angeboren 
und natürlich zu sein, dass sie mehr als Sache des Standes und der 
Standesbildung erscheinen, denn des Talentes^'. Die gleichzeitigen 
Gedichte sehildem nun die Erscheinung der ritterlichen Sttnger als 
glSnsend und anmudiig. In Gottfined's von Strassburg „Tristan 
und Isolde" reitet der rittterlidie Gandin von Irenland schönge- 
kleidct, eine kleine gold- und edelsteingezierte Rotte auf dem 
Kiii ken^), zu König Marke's Hof ein. Tristan selbst, der herrliche 
Uari'uer and Sltnger, 

hsrpfete tn der stunde, 

sA rchtr süi xi n einen leich 
der IsOte in ir herze sleich. 

Und er rühmt sich gelernt su heben „Fidel, Symphonie, Harfe, 
Rotte und auch Leier nnd Sambjut." „Was ist das?" fragt der 
König. Tristan preist es als das beste Saitenspiel, das er kann. Auch 
die Damen wurden musikalisch gebildet. Jacob Falke sagt: „Die 
Ijistrumente, welche die jungen Damen zu lernen hatten, waren 
Saiteninstrumente, sowohl solclic, die geschlagen oder gegrifl'eu 
wurden wie die Leier, die Harfe, als auch solcher Art, die man 
mit dem Bogen streicht. Die Fidel oder Geige wird httufig als das 
Instrument der Damen erwVhnt So heisst es unter andern beim 
Reimehronisten Ottokar von der 3vUe* Ktinig WensePs II. von 



1) König Marke und sein Hof finden es freilich unschicklich, dass 
Herr Gandin seine Rotte selbst trftgt. ISne bei du Gange citirte Stelle 
bildet dazu eine Art Commentar: 

Et e'avoit chascnn d'eux iiprt's Inl nu Sergantg 
une clUfonie va ü höh col jtortant. 



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236 



Die Anfiüige der earopftisch-abendUndischen MuBik. 



Böhmen, der sehOnen Agnes, dast sie ,fideln nnd Bingen* konnte. 
Gesang war die gerölinliche Begleitang zor Instnunentalmusik, 

nnd die Damen mnssten ebenfalls darin geübt sein. Ihre miuikali' 
Bclie Ausbildung war fUr sie ein Gegenstand der Eitelkeit gewor- 
den, und sie licssen Bich ebenso nöthigen und bitten wie heutziitage, 
was aber keineswcj^s von den höfischen Anstandslehren gebilligt 
wurde: sie st)llteu nicht zu viel singen, weil das den Gesang ent- 
weilhe ; sie sollten aber auch nicht bofiKhrtig damit thun, denn es 
mache de nnbelieht Nene Musikalien, Lieder wie Melodien, brach- 
ten ihnen die fahrenden SXnger an, sowohl eigene Compositionen 
wie fremde** 1). 

Unter Leycr (hjra) und Sambjnt (sambuca)^ welche spielen an 
können sich Tristan rühmt, dürften wohl, da das „Fidelspiel*' nnd 
«lie »Syuiphuuie {chifoiiic, Drehleier) schon früher genannt worden, 
jene Lauten- und Guitarreinstrumento zu verstehen sein, die durch 
die spanischen Mauren oder auch durch die Kreuzfahrer aus dem 
Orient nach Europa kamen und denen man erst auf Malereien aus 
dem 12. nnd 13. Jahrhundert begegnet, daher denn auch die Frage 
KQnig Marke's, welcher diese nen in Gebranch gekommenen In- 
strumente noch nicht kennt, motivirt ist Eine Malerei des 13. Jahr- 
hunderts zeigt einen Engel, der eine Guitarre nach alt-Kg}*ptischer 
oder auch arabischer Weise mit einem Plectmm spielt. Die Manier 
Saiteninstrumente entweder mit blossen Fingern oder mit einem 
Plectrum, nämlich einer Feder, oder endlich mit einem Bogen [ile 
dois, de penne et de rarrhet)'^) zu spielen erwähnt aiidi (h-r König 
von Navarra in einer seiner Poesien. Auch Juan Buiz unterscheidet 
vihvela de arco und vUmda iepMa^. 

1) A. a. O. S. 55. 

2) . . . ohsMun de aus selont Faocort 
De 8on Instrument »ans descort 
Viole, Guiteme, Cytole, 

De din», de penne et de Vardtet. 

3) Neben der Viole, Iliirfe und Cither nennt Gairaut de Calanaon als 
Instrumente der Jongleurs „Trommel, Castaj^netten, Symphonie, Mandore, 
Monochord, Rotte mit 17 Saiten, Geige, Psalter, Sackpfeife, Ltier und 
Pauke.** Damit wolle man nun das in den Nachtrügen mitgetheilte In- 
»tmmentenverzeic'hniss der doutsfhen Minneregeln von 1404 und das zur 
Vergleiühung dauebengestellte Köuig Thibaut's und des spanischen Dichten 
Juan Ruis (Ardpreste de Hlta, um i8G<l) summmwihalten. Bine Parallel» 
stelle enthalt auch der Roman de Flamenoa: 

Apres si levon Ii juglar 
Cascus se volc faire auzir 

L'us menot arpa, l'autre viuia 

L'os fiautdla, l'autre sitUa 

L'ot mena giga, rantre rota n. s. w. ^ 

Bemerkenswert h ist eine Vorschrift der Ordenanzas de SeriUaCfrsilioh erst von 
1502), wo es heisst: Item, que el Oficial Violero para saber bien su ofieio, y 
ser Singular del, ha de saber facer instrumentos de muchas artes, (^ue sepa facer 



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Die Troubadours und Miusti'els. 



237 



Die mmdkkaiidigen Diener, welche in der vomelimen Gresell- 

Schaft die Stelle der eigentlichen Murikanten vertraten und denen 
das eigentliche Musikmachen zufiel, mussten freilich als TaaBend- 
kiinstler mit allen möglichen Instnimenten fertip zn worden wissen. 
Ein Jongleur müsse mindestens neun Instrumente spielen können, 
meint Guiraut de Calanson. So zahlt ein Menetrior seine Künste 
auf und nennt, wie es Giraut von Calauson verlangt, gerade neun 
Initmmente: 

Gc sai joglere de viele, 

Si sai de muse de frestele 

£t de Jiarpe et de chiphonie 

De la giguff de Varmome 

Et el salteire et en la rote^). 
Die Viole (viele)y Drehleier (chifanie), die Rote, das Psalter (salteire) 
sind die uns bereits wohlbekannten Instrumente, die rnnsc ist uichtä 
anderes als die Sackj)feife, welche .lohann C'otton für das Instru- 
ment aller Instrumente erklärt, weil sie ja die Eigenheiten aller in 
sich vereine, muthmasslich habe sogar die Masik davon den Namen^. 
Die Fiestele war ▼emrathlich ein ISndliches Instrament, etwa eine 
Ari Schalmei oder Abart der Backpfeife, mit der sie in dem- 
selben Terae genannt ist, nach Anderen eine Pansflöte^. Die 
spiteren lustigen ländlichen Lieder, welche man Frottole nannte, 
mögen wohl davon den Namen haben, fiifrne ist vielleicht das 
Stammwort unserer (leif^e (giga), etwa l»euannt nach ihrer Form, 
welclie an Sclu-nkel und Hein einer Ziege oder eines Hammels 
{gigue, gigot) mahnte^). Diese hell und durchdringend tönenden 
Geigen mochten oft bei der Tanzmusik dienen^), daher Gigue 

an Claviorgano 6 uu Clavecimbano ö un Mouocordio 6 un Laad ö una 
Vihuela de arco € una Uarpa, 6 una Yihuela graude de piezas con sus 
atarcees ^ otras Vihuclas, que son menos qne todo esto. Man sieht, welche 
Instrumente zumeist b('not!iif,'t wurden. 

1) Citirt in Jjorkel's (jesch. d. Musik 2. Bd. S. 744. Forkcl meiut, 
vielle bedeutet die Drehleier, nicht die Yiole. Seit Coossemaker die Be- 
weisstellen in seinem Traitö Rur Hncbald susammengestellt hat, kann kein 
Sweifel mehr sein, dass ForkePs Ansicht irrig ist. 

2) Musa, ut diiximus, instrumentum quoddam est, omnia ut diximus 
ezcellons instrumenta, quippe quae omnium vim atque modum in se con- 
tinet, hnmano siquidcm inflatur apiritu ut tibia, matm tomperatur ut phiala 
(Viole), foUe excitatur ut orgaua, uude et a graeco, quod est /<^oa id est 
media, mnia didtnr o. s. w. (Joh. Cotton, Hnrica m ende dicta sit mnsica). 

3) Bei du ranfje: Fretella, fistulae Hpi-cies. nostris Fretel et Aretiauz, 
wobei er sich auf das Manuscript de» iiumau d'Athis beruft. 

4) Nach Wigand (TVörterb. der deutschen Synon. 1. Bd. 8. 684) wftre 
Geige abzuleiten von dem altmurdischeu „geiga" d. i. zittern, oder von 
„pipr'"!'' da«! Hin- und Herzucken — mit AuHpiebing auf die zuekende Be- 
wegung des Geigenbogens. Das Wort „gige" kommt im Mittelboch- 
deutichen «rat nm ISOO vor. 

5j Auch Juan Ruiz satrt: I.a vihuela de areo fase dulzes bayladas. 
Auf Giotto'8 Deckengemaldeu iu der iucoronata zu Neapel spielt zum 
Tapzc der Ritter und Damen ein Geiger nebst einem Schalnieibliser auf. 



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238 Die AnfKnge der europäisch -abendländischen Mnsik. 

oder jig auch der Name eüiM muntern Tanzes wurde, dessen 
Rhythmen bei den spltteren Componisten bekanntlich su Instmmen* 

talsätzen in der "Weise capricciiiser Scherzi verwendet wurden. Die 
älteren Dichter nennen Gipe und Ki)tte als verwandte Instrumente 
irerne zusan)nien Die ,,Harnuinie" war vennuthlich ein Klinpel- 
oder Klapperapparat zur Bezeichnung des Rhythmus ''^j, denn sogar 
ein blosser Reifen mit Glöckcfaen besetzt {eirnUus tinütmabulü t»- 
struekts) war sehr beliebt^. 

Die Begleitung des Gesanges^) darcb die Instrumente kann 
füglich nur im Mitspielen der gegebenen Melodie im Einklänge, 
im Angeben einzelner Haupttöne u. s. w. bestanden haben; war 
der .Tonfrlenr oder Menetrier hinlänglich gebildet, so mochte er 
vielleicht auf seinem Instrument etwas dem Organum oder dem 
Discantus Aehnliches versuchen^). 

Die Stimmung der zur Begleitung des Gesanges dienenden 
Bogeninstrumente war (nach einem Tractat^) des Hieronymus de 
Moravia) eine solche, dasa sie rieh Jenem Zwecke vollkommen anbe* 
quemte. Die Rnbebe hatte den Tiefklang unserer l^ole und ging 
bis c hinab, ihre swei Saiten waren im Intervall einer Quinte ge* 



1) Ferd. Wolf (über die Lais S. 247) citirt drei charakteristische Stellen? 
Gottfried von Strassburg: Ir gige ande ir rotte (Tristan v. 113BÖ); Wolfram 
von Escheobach: Ern ist gIge noch din rotte (Fflordval. 143, 26) ; Beroeo: To- 
cmdo instninientos cedras, rotm e gigas (duelo de la Virgen, copla 176). 

2) Hhxn kins (bist nf nnis Band 2 S. 284) sapt, zu dieser Harmonie diene 
Tabour and Tynibre, Harpn and Sawtrj', and Nakirs and also Sistrum. Vergl. 
auch Forkel a. a. 0. S. 744. 

8)Forkel<GeMsh.d.Mus II Bd S 745) erinnert an das alte Kirchenlied: 

Ubi sunt gaudia 
Kei^n mer denn dar 
Dar de Engel singen 
Nova cantica 

Und de Schellen klingen 
In regia curia. 

4) Die Schildenmg eines begleiteten Qcsangl im Tristan des Thomas 

(Mauuscr. des 12. Jahrhunderts): 

La reine chante dnlcemcnt 
La voiz acorih al cstrnment, 
Las mainz ^unt bels, Ii lais bncnSi 
Dolce la voiz, bas Ii tons. 
Und b« Gottfried von Strassbnrg wird Tristan gerflhmt, «r habe musirirt: 
daz nie man wizzen künde 
wederez süezer waere 
oder bas lobebaere 
HIV linrpfen oder sin singen. 
6) Im Roman Du roi Horn wird Goram's Harfenf«piel gepriesen: 
Dcu! ki dune l'esgardast cum il la sot manier, 
Cum ses cordes tuchot, cum les feseit tramler, 
A quante faire les chanz, k kantes organer 
Del armonie del eiel Ii pureit remembrer. 
6) Hannseript dar Pariser Bibliothek, Fonds Sorbonne No. 1817. 



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Die Troubadoun und Minttreli. 



239 



ttimnit^ und ea konnte danuif nnr das eingestrichene d erreicht 
werden: 

Da« Instrument bcwcf^e sich also in rlen Tönen einer mSssig um- 
fangreichen mittleren Männerstimme, und war folp;lich ganz dazu 
gemacht den Gesang einer Bolchen im Einklänge zu hegleiten, 
das heisst die Melodie einfach mitzuspielen. Eine Erinnerung dieses 
Instnunent«» scheint nns in Jenen noch snweilen in BaritXten- 
kammem ▼orkommenden schmaleni bdnahe keidenförmigen Zwerg- 
gttgen erhalten, die man im 17. Jahrhundert in Frankreich „Peches", 
in Deutschland Poschen nannte und in Italien, wie es scheint, mit 
den Namen Ribecchino und Violino picciola a la franresc hpzeich- 
nete, welchem Namen wir noch 1604 im Orchester Claudio Mon- 
teverde's begegnen werden. Das Instrument war damals schon 
vierbesaitet, allein sein äusserst schmales Corpus war augenschein- 
lich auf ursprünglich nur eine oder zwei Suiten berechnet, wodurch 
es an die schon erwähnte sogenannte tthyrt,** ans dem Codex von 
8t. Blasien erinnert Die altrenesianischen Maler, welche sehr 
gme unter den Thron der Madonna oder eines Heiligen rnnsisirende 
Engel setzen, haben dieses Instrument oft gemalt und, was sehr he- 
merkenswerth ist, sehr oft mit einer sehr breiten Geige zusammcn- 
spielend. Eine der schönsten und deutlichsfei» Vorstellungen dieser 
Art sieht man auf einem (temälde von einem derVivarini im linken 
Querschiff der Frari zu Venedig: es ist ein S. Marro i)i trono mit 
männlichen Heiligen zur Seite und, nach gewohnter Art, Engeln, die 
Musik machen. Ein Vhnliches Ensemble hat der Florentiner Fra 
Fiesole aufsein« KrOnung Maria*s (Galerie Fesch) angebracht. Da 
nun auf jenen Gemilden und vielen Shnlichen die breite Geige 
ganz genau der von Hieronymus de Moravia gegebenen Be- 
schreibung der Yielle entspricht; da femer dieser Schriftsteller nur 
die zwei Gattungen Rubebe und Vielle unterscheidet und sie neben 
einander stellt 2): so bleibt kaum noch ein Zweifel Übrig, dass mit 
jener schmalen langen Geige die Rubebe gemeint sei 3), 

Die Vielle hatte i\inf Saiten, mau konnte sie auf dreierlei Art 
itnnnen: 



1) Est antem rubeba musicum instrumentum, habens solnm duas 
chordas, sono a se distante per diapeutc, quod quidem et sicut viella arcu 
tangitur (Seron, de Monma). 

2) Quoniam autem secundum philosophum in paucioribns via magna, 
ideo primo de rubeba, postea de viellis dicemus (Hieron. de Mor. eap. 18). 

3) Ich halte die Abbildungen auf alten Gemälden, Bildwerken n. s. w. 
für so wichtige Zeugnisse und Behelfe als irgend einen «;«lehrten alten 
Tractat, ja unter Umständen für noch wichtijrer. Der i^eser wird oft 
Gelegenheit haben zu bemerken, wie viel Gewicht ich darauf lege. £s 



240 



Di« Anftnge der eiiropliMdi<ab«idlliidkQhen Mntik 



Erste Art. 
1. Saite (leer neben 

dem Griffbret). 2. Satte. 8. 4. S. 



Zweite Art 
(auf dem GrifTI»r. t). 




Dritte Art. 

Die cigeuthiiiuliche Auorduuug der tiefäten Saiten bei dw ersten und 
sweiten Stimmnng eiklibrt sid^ doreh den Zweck des Imtnunentes 
vOTwiegend hannomseh d. i. mit der Quinte sn begleiten. Spielte 
der Geiger auf den hSbeien Saiten eine Melodie im Bauid^ordim na' 
UanUe oder, mit anderen Worten, in dem einfiushen natürlichen C^dur, 
80 nahm er die dritte Saite leer, auf der zweiten aber das kleine c 
und erhielt so den Do|tpelnr{^elpunkt oder Bourdon c — g. Spielte 
er im Hexarhordum durum oder in G-dur, so konnte er zur Beglei- 
tung G — d auf der leeren ersten und zweiten Saite hören lassen, 
liier ist also wieder die ätürkäte Erinnerung an das Klangensemble 
des Organistmms oder des Dndelsaekes. Die dritte Art «i stimmen 
war geeigneter melodiscbe SStse xu spielen. Die lÜtesten Viellen 
hatten noch jenen ganz ovalen Schallkasten ohne alle Seitenein» 
buchtungen, die auch bei dem Umstände, dass die eine Saite Uber 
das Cf riflfbret hinauslag, unnütz gewesen wären. Später, im 15. Jahr- 
hundert, näherte man die Form des SchallkastenR unserer Viola, auch 
noch olme jene Seitencinbicj^ungen : die dem llalse nähere Hälfte 
des Schallkastens wurde schmäler, es war eine Ucbergangsform. 
In dieser Gestalt ist die Vielle auf dem Titelholzschnitt der Veue- 



▼enteht rieh aber, dass der Foracher anch hier atrenffe Kritik (Iben rnttn. 

Auf einem der (auch von Kugler erwähnten) mythologiKhcu Breit bilder 
von Picro di Cosimo im Palaste Pitt! zu Florenz hat z. B. der Maler 
die Befreiuii},' Aiidromeda's von Porseus dargestellt , nicht als antik 
klassische (i<)tt('r- und Heldengeschichte, sondern als romantisch -phan» 
tastisches Märchen, etwa in Ariostischem (teschniacke. Hier sieht man 
rechts Neger und andere seltsame Meuschcutigurt ii . die auf den ver- 
wnnderliohsten Instrumenten Masik machen: es spit lt einer a. B. eine 
Art Psalter oder Giiitarreinstruraent, dessen Hain in eine Pfeife vei^ 
längert ist, die er zugleich blftst u. s. vv. Ofl'enbar hat der Künstler seine 
Phantasie walten lassen, um auch hier den Eindruck des Fremdartigen, 
Abentenerliehen henronnbriiigeii. 



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Die Tronbadoo» «nd Ufautrcli. 



341 



zianiscLen Ausgabe des ToBcanello von Aron 1529 abgebildet, noch 
deutlicher etwa in Dreiviertel der natürlichen Grosse auf dem Wand- 
bilde eines Grabmales in der Eremitanerkirche zu Padua (dem durch 
Haupt pfozte Eintretenden gleich links an der Frontwand). Oder 
aber man gab der l^eUe die Form unserer Ghiitanre. Der Hals lief 
in einen förmlichen flaebliegenden herz- oder bimföimigen Wirbel- 
kasten aus, die Spitze nach oben (nicht mehr wie bei unseren Guitarren 
blo8 in ein flaches Holzt.'ifcklion, durch welches die Wirbel gesteckt 
sind). Natürlich erhielt die Stimmung durch die doppelt, im obern 
und untern Boden des Stliallkastens, festgehaltenen Wirbel mehr 
Bestand und Sicherheit. Auf jenem Gemälde bei den Eremitanem 
sieht man die Einrichtung Xusserst deutlich, ebenso bei der Violai 
welehe auf Perag^no*s Assunta (in der Aeademie sn Florenz) der 
eine Engel spielt, und auf RaphaePs Pamass im Vatiean, wo Apoll 
selbst zum Geiger gemacht ist. 

Die Vielle musste wegen der tiefen Saite (des Bonrdons) etwas 
tiefer als unsere Geigen und ungefKhr so gehalten werden wie jetzt 
die Viole. Vom Auf- und Niederstriche des Bogens macht Johannes 
Gerson, der berühmte Kanzler der Pariser Universität, gelegentlich 
Erwähnung^). Der Tannhäuser rühmt sich, „er geige bis die Saite 
springt und der Bogen zerbricht^'. Die dreifache Stimmung der 
Vielle seigt, nach Pernes Ansicht^, dass man auf solchen Instru- 
menten im Sinne der harmonisdien Kunst des 18. tuid 14. Jahr- 
hunderts förmliche Trios ausführte, wobei die eine Viole den Tenor 
der Hauptstimme, die andere den sogenannten Motetus (die mit 
einem Gegenmotiv contrapunctirende Stimme), die dritte das l^ri- 
plum (die Oberstimme) zu spielen hatte. 

Von den Tanzmelodien, welche die Instrumentalisten zur Er- 
götzung der edeln Herren und Damen aufspielten, kann nebst der 
Tanzmelodie Machaud's auch eine noch filtere aus dem 13. Jahr- 
hundert (muthmasslich sttdfransösischen Ursprunges) eine Vorstel- 
lung geben, welche in einem Manuscript der Bibiiotiiek an Lille *) 
erhalten ist und auch einem Tansliede angehört (die Ueberschrift 
lautet: Caniilena de ehorea super illam quae incipit: Qui grieve 
ma comtise xe cm lai ce me font amonrcfes rnv ater ni), aber jeden- 
falls denselben Charakter hat wie die von Instrumenten ausgcftibr- 
ten Tänze jener Zeit. Als Tanzlied hat die Melodie folgende (ie- 
Btalt, wobei sich der lateinische moralprodigende Text zum Tanze 
sehr erbaulich ausgenommen haben muss: 



1) Aut tractu et retrnctu sicut in viclln et rubeba fOorsoti, Op. toni. 
III. S. 628). Man bemerke, dass auch hier die beiden Instrumente mit 
einander genannt sind. 

2) Rev. mus. Jahrg. 1827 8. 488. 

3) Manuscript 25. 

AMbtos, G«Mlii«hl« dw Moalk. IL 18 



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242 Die Anfibige der europliMh-abaidllaidiidieu Mn^ 



No - bi • li • tas or - 



na 



U mo - ri 



bus nul- 



lam pa - rem h» -bei in ae - oa - • lo as • per - n»> 



tor peo-ea - ta no-bi-li-tuor-iia • to noii 



an - per -bite*!» « taenl-ti - bns ni - oe re> 



gens in mo-mm ^^--00-10 no-bi-li-tasor- 



na 



mo * n 



bus nul - lam pa - rem ha- 

) 



beb in se - ou - - • lo. 

Zun Tanze der Ritter und Damen apielten aber nicht allein 
wie auf jener Malerei Qiotto'a in der Ineoronata su Neapel ao edle 



1) Diese Melodie erinnert anffidlend an das noch Jetzt in der Bro- 
venee geningene Yolkdied Magali (Margarethe). 




Magali-melüdio proyen^ale populaire. 



O Ma-ga - Ii, ma • tan a - nta - do me-te la töst au fe - ne- 



atma £s-ooatun pon a q^oestaa • l^a - do de tam-bon- 



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Die TroabadoniB mid Minatrek. 



243 



Instrumente auf, wie Geige und Schalmei. Bocaccio's feine Ge- 
eellsehaft venchmXht es nicht, einmal nach einer von Tindaro 
gespielten Sackpfeife (CSumotiNMa) sn tarnen i). Die TXnse nnd 
GankelkUnste der Jongleurs wurden dagegen oft vom Spiel einer 
Doppelflöte begleitet^. Gleich den antiken mKnnlichon und weib- 
lichen Flöten liattp sie zwei Röhren von nnji^h'icht'r Länge; der 
Spieler blies aber n'w beide zugleich, sondern naeli Hediirfniss der 
gewünschten Töne tapste er das Mundstück bald der eiuea bald der 
andern mit den Lippen. 

Das Orchester (wenn wir es so nennen dürfen) hatte sich all- 
mKlig namhaft vermehrt, auch durch sanienische Instrumente, 
welche durch die Kreussttge nach Europa kamen* Die Zamr^Oboen, 
welche der orientalische Sprachgebranch in den Trimipeten und 
Kriegsinstrumenten sttblt, hnben zuverlässig Hir die Pommer als 
Muster gedient und mögen zugleich mit den wirklichen Trompeten 
in Aufnahme gekommen sein; zweifellos ist es Jibcr von den Lantrn**) 
und Rebecs oder Riibebon, dass sie niehts sind als die orieutaliselien 
Instrumente l'Eud und Kebab. Auch die Truuuneln und Paukern 
wurden der sarazenischen Kriegsmusik entlehnt. Noch Wolfram 
Willehalm spricht von dem „Tambüre" als einer spezifisch saraseni- 
sehen Sache Das Behmettem der Trompeten, das Dröhnen der 



riuüt de violoun £i piuu d'estel-lo a-peramounL'aoroes toum- 




ba - do mai-lis es-tel-lo pali-ran qoea te vei-ran. 



1) Giorn. VI in fine. Nachdem Elisa ein Tanzlied gesungen, heisst et: 
„II re, che in buona tempra era, fatto chiamar Tindaro, gli comando^ che fuor 
traesse la aua comamusa, al suono della quäle esso fece fare motte dauze. 

2) S. Le moyen et la Renaissance von Paul Laeroix und Ferdinand 
Ser£ Abth. Musik. Die DoppelflÖte, die einer der reizenden liron/.eenfjel 
Donatello's im Santo zu Padua in HAnden hiüt , ist eine antikisin>iule 
Reminisccnz. Die Doppeltiöte war nicht eine reichere, sondern eine 
Innere Ghattaltung der Flöte. Man wendete zwei Rohren von ungleicher 
Lange an, weil man auf einer (Mii/i<^tMi nicht alle {gewünschten Töne 
hervorzubringen vorstandt Die DoppulÜöte ist der Uebergaug von der 
Panapfeife, wo jeder Ton sein eigenes FlStenrohr hat, rar einfachen FlOte. 

3) CTaUlei (Dial. S. l iG) sa^t: „fu portale k noi questo nobiliinnio 
strumenfo da FannonV\ Aus Ungarn! also wenigstens eine tluukle Remi- 
niscenz an den Weg der Kreuzfahrer. Den Namen leitet Galilei 
von den Solmiaationssyiix ii {o-^l ab „volendo oon easo dinotare essere 

degli estreini suoni nni.sicali eapacc". 

4) Pott, in Höfer's ZeiUchrUt IL S. 356. 

16» 



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244 



Die AnfilngB der eoropftiaob-abendltodiBohen Musik. 



Trommeln behagte den Rittern, et bfldele fortan «ach im Abend* 
Isnde die kriegeriscbe Mneik. Selion Lendgref Lndwig kündigte 
dem Heere der Kreuzfahrer seine Ankunft durch Tamburen imd 
H9mer an^). Die franaMaehen Chronisten und Poeten reden von 

„Tr<mpettes, tubes, tromps, darons, daronceavx, cors, romets" und 
Buisines (Buccinae, Posaunen). Die italienischen Städte Hessen 
ihren grossen Fahneuwageu {Caroccio) von Trompetern begleiten*-}. 
Balduin wurde 1204 zu Coustautinopel unter Trompetenfanfaren 
auf den Schild gehoben. Die Trommeln und Pauken nannte man 
Taboma, Tabnrina oder Tamborina und Naqoaires, letaterea Wort 
mit Beibebaltong der arabiaehen Benennung Nakarieb. 

Ein merkwürdiges Denkmal, welches nickt allein die im 11. 
und 12. Jalirhundert gewöknliehen Instrumente, sondern auch ihre 
Zusammenstellung zu einem ganzen Orchester darstellt, ist jenes 
schon mehrmal erwähnte Relief oder eigentlich mit einem Relief 
verzierte CapitÄl der Kirche St. Georg zu Bochervillc bei Reuen. 
Es scheint ein Himmelreich vorstellen zu sollen, in dem die Seligen 
Musik machen, denn die Musikanten sind gekrönte königliche Ge- 
stalten, die anf prKcbtigen Tbronaesseln sitaen. Erst än K9nig, 
der eine dreisaitige Gambe spielt, die er gerade mwiachen den Knieen 
festhSlt, wie unsere Violoncellisten ihr Instrument an kalten pflegen. 
Das Corpus gleicht bereits völlig dem unserer Geigen, hat aber vier 
halbmondförmige in'» Quadrat gestellte Schalllöchcr. Sofort sieht 
man eine königliche Dame, welche die Tasten einer Drehleier (dii- 
fonie, orgn)tiütrum) handhabt, die Arbeit des Drehens ilbcrlässt sie 
(bezeichnend genug) einer Dienerin; dann kommt ein Mann mit einer 
Art Frestele, einer Panspfeife, dann einer mit einer halbrunden 
Harfe und einer mit einer Art kleinen Orgelwerkes (PortatiQ^ 
dann der schon erwShnte Psalterschllger und neben ikm ein aehr 
würdig aussehender alter König, der mit grösster Ernsthaftigkeit 
eine Rotte streicht. Diese Rotte oder Vielle hat ein ovales Corpua 
mit zwei halbmondfcirmigen Schalllöchem und ist mit vier Saiten 
bespannt, die f:;ew(ihnliche Form des Instrumentes in jener Zeit. 
Ein anderer, wie David anzusehender König rührt eine dreieckige 
mit Schallkasten und geschwungenem Vorderholz ausgestattete 
Uarfe, und zwar mit einem Plectrum in der rechten und mit 
der blossen linken Hand. Ein edlea Paar, Herr und Dame, 
schlügt auf eine Garnitur auff^hSngter Glocken los. Es muss ein 
Tana sein, was dieses gekrönte Orchester au&pielt, denn mitten 
unter den Herrechaftcn stellt sich, wie weiland Hippokleidcs, der 
Freiwerber der schönen Agariste, ein Mensch auf den Kopf und 
gestikulirt mit den Beinen: ein fttr das Himmelreich allerdinga 



1) Landjjraf Ludwi|^'s Kreuzfahrt. Aupqt. v. d. ITapcn S. 50. 

2) Beschrvibuugeu uud (zopfige) Abbiidungou bei ^uratori Bd. XXX. 



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I)ie Troubadours und MinBtrels/ 



etwas yenrnnäeriieher Gfoteiktans Ein timliehei Orehester von 

Königen zeigt ein Breviar dei 15. Jahrhunderts in der k. Bibliothek 
zu Brüssel. Es ist eine sogenannte Wurzel Jesse, ein Stanunbaam 
Christi: auf jedem Aste sitzt ein miisicirender König, die Instm- 
mente sind Harfe, Laute, Hackbret, Drehleicr, DoppelHöte, Pommer, 
Dudelsack, eine lange S-fdnnig gebogene Posaune, eine Portativ- 
orgel, ein Triangel und eine sogenannte Stamentiupfeife, deren 
Bliser ngleidi eine Trommel schlSgL Einer der Könige spielt 
kein Instrument, londem taktirt al« CapeUmeiiter^. ESne Yer- 
l^eichnng beider Dantellnngen ist sehr interessant: sie aeigt die 
Verlnderungen, die swischen dem 12. und 15. Jahrhundert einge- 
treten. Die Laute, die Posaune, der Pommer, Triangel, die 
Stamentinpfcife mit dem zugehörigen Trommolchon sind neue Er- 
werbungen. Die Weise, durch Blasen einer Pfeife, die mit einer 
Hand bedient wurde und durch Schlagen mit einem von der andern 
Hand geführten am Gürtel des Spielers hängenden Trommelcben 
eine Art Ensemble pfindtiriter Art hervorzubringen, war in der 
Zwisehemeit anfgekommen. Eine Senlptor an der sogenannten 
iÜNSOii des iiitMietsiis an Eheims nnd das GapitlQ des Minstreleapitils 
in der Marienkirche zu Beverley in Yorkshire zeigt Spieler dieser 
Art. FUr sonderlich kunstvoll galt diese Manier bei den distinguir* 
teren Musikern aber schon damals nicht, es war eigentlich nur 
Bauernniusik , die gegen die edle Kunst der Vielleurs nicht in 
Vergleich kam, {:;li'icli\s ol aber sehr beliebt und verbreitet war ^). Auf 
den berühmten Wandgemälden Domenico Ghirlandajo's im Chor von 

1) Das Prämonstratenserstift Tcpel in Böhmen besitzt eine sehr schöne 
emaillirte Kupfcrschüssel, franz<^sische Arbeit aus dem 13 .Talirhundert, 
traditionell einst Eigeuthum des Kiosterstifts Urosnata. Hier sieht man 
wm Bande FlMve von Musikaiiten und Tinzerinnen, von letsteren taust 
eine gleichfalls auf den Armen mit emporgestreckten Beinen. Die Musi- 
kanten spielen alterthflmliche Oeigen, Psalter n. s. w. In einem ManUp 
scnpt der Harl. Samml. No. 1527 tanzt sogar Herodias häu^tUngs. 

2) Eine selir R(;höno Abbildung des Capitäls von Bochervdle nnd des 
Brüsseler Brevit'rbildes siehe in Le moycti ftyo et l;i roTiaissanre von Lacroix 
und Ser^. Das Capitäl von Bochervülo auch (genügend, aber weniger 
gut als im vorgenannten Werke) in Oonssemaker*« Trait^ sur Huobald. 

8) Bei Jubinal finden »ich die Verse anf^cfülirt : 

Quar »'ans berg^ier de chans tabor et chalemelt 
Plus tost est apelö, (|ue c'il que bien viele. 
An einer anderen Stelle vrird heftig' ?egen die Trommel geeifert: 
Qui primes fist tabor, Diex Ii envoit contraire, 
Que c'estrument i est qu'a nului ne doit plaire. 
Mus ridhes hom ne doit son de tabonr amer, 
Quant il est bien tondn et on le vent harter 
De demie grant lieue le peut on escouter 
Ci a trop mauv(5s son pour son chief conforter. 
Der Anfang erinnert an das „(juis fuit hoiTendus primus qui protulit enses?*' 
Dass der clirliclie St lüistiaii Vinluiit( die Trommel für eine Erfindung des 
Teufels hielt, wird dem Leser aus dum ersten Baude S. 117 in Erinnerung sein. 



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246 



Die An&nge der earopäiach-abendlAndiacheQ Münk. 



8t. Maria NoTell» sn Florens wird' nr Vennllhliiii^ ]ffaria*8 in 

Boleher Art Musik gcmnclit. Bis in das 17. Jahrhandeit hinein 
erhielt sich diese Manier; Virdung (1511) sagt an einer auch von 
PrStorius in sein Syntagma (1619) hiniiberg'onommpnon Stolle: ,,son- 
sten ist noch ein klein Päuklein, so von den Frantzosen und Nieder- 
ländern gar sehr gebraucht wird, also dass man mit der linken 
Iland das Päuklein und darbei ein Schwegel oder StamentinpfeifT, 
welche ohen 2 nnd nnten ein Loch hat, mit dreyen Fingern hilt nnd 
allerlei Tftntse nnd Lieder daranfT pfeiffen und in der rechten Hand 
mit dem ElOpffel nff dem PXnklin sngleich mit einatimmen kann." 

Nicht überall waren die Ensemblfs von Instrumenten so reich, 
wie es das Capitäl von Bochervillc zeigt. In einem Manuscript 
der Cottoniana M sieht man ein Bild, eine Darstellung angelsächsi- 
scher musizireiider Minstreis, in deren Mitte König David tliront 
und eine angelsächsische Harfe rührt. Das ihn umgebende Or- 
chester ist armselig und barbarisch genug: ein Violinist, der eine 
mandolinenförmige Schnltergeige streicht, ein Trompeter mit einer 
langen kegelförmig ragespitsten Trompete und ein Homitt mit 
einem Rolandshom. Daan kommt noch ein Kogel- und Mesaer- 
werfer, als Zeichen, in wie bedenklicher Gesellschaft sich damala 
noch die Instrumentalmusik herumtrieb, und wie iie aelbat nur als 
eine Art Posaen- und Gankelwerk galt. 



XMe Mlmwaingag nnd die MeisterBinger.— Daa Bnnltweaen dab 

Muaikantenthumi» 

Derselbe Geial, der hei den romaniachen V8lkem in Frank» 
reich, Spanien und Italien die Troubadours herrorgemfen hatte, 
fand hei den germanischen Stibnmen Deutschlands seinen Ausdruck 
im Minnegesang. Was aber in seinem letzten Grunde durch den 
gleichen Geist angeregt war, gestaltete sich in seinen Aensserungen 
nach den Starameseigenheiten der romanischen und der germani- 
schen Völker wesentlich verschieden. Das NaturgefUhl der deut- 
schen Minnesänger für Frühling, Blunien, Vogelsang gestaltet sich 
weit inniger und zarter. Der Fraueudicust der Troubadours nimmt 
auch wohl dieFXrbung leidenschaftlicher Eiregung oder auch blosser 
Galanterie an. DieMinne dagegen ut der reine Nachklang desUarien» 
cnltes, oh es gleich an Beispielen einer mehr irdisch sinnlichen. 
Richtung auch hier nicht fehlt. Wi(; in Frankreich war es auch in 
Deutschland der mildere Sttden, wo die Bittte dieser Poesie suerst 



1) MS. Tiberius 0. VL Treffliche Abbildung in Wnght's History 
of domestio mannsrs and Sentiments in Bngland 8. 87. 



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Hiimeiiiiger und Mttlstersinger. 



S47 



sich zeigte, als deren glKnzendste Zeit die Epoche der Ilolicnstanfi- 
sclien Kaiser anfrosclKMi werden kann. Die beiden Friedriche w.iren 
Dichterfreunde und sellist Dicliter; mich Conradin, König Wenzeslav 
(Wenzel) von Böhmen, Kaiser Heinrich VI., Ilerzog Ileinr. von Bres- 
lau und andere Fürsten dichteten Minnelieder, während andere Grosse 
wie die Babenberger Herzoge mOeeterr^eh und unter dendentseben 
Fttntenl^mdgnf HermeimvonTbllringeii alsSXogerfireiinde berObmt 
waren. Bei dem Landgrafen Hermann fand auf der Wartburg 1207 
jener berühmte Wettstreit statt, der mit dem Namen des Sttngerkriegs 
bezeichnet und selbst wieder öfter Gegenstand dichterischer Dar- 
stellung geworden ist^). Der deutsche Minnesinger, der auf Ritter- 
burgen und an Köjjigshöfen ersdiien, um als geelirter Gast die gute 
Aufnahme mit (iesang zu lolinen (ein in's Romantische übersetzter 
antiker Aüde), hatte nicht den zweideutigen Jongleur, den „Gaukler^', 
mm Gefkbrton; er mocbte, wie Volker im mbelungenUede oder 
wie Trittau, seinem Instrument am liebsten selbst die Begldtung 
seines Gesanges entlocken. Die hierher gehörigen Scbildemngen 
in Gottfried's Tristan nnd Isoide sind eben so unverkennbar wirk- 
lichen Verhältnissen entnommen, als sie andererseits allerdings diese 
Wirklichkeit in poetischer Verklärung aus dem Spiegel der Dich- 
tung widerstrahlen las-sen^). Keineswegs aber gehörten die SJinger 
durchaus dem ritterlichen Stande an, so wie unter den französischen 
Trouv^ren z. B. Adam de la Haie und Guillaume Machaud keines- 
wegs Ton adeliger Gebnrt waren. Unter den Slngem aof der Wart- 
burg waren Wolfram von Esebinbach, Weither von der Yogelwdde, 
Heinrich Bchreiber und Heinrich von Zwetsschin, wie sich der 
Thüringer Chronist Johann Rohte, Canoniens sn Eisenaoh, aas- 
drückt ,,rittennes8ige Mann unde gestrenge Weppener", wogegen 
Bitterrolflf ,,eine von dez lantgravin hofgesinde" und Heinrich von 
Atlirdingin (Ofterdingen) ,,eyn borger uz der stad Ysenache" war. 
Die nicht ritterlichen Sänger hiessen Meister. 

Es ist hier nicht die Stelle auf die reiche Fülle von Poesie und 
8ch9nhät einngehen, die uns in den Dichtungen der Minnesinger 
entgegenblllht; uns beschSitigen hier nur ihre freilich mit der 
Dichtung in genauem Zusammenbange stehenden Singweisen, deren 
uns in mittelalterliehen Handschriften eine ttberans grosse Menge 
erhalten ist^). 

1) üeber den Sängerkrieg s. man ▼. d. Hagen's „Minnesinger" 4. Bd. 
8. 745 u. fg. 

2) Es sei hier lit ilaufig bemerkt, dass in der berühmten, der ersten 
H&lite des 13. Jalirhuuderts angehörigen Handschrift „Tristan'' der 
Mfinchener Bibliothek (Oodd. germ. No. öl) auf den mit der Feder ge- 
zeichneten Illustrationen dem ritterlichen Sftnger der KOnigin IsoUe 
kleine leichte dreieckige Harfen in die Hände gelegt sind. 

8) Friedrich Heinnohs t. d. Hagen reichhaltiges weilt iJtfinnesinger'* 
(4 Bde. in ^uart) Ueibt sine Haiq^tquelle der Belehrung. Der Tierte Baad 



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248 t)ie Anfänge der europäisoli-abeiiidliiiditelien Ifarik. 

Die Notirung dieser Gesfinge ist jene der übrigen Gesänge 
derselben Zoit: die Choralnote, wie wir sie in den kirchlichen Can- 
tionalen jener Epoche finden, bald in krüftig quadratischer Form, 
wie in der Jenaer Handschritl, und dann blos in den zwei Werth- 
abstufungen der Longa und Brevis des Choralgesanges und mit 
Anwendang der in der Gharalnotinuig gebrSaehliehen einfaehen 
Ligatorformeii, bald in jener melur fluchtigen kritaeligen Sehrift 
der Haken und Nagelköpfe oder der FliegentHsBe. Vorangesetxt 
ist, wie beim Choralgesange, der C- oder der J'-Schlüssel. Die 
gleiclie Notirungsweise I8s8t sogleich erkennen, dass auch die Vor- 
tragsweise eine älmliche gewesen, wie wir sie im Gregorianischen 
(losange noch heut zu hören gewohnt sind. Während die Weisen 
der französischen Trouvtres das Wort der liedmässig hiufliessenden 
Melodie angemessen beiordneten, ihre Gesänge wie wir an denen 
des Königs Thibant sahen, wahre Lieder hmssen dürfen, hat die 
Singweite des deutschen Minnesanges etwas jener auch melodischen, 
aber nicht liederartig geschlossenen, sondern rezitirenden Form des 
Gregorianischen Gesanges Analoges. Bei manchen dieser Qe- 
sSnge ist diese Analogie schlagend, wie bei folgendem vom be- 
rithmten Wartburgkrieg handelnden Gesänge der Jenaer Hand- 
schrift, welcher auf da» stärkste an die ^ngweise der Präfation 
u. dgl. erinnert: 

1) (Jenaer Handschrift 8. 988.) 



o 



Das erste syngen hie no tat Heynrioh ▼on 

enthält, uebst einem gediegenen Aufsatz „über die Musik der Minne- 
singer", eine grosse Anzahl von Singweisen, theils genau focsimilirt, theili 
wenigstens in der Originalnotirun«^ , einige auch in neuere Tonschrift 
übertragen, immer mit genauer Angabe der Quellen. Es möge hier ge- 
nügen auf dieses leicht zugängliche Werk hingewiesen zu haben, da eine 
mehr eingehende Würdigung des Einzelnen von dem Hauptwege des 
gegenwärtigen Buches zu weit ablenken würde. 

1) Bei Ligaturen dieser Art, welche in der alteren Notirung des 
Chorals sehr hinfig angewendet wurden (audi in der Mensorslnote 
kommen sir- bei Schlüssen vor), ist die tiefere Koto Buerst au singen, 
also obige Weise ungefähr so: 

(frei reciUrend) 



Daz er - ste Syn-ffen hie no tut HenüiehTOn 



er - ste Syn-gen hie no tut Hsgpuiich von 



Of - ter - din • gen in des. e - dein tut - stsn 
Im Texte muas es, wie die sogehorigen Noten «eigen, heisssn „edeb?' 



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iGimeungttr und Meiateninger. 



249 



1 



3 



öfter • dyngen in des 



edelen 



Tanten 



dhon 



m 



1 r 



von dvryogen lant der teilt vns 



d syn gut 




Ser muMte die Tortragweise ganz der Singweise des Gregürlani- 
sehen Gesanges ans Priesters Mundo gleichen, nicht dem (Janhu 

plamts, wo Jodo Note gleiche Dauer hat, sondern jener freien, 
feierlichfMi Kozitation, wo auf den natUrlicliou Acccnt Rih'ksicht 
genommen wh J und, ohne die Fessel einer rt';^uliiren Taktbewt'iiung, 
bald in leichter Beschleunigung, bald iu massigem Zurückhalten 
durch das Ganze ein lebendiger, schwungvoller Rhythmus geht, 
welcher solche GesSnge au wirklich organischen Bildungen, nicht 
SU blossem ungebunden regellosen Ergehen in wUlklIrlichen Ton- 
fnlgen macht und auf dem ein grosser Tlieil der mfichtigen Wir- 
kung des Gregorianischen Gesanges beruht. Während in den 
franzÖ8ischen Gos?(ngon der Trouvore« die ganz liedmKssige Melodie 
das Wort überbliiht uufi einhüllt, tritt hier das Wort, die Dichtung 
mit ihrem Vers und Metrum mHchtig in den V'ordergrund, sie ist 
die Hauptsache und der Gesaug gibt ihr nur Halt und Färbung. 
Es ist ein «adi sogar der antiken Singweise sehr analoges Verhfilt- 
niss. Die TrouTeurmelodien kann man in der neuem Notirungs* 
weise ab föimliche Uedweisen aufteichnen, sie lassen eine moderne 
Harmonisirung zu, and es tritt ihre Schönheit dabei erst recht zu 
Tage; auf jene Klasse dentscher Mionesingerweisen (es gibt wirk- 
lich andere mehr liedmässige) lässt sich mit dem modernen Takt- 
stocke so wenig losschlagen, wie auf den Gregoriauischon CJesang. 
Ebenso konnte das begleitende Instrument (Fidel, Harfe u. s. w.) 
hier keinen grösseren Spielraum haben als beim Gregurianischen 
Gesänge die Orgel: dem SSnger den rechten Ton anzugeben und 



statt, wie der Schreiber der Handschrift setzte, „cJelcn". Ich hnMo es 
für unnöting dieses und die folgenden Beispiele anders als in der Original* 
notirung horsasetzen, weil sie jedem, der Gregorianischen (iesaug zn 
•ingen weiss, ganz Tefwtttnillich sein nüisHcu, und die ümschreibong in 
die moderne Note immer ihr Missliches hat. 

» Bei V. d. Hagen 4. Bd. S. 766 im Facsimilo als Fragment, S. ö43 
Ko. txni ▼ollstindig in der Originslnotimng. 



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250 



Die Anftng« der etirop&isoh-abendllidiiolMii Miuik. 



ihn, bescheiden eingreifend, darin zu erhalten. In v. d. Hagen*8 
Werke heisst es über diesen Gegrenstand: ,,Wir können zwei Arten 
der CompoBition eines Gedichtes, vurziij^licli eines »trophischen, 
unterscheiden. Die Musik könnte unmittelbar die metrischen Ver- 
hältuisse des Gedichtes wiedergeben, so dass metrische Länge und 
Kttne der Noten Im Gesänge ensgedraekt würden, nnd der ganie 
Bhythnras, wie wir ihn beim Sprechen wahrnehmen, neh nnr mit 
grttuerer Bestimmtheit in der Musik wieder zeigte. Eine solche 
Art der Compositinn wird natttrlieh nur in denjenigen Sprachen, 
welche eine wirkliche Sylbenmessung haben, also in den beiden 
alten Sprachen wesentlich und unentbelirlich sein. Denn da schon 
durch das Sprechen einer solchen Bpracbo das Geftihl der Zeitbe- 
stimmung in weit höherem Masse als bei uns angeregt wird, so 
erscheint hernach eine künstliche rhythmische Periode in der Musik 
dnreh den eisten Ansdmek des Gedankens, durch das Wort Tor- 
bereitet nnd bedingt In dieser Art mtlssen wir nns denken, das« 
B. B. die Chöre der alten Tragödien componirt waren, wo dann 
Sj^aehe, Mnsik nnd Tanz sich verelnir^ten, dem Ohr und selbst 
dem Auge einen verwickelten Rhythmus in Zeit und Raum danra- 
stelb'u. Wenn man den Rhythmus also hierbei als etwas durch 
Worte Gegebenes sich vorstellt, so blieb der Musik nur noch 
Uhrig durch Melodie und Modulation ein neues Element in das 
Kunstwerk zu bringen. Auch ist klar, dass in Compositionen dieser 
Art die Mnsik nidit selbststSndig gedacht werden kann (im mo> 
dornen Sinn), weil eben erst die Worte die Nothwendigkeit des 
Rhythmus bedingen nnd erklXren. Jn Spraken, die nnr eine 
Sylbenzählung haben nnd durch regelmSssig vertheilte 
Accente den Vers binden, kann eine solche Art der Composition 
zum wenigsten nie als nothwendig erscheinen, weil überhaupt die 
Zeitmessung, gesetzt sie Hesse sich anwenden, nie nothwendig ist. 
Ks tritt nun bei solchen Spr«ichen auf das Natürlichste die zweite 
Art der Composition ein, indem nlimlich durch die Musik erst eine 
bestimmte rhythmische Periode eingeführt wird, welche swar den 
durch das Versmass gegebenen Accenten nicht widersprechen darf, 
sonst aber nicht lange und knne Sylben durch festgesetste LXnge 
und Kurse der Noten wiederzugeben braucht. Hievon wird man 
sicli überzeugen, wenn man sieht, mit welcher Freiheit auch ein 
das Wort achtender Componist ein daktyliscbes Vermass in */g, 2^^, 
u. 8. w, Takt, oder ein tiochäisches und jambisches in jeder nur er- 
denkbaren Taktart componirt, nnd dies selbst im Deutschen, welches 
doch den Vers nicht blos durch den Accent bildet" — Weiterhin 
sagt unser Autor: „ffieraus folgt für eine Sprache, die einer Selben- 
messung im strengen Binne des Wortee nidit IXhig ist, ein eben so 



1) A. a. O. & 86a. 



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Minnetinger and Meitteninger. 



251 



itrenges Ansebliessen der Musik; in einer Sprache hingegen, welche 
wie die nnsere (die deutsche) einen Mittelweggeht, wird auch 
die Musik, wenn sie die eigenthiimlichen Bewegungen des Verses 
wiedergehen will, nicht so streng hlos der Zeit folgen können; daher 
auch ein solches Stück unmöglich genau durch Noten vorge- 
stellt wt rden kann, welchen wir nun einmal, ausst r im l^ecitativ, 
ganz betitimmte Zeitverhältuisse beilegen. In einer Sprache aher, 
die blosse Accente und SylbensShlung hat, s. B. im Fransttsischeii, 
wflrde diese Art der Oomposition ih ein blosses Recitiren 
erscheinen" 

In diesen Bemerkungen ist auch der tiefliegende Grund des 
Unterschiedes zwischen den Melodien der französischen Trouv^res 
und den Gesäugen der deutschen Minnesinger klar ausgesprochen. 
Der Trouveur war im Wesentlichen Liedersänger, der Minnesänger 
war Rhapsode. Mit Recht bemerkt v. d. Hagen, duss nmn unter 
den sogenannten „Töuen** der Minne^inge^ und der späteren 
Mebtersinger (welehe gleichsam als neue, plebejische Wohlfeil- 
aasgabe der Minnesinger gelten können) nicht blos die eigentlichen 
Liedweisen, sondern auch die metrischen Schemata, die also vor- 
zugsweise die Dichtung angehen, zu verstehen habe. Der Vors des 
Trouvfere wiegte sich auf der melodischen Woge der Liedweise leise 
in ununterbrochenem Flusse hin; für den Minnesinger war er so 
wichtig, dass der Ver.sschluss durch gehaltenere Nnton, din-ch Ver- 
zierungen, durch kurze Pauseuabsätze, wie wir es noch im vulks- 
mttssigen Choral sehen ^, deutlich hervorgehoben wurde. lu den 
Nflnberger Heistersingerbllehein scbliesst jede Seimaeile mit einer 
Fennate, die aber keine eigendiehe Tondebnnng, sondern eine 
knne Pause nach der RehnaeUe aadentet Zuweilen wird beige- 
schrieben „pansir nit"; der Sänger hatte also sonst die Pausen zu 
beobachten, ob sie gleich nicht ausdrücklich beigesetzt wurden 3). 
Ja es war ein Fehler, auf den gemerkt wurde, wenn der Meister- 
singer nicht nach jedem Reim gehörig pausirtO) sondern zwei bis 
drei ungebührlich herausschrie." 

Jener „Mittelweg** der deutschen Prosodie und Verskunst 
war es aber eben andi, der da bewirkte, dass die Singweise doch 
nieht so gans in ein antikes oder antikisirendes Metrisiren aufging. 
Jene t. d. Hagen bemerkte sweite, den neuem Sprachen eigene 
Alt macht sich vielfach geltend; neben Singweisen, die jenen an- 
tikisirenden oder gregorianisirenden Zug haben, gibt es zahlreiche 
andere, auf welche unverkennbar und sehr stark das deutsche Volks- 
lied eingewirkt hat, das deutsche Volkslied, wie es bei allen Aeude- 

1) A. a. O. S. 860. 

2) Wo der begleitende Organist die Ihaumk durch kane Zwischen- 
spiele noch mehr markirt. 

9 T. d. Hagen a. a. 0. A 86a 



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25d Di6 Anfonge der eoropäisch-abendländiachen Mnrik. 



rangen im Einzelnen und bei allem Einflüsse, den die Kanstmusik 
der versoliicdenen Epochen darauf f^ewonnen, seinen Gnindcharakter 
durch alle Jahrhunderte behalten hat. Folgende Weise des Meister 
Poppe in der Jonaer Handschrift erinnert auf das stärkste au die 
noch heute gesungenen deutschen Volkschorale, deren Melodien 
ja vielfiwh auch welüiehen Yolksliedeni entnommen sind: 

(Jenaer Handschrift S. 214.) 



0 hoer vnds tiaricer al - medh-tiger 



gol. 



Durch dyn al - m« cht ich - keit durch dich durch 



5 



dyn gebot 



▼Ol 



komea fir an 




r 



myisa 



wen 



die n. s. w. ^) 



Nocb andere Weisen gehen gans ▼oUständig in TolkstbUm* 
liehe Liedmelodie tther, lassen daher, gleieh den Tolkschotalartigeii, 
die Umschreibung in moderne Notiiinig nnd die Beigabe der nns 
gewohnten Hannonisimng n: 




mm 



Loy - be - re 
Bio - men sich 



n 



wt - seoi 



von den boy-men \ün tzu 



dax se »int vur- tor-bon 

1 ( 



1 



tal 
al 



des stan blot ir e • ste. 
Bco - ne was ir 



l^e • ste Sos 



1) In neneren Noten; 



0 Herr un - de star-ker al -mech - ti - ger Ghott. 

n.a.w. 



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MniMwmgw und Meutenmgw. 



253 



ä 



twing-het de ri • phe na-ni • gher hande-wor-tzel sal des 



bin ich ghar se-re be-irft-bet 



ich tsa 



gri • ph« 



■isi der «in -der itt lo 



kal dee 



h 



wirt nu - we 



Q • bot. 



▼roy - de ghe 

Diesem Zuschnitte der Alelodie mit der Wiederholung des ersten 
Thelles, eine Anordnung, die sich auf die Dreitbeiligkcit der Dich- 
tun«];^ mit erster und zweiter Strophe, die beide gleiche Form haben, 
und den schliesseiulen „Abgeaang" gründet, werden wir in den 
nachmals von Heinrich Fink, Isaak u. A. kunstvoll verarlx'lteten 
deutschen Volksweisen zu hunderten, man darf sagen als stereotypen 
begegnen. Dieselbe Form hat folgendes Lied^), wo des edeln 
Rudolph Ton Habsbnrg mit seinen Helden- nnd Herrschertugenden 
in Ehren gedacht nnd ihm nur der halb schenhafte, halb ernst 
gemeinte Vorwarf gemacht wird, dass er „der Heister Singen, Geigen 
nnd Sagen sehr gerne hört, aber ihnen nichts gibt." Das Lied ge- 
hört somit in die zweite Hfilfte des 13. Jahrhunderts. Es ist mit 
dem Namen des „Unversagten" beseichnet, dessen Zeit um 1287 
föUt^. 

(Jenaer Handschrift S. 61).) 

f=rrr r r fjrrrr 




mrrni 



Der ka • nino Bo-dolp mya-net Oot vud ist an tru-wcn 
Der kn • nino Ro-dolp riöh-tet wol Tüd has-set Tsl-sohe 



ste - te 
re - te 



der kn - nino Ro - ddp hat sich nia - nigen 
der ku - uiuc Ko - dolp ist eyn helt au 



1) V. d Hagen bringt (su S. 860) diese und die folgende Weise vom 
Konipr Kiuiolpli mit einer entsprechenden, von Prof. Fisclier beigefügten 
Uarmumsiruug. Ich lasse sie hier we^, da jeder mutsikkundigc Leser 
diese einftdien Melodien «ehr leicht mit einer angemessenen 6e|^eitnng 
amsustatten im Stande sein wird. 

2) Ueber ihn s. Hagen JOI. 31 und IV. 718. 



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254 



Die AnfAnge der europftiscb-abendlftadischen MaBÜc 




8i';in-(lfii wol vur sa - pet 
tu • gen • den uuvurt • za - get 



Der ku-uinc Ro-dulji 



3: 



m 



X 



ret Got Wide «l - le wer - de woo-wen, der 



ko - ntno Bo • dotp le( eloh di kein ho • en 6 • cen 



•oonwen ioh gau ym wol des ym neoh ty-ner mfl-te heil ge- 



ecioht 



dar mey-eter syn - gen gi - gen saugendes 



hört her gerne ande git yn der - amiiie nicht 

Die Melodien mQgen im Singen öfter raoh mit mancherlei 
dem Geschmaeke des AnsfUlirenden anheimgeitellten Venierungen 

ausgeschmückt worden H* in. Bei Gottfried von Strassburg schlägt 
Tristan auf der Harfe „Grund- und rasche Wecbselnoten". Unter 
erstem dürf cu wohl die gewichtigen Hauptnoten der Liedweise, 
unter den andern die cinjreinisehtcn raschen Verzierungen und 
Passaj^en der Ausführung zu verstehen sein. 

In der Spätzeit des Minnegesauges, im 15. Jahrhundert, haben 
bei einem der letaten MinneeSnger, bei Oswald von Wolkenstein, 
die Melodien kaum noch etwas von dem recitirenden Ton, es sind 
förmliche Liederweuen, die oft eine zarte Innigkeit und dabei ein 
gewisses ritterlicli vornehmes Wesen haben*). Ja manche dayon 
sind im Codex der Wiener Hofhibliothek sogar sehen zu mehr> 
stimmigen contrajmnktischcn Compnsitionen verwebt: eine Form, die 
mit der Singweise der früheren Meister gar nichts mehr gemein hat. 

1) Bfai sehr sohOaes Zied von ihm bei Forkel, aesoh. d. Mus. Bd. 3 



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Minnesmger und Meisieninger. 



255 



Bemeikenswerth ist eine Sammlnng yon Melodien Nithard*i 

in Hagen't Handschzift. Jede dieser Melodien luit ihien Namen, 
der wohl noch dem ursprünglichen Texte beigesetzt ist, wenigstens 
blicken die bekannten Nithard'schen Schwünkc selbst schon durch 
manche dieser Ueber.scluif'ten : ,,die zerreyssen haub, der wild stier, 
Neithart im vas, die kruia Nudell'' u. s. w. Vielleicht ist hier die 
£rklärung für die ähnlich wunderlich klingenden Namen derMeister- 
eingennelodien zu finden. Man nannte sie anfangs nach dem ersten 
Texte; dadorch gewSbate man eich jeder Melodie sn bequemer Be- 
seidurang einen eigenen Namen ma geben, welcher dann anch frei 
erdacht und gewählt werden konnte. Dass der „grüne Ton** und 
y,blane Ton** und andere ähnliche nicht nach dem unterlegten Texte 
80 heissen konnte, ist wohl zweifellos. Dagegen konnten jene 
Kithardnielodien recht gut die Namen „wilde BtierweiS} krumme 
Nadelweis" u. s. w. erhalten. 

Was nun Werth und Gehalt der Minnesingerweisen betrifft, 
80 meint v. d. Hagen, dass darunter „nicht viele sind, welche selbst 
durch einepaasende Begleitung ausgeachmflckt und gut vorgetragen 
dem jetsigen Ohre und (Jeachmacke susagen.*** Man darf aber nicht 
ausser Acht lassen, dass sehr viele von diesen Melodien (um einen 
bei anderer Gelegenheit angewendeten, hier aber gans passenden 
Ausdruck Göthe's zu entlehnen) „nicht Speise, sondern Gefäss 
sind"; ein Gotass bestimmt die Speise d. h, die Wortdichtuug auf- 
zunclnnen. »Sicht man nun diese Weisen vom abstrakt musikalischen 
Standpunkt an, so werden sie kaum anders als gering und bedeu- 
tungslos erscheinen können. Aber selbst von diesem Standpunkte 
nuB haben de das Verdienst gegen die achwerftUige Psalmodie der 
Meisteningernoch immer völlig schwung- und lebensvoll aunusehen. 
Diese Melodik entstand unter gani besonderen Bedingungen au 
ganz bestimmtem Zwecke und sie entspricht diesem Zwecke. Je 
musikalisch-selbstständiger die Minnesingermelodie auftritt, je mehr 
sie sich also dem eigentlichen Lied«- nälicrt, desto mehr gewinnt sie 
freilich an Bedeutung und oft auch an Schönheit. Manche religiöse 
Lieder der Minnesinger sti lii ti dem Schwünge und der Krall der 
alten Sequeuzmelodieu, mit denen sie auch nach Form und Inhalt 
grosse Aehnltehkeit haben, keineswegs nach, wie Heinrich*« 
von Laufenberg deutsche Bearbeitung und Paraphrasirung des 
Salve regina. Seine Melodie ist von hoher, emster Wttrde, schlicht, 
treuherzig — es ist :iii/.i( lH'iid sie mit Adam de la Hale's Marienliedo 
zu vergleichen. Deutlich klingt auch hier die eigenthUmliche Weise 
des deutschen Kirchenliedes heraus. 



1) Die ganze Sammlung von Singweisen sehe man bei v. d. Hagen 

4. Bd. S. 845—853. 



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256 Die Anfänge der eorop&isoh-abendliiidiidien MaaiL 
Sslye Ngiiia^) tob Heinrich Tom Lanfuiberg« 



Sal 



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ta dul 



3r 



22: 



Bis }.n ust nia - fjet rci - 110 kuiipriTin bist al - lei - ne 
Lc - beu kau si bhu-geu, biiä - kuil us ir trin-geil| 



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nu - m - n - cor 
•pw HO • itm 




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al - 1er weit ge - mei - ne er - bäraid hat sie nüt clei- 
derioh hie wü dn • gen nndhoff - nungiui-aer din- 



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1) Das Original in der Strassburger Bibliothek Cod. Job. B. 121 fil. 96 b. 



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258 



Die Anfänge der europiÜtoh-abeBdUadiscbou Musik. 

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Der Blütenzeit des Minnnegesangcs war, wie jeder andern 

BlUtenzcit, ein Ziel gesetzt, das sie bald genug erreichte. Von den 
HitttTii und ritterlichen Sängern ging die Kunst auf die Bürger und 
cbrHamen Iliiiidwerker über: der ritterliche Minnesang wurde zum 
zunftmässigen kleinbürgerlichen Meistergesänge; aus der blühenden 
Kose entwickelte sich die magere, dürre Frucht der Hagebutte. 
Das Einbaimen der Kunit, welehe der ron Burg zu Burg, von 
Abentener zu Abenteuer neheade ritterliebe Sitnger frei und ftob 
getrieben hatte, in die Mauern der StKdto, in die Bande der Zunft, 
in die Kreise des BUrgerthums und Pfahlbttrgerthums drückt das 
wechselseitige Verhältniss des Ritterthums und der Städte in seiner 
Weise sehr bezi ichiu ud aus. Die bürgerlichen Meistersinger selbst 
erblickten in den ritterlichen Meistern des Gesanfres ihre Vorfahren, 
sich selbst als deren legitime Nachkommen. Sie rühmten sich, dass 
„schon in Gegenwart Kaiser Otto's des Ersten und Papst Leo^s des 
Achten swölf Heister nnd Dichter ans Tentascbland in Pavia mit 
Prob und Comporition berttbmt bestanden, damff ihnen Kaiser 
Otto und Bapst Leo Brieff uud Siegel geben nnd sie mit einer 
gUldin Cron verehrt, darumb sie singen sollten und solche Kunst 
im gantzen römischen Keich Teutscher Nation ausbreiten sollten'*. 
Durch soloiie mythische Traditionen suchten die Meistersinger 
die Antange ihrer Kunst bis in das 10. .Jahrhundert hinaufzu* 
rücken. Jene zwölf Meister sollten die Kunst erfunden haben; 
als der Miteste wurde Klinsor oder Klingsohr genannt Urkundlich 
erscheinen die Mostersinger im 14. Jahrhundert. Kaiser Karl IV. 
gab ihnen 1867 Wappenrecht und Freibrief. Der Hanptsits des 
Mebtcrgcsangs war damals Mains, aucli in Frankfurt, Colmar, 
AVürzburg, Zwickau und Prag wurde er eifrig betrieben; im nächsten 
Jahrhundert erreiclite er in den freien Keichstädten Strassburg, Augs- 
bnri; und Nümberg, etwas spater auch in Kegensburg, Ulm und 
München H(!iiio Blüte und verbreitete sich im 16. Jahrh. bis an die 



1) Diese Weise selieint eine volksthümliche Und>ilduiif/ der kireliliehcn 
Melodie des Salve regina, zu der sie sich verhält, \%ie etwa der deut«(;he 
Test sam lateinisohem OriginaL 



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Mflistanmgor. 



359 



tmsente Ostgrense Dentachlancb, nach lUhitn, Btoiemuuli, BcUe- 
rien und liU nach Danzig hinanf. Nahen Maina wurden Nfimherg, 

AngpBburg, Ulm und Strassburg die Städte, deren Meistergesang 
im grössten Ansehen stand. In Nürnberg fanden Wettsingen drr 
Meistprsinp^or noch nach dem drcissigj übrigen Kriege statt. Christoph 
Ilarsdiirfler , der Mitbegründer der Pegnitzschäferei, der es noch 
zu hören bekam, vergleicht ihre Art zu singen ,,dem Clioral oder 
der Ebräermuäik" ; ja die Zunil erhielt Bich bis iu a Ib. Jahrhundert, 
in Strasshnig wnide die Gesellschaft am 34. Novemher 1780 in foier- 
Ueher Yenammlnng der letsten sechs Mitgliederi)i die dabei com 
letsten Male Gesangvorträge hielten, freiwillig aa%el8st Ein 
völliges Ende fand der deutsche Meistergesang Uberhaupt erst 1839, 
als die letzten vior Mitglieder der Ulmer Singschule ihre Innungs- 
zeichcn, ilire Bücher und ihre Fahne dem dortigen Liederkranze mit 
einer förmlichen Urkunde überjjahen. Die Kunstgesetze, hier zugleich 
Zunftgesetze, waren in der sogenannten Tabulatur verzeichnet, wo für 
j eden genau bezeichneten Fehlerauch eine bestimmte Strafe festgesetzt 
war; n ttherwachen, dass die Gesetae von den Singenden aneh ge- 
hilrig beobachtet würden, war Bache der unter dem „Merckmeister** 
stehenden „Mereker". Der Obermeister, Kronenmeister, der Herck- 
meistcr mit seinen Merkem, der Bttchsenmeister (Kassirer) und 
Schlüsselineister (Verwalter) bildeten zusammen den Znnftvorstand ; 
die Zunftangchfirigen theilten sich in Meister, Dichter, Singer und 
bcliultVeunde. Der Meister legitimirte sich durch Eriindung neuer 
Gedichte und neuer Melodien, der Dichter sang eigene Gedichte 
nach fremden Melodien, der Singer wusste die gangbaren Melodien 
auswendig, ohne seihst in etwas als Erfinder anfiratreten, der Schnl- 
frennd besass ^ne genügende Kenntniss der Tabnlatm^esetae. Wer 
in einem Hanptsingen den Preis davongetragen hatte, durfte Lehr- 
linge bilden, welche bei genflgsamer Ausbildung „gefreit**, d. L 



1) Ihre Xanien mö^'cn hier eine Stelle finden: Johanii David Gütel, 
Schuhmacher, zugleich Obermeister, Joh. Geoi^Bngel, Job, Daniel Fe ye 11 , 
Johann Schenck, Joh.Dan. KressnndLoonardKinck. Charakteristisch 
ist ihre Eingabe an den Magistrat, worin sie die Auflösung der Gesellschaft 
notificiren: „Die Ursache, w elche Ixelegenheit zur Verordnung und Anwachs 
bcmelter (iesellschaft der deutschen Meistei sftnger vor einigen Jahrhunderten 
gegeben haben, ist längst erlosohen, und kann sie noch heute 
weder der deutsehen Sprach - noch der Dicht - und der T onkunst 
einen Zuwachs mehr geben. Die Mei8ter8äu|;er sind in diesem 
Stück so weit hersbgesetst, dass man sieh ihrer nur spottet; 
auch kann man's nicht eigentlich eine gottesdienstliehe Handlung nemien, 
daher sothancGcscllschaft, die in sechstiliedern hestelit, mit Ausnahme eines 
einigen, sich entschlosseu aulihrCoustitut Wr/icht /m ihun und ihi-e wenigen 
Gefille und Einkünfte Bw. Gnaden Disjiosition anheim zu 8t> llen, mit der 
Bitte, düHs soh'he dem neuem und nützlichen Institut der Phüauthropen im 
eiesigen Waisenhuus einverleibt werden mOge''. Der eine Meister, der von 
hiner Auflösung nichts wissen woUte, war der Glaser Leonard Rinok 

17* 



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260 



Die Anfüge der europäigcb-abendländischen Musik 



unter die Meister aufgenommen wurden. Wer die Tabulaturgesetze 
noch nicht völlig innehatte, hiess Schüler". Die Mitglieder ins- 
gesammt nannten sich „Liebhaber des teutschen Meistergesanges". 
Sie betrachteten ihre Verbindung wesentlich als Bewahrung der 
Lehre rechten Gesanges. Jede Zusammenkunft hiess Schule und sie 
unterschieden gemeine Singüchulen und Festschulcn. Die Abhal- 
tang einer loleheii Sehnle oder Zusunmenknnft worde dnreh Offenft- 
liehen Ansehlag heksnnt gemeefat: man wolle „eine itffen^ehe chilsi- 
Uehe Singschnl*' abhalten, „Gott dem AUinSchtigen sn Lob, Ehr nnd 
Preisa, auch su Ausbreitang seines heil, göttlichen Wortea**; daher 
wurde erinnert, „es solle auf gemelter Schul nichts gesungen werden, 
denn was heyliger göttlicher Schrift gemäss ist, auch verbotten seyn 
zu singen alle StraflFer und Reitzer, daraus Uneinigkeit entspringet, 
desgleichen alle schandbahre Lieder.*' Dann wurde aucli wohl Zeit 
und Ort des abzuhaltenden «Singeus näher bestimmt. Die Schulen 
wurden insgemein in den NadiouttagMtnnden einea Sonn- oder 
Feiertages gehalten. In Straasburg TerBammelte man sieh in der 
sogenannten „Zunftstube mir Lusem" oder ,^eimstube". Ausser 
der schriftlichen Ankündigung wurden auch die mit religiösen und 
allegorischen Emblemen, Bildnissen berühmter Meistersinger u. s. w. 
buntbemalten Schultateln^) ausgehängt als Zeichen des bevorstehen- 
den Wettsingeos^}. Im Saale oder der Kirche nahm bei Beginn der 



1) Die Strassburger Skshultafeln wurden früher auf der dortigen Bibliothek 
gezeigt. Die eine Tafel stellt im Mittelbilde den Pam&ss vor mit Apollo 
den Musen und dem Quell Hippokrene, umgeben von den Bildern zwölt be* 
nihmter nicht-strassburgischer Meistersinger: „Heinrich von Efi'tenlinjren, 
der alt-StoU, ein Panzermacher, der starke Bopp, der Heiner von Zwicken, 
Kantzier Aufhngcr von Steyermerok, Herr Wolff ▼on Baehenbach, Herr 
Frauenlob von Maynz, Refrcnbogen ein Schmidt, Miglin ein Doctor, Walter 
von der Yogelweid, Mamer, ein Edelmann, Cunrad von Wflrtzburg, ein 
Geiger**. Neben diesem MittelbOde zeigt der eine Flügel Adam und Bva, 
der andere ein Bild des Erlösers oberbub des Erdballs. Die andere Taftl 
zeigt im MittelbiUle in wunderlicher Zusanimctistelliing den Orpheus, wie er 
die Thiere bezaubert, darüber üott Vater mit dem Lamm der Offenbarung, 
den sieben Leuchtern, den vier Thieren Ezeohiel*fl u. s. w. Diese DanteUung 
ist im Halbkreise von den Bildern zwOlfStrassburger Meistersinger umgeben : 
Peter Pfort (aas Mechterstädt, trat 1591 in die Gesellschaft.), Martin Gimpel, 
Friedrich Frommer, Melchior Christophe! (ein Bäcker ans dem Wfirtem* 
bergißchen), Älartin Hosch (Schriftgiesser aus Basel), Saulus Fischer, Johann 
Beichter (Buchhalter), Veit Fischer (aus Nereslieira, Sclilosser in Strassbur^r), 
Hans Müller (gleichfalls Schlosser), Joseph Schnyter, Haus Scliellinger (aus 
Durlaeh), Georg Burckhard (Schneider aus Strassborg). 

2) Ausfiihrliclieg über den Strassburger Meister^-osan}? in einem unge» 
druckten ehemals in Strassburg BorgT&ltig auibewaiirten Buche „von der 
edlen nnd hoehberilhmten Emst der Mnsika nnd deren Abkunft, Lob, Note 
nnd AVirkung, auch wie die Meistersänger auffkhommen, vollkommener 
Bericht, zu Dienst und Ehren der löblichen und ehrsamen Gesellschaft der 
Heisters&nger in der löblichen freien Reichsstadt Strassburg, bestellt durch 
11 Oyriacnm Spangenberg im Jahr Christa 1696^. Sonst sind die 



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Mebteninger. 



Schule das „Qemeick** die Sitse an der Obentelle em, war es in der 
SLirche, vor dem Hochaltar. Aach wer im letzten Singen des eisten 

Preis gewonnen, durfte sich in's ( •omerck setsen nnd seine Meinung 
Uber die Leistungen abgeben. Wurde ein sogenanntes „Freisingen'* 
gohalten, so konnten auch Personen, die nicht zur Sänperzunft ge- 
hörten, auftreten; die Wahl der zu behandelnden Stofl'e stand frei, 
aher es wurden die Leistun«;en keiner l^enrtlieilung unterzogen und 
GS fand keine Preisvertheilung btutt. Beides geschah im ,,liaupt- 
singen", wo nur Angehörige dch httren liesaen, ^e Stoffs der Bihel 
entlehnt seinmnssten nnd auf jeden Fehler mit nnerhitdicher Strenge 
„gemerckt** wurde. Die Vorträge mussten frei, ohne Zuhilfenahme 
eines Buches oder sonst etwas S( liriftlichen gehalten werden. I)ie 
vier Mercker thcilten sich in ihr Wttchteramt : einer achtete auf die 
Reime, der andere auf das Versniass, der dritte auf die Mehtdie, 
der vierte hatte die aufgeschlagene Bibel vor sich, damit kein Ver- 
stoss gegen die ,,Gesclirifft" vorkomme. Die Mercker schrieben jeden 
bemerkten Fehler auf, der dann mit den in der Tabulatur darauf 
gesetzten Strafen gehtlsst wurde. Hau konnte 32 Hauptfehler be- 
gehen : als „mnndiren" d. h. an hoch oder su tief singen, „falsche 
Blumen", Verzierungen, welche eine Melodie unkenntlich machten, 
„Vorklang", Ansetzen zum Tone ohne noch ein Texteswort hören 
zu lassen, Veränderung der Töne, eigenmftcbtige Aendemngen in 
einer fremden Melodie u. s w. Wer ganz aus dem ( Jeleise kam, 
von dein sagte nmn: ,,er habe sich versunken'*; wer ,,irre wurde*', 
musste aufhüren. Zuletzt wurden die Preise vertheilt, wie es auch 
schon die Ankündigung zu versprechen pflegte: ,,wer aus rechter 
Kunst das Be^ thut, soll mit dem David- oder Schulkleinod ver- 
ehrt werden, nnd der nach ihm mit einem schönen BjrSntzlein.'* Der 
Hanptpreis ftlr den, der „am glattesten d. i. ohne Fehler gesungen, 
bestand aus dem ,,(ilehenke*' d. i. einer Schnur oder Halskette mit 
Medaillen. In Nürnberg hatte Hans Sachs dafJIr ein Medaillon mit 
dem Hilde König David's iresjjendet, das war eben jener Davidspreis 
oder die Davidskrone. Das ,, schöne Kräntzlein" bestand aus künst- 
lichen Blumen; wer es gewann, nahm beim näcbsten Singen die 
Gaben und Geschenke der Besuchenden in Empiang. Die Gedichte 
hatten ihre bestimmte Form: sie war dreitheilig. Nach dem ersten 
und zweiten „Stell** (Strophe), die zusammen ein „GesXtz** bildeten, 
folgte mit geXndertem Versmass und anderer Melodie der „Ah- 
gesang." Ein ganzes Lied hiess ein „Bar**. Die GesUnge waren 
oft sehr umfangreicli, bei Wagenseil werden Strophen von 34 ge- 
reimten Zeilen uamhatt gemacht, ja es konnte deren Zahl bis auf 

Hauptwerke über den Heittergesangr Joh. Christoph Wagenseirs De 

Oermaniae Phonasrorum, von der INfei^^dTsiiifZi r origine, pracfltantia, utili- 
tate et institutis lüU7 und ,.(irüadlicher Bericht des deutschen Meister- 
geaangeS** von Adam Pnsohmann von Gflriits 1674. 



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262 



Die Anftnge der eorop&iidi-abendl&iidifloliai Musik. 



122 steigen. Breit ansgesponnene Oectichte dieser Art machten eine 
eigene Melodik nOthig, sie bequemt sicli dem reeitirenden Ton der 

langen Verae nnd RedcsKtzc an und schwankt nnter dieser Fessel 
ungeschickt , unschön nnd haltlos auf und ab* UnTOrkennbar ist ihre 
Verwandtschaft mit joner Weise dos Minnosnnp'ef;, welche sich mehr 
in recitirender als in liodmüssig sin^'ltarer Form bewejjt^); aber es ist 
Alles weit schworflilliger, roher, man kann sagen plobojischer ge- 
wurden. Wo im Miunesange bei aller Einialt der Meiudieluhrung 
eine gewisse Noblesse und ein poetischer Zug dnrehkHngt, ist hier 
Alles so nttchtem nnd geisüos wie mOglich. Aueh ein gewisser An- 
klang an den Gregorianischen Qesang, an die Psalmodie der Kirehoi 
wie die Meister gewohnt waren Sonn- und Feiertags zu hören, tönt 
heraus, doch ohne eine Spur der Würde und Kraft, welche dem 
Oroj!;orianischen Gesänge eigen sind. Die Meistersinger hatten ihren 
Znnltschatz bestimmter Mi'lodien oder Weisen", denen Jeder nach 
rJutdilnken sein Toem unterle^M'u konnte, obglcicb dem Meister die 
Erfindung eines neuen „Tones" keineswegs verwehrt war. Wurde 
die neue Melodie von den Herkem gebilligt, so setzte der Meister, 
der sie erdacht, seine Phantasie in Bewegung und gab ihr in Gegen- 
wart zweier Ifitmeister als Gevattera einen „ehrlichen nicht Ter> 
äcliflichen Namen", welcher insgemein höchst verwunderlich lautete: 
da gab es einen rothen Ton, einen blauen Ton, einen Blutton, eine 
fr«'scliwänzte Affenweis, eine kurze Affenweis, eine Rosmarinweis, 
eine blutglänzende Drahtweis, eine rothe Nussbliitweis, traurige 
Semmelweis, spitzige Pfeilweis, Brundelweis, gelbe Lilienweis, gelbe 
Veigleiuweis, gestreifte SaffranblUinleinwcis, Fettdachsweis, warme 
Winterweis, yerschalkte Fuehsweis, englische Zinnweis, Blarii Lnft- 
weis, Beerweis, Adlerweis, hohe goldene Weis, Schidbpapierweis, 
spitzige Palmweis, einen gläsernen Halbkrilgeltoh nnd wie diese vom 
baroclutenUngeschmack eingegebenen Benennungen sonst lauteten, 
zuweilen sogar mit mythologischen Anspielungen: ,,Orphei sehnliche 
Klagweis", „Cupidinis Handbogenweis" u. s. w. Die vier Haupt- 
melodien hiessen die vier ,, gekrönten Töne" : es waren der lange 
Ton Ileinnc-li Miigliu's, Heinrich Frauenlob's, Marner's^ und Barthei 
Regenbogen's^). 

1) Man Bebe z. B. bei F. H. v. d. Hagen 4. Bd. die erste Melodie der 
Jenaer Handschrift und hidte sie mit irgend einem beliebigen Meister- 
singerton zusammen. 

2) Als sein Vorname wird bald JaLonrad, bald Ludwig angegeben. 
8. 1^ d. Hagen 4. Bd. S. 524. 

8) Der lange Ton Regenbo^rcn's hatte drei und zwanzig Reime, der 
kurze dagepon nur «ielien. Eine Äfeistersinfrerdichtung von 1630 (v, d. 
liugen, Minuesiugcr 4. Bd. S. bU4) gedenkt dieser Meister in Ehren: 

Anch Doetor Heinrich Franenlob 

That seiner Kunst recht freie Prob, 

Barthei Regenbogen ein Schmied 

Hat auch gedichtet manches Lied 



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Meütersinger. 



263 



Wie die Meistersinger rieh als die legitimen Nachfolger der 
Minnesinger» je den MeittogeBang als die unmittelbare Fortsetzung 
(los Minnopfpsanges ansahen, so hatten sio ihiUt ilircn AVoisen auch 
eine Auswahl, welche sie nach berühmten Minnebingern benannten, 
wie die „Hönweis" Wolfram'», den ,,ab*:i's]iity,ten Ton" Conrad's von 
"Würtzburg, den „grünen Ton", den ,, Kitterton", den ,, zarten 'i'on", 
den „übenarten Ton", die „Zugweis", den „vergessenen Ton", 
den „Spicgelton", die „Hagenbltttweise", slbnmtlich nach Hdnrich 
Fnmenlob benannt^ WaUher's ,,Kreuston*S Hamer'B „Propheten- 
tanz", H. V. Efferding's „überkurzen Ton" und dessen „lange fröh- 
liche Morgenweise", Wikram's ,, frischen Ton" und andere mehr^ 
Haben nun die deutschen Minnesinfrerweiscn auch nicht den an 
das Volkslied malmenden leielit-melodisclien Ziip: der französischen 
Trouveurnudodien, so sind sie doch unvergleiclilich edler, belebter, 
melodiöser als diese von den Meistersingern nach berühmten Minne- 
aingem benannten Töne, welehe man vielmehr als echte Handwerk- 
prodncte desMeiateisingerthnniB ansnaehen haben wird. Sie machen 
ohne Ausnahme dnrchana den Eindmck der achwerlldligBten Pedan- 
terie, einer schwnnglosen, geistlosen Recitation, monoton und aller 
Schönheit bar. 

Im grünen Ton Franenlob'g. 
(Berl. Hsndschr. UI. U bei v. d. Hagen 4. Bd. S- 927. 



AI • le Bo hie be-trüglich gegen den AUniechtigen Goi 
Dann als Qottiendct ti^ch ei-nen Propheten lo-be 




vng-hor-sam fun-den wer - den vnd vorachten sei-ne p^e - bot 
zu weis-sa-gen be-sun - der wider Xüuig Je-ro-be - am 




ha • ben ein scliri^cklichs Exompel 
vnd auch den al-tar sn Bethel 



— — Und Liidwifr Marner wohlbekannt 

Düctor Heinrich Möglin gross Gunst 

Erlanget hat durch Singekunst. 
1) Der Leser findet diese und andere SanfTweison nach Berliner 
Handschriflen der Nürnberger Meistersinger in Friedheb Uciurich von 
Hagen's Werke „IBnneiinger^ 4. Thea & 991—986. 
8) A.a.O. a " 



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264 Die An&nge der enropftiBoh-abendl&ndi&clicn Musik. 



-& — <9 — <9- 



im er • tten Kfl •nigbnch am drei-se • henden 
▼ndge-bot jm erastUdiTorMimlim-wiideii: 

(Der Abgeteng.) ■ 



'das 



— 



er gar kein Brut vs-seu 



vnd auch kein 



WaMertrinkea 



•olt vnd 



auch den rer-meiMD 

/Ts 



nUdit wieder kmneii 



e - ben den er gangen war aber da 

^ . ^ 



er aitih v - ber-re - den liess Ja 



» & & 



"g — g 



vnd Gottes ge - bot tbe-te wi*der^itreben. 



Im Spiegelton Fnuienlob's. 

(Handachr. HI. 84 v. d. Hagen 4. Baad & 931.) 




Weil dieCliristen verfolget hart GaM> ri-a-nnstchnC^er Art 
Welchersu Komregieren thet vnd solche weiss stndBGat veratet 



& f>j ^ 



^^r g— J Tin 



mit al - 1er -let mar-ter wie man thut le - sen 
die*sen eiiri-ftenfeindiimbseinbO»set We-sm 



A b g i! s a n g. 



/TS 




der al-lor-höchste auf solche weiss jn ein bO-se krankhei • te. 
Eine Anzahl von Weiten rObite anerkannt von ehnuunen Bfirgeiw 



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MeiBteniiiger. S66 

Keistenmgem her und wurde neeh ihnen benannt: die Preitweis 
Melchior GhristofPe, Borgers nnd Beckers an Stranbnrg, die sarte 

Buchstabon weis Martin Hfischer's, SchriftgicBHers in Strassburg, die 
hohe fröhliche Lobeweis Uemi Hanss Berchler's, Gastgebers zum 
Geist in Strassburg, der Froschton, also benannt nach dem McistiT 
Frosch n, h. w. Es hat etwas Rührendes, «lie ehrliche, ungeschickte, 
schwerlaustige Bemühung zu sehen, mit welcher diese Handwerker 
in ihr hinter dem Ambos, dem Webstuhle oder auf dem •Schuster- 
Bchemel in steter Prosa glelehfBrmig hingehendes Leben etwas Poesie 
an bringen suchten. Unwiderstehlich komisch wirkt es aber auch, 
wenn wir uns den Meister vorstellen, wie er, mit «nem Seitenblick 
auf des Merkers aufgeschlagene Bibel, etwa im ,,langen Tone" 
Heinrich MUglin's anflKngt: 

(W agenseil, De civ. Norimb. commont. S. 554.) 



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Qe - ne - aii am neun mtd.zwan-rigBteny uns /«beriebt: 



,wie Ja-kob iloh For sein Brn-d^r E-taa entwicht etc. 

Dieses pedantisch-vorsichtige Citiren der Bibel zu Anfang des Ge- 
sanges war durchaus gewöhnlich: „Matheus schreibt am achten: 
ChristiiB drat in dn siäiff"; „im hdligen Matheo klar I am fünf- 
lebenden man | lesen kann: wie lOr Christo dar | die schrin^lehrten 
dratten fortan"; „am swei nnd Tienigsten beschreibet Esaias fein**; 
„in der Oflbnbarung Johannis haben wir [ da leset Ir | an dem 
SEwelfilen gar mechtig . ein schönes Bild fürtrechtig** n* s. w. Selbst 
bei weltlichen Geschichten nannte der Sänger gern seine Quelle: 
(Im „newen thon" Frauenlob's Hdschr. III. 5 v. d. Hagen S. 929.) 



Klar that Vinoenoiiu be-rieh - ten, 



TOnn BeltEftmett Ge schichten etc. 

Es ist natürlich, dass diese breitspurige Prosa jeden Funken von 
Poesie, wo ja einer glimmen wollte, erbarmungslos austrat. Im Gänsen 

1) Dieser endlose Gesang, die Liebes- und Heiratl^eschichte Jacob's 
enthaltend, spinnt sich in den einzelnen „Oes&tsen** nach den vier gc- 

IcröntL'ii Tönen ab. Man findet ihn auch bei v. d. Hapfen a. a. O. S. 
u. fg., und Forkel theilt in seiner Gesch. d. M. 2. fid. S. 770 daraus den 
gekrönten Tou Barihel Begenbogen's mit. 



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266 



Die Anftnge der etiropftisoh-abendlftndischen Moiik. 



war die Kanst der Meistersiiiger ▼on grenzenloser NfichtenüiA 
Trotzdem fand sie doch den allgemeinsten ^theil. Znr Genossen- 
schaft der Strassburger Meistersinn^er, die vom GrUndungsjahre 1490 
Itis 1780, dem Jahre ihrer Autiösung, 780 Mitglieder zählte, gehörten 
neben Schustern, Kürschnern u. s. w. auch Professoren, Doctoren, 
Pröpste Beamte, Magistratspersonen; Fremde meldeten sich um 
die Stellen von Ehrenmitgliedern. Die Strassborger Akten melden: 
„am 3. Juni 1597 lietBen sich swSlff Kaoffherm warn Nttmberg, 
Mflncben, Ulm und Aagabarg, welcbe sieh in die ehrsame Gesell- 
schaft der Meistersängcr allhie begeben, einschreiben." Wohlhabende 
Personen setzten Vermächtnisse nnd Legate ans, wie 1646 Gabriel 
Brannstein, Mitglied des grossen Raths zu Strasslbnrg, und deesen 
(iattin Aurelia \'oltz: ,,l)ieweilon v ir beide testirende Eheleute das 
gottHclige Wer( k undUibung des löblichen teutschen Meistergesangs 
jederzeit liochgeliebt, dasselbe gleichsam von Jugend auf und 
nun Uber 40 Jahre fleissig besucht, so uns als eine schöne 
Uibnng Gottes seeligen Worts, Lehre, Trost nnd Ver- 
mahnnng an aller Gottseeligkeit, christliehen Tugenden, 
Glanben nnd Liebe so reichlich erfüllt, als legiren wir beide 
insgemein ermeltem löblichen teutschen Meisteigesang jährlichen ufif 
ihre Singselinlen zehn Keiehsthaler" ii. s. w. Jedenfalls bat der 
Meistergesang das Verdienst der Musik im deutschen Bürgerliunse 
eine Blatte bereitet zu haben. Aus den schönheitslosen Melodien 
der Meistersinger war iVcilich nichts zu gewinnen, aber wo man 
sich selbst eines so dUrftigen Besitzthums freute, konnte sich unter 
gttnstagen UmstXnden auch Besseres einfinden nnd bleibend ein- 
bürgern. Die Hausmusik hat wirklich in Devtsehland dne Pflege 
gefunden, wie sonst nirgends. 

In Frankreich ging die Kunst der Troubadours zu derselben 
Zeit wie in Deutschland auch in RiJrgerhlinde Uber. In Toulouse 
vereinigten sich 1323 sieben Biir^n r als sept Trobaäors de Tolosa 
und veranstalteten durch öflentliclio Ausschreibung 1324 einen 
poetischen Wettkampf, wobei ein goldenes Veilchen der Preis war. 
Daan kam i^itter aneh eine silberae Bose als Pteis Mt das beste 
Sirventes, eine silberne Bingelblume n. s. w. Im 15. Jahrhundert 
wurden diese in VerfUl gekommenen WettkKmpfe unter dem Namen 
der jeMor/^oraMo: durch Clemence Isanrc, einedichtwngsfronndliche 
reiche Bürgerin (die ,,Sappho" von Toulouse), erneuert. Ludwig XIV« 
petzte 1G95 der Stiftung die klassische Perrücke auf, indem er sie 
zur Aradtmie de jeur floranx unigestaltete. Die Toulouser Blumeu- 
spiele haben weder die iVan/.ilsische Poesie noch die französische 
Musik wesentlich gefördert. Noch weniger Bedeutung hatte eine 
Xhnliche Verbindung von Tonlonser Dichtem, die 1388 unter den 
AuBpicien des KiSnigs Johann I. von Aragon an Barcellona entstand. 

1) Z. B. Moritz Uberherr, Propst za St. Peter in Strassburg 1597. 



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Mcifteniagtf. 



267 



Im nSidlidieilFnakreieh and den belgischen Landen gestaltete 
dcfa die Kunst der Tronbadonn ellmllig so der, wie man sagte, usebr 

edeln Kuust und Wissenschaft der Rhetorik" (tres noble aH dteienee 
de rhitori^im) nro. Die Vereine der ,,Rh^toriciens*S die sogenannten 
„Kammern", s^ denen sie sich in Belgien einigten, sind das Gegen- 
bild der deutschen Meistorsäiigerei: auch sie hatten ilire Prciskämpfe, 
in Belgien Landjuvcelen iiiul llaagspelen genannt, wobei ihr« Lei- 
stungen unter der Controle von Merkern {jli bon entendeour) standen, 
wobei aber die belgische SoliditKt auch solidere Preise an Silber^ 
bechern, DenkmUnaen n. s. w. spendete; anch sie hatten ihre Hierar^ 
ehie (die HXupter), wo aber yomehmere mtel als In der deutschen 
Zunftmeisterschaft tönten (Prince, Kciser, Deken, Hooftman en Fac- 
teur); anch sie hatten eine „Oberkammer*', die 1498 zu Mecheln 
Philipp der Schöne unter dem Namen „Jesus mit der Biilsam- 
hluine'' cmchtete, deren Vorsteher man den ,,s()u\ eraiuen l'rinse'' 
nannte; und auch hier schlössen sich zahlreiche , Jviiiiiinerltriider" dem 
Bunde an, wie denn bei dem Laudjuveele 1561 zu Antwerpen nicht 
weniger als 139S Khetoiiker snsammenkamen. Aber wShrend die 
dentaehen Meistersinger jenen Zonftschati an Melodien besessen und 
Mch nach der SIngeknnst benannten, wendeten sich die franzSrisehen 
und belgischen Hhetoriker (wie schon ihr Name, die „Redner**, an- 
deutet) entschieden von der Musik, von der Singekunst zur blossen 
Kunstpoesie fllr welche aus ihrer Mitte eigene Lehrbücher ent- 
standen, wie Matthias Casteleyn's von Antwerpen 1548 gesdiriebene 
„Const von rhetoriken'*, oder die ältere „Art de iliHter" (Dichtkunst, 
Dictirkunst) des Eubtache Deschanips, Theorien, deren Lehren frei- 
lich anmeist auf bigstliche Sylbenaldilerei und Reimhorcherei hinaus- 
liefen. Wihrend die deutsche MeistersSngerei gewissermassen die 
Uebersetsung der freien ritterlichen Singekunst in das S|Nieasbtli^^ 
liehe war, hatten die Gesellschaften der Rhetoriker etwas von dem 
Exclufiiven specifischer Literatenvereine, etwas das an die späteren 
Arcadier in Rom erinnern könnte, hätten nicht die belgischen Kammern 
durch öffentliche Auiluhrung von Schauspielen und durch die lustige 
Person, den Bot, der bei keiner Kammer fehlen durfte und bei fest- 
lichen Aufzügen zu Esel mittrabte, einen dennoch volksthfimlicheren 
Zug behalten. Die Rhetoriker verdienen aber trotsdem anch ihre 
Stelle in der Gksohichte der Musik, denn gerade dadurch, dass sie 
sich so entschieden und ausschliessend der Dichtkunst zuwendeten 
und die Musik ungepflegt Hessen, wurde diese in den Niederlanden 
in gana mgenthümlicher Weise gefördert und rasch au mner Ausbil- 

1) . . . „Die nordlranzösischen Rhetoriker", sagt Ferd. Wolf a. a. O. 
S. 137, „bestoebten rieh die Dichtkunst immer mehr von der Sangeskunst 
loscntrennen and zur blossen Redekunst zu inacln ii." 

2) £ine sehr anziehende Darstellung der belgischen Khetorikerkammem 
findsi sich in Leopold von Sscher-Msaoch's Anfitand in Oent S. 28 u. fg. 



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268 



Die Aafitaige der earopftiBch-abendl&ndischen Mnaik. 



dang gebracht, die sie unter Zunftswang ond in einem Zwangsbttnd- 
niflse mit der Wortdicbtang nicht oder doch nicht so bald zu errei- 
chen ▼eimocht hätte, und durch welche sie rasch die ObeiheciBchaft 
Uber die anderen europKischen Länder errang. 

Dir Melodien dor doutschen Minne- und Meistersinger hatten 
auf die Entwiekehuij; tUn* Kunst gar keinen Einfluss. Die deutschen 
Tonmeister des 15. und 16. Jahrhunderts, Heinrich Fink, Thomas 
Stoltzer, Görg BlankenmüUer, Heinrich Isaak, Sixt Dietrich, Gregor 
Peschin, Stephan Mahn, Laarens Lemblin n. A. griffen ni knnst« 
mSssiger Yerarbeitang nicht nach der monotonen Psalmodie der 
Meistersitngerweisen, answelchergar nichts zu machen war, sondern 
holten die Melodieen aus demnnenchttpflichen Schatze des deutschen 
VolksIicde.H*). Der Mcisterg^esanp; war nicht eigentlieli Yolks^esang, 
er war vielmehr eine unter dem Ii ärt tasten Zwange stehende Kunst- 
])oesi<' und gehörte wesentlicli mit zu dem ehrenwerthen Zopfe, der 
den »Städten des heil, römischen Keiches hinten hing. Der Bauers- 
mann mit Weib und Kind wollte nun seine ganz eigene nngenirte, 
natorwttdisige Mnsik haben, er wollte an der ELirmesse nnd sonst 
eins tanzen nnd sieh mit seinen eigenen Liedern die Zeit kttrzen. 
F(ir diese Bedürfnisse sorgten zahlreiche Schwfirme fahrender Ma> 
sikanten, Pfeifer und ähnliche Leute, welche im Sachsenspiegel als 
unehrlich und rechtlos erklärt'^), deren Kinder man als unehrlich ge- 
boren ansah nnd daher in keine Zunft aufnahm^), die aber wo sie sich 



1) Bemerkenswerth ist es aber doch, dass ausnahmsweise zuweilen 
Meistersingerpoemen die Bhre widernhren ist einem konttgerechtea 

contrapunktischcn Satzt> Text unterlegt zu werden. Ein solches Stfick 
findet sich in den Caiitioues ultra ceutum (Augsburg bei Kriesstein 1540 
Ho. LXXIllI), ist von Johannes Frosch componirt und es lautet dessen 
erste Strophe sehr erbaulich also: 

Wilt du mit gmach ein sach 

nach nutz, on schmutz angreiffen, reiflen: 
halt rat znvor mit fug 

dann wer zur that on rath tmd weyl 
mit oyl will tringen — gUngen 

muss ihm spat genug. 
Dnun langksam schleyas, ncyss, schejSB 

nit ab, liab vor gut acht, tracht 
wie du fort zum ort wöUest trukeo, ruken, 

mit gwaldt baldt wftr ambsnnst gonst, kiinst 
nnd sterk, merk ob du nicht mögst weiden 
viel zu schwach, uyl gmach 
das dn nit kriegest uug(;mach. 
Diese bei den Mei.stersangem für eine besondere Kunst geltende Keimspielerei 
geht durch alle Strophen. Zum Schlüsse steht, witzig genug, das Bild einer 
Schnecke in Holzsclniitt. Die Mehjdie int keine Meisttjrsingerweise, sondern 
entweder einem Volksliede entnommen, oder vfui Frosch frei erfonden. 

2) Buch I Art. 37. Kilmpfer und deren Kinder, Spielten t nnd alle 
die unehrlich geboren seyn, die seyn all rechtlos. 

3) Andler, Corpns 252. Con8t.Imperialium. Dagegen veifodht Thomas 



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Zonftwesen des Masikantentbuma. 



269 



idgleii willkommen waren. Diese Knnatvagabimden ^) sorgten dafür, 
dass die snr Zeit wenig beachtete Instromentalmasik nicht ausser 

Uebuiig kam, sie mussten in der Baiiernschcnke, unter der Linde, 
wohl auch auf der Bür^'crhüohzeit oder im Rathhaussaale fiir die 
gesammte Bürj^erschaft zum Tanze herzhaft darauf losspielen. Hier 
waren es ganz besonders die sc liallNtarkenPfeifen, Pommer, Schwege!, 
Zinken u. s. w., welche zur Anw endunp; kamen, und so haben diese 
wackem Leute für Technik und Ausbildung insbesondere der Blas- 
instrumente redlieh das Ihrige gethan. Für den Banerntana war die 
Saekpfeife belieU*). In den StXdten waren es die Btadtpfeifer oder 
Knnstpfeifer und Thttrmer, welche, vom Zunftgeiste des Mittelalters 
snr Innung verbunden, von dem auf den fahrenden Spielleuten haften- 
den Makel frei wurden. Sie liiessen Pfeifernach ihren Instrumenten. 
Im älteren Bash'r Todtentauz (nicht dem Holbcin'schen) holt der Tod 
auch den Kilbeiipt'eifer, den er liöhuisch fräjjt, was es filr ein ,,Tänzel" 
setzen solle. Die Th ärmer, welche kraft ihres hohen Aussichtspunktes 
in den unruhigen und kriegeriselienZeiten das Anrücken eines Feindes 
dureh Horn- oder Posaanent5ne au signalisizen hatten^, mochten 
allmXUg in mttssigen Stunden auf ihrem weittttnenden ^stniment 
ganze Liedennelodien blasen Ionen; an Festtagen oder wohl anch 
Abends vom Thurm ein frommes Lied über die Stadt hintönen an 
lassen srhinn erbaulich, ohnehin diente das ,,Hornplascn" auf einem 
Orgelwerk an vielen Orten statt des Glockengeläutes^). Um den kunst- 

von Aquino (Summa IL quaeit. 168 art. 3) die Meinung, der Stand der 
Histrimien sei, wenn sie ein ehrbares Leben ftthrea, an rieh nmht sflndhaft. 

1) Ermenrik von Reichenau (850) sagt: „Tu psaltcrimn arripo, pato 
non alicujus mimi ante januam stantis, sea neque Sclavi saltautis. 

2) Im Jeu de Kobiu et Marion (um 1270) sagt Bobin, er werde die 
Musik sor Hochaeit besorgen: g*irai poor le tabonr et pour la mme am 
gratU hmrdon; und Perette, ein Hau< rmsdohen, sohllgt einen Taas Tor: 

. . . par amours faisons 

la tresque e Robins la menra 

a'il veut et Huars imuera 

et chil doi autre comeront. 

3) Dass dtr Thurm Wärter der Ritterburg vom Thunne herab durch 
ein gesungeacä Tuglicd den Morgen ankündigte, zeigt eine Stelle bei 
Hermann Ton Fritslar 4178: 

der wechter uf der Zinne sas, 

siue tageHet er sano, 

das im die stimme enisne 

von grozem done, 

er sanc also schone: 

„der tf^^ der schinet in den Sal 

wol uf ritter über al, 

wnl uf, ez ist tag." 

4) Ein solches Homwerk findet sich noch im Kioater Ileiligenkreuz 
In UnterOsterreich. Es gibt den C-dnr-Aocord an and ist auf weite 
Strecken au hOren. 



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270 



Die Aufaoge der europftiioh-abendländiBcbeii Musik. 



fertigen ThUrmer, der schon kxaft teiner Wohnnng im Domtlmfin 
80 SQ segen ein Mann der Kirche und folglich eine Art Respectspenjon 
war, Behaarten sich andere Horn- und Pfoifenbläser, Gesellen, die 

ihm jene Cliorale an besonders festlichen Tagen vollstiromig^ blasen 
halfen, die er bei Tanzmusiken als Meister leitete. So mirden also 
die ,,Thiirmer" Hauptrepräsentanten dieser Art von Musik. Die 
Kunstmusik hatte in diese naturwüchsige Musikantenpraxis nichts 
hineinzureden; dafür nannten die Gelehrten die natürliche Dnr- 
skala von 0, deren sieh jene gern bedienten, modw Uueimu^), ob- 
gleich Harchettos von Padua teinerseits gans bestimmt eiklirt, et 
sei die einzige wirklich natürliche Fortschreitung. Glareaa erwIChnt, 
dass ,,die gemeinen Geiger und Pfeifer sechs Tonarten und zwar 
Ionisch, Hypoionisch, Lydisch, Hypolydiscli, Mixnlydisch, Hypo- 
mixolydisch in v.t moduliren, vier dagejren, nämlich Dorisch, Hypo- 
dorisch, Aeolisch und Ilypoäolisch, in iVc" ''^). Engelbert von Admont 
bemerkt: „Metrisch ist die Art der Kistrionen, die mau in unserer 
Ztii Gantoren (Säuger) nennt nnd die Yor Alten Poeten hiessen, 
welche allein nach dem Gebrauche metrische oder rhythmische Ge- 
sXnge erfinden, um damit die Sitten an rügen oder sn bilden und 
das Gemiith zur Ergötzung oder Trauer zu etilwmeHt Der melodische 
Modus gehört den Ljranten und Pfeifern, welche gleichermassen 
aus dem blossen Gebrauche tonricbtiire {to)iaIrs) Melodien auf ihren 
Leyern, Pfeifen und anderen Instru iiicnti'n c-nmponiren und sich 
durch Natiiranlagc und Uebung (j er naturciin et ubutit) der Kunst so 
viel als möglich nähern, wie ja auch Aristoteles «agt, dass Viele ohno 
Kunst machen was zur Kunst gehört, nnd umgekehrt Viele, was sie 
durch Kunst wissen tiiatsXehlich hervonubringen nicht yermSgen*).'* 
In Frankreich gab es zahllose Jongleurs, einzeln und in gansen 
Banden, welche, ohne im Dienste eines Troubadours oder eines 
Vornehmen zu stehen, das Land musicirend und allerlei Gaukeleien, 
auch wohl Öcheimenkünste treibend ^)durchaogen. Als in den Städten 



1) „Primo«6 per natura atto ad esprimere dsase, bsIU e percib da slooni 

e detto modo lascivo (At tmi, Tin tL' del Contrapunto, 1598, S. 74 (bei diesen 
späteren Thenrotikoin war der Modus iouicus der erste, d. h. C-dur). Aber 
Marchettus von Padua sagt: Est namquü naturalis cantus iUe, qtti in omni 
quarta conjtinctione Bonorum semper aiatcssnron habet, nec umquam poteat 
nliter naturnlitt r rcperiri. Naturalis euiin ah hoc dicitur oo, quod nattira- 
liter vox Immana %n omni quarta voce sive inter quatuor voces Semper 
proferrt wmitomum ddeetaSur (Lncid. Tract. VIII cap. 4). 

2) Dodccachordon II. 15. 

3) De Mus. 1. 3 bei ücrbert, Scriptorcs Bd. 2. S. 289.^ 

4) Es war nicht immer Garantie g< o^on lose Streiche, wenn die 
Musikanten selbst auch in königlichen DieIl^tcIl standen. So heisst es 
in der Dichtung Ottackors, wo voti Könip Miinfiid (drin Holienstaufen, 
Friedrichs II. iSohu) uud vuu dessen ,,gigaereu'' und „vidleru'' die Rede 
ist (Ton d. Hsgea a. a. 0. S. 874): 



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Zu nft iieien det Muailnuitonkbmiii. 271. 

bessere, dem Landstreichen und L.indstörzen eben nicht geiieij^'te 
Leute mit Musik ihr Brot zu verdienen Huchteu, thateu sie sich iu 
Dantachland, England vnd Frankreich zu Innungen siiBaminen^dtBren 
Üteata in Dentsehlaad die 128B sa Wien gegrttndete Stlfieolai- 
bmderachaft war. In der Folge aali sieh dieser Verein der Nieolai- 
hrttder, als er in allerlei BedrUngnias gerieth, nach einem mächtigen 
weltlichen Schirmherm nm und Mälilte dazu den Erbknnimerer 
Herrn Peter von Eberstorff, der das Amt 1354 bis 1376 be- 
kleidete und als Vogt der Musikanten" das „oberste Spielprrafenamt" 
errichtete, welche eigenthiimlichc Behiirde durcli vier Jahrhunderte 
in Wien bestand. Da sich allerlei Missbräuche einschlichen, über- 
missig gesteigerte Abgaben gefordert wurden und JnrisdictionB- 
aomaaningen nnterliefen, wurde 1777 das Spielgrafenamt auf Befehl 
der Kaiterin Maria Theresia ▼öllig tefimnirt und endlieh 1782 von 
Kaiser Joseph II. ganz aufgehoben. Eine ähnliche Gerichtsbarkeit 
übten in Deutschland in Folge kaiserlicher Belebnung einzelne Stfidto 
oder Geschlechter, welche dann zur Beaufsichti^nnc^ und Leitung 
der ganzen Pfeiferzuntl eigene ,,Vicario8" oder ,,L()cumtcnente8" be- 
stellten, die man insgemein „Pfeifferkönige" nannte So ist ur- 
kundlich Uberliefert, dass Bruno Herr von Kappoltzstein(Kappoltsteiu) 
„daa kunigreieh rarender Lfite awischen hagenawer ▼orsto und der 
Byrse, dem Ryne nnd der Virst Heintsmann Gerwer dem Piiffer** 
yerlieh. Als Heintzmann in Alter nnd Krankheit seine kSnigliehe 
Würde nicht länger behalten mochte, verliehen Schmassmann und 
Ulrich,Herren zuRappoltstein, kraft des denselben Herren zuRappolt- 
stein, ,,al8 lange das, was nieinant verdenket, zu einem rechten erbe 
leben" gegebenen Rechtes die Stelle d<'s Pfeiferkönigs dem ,,Pfirti'r 
und varenden manne" Henselin. Die darüber ausgestellte Urkunde 
ist vom Jahre 1400 datirt. Der Pfeiferkönig war Meister der Zunft, 
ihm lag ob an sorgen, „dass kein spielmaun, der sei ein pfiffer, 
tmmmenaehlllger, geiger, «nekhenblXser oder was der oder was die 
aonaten für spiel und khurliweil treiben Idiennen, weder in StStten, 

. . . Bold ich ir namen vAreo, 

Die noch vidier hiezen 

Das möht inch wol v«rdriesen 

Ir was öt m6r dun genuok 

Uni triben solbeu uuvuok 

Das im die stete worden gram, 

Dft von er grozen Schaden num " 
1) Gottfried von Vipfnois erzählt, dass zu Beaucaire 1175, als Heinrich II. 
von England eine Vorpanimluugdahinberufen hatte, umdeu Frieden /.wischen 
Aragon und Toulouse zu vermitteki, neben andern Gunstbezeigun^ren gegen 
die anwepotidt ii Trniibiidours und . Jongleurs auch ein gewisser Wilhelm 
Mita zum iv.unig huper histriouea ttuivereoB gekrönt wurden sollte, wozu die 
Orftfin von ürgel eine Krone im Wertibe von 40000 Sols spendete (Dietz, 
Leben und Werke der Troubadours S. 397). Das hatte aber nur die Bedeu- 
tung einer persönlichen Auueichnuug für den Gekrönten. 



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^72 Anlange der europäisch -abendländischen Miuik. 

Dörfern oder Fleckchen, auch gonst ta offenen DeniMn, geeell- 

sclVafilen, gemdnscheflften, schiessen oder anderen khnrliweUen nit 

soll «zugelassen oder ^dnltet werden, er seye dann zuvor in die 
bruderscliaft uff- und angenommen." Die Statuten der Pfeifer im 
Ober- und UnterelsasH (die eben unter den Grafen von Rappoltstcin 
standen) wetzten fest, dass zum Ausüben der Musik in Dörfern ein 
Jahr, iu ötädien zwei Jahre Lehrzeit nöthig waren. Unbefugtes 
Mnsieiren wurde mit einer Oeldbnsse und Confieeation dee Initrn« 
mentes gestraft. Am 16. MSrs 1606 erneuerte Graf Eberhard yon 
Bappoltstein, der als „Geigerkönig" (wie der Titel lautete) belebnt 
war, die Statuten. Der ,, Pfeiferkönig" war nur der Stellvertreter 
des Geigenkönigs and folglich eine untergeordnete Person. Die 
Könige hielten sogar jährlich einen sogenannten „Pfeiffertag", an 
dem sie nebst einem Schultheiss, vier Meistern, zwölf Beisitzern 
(Zwölfern) und einem ,,Weybel" Über Streitigkeiten, Unbill und Un- 
gebühr nach Recht Urtheil sprachen. Im untern Elsass versammelte 
üeli das Pfeifergerieht jSLrlicli am 15. Augaat zu Blsekweller: oft 
an 300 Zonftgenossen kamen, ein Jeder mit einer silbernen Medaille 
geeiert, im Zunfthause „zum Löwen" zusammen. Man haidigte dort 
dem Geigerkönig, doch nur in die Hände des ,,mit dem Ambacht 
des Kunigreichs varender Leute" betrauten Pfeiferkönigs und zahlte 
den jährlichen Beitrag in die Zunftladc ein, nahm neue Mitglieder 
auf u. 8. w. Daun wurden Händel geschlichtet, das Pfeifergericht 
verllängte unter Umständen Geldstrafen bis zu 100 Gulden. Wer 
sich beschwert erachtete, konnte an den Oberherm appelliren. Die 
aShe Lebenskraft alles Zunftwesens, die den Meistersingern ihre 
Ezistena bis auf unsere Tage fristete, bewihrte sieh aneh bei der 
Pfiuferzanft, noch 1838 lebte zu Strassburg hochbetagt das letite 
Zunftmitglied, der Violinist und Orchesterdirektor Frans Lorena 
Ghappuy^). 

In England gab es, wie wir aus einem von Johann von Gaunt 
im Schlosse zu Tutbury am 22. Augiist 1381 ausgestellten Freibriefe 
erfahren, ebenfalls Musikantenkuuige. In dieser Urkunde wird dem 
Könige der Minstrels das Recht ertheilt, alle Minstreis greifen und Tet<- 
haften su lassen, „welche sich weigern sollten die ihnen zu Tutbury 
alle Jahre am Tage der ffimmelfidirt IbriX zukommenden Diensie 
(Service and mimtrdsy) zu leisten." An diesem Tage (16. August) 
wurde nämlich in Tutbuiy über die Musikanten Gericht gehalten 
und dabei der König mit seinen ihm beigegebenen Beamten gewählt, 
denn diese Würden dauerten immer nur ein Jahr. Die Musiker ver- 
sammelten sich im Hause des ,,Bailiff of the manor" und zogen dann 
feierlich in die Kirche, wobei der König, dessen Würde mit dem 
Tage endete, zwischen dem „BailifP* und „Steward** ging. Naeh 

1) Yeigi allgem. Leipz. Mos. Zsitong, Jshigang 1S88 8. 753. 768. 



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Zanliwe8€n des Musikanienihums. 



273 



dem Gottesdienste wurde im Saale des Schlosses der Gerichtstag mit 
Geschworenen pohalteu, welche letzteren aus ihrer Mitte den König 
für das nächste Jahr wählten. Scifort hielt <ler Steward eine An- 
sprache, deren Inhalt im Wesentlichen an Würde und Voi trcftiichkeit 
der lustrumentalmusik eriuuerte, au ihr ehrwürdiges Alter, ihre Macht 
Uber die Gemilther, ihren Bentf Gottes Lob ra yerkttnden, und 
welche mit der Ermahnung schloM, Ehrbarkeit und guten Ruf su 
bewahren. Dann wurden Streitigkeiten geschlichtet, Geldstrafen 
vwrhän^'^t n. s. w.^) Zu Beverley in Yorkshire bildeten die Miiistrels 
von Altcrsher eine eigene Brüderschaft^). Bei so strenger Zucht 
wurden die Musikanten und IMVifer meistens auch ganz ehrhare 
Leute, die sich auch durch Kunstierti;:keit auszuzeichnen suchten. 
Die Limburger Chronik berichtet zun» .Jahre 1360: ,,auch liat es sich 
also verwandelt mit dem pfeyfienspicl und hatten aufgestigen in der 
Muüea, das die nicht also gut war bishero, als nun angangen ist, 
dann wer yor fünf oder sechs Jahren ein guter pfeyiTer war im Lande, 
der dauchte jhn jtxund ein slichten." Aber der Familienzag, dass 
die Instrumentalmusiker von Jongleurs und Landstreichern ab- 
stammten, verlor sich doch nicht so ganz und blieb noch tief in's 
16. Jahrhundert hinein keiiiitlirh, Virgil Hang sagt in der Vorrede 
seiner Erotemata ( 1545) oliiic Weiteres: Instrumentalist und Parasit 
und Öchalksnarr sei so ziemlich ein und dasselbe^)- 

In Frankreich bildete sich 1330 die Confrerie de S. Julien des 
menestrien. Bekanntlich hatte jede Brflderschaft ihren König, sogar 
die Bettler ihren roi Fäaud, an dessen Hofe, nach dem Spriehworte, 
Jedermann den Herrn qiielte. Die Minstreis unterwarfen sich denn 
auch ihrem Roy des menesfriers (rex mimsteUrum bei du Gange), 
spÄter roi de Violonft genannt. S('lif)ii 1295 war unter lMiili]»j> dem 
Schönen ein gewisser Jean ("liarmillon durch einen königlichen 
Brief zum Vorsteher der ^rnnzen Musikantenzunft ernannt. Ein snldior 
Geigerköuig dug ijüiuc .Mandate hochtönend genug au, wie z. B. iiu 



1) Hawkins, SBst. of M. 8. Bd. 8. 64 u. fjor. 

2) History ofdomestio mannen and Sentiracnt s in England. By Thomas 

"Wriixlit E«<|. 8. 192. Diese BrOdersehaft ..was of eome conpidoration and 
wealth lu thc reig^ of Henry VI; when the church ä. Marj n in tliat Iowa was 
built, fbr the minsirels gave a pillar to it on the capital of w liich a band of 
minstrelswoTCSCulptured." Siestt-lu inhrerfüuf, gut gekleidet, nt heneinander 
und musizireu auf einer Lan^tiötu, Laute, einer rieseuhafteu BassÜöte, Geige 
und (der letzte) auf einer Pfeife und Trommel. Ihre Beamten waren ean Alder- 
man und zwei Stewards oder Soers (d. i. Searchers). In ihren Gesetzen (a 
copy of laws of the time of Philip and Mary) heisst es unter anderm: „no 
mvlner, shepherd, or of other instrument, shall sue (follow) auy weddiuK, or 
otlier ihing that pertaineth to the seid scienoe, eaoq>t in hie own panth." 

3) . . . ineptaloB quoadam cantores, magna vero ex parte WM^ri^mptN 
tario» saepe stipis unius causa, sese non hiigus artis tantum soiolos, sed 
et narasitos potiua ac ludiones et, qnod toipius est, etism morionss quasi 
ezmbsm (Virg. Hang, Erotem. mna.) 

Ambret, «tMhMils dM MtNllL II. 18 



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374 Die Anfibig» der europaiech-abeadUndiichen Musik. 



.Jjiliro 1338: „Je, Robert Caveron, Roy des menestreuls du royaunie 
de France." Von der weiteren Reihenfolge dieser Regenten wissen 
wir nur, dass 1630 die Krone an dnen gewissen Dnmanoir I. kam, 
welchem ein Dnmanoir II. folgte, dessen Regierung eine Epoche 

heftiger Unrulicn wurde^). Endlich machte ein königliches Dekret 
vom 31. März dem ganzen Kniiiirthum der Geiger ein Ende, da es 
damit noch weniger su bedeuten hatte als mit dem Reiche des Königs 

1) Dieser Wilhelm Damanoir II. hatte den Einfall eino vom 1<>. Juni 
1693 datirie Sentence de Police zu erwirkeu^ wonach alle Orj^elniei^teri Cla- 
viermeister n. s. w. gehalten sem tollten sich m die ConfMrie einzukaufen. In 
Folge dessen entstand zwischen dem freien Künstlerthume und dem frezünfte» 
ten Knnsthandwerkr f'rt'ilich ein Ix'ftijjer ConHikt, btn welchem Könij^Duma- 
noir iL, der Selbstherrscher aller Musiker werden wollte, sehr energisch auf 
die Wahrheit aufmerksam gemacht wurde, das« sich Zeiten, Sitten und An- 
gichten seit dem 14. Säculum etwas gciliidcrt. Franz Couperin, der treffliche 
Orgel- und Clavierspieler, anpellirte mit mehren Kunstgenoasen, Nivera, 
le B^gfue n. «. w., firefi^en den PoliseibefeU. Dumanoir replidrte, „dass 
selbst der grosse Lully „ayant (5t<5 violon de la prande bände du roy" sich 
habe fügen müssen. Mit uichten, duplizirtcn die Künstler, der grosse Lully 
habe vielmehr die Confri-res für „maistres aliborons" und „maistres ignu- 
rants" erkl&rt, er hshe seine Kunst bei den Sieurs Metru und Roberdet und 
Ciiga'ilt, Organisten von Si. Nicolas des Champs. erlernt u. s. w. Ein Sj)rui-h 
des i'ariameuta, vom 7. Mai 1695 entschied endlich den Streit in einer 
Weise, die, wie es soheint^ Dumanoir II. bewog, der Krone noch in dem- 
selben Jahre zu entsagen und vom Throne zu steigen, der jetzt bis zum 
Jahre 1741 erledigt blieb. Die Coufrerie gab aber ihre einmal angeregten 
Interessen nicht so leicht auf Ludwig XlV. brauchte Geld zur Fflhrong 
des spanischen SuccesHionskrieges. Die Confn-rie von St. Julien erbot sich 
2"2()<)(> Fnvncs für das Recht zu zahlen, alle Musikmei.ster ihrer Jurisdiction 
uuLerweilen zu dürfen (de soumettre ä sa Jurisdiction les maltres de clave- 
ein, de dessus et hasse de viele, de theorbe, de luth, de guitarc et de flftte 
allemande). Die angebotene Summe war nuid, durch ein Patent (lettres- 
patentes) vum ö. April 1707 wurde allen Musikern bei Strai'e von vier- 
hundert layrec untersagt Muriklektionen sn Hause oder in der Stadt su 
geben, che sie sich nicht als Tanziii rister (maitres Ä danser) in die Con- 
trerie eingekauft. Natürlich protestirteu die Künstler auf dos energischeste, 
80 dass das Patent zurückgenommen und mit einem anderen Patent vom 
25. Juni den Musiklehrem und Musikern das Recht der freien Ausübung 
ihrer Kunst gesichert wurde. Von einer Zurückstellung der 22000 Franc 
war weiter keine Rede, man bestätigte dafür der Confrörie ihre bisherigen 
Beohte, die ohnehin kein Mensch angefochten halle. Trots all* dieser unan- 
genehmen Erfahrungen Hess es sich der letzte Gcigerk^^nig, der den orainf^sen 
Kamen Guignon führte und wenigstens das Verdienst hatte wirklich ein 
ausgezeichneter Geiger zu sein, nachdem er durch ein Dekret Ludwigs XV. 
vom 15. Juni 1741 in seiner Würde bestätigt worden war, einfallen, die 
Musiker Frankreichs als Unterthanen behandeln zu wollen, und liess 1747 
in diesem Sinne ein neues Reglement ausgehen. Die Pariser Organisten 
Daquin, Calviöres, ArmandJiOuis Couperin, beide Forqueray, beide Cleram- 
b;\iilt und Marchand empörten sich gegen diese Anniassung und Guignon 
wurde durch einen Parlamentaspmch vom 30. Mai 1750 in die gebührenden 
Grenzen gewiesen. Die erlittene Niederiage benahm dem KOmga Guignon 
alle Lust zu weiteren ähnlichen Versuchen, indessen führte er das Regiment 
bis zum 3. Februar 1773, wo auch er wie sein königlioher Vorgänger Duma- 
noir II. resiguirte. 



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DttVolkdiid. 



275 



Pötaud. Die MitgHc 1er der Pariser 0'>nfr(^rie hiesscii anfangs Coin- 
paguona Jongleurs, Meaostrierd, spStor nach einer von Karl VI. im 
Jahre 1401 bettfttigtea Neugestaltung der Gesellschaft memiMs, 
jmmm d^imtf%mM$ taut koMi p^t bas. Die Gesellschaft bewohnte 
die nie de St Julien des menestriers, ganz nach Art der Innungen, 
die ganie Gassen einnahmen, wie die Tuch machorgas gen, Tischler- 
gassen, Eisensassen u. 8, w. unserer altcu Städte bis heut in Erin- 
nerung^ haltpii. Wer Eisenwaareii benothigto, f^in^ in die nie de la 
forronorie, und wer zu einer Hocli/eit oder sonst Mu^ik nötliij^ hatte, 
machte seine Bestellungen in der rue Öt. Julien. Das Portal der dort 
befindliehen Kirche St. Julian der Minstreis {St JiUieu des menetriers) 
Uess ein gewisser Colin Mnset, der sich vom Anfachen Jongleur in 
einem Hanne von Ansehen and Vermögen emporgearbe itet hatte, mit 
Statuen aussehmUcken. Eine davon, eine geigenspielen de Figur in 
Talar und Barett, gilt für sein eigenes Bild^). 



Bas VolksUsd und die Mualk der gelatUohen Bohanspiel«. 

Das Volk san^ seine eij^enen Lieder. Die kunstlosen Worte 
der Dichtung, oft naiv uiul licr/lich, oft schalkhaft, znw»'ilen derb, 
wurden wohl einer gangbj^ren Kuubtpt'eiiermelodie untergelegt, oder 
es wurde umgekehrt eine neue beUehte Melodie von den Kunst- 
pfeifem in ihr Kepertoir au^nommen, wie die Limburger Chronik 
snm Jahre 1351 berichtet, wo man in Deutsehland ein Lied sang: 
„das war gemein zu pfeiffen und in trommeten und zu allen Freuden." 
Dieselbe Limhurger Chronik erzShlt zum Jahre 1374 von einem mit 
dem Aussatze behafteten Barrdssennönch, der vi<'le Lieder eidadito 
„und was er sang, das sungen die Leute alle gern, und alle Meister 
pfiffen und andere Spielleut fürten den Gesang und das CM-dicht." 
Es klingt rührend, wenn wir die Worte des Unglücklichen hüreu: 

Mai, Mai, Mai, 

Du wonnigliche Zeit 

Menniglieher Freu.lf ^reit 
Ohne mir, wer meinte das? 

oder: 

Mau weist mich Armen vor die Thflr 

Untreu ich spflr 
Zu allen Zeiten. 



1) Bei Jubinal sind Verse oitirt, in denen sich Colin Mußtet über 
einen Vornehmen beklagt: 

Sire quens, j'ai vielö 
Devant yos en vostre ostel 

Si ne m'avez riens ddim^ 
Ufe me gages acquiter. 



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276 



Di« AnfiUige der eim)pÜSGh>ab6ndli]idiiobeii Muik. 



Die Limburger Chronik meint : „und was das alles lustiglich zu hören.** 
Vom VolksUede weiss man nicht immer, wie hier, sn sagen, woher 
es gekommen sd. Es gleicht der Feldblome, die am Morgen in stiller 
Lieblichkeit, in anmuthiger Einfalt aufgeblüht dasteht, und niemand 

webs zu sapon, wer sie gepflanzt hat. Zuweilen ist es wohl irgend ein 
fahrender Geiger oder Pfeifer, ein Ilanrlwerksbursch, ein Soldat u. s.w., 
der eine neue Weise erdenkt; was er erdacht hat wird nachgesungen, 
dabei aber macht sich das Volk einzelne Wendungen des Textes der 
Melodie mundgerecht nach seiner Art uud seinem Geschmacke, das 
game Volk eomponirt daran, bis sich endlich ^e bestimmte Grestalt 
des neuen Oesanges feststellt, die dann freilich auch Jahrhunderte lang 
eine unyerwUstliche Lebenskraft zeigen kann. Der Charakter eines 
Volkes drückt sich daher auch kaom irgendwo so deuUich (uud meist 
so anspreoliend) aus als in seinen Liedern^). Aus manchen Liedern 
dagegen, wie aus dem „Praesulem sanctissimum veneremur", guckt 
echter Mönchshumor heraus; wir dürfen sie als Klosterproducto 
gelten lassen, tolle Seq^ueozen bacchischer Art^). Das Volk lachte 
und sang sie nach. 

In der Geschichte der earopEisch-abendlXndisehen 
Masik ist das Volkslied ▼on hSchster Wichtigkeit, es 
bildet neben dem Gregorianischen Gesänge die iweite 
Hauptmacht'). Es war der unersehttpfUche Hort, dem 



1) Sehr Wahres sagt über diesen Punkt August Reisnnann in seinem 
Bache: Das dentaohe Lied in seiner histohMhen Entwidnlnng 8. 87. 

9) Aach sogar die Melodie: 

(Ans Forster'B „das andern theyls vilor kurtzweiliii^cr frisoher Teatscber 
Liedlein o. a. w. Nürnberg MDLXV.) 

Prae • sn - lern sano-tis • si - mum Te-no*re • •> - mar 

Dieser solennen Intonation schliesst sich an: „Gaadeamus, wöUen wir 
nach Gras f^nn, Hollcrey o, so singen yns die TÖgelein o. s. w.^ Dagegen 

hftiifrt Ii' ^tcistff im Quodlibet (No. 90 der geistl. und weltl. teutschen 
Gesäuge ir)»U)) das Lied an: „so trinken wir alle diesen wein mit sthalle". 
Eine kecku Parodie des Ritual j,'esanges ist das „vitrum nostrum gloriosum'' 
bei Forster a. a. 0. No. LV 

3) Viel zu wenipr ist dii-s«« Wahrheit bisher benlrksichtigt worden. Die 
Geschichte der Musik war bisher zu sehr eiue ,Xle8chichte der coutrapuncti- 
eohen Polyphonie**. Mnm nicht, wer s. B. bei Kieseweiter Belehmng sacht, 
des Glaubens werden, als habe vor IGOO gar keine Melodie existirt? Daas 
italienische Geschmäckler, wie Arteaga, den Volksgesanf? tief verachteten, 
ist ganz natürlich; auch in Frankreich hat die officielle mit Boileau's 
Perrücke gekrönte Aesthetik nie viel Sinn für dergleichen gehabt. Andere 
ist es (jetzt wenigstens) in Deutschland, wo Herder mit seinen ^Stimmeu 
der Völker", wo des „Knaben Wunderhoru" u. s. w. bewiesen hat, dass 



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I)aa Volkslied. 



277 



die grOsMBten Meister des Tonsatzes die Melodien ent- 
nahmen, welche sie nicht blos weltlich zu kunstvollen 
mehrstimmigen Liedern umbildeten, sondern auf wflche 
sie selbst geistliche Tonstücke der grossesten und 
ernstesten Art, ganze Messen u. s. w. aufbaneten. Es ist be- 
kannt, dass vom letzten Viertel des 14. Jahrhunderts anfangend bis 
in dai 17. Jalirlinndert hinein jede Hesse (die wenigen ^fMiesae tine 
wmM* als seltene Ansnahmen abgereclinet) einen eigenen Namen 
nach dem sn Grande gelegten Motiv hatte, wobei die writlichen 
Liedern entnommenen Titel ebenso häufig sind alB die von Anti- 
pkonen oder Hymnen herrührenden. Was die grossen Meister dazu 
bewog, war nicht Armuth an Erfindunj^skraft. Der Umstand, dass 
siel» in den Anlangen der Harmonie (dem Organum, dem späteren 
D^^chant) die zweite Stimme immer einem gegebenen Gesänge, einer 
ritualmässigen Melodie der ersten Stimme gesellte, hatte daran ge- 
wOhntdaaGnindmotiv, den „Tenor", dnes mehrstimmigen Tonsaties 
immer als einen dem Componisten gegebenen An8gang»>nnd Anhalts- 
punkt ansusehen, welchen er bald einem Yolksliede, bald einer Anti- 
phone n. 8. w. entnahm. Für die Tonsetzer war, wenn sie ein 
Lied u. 8. w. unverändert als Tenor verwendeten und es in ein kunst- 
reiches Stimmengeflecht einwoben, dieses fremde Motiv nicht Mehr, 
als was für das Gyps- oder Thonmodell des Bildhauers das innere, 
den Kern bildende Holzgerüstc Lbt, welches hinter der darüber ge- 
formten Götter- oder Heldengestalt versteekt bleibt, ob es gleich das 
Ganse nisammenhlQt. Wo aber das HotiT anch in den anderen 
Stimmen sn Tage trat, den Tonsats in thematischer Arbeit beherrsdite, 
da nahmen es die Heuter so unbefangen, wie der Prediger den Text, 
über den er predigen will, der Bibel entnimmt, wie der Künstler sich 
das freistehende Naturprodukt zueignet, um durch sein Zuthnn dar^ 
aus etwas ganz Neues, Eigenes zu schaffen. 

Das Volkslied geht von Mund zu Mund und strömt im Gesänge 
hin ; das Volk selbst denkt nicht daran seine Lieblingsweisen in Noten- 
seichen sn fiziren. Aber sn allen Zeiten haben sieh Sammler nnd 
Anfiieichner daftlr gefunden. Zu den tttesten Anfeeichnungen dieser 
Art gehttren deutsche Volksliederweisen, welche dem munkalischen 
Lehrcompendium doi H. de Zeelandia (erste Hälfte des 15. Jahr> 
hunderte) in der Prager UniTersitätsbibliotheki^) beigegeben sind: 





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Poesie Poesie bleibt, auch wenn sie nicht von einem von Pfalzgrafenband 
ereirten und gekrönten .kaiseriioben Poeten** herrnfart. 
1) Sign. XL B. 9. 



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278 Di« Anfänge der europ&iBch-abeodUndischen Musik. 





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ddO iMe Anflbige dar eoropAiMh-ftbendlindifclMii I^Mik 
Tor aller Welt. 



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Aus derselben Zeit stammt ein Liod in einem Codex aus dem 
Stirt(> St. BlMien, der sich jetzt in der Bibliothek su Oarlsruhe 
bedudet: 

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ün*liift det diob grüsaen, din Hb und ooh diu gnL 
Wü-tii mir ge -&l-lea ker mir den m-kea hl 



Kunweil kuist mir bil - mh, Ter-tret-ben frOd and mnt, mit dem 



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glimpf den dn «ol «eiii dn frentt miek de • kb-ten el - ler^ 



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meist die Zn • knnft bringt mir lib nnd le • ben. 

Alle diese Melodien sind altdeutsch treuherzig und dnhei etwas 
ungeschlacht; die Züge aber, welche das deutsche Volks lied bis auf 
die neueste Zeit behalten hat, sind darin nicht zu verkenn en, wie 
man im Bttdniss des IXngst begrabenen Abnkwm den FamiUensng 
seiner noeh lebenden Umrenkel heransfinden mag. Verwandte 
Melodien nun derselben Zeit enthält der Codex No. 2856, und die 
Liederhaudschrift aus Lambach CSod« No. 4696, beide in der Wiener 
Üof bibliothek n. a. 



1) Im Original sind die Noten alle ohne Unterschied rautenfö rmigeSemi- 
breren. Aber die Zu8ammcnhultiui<jr mit der natürlichen Decla matten des 
Textes (bei Volksliedern entsclieidi-ml ! i lehrt zweifellos, dass die Noten un- 
möglicbaUegleichlanggesttugeu werden konnten, und dass sich der Schreiberi 
d«r die Melodie anftebite. danraf Terliess, der Sftnger werde die reditai 
Quantitäten nach jener uniehlbarenRidhtsdinur zu finden wissen, üeber den 
Codex N. 285<) sehe man Hoffmaun's von FalI<'rsle)H'n ..Verzoichniss der alt- 
deutschen Huudächiiiieu der k. k. Xlofüiühothck m Wien", S. 243 u. 8. w. 



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Bm VdUnUed. 



S81 



Eine grosse Zahl deatseher, körnigeri aber schon weit feiner 
belebter, winaeror, herdicher Volkslieder, welehe in der Zeit 
Bwischen etwa 1480 und 1550 eben beliebt waven, ist in den tlleh- 
tigen, konstieiehen Bearbotongen derselben dnrdi die Meister der 
damiülgen Schule deutscher Tonsetzer erhalten, zu welcher MKnner 
zählten wie Heinrich Finck, Stephan Malm, Lorenz Lomlin, Hein- 
rich Isaak und andere. Neben solchen Meistern waren auch die 
LantenisttMi bedacht tür ihr Publicum beliebte Volksweisen in 
Lautentabulatur zu bringen, und die Organisten dergleichen auf 
ihrem grussartigen Instrumente zu allgemeiner Belustigung uud Er- 
bauung hören au lassen. Wir haben das Volkslied Torhin eine 
Wiesen- und Waldblume genannt, hier wurde nun die Wiesenblume 
in den Kunstgarteu der höheren Musik verpflanzt : sie entfaltete sich 
hier zu Bifiten Ton oft wunderbarer Pracht und Fülle, aber oft 
entartete sie auch zu einem wunderlich gefüllten und iiberrdllten 
Gewächse. Zuweilen gesellte sicli der beibehaltenen Melodie eben nur 
eine zweite Stimme, wie in der zweistimmigen Bearbeitung des be- 
liebten Volksliedes ,,ach Elslein, liebes Elslein*' von einem ungenann- 
ten Meister j ener Schule, wo der in geradem Takte gesetiten sentimen- 
talen Volksweise eine bewegtere in ungeradem Takt (welehe selbst 
wieder nichts als die rhythmische Umgestaltung der andern, und, nach 
einer Composition L. Benfl's zu schlicssen, die eigentliche Urmelodie 
ist), mit wirklich grosser Oeschicklichkeit entgegengestellt wird: 

(Bicbia gallica, Istlna et germanica et quaedam fugae. Tomi dno. Vite- 
bergae, apnd Oemg. Bhaw. 1546. IL Tbl. No. XdX.) 

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hie Anfänge der europäisch -abendländischen Musik. 



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Gerade diese in ihrer Einfachheit ioaiiBpreeheiide Melodie^) ^bt »bor 

ein Beispiel, wie die Volksweisen wohl auch ganz willkürlich umge- 
modelt wurden. Der Lautenist TTans Judenkunig von Schwäbisch- 
Gmüud hat in sein 1523 zu Wien gedrucktes Lantenbuch auch das 
„liebe Elslein" aufgenommen, man sehe selbst, in welcher Gestalt: 

Elslein, liebes Elslein. (Hans Judenkunig, Lautenstack.) 



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1) Auch bei Becker (Lieder und Weisen vergangener Jahrhunderte 
2. Abth. S. 8, nacli Hans Ncwsiedlcr Ijautcnbuch). Eine schöne Bearbeitung 
(nAeb der Fassung im ungeraden Takt), von Ludwig Senfl in „Der erst 
teil: Hundert vnd ainiindsweinzig newe iieder, Ton bertmkten dMaer knut 
geaetst, lut^ ga Bingen, vnd anfF ailerkj Xnatromeni dienrtlich, Twmals 



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Bm Volkslied. 



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ffier ift die ursprüngliche Melodie kaum noch herauszuhören. In 
Khnliek blnkelBSngerhaft fSlpiseher Weise macht der ehrliche Hans 
noch ▼enehiedeiie andere (auch anderweitig ▼orkommende) Volks- 
lieder zurecht: f^nag ich Unglück nit widerstehn", „wo sol ich mich 
hinkeren (ich tammes BrUderlein)" f,wo! kuTnbtder mai*', „ich bin ihr 
lang zeit hold gewesen", ,,nerri8ch sein ist mein manier" u. s. w. Wenn 
der Lautenist bedacht war das Volkslied für seine Laute handgerecht 
zuzustutzen, so war der Organist bemüht ihm etwas Gelehrsamkeit 
und einigen Contrapunkt beizubringen, es zu figurimi, /u fugiren 
und sonst ma niisshandehi. Wer möchte i. B. in folgendem Orgel- 
sata ans Ammeibach*s Tahnlatiirbneh noch eine Volksweise, das Lied 
„ich armes Megdlein klag mieh sehr**i), wieder erkennen? 

Ich armes Megdlein klag mich sehr. Orgelst flck von S. Ammerbaeh. 



dergleichen im Bmck nye aussgangen**. Nflmberg 1684 bei H. Form» 
Schneider. Das Lied ist die 37. Nummer dieser kostbaren Sammlung. 

1) Ei ne gute vierstimmige Bearbeitung vuu Seufl bei Forster 3. Theil 
No. UXI and Othmayr Ko. ZXXn. 



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884 Die Anfibage der europäisoh^abendUndisohen Musik. 





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(Druckfehler im OrijfinalV) 





II. ^ w. 



— _ p — — 9 



Besser als bei den Lauteuisten und Organisten befand sieh die 
Volksmelodie bei den Meistern des Vocalsatses, welche nicht auf 
die Technik eines Instrumentes Rtteksicht su nehmen hstlen. Doch 
entging sie aneh hier nieht immer dem Lose, umgemodelt, ausge- 
dehnt, yerktbst zu werden, wenn es der Tonsatz erheischte, beson- 
ders wenn canonische Nachahmungen u. dergl. eingewebt werden 
Hüllten, z. B. die VolkHweise „entlaubet ist der walde"^) erseheint 
in ursprünglicher Form also: 

(Nach demTenorder Bearbeitung von G.Othmnyr. beiFontflv8.Theil Xo V.) 



Ent-lau-bet ist der wal-de gen die-seuwin 
Be-rsa-betwerdidi bal-demeinsKebsdasmaoht 



ter kalt 
miehalt 



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dass ich cUe schön mnasmei - den diemirge-fal 

tatbriogtmirmangial-tigleidenmaGhtmireiuschwe • • renmut.^) 
1) Mm sehe wuh Beoker a. a. 0. S. Ahtfa. a 9, wo die Mtlodie nach 



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Daa Volkslied. 



285 



Diese Weibe benützt nun ein ebenfalls nicht genannter Coiii|iotiiht 
in 6. Bhaa't Bieuiien (1545) zu einem Duo, welchei dcb bald in 
strengeren, bald in freieren Nacbabmnngen bewegt; wie natürlicb 
muM dcb die Melodie diesem Zwecke mannigfacb anbequemen: 



BIcInIa 9. Iliea No. XdlL 




Eiit-lan - ))('t ist tlrr wul - tlc, 
Be - rau- liut werdich bal - de, 



gen 
mein 



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Ent-lan-bct ist der wal 
Be - ran-bet o. s. w. 



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ge-lU 



ge • fd - len 



Ibtns Ncwsicdlcr's Lautenbuch (im Kinzelucu mit abwcicheuden Wen- 
düngen) aufgcnommeD ist Bine yierstinunige Bearbeitung von Thomas 
Stoltzer (N. LXI in G. Förster'» ,,Aussbiiiid schöner tentsdiler Idsdlein" 
\» Theil) werden wir weiterhin kennen lernen. 



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286 Die Anflliig« der eoropäiMh-alMBdliDdiaolieii Münk 

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schweren mui. 



Andere Liederinelodien aber kann man im Tenor des daraus 
gebildeten mehrstiniuiigen batzes so wohlerhalten tinden und so rein 
herauslösen wie den Kern aus dem umgebenden Fleische eiuer 
Fmcbt In minder glücklichen FXllen kannten freilich die elao con- 
servirten Volksweisen an jXmmerlieh umgekommene, in stiie Bern- 
steinmasse eingebackene Insekten erinnern. Wie die Weisen «Ue 
Beachtung des Musikers, so verdienen die Texte die Beachtung des 
Literarhistorikers in linlicin Grade. Man Bndet einzelne davon auch 
ohne Musik in alten Liedersammlungen, z. B. in dem merkwürdigen 
ambraser LiederbuchcM ; ein Beweis ihrer Popularität. Der deut- 
sche Volksgeist blickt mit treueUi blauen Augen heraus; wer das 
deutsche Volk lieb gewinnen, wer alle Poesie und Herzenstiefe 
kennen lernen will, idlen guten Humor, alle Liebe und Treue, die 
in ihm leben, der bescbXftige sich mit diesen Blttten seiner eigen* 
Sten Dichtung! 

Es ist kein Zweifel, dass das Herüberholen der frischen, leben- 
digen VolkswfMson in die künstliche Contrapunktik auf diese auBser- 
ordentlich wohltliiitig eingewirkt hat. Ks brachte ein volksthiimliches 
Element von unverwüstlicher Lebenskraft, ein Stück Volksleben in 
diese Sätze, die ausserdem nur gar zu leicht todte Ilecheuexcmj>el 



1) Es bildet den 12. Band der Pnblioationen der Stuttgarter Oesellsohafi. 



Das Volkslied. 



287 



geblieben wXren. So sprosMt selbst ^e Oontrapuuktik jeuer Zeit 
aus krXftigem Boden auf: sie war gleich der Dichtkunst, Ifalerd, 
Baukunst jener Zeiten wesentlieh national, sie kam aas dem Volke 

und war Ahr das Volk bestimmt. Die contrapunktirenden Gegen- 
stimmen, hinströmende Melodien, waren, wie begreiflich, eben auch 
im Sinne der ( Jriindinolodio crrnndon, oft doron Naclialiinting'. 
Hätten die Mri>ti'r ;,''l(MC'h vun Hause aus auch ihre Thenicu frei er- 
funden, so würden sie dem Vülkejedeufalls fremd gegenübergcHtauden 
haben; so aber erkannte das Volk in diesen Bietzen sein eigeuätes 
Gat, das die Kunst entlehnt hatte, um es ihm bereichert, veredelt, zu 
höherem geistigen Lehen geweckt wiedenngeben. Der Gregoria» 
nische Gesang und das Volkslied waren sichere Führer und bewahrten 
die Kunst vor der Gefahr sich in's Ziel- und Bodenlose zu verlieren 

Nicht minder wichtig ftlr die Kutis( als das deutsche Volks- 
lied wurde das n i e d o r 1 ä u d 1 s ch e und französische, ja in jre 
wisseui Sinne noch wichtiger, denn weit früher als in Deutschland 
übte sich in den Niederlanden die coutrapuuktische Satzkunst an 
diesen Melodien. Ein geübter Blick, eine geschickte Hand kann 
auch hier die Urgcstalt des YolksUedes oft genug aus den Ver- 
schlingungen der contrapunktiBch yerwebten Stimmen herausfinden, 
besonders bei den ilteren Meistern (Busnois u. A.), wo es unver- 
ändert oder nur wenig ▼erttndert als Tenor dient. In anderen Fallen 
bleiben dagegen eben nur noch die thematischen Grund züge kennt- 
lich, und da manche Lieder, wie gewisse Volkslieder, wie forsca- 
lerne ni , petite Camiuseite, nialheiir me bat, le ServUeur u. a., von 
▼ortretBichen und von guten, wie von mittleren und geringen 'I'on- 
selzem wiederholt bearbeitet worden sind, so ist es sehr interessant 
in den verschiedenen Compositionen die übereinstimmenden ZQge 
aufzusuchen und daraus die Volksweise zu reconstmiren. Eines 
der allerbcrUhmtesten und «ältesten Lieder (denn schon im 14. Jahr- 
hundert dient es als beliebtes .Motiv) ist das Lied vom ,, Bewaffneten 
>rann" [ramme arme), über welches eine Messe geschrieben zu 
hal)eu hernach fast als das niclit zu umgehende. Prtdiestiick eines * 
Meisters galt. Der berühmte Lciuer und Schriftsteller J o h a n n es 
Tinctoris, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lebte, 
hat es uns in seinem PtoportionaU betitelten Bnehe in seiner Ur- 
gestalt nebst Text erhalten: 

1) Sehr wahr sagt Otto Kadc (Matth, le Maistre S. 74): „lu der un« 
vertilgbaren und nnTerwfiRfcliohen Macht dieses weltlichen, wesenÜich melo- 
dischen Schatzes liegt nicht minder als in seinem (legcnstücke, dem Orego» 
rianischen Kirchenpfefancre, ein Feld der For-^clmriff vor, das bei pfründlicli^M* 
Aupilanzung ganz aus^crordeuthcliu Resultat«' liotVrn dürfte." Einen Scliatz 
von Liedermelodien aus dem 16., 17. und IS. Jahrh (nach den besten 
Quellen redigirt) entliiilt d iR scImii mehrfach rrwahnte Werk ,, Lieder und 
Weisen vergangener Jahrhunderte" von G. F. Becker (Lepzig 1853). 
l^reilifih isl es nur ein sehr kleiner Theil des Vorhandenen t 



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288 



Die Anftnge der europäisch-abendländischen Musik. 



l ouime, . Tomme, Tomm' armö et Kobinet 



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ta m'ae 1« mort domtA quad ta t*eiiTM 



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Eine anden idir bekannte Weise dee 15. Jalidrandeiti ifir 

des Lied „Le Ser\'itenx*S dessen aucb schon Tinctoris erwümt; 
femer die Lieder ,Je nay deul, comme femme, de tons biens, en 
l'ombre d'un buissonet," und viele andere, die in allerlei Bearbei- 
tungen und insbesondere in den im Jahre 1503 von Petnicci her- 
aupgcgoluMien Canti cento cinquanta anzutreffen sind. Die nieder- 
läudisclicu Lieder sind leichter, belebter als die gleichzeitigeu 
deatsehen. H. de Zeelandia, einer der frOliesten lüederlSndisdien 
Gontrapnnetisten, hat mehrere niederlXn^Usehe Volkslieder theOs mit 
ylaemischem, Ihdls mit fransOsisehem Texte bearbeitet, eines 

1) T. Martini (Saggio di Ooatrap. S. 129) hielt es für ein prorenga- 
lisohes Lied: „ona oetta esnnme firoraunle. detta Vhommt armi, il quäle 

servl di soggetto per comporvi sopra una Messa etc." Burney (liist. of 
mus. 2. Bd. 8. 493) bemerkt dazu: „but though I have t&ken great pains, 
both by enquiry and reading, to find the words to whioh tbi» old melody 
lued to be'sung, yet I have never bct-ii successful. Nothing, howewer, 
has appeared to me more probable, than that this is the faraous Cantilena 
ßolandi, or air to the song whioh the French armed Champion used to 
sing at the head of the amyi in honour of their Hero Roland, in advan- 
cing to attack an oncmy." Bumey's Vermuthung war. wie mau sieht, 
unbegründet: der Ommo arm6 ist nichts weniger als das Kulanditlied oder 
ein SflUachtgesang, vielmehr ein Liebedied, die alte Geschichte der Didone 
abbandonata in iioucr Fassung. Kiesewetter ])riiiprt die I\Iel(ulie in seiner 
Geschidite des weltlichen Gesanges in etwas anderer Gestalt, mit welcher 
der Tenor der ymehiedenen Uber dieses Lied oomponirten Messen von 
Jotqnin, Paugues, Dufay, Carontis u. s. w. so völlig übereinstimmend zn- 
sammcntrifilt , dass diese Redaction der Melodie jedenfalls verbreiteter 
war als die von Tinctoris mitgetheilte: 



^^^^^^^ 



7BZM. 



2 



Tomme l'onune Tomm' armö 



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Bm Volkalied. 



289 



davon ,fim Mtf/akt dai tte werbe gael^ (als Dao gesetst) IXsst in der 
Obentimme den wohlgemuthen Gang der Volkamelodie deutlich 
erkennen« 




Noch leichtfüsHiger und leiclitblütigcr sind die französischen 
Lieder, welche den Zug, den die iranzÖHiBche Ournsan hin auf 
den heutigen Tag bewahrt hat, lo deutlich erkennen laasen, wie 
die deutidien Lieder den deutschen. ELiesewetter^) hat swei der 
Slteaten Lieder ans dem Tenor sweier Compodtionen von Anton 
Bumois (um 1467 — 1480) reeonatmirt: 

Dieuqml ma-ii - a - ge — 



4^ rf-frrg^^-r^^^^ 



Mainies femmet — - 




Aus der zweiten Melodie klingt eine atarke Beminiaeens an den 

4mfne arme heraus. 

Wie das liederreiche Wesen die Kunst gefördert habe, das hat 
schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts Johann de Muris mit wohl- 
gefälliger Verwunderung bemerkt, and Johann de Muris war doch, 
waa SU bemerken ist, ein grosser Theoretiker, ein profonder Gelehrter 
der Sorbonne. ,3>öe gar feine Sache,** sagt er, ,4Bt die Musik ge- 
worden durch die Uebung der Neueren und zwar nicht allein der 
Gelehrten, welche sie durch allerlei Hilfsmittel und eigene Erfahrung 
etndieren, sondern selbst auch des gemeinen Volkes; insbesondere 



1) Schicksale and Beschaffenheit des weltlichen Oesauget. 
Asibfot, OMBkUMs ist Mnik. IL 19 



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290 



Die Anftnge der eoroplieoli-abendläpditehea Miuik. 



ftlblen sich junge Leute und Weiber dazu ang:otneben, ich weiss 
nicht durch was anderes, als natürliche Anlage ^).** 

In Italien bat das Volkslied niemals die Bedeutung gebabt, wie 
in den Niederlanden, in Frankreidi nnd in Dentscbland. Dennoeb 
werden wir sehen, wie die sogenannten Vilancllc, Strambotti und 
Frottolo, sobald diu Kunstinusik sie in ihr Gebiet herüberzuziehen 
aniintr, aiit die allmälifjeUmj^estaltung des schweren feierlichen Styles 
der letztem eingewirkt und den Uebergang von der Motette zum 
Madrigal vermittelt hat. Spuren celit italit'nischen Volksgesangcs 
sind in solchen Compositioneu der grossen Meister deutlich zu er- 
kennen, wie in Adrian Willaert*8 „Camon di Ruzante"^ aber mdst 
andi nnr Sparen, einselne GesSnge und Helodiewendnngen: eine 
gans nnverJtnderte Melodie ist nur selten beraussufinden, wie in 
der im Bcrgnniaskerdialekt gedichteten, von Bossini von Mantua 
(Bossinus ManAuanus), einem Componisten, der nm 1500 lebte 3), 
nach einer unverkennbaren Pifferaromelodie gesetzton Frott«>la 
„Lit um biliram," die in d(;r Ueberschrift ab „m sonar de piva in 
fachinesco" bezeichnet wird. 



KoMini von Mantua, Frottola (2. Buch der bei Petrucci 1504 — 1508 ge- 
druckten Frottole, Fol. 31). 



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lirum 



bilimm 



lirom 



limm 



Idmm biliram 





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Lirum 



biliruin 









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Li • rum 


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rum Ii • 



1) Subtilis itaque multuui est musica per exercitium etiam moder- 
norum, non solum literatonun hominnm in hac parte stadentiam anxilio 

et invention«;, sed etiam vulfjus commuiu'; sjn-cialiter juvenes ac mulieres 
ad hoc moventur, nescio qua sortc, nisi industha naturali (Mus. speculat. 
bei Gerbert, Scriptores III. Bd. 8. S82). 

'2) Gedruckt in den Caii/on viUanesche alla Napolitana di messer 
Adriane, a quatro voci, con la canzon di Ruzante Libro 1. in Vinopj^ia 
apprcsso Girolamo Scotto MDXLVIII. Das Lietl „Di Kii/.aiile ' niuss, 
nach Willaert's Coinposition zu schliessen, recht friscii (gewesen sein. 

3) Joachim Rossini von Pcsaro, unper hmilirntt-r ZeitgenoS80| lieae 
sich von diesem Mumensvetter schwerlich etwas träumen. 



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Bas Volkslied. 



291 



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U-nam biliram n.B.. w.^) 


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1) üm dem Leser eine Yorstellmig vom Klange des Textes (lustige 
Liebetdesperation) zu geben, setze ich die zwei leisten Strophen her: 

Quant ampcsi al top passat 
£ che to scrvita iudaren 
Am doni desperat 

19* 



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292 Aiifiknge der europäisch •abendUadisohen Mouk. 

Sehr bald im 16. Jahilmiidert fanden fransönsehe Lieder unter 

demNamen ,,Canzoni alla francese'* in Italien Beifall und Aufnahme 
und ttbten bald einen bedeutenden Einfluss. Zum italieniMclion 
Volkspesanpe des Mittelalters gehören auch die Lohliedcr (^Law/f»^ 
jener Florentiner Landcsi oder Laudisti, frommer Vereine von Hand- 
werkern und Bür^er«leuttMi, deren erste ririindung in das.Iahr 1310 
gesetzt wird. Diene LaudUti kamen, wie SauBovino in seinem 
Commeutar zu Boccaccio (1546) eisXhlt, jeden Sonnabend nach nenn 
Ubr in OrHuuniccbele und Santa Maria Novella sosammen und 
Dangen flinf bb aeebs Laaidi, wa denen nnter Andern Lorenso de 
MedicijPulci und Giambellari die "Worte lieferten. Sie standen unter 
einem Vorsänger oder heiter{CapÜano). Mit unübertrefflicher Spötter- 
laune hat Boccaccio die Figur einer solchen Respectsperson in dem 
Stamaiulo aus der Strasse die San Brancazio nnd Capitano delaudesi 
di Sancta Maria novella, Herrn Gianni Lotteringiii, gezeichnet^). In 
der Magliabccchiana zu Flurenz tiudcn sich die Documente über die 
am 11. KoTember 1336 dnieh F\raU QuStUimo, mautro gmerak dd 
oräkie degli wniUaH, Teranlasste Stiftung einer solchen GesellBcbaft 
Landen dir die Kiicbe OgniaantiS) koHore e a rüfermria dd 
nostro Sigmr Idio e de la virgine gloriosa Matria sua tnadre, e Ji 
Missere Sancto Benedecto et di Missere Sando veneratido et di Madonna 
Sancta Lucia Virgine et di tudi Sandi e le Sancte di Paradiso, et a 
fructo di gratia in questa vita a tudi rolnro cho sonno e saranno 
de la deda compagnia, e dopo la loro mode a beata gloria divina 
eterna" Die Laudisti erhielten sich bis auf die Neuzeit. Wie 
Gieseimbeni enihlt, kamen 1770 wiUirend des grossen JubilltnniB 
die Landes! von 8. Benedetto ans Florens nach Born, dofebsogen 
in Prozession die Strassen nnd sangen Laudi, deren Worte der be- 
rühmte Filicaja gedichtet hatte. In demselben Jahre hörte sie 
Bumey in Floieni oft in den Kirchen mit Ofgelbegleitong 
singen^. 

Gleich der erste Gesang in jenen Laudi der Gesellschaft der 



AI demoni da l*inferen 

Masno mai di quest inversn 
£m Toi da te ])artirum 

Lirum etc. 
Con pot ma sofi&i, traditora 

Che ehsi vivi de8])orat 

Dam audenza uimac un hura 

Che lero altit pagat 

Fara un scrit e sii^^ilat 
Del mio bon fidul scrvirum 
Linnn — 

Die Schlusswendnng ist äusserst possierlich. 

1) DiH'amerono Giom. VII nov. T. 

2) Burney, Eist, of M. 2. Bd. ö. 321, 
8) A. a. 0. S. 826-327. 



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Das ToUnliAd. 



d9d 



Laudesi von Ognisanti zeigt den echtesten Volkston im Sinne ita- 
lienischer Volksweise und ist ein fiusserst schätzbares Denkmal des 
VolkigMangeB ans dem 14. Jahrhnndeft Es ist eine Art Bequem, 
aber sehr ▼enebieden Ton den Seqnensen Ton St Gallen (die frei- 
lieh eiiiige Jahrhunderte Ilter sind): während diese weit entsehie- 
dener als eine Abzweigung des Gregorianischen Gesanges er- 
scheinen, tritt hier mehr eine liedartige Melodie in den Voider- 
grund. 



(Qesang der Laadesi von Ognisanti in Florenz 1336. Mscr. der Ms|^Ua^ 

becchiana. S. Burney, H. of M. 2. Bd. S. 328.) 



-C- 



Alle Trini - ta 



beata da noi 



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ad - o - rata, Tri- ni - ta 



glo-ri-o-sa a* 



m • ta me-ra-Ti - guosa, 



■ ■— ■ 

1 - fflioaa, ta 



sei msima sa - 




po - ro • sa 



Wir werden unter den Gesängen der geistlichen Schauspiele 
eine ähnliche, ebenfalls eine Mittelstellang iwieehen kirchlidiem 

und Volksgesang einnehmende Melodie kennen lernen. 

Die spanischen Volkslieder, so schön sie mitunter heissen 
dürfen, blieben so gut wie unberücksichtigt; es ist eine Ausnahme, 
wenn Josquin eine Messe „una musque de Buscaya", Pierre de la 
Rae eine Messe „nunquam fue pena mayor" Uber spanische Weisen 
aetaten. Inwiefern sich bei Ghzistofano Mondes, Henero und an- 
deren aus Spanien stammenden Componisten Bendniscenaen an 
die Gesh'nge ihrer Heimat aeigen, mDgen Kenner des spanischen 
Volksliedes untersuchen, oder ob der ganz einem uuTerSndert bei- 
behaltenen Liede gloicliendo Tenor in jener Messe Josquin's in 
einer noch existirenden Volksweise wiederzuerkennen ist: 



Tenor des ersten Kyrie und des Aprnus anti Josquin dePrte* Meise: 

musque de Buscaya. 



294 



Die Anfänge der europäisch- abendl&ndiichen Münk. 



Kirchlicher (lesaiip und Volks^resanp fanden eine At1 neutrah'U 
Bodens, wo Bie einander iu Frieden die liand reichten, an den 
geistlichen Schauspielen, die bekanntlich ebenso »ehr goUesdienst- 
Uche AndMhtittbnng als Yolktbeliiftigung und ebenso sehr Volks- 
belnstigang als AndachtsUbmig wazen. Die Geslbige dieser Scban- 
spiele haben, wie natürlich, auch mcht die entfernteste Aehnlichkcit 
mit dem Style der seit 1600 entstandenen und auKgebildeten dramati- 
schen odrr ( )i)erninnsik. Eine desti» überraschendere Erneheinung^sind 
die uns sehr Ijekannt anheimehuleu weltlidieii frnnzösisehen Lie- 
derspiel e ,we 1 1 Ii e A dam d e 1 ;i Haie zum I )i elitär und ( 'oniponisten 
haben, und von di-nen zwei erhalten sind: „le jus Adau ou de Is 
fenillie" und „Ii giens de Bobin et de Marion". Ein drittes Spiel 
„Ii jus da pelerin" von einem unbekannten Verfasser^ ist eine Art 
Prolog in dem Spiel von Robin and Marion: ein Pilger beriebtet 
den Tod Adam*s de la Haie, wovon Anlass genommen wird seiner 
lobend zu gedenken^). In die Handlung des jus d'Adan (welches 
filr die Literarhistoriker das Älteste französische Lustspiel ist und 
in welchem Meister Adam seine Liebes- und Heirats^t schichte mit 
naiver Ungenirtheit zum besten gibt) mischen sich drei Feen ein, 
Morgue, Maglione und Arsile, denen ein kurzer Gesang iu den 
Mund gelegt ist: 

lies foes cantent. 




X 



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par chi va la mi - gno-U - se par ehi ou je vois. 



Interessanter und ein ecbtee Liederspiel ist „Robin nnd Marion**, 
eine jener Dorfidyllen, wie rie dem fransOrisehen Geschmacke noch 
im Torigen Jabriinnderte so sehr ansagten; die einfache Handlung 



1) Fdtifl (Biogr. univ. 2. Band S. 4791 sapt: ,.tlunio d'une chanson 
espagnole' . In den Canti cento cinuuanta (1ÖU3 lul. liM) heisti et ,,uua 
musque de bntcgaya" in der Ueberscnrift einer Meise ▼on Heinrich Isaak 
(OpUH deccm niissaruni, "Wittonljcrp IS-ll) .,uiia nii.s'que de Bifray," 

2) Der Verfasser dieses Stückes soll Jean Bodel von Arras sein 
8) Le Pdefin: 

Par Qrouille m'en reving, ou on tint maint condlle 
D'un clerc net et soustieu, grasrieas et nobile 

Et Ic noniper du mont, n^s fu de ceste ville 
Haistres Adam Ii Bochm estsit ehi apeUs 
Et la: Adana d' Arras. 
An Oea&ngeu kommen darin nur zwei unbedeutende Melodiefragmente 
vor. Das «nte erscheint mit Absieht so t(ttpisdi| das anders hat den 
frsasOrisohen TandeviUeohsnkktsr: 



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1>M Volkslied. 



29r> 



und die H^l^nng des Ganzen erinnert auffallend an Roussean's Devin 
de village, an Rose et Colas. Anette et Lubin und Aehnliches. Adam 
soll sein Liederspiel zur Unterhaltung des Hofes iu Neapel gesclirieben 
haben, wohin er, wie wir schon erzählten, im Jahre 1282 (dem Jahre 
der siciliauischen Vesper) im Gefolge Kobert'sII. von Artois gckunuueu 
war. In Frankreich, wo man ea anch spielte, war der Erfolg ausser- 
ordentlich. Noch um 1893 wurde au Angers das Spiel von Bobin 
und Marion alle Jahre an Pfingsten aufgeftihrt; ja die Erinnerung 
ist bis heute ni^ht erloschen, das Liedchen ,,JBo6t» m'aime" wird bei 
Bavai im Hennegan vom Volke noch jetzt gesungen*). Das Spiel, 
in dem elf Personen auftreten^), besteht aus gereimten Dialof^en, 
in welche, fj-mz wie im Vaudeville, kleine artifre Liederchen ein<rc- 
üuchten sind. Die Handlung; ist höchst einfach und eigentlich ohne 
alle Verwickelung und folglich ohne Lösung; es ist nichts als ein 
munteres 'Bild Iftndlichen Lebens. Marion introdudrt rieh mit Jenem 
Tolksthtlmlich gewoidenen Liedchen: 



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Ro - bins 



iD*sime 



Bo-bins m*a 



Bo- bins 

Fine. 

























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Rojanf. 



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32: 



U u'est si 



hon 



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VI 



an - de quo ma - toiis 



£»t c'este bomie, Wamier frörei 
Dir 

Wamier, EU est Testront de vostre mere 
Doit on tele canohon prisier? 

Jiogaut. 



Se 



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Ol 



je 



n i - roi 



e 



mi - e 



1) So berichtet Herr Arthur Diuaux. 

S) DiePersonen sind : Robint, Marions on Marote, U Ohevalien. Gantiers, 
Baudoni, Peronelle ou P« rt tte, Huars, H Bois, Warniers, GKiios, B^ns. 
8) Die Notimng des Originals ist: 







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Ro - bins m'aime Robins 


m'a, Robins 


n.s. w. 



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29G 



Die Anfllngfe der enropäisch- abendländischen Mnaik 



Bo- bins m*ft Oft • ta-oo • to-U d' 



- U • te boiuM 



TnP . „ ■ ; . . ' . ' ■ . An] SV 



•ibdlesookA- ni-e «tdiamta • rel«al'ewi 



ifrt/ Sri/ »Ii § 



Jetzt prHBentirt sid) Junker Aubert in dem ganzen Pomp einei 
^ttdigen Herrn, den Falken Mif der FmuL £r frent nch Marion 
•Uein m finden: 

je me reparoie du tournoiement 

si trouvai Marote seulete au oors gent. 

£r macht ihr seine Liebeserklttnuig, lie weist ihn ab: 

vous perdez vo paine, Sir Aubert, 
je n'aimerai autrui que Robert. 

Der Junker wird dringend, will verzweifeln u. s. w. Marion ver- 
spottet ihn mit einem Trallerliedehen ,,TrAiri, deluriau, deliriau, 
deluriele" u. s. w., worauf er abzieht. An seiner Statt erscheint 
Robert, der eine bessere Aufnahme üudet. Die liochzeit wird ver- 
abredet, Bobin geht um da« N9thige an besorgen. Indessen ist dem 
Junker der Falk ansgekonunen; er benntst es als Vonrand, nm an 
Marion snrtleksnkehren, „ob sie den Falken nicht gesehen?** Glttek- 
licher odernnglttcklieherWeise hat ihn Robin eingefangen und bringt 
ihn; dass er mit dem ritterlichen Vogel nicht ganz nach Sitte und 
Art umzugehen weiss, ist dem Junker ein willkommener Grand Streit 
anaufangen; 

ha, mauvais vUains, man fai 
ponroüi tnes ta mon firaoon? 

Vergebens sucht Maxion ihn an beschwichtigen, der Jnnker Ohr* 
feigt den armen Bobin: 

Üen de loier eetfee sonspape, 

?uant ti le manie« si gent — 
i n'en set mie la maniere 
pour Dieu, Sire, or Ii pardones? 
Cht». vol<mtier8, a'aTeno morTsnes. 
Marion. Je ne fanii 



Die Melodie iat echt firansOsisch. Man sehe nur den Anfang des berühmten 
j'si perdn nun territeor ent Boniieaa't IXerin de rilUge: 

■i r ^ -N— I — i ^ r z ?^ 





j'si per «da tont mon bonhenr, j'ai per-dn monser- vi • tenr 



Sind diese durch ein halbes Jahrtsosend getrennten Melodien nicht 
Sohwestem? 



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Dm Yolkdied. 



997 



Der Junker braucht Gewalt und sehleppt Marion fort Robin yer* 
er hat Haiion verloren und eine Ohrfeige bekommen: 

Je perc Marot, j'ai nn tatia 
~ dm 



tMxpiti oote et teroot ~ 

Vetter Gkmtier, der ihn in £esem Znitande findet, trOstet vergebens, 
bb der Bitter, von dem entschlossenen Widentande Ifarion's evmttdet, 
diese snrttckbiingt und resignhrt: 

OerteSf vdremeot ini Je beste, 

Quant a ceste beste m'amste — 
Adiea bergierel 
Marion. Adieiif bian Sirel 

Jetzt versammelu sich die Gäste, Robin specificirt, was er an Vic* 
taalien vorrttthig habe: 




± 



_» 1_. - - 



J'ai eu-co-re t«l pa-st^, qui n'est mi • e de Ta-atö 
Quejoa ai nn tel oa-pon qoi a gros et grsscre-pon 



-<5» 



# 



4 



m 



qne nons mange - rons Ma*ro • te beo a beo et moi et toos 

qae nous etc. 



obi mi ra-ten-des Ma*ro • te, «hi ven-mi per -1er a voos 

Sie spielen lustige Spiele, Bandon wird zum K(5nio:e gewfihlt, pribt 
possierliche Audienzen u. s. w. Zuletzt fordert Kubiu alle auf, ilim 
in den Wald zu folgen: 



n 1. 



ye-nes a 



prto moi TO - nes, le sen • te • le, 




le sen-te 



l'ta 



le bos 



Das Eigene dieser r^nnzen altfranzösiscben Melodik liegt in dem- 
selben leichten, wenige Töne zu einfachen aber recht hübschen Coni- 
binationen ungezwungen und ungenirt verbindenden Wesen, in der- 
selben Manier eine melodische Figur nach Bedürfniss zwei-, dreimal 
oder auch öfter zu wiederholen, welche das echt französische Lied 
charakterisiren, wie man es z. B. in den Yaudevilles oft mit ebenso 



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298 Die AnAlnge der earopfliach-Bbendländischen Musik. 

viel pikanter Feinlieit als sohl echter Stimme vorgetragen so hOreil 
bekummt. Doch ist der in den alten Melodien oft vorkommende 
jambische llhythinus ii. b. w. in der neuen Sinpweise durch den 
Trochäus völlig ver<liänp;t worden, und für jene allordiufr'^ bezeich- 
nend. Neben (h'in meist antjewendeten dreilheiligen Hhytliinus findet 
sich auch bcliuu der dopjpel-dreitheilige (^j^ oder ^/g), besonders für 
die duttUMbaXUuUef und der gerade. In den Slteften, dem 12. Jalur- 
hundert angehOrigen Liedern wird anireilen anf eine pauende Sylbe 
eine ganse yeizierte Gruppe von Noten gesungen. Im 13. Jahrhundert 
verliert sich diese Manier und ist bei de la Haie, Ifachand u. s. w. 
durchauH nicht mehr zu finden, wo der Gesang sich nirgends mehr 
auf Kosten des '^I'extes ausbreitet, vielmehr dem raschen Sylbengaii;?e 
der Worte i-benso leichtfiissig folgt. Die Liebliugstonarteu sind 
J'^-dur, (jr-dur, C-dur und Z> -moil, seltener G-m<dl. 

Der Gesang zu den geistlichen Schauspielen, den Passiona- 
apielen, Ottenpielen, HaiienUagen n. s. w., welcher bei dieaen 
DanteÜnngen einen sehr weaentliehen Bestandtheil der Aufführung 
bildete, war theils wirklicher ritualgerechter Kirehengesang — denn 
in den Osterspielen insbesondere löste sich kaum erst die dramatische 
Darstellung von der kirchlichen Ceremonie ab') und es wurden dabei 
nicht allein die von der Kirche recipirte Sequenz des Wipo „Vidimae 
pasrhali /t/M^/' v"^, sondern auch das ,,7> Deum landamus" {r<»tte8- 
dieubtlich intuuirtund abgesungen; theils wuijden die nach dem Bibel- 
worte zusammengestellten oder auch firei erfundenen, einen Theil des 
dnunatbehen Dialogei bildenden Gesinge nach dasn erfundenen Me- 
lodien voigetragen'^, welche, besonders in den lyrischen und contem- 
plativen Momenten, den Charakter der Se({aenzmelodien zeigen, doch 
mit einem gewissen Zuge in's Kecitativische und pathetisch Decla- 
mirende, wie folgender (Jesang der drei Marien in einem aus dem 
14. Jahrhunderte herrührenden Osterspiel der Prager UniversitJtta- 
bibliothek: 



A • mi - si- mos e • nim so - la - tl - um Je - som Chrigtmn 

\\ Duo sacerdotes se cappis induunt, sumentes dao thuribala, et hume- 
__ria m capita ponent, intrantes chorum, paulnthn enntes verras sepulclurom« 
voce mediocri cautantes: „quis revolvet imbis lapidem" — quo» Diaconus, 
qui debet esse retro «cpulchruni, interrogat jt«-nlli;iido ,.quera quaeritis" — 
deiiide illi ,,.}esum Nazaremiin^' — quibus i'iHConus respondet „iion C8t 
hic*'. Mox inceasent tepolchrnm, et dicentc Diacono „ite, nnntiate'^ ver- 
tent 80 ad clionim, rcmaiu ntos pupor pradum et cantpjit: „Surrexit Do- 
minus de sepulchro'' Ui>que in tiuem. Finita autiphona dominus Abbas 
incipiat „te Denm laudamas^ in medio ante altare, rooxque oampanae 
souentur in angularibus ((leibfrt. Vet. lif Ali-tn II. 237). 

2) Die Melodie in Schubiger's Stiugerbchule von St. Gallen (No. 60 
S. 59 der Masikbeilagen). 

Ith kann hier den Leser nur auf swei Bfloher varweisea: auf 



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Die Musik der geutUohen SohaiMpiele. 



299 



M»-ri-me fi-li - «m ip-ee e-nt no • iterredemptor 





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qaantos est noster do 



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Diese ArtMelo{lien niclit allein, sondern sogar dieselben Weisen 
BU denselben Worten kehren an verschiedenen Orten wieder, so das» 
man wohl sagen kann, ea habe rieh endlich dnreh Wechselvefkehr 
der KlSster, StXdte u. s. w. so riemlich eine ritaeile Oesangwrise für 

diese Spiele festgeHtellt, welche, durch allgemeine Zustimmung ge- 
nehmigt, Uberall gleichartig vorkoninit. Dem oben nutgeth eilten, 
einem altböhmischcn Osterspiele angehörigen Klaggesange entspricht 
in Text nnd Melodie derCJes.ing der drei Marien ans einem ehemals 
der Abtei von Origny Saint Benoitc hörigen, jetzt in der Bibliothek 
zu St. Quentiii ^ befindlichen Osters^iele in einer Uandsclirilt aus 
dem 14. Jahrhundert: 

Les trois Maries. 



Nons avona perdn nostre ooafort Jhesmn Chri- 



itnm tree tont piain de doooonr. B estoit 



bians 



5^ 



et piain de bonne 



amour 



he - las moat 



■ 



nons amoit 



U • vrais 



F. J. Mone's ,, Schauspiele des Mit trlalters nus Handschriften heraus- 
gegeben und erklärt'' 2 Bde. und auf E. Coussemaker^s „Drames litur- 
giques du moyen ftge** (Rennes 1860), letsteres Weric dnräi den ausser- 
ordentlichen Reichthum an beigegt bcncn. nach den alten Originalen 
entzifferten Singweisen ausgeseichnet , welche das Buch besonders iör 
den Musiker Äusserst werthvoU machen. 

1) Die Xotirung in Pedibus muscarum. Inh ersetze sie durcli dir 
uns geläufige Note. Wo die Ghoralnote gnt beisubehalten war, liabe ich 
sie auch wirklich beibehalten. 

1^ Ko. 7fi. 



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300 



Die Anfitaige der enropAiaoh-abeiidUadiaQheii Moaik 



Diese Melodie idiieik bequem, danuMsh, wie nach einer Paalmodie, 
den Dialog absmiiigeii. Der Salbenhlndler, welcher den Marien 
leine Waare anbietet, nngt naeh derselben Weise: 



JA nsrohsiis 




^ a • proobei voas qni taut fort a • o^est 




gemeni t'el to • las a - ea • ter da qpiel 



nofkre Seigneor porres loa taiDct ooipe qni 



taat pa • rait la • orfa. 



Die Frage der drei Marien, wer denn wohl den schweren Stein des 
Grabes wegwälzen werde, wird naeh anderer, aber aneh an vor- 

schiedenen Orten und Zeiten ganz analoger Melodie gesungen: so 
in einem Osterspiel des 13. Jahrhunderts aus der Bibliothek Bigot, 
jetzt in der Bibliothek zu Paris^): 




Qois ra • wd 



vet 



no - bis la • pi 



den 



i i 1 ^ 



ab 



üf 



Aehnlich in dem Osterspiel von Orignj: 



"-f ■ 1 1 



Qois 



re - Tol 



Tai ergo no • bis n. a* w* 



Völlig abweichend dagegen im Prager Osterspiele: 



1) üo. m 



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Dto Mnaik der g«ttUich«B Sohaminel«. 

(Ostenpiel der Prager UniTersitatsbibliothek.) 



301 



re - vol • vet so - bis ab 



BÜ - o 



la • pi • dem qaem te 



ge • I» 



Sanota 



oer • ni - mne ae - pol • ora? 



Die gerangenea Dialoge erinnern in ihrem psalmodirenden Tone 

durchaus an die Weise, wie nocli jetzt am Palmsonntage in der 
icatholischen Kirche die Passionsgeschichte in einer an dramatische 
DarKtelhinp: maliiionden Weise (mit Vertheilnng der Stimmen an die 
einzelnen Xnterlocutoren) gesungen wird: 



(ManoMT. des 1& Jahrh. BiU. Bigot, jetst in Pteis No. 901) 
.Tesiu. Magdalena. Jesus. 

















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Ma 


»- 

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Babbu 


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non - dun 


enim 


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a - soe 


n • di 


ad 






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trem me • um* 



Mit dieser einfachen Singweise b^[nttgte man sich aber nicht überall. 
Wo der glonreich Auferstandene mit Magdalena redet, sollte es fest- 
licher und freudiger klingen; man wusste aber das Feierliche und 
Bedeutende des Momentes (wie bei dem Eli, Eli der Passion) blos 

durch langathmige Coloratiiren auszudrücken, wie man eben gewohnt 
war ein festliches Alleluja oder Ite »ii.v.va est aus Priesters Munde au 
hSren. Christiis trat im geistliclien, bisclii)fli< lien Talar auf; es schien 
angemessen ihn wie einen Geistlichen singen zu lassen: 



309 



Die Anfänge der enropftitch-abendlftndiichen Musik. 



(Mannteripi. des 14. Jnbik in der UnivenitiUbibliothek so Prag.) 
Jem cantet. Maria cantet 



Ma 



ri 



Hab 





biqaoddi-d-tor 



mm 



gister 



Jesnü cantant. 



qtd 



dem luf 



fira 



so 



la tu 



lifc car • na 



ex-hi-bendo oommoni-a lem - per na-ta>rae ma 
Maprdalena oantana. 



X 




San - ote 
Jen» flantai». 



De 



Haeo prio 



mi-lia 



9* 

neoeat 



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O 



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"^—k;»— A t5>-^\ b 



jam cor-ru - pti - bi 



lis 



qui 



dum luit pHS-si- 



bi - Ua jam non e - rit 
Magdalena« cadens ad pedea. 



In-bi 




p f f f> J J J J 



4: 



San 



cta 



for 



tifl 




Nachdem Jesus crniahnt hat „tkgo mli me tangere, nec ultra velis 
Imjpgertf* q. w., zieht er rieh mit dem Gesänge iwttefc: 



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Die Mufik der geistlichen SetMuipiele. 



803 



XL. 



(Im Original 

olme SehraBsel) ^ 

ft-aoen - do ad pa 

Magdalena verkündigt die frohe Botschaft den Aposteln, and der 
Gesang desTe Deum besehliesst die feierliche Darstellung. In einem 
anderen Osterspiel der Praj^cr UniversitIt8bil>liothck •) frcstaltcn sich 
die Schiassworte Christi noch reicher und tönen in das festliche 
Alleluja ans: 



▲ - scen-do ad pa - trem menm 



pa - trem yestrum 




Denm 



Deum 



"Wenn alles dieses vorznpsweise den Charakter den Festlichen, 
Gottesdicnbtliclicn au sich hatlu, m waren dagegen die Marienklagen 
{^lwi\cim Mariae) Toniiglieh dem Elegisdien oder Tielmehr dem 
Ansdraeke des tragischen Pathos des Sehmenes gewidmet; man ftthlt 
sich bmnahe an in ihren Grandsilgen Ihnliche Monologe der antiken 
Tragödie gemahnt. Hier nimmt selbst die Melodie des Gesangos 
meist einen wärmeren Ton an. Mone, der verdienstvolle Sammler 
solcher alt«'rfliiiinlicher Dichtun<!^en, bemerkt zu einer Marienklapro 
aus dem Kloster l^ichtenthal bei Baden: ,, schon das Versinass der 
Strophen beweise, dass sie keine kirchliche, sondern die Melodie eines 
Meistergesanges hatten, und dass die Singweise der Meistersänger 
wohl etwa die Mitte hielt awischen der Leichtigkeit des Volksliedes 
und dem Emst des Chorals." Diese Vermathong wird vollstSndig 
bestätigt durch das Manascript einer Marienklage aus dem 14. Jahr- 
hundert in der Pra«:er Universitfitsbibliothek. Nachdem Maria in 
recitirten Versen die Töchter Jerusalems" beschworen, ihr zu sagen, 
ob die schreckliehe Neuigkeit, die sie eben Temommeny wahr seiy 
bricht sie in folgenden Klagegesang aus: 



/TS 



X 




Pro Buoch ra5te 



posta • paty raSte my tarn pomaha • 

% 



3 



ty bych mohla sy - ua vi - de - ty. 
(Hört am Gott mein banges Flebenl Lasst uns hin aar Stelle gaben, 

dasB ich meinen 8ohn mag sehen.) 



1) Codex XVU. JB. t 



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304 



Die Anfänge der europ&i8ch>abeiidUadiBcheii Musik. 



Dieser Gesang wird in rieben dreigereimten Strophen vorgetragen i), 

worauf Johannes mit einigen tröstenden Worten antwortet. Darauf 
folgt ein Plancius secumdua» Die Melodie steht hier zwisehen Kirch- 
lichem und Volksmässigem mitten Inno; os liegt in diesem recitiren- 
den (iesango mit seinen clioralurtifien Wendunj^en ein gewisses 
feierlich kla^^endes Pathos, wie manche uralte I'assionshilder aus 
der Zeit romanischer Kunst den Schmerz in wenigen Zügen herb 
und* ergreifend ausdrlldcen. 

Zuweilen liess man auf die Klage Hanaus tittitende imd be- 
sdiwiehtigende Stimmen wie mit einer Antistrophe antworten nnd 
gewann so einen wirksamen Gegensatz, wie ein ähnliches Spiel in 
einem Procesßionale des 14. .Taiirhunderts aus dem Archiv des Ca- 
pitels von Cividnie in Friaul zcij^t. Hier antworten der klagenden 
Gottesmutter Maria die beiden andern Marien: 



(hio ambae 



erigaat sc cum manibos 

Christum.) 



flTitwwit ad 



et ad 



r—T— T 



"1 T I 



Cur moerore 



deficis 



mater oru - ei - fi - m? 



5 



i 



Onr dolore 



ootttomens 



dolois 



Boror 



nostra? 



(hio se inclinant cum saluto.) 



' 1 ^ T ^ 1-1 

hoo oportet ne 




Wie Maria, die Mutter Jesu, den tragischen Schmerz in seiner 
höchsten Wtirde und sein edelstea Padies ansdrilekt: so war Maria 
Magdalena die BeprSsentantin des Ittdensehaftliehen, nngesflgelten 
SchmeraeB. In diesem Sinne tritt rie in jenem Friaaler F'rocesäonale 
anf; in jeder gesun<renen, keineswegs ausdruckslosen Phrase wird 
ihr sogar eine leidensohaftUchst bewegte Aetion ansdrttcldich vor- 
geschrieben: 



1) Aeuneni merkwOrdig ist es« dais in einem Oiterspiel, in einem Codex 
des 15. Jahrhunderts in der "Pnger Universitätsbibliothek (XVII B. 1) 
dieselbe IM»lodie für den Gesang der drei zum Grab eilenden Frauen 
verwendet wird. Auch sogar die Worte smd mit einigen Abänderungen, 
wie rie dnrdi die dramatis personas nOtfaig worden, belbriialten. 



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Mtgdalena 

i»=s= 



Die Musik der geistlichen Schauspiele. 305 
(hic TerUt se «d homines bndiÜB eartentii, 



O fra - trw efc m - - ro-res, 
hio peroBtit pectnt, 



nbi 




•pet mea? 



oon • M - ]ft 



hic maDiis elcvet, hic inclinato c^pite siernat m ftd pedes Christi.) 




M - Ins? o mft-gi • iter mi! 



Man liebte es überhaupt irgend eine biblische Protag:on istin sich in 
Klagen dieser Art ergehen zu laäsen. Eines der ältesten Beispiele 
ist eine Lameniatio Rahd aas dem 11. Jahrhundert (Pariser Bibl. 
Hser. Nro. 1139), wo der Gesang trota der lebhaften Heiismen völlig 
Blair und seelenlos ist: 





qnot nnno pro 



nn 



1 



Je weiter sich diese Spiele von der eigentlichen kirchlichen Cere- 
monie entfernten, je mehr sie wirkliches Drama wurden, desto popu- 
IXrereFSrbnng nahm die Mnsik an. Der derbe Humor jener Zeiten 
vertrug nicht nur, er verlangte die Einmischung komischer Epboden, 
M'ie wenn Judas um diu Silbcriinge schachert, wenn der Salben- 
krämer den zum Grabe eilend »mi Frauon seine Waare unter allerlei 
Scherzen anbietet u. s. w. Wurde hier ^^ sun^en, so war es das 
derbe, ganz nahe an den Gassenhauer grenzende Volkslied, was zu 
Gehör kam. Das Präger Museum besitzt ein Manuscripl aus dem 
ünde des 13. Jahrhunderts, wo die £^aode mit dem Salbenkrimer 
lu einer selbstindigen Posse erwettert ist Hier macht sich nun eine 
ungeschlachte echte Volks- und BSnkelsXngerweue bemerkenswerthi 



Ambro«, QM«hlahls 4«t Maslk. II. 



90 



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306 



Die Anfänge der earopfti8ch>abendläudiscbcu Musik. 



w<miit rieh Herr Severin Ipoknu (ffippokrates), der Quacksalber, 

im herkömmlichen MariEtaclureiertime dem Volke ankündigt und 
empfiehlt. Er ringt, nachdem er sein GerOsI unter allerlei vor- 
Iniifi^en Spässen angeschlagen, mit seinem Knechte Georg 
Fusterpalk 

QDemde cantet cantionem cum Pmteri^nlko.) 



Sed wem przyfel my^tr y - po-kraade gia-ti - a 
Hcrkommeu ist Meister Hippocras 



di- 









p r r Trr^m- 












u— j 1 1 ■ ' 





rina ne - nycth horzfyho 
kein ärgern gibt es 



vtento czas in 
heute fast 



arte me - di- 



dna, ko 



mu ktera ne-mocz fco'- dy a clityol by rad zyv 
bö • le Krankhwt fibel plagt and wer sie will Ter- 



byty - Oll pt>hncli( ziMif-dr:i-vi-ty zct musy dufTye zbyty, 
treiben, den wird er heilen allsubald, wird ihm die Seel' austreiben. 

Eine allbekannte derbe Volks- oder Pdbelmelodie aus derselben 

Epoche ist die zur sogenannten Pfosa de Äsino, bei dem in Frank- 
reich florirenden EselsfoHtc {festum Äsinorum) gesungene. Bio ist 
ansp'bildctcr als das Lied des Herrn Severin Hippokras, übrigens 
vtdlkoimnen pasnend zu der ßcandalös<'n Profanation, gegen welche 
diu Kirche mit Hecht, aber vergebene Einsprache erhob 

1) Hier worde ohne ZwriÜBl ein Suspiriom angebracht und gesongea: 

J J ][ J und 80 auch bei den folgenden analogen Stellen. 

2) Die Noten sind im Originale die bekannten auf vier Linien ge- 
seteten Fcdes muscanun. 

8) De la Brnde hat rie nach einer Handschrift der Btbl. zu Fsris, 

welche oine Boschrcilmnp des Eselsfestcs enthält, in soinoin Essai mitfrc- 
theilt. Man Endet sie in l^^orkers Gesch. d. M. 2. Bd. S. 720, im zweiten 
Bande von Onlibicheff'B Mozart und, nebst einer nmstftndlichen Beschrei- 
bung des Eselsfestes, in Friedrich W. Ebeling's neuer Bearbeitung der 
FlAf>'(>l'8chfn (Ti'schiclitc des (tr. it r-kkomischen S. 230. Ich halte es also 
für völlig üburdüssig uiu hiur uüchmuls mitzutheilen. 



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ZWEITES BUCH. 



Die Entwickeluug 

des 

geregelten mehrstimmigen Gesanges. 



30* 



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Der Discaotus und Faux])ourdon. 

Sobald man einmal angefangen hatte mehntimmig in singen, 
wnrde es eine nnabweisbare Notbwendigkeit die einielnen Stimmen 

gegeneinander nach einem strengen Maaie anszugleiehen und zu- 
gleich in der Tonsclirift, statt der Neumen, welche nur sehr nebenbei 
und kaum andeutungsweise über das Zeitmass der einzelnen 'J'öne 
zuweilen eine Art Wink geben, Zeichen t inzundiren, welclie die 
bestimmte Zeitdauer eines jeden Tuues mit aller Genauigkeit er- 
kennen lieaaen nnd das wohlgeregelte VerblQteiss der grösseren und 
kleineren Daueneiten gegeneinander ansandrUcken geeignet waren. 
Die grossen Ermngenseliaften der Zeit awisehen 1100 nnd 1299, 
welche an ihrer Stelle als ein neuer Beweis ihres michtig strebenden 
Dranges gelten müssen, sind also auch die sogenannte Mensural - 
musik {muMca metisurata) und die dazu gehörige Notenschrift 
mit ihren neben der Tonhöhe aiu li die Dauer oder Quantität eines 
jeden Tones andeutenden Zeichen. Die Rhythmik und Metrik, womit 
einst die antike Musik den Gang der Töne in wohlgeordnetem Wechsel 
langer und kurzer Zeiten geleitet hatte, war lingst ausser aller An> 
Wendung, litngst bis fast anf die Namen vergessen. Der Geist der 
Sprache, auch der lateinischen, war ein ganz anderer geworden; der 
Dichter suchte den Reis seiner Sede nicht in der plastischen Ge- 
staltung der antiken Versmasse, sondern in dem musikalischen Klang- 
spiel des Reimes, der sich sogar in den antiken Hexameter eindrängte 
und diesen entzweischnitt, da er Cäsur und Schluss eines jeden Verses 
mit seinem Gleichklange markirte und so den antiken Ueldenvers 
zum mittelalterlichen leoninischen Verse nmschnf. Im Kirchen- 
gesange war man dem natttrliehen Aecent der Worte, Sylben nnd 
RedesXtse unbefangen und als etwas SelbstrerstSndlichem ge- 
folgt, wie auch das Volk in seinen Liedern durchgehmids gana 
instinktmässig richtige Declamatioa beobachtet. So konnte es also 
bleiben, so lange man im Einklänge sang, und selbst das strenge 
Parallel-Organum mochte damit auskommen, zumal wenn es nur 
zweistimmig vorgetra^ren wurde. Mohr Vorsicht war schon uöthig, 
wenn ihrer drei oder vier zusammensangen, äie mnssten sich so 
Stellen, dass sie einander nicht allein singen hörten, sondern auch 
singen sahen; und selbst wenn es vier gleich gute Singer waien, 
mnssten sich nach einem von ihnen die drei fibrigen richten. IKeser 
Leiter des Gesanges durfte den Ton nicht eher wechseln, als bis 
seine drei Genossen g(>1i''»rl^ ihre Noten eingesetzt und angegeben; 
er musste aber auch jedesmal mit seinen Noten zuerst einsetzen, das 
richtige Einhalten der Pausen überwachen und n;ich den Pausen 
wieder den Anfang machen^): das sicherste Mittel eines gleich- 

1) Eliae Salomonii Scientia artis Musicae y^f^ mbrica de aotitia 
cantandi (bei (Herbert, Scriptores, S. Band 8. 67). 



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310 



Die Entwiokdnng des nelinitiininigeii OeMngfe«. 



mSssigen ZusAmmensingens, dass deijeni^e, der den Caiäus firmus 
ausführte und dadurch zugleich den Gesanp^ leitete, joden einzelnen 
Ton, ohne ihn zu üheroilen, gleich lang aushielt, wie etwa heutzutage 
beim Gesänge von Choriilen geschieht. Die anderen Sänger gewannen 
dann Zeit ihre Noten gehörig anzugeben und wussten genau, wann 
sie die folgende Note des Canhts firmm sn erwarten luitten. Nocb 
genaner mimte im Canhts farmnu die Daner einer jeden seiner mn- 
seinen Noten eingehalten werden, wenn der Sänger, welcher die 
verzierende Gegenstimme vortrug, dagegen je zwei oder drei Noten 
hören lassen wollte. So näherte sich" (nach dem Ausdrucke eines 
mittelalterlichen Schriftstellers) ,,die ursprünglich nicht raensurirte 
Musik alhnälig der Mensur bis auf die Zeiten Franco's, welcher als 
der erste Forderer der Mensuralmusik anerkannt wurde das ist, 
wie eben Franco definirt, des nach langen und kurzen Zeiten ge- 
messenen Gesanges, welcher im Gegensatse sn der ganz gleich- 
mVssig fortgehenden oder wenigstens nicht strenge gemessenen 
musica plana^ ehen deswegen viu.si( a tnmturabüia hiess. Die Ton- 
lelirwr der spStem Zeit fangen ihre ErklXrungen gerne mit dem Satze 
an: die praktische Musik theilte sich in zwei Hauptgattiingen, in die 
plane und die ligurirte^). Die allmälige Annäherung der planen an 
die mensurirte Musik muss zwischen 1050 — 1200 erfolgt sein; denn 
Franco, der dem Anfang des 13. Jahrhunderts angehört, bemerkt, 
dass „Alte nnd Neuere tther Mensnralmnsik viel Ghites an sagen 
gewnsst, aher in manchen dahin absielenden Dingen anch in Fehler 
und Inrthftmer verfallen seien/* Die Manier nicht Note gegen Note, 
wie im Parallel-Organum, sondern auf eine Note der Hauptstimme 
mehrere Noten und ganze Tongänge zu singen, war in robester Weise 
im schweifenden Orp^anum vorgebildet. Je genauer nun bei der 
bestfindigen Uebunj; die Sänger solche figurirtc GesSnge ausfvihrten, 
desto klarere Einsicht musste man über gar Vieles gewinnen, was der 
mit ängstlichem Fleisse an ihrem Monochord herummessenden, in 
BoBtlüsch-pythagorläsehe Rechnereien ycrtieften Theorie ein Bnch 
mit siehen Siegeln geblieben war. Je mehr sich die Orgeln ans ihrer 
ersten plumpen Bohheit herausbildeten, desto besser konnte man 

1) Die Stelle gehört einem Anonymus an, dessen Tractat Bumey 
unter den Manuscripten der bibliotheca Gottoniana fand: Non enim erat 
tnnc muaioa meniorata, aed paulatim cresoebat ad mensnram, usque ad 
teinpiiH Fmnconis, qui erat musicae msufluratae prunnt auotor approbatus 
(History of Mus. Bd. 2, S. 182). 

9) Canttu nmplejc planus est, qui simplicibai not!» ineerti valoris sim- 
plieitWP ort constitutus, cujusmodi est Greporianua. (Tiiictoris Diftinitorium.) 

3) Z.B. inderMusica NicolaiListenii (1547)hei8jit es : „Practica (musica) 
vero rurhus bifariam dividitur, in Choralem et Figurakin. Choralis est, quae 
nnifonniter Buas notulas profert et mensurat, sine incremenio et decremento 
prolationis, etvocatur alio nomiiu' Greporiaua, plana variat — ; fifrurali«, quae 
mensuram et notarumquantitatem variat pro signorumac tigurarum inaeqaa- 
litate cum incremento et decremento prolationia. BbeiMO die Broiemata 



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Der DiscantoB und Fauxboordon. 



311 



«ndi auf ihnen praktisehe Verauehe Uber den thataXeliliehen Effekt 

der cinzolneu Intcn'alle machen. „Man musstc," sagt Kicsewetter, 
„aut'demWege praktischerVereuche zunächst gleich dahinterkommen, 
dass die von den Griechen als Dissonanzen verHchricenen f^rossen und 
kleinen Terzen, f^rossen und kleinen St'xtcn dnrchaus nichts Widriges 
mit sich brachten. Man ninsste ferner nunmehr walirut-linien, dass 
sogar die grosse und kleine Secuude, die grobse und kleine Septime, 
endlicli jener vermfene Tritonna, die ttbermlBsige Quarte, wenn xwar 
niebt frei nnd einseln angegeben, doeh Im stnfenweisen Dnrcbgange 
luebt nur branchbar seien, sondern sogar den Ekel einer beitändig 
fortgesetzten Reihe von Tcnsen, Quarten, Quinten nndOctaven auf eine 
sehr angenehm überraschende Weise beseitigten. — Wenn man nun, 
nm durch^elifudo Dissonanzen anzuwenden, nothwendig zwei Noten, 
auch wohl drei und vier gegen eine haben niusste, so entstand liierdurch 
schon jene Art von Contrapuuiit, die man nachmals den gemischten, 
im Gegensätze des einfachen nota contra mtam, unter den späteren 
Theoretikern am öftesten tmirapimtiut fianäm benannt hat^).** 

Eine genauere Einsicht in das Wesen der Gonsonans nnd 
Dissonanz muss wirklich im Laufe des für die Musikgeschichte so 
wichtigen 12. Jahrhunderts und swar nicht auf dem Wege der Be- 
rechnung oder Speculation, sondern auf jenem des Experiments ge- 
wonnen worden sein, wie eine Stelle des Franco von Cöln deutlich 
erkennen lässt: ,,Weil nun jeder Discant durch (Jonsonanzen geregelt 
wird, so wollen wir jetzt wegen der Consonanzen und Dissonanzen 
sehen, die in derselben Zeit aber in verschiedenen Stimmen 
gemacht werden. Eine Concovdanz, sagt man, sei es, wenn swei 
oder mehr Töne, welche man zu gleicher Zeit anschlKgt, sich nach 
dem Gehöre {seemdum audUumjr mit einander vertragen. Discor- 
dans nennt man umgekehrt, wenn zwei Töne mit einander verbunden 
werden, die dem Gehöre nach nicht zusammenstimmen 2). Es 
gibt drei Arten von Concordanzen: nämlich vollkommene, unvoll- 
kommene und mittlere. Eine vollkommene Coucordans ist vorhanden, 



uiusiuae practicae ad usum scholae Lüneburgensis von Lucas Lossius (1670): 
Quoioplez est masica praoticaf Duplex: onoraKs et figmralis u. %. w. 

1) A. a. 0. S. 28. Tinctoris in seinem um 1490 lxikI ruckten Terminorum 
MusicoruraDiflfinitorium »Hfr\ : ContrapHnchis est eantusperpositionemunius 
vocis contra aliuni punctatita eti'ectus. Et hic duplex 8. simplex et diroinaias. 
OaiUnigmnctua simplex est : dam nota vocis quae contra aliam ponitor est 
ejusdem valoris cum illa. Contrapunctns »liininntas est dum plures notae 
contra unam per proportionem aequalitatis aut iuauqualitatis ponuntur . . . 
qui a qnibusdam fUmdut nominatur. 

2) Auch Johannes de Garlandia legt in der Dcßnition der Consonanz 
und der Dissoninz den ffrf^ssten Nachilmck auf die durch das Gehör ver- 
mittelte Wirkung: Cuuüonuutia dicitur esse, quam duae voces junguntur in 
eodem tempore, ita quod una potect oompati com alia secundum auditum . . . 
Disoordaiitia dicitur e^s*-. (|inim duae voces jnnguiitur in eodem tempore, 
ita quod $ecundum andttM» una vox non possit compati cum alia. 



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312 Die Entwiokelnn? dee mehrstimmigen Gesanges. 



wenn man mehrere Töne mit einander verbindet, von draen dner 

vom andern wopen ihres übereinstimmenden Zusnmmenklinfrens 
kaum nntersc'hiedt'n zu wj'iden venii;t;r; dergleichen gibt es zwei: 
den Einklang und die Oi tax e {^uhi.'^oiiu.s et diajtasoti). tlnvollkoninien 
nennt man sie, wenn die Töne sehr merklich von einander unter- 
schieden tind, für das Gehör aber doch keine Discordana bilden; 
deren sind swei: die grosse und die kleine Ten {dUomu €t Bemidi' 
ionus)' Mittlere Concordanzen nennt man jene, bei denen iwei T5ne 
verbunden werden, die eine grössere Uebereinsdmmung haben als 
die vorgenannten unvollkommenen, doch keine so grt)sse wie die 
vollkommenen; das sind zwei: (Quinte und Quarte {dinpeute et dia' 
iessaran) . . . Der l)i^t•ur(lall/^Ml gibt es zwei Arten: v(dlkommene 
und unvollkommene. Vollkommen sind sie, wenn zwei Töne so 
verbunden werden, das» sie sich nach dem Gehöre durchaus nicht 
vertragen; deren sind vier: kleine ßecande, ttberroXssige Quarte, 
grosse nnd kleine Septime (srnniUmua, tntmuu, ditonus cum diapeiäe, 
ti tmiditomta cum diapente). Unvollkommene Dissonanzen nennt 
man jene, deren Znsammenklang das Gehör erträgt, ob sie gleich 
dissoniren*); das sind zwei: die grosso nnd kleine Sexte (to)iH.<i mm 
diajieide, st mitonus cinn diapeute) . . . .Man lunss aber wissen, da^<? 
jede nn\ cdlkomnienc Dissonanz nnniitlt'Il)ar vor einer Consonanz sehr 
wohl klingt-)." In den Schlussworten ist eines der wichtigsten Kunst- 
gesetze der Musik gleichsam wie beiher aufgegrifien: die Auflösung 
der Dissonans in Consonans. 

Die Sexte galt also einstweilen noch fttr dissontrend. Auffallend 
ist es, dass in obiger AsfziChlung die grosse Secunde (iomis) über- 
gangen ist. Johann de Muris nimmt Unison, Quinte nnd Octave 
als vollkommene, die grosse und kleine Terz und die grosse Sexte 
als unvollkommene Consonanzen an^). lici Philipp von Vitry 
(V}iiU})jiu.s deVitrinrn)^ Bischof von Meaux, der dem Hude desselben, 
des dreizehnten, Jahrhunderts augehört, und der dreizehn Iutei'\'alle 
annimmt (1, gr. und kl. 8, gr. und Id. 3, 4, Tritouus, 5, gr. nnd kl. 
6, gr. nnd kl. 7, 8), wird dagegen nicht allein die grosse, sondern 
auch die kleine Sexte bereits unter die unvollkommenen Consonanaen 
zusammen mit der grossen und kleinen Ten tingereihet^). Dagegen 

1) Aehnlieh bei Johann von Garlandia: Imperfectae dicuntnr, com 
duae voces junguutur, ita quod secundum auditum possunt aliciuo modo 
coropati — tarnen uou concordant. Sehr schön ist die Erklärung des 
Mordiettas von Padas: „Dtasonantia fit, com dno soni similiter pnlsi 
sibimet ju-rniisccre nolunt, sed Bcorsum quisque gliscit ire." Wie lie- 
zeichucnd ist hier nicht der Ausdruck : dass ieder der Töne tmvermischt 
für sich gegen den andern die Oberhand behalten will! 

3) Jmneonis Musica et cantns mensorabilis Cap. XI bei Gerbert, 
Seriptores 3. Bd. kS. 11 und 12 „Item scicndnm est, quod omnis impei^ 
iucta diacordantia ante concordautiam bene concordat. 

10 S. in Gerbert, Scriptores III. Bd. 8. 806 .de discsata et eonsonantüs." 

i) Quatnor autem sunt imperfectae, scuioet: ditonns, alio nomine 



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Der DiflcantiM und Fauxbourdon. 313 

wurde die Qnvto durch die FransoBeii, insbesondere durch de Mnns 
und Philipp von Vitrj, dadurch dass sie unter den Gonsonansen mit 

Stillschweigen üb(>r^an«:cn ist, unter die Dissonanzen verwiesen. Die 
mathematischen Verhältnisse der Quarte konnten unmöglich diose 
veränderte Ansicht veranlasst haben, denn sie sind leicht fasslieli, 
sondern wietU-r nur die sinnliche Wahrnehmung des Flauen, Schwan- 
kenden und Hohlen der nackten C^uarte^). Der Paduaner Pros- 
docimuä von Beldomaudo schliesst sich hierin den französischen 
Lehrern an: die Sexten (gross und klein) sind ihm consonirend, die 
Quarte dissonirt (wie er ausdrücklich erklSrt), doch weniger als die 
Septime und die Secunde, sie bildet den Uebergang von den Disso- 
nansen an den Consonanzen. March et tus von Padua verfocht 
dagegen die consonirende Eigenschaft der Quarte und erklärte ins- 
besondere Franco's Lehren darüber filr irrig. Eine neue Bedeutung 
erhielt die (Quarte in den sogenannten Faux-Bourdons^), einer eigenen 
Art Organums, bei welchem die orgauisireuden Stimmen über dem 
Tenor statt der bei dem älteren Organum angewendeten vollkommenen 
Gonsonansen (Qainte und Octave, oder auch Quarte und Octave) die 
unvollkommenen, Ters und Sexte, sangen, wobei snm Schlüsse die 
Oberstimme mit dem Tenor in die Oetave trat. Hier bildeten die 
beiden bourdonnirenden Stimmen unter sich Quartengänge, deren 
Härte jedoch durch den g»'g<^n die Oberstimme in der Untersexte mit- 
gehenden Tenor beseitigt \vur<le und die mit dem alten Quarten- 
organum nichts mehr gemein hatten. ,,Die Quarte," sagt Tinctoris, 
„wird durch den ganzen Verlauf desjenigen Gesanges zugelassen, 
den man Faox-Bourdon nennt, oft iHrd ihr aber die Qainte, und 
noch ttfter die Ten beigefügt Die unterstellte tiefe Quinte klingt 
besser als die Ten." Er giebt folgendes Beispiel eines iweistim- 
migen ans Sexten und Octaven gemischten Fanx-Bourdons : 



Fanxbourdon. 

Teror. 



I 



-9- 



I 



86686668 



<m Sal - va - to - rem 



ferfia perfeeto, tonns cum diaponte, alio nomhie wxto perfecta f aemidi- 

tonus, alio nomine fertia imperfecta, et aomitoniuia cum diapentc, alio 
nomine sexta imperfecta. £t dlcuntur imperfectae, quia uou tarn perfcc- 
tom sonam important, ut species perfectae, (^uia intcrponnator speciebui 
perfectis in compositioue. (Philipp von Vitry, Am contra uuncti.) 

1) Pliilipp von Vit rynenntals vollkommene t'on'^onanzen Üiiison, Quinte, 
Oetave; als uuvuUkommenu grosse und kleiau Terz, grosse und kleine Sexte; 
dann riihrterfort:AliaeverotpeoiesBantdisoordante9, folglich aachdie Qaart. 

2) Porro per totum discur'dnn ciintus ({uem fauxbour lon vocant quarta 
sola admittitur ei saepe quiuta ac »aupius tertia. Uravis quiuta ipsi quartae 
subjuncia snaviorsm ooncentum quam tertia effidat. (IMnotoris Oontrap. I. 6.) 



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314 Die Entwickelung des mehrstimmigen Gesänge«. 



Aehnlich Äussert sich FranchiuusGafor: „Weuii," sagt er, „derTenor 
und dvr Cantus in einer oder mehreren Sexten fortschreiten, dann 
wird die Mittolstiinme, nKmlich der Contratenor, immer unter dem 
Cantus die Quarte einhalten und gegen den Tenor die höhere Terz; 
diese Gattung Contrapunkt nennen die Musiker Faux-Bourdon." 
^- (Fraocliiuus Gafor.) 



1^ 



C. T. 



-- — r=F -^ ^ I ^ 



Ten. 

Der Faux-Bourdou in blossen Sextarcorden war also im Orande 
doch nur ein veredeltes, auhörbar gewordenes Organum und ebenso 
mechanisch ynQ dieses. 

Eine wesentlich andere, kunstvollere Gattung wareu jene spä- 
teren Falsi-bordoni, bei denen der Cantus finnus im Tenor von zwei 
höheren und einer tieferen Stinmie, Note gegen Note, in lauter Con- 
sonanzen begleitet wurde: eigentlich schon eine Art Contrapunkt, 
welche einer beträchtlich entwickelteren Kunstepoche angehört, und 
die nicht immer der blossen Improvisation der Sänger anheimgestellt, 
sondorn zuweilen selbst von bedeutenden Componisten ausgearbeitet 
wurde, wie z. B. nach 1600 Lodovico Viadana seinen sogenannten 
Concerti einen Anhang solcher Falsi-Bordoni beifügt. Die Faux- 
Bourdons und Falsi-Bordoni kamen allem Anschein nach durch die 
Sänger, welche die PÄpste von Avignon nach liom mitbrachten, in 
die päpstliche Capelle und halfen den Grund jener nachmals dort 
so hoch ausgebildeten Singemusik legen. 

Ein solcher ausgeschriebener Falso-Bordone, der sich in Gio- 
vanni Battista Rossi's von Genua 1618 bei Gardano in Venedig ge- 
drucktem Organa de cantori findet, hat folgende Gestalt: 



> g <g <g <g- 



I 



g> 



i rf 1^ 



/TS 



^1 



Domine me festina ad adjuvandum. Gloria patri et filio, et 

spiritui sancto. 



-<5» 



-r 



)ogle 



Der Bitcantw und faaxbourdon. 815 





— ^ 


5r- 




— UtfH^ ^ 


j^M- 

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1 ^ 


4-p-! II 

" 'II 


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. . 


— 6f — 


'TV 


Bicoi erat in prmcipio et nunc et 
Mmpw et in «aecula Mecnlorum. 

^ — mm 1 


AMe 
Amen. 


In • - ia'). 




_ ,..-461.,^ 







Diese Singweise, die unstreitig etwas Feierliches und einfacli Wür- 
diges lint, ist l)is auf den heutigen Tag nicht vfdlig ausser Uel)uug: 
z. B. das Et cum sj^iritu tuo und Amen des dem rriester antwurtenden 
Gliordt iit ein wahrer Falso-Biurdoiie. Welelien Einflnss die Falsi- 
Bordoni auf die Knnsteompontionen selbat der grüssten Heister ge- 
habt, werden wir wdterhin sehen; noch in AUegri's berObmtem 
Miserere werden vdr ihnen begegnen. Sie galten ftr ein Mittel- 
ding Ton Catäo fermo nnd (kuUo figurato*)» 



1) 8. 79. Die laugen Koten werden nach der ZaU der daranf ent- 
faOenden Sylben, mit gehöriger Dedamation, in Ueinere sertheüt: 

J. J J J 1 J J. 0^ J l 0 

Olo-n - a pa - tri et fi - Ii - o et u. s. w. 

2) Giov. Batt. Ronsi (a. a. ().) sapft danilior: ,,Ma porchc nMtiaino fatto 
menzione di falso bordone, mi potrebbe dimaudar alcuno, che cosa, ö 
qnetto Mso bordone^ ovrero: ehe vnol dire faho bordone f veramente io 
non ho trovato alcuno che faccia questo qucsito nulla dimeno daromo tal 
risposta, che restera il cantore appagato e quii to. E donque da notarc, che 
questa h nna m^tafora. Burdo in latino siguifica in italiano quelle chä b 
nato di eavallo et di aaina come notano qaeati reni : 

Burdonem producit eqans coniunctus asellae; 
Procreat et mulum iunctas asellu» cquae. 
B ti come U nato di eavallo et aaina non h ne aaino, ne eavallo, ooii fl fUao 
bordone, qual c composto ordiuariamcnte di caiito fermo e figurato non c 
ne l'uno ne Taltero — ö fermo per Taudar col canto funno po^atumente, 
eome osservano gli antichi Tachet , Palestina (so!) ed altri, ö ft*;urato in 
parte per la conaonamta, che non 6 ncl catito fermo, cantando tutti con nna 
voce e misnra stessa, come r manifcsto. ünde perche falsitica il canto fermo 
etil figuratu, uou esseudu ne l'uno ue l'altro vieu dettu falso bordoyie.^ Pr&- 
torina (Syntagma 8. Thl. S. 9) ^bt folgende ErklBmng: „FOrs erute werden 
die Psalmen, so im Anfang der Vespc^r, aln Nota conf rsi Xotam in einer Reige 
nach einander in Uniaono gesetzt sein, Jk^salmi falai bordouigenenuet, wiewohl 
in denselben nnamehrder Baas In der Quinta unterdem Tenor allseitgefimden 



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316 Di6 Entwickelang des mehrstimmigen G^estngM. 



Neben den parallelen Fanx-Bonidona hatte deh bei den fran- 
sttsischen Kirehensängem noch eine andere, nicht so mechaniBche 

Axt mehrstimmigen, in allen seinen Noten nach deren Dauer genau 
bemessenen Gesanges, der D^chant odi^r Discantus, eingebürgert'). 

Ks gab davon zwei Arten: die einfache, und die mit Zierwerk 
( /'VpujT^/e'.v) ausgcstntt«'te. Hei crsterer beschränkte sich der D«^chan- 
tirende darauf, dass er mit dem Tenor im Einklänge saug und weil- 
weise, wenn der Tenor um eine Stute fiel, um eine Stufe stieg und 

wird, so die RiirTnoninm fftif und comph-t machen. Bei den Italis aber ist 
Falso bordone, welches diu i<V&uzo8en Faulx Bourdon ueouen, wenn ein Ge> 
sang mit eitel Smcteu nadi «nander genrngen wird, also dass der AH vom 
Diacant eine Quarta and der Tenor uid Alt eine Tertia niedriger und also 
oben eine Quart und unten eine Tertia respectu mediae vocis ist. Erat autem 
veteribus receptuni, ut jueundisüimaeharmoniarumcxcursionea interdum hac 
ratione instituert-ntur. Sed cum ▼eram basin non habeant et Bordone Italis 
ehnrdam, quae vnnTr^v rou maximam in testudine sijriiificet, falso Bordono 
appellatur. Denn die Tertia hat ihren natürlichen Sitz nicht in Souis gravibus 
et mferioribas besonders in sonis acntis et saperioribar. Und wie ran dritte 
Bordone eine grosse Hummel, welche daherrauschet, summet und brummet, 
interpretirt wij cl. also gibt diese Art keine liebliclu-, si »ndem rauschende, sum- 
mende HaniKuiiain u. 8. w. — Su werden auch die t'lausulac finales cujuslibet 
toni fabiBordiiiii g< lu iniet. Dann Bordoni projir ic seynd Säume und Ge- 
briihme an Kleidern als Ende und gewisse Weise eines Dinges; wie aus den 
Autiphonis (ubi Clausulae finales cum ClausuUs finalibus tonorum et basibus 
videntur ex parte esse incertae et fiilsae) sn sehen. Wobey damt an erinnern, 
dass etliche vermeynen, der Tenor habe und führe seinen Namen auch a 
Hordon, quod est Latine Tenor, Germauice ein Stender, der unter einem Ast 
am Baume, so voll Gewächs beuget, als ein Stütze gesetzet wird, darauff 
der gantze Baum ruhet, oder als ein Jacobs- und Bilgerstab (Bordone e 
rhasta che porta il ]>eregTino per viaggio), den ein Peregrinator oder 
Wallersmann in der Uaud hat und sich daran halten muss — Item ein 
Barnn mit Bisen beschlagen, da man ein Hanss mit stfitset nnd die ganae Last 
uflFruhot, die Zimmorleute iieimen es Burdonale, einen Träger : also solle ilcr 
Tenor bei den Lateinern den Namen übericommen haben, gleichwie ein Bor- 
don, der den gantzen Gesaug unterhalten sol." Adrian Petit-CocUcus meint, 
der Name faux-))ourdon rühre von den au sich falsditti Quartengftngen her, 
die aber durch die darunter gesetzte FTitersf imme verbessert werden, „et 
dicitur gallice Faubourdon, id est, quod malae species, quae sunt contra 
partem superiorem, excosantur, per vocem inferiorem, sextis sea octavis." 
Adam von Fulda sagt: die Quarte gelte bei einigen für eine perfecte, bei 
andern für eine imperfecte Cousonaiu, „nos vero eam semidissonantiam esse 
dioimiM, id est, com nulla pw ae solam eoncordantem. Quam ettam (Johannes) 
de Maris oonsonantiam rare negat, nisi eam perfecta praecesserit consonan- 
tia, cum perfectis vero aut imperfectis moderatur concordantiis et ipsa 
consonuniium facit non ex se, sed respcctu aliarum; quod musici gentium 
vocabulo faulxbourdon vocare coeperunt, quia Mnm reddit mmum.*^ 
(Mus. 11. 10, bei Gerbert 3. Bd. S 3')1 ) 

1) De Muris sagt: Est enim discantus simpUciter, oui in omni sua 
parte onnoto tempore mensurator (Spccultim Yll. 10). Bemerkenswerth 
ist folgende Aeusserung Franco's (im Texte bei Ilieronymus de Moravia): 
Secundum quod purum Organum haben non potest nisi super teuerem, 
ubi sola noia est unisono; ita quod quaudo tenor accipit plure» notaa si> 
tmii, atatim est discantus. 



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Der Disoantas and Fanxboardon. 



817 



umgekohrt, und im Einklänge schloss. Ein überaus wichtiges, sehr 
bald mit grossem Interesse aufgcgri£fene8 und verwerthetes Kunst- 
gesets, das Gesets der Gegenbewegung, kündigt rieh hier in den 
ersten, wie mflQIig aiiBgestreiieten Keimen an. Femer mossten die 
dorehdas Aoseinandertreten der Stimmen entatelienden Tenen dorch 
ihren auffallenden Wohlklang wesentlich mit dasu beitragen, das 
Vururtheil gegen die Terz g^ndlich beseitigen an helfen. Der ver- 
zierte D^chant bestand in verschiedenen Molismen und bunten Fi- 
guren, die über dem Tenor nach Einsicht und üeschmack ausg^efiihrt 
wurden, und bei denen oft höchst bizarre Tongäuge vorgekommen 
Bein mögen 1). 

Bin Beispiel, wie die Ters dueh das Anseinandortreten der 
Stimmen ans dem Unison mn^fUhrt warde, giebt ein swelstun- 
miger Gesang des 12. Jalulinnderts (ans der Bibl. Ton Donal, 
Mser. No. 184): 



Tenor. 









: a* 


LA». 












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^ \-JBa- 1 1 1 w — p - «>i- --»'4 ö'-^i 

4818 1S8648 1 1 



1) Kiesewetter, Gesch. der Mus. 2. Aufl S. 36 safrt: „Wurde vollends 
einsolcher üxtemporirterodercouvtiutiuucllurDcchaut in melireren Stimmen 
und in verschiedenen Intervallen gewagt, so ma? oft ein wunderliches Cha- 
rivari zum Vorschein gekommen sein, und es ist schwor 7.\\ bnirreifou. dass 
man irgendwo an solcher Musik sich ergötzt oder erbaut haben könne." 



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318 



Die Entwiokelung des mehntimiiJgBa OeMi^ei. 



Das Discantinren wurde jetet m einer föimlieheii Kuiitt («nv diMSMi« 
tandi), deren Grundsfttze sich bei fortdauernder praktischer üebuag 
nach den öfter wiederkehrenden Combinationen an bestimmten Ke- 
ppeln and Audeutuugen zusammenstellen liessen und daher auch den 
Gegenstand ganzer Tractate zu bilden anfingen, in denen die Vor- 
stufen der eigentlicluMi Lehre vom Contra|)nnkt zu erkennen sind. 

Als VcrtastierbuichcrTractateBindzuneunen im 12. Jahrhundert: 
Guido, Abt von Ghalis im Kloster Qteanz in Burgund^}, Johann 
de Garlandia (nicht zu Tenrechseln mit dem gleichnamigen eng- 
lisehen Dichter und Grammatiker ans dem 18. Jahrhundert), anch 
Gerland genannt, ans Lothringen gebürtig, Canoniens der Abt« 
von St. Paul in Besan^on^; im 13. Jahrhundert Hieronymus de 
M oravia, der wer weiss durch welches Lebensschicksal ans Mähren 
in das Doniinicanerkloster von St. Jacob in Paris versclilnfrcn wurde^), 
anch France (von (!öln) und im 14. Jahrhundert J oliann de Muris 
und Philipp von Yiiry^) beschäftigten sich angelegentlich mit dem 
Discantus, obwohl die beiden Letateren schon unter die Begrttnder 
der Lehre vom eigentlichen Contrapnnkt gerechnet werden müssen. 
Sehr bemerkenswerth ist, dass eine Abhandlung (fond Sl. Victor in 
der Pariser Bibliothek, Mscr. Nr. 813) zwar die lateiirische LTeber- 
schrift trägt „de arte dist avtnndi" , übrigens aber, für jene Zeiten 
etwas höchst Seltenes, in der vulgären Sprache, nämlich in alt- 
französisclier, verfasst und offenbar für den praktischen Unterricht 
der Knalicn und uugelehrten Sänger berechnet ist. Der Discantus, 
wie er sich in diesen Schriften darstellt, ist der Uebeigang vom Or- 
ganum sum Oentrup unkt und die Vorstufe des letstem. Seine ^geoste 
Heimat war Frankreich; in Italien blieb man bei dem Organum mit 
seinen Quarten und Quinten, und der Versuch, den eine in der 
Ambrosiana zu Mailand befindliclie, aus dem Ende des 11. oder dem 
Anfanirc des 12. Jahrhunderts herrülircnde HaTulsclirift macht, das 
Organuni als Organum theoretisch tiefer zu begründen und praktisch 
reicher zu gestalten, lässt eben nur erst zweifellos erkennen, dass in 
dieser Uugcstalt keine audere Bildungstahigkeit lag, als sie völlig 
au&ugeben und ftr die Gleichseitigkeit mehrerer Stimmen richtigere 



1) Das ManuBcript seines Werket in der Bibl. St. Oenevt^ve eu Paris 
No.1611. Abgedruckt in Coussemaker's Histoire de rharmonie du moyen Sge. 

2) Seine Sdirift findet sich in Caj). XXVI dos Manusn ij^tes des Hiero- 
nymus de Moravia wörtlich aufgenommen. S. auch Coussemakcr a. a. O. 



et Huiifjariam Äto ortus. . . . medio scculi XIII circa S. Thomae Aquini 
tenipora claruiste videtur et saltem annis quibusdam in domo 8aiyacobea 
Parisiensi egisse**. P. P. Quettf und Bchard: Scriptoret ordinis prae- 



uQcti magistri Philippi ex Vitriaco^' JNlanuscript Ho. 5321, und in der 





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Per DaewitM und FMubonrdon. 



919 



I'hncipieu zu Sachen. Fünf Gattungen vom Organum gebe et» nach 
Yen^fldeiib^der Anoidiiiuig der Intemlle, sagt der nnbeluuiiite 
Autor; ieiii Wesen bestehe darin, dass die Btinunen in Eintracht 
swietiffehtig nnd in Zwietracht eintrfichtig sind {caneordiitr dissonant 

et dissonanter concoräant)\ Anfang und Endo müsse im Einklänge 
oder der Octave Stehen, daawischen aber sollen Quarten nnd Quinten 
wechseln^). 

. 8514446614 5 8 

Bi der ttber Anfimg nnd Sdiinss gegebenen Bogel, in dem nicht 
mehr mit eiserner Conseqnens festgäialtenen Intenrall der Quinte 

oder Quarte allein, in der Einmischung von Oegenbewcgungen 
zwischen die parallelen liegt eine Art Annäherung gegen den fran- 
zösischen Discantus hin. Das alte Guidonische Organum ist hior offen- 
bar ein bereits überwundener Standpunkt. Nur ist auf dem neu 
gewonnenen eben nichts gewonnen. 

Der Discantus der französischen Theoretiker uud Praktiker galt, 
wie Hniis ansdrtteklich erinnert, ursprünglich flir eben auch nidits 
weiter als Ar das Organum^; er bestand nrsprttngUeb aus nur swei 
Stimmen, dem Tenor nnd einer höheren Stimme, welche eben Dis- 
eantns biess^: Benennungen, deren Andenken und Gebrauch noch 
in unserer houtitjen Musik erhalten ist, obwohl ihre jetzige Bedeutung 
gegen die urspriinglicho etwas modificirt ist*). Doch schritt man 
bald zu zwei- und dreistimmiger Begleitung des Tenors, wo dann 
die audercu Stimmen Moteius, THpluM und (^uadruplum genannt 



1) „Organum est vox sequens praecedcntem sub cclcritate diapente 
et diatessaron quamm videUcetpraeoedeutis et aubsequeutis fit copula 
aUmm deoentt oonsonaatia.'* — Weiterhin wird der Werth des Organums 
in Versen gepriesen: 

Organum ncqtiirit tot um, sursum et inferius 

Currit valde delectaudo, ut miles fortissiinus 

Franf^it vooes velut prinoeps, senior et dominus 

Qua de cnmn npplicandn sonat multo dtilcius — u. 8 w. 

2) Discantare erat orgauizare vei diaphonizare, quia diaphouia dia- 
oaatos est (de Maris, Speculum raus. VII. 8). 

8) In principio in discantu nou erant nisi duo cantus, nt ille qui 
tenor dicitur, et alius qui supra tonorcm decsataturi qui Tocator discsn- 
tu8 (de Muris, Speculum luua. VII. 3). 

4) Die }k^eichiiuti<; des Discantus als Frauen- oder Knabenstimme 
kommt schon hu Microlog de» Ornitoparchus (1517) vor: „Di'jfantus oni 
ciyasUbetoantileaaeparBBuprema. Velestharmonia^eiiari voce modulanda. 



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320 



Die Eniwickelung des mehntimmigen GeMmgw. 



wniden^). Der Tenor wurde auch wohl Caniu» oder Fbmm eanhiB 
genannt. Die Dsuer der Noten in den «nselnen Stunmen maaete» 
sollte es nicht in Unordnung durcheinander klingen, unter sieh genau 
bemessen sein^), so dass derDiscant unmittelbar zur mensnrirtenoder 

gemessenen Musik und zur Ausbildung einer für letztere angemes- 
senen Notenselirift leitete. Das Wichtipste dabei war, dass der Werth 
und die Wicliti^keit der Gcgenbewefjunp (des moius contrarius) die 
gebührende Anerkennung fanden. Stieg der Tenor, so sollte der 
DiBcant fallen, und umgekehrt^; parallele Bewegung war zur Ab- 
wechslung, jedoch nur als Ausnahme, gestattet^). Johannes Gotton 
gibt für die Oegenbewegung dieselbe festbestinimte Bogel: „dasa 
der Discant (organica modulatio) fallen solle wenn die Hauptstimme 
(recta modulatio) steigt, und steigen wenn diese fttUt; bei angehal- 
tenen TonsehlUssen der Haiiptstimme in der Tiefe soll der Discant 
dazu die höhere Octave angeben, und wenn die Hauptstimme in der 
Höhe Bchliesst, umgekehrt die tiefere Octave; erfolgt der Schluss 
aber in der Mittellage, so ist in den Einklang überzugehen'^)/' Die 
Qnaxte war nun r<m dien framSiisGhen Lehrern aus der Reihe der 
Consonansen weggewiesen worden, es blieben also nur drei vorsag- 
liehe Consonansen, die „besser sind als die andern", wie es bei 
Hieronymus de Moravia heisst*), ttbiig: Unison, Quinte und 
Octave. Diese drei vorzüglichen Consonanzen sollten den Kern und 
das Wesen des Znsanunenklanges von Cantos und Discantns bilden; 



1) Discantus uuo modo dicitur a dia, quod est duo, et cantua, qoia 
duplex est, vel duo eaatui teu duorum cantni. Quia etsi pofdt esse plnriun, 
magis proprio tarnen est duorum (a. a. 0«). Quamfis proprio nai tsoori unns 

respondeat cantus, ut sint duo cantns, possunt tamen aupra tenorem unum 
multi tieri discautas, ut motetus, triplum, quadruplum (a. a. 0.) Sonach be- 
deutete Discantus soviel wie Gegenstimme, begleitende Stimme ftbet^ 
haupt: jeder G( frpjifrp>^nri(r gegen einen gegebenen Tenor hiess Discantus. 

2) Item ai firtnm cantua aacendat u. s. w. £t e converso discantus 
ssoMiast li etmhu per tommi BmoaM (aus der „Ditoantus vulgaris po- 
sitio" bei Hieronymus de Moravia). 

3) Discantus est aliquorum diversorum cantuum consonantia, in qua 
illi diversi cantus per voce» lonfjaa, hreves et semibreves proportionaliter 
adaequantur et in scripto per dt liitan figuras proportionari sd tavioem 
designantur (Franco. im Texto bei Hieronymus de Moravia). 

4) £t sciendum est, quod tenor et discantntpropter pulchritodinem 
cantus quandoque simol aseendit et deaoendit Qmai90 a. a. O.). Sonst 
ist in den Tractaten die Vorschrifl der Gegenbewegung überall fSr alle 
einseinen Fälle consequcnt durchgeführt. 

5) ut ttbi in recta modulatione est elevatio ibi in organica fit 

depositio et e converso. FroTidmdum quoque est organizanti, ut si 
recta modulatio in gravibus mornm fecerit, ipse in acutis canendo per 
diapason ocourrat, si vero in acutis ipse in gravibus concordiam faciat, 
oaatui antem in meae vel eiroa mese pansationis üfMnente in eadem vooe 
respondeat (Joann. Cotton, bei Gerbert Scrij tnrrs TT. S. 104). 

6) Inter concordautias autem tres sunt cetens meliores, scilicet uni- 
Sonns, diapeute et diapason (Discant. vulg. positio, bei Hier, de Mor.). 



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Der Difloaiiiaa and Fauxboardom. 821 

die uiiTollkommenen GonBonansen, Tenen nad Sexteiii nur swiMhen 
die yoUkommenen nebensflchlieh eingelegten Dissonanxen sind der 
Abwechslnng wegen an „gehöriger Stelle"^) im Durchlange einsn- 
mischen; wo Note gegen Note geeeint wird, oder zwei Noten gegen 
eine, soll ea durchaus consoniren: im letztern Fall darf die eine 
Note ausnahmsweise ilissnniion, um der Musik Färbung'' zu fTfluMi*). 
In diesen Grundsätzen kün(lij;eii sich schon die Kr;.'-t'Iii au, d'iv licr- 
uach iu reicherer Durchtlihruug in die Lelirc vom Cuntrapuukt über- 
gingen. Die Seliritte, welche der Discantirende an madien hat, sollen 
mit dem Tenor im Wesentlichen in den vollkommenen Consonansen 
der Oetave oder Quinte susanunentreffen. Das Unangenehme der 
Octav- und Quintparallelen wurde durch die rSegenbewegung be- 
seitigt. Das Verbot wurde etwas später wirklidi ganz ausdrücklich 
ausgeHprochrn, einstweilen wich man solchen Parallelen in den meisten 
Fällen mit unverkennbarer Alisiclitlichkcit aus, doch nicht ganz, wie 
z. B. in dem vorhin mitgetheilten Verhum hoiniui ft snave drei Octaven 
nach einander auftreten. Die Discantirregelu sind darauf berechnet, 
dass durch geschicktes Einsetsen des Discantus solche Fortschrei- 
tnngen vermieden weiden können; jene altfransSsische Jbn diacanr 
tondi sehreibt gleich fUr den Anfang vor: il (der Tenor) monte 
nous devans prendre la double note (die Octave); «i «2 avaU lum 
devinu preiidre la quinU note": 

Diso. 8 5 

Tenor. ^ 

offenbar nur, damit fUr den Discant genug Raum da sei, um durch 
die Gegenhewegung im ersteren Falle ans der Octave in dir t^uinte 
fallen, im zweiten aus der Quinte in die (>ctave stcitreu »ind «o 
Octave auf Octave, Quinte auf Quinte vernM'idcn zu kilnncn. Die 
Abhandlung „Diacantua vulgaritf jfositio" bei Hieronymus de Mo- 
ravia lehrt gans Aehnliches, und insbesondere wie hei drei Noten 
gegen eine die unvollkommenen Consonansen und die Dissonansen 
als Zwischenstufen einsnschalten seien. Es werden alle Intervall- 
schritte des Tenors einseln mit ausführlichen Erkllrungen durch- 

1) Franco sagt : „Deinde prosequeudo per concorüantias, commisccndo 
aliquando discordantias in locis debitis" u. s. w. (bei Oerbert III. S. 

S> Johann de Qarlandia sagt: „Omne qnod sti in pari, debet concn - 
dare cum omni illo qiiod sit in impnri, si f»it in primo vel pcnindo vel 
tertio modo." Doch lässt er Ausnahmen zu: „Üed duo puncti sunientur 
bio pro nno et aliquando enm eomm ponitur in ditcordantiam propter 
colorem musicae. £t hie primus sive «^ccundus et hic bene permittitur 
ab anetorihna primis et lioeutialiter, hoc autem iuvenitur in Orgauo di- 
versis loci« et praecipne in motetis.*' 

Aaibret, «Mobiclite dw Mwik. n. 21 



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322 



Dio Eiitwidk«loBg äm mehntimmigeii GenngM^ 



gcQommen, sogar der Schritt in die Septime ; nur die Quarte ist völlig 
ttbergangen. Wenn man sieh erinnert, was sie den Griechen war, 
80 macht rie hier fast den Eindruck eines in Ungnade gefallenen 
GUnstlings. Die anlSssigen Schritte sind nach den gegebenen Er- 
klärungen folgende: 




6 B 7 5 8 7 8 



Tenor aof dernlben Stnfa 



87S 57 H, 8TS SS8 8B»t 




f — TT — r""f — 7 * 'j 

2. vnn eineu Halbton stei- 3. um einen Ganztou stei- 4. um eine 
gend oder fallend. geud oder fallend. kleine Terz. 




6. mn eine Qniata. 



'ff 



6. mn tia» Ueine Sesi 



7. um eine grosse Sext & vm eine Septime. 




»Jlast du dieses gesehen und deinem Gedächtnisse wohl eingeprägt*', 
sehliesst die Abhandlung, „so kannst du bei gehöriger Anwendung 
des Wissens auf die Uebung die ganze Kunst des Discantirens dir 
eigen machen"^). Auf «ranz übereinstimmenden Grundlagen nihen 
die Anweisungen jener altfrnnzösisch geschriebenen Ars diacantaiidi, 
nur ist hier alles noch einfacher: Alles was der Discantirende su 
beobachten hat, ist, Note gegen Note singend immer also tu steigen 
oder su fisUen, dass wenn er mit der ersten Note gegen den Tenor 
eine Quinte angegeben, die sweite eine Octave sei, und umgekehrt; 
und beim ersten Einsetzen eines dieser Intervalle immer so zu wählen, 
dass ihm genügender Spielraum bleibe, um jene Bogel beobachten 



1) Quibnsvisis et memoriaecommcndatis totamdiacautandi artem habere 
poteris, arte usui applicata (Diso. valg. pos. 40 bei Hioron. de Moravia). 



Der DiscMttns and Fauxboardoo. 



323 



und parallelen Fortochreitungen vollkommener Consonansen ans- 
weiehen sa ktfnnen. Quido von Ghalie sieht auch noch die von 
den flbrigen fransöaiachen Theoretikern aufgegebene Quarte und 
den Einklang mit hinein, daher die Zahl der von ihm erklärten Fort> 
■chrMftnngen auf einundvi«»ig steigt. Merkwürdig ist , dass er 
poppnzwei Quinten nach cinnn»l«'r dann niolit das rjorinf^stc hat, wenn 
aie durch (sprungweise) Gegen beweg uug der Ötimmen ontateheu: 





1 




- ( 










- r> rm 


-n 




1 



ein neuer Beweis fUrdas damals, schon stillschweigend angenommene 
Verbotgesets der Folge sweieryoUkommenenContonanaen in gera- 
der Bewegung, ein Geseti freilich, an das sich die Praktiker nicht 
banden, und das erst im 14. Jahrhundert ausdrücklich anerkannt 
nnd ausgesprochen wurde. Dabei werden der discantireuden 
Stimme oft schwierige nnd nnsingbare Sprttnge lugemuthet: 

Die französischen, insbesondere die Pariser Bibliotheken bewahren 
noch eine nieht nnbedentende Ansah! von Gesfingen], welehe die 
Anwendung dieser Gesetze in der praktiseken Ausübung neigen, 
wie folgender dem 14. Jahrhundert angehörige zweistimmige Gesang 
aus einem Manoseript ^r. 11S9) der Bibliothek sn Paris: 



(CouBsemaker, hnrm. da moyen ftge.) 





^-1 








iL. 

a 


8 

>ra 




>ge, mi-ro mo-do De-us for*nii 


Ii ho • nu- 























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nem, 


5. S 

mi-re 


ma-gis 


ft 4 s 1 a 
hune re • for - mat 

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mi-rum 


WU-^» — 1 


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324 



Die Eatwickelung des mehrstimmigen Gesanges. 




or-m - m 



8« «4 58 ft« tta Ii 



nem. 




^.^nutti'ji mi-xtw w • in lioe m> - nat 



• 1 

>Cft'OOI> 



1 i 6 Alst 



• 1 41tC It 



• t t • 



iRi t f — r 




Hier werden noch Quint- und Qnartparallelen ohne Bedenken ein- 
gemischt, überhaupt zeip^ der ganze Satz, wio viol der D6chant im 
1 1. .lahrhuudort iiocli vom Organum an sich hatte; der Schluss klingt 
wogen der darin \ ( n wicii^cud angewendeten Terz zutallig erträglich. 
Ein anderes .Manuscript der Pariser Bibliothek (Nr. 812) enthält 
unter andern ein dreistimmiges Sattdua und Benedictus aus dem 
12. Jahrhondert, beide in der Harmonie Xnasertt loh; sie laasea 
die Beobaohtong der Begela flir die dritte Stimme (IWfiliMi) 
erkennen, wie sie sieb bei Franeo finden: 



^1 



■6^ 



Be-ne-dic-tos 



II jTT I ~1 




2t 



2s: 



Be-ne-diotas 




Be-ne-dic-tu8 



U. 8. W. 



Man müsse, lehrt Franeo, wenn man zu zvrei Stimmen eine dritte a.8. w. 

setzen will, sehen, wie sie sich zu den schon vorhandenen schicke; 
wenn sie mit der einen dissnnirt, müsse sie mit der andern consoniren; 
auch solle die hinzutretende Stimme nicht immerfort mit einer und 
derselben von der früheren auf- oder absteigen, sondern bald mit 
dem Tenor, bald mit dem Discant u. s. w. Franeo hat seine Lebren 
Uber den dreistimmigen Sata durch ein Exempel illustrirtt welche« 



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Der OisQUitii» and f •azbourdoiL 



325 



Im Texte bei ffieronymas de Horavia (Per. Bibl. Meer. Nr. 1817) 
steht, sngleieh eineB der lltesten Beispiele eines partitnr- oder viel- 
mehr tabulatarmitssig notirten Saties, und bei aller Unbeholfenheit 
und Rohheit doch schon ein grosser Schritt über das Ofgannm 
hinaus ist: 



de 



S 



1- 



I 



1) 



olcia 



(Entziflbrung von E. Coussemaker.) 



i 



(ÜBhlt im Orig.) 



-'^ ^ ö»— 'S' — ^ e/ (g 




Ini — =: P (~ ■ — ^ — p T— 









(Sohrnbfehler im Originsll) 



Als «ich, wohl schon im 9. Jahrhuiidort, von der ersten Stimme, 
dem gegebeneu Gesauge des Cantus firmiui, eine zweite lusloste, 
wagte man, nur sie mit der ersten, einer vollkommenen Consonanz, 
derQninte, Quarte oder Oetave, mitgehen m lassen. Dadnreh wurde 
die organisirende Stimme nichts weiter als ein Reflex, ein etwas 
anders geflirbtes Spiegelbild der Hauptstimme. Beim filteren D6chant 
mischte man, wie wir sahen, nach einer siemlich mechanischen Mani* 
pulation auch andere Intervalle ein: man stieg mit der Ooprenstimme, 
wenn die Hauptstimme fiel, und umgekehrt. Iiier war die Gestalt 
der Gegenstimme noch immer eine unmittelbare Consequenz der 
Hauptstimme und im Grunde nur eine Art Umstellung der letzteren, 
aber es trat doch schon eine Art von Selbständigkeit, und besonders 



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326 tHe Entwickcluug de« mehrstimmigen Gesanges. 



in der strenge eingdialtenen Gegenbewegung eine Art Contnst ein. 
Es kam hier, wenn auch nur wie durch Zufall, schon eineArtOegen- 
mcloflio heraus. Dies konnte mit bestimmter Absicht aufgegrriffen 
und dem Tenor, so gut als es die noch unbeholfene Kunst vermochte, 
im Discant eine zweite Melodie entgegengestellt werden, allen beiden 
im Triplum eine dritte u. s. w. Diesen Staudpunkt, der eigentlich 
sdion den Uebergang vom Xlteren mechanUeben D^ehaat mm eigent- 
lichen regelmtssigen Contrapnnkt hildet, eireiehte, wie wir an dem 
Torstehenden Beispiele sehen, schon Franco. Ganz deutlich und be- 
stimmt tritt die Auffassung des Discantus als einer wirklichen Gegen- 
melodie in einer Stelle des Johannes de Garlandia hervor. Man 
gebe der Musik Färbung (color) durch drei Mittel: durch den 
geordneten Klanf^ {Sono ordinato, d. i. wrdil durch einen regelmässig 
geordneten Discantus überhaupt), dunh Tiorirung (Florificatione) 
und durch die Wiederholung (i^e/zdi/to^ft^). Letztere ist eine doppelte: 
entweder in der nltmlidien Stimme (ejusdm weis), wenn fiimliffb in 
einer nnd derselben Stimme eine ganae Phrase wiedeilKehrt nnd da- 
durch dem Hörer als ein schon Bekanntes neuerdings entgegentritt, 
oder in ver schiedenenStimmen (repetitio divenaevocis), wenn 
dieselbe TMirase ({(lern soints rejjefitus) in verschiedenen 
Momenten von verschiedenen btimmen (tR äivertO tonpore 
a diuersis vocibus) vorgetragen wird: 



A. 








B 


A. 


r 1 r " 






p-f:.. 4 : 







Zum erstenmale geschieht hier des unschätzbaren Kunstmittels der 
Nachahmung ErwMhnnng; in dem Beispiele aber wird es in mner 
allerdings noch nichts bedeutenden Gestalt, nimlich als blosser 
Phrasentaasch in den beiden Stimmen, angewendet^). Gewiss ahnte 
weder Garlandia noch irgend einer von seinen Zeitgenossen, welche 
unermesslichen (\)n8equenzen sich an diese halb tändelnde Umsetzung 
reihen, so wenig wie die mit geschliffenen Ginslinsen sjiielenden Kinder 
jenes Brilleumachers in Middelburg ahnten, dass ihr kindischer Einfall 
durch zwei solche Gläser nach dem Wetterhahn des Kirchthunns zu 
schauen den Weg zu den Wundem des unendlich Grossen im Sternen- 

1) In einem neuestens (1869) im Archive der medic. Facultftt m 
Montpellier gefundenen Manuscript des 13. Jahrhtiiiderts sollen sich 
französische Lieder behuden, in denen bereits wirklicher doppelter 
Oontrapenkt angewendet ist Die verheiaMnePtablication durch Oonne- 
maker wwd darüber wohl Anfschlnss geben. 



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Der Diaeft&tiu und Vaiiztiourdon. 



327 



himnicl, wie des unendlich Kleinen im Wassertropfen balinc. In einem 
dreistimmigen Tonsalze aus dem 12. .Tahrluindert (Mscr. Xr. 1817 
Pariser Bibl.) finden wir in dfu beiden über den Tenor gesetzten 
Gegenstimmen (Motetus und Triplum) bereits vollständig ausge- 
sprochene Imitationen; übrigens ist es trotzdem ein rohes Produkt: 



Cu - 8tO 



di 



DO« 



Do 



(Coonemaker a. a. 0.) 



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so« 



Do • - mi 



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Ca -sto 



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la - nun 



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cu - sto- 



cu - sto- 




no8 om - noB 



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hu • jiM 



not om - n«8 



hn - jot 



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'S!: 



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ea - • lietc. 



Marchettus von Padua ei-whbnt der sogenannten Perniutatio^), 
d.i. der VerSnderung eines Tones auf derselben Htuf'e durch oderj?, 



1) Pennatatio quid rit et qaomodo fiat ^noid. raus, plante. 8. Traotat. 



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828 



Die Entwickelung des mehntimimgen Gesanget. 



und gibt dasu ein Beispiel, in dem beiher sich wieder eine an* 
dere wiclitige eontiapanktiBche Manier, die Verkehmng des Thema, 
ankündigt: 




Es ist im höchsten Grade raerkwUrdi{i;, solche Keime da und dort 
wie in einzelnen Blättchen aufspriessen zu sehen. So finden sich 
unter den Motetten Adams de la Ilale, welche in der Bibliothek 
zu I^aris aui'bewalirt werden (Codex 65 und 66, fonds la Valli^re) 
einige, bei dmien flbor i^en nnd denselben idiii oder iwSlfinal 
wiederholten Gang des Canhu fkumt ab obstinaten Bass die 
htthem Sternen einen manmgiiwhen, wenn gleich noek rohen 
fiorirten Contrapunkt bilden. Dieser spielende Einfall wurde dann 
gelegentlich von den niederländischen Meistern in sehr sinnreicher 
Weise verwerthet. Der Codex No. 1783 der llofbibliothek zu 
Wien enthält eine sehr troff'liche Messe {Officium mi-vti) von de 
Orto (einem Mrister, von dem l'etrucci 150.'} in den Ciuiti cento 
ciuquanta das vierstimmige Lied „Les trois filles du Paris'' 1505 
ein Buch Messen nnd 1506 Lamentationen dradtte), in welcher 
Hesse gleieb das erste Kyrie nnd das Christo so componirt ist, dass 
der Bass immerfort die Noten e Äe f 0 wiedeiliolt. HXnders don- 
nernder Weckruf im Alexanderfest, Seb. Bach's Cracifixus in der 
hohen Messe, seine Passacaglia sind allbekannt, sie beruhen anf 
demselben Kunststück. 

Eine panz eigene, wunilerlich «geschmacklose, aber im Dechant 
ungemein beliebte Manier war der sogenannte Gehet Iis {Hocqiid)^ 
d. b. {Schluchzer, welcher darin bestand, dass der Säuger einzelne, 
durch Pansen unterbrochene, knrs abgestossene Töne hQren liess, 
welche an die abgebrochenen Laute des Schlnchsens erinnerten und 
daher ihren Namen hatten^). Diese Manier, gegen welche Papst 
Johann XXII. in seinem gegen den Dächant geschleuderten De> 
cretalc seinen ganz besonderen Unwillen ausspricht, erhielt sich bis 
in die erste Hält^e des 14. .Tahrlmnderts hinein; man findet ihn z. B. 
noch im Contratenor der dreistimmigen, aus jener Zeit herrührenden 
(>hanson „mais qu'il vojis vienne ä plaisance"^. Einer der ältesten 
Niederländer II. de Zeelandia wendet ihn im Contratenor seiner 
dreistimmigen Chanson Fseke perÜH theils in gestossenen einseinen 

Cap. 2. Permutatio est variatio nominia vocis aeu notae in eodem spatio 
sen linea in diverso sono, fit enim permutatio, ubi touus dividitur prop- 
ter Goosonantiam in diatonicura et enannonioom ant in ohromationm et 
diedm, vel e contrario. 

1) F^oo definirt: „Oekefus truneatio eai oantnt, reetis omiBsisque 
VOdbns truncatc prolatus. 

2) No. 4 der Bei Ingen zu Kieaswetter'a Qesch. d. M. Der üchetas 
lieht im 9. und 10. Takt. 



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Der Diieaiitiii imd B'Mizboiiid(m. 



Tönen, theils in Gruppen von je zwei Tönen reichlicb an. Im 
Tenor eines anderen Liedes „Flettrs de Mai^' benütst er ihn au 
der aitigea Spielerei, den Knknksnif damit naehsnalimeii; und in 
einer vientimmigen Chanson ans demselben Jaihrhondert, die 
rieh im Besitze der Bibliothek von Cambray befindet, besteht der 
Tenör (die tie&te Stimme) £ut gans und gar darauf: 

Triplim. (Counemaker, hum. da moyen Ig«.) 




''7 f I r tHrT^-f-i-i-j—^ 



Tenor. 



Ochutuf 



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qaet 



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Oche- 



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Oohetos . 




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Oohetns, 



330 



Die Eni Wickelung des mehntimmigen Gesanges. 




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part 2da|) 



Geg:cn (las Ende des 14. Jahrhundert» kam al)cr der vielbelicbtc 
Ochetus aus der Mode, bei den niederländischen Meisteni jener Zeit 
(Dufay, Bincliois u. 8. v.) ßndet man ihn nicht mehr, und im 15. Jalir- 
hundert g:erietli er so vidlständig in Verfj^essenheit , dass ihn Tinctori» 
in seinem „Diffinitunum terminorum muakoi-um" nicht einmal mehr 
einer Erwffbnung werth hXlti). Eine andere Zierweiae wmr die soge- 
nannte Pttea, eine Verbindung einer bttbetn und tiefem Note, die 
man in der Notenscbrift dnrob das sehen bei Oelegenbdt derNenmen 
erwfihiito Zeichen andeutete. Man riihrte, wie ^egulae de aiie 
(liscantandi bemerken, diese Manier mit dem Kehldeckel (Epiglottis) 
aus. Es scheint eine Art von Vorschlag gewesen zu sein, eine Art 
Pralltriller oder Mordant, wo zwei Töne gleichsam zusammen- 
geflochten wurden {pliccUfantur). Marchettus von Padua sagt: man 



1) Franco definiri: Plica est nota divisionis cjusdem soni in (n^yem 
aeet atum. Er unterscheidet eine Plica asceudens und descendens, eine 
Pliea longa, brevit und ■emibreri«; aber seine JGrfclinmg ist sebr donkeL 



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Der IMioatm imd fauxbourdon. 



331 



maebe die Fliea, indem man die Note auf« oder abwIrts in dnen 
HiUbton binttbenieht {thfbrdker9 1» mmnn vd deoraum am voce 
fidüf d. i. mit einer nicht attsdrtteUieb geficbriebencn Note oder mit 
dem böbeni oder tiefem der Mtiftica fida angehörigen Halbton). So 

sncbte man dem Gesanpe Ixciz, Interesse niul Abweclislungtn geben. 
In Frankreich kam mau etullich gar auf den barbarisch abenteuer- 
lichen Kiufall. zwei oder drei ganz verschiedene, von einander uuab- 
liängig erfundene, auf eine Verbindung unter einander gar nicht be- 
rechnete Melodien mit ganz verschiedenen Texten so zuzurichten, 
dass sie gleichseitig gesungen tm mehrstimmiges Stack bildeten, 
eine Operation, der an Liebe man die Koten der gewihlten Melodien 
auseinanderzerrte, verkUrste,' umstellte, wegwarf, andere dafür ein- 
flickte und so endlich Singestacke zu Stande brachte, die trotz aller 
gegen ihre Grundmelodien atisgeUbtcn Gewaltthätigkeiten begreif- 
licherweise doch nur roh aufeiuanderstossende Hannonien enthalten, 
da man von der Kunst, mit welcher die sjiäteren gmssen Com])o- 
nisten zuweilen zwei gegebene Melodien nach Gesetzen des Wohl- 
klangs sn eombiniren verstanden, noch sehr weit entfernt war. Es 
genügte, wenn die Noten der gewählten Melodien so aneinandcrgc- 
kettet wurden, dass sie in Quinten, Qnatiea, Octayen u. s. w. auf- 
einandertrafen ohne alle IlUcksicht auf Wohlklang, auf natuige- 
mXsse Verbindung und Fortschreitung. 

In den erhaltenen Denkmalen erkennt man solche zusammen- 
gebackene Melodiebreccieu (wie man sie nenTien könnte'! schon äusser- 
lich daran, dass jede der vStimmen einen ganz verschiedenen Text 
beigeschrieben hat, und dass die harmonische Textur noch viel un- 
geschickter iit als bei Sttteken mit frei wo. einem Tenor erfundenen 
eontrapuaktirenden Stimmen. Es sind unglaublich barbarische 
Stttcke und es blmbt ein Rithsel, wie jemalsMenschenohrett an einem 
solchen missklinge uden iMlschmasch, wie z. B. nachstehende Com- 
Position von Adam de la Haie ist, Gefallen finden konnten. 



(Nach Bott<e de Tonhnon). 




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332 Die Entwickelang des mehrstimmigen Gesanges. 



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Der Cantus firmus (eine echt französische Melodie, trotz des auf etwas 
Kirchliches deutenden Saeculum) liegt hier im Bass, darüber sind zwei 
andere Melodien angebracht. Da«8 sie nicht nach dem Cantus firmm 
der tiefen Stimme eigens erfunden Bind,8iehtmandeatlich genug; noeli 
dentiicher aber, wenn man ne mit andern mehrstimmigen Liedern, 
wo letzteres wirklich der Fall ist, vergleicht, mit anderen Gesingen 
Adam de laHale's selbst, z. B. dem l?(nule11iis jemuir d*amouren.B.w» 
Während man im letzteren Stücke deutlich bemerkte, wie zu den 
Noten der den Tenor enthaltenden Mittelstimme jene der beiden 
anderen eigens erfunden «ind, sind hier die zwei ohern einander 
ursprünglich ganz fremden Melodien so zusammengezwungen, das» 
ihre Abschnitte jedesmal mit einer Quarte zusammentreffen, und zu- 
sammen mit dem Bass DreiklXnge mit weggelassener Ten und ver^ 
doppeltem Grnndton entstehen. Die Texte der beiden höheren 
Stimmen klingen wie Exponitioncn skandalöser Histörchen. Sie 
haben eben deswegen eine Art Zusammenhang. Dass man aber 
auch Lieder mit vollständig verschiedenen Texten znsammenzwang, 
zeigt nachstehender zweistimmige aus dem 14. Jahrhundert her- 
rührende Gesang (aus der Bibliothek von Cambray): 

(Oonaiemaker a. a. 0.) 



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Yenea a nne - dies um de - tri, je vons prie venes toat 



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334 



Die Bntwickeliing des mehntimnugen GeaangM. 



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mais quaniaeal vien par le rot 





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or - don - aer 



19- 



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prut t» 



Was bat, mu!^R man frair« n, Bolmi*s HochseH sut dem beichte- 

hörendcii Eremiten zu thun ? 

DerGiptel allerTolllHMt aber ist ph ohne Zweifel, wenn zu einem 
vollkommen weltlichen tranzüsisclieu Texte der einen Stimme die 
zweite einen *:^eistlichen l;»teini«chen sin^jt, wie in folgendem drei- 
stimmigen gleichfullä der Bibliothek zuCainbra^augehurigeu Ötilcke; 



Der DiacantiM and FknxbonrdoiL 



835 



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ä? (Coasseiuaker a. a. O.) 



3Z: 







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10. 








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Man pflegt oft anf die Entartong des 14. Jahrhunderts hinsuweisen; 

diese frivfi'c Vermisch luifi; des Kirchlichen und Profanen ist eben 
ein Zeichen davon. Ueber dieArt und Weise, derlei monströse Stücke 
zusammenzusetzen, belclirt uns Ejr^idius de Murino (dem Sp:itaro 
die Ehre erweist iiin einen ,,r/aro musico" zu nninen): seine An- 
weisiiujj ,,de modo compoiievdi tcnores mofc("nnii" , wcIlIk's das vierte 
Capitel »eines niusilcalischeu Tractates bildet ^j, klingt völlig wie der 
Text eines Kochbaches. Man solle den Tenor irgend einer Anti- 

1) Manuscript der Vaticana No. 5321. 



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336 Die EntwtolMlQiig dw nMhntiiniiugea Owingw. 

phone, eines BespenBoviiims oder anderen Gesanges nehmen nnd 
dabei darauf achten, dass die Worte an dem Gegenstande, worttbet 

die Motette gemacht ist, passen. Dann solle man den Tenor bestens 

ordnen, je drei oder zwei Noten auf eine Zeit; dann ordne und „co- 
lorire" man den Contrateuor über dem Tenor, sofort das Triplum, 
das Superius und den Motetiis oder Quintus. Dann nehme man die 
Worte des Textes, iheile sie in vierTheile nnd vertheile sie an die 
Parte*) u. s. w. Von dieser Art von Gesängen mit verschiedenen 
Texten redet auch schon Franco: „Der Discant wird entweder mif 
einerlei Text oder mit Tersehiedenen Texten gemacht, oder auch 
ansammen mit nnd ohne Text. Macht man ihn mit Text, so gibt ea 
wieder zweierlei : mit demselben Text oder mit verschiedenem. Ifit 
einem und demselben Text macht man d«>n Discant bei Cantilenen, 
dra Rodellcn und im Kirchengesange. Mit verschiedenen Texten 
macht man den bei Motetten, die einen Triplus (eine dritte Stimme) 
haben, oder einen Tenor, der sich mit einem selbstständigen Texte 
geltend macht. Mit und ohne Text wird der Discant bei den Con- 
dncten gemacht, nnd in der einen Art Kircheogesanges, der mit dem 
eigenthflmlichen Namen Organum beseichnet wird. In allen diesen 
Gattungen inrd in gleichet Weise verfahren, mit Ausnahme der Gon> 
ducte; denn in allen übrigen nimmtman einen schon vorher gemachten 
Gesang dazu, der Tenor genannt wird, weU er den Discant hält 
(teuet) und (letzterer) von ihm seinen ürspnmg hat. Bei den Con- 
ducten ist es nicht so, hier macht derselbe (Tonsetzer) den Gesang 
(cantu.s, d. i. Tenor) und den Discant. Daher heisst der Discant aus 
zwei Gründen so: einmal weil er der Gesang vGrschiedeuer „{dis-cantus 
wie dis-sensus oder äig^eordia/', dann weil er aus dem Oantus gebildet 
ist"*) Bei den Conducton stand also dem Tonsetaer M seinen Tenor 
als Hauptstimme frei tu eifinden nnd dasu ebenfalls nach freier Er- 
findung einen angemessenen Discant an seiner als Tenor dienenden 

1) Primo aodpe tenorcm alicujus antiphonae Tel respomoni vel al- 

terius cantus de aiitiplionario, et dcluMit vcrba concordaro de niateria de 
qua fecere inotetum. Et tuuu recipe tenorem et ordiuabis et colorabis 
secimdum quod infnius patebit de modo perfeoto et imnerfeoto a. s. w. 

2) Die hier citirte Stelle hat in dem Abdruck bei Oerbert 3. Bd. S. 12 
jpdrsiiial. WO fs heissen soll „Hiera" (Text), wahrscheinlich in Folge einer 
Ai)kur/uiig Ira = Lyra, wodurch die ohnehin nicht übermässig klare Aus- 
einandersetzung vollends ganz unverstäadlidi geworden ist. Vmkel und 
Kiesrwctter haben dieses ominöse lyra, so gut es eben pfehen wollte, zu 
deuten gesucht; sie sahen darin eine Art Orgelpunkt mit Grundton und 

2 Hinte, als Kachahmang der Leyer (Organistmm), sowie das Orgwmmk Nach- 
imnng der Orgel war. Glüeklicherweise hatte Bottee de Toulmon ein 
besseres Manu8enj)t vor sich als Gerbert und berichtigte die Lesart. Die 
Stelle selbst beginnt im Urtexte: Discantns autem fit cum litera aut cum 
diversis, aut nne litera et com litera Si euni litera hoe dupliciter, cum 
eadem aut cum diversis u. s. w. I< }i kaim nicht unbemerkt lassen, dass ich 
in der Handschrift des U. du Zuulaudia an zwei Stellen, wo es zweifellos 
heisien moss „litera". c^ne Abhannuig geflmdea habe, welche ansieihalb 
des Zossmmenhangs Jeder eher üBr lini aJs für litera lesen wflrde. 



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Der Discantui and I^oxboardon. 



337 



Melodie {auitua) eine Gepeimiolodie (ffisranfufi) zn sofj^pn. Bei den 
anderen Gattungen fand eine Art Obligo statt, zum Tenor nms.ste ein 
schon früher bekannt gewesener Gesang gewählt werden. Wurde 
nun neben dem Tenor eine andere Melodie mit einem andern Texte 
snrecht gemacht, so hieat dieaer Discant Müteiw, ohne Zweifel des- 
wegen, weil er gegen den Text des Tenors einen Denkapmch (Motto, 
mot)^) oder etwas Aehnlichcs hören Hess. Schon Papst JuhannXXH. 
beachwert sich, dass die Sänger den (rituellen) Melodien zuweilen 
gemeine Motets und Tripleu aufzwingen. Unter den 1503 bei 
Petrucci gedruckten Canti cento cinquanta findet sicli ein Stück zu 
fünf Stimmen von Johann Jaj)art, wo die zwei Contratenorc im 
Responsorinm die Litanei zu allen Heiligen singen, wüIuimkI die 
andern dazu singen: „vray dieu d'amaurs"^. Spruchgesfinge dieser 
Art nannte man naehmals, nach der yon Fnmkreich ttberkommenen 
Benennung, Motetten, nnterliess aber die Text- und Melodien- 
mengerci und nahm Bibelsprüche, P^almenstcllen, Verse aus alten 
kirchlichen Hymnen u. s. w. Wurde eine dritte Stimme zugesellt, so 
nannte man sie ebendeshalb Tp Ij'Iks oder Trijilum; sie hatte, wie 
wir an de la Ilale's Beispiel sahen, wieder ihren eigenen Text und 
ihre eigene Melodie. Die Ilauptstimme scheint eigentlich doch der 
Motetus gewesen zu sein. In dem Gloria, das Guillaume de Machault 
für die Krönung Carls Y. 1364 componirte, hat allein der Motetus 
eine wirklich völlig singbare, sogar fliessende und wohlgeordnete 
Melodie, der sich alle andern Stimmen, auch der Tenor in der 
tiefsten, so gut es gehen will, anbequemen, wie denn das ganze 
Stttek der Kindheit der harmonischen Kunst angehört: 



(Nach Kieaewetter Geschichte der Musik.) 



Triplum 



Motetus 




Oontratenor ff^Q^^ 



Tenor 



1) üo heissi 08 im Kornau de U Kose: 
Qu*U feist rimes joUvettes 

Motes, fluhiaux et chatisöucttes 
Qu'il veiiüli' h s;i inie ou\uyer. 
und: Cliantuul eu pardurabilite 

ifoik», gaudins H diansoiK iteb;. 
S) „Sancte JoBanea Baptist» or» pro Mna, 8t Fetre, St. Faule. 

Asibros, QMGhkhte dar Mulk. IL 82 



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Die Entwiolnliiiig äm mahntiiBmigeii OeBaagM. 

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2e: 



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tief 



tit. 



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St. Andrea, St Thoma, Si Kioolae, St Symon, St Lucha (so!) orap. u." 
Warum gerade dieie? Musikalisch ist c!« iinmerfort die gleidie Fnrue, 

eine Art „obstinaten" Tenors: c c d c; c a h c c. 

l)Anmerkunfj. Obfrlt'ich Ambros die gröbsten Fehler der Kiescwcf fer- 
schen Eutsifi'eruDg (siehe unter No. 2 der Beilagen zu seiner Gescliichto 
der Mnsik) die wegen ADwendnng eine« falschen SchlAssels im Tenor 
allein schon gänzlich misslingcn musste, glücklich vermied, so ergab doch 
eine nochmalige Vcrgleichung mit dem daselbst mitgethcilten Facsimile, 
dass die Lösung sich wohl noch strenger an das Original hätte halten 
müssen. Diess erstreckt sidi namentltäi auf die rhythmische Gliederung, 
die freilich im Original gar nicht angegeben ist. Dass aber statt 
des Tenipiu imperfectum hier das Tempus perfectwtty also Tripeltact, 
hfttte angewendet werden müssen, ergiebt augenscheinlich die letste Note 
des Satzes, die iu allen Stimmoii puiiktirt erscheint, was Ainbros 
übersehen su haben scheint Man vergleiche darüber auch die Entzifferung 
der C^nson: Toni con je vivrai ron Adam de la Haie, 1S80, bei Bel- 
lermann, Mensuralnoteu S. 35, wo auch d(;r Tripeltaot angewendet ist, 
wenni^eich im Originale ^ede Tactangabe fehlt 0. Kade. 



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Der Diiotntaa imd Fanxbonrdon. 



339 



Wurde zwischen den Tenor und den MntetuH eine Stimme als „Gegen- 
tenor" einpegchaltet oder unter den Tenor gesetzt, so nannte man 
aio ebendeswegen CotUratenor^). Sonst nannte man, wie Franco 
an der erwähnten Stelle bemerkt, die vierte Stimme das C^uadruplum, 
eine fünfte das Quintaplnm. Diese Ton den Hoteten her gewohnten 
Benennungen ttberftrag man, wie num ans Mechanlt*! Gloria sieht, 
auch auf andere Compositionen. DasTriplom, die hohe Oberstimme, 
hat vielleicht dem Treble den Namen gegeben, einer Art Trompete, 
die man um eben diese Zeit in Frankreich beim feierlichen Gottes- 
dienste anwendete^). So heisstes in den Annalcn Ludwig's IX. (des 
Heiligen): comme devotement il fit chanter la messe et tout le serrice 
a chaiit et a dechant^) a ogre (das ist: orgue) et a treble. Ein 
deutliches Bild der damaligen solennen Kirchenmusik in Frankreich : 
Gesang (chant) mit Tenierendem Discant {dechmi) nebst Begleitung 
der (hgel und jener Trompete, welche die höchste Stimme (das 
Driphm) verdoppelte oder vielleicht selbstständig ausführte; wie es 
denn gar nicht unmöglich ist, dass umgekehrt das IViplum, das (wie 
bei Machault) auch in vierstimmigen Sätzen vorkommt, nicht so viel 
heisst als dritte Stimme, sondern nach der dreiröhrigeuTreble benannt 
worden ist. Jean de Muris benennt die vier Stimmen: Tenor, JVn- 
2)lum, Mofeius, Quadru}>lum^). Erst später nannte man die tiefste 
Stimme, als Fundament des Ganzen, die Basis, woraus dann Bassua ent- 
standen ist Bemerkenswerth ist in der angezogenenStelle desFranco 
die Notis, dass man das Organum ohne allen Text sn singen, das 
heisst blos zu solfeggiren pflege. Wiisstcn wir nicht ans den notirteu 
Beispielen Uucbald's ganz bestimmt, dass auch der ffoxorganalis der 
Text zngetheilt wurde, so könnten wir des Glaubens werden, dass 
sfdches eine specielle ICigenheit des Orgamiins war, welches durch 
die unbestimmten Kliiiif^e noch orgelähulic her werden musste, als 
wenn der organisirende Sänger den Text mitsang. So viel ist aber 
doch sicher, dass es häufig genug in einer blossen Vocalisation be- 
standen haben mnss. 



1) CoTitratfiinr est pars illa cantus compositi, quae principaliter cmitra 
ienorem facta inferior est supremo, altior autem, aut aequalis, ant etiam 
ipso tenore inferior (Tinctoris Diffinitorium). 

2) Carpentier meint, sie sei ein Instrument mit dreifacher Rnhre und 
schon hei den alten (fuUiem im Oehrauche gewesen. I>ic Bcnoninin{? 
de« Discants im Euglischen „Treble" ist auch noch eine Erinnerung au 
das Triplom oder gar die ^IVompete Treblo. 

3) Diese Redensart ist dem mitf olalterlii lu ii Französisch durchaus 
geläufig. So sagt Jean MoUnet in seinem Ehreuthron sogar: Oiaeaux 
de champs chantans dkms «i detdkoMto. Selbst im Latein wendete man 
diese herl 'hnnUiche Phrase an, s. B. im Obituarium ecclesiae Morin. fol. 
39 V,: „Fandavit solempnom missara de B. Virgine decantnndam cum 
Cantu et Discantu et organis sonantibus (bei du Caugo 1. Bd. 8. III. 
Ausgabe 1764). 

4) l^ecnlum mus. YII. 8. 

82» 



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840 



Die Entwiokeltmg des nelmtimiiilgeB Gesangee. 



Von jenen von Franco erwähnten Conductcn^) ist eine sichere 
Probe nicht nachzuweisen, dagegen sind uns Proben von Rondellen 
und Cantilenen jenes Adam de la llale erhalten. Unter Cantilena 
verstand man (wie Tiuctoris erklärt) einen kurzen Gesang mit 
Worten Uber jeden beliebigen Gegemtend, docb snmeist mUebten 
Inbalte*), also das, was man spitnhin Madrigal nannte. 

Adam de la Haie: Kondellus (mitgetheili von Boitze de Toulmon). 



Je mnir, je mnir d*a - moa>re te las 



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par de*fira- te d*a 



schloss) 



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(Ganz8ohlnss)| 



Die Mittclstimme enthalt eine wohlgegliederte ansprechende Me- 
lodie, die harmonisebe Textur ist mit parallelen Yollkommenen 
Consonansen reich ausgestattet. 

(Chanson, aus dem Manuscript der Bihliothck zu Paris, Nr. 2. 738, hier 
nat li der Ent/.ifTi run^ von Heiürich Ut Urrmann !\ItMiRuralnoten, 8.35.) 













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1) Im ßoman de la Violette geschieht cbcni'uUs Erwähnung davon: 

Cü jugltour vielent lais 

Et sons rt iiotcH et conduis. 

2) Cantilena est caTitus parvus cui verba ciguslibei matenae scd 
frequentius amatoriae t>iij>iMinuutur (Tinotorit Diffinitoriom). Im Originale 
ist de la Hale*s Composition betitelt: U rondel Adan. 



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Btt JXwoKpfyu und VMizboardoiL 341 




▼oas j'e u'ea par - ti • - rai. 



Hier liegt eine liübHche aber entstellte Melodie iu der Unter- 
stimme; die Harmonie ist abennalB hoiribel. 

Wo Adam aufhört so ringen „wie der Vogel singt, der in den 

Zweigen wohnt", wo in ihm der Dichter, der ImproTisator, der 

glückliche Naturalist ein Ende nimmt, wird er der Gegenftissler aller 
Schönheit. Wie in ihm, dem „Buckligen von An-as", eine feine 
Sct'l(; in einem niissn^estalteten Kfhpor wohnte, ho stecken seine 
frischen Melodii'n in einer kriippelhat'ten, missgestalteteu Harmonie. 

Auch Guillaumc Machault, der graziöse Meludiät, blüht 
als Contrapunktist um nichts htther als Adam de la Haie, wie 
nachitehende Chanson h trois paitiea bewdst, obschon darin so- 
gar Ton der Naehahmnng Gtebraneh gemacht wird. 



1) Die Unterstimme bir^ eine ganz fran/ösiache Melodie (von Adam 
selbst?), deren Urgestalt folgende sein möchte: 



t. 



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Tunt quo j(! v\ - vrais n'ai - me - rais aa - imi qae voua 



je n*en par ti • - rai. 

Nnn sehe man, wk' lic ilmute im Prokrustesbette der Gontraponkük 

jämmerlich ausgereckt istl 



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843 Die Bntwiokalinff des ntthntimmigMi toangei. 



(Guillaame Machaalt. Nach Kieaeirtlter, Sohiokitle n. s. w. Ko. U der 

BeOagen.) 





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Von Frankreich aus verbreitete sich die Kunst des Discanti- 
pirons Uber die Nicdrrlan»!«' , wo es der Kunst des ausgebildeten 
Cuntrapunktes den AVeg bahnte. Ii. deZoelandia, wahrscheiulich 
einer der frühesten niederländischen Lehrer and Tonsetser (um 
1880?), der schon eine sehr fein ausgebildete mnsikaliflche Henni- 
rallehre beeitst, redet ^eiehwohl nur Tom DiBeantos in der alten 
Bedentongi). Aach Uber den Bhein drang die neue Weise, wenig- 



1) Das Manuscript der Prager Universitlltsbibliothek XI. E. 9, nach 
der Schrift aus der erstt'n ITsllfte des 15. Jnhrliundcrts. boprinnt mit den 
Worten: „Gaudeut musicorum discipuli, H, (Henricus?) de Zeelaudia ali- 
qua brevia iraciat de musica." Seine Discantirregeln lind nicht mehr und 
nicht wenif^er als folgende: „Notanduni quod Septem sunt specics discantus, 
quibos discantaus debet uti, videlicei: unisouus, tertia, quinta, sexta, 



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Dtr Discantiu nnd Fanxbonrdon. 



843 



stens in die Frankreich benaclibarton Gane ; das Klostor von 
St. Blasien besitzt Codices, in denen sich zweibtimuiige Tonsätze 
finden, welche die Anwendung der franzOabchen Ducantiniungs- 
regela seigen, wie folgende Venus wper Ägtaia Dei am Diseanhi 
aus dnem folcheii dem 14. Jabrhimderte angehifxigen Codex yon 
8t. Blasien: 

(Atu Gertwri De cuita 8. Bd. & 466.) 



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octava, decima et duodecima (die Quarte ist nach dem Vorbilde der Fran- 
zosen weggelassen), quarum quatuor sunt uerfectae et tres imperfectae. 
Perfectae sunt nnisonus, quinta, nctava et anodeoima. Imperfectae vero 
sunt tcHia, sexta et decima. Et iiotandnra quod omnis discantus iiicipere 
simol debeat et specie perfecta. Item doae species jperfectae aimiles nun- 
qnam ooineqnent«r Temre posaunt. Sed duee Bpeeiea nmflet vel plorM 
bene coiisequenter possunt venire et asccndendo vd dcsceiulendo; sed nun- 
quam respectu ^juadem liueae vel spatii. item, quum principalia cafUua 
ateenditf diteantiu deftef daeendere, et contra, item cantns principalis 
est aeqiialis, videlicet quum duae vel plures fa vel sol et sie de aliis simi- 
liter veniunt, et ad placitum discantantur discantaiitis (d. h. es entftlllt in 
diesem Falle, wie natürlich, die Kegel der Gegenbeweguug). £t discantus 
■a^M debet uti cpeoiebns propinquioribus (der nächstkleineren Noten- 
gattnng). Et m\ nnnqnam in disoantu stnre debet extra fa in spccic pcr- 
tecta." Das Verbot paralleler vollkommener Cousonanzen, so wie die 
Einreibung der Sexten vnter die unToUkonunenen Oontonanaen deutet 
darauf hin, dass H. de ZeeUodia ans der Sohnle Fliilipp*s von Yitry 
oder des dis liurit stanunte. 



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844 



Die 



im mahntiiiiiiiigien Omnfai. 





3=±: 



In Idmlicher roher Webe wurden die Melodien der Prosen und 

Sequenzen mit dem DiscwitiUI begleitet, wie Gerbert in seinem 
Werke „De cantu et musica Sacra** davon aus dem Archiv des Klo- 
sters von St. Blasien verschiedene Proben mittheilt. Kiese wetter 
meint, dergleich<Mi könne nur in irgend einer Klosterkirche von 
gehör- und gesclnuac kloscn Klosterbrüdern versucht worden sein'*). 
Die Gcgenbewogung herrscht durchaus vor: steigt der Tenor, so 
filllt der Diseant, und umgekelirt Dureh die gans mechaniseho 
Beobachtung dieses Knnstgesetaes ist fHr die Reinheit der Hai^ 
monie natttrlich nicht viel gewonnen. Das Ganze ist noch Xnssent 
barbarisch. 

Dass aber in Deutschland nicht blos geistliche Gesänge in 
solcher Weise discantislrt wurden, sondern dass auch das Durch- 
einandersingen verschiedener Lieder und Texte nach französischem 
Muster bis tief hinein nach Deutschland Eingang und Nachahmung 
&nd, davon gibt 4afl Liederbuch von Lambach eine in ihrer Art 
merkwürdige Probe. Hier findet sich ein lustiges Trinklied „Von 
sand Marteins frewden*' mit einer sweiten, mit der Ueberschrift 
„Der Tenor** beseiehneten Stimme, welche den Frendenspender 

1) Die Notenquantitftten sind hier so gegeneinander gemeaaens 

folglich nicht ganz im Sinuc der Menioralnote. Die zu zwei gebundenen 
Noten sind gleich ■ Die Ausmessung der beiden Stimmen gegen ein- 
ander ist in dieser Hinsicht äusserst sorgiUtig. Die Noten stehen, wie 
man sieht, im O^S^flssel (Alt- und TenorsehlfltBel). 

2) Gesch. d. Mus. a 44. 



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Der IKwNniti» und Fttoxbonrdon. 



845 



St. Martin selbst mit heiteren Worten anredet und begrUsst. Die 
Haaptmelodie ist eine nemltch nngeschUffeiie Volkswmse, der 
Tenor fthrt mit vielen klmnen Noten daiwiachen, es ist ein bnr^ 
leskes Cliarivari. 

In Frankreich, der Heimat des Dechant, wurde dieser, wie 
sich Kiesewetter ausdrückt, „mit rasender Liebhaberei getrieben". 
Der König hatte dafür seino eigene „ChapeUe inmiqve du Roi". 
Die rechte Art zu t'auxbnurdonisiren und zu decliantiron bildete 
den Gegenstand geregelten Unterrichtes an den grossen Kirchen 
der französischen Städte. Es entstanden dafür Meisterschulen 
(Ifaünaeii) wo nnter einem Singemeistw (Maüre) SXnger and 
Knaben die aUbeliebten Singmanieren einttbten nnd beim Gottes- 
dienste SU Oebör bracbten. Förderer der Andacbt nnd Kunst 
machten jetzt öfter Stiftungen dieser Art. Papst Urban V. fundirte 
13G2 zu Toulouse einen Bingemeister mit sieben Knaben: letztere 
sollten neben ihren Studien denGesang beim Iloclminte ausführen'). 
Johannes Gerson, der berühmte Kanzler der Universität zu Paris, 
entwarf selbst die Bestimmungen der inneren Einrichtung für die 
Kathedralschule von Notre-Damu. Die Knaben sollen „den Sinn 
der Engel baben, weil de fttr die Katbedrale den Dienst der Engel 
danteilen.'* Der Oesangnnterriebt ist die Haaptsaebe, soll aber nicbt 
so weit ausgedehnt werden, das» dadoreb die Unterweisung in der 
Grammatik und Logik beeinträclitigt werde; der Text der Liturgie 
soll den Knaben französisch erklärt werden, denn „Worte, deren 
Sinn man nicht versteht, kann nmn nicht seelenvoll vortragen-)." 
Sogar auf die Kost der Knalx-n nabm (lerson Bedacht: sie sollen 
des Morgens nicht zu viel essen und überhaupt alles vermeiden, wo- 
durch ihre Stimme leiden könnte-^). Der Säuger meinte seine Kunst 
niebt besser seigen su können, als wenn er %u einem Tenor im 
Angenblieke der AnsfÜbning einen Decbant an improrisiren nnd 
ibn so reicb nnd geschmackvoll ansansieren wnsste, als es ibm nnr 
immer möglich war; die Zuhörer waren befriedigt, wenn es nur 
voll klang, ob auch schön, darauf kam es vorläofig nicbt an. Gans 
Paris bewunderte einen jungen Menschen, weil er, neben anderen 
Kiiusfeu, ,,auch" sang nnd dechautirtc (rhantnit et Jechautail) wie 
sonst keiner. Die Sänger, deren der Dichter Martin le Franc ge- 
denkt, werden auch schwerlich mehr gewesen sein als Dcchauteurs: 

Tapiasier, Carmen, Ceaaris, 

n*a pss lon^ temps, si bien obaaierent 

qu'ils esbahiront tout Paris 

et tous ctiux, qoi les ir^quentörent. 

1) Baluz I. 41t; 

2) Vcrgl. Joh. üerson von D. Jos. Bapt. Schwab S. G9. 

8) Item probibeatiir a oomestione nimia de maae aut aliis horis, per 
qiKim inipodiri posscnt a conservatione voois suae ei regiilam sobrietatis 
iuirüigere (Cierson. Up. lY. S. 720). 



846 



Die Bntwiekalimg dei mehntimmigeii Ooingei. 



Er stellt sie freilich mit Moistern wie Dufay und Binchois zusammen, 
aber da er anderwärts von diesen berühmten Tonsetzeru sagt: 
eine Bande blinder MoBikanten habe rie QberCrofflBn — so rieht 
man nnaweidentig, wie weit sein VeratBndniss reichte. 

Aber auch tadelnde Stummen Hessen rieh hOren, nnd swar sehr 
gewichtige. Hatte schon Johannes Ootton gesagt „er könne die 
Sänger nur mit Betrunkenen vergleichen, die zwar glücklich nach 
Hause kommen, aber selbst nicht wissen, auf was für Wofren und 
Sf<'j;iMi*' so ätisserst sich Jean de Muris, der tiefj^'clehrte Mann 
und einer der Putriarclien des ( -fintrapunktes, welcher dieses fran- 
Küsische Dechautirwesen in seiner vollsten Blüte sah, noch ungleich 
schSrfer. „Wiek5nnen,*' sagt er, „Toransgesetst dass unsere Regeln 
gut rind, ^e Singer nnr die Stime haben an discantiriren oder rinen 
Discant an componiren, die von Zusammenklingen gar nichts ver- 
stehen, die rieh nicht einfallen lassen, dass man che davon besser klin- 
gen können, als andere, die nicht wissen, welche man vermeiden, - 
von welchen man öfter Gebrauch machen soll, an welchem Orte es 
geschehen muss und was sonst eine richtige KunstUbung erheischt? 
Wenn es ihnen zusammengeht, so ist es ein reiner Zufall. Ihre 
Stimmen irren regellos am den Tenor herum; mögen sie doch zu- 
sammenstimmen, wenn es Oott geföUt; rie werfen ihre TOne auf gut 
Glttck hin wie einen Stein, den eine nngeschickteHaad sc^lgjidert nnd 
der nnter hundert Wttrfen kaum einmal trifft" DteUii]|9|Üchkeiten, 
welche Onido den Sängern seiner Zeit sagt, sind wahre Kleinigkeiten 
gegen folgende Strafpredigt, welche de Muris in seinem Speculmn 
musicae hält: ,,0 Schmerz! In unserer Zeit versuchen es Manche ihre 
Mängel mit einfHltigen Redensarten zu beschönigen. Ks ist, sagen 
sie, eine neue Art zu discantisircn, eine neue Anwendung der (^on- 
sonanzen. Mit solchen Aeusserungen beleidigen sie die Einsicht Der- 
jenigen, welche derlei Fehler sehr wohl erkennen, sie belridigen den 
gesunden Sinn; denn wo sie Vergnfigen erregen soÜten, bringen rie 
vielmehr Verstimmung hervor: o unpassende Bedensait, o sehlechte 
Beschönigung, unverständige Entschuldigung, o grosser Missbranch, 
o Roheit, o Bestialität: einen Esel fUr einen Menschen zu nehmen, 
eine Ziege für einen Löwen, ein Schaf fllr einen Fisch, eine Schlange 
für einen Lachs! Denn gerade so werfen sie Consonansen nnd Dis- 



1) Cui eantorsm melins comparavwo qnam ebrio, qni domtmi (]uidfm 
repetit, sed quo callc revertatur penitus ifniorat? (h. Gorbert, Script. 3. Bd. 
S. 233). Dieses Dictum wurde berühmt. Es wird citirt von Johann de 
Muris (Summa Mniicae, Gap. II ad quid utilis sit mos., G«rbert 8. Bd. 
S. 195), frnicr von Adam von Fulda (um IKX) — 1480), auch v(ui Omi- 
toparchus in seinem 1517 erschienenen Microlog (I. 1. Cap 2). Letzterer 
swrribt es Papst Johann XXII. sn, ein Beweis, dass sdion dunals Cotton 
mit diesem iiorühmten IMerer und Kenner des canoniichen Bedhtes 
verwechielt wurde. 



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Der Disoantna und SWwboiirdxni. 



847 



Bonanzen durcheinander, dass man eins vom andern nicht unter 
scheidet. Wenn die alten wohlerfahrenen Leiirer der Musik solclie 
Discantatoren zu hören bekämen, was würden sie sagen, was thun? 
Sie wttrden den Diseentirenden mit harten Worten anfahren und 
sprechen: den Dieeant, den dv gebrauchst, hast dn nicht yon mir; 
dein Gesang stimmt mit meinem nicht zusammen; wessen nnterftngst 
dn dich? Du passest nicht für mich, du bist mir ein Gegner, 
Aergemiss bist du mir! O dass dn doch schwiegest! Du bringst 
nicht Uebereinstimmung, sondern Unsinn und Missklänge zu Wege!'* 
An einer andern Stelle vergleicht er den ungeschickten Sänger, un- 
gemein witzig, mit einem Blinden, der einen Hund prügeln will*). 
Johannes von Salisburj {Sarisberieuöis) macht im 12. Jahr- 
hundert den Sfingem den Vorwurf, „dass ne durch Verschnörkeln 
eincelner Töne die snhOrende Menge sum Staunen bringen wollen; 
das seien nicht menschliche, sondern Sirenengesänge, und wenn man 
diese Kehlenfortigkeit, welche selbst von der Nachtigall nicht Uber^ 
troffen wird, wenn man diese Geschicklichkeit auf- und abzusteigen. 
Töne zu binden und zu trennen, wiederholt anzuschlagen und zusam- 
menzuschmelzen bewundern müsse, so werde doch der Sinn verwirrt, 
der Geist bethürt und ein richtiges Urtheil über den Werth des Ge- 
hörten unmöglich^)". Omitoparchus erzählt, dass der „neue Virgil*', 
Baptista Hentnaans, die SSnger mit den unhöflichen Worten surecht- 
wies: „Gehört solches Ochsengebrttll in die Kirche? Glaubst du 
Gott diuch einen solchen Lfirm gnädig stimmen zu können')?** 

Papst Johann XXII. verbot 1322 den Gebranch des Discantns 
im Kirchengesange völlig, als dem Geiste und Zwecke des letzteren 
zuwiderlaufend. Einige Zöglinge der neuen Schule," heisst es in 
der in die canonischen RechtsbUcher aufgenommenen Verordnung, 
„wenden ihre ganze Autinerksamkeit dem Einhalten der Zeitmasse 
und allerlei neuen Noten zu, wobei sie dann lieber ihre eigenen Ein- 
fiflle als das wohlhergebrachte Alte yortragen mögen. Die Kirehen- 
melodien werden in Semibreven und Minimen ansgefUhit und mit 
kleinen Noten ttberschttttet. Denn die Sänger serschneiden die Me- 
lodie mit Hoqueten , machen sie durch Discanto flppig» swingen ihr 
zuweilen gemeine Tripla und Motetten auf, so dass nie mitunter die 
dem Antiphonare und Graduale entnommenen Grundlagen geradezu 



1) Caeco alicui canem verberare Tolenti (Summa mus. Cap. 2. bei 

Gerbert, Scriptores 3. Bd. S, 195). 

2) Joann. Sarisber. Policraticus, sive de nugis et vestigiis philosophor, 
I. 6 de mnsiea et instramentiB et modo et finictu eomm. 

3) ,,Cur tantis delubra boum mugitibus implcs? Timc Deum tali crcdia 

Elacare tumultu?" (Microloff. IV. 8.) Omitoparchus erzählt, dass in den 
archen Sachsens und der Ostseeländer die Sftnger ganz ersomreddich los- 
legten: i^Ssd cur Saxones et qui Baltica litora accolunt Ulis gaudeant cdamo» 
libos, eania nnUa subest, nisi qaod vel inrdam Deum habeant** 



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348 



Die Eotwickeliing des mehntimmigen Oenages. 



▼erachten nnd k«ne Kenntniu von dem haben, worttber ne bauen, 
tind die KIrchentQne, von denen ne keine Kenntnias haben, nicht 
nur nicht nntencheiden, sondern dttrcbexnanderweifen, indem in 
solcher Notenmenge das snchtvolle Anftteigen, das gemässigte Ab- 
steigen des Choralgesanges, als wodurch sich die Tonarten von 
einander unterscheiden, unkenntlich werden. Denn sie Laufen ruhe- 
los, berauschen das (Tchör statt es zu ertjuicken, suchen durch Cie- 
Iterden auszudrücken was sie vortragen; das Ergebniss ist, dass die 
Andacht, um welche es sich doch handelt, bei Seite gesetzt und 
tadelhaftor Leichtnnn Tabreitet wird. Doch wollen wb damit nicht 
▼erboten haben, dass snweilen, besonders an Festtagen oder feier^ 
liehen Messen beim Gottesdienste einige melodiöse Consonanzen, 
als die Oetave, Quinte, Quarte und dergleichen, Uber dem einfachen 
Kirch enge sänge angebracht werden, doch so, dass der letztere voll- 
kommen unan^retastet bleibe und von der wohlgcarteten Musik nichts 
verändert werde, da diese Consonanzen das Ohr erfreuen, Andacht 
wecken, und die Seelen derjenigen, welche zur £lire Gottes singen, 
▼or Abspannung bewahren^)." 

Die Verordnung entwirift ein anschanlidies Bild der damaligen 
Singweise, nnd der Papst hatte in der Sache ganz recht, wenn er nie 
höchst barock, ungebührlich überladen und derBkircheganannwOrdtg 
fand, obwohl Johann XXII. sicherlich ein besserer Jurist als Kunst- 
kenner war. Die Reinheit des von der Kirche Jahrhunderte lang als 
theures Gut bewahrten Grefj^orianischen Gesanges drohte in den 
wühlen ()rfj:ii'n unterzugehen, womit ein Säuger den andern zu über- 
bieten suchte; und so fremdartig die Beziehung für den ersten Augen- 
blick scheinen mag, diese modische Schönsingerei steht als tolle 
Oesehmackverirrung in einer Art Znsammenhang mit den llhrigen 
Eztravaganaen im Leben der damaligen Zeit, bis anf die ellenlangen 

1) Sed nonnuUi novellae scholae discipuli, dum temporibos mensurandis 
invipiiant, novis notis intendant, fingere suas quam antiquas cantare malunt. 
In 8t>Tnibreve8 et minimas eoclesiastica cantantur, uotulis percutiuntnr. Nam 
nn'lndias hninn'tis iiitcrsecant, discantibuB lubricant, triplis et motetis vulga- 
ribus nuuuunquam luculcant, adeo ut interdum Antiphonani et Gradualis 
fimdamenta despidant, ignorent super quo aedifioant, tonot nesdant, qtios 
non discemunt, imo coufuiulunt cum ox oannn niultitudine notarum ascen- 
sionespudicae, desoensioues moderatae plaui cautus, quibus toui ipsi discer- 
nimtiir invicem, obfoscentur. Oommt enim et non qnieacant, aures inebriant 
et non medentor, gestissimvlant quod deprotiumt, quibos devotio quaerenda 
contemnitnr, vitauda lascivia propalatur. Per hoc autemnon intendimus pro- 
hiberu, quin interdum, diebua festis praccipue, sive solennitatibus in missis et 
praemia divinis officiis aliqnae consonautiae quae Melodiam tapinnt, puta 
Octavac, Quintae, Quartae et hujus modi supra cantum ecciesiasticum 
simpUcem proferantur: sie tarnen, ut ipsius cautus integritas illibata per- 
maneat, et nihil ex hoc de bene moraiamiuica immutetar: maxune com 
hujus modi consonantia auditum demulceant, devotiopem provocent 
et psnlh ntimn T)<'o animos torpere non sinant." (Extravag. OOnunun. 
Lib. Iii. de viia ut houestate Clericorum titulus 1.) 



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Der Discanioa and Fauxbourdon. 



349 



Bcbellenbesetstten SchnKbel der Schuhe herab. Um sich von den un- 
Binnigen EinflllleD, Ton der barbarischen Geschmacklosigkeit der 
Sänger eine Vorstellung zu machen, genügt es auf eine einzige Eigen- 
tlnimliclikeit hinzuweisen, die noch im 15. Jahrhunderte in Uchting 
war (denn Franchinus Gator redet davon wie von einer gewohnten 
buche), deren Ursprung aber sieher bis auf die Zeiten des Dechant 
zurückreicht, auf den sogenannten Contrapunct us falms 0« Die Sänger 
suchten nXmlich bei TodtenmesBen und an Hltrlyrerfesten dem Ge- 
sänge dadorch eine angemessene (!) FSibnng su geben, dass an dem 
Cantus firmmt den eine Stimme aUein sang, ihrer Zwei oder Drei die 
tiefere Stimme in lauter Dissonanzen, besonders in Secnnden nnd 
Quarten, durchtiihrten. Franchinus ist darüber so entrüstet, dass er 
gar nicht davon reden mag, kanti al)er doch nicht umhin, Bei- 
spiele dieser erbaulichen Singweise zu gebeu^): 

Utaniae mortnorom disoordantos. 

I 

de pro-fon - dit da - ma - vi 

Domine miserere. 

Bie AnflKnge aller Kunst, nicht der Tonkunst alliun, sind ab- 
schreckend hHsslich. 

Ueberblickt man die Entwickelung des Discantus von seinen 
ersten an das Organum anknüpfenden Anfängen bis dort wo er 
zum geregelten ( V)ntraj)unkt wird, so sieht man, wie auch er seine 
Oc'seliichte für sirli hat. Er ist die Knospe, die immer voller an- 
bchwoU, bis sie endlich aufbrach und zum Contrapunkt erblühte. 

Der Moment dieses Ueberganges, eine scharfgezogone Grense 

1) Falsum contrapunctum dicimna, qunm duo invicein eantoios pro- 
erdniit i>er dissoiias conjunctorum Bonorum extremitatef», ut sunt srcunda 
major et minor, (|uarta item major et minor, atqae septima et nona ejua- 
modi, quae ab omni penitns suavis haiinoniae ratione et natura diquno- 
tae sunt. (Gafor, Prart muR. III. lö <lc Talso contraiiuncto.) 

2) Solas quidam cautor acutiore vooe pronuuciat uotulas cantus 
plani: duo vero ant tres raeeinunt nnieo aono notnlas ipsins oanins plani, 
■ubsequcntcs in secundam et quartam vicissim certo ordino: quem quoniam 
ab omni modulationis ratione sejunctus est, me pudct deseribere. Quan- 
doque incipiunt hujusmodi succeutum in unisono cum cautu piano pro- 
dnoentes, mde per seoondas et qnartas ad finem nsqne vel ad certam 
terminationem, in qua unisonantcs conveniunt. l'lerumquo vel in seoun- 
dam vel in quartam incipiunt. In unisouum vero sempcr termmautur. 
(A. a. 0.) 



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350 Di« Eniwickeluiiir dM melintininigwi GMingM. 



zwischen Discantus und Contrapunctus, ist nicht wohl au bezeichnen. 
Beruhte der Discant im Wesen auf Improvisation, auf üebung- und 
wechHcl8citigem£inverstäodni8s durch gemeinsames Zusammensingen 
geübter Chorsänger, war daher eine gewisse stereotype Gleichartig- 
keit der Wendungen und ZusammenUlüige um lo weniger su Ter- 
meiden, je besser sich die SKnger ttber gewisse gleiehaitige und in 
der Discantisirung nach getroffenem Uebereinkommen gleichartig 
zu behandelnder Stellen des Cantus finnus geeinigt hatten, ge- 
niigto es in diesen Urzeiten der Hamionie, wenn es Uberhaupt nur 
zusammenklaiifr (wie ein musikalisches Kind am Ciavier schon am 
Zusammentüuen blosser Dreiklänjz:e, die es sich zusammensucht, die 
grijssto Freude hat) und wurde die Forderung einer interessanten 
Führung der Gegenstimmen gar nicht gestellt: so lag das Wesen 
des Gontrapunkts, trots aller diseantartig improyisirten Gesinge 
supra lüfnm, vonflglieh im prKmeditirten, ausgearbeiteten» sehrift- 
Uäi in Tonaeiehen fixirten Tonsatze. Stephen Morelot hat auf 
einen merkwürdigen Umstand aufinerksam gemacht, welcher in die 
Tcclinik der Tonsetzer aus den Zeiten der ersten Versuche einer 
Aufzeichnung mehrstimmiger Tonsätzo ein überraschendes Licht 
wirft. „Wie nun die Tonsetzer", sagt der geistvolle französische 
Gelehrte, „noch nicht so weit waren , um gleichzeitig die Verbindung 
von drei oder vier Stimmen im Geute (beim Schaffen) erfassen 
SU können, fingen sie mit einem iweistimmigen Satie an, dem sie 
dann so gut als sie konnten eine oder swei Stimmen in der Hdhe 
oder in der Tiefe beifügten. Diese Methode einer suceessWen 
Composition, von der noch Franchinus Gafor, ja sogar noch 
Zarlino (Instit. barm. 2. parte, cap. r>4) redet, erkennt man leicht 
an zwei Kennzeichen: zwei Stininieii bilden ein regelmässiges Duo, 
das einer dritten Stinnne ganz woIjI entbehren könnte, und diese 
dritte Stimme macht sich immer durch einen weniger eleganten, 
sehr oft mühsamen und gezwungenen Gang kenntlich. Bei Be* 
nriheilung der Münk Jener Zeiten darf man diesen Umstand nicht 
ausser Acht lassen."^) Noch mOhieliger musste dann der Gang 



1) 8. dessen gehaltvolle Monographie „De la musique au XV. stiele: no- 
ticcsurun manuscrit de la bibliotnöque de Dijon, Paria löfiT. Extrait des 
nicnioires de laeoiiunissionarcheologiquede lacöted'or". Es ist eincFreude, 
deu Ernst, die Cirüudlichkoit, die gewissenhafte Forschung der französischen 
Gelehrten im Fache der Hnrikgeschiohte tu sehen gegenflber dem gswissen- 
losen Treibender anmassliehon Halbwisserei im ,,gründlichen" Deutschland, 
wo Musikgeschichte mit Hilfsmitteln geschrieben wird, die mau für den Lese- 
groschen ans der Tjcihbibliothek haben kann, wo sie sogar anßlngt, Gegen- 
stand seichten K uillrtongoschwätzes zu werden, das sich für geistreich hält, 
weil OS frivol ist und in studentenhaftem Toni- üher die (Irössen aller Zeiten 
zu Gericht sitzt. Zum Glücke aber können wir den Franzosen auch 
Mftnner entgegenstellen, wie die beiden Bellermann and O. Lindner 
in Berlin, O. &ade in Schwerin, Julius ICaier in München, G. Notie- 



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Der Diflcanius und Faaxboardon. 



351 



einer vierten n. e. w. Stimme werden. Der Componist verfiihr also 
wie etwa ein Banbeir, der auf ein ErdgesoliOBS ein Stockwerk bant, 
wo es dann bei ihm steht, ob er es schon jetzt unter Dach bringen 
oder ob er noch ein zweites Stockwerk auf das lix und fertige erste 
setzen will. In der That wird der Sinn der Anweisungen , welche 
die Tonlchrer selbst bis tief in's fünfzehnte Jahrhundert hinein 
über den mehrstimmigen Satz geben, erst klar, wenn man sie nicht 
von der gleichzeitigen Conceptiou eines drei- oder vierstimmigen 
Satsee, sondern von jener anccemvea CompMitionswdse veretäit 
Tinctoris spricbt in seinem Pkoportionale gtaa ausdrtteklicb von 
dem Falle, dass ttber die höchste Stimme einer mehrstimmigen 
Composition eine nene noch höhere Stimme hinzugefügt werde*). 
Ein dreistimmiges Lied des Engländers John Dunstabio (er ist 
nach Tinctoris' Angabe einer der Urväter der Harmonie), welches 
über ein im Texte aus Französisch uiul Italienisch wunderlich ge- 
mischtes Lied gesetzt ist, „0 rosa bella"^), lässt ganz deutlich er- 
kennen, dass der Tonsetzer zu dem gegebenen Liedmutive erst 
eine bVbere Stimme leeht flietsend setate, und erst als er damit fertig 
war, eine dritte Stimme als Contratenor awiscben jene beiden ein- 
Bwftigte, nieht nngeschickt nnd selbst mit Anwendung einselnor 
kurzer Imitationen, im Ganzen aber doch etwas steif. Bei den 
noch schwMra notirten Liedern der berühmten Niederländer Dufay 
und Binchois ist die spätere Einfügung des Contratenors 
ebenfalls sehr deutlich fühlbar. Dagegen zeigen die Chansons 
Okeghem's, des Vaters der zweiten niederländischen Schule, nicht 
mehr jenes den Kern des Ganzen bildende pausenlose Duo; die 
Stimmen altemiren hier schon mannigfacb und beben schon eine 
völlig fireie Bewegung , suweilen sogar von sehr schönem melodischen 
Flnss, wenn anch alle ausammen oft einen wunderlich altirSnkiscben 
Zusammenklang geben. Ohne Zweifel aber verdient jene Art lU 
arbeiten mit gutem Grunde für ein zweckmässiges Exercitium zu 
gelten, durch welches mau den Tonsatz allmälig beheiTschen lernte. 

Sogar jene barbarische Munier zwei gar nicht zusammenge- 
hörige Lieder (cantu-s prius facti) in ein unnatürliches liündniss zu- 
sammeuzuzwiugeu'^) klärte sich durch anhaltende Uebuug. Es 



bohm in Wien u. a. m. Was Freske mid Oommer f&r nie fifetrag zu 

dankende Verdienste haben, weiss alle Welt! 

1) . . . (linn supra snpremum ciijusvi» cantus miiltipliciter Gompositi 
aliam iiarteni novaui edirnus. (Tinctoris Pntport. III. 4,) 

2) Bian findet es unter den Musikheilagen, wo es nach der Redac- 
tion des vatieauisehcn liiedercoili'x ersdu'int. Kiiie zweite, wesentlich ai)- 
wcicheudc Bearbeitung enthält der Codex Nr. 2*Jö dur Bibliothek zu Dyon. 

3) Wie wanderbar ist doch Aet ParaUelismtis der einseinen Künste! 
Aus den Z<;iten, wo die Sculptur ungefiihr ebenso l»arl»arisch war wie 
jene Musik aus dem 10. Jahrhundert, findet sich am äussern linken Por- 
tal von S. Marco in Venedig (unter dem die ^larcuskirche selbst d'vrstellen- 



352 T)ie Eniwickeliing des mubrstimmigen Gesanges. 

finden sich im Codex No. 295 der BiblioUiek zu Dijon merk* 
würdige, in ihrer Art bereits ganz schätzbare Arbeiten dieser Art, 
welche allerdings erst der Mitte des 15. Jahrhunderts anpehören 
möf^cn. Eine solche Motette verbindet in den Mittelstimmen zwei 
Lieder: Pardonuez moi und l'autrier m'nloie, wobei die eine Me- 
lodie ursprünglich im geraden, die andere im ungeraden Takte 
steht, und gleichwohl beide geschickt zusammengeknüpft neben- 
einander hingehen. Die Anssenstimmen RUsgue A duucm nnd 
dun in freier, schon erfreulieh belebter Contrapnnktining er- 
fanden: 



Aus dem Codex N. 295 der Bibl. von Dijon (s. Morclot Beilage II.) 



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«Ir'ii Mosaik) ei»i Relief mit der Darstellunpr einer biMisclien Begebenheit, 
welches aus gar nicht zuBanimeugehörigeu Fragmenten noch älterer Sar- 
kophagrelieft susammengeflickt und zaMunmengestosaeii ist. Burckhardt 
erwfthnt es in sciium ricrrfnic S. 580 und bat panz richtig gesehen, wie 
mir eine genaue Untei'suchung jenes alten Beliefs die Ueberzeugung 
versohafifl hat. 



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Der Diflcauius und Faaxbourdon. 



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Die Entwickelang des mehrstimmigen GesangM. 

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Eine andere Motette dcrsolboa Sammlung „Souviegne vous de 
la doulcur'* hat gar einen aus einer Menge von Liederanfangen 
quodlibetartig und toll genug zusammengeflickten Tenor: „A bien 
amer soiU mes jeiUx gracietdx: hoc aar la mer quaid il vente il y 
fait daugereitx aller: gaillarde pemie my larrez vous morir: quant 
le Roy alla en Flandre il fit oindre ses ouseaiix: Vami BaudichoHf 
madanie, Vami Baudichon". Aber auch eine fünfstimmige Marien- 
motette findet sich da, die zwei tiefem Mittelstimmen intoniren zwei 
Marienhymnen „pidcra es et decora'* und „Saticta Dei genitrix^^ 
beide den Notenfolgen nach unverändert, aber den N*tenquantitüten 
nach durchaus accommodirt und durch Pausen nach Bedilrfniss aus- 
einandergehalten. Dazu coiitrapuuktireu die drei anderen Stimmen 
mit französischem Text „;;e; »m»ic/ii vierge plus digtie^* u. s. w. Der 
Tousatz erscheint hier schon mit grosser Sicherheit behandelt, 
das Ganze ist von sehr würdig ernster Färbung und trägt so sehr 
den Charakter der zweiten niederländischen Schule, dass es 
allenfalls eine Arbeit Okeghera's sein könnte: 



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Der Discanius und Fauxbourdon. 



355 



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Dijoner Codex No. 206. S. auch Morelot Beilage IV. 



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356 



Die Entwickcluug des mehrstimmigen Gesanges. 



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Der Ditoaafiis und FMwzbourdoii. 357 



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358 



Die Entwiokelniig des mehntimmigen OMaogei. 



Comporitioneii dieser Art sind die eigenfliche Vorscliiile und 
Vorhalle jener spXtem meisterliehen Arbeiten nüt doppeltem Cantns 
firmns sweier ▼ersehiedener Hymnen oder Antiphonen (oder auch 
eines durch canoulsche Nachahmung sich selbst verdoppelnden Te- 
nors). Wenn Heinrich T-^aak seine hr5chst grandiose sechsstim- 
mige Motette an Leo X. ,^optime pastor^^ über die zwei verhun- 
doiion Tenore ,,ffa pacem Domine^^ und j,Sacerdos et poniifejc'*' 
im wundervollsten Stimmgewebe wie einen riesenhaften gnthischon 
Dum aufbaut, so ist das nur die Vollendung dessen, was jeue alten 
AnfKnge zuerst Tersucht. Und eben dahin gehört des geistreichen, 
phantasievollen Nicolans Qombert vielbeininderte Motette mit 
der Devise „divow üvena aroKt^, welche Oiov. Batt Bossi^) in 
folgender Weise schildert: „Nicolb Gombert, eeeelentissimo in 
qnesta scienza, nel secondo libro de motetti a quatro fa qnesto motto 
in uno che dice diversi diverse (richtig; diversa) orant e qjntito 
perche il basso iWce Alma redemptoris su lamaniera del canto fermo, 
il ranto dico salve rcgina su l'andata del canto fi'imo, e Talto dice 
ave rtv/Z/ia coehrum pure aopra il modo del canto fermo, et il tenoro 
dice Jnviulata in qucUa maniera, che sta il motetto della Corona'^;. 
Di pih ü soprano imita il canto forme ehe h per 6-qnadn» el le nitre 
parti sono per fr-molle, perch^ anco l'antifone loro sono per d-moUe, 
arteficio non cosi focile, eome aleoni pensaao**^ Allerdinga be- 
handelt Gombert aber die vier Antiphonen durchaus mit ktestleri* 
scher Freiheit. Doppellieder su eomponiren, d. h. zwei gar nidit 
zusammengehfiri^e liiedermelodien in sinnreiche Verbindung zu 
setzen, war bei den späteren Meistern eine beliebte Spielerei. Der 
Niederländer Juhanu J apart hat einige hübsche CabinetatUcke 
dieser Art geliefert; sehr geistvolle Arbeiten desselben Genres 
aber Arnold von Brack nnd Ludwig Senfl, von denen 
weiterhin an gehöriger Stelle mehr sa sagen sein wird. 



1) Organe de Oantori 8. 18. 

2) Rossi meint Josquin*9 funfstimmige Motette, dio im Tierten Booh 
der Motetti della Corona als No. 6 zu hnden ist. 

3) Auch Zarlino lobt dieses Stflck „cotal oosa h molto lodevole, per 
esier ingegnosa" (Institut Harm, pars III. cap. 66). Gombert's Compo- 
sition steht als No. XXX in dessen Werke: Ii. Gomberti musici impe- 
ratorii motectorum nuperrime maxima diligentia in lucem aeditorum (so!) 
Liber tecondus. Quatnw voonm. Venetüs apad Antonhmi Gaidsae 
MDXXXXTT. Die Münchcnor k. Bibhothek besitzt diese Ssaunlutg; kdl 
habe Uomberi'g Stack darnach in f artitor gebracht. 



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Bi« BfoMnnlmiink vnA der eigsnUkba Oonlnpiinkt 



559 



IM« KtnsoMlmiulk imd d«r «ic«&tllfilM Oomtrapimkti 

Hatte sieh ans rohesten Anftngen «UmSlig eine geregeltere Sats- 
knnst entwickelt, to entwickelte ncli damit gleichsmtig omd panllel 
auch eine dem neu gewonnenen Standpunkte entsprechende Noten- 

Hchrift, welche nicht blos, gleich den auf ein Liniensystem gesetzten 
Neumcn, die Höhe, sondern nach den neuen Bedürfnissen des 
GesÄiijros auch die Dauer eines jeden Tones deutlich und bestimmt 
auszudrücken iahij^ war. Sie war nicht die Erfindung dieses oder 
jenes ausgezeichneten Mannes, sondern wie fast alle wichtigen neuen 
Enehelnniigeii der Musikgeschichte, die allmälige Ausgestaltung 
eines glttekHch anfgegxUfenen Gedankens in lange fortgeselster Be- 
mtlhnng Vieler, wo ans mannigfiwhen Vorsehligen und Experimenten 
endlich das ZweckmSssige rieh herausstellte nnd sich wie von selbst 
allgemeine Geltung vcrschaflFte. In die Zeit zwischen der zweiten 
Hälfte des 11. und dem Schlüsse des 12. Jahrhunderts föllt nun die 
Ausbildung der sogenannten Mensural note zugleich mit der be- 
reits erwähnten Mensuralmusik {mmica mcnsnrataj catUus men- 
surabüis), durch welche letztere zu den beiden bereits früher 
ausgebildeten Hauptgrundlagen der mittelalterlichen Musik (den 
Kiiehentönen nnd der Solmisation) die dritte nnd wichtigste hinsn- 
kam. Anf diesen drei Fundamenten bildete rieh ans den nnfbrm- 
liehen Versuchen des Organums und des Diseantns heraus Im Laufe 
des 14. Jahrhunderts der artificiöse Coutrapunkt mit seinen strengen 
Regeln Uber Intervallverbindung, Gebrauch der Dissonanzen, Gegen- 
bewegungu. s. w., den Kunststücken der Nachahmung, Vergrösserung 
und was mehr dergleichen der Scharfsinn der Musiker ersann. Von 
Schönheit war lauge Zeit hindurch in alle dem keine Spur zu finden; 
durch die elementare Wirkung der Singstimmen, durch den blossen 
richtig geordneten Zusammenklang der Intervalle schien jener Zeit 
schon Alles vollgenUgend erfWt, was man von der Musik verlangen 
oder erwarten konnte. Erst als man in der Behandlung der Kunst- 
mittel sn einer gewissen Sicherheit und Leichtigkeit gelangt war, 
glückte es ans dem solidarischen Musikmachen der Schulen individuell 
und bedeutend hervortretenden Talenten, wie Wilhelm Dufay u. A., 
wirklich musikalische Kunstwerke zu schaffen. Während dieser 
Bildungscpoclic hörte die Musiklehre allmälig auf das Monopol der 
gelehrten Mönche zu sein, besonders seit ihr einziger Zweck nicht 
mehr darin gesucht wurde den Ritualgesang im Kirchenchore rein 
in erhalten und der kirchlichen Anordnung gemlss ansflUuen xn 
helfisn. Dnroh niederländisehe Lehrer, die meist selbst tüchtige 
Singer waren, wurde von etwa 1350 — 1550, also swel Jahrhun- 
derte lang, für die allseitige Ausbildung der Tonkunst das Be- 
deutendste geleistet. Deutsche, italienische und franaösisehe Meister 
schlössen rieh in rilhmlichem Wetteifer an« 



360 



DU Bntwickelong dea mehntimmigen Gesänge«. 



Die Mensuralnote lud HenannlmuBik fand ihre ertte Pflege 

nicht in Italien, wo- die Kirch ensünger einstweilen an ihren Neumen 
festhielten, sondern am Niederrhein, in Frankreich und den Nieder- 
landen, wurde aber bei dem geistigen Verkehr, der trotz der damals 
mangelnden Verkehrsmittel unserer Tage lebhaft und rasch genug 
war, auch in Italien bald und mit Eifer aulgenunimen. 

Der älteste Schriftsteller über Meusuralmusik , der schon 
beim Diaeaatos wiederholt genannte Franc o, war seiner Abstam- 
mnng nach rennnthlicb ein Niederdeutacher. Ein Compendium de 
iüca$du ans der HandBchriftenBammlung der Königin Chriaüne von 
Schweden, welches sich dermal in der Valicaniachen Bibliothek be- 
findet, fKngt mit den Worten an: §gQ IPrmm de OoUmia^), £r 



1) KiMewetter(„Ueberdie3^eben8periodeFranGoVin derLeipz.allgem. 
mm. Zeitnng,. Jahrgang 1888 ifr. t4 nnd S5) bemerkt dam: „Denke ich 

daran, wie Absclireiber (Transcribers), Lehrer, Scliüler, AntiquitAtenkrämer 
und Sammler mit wirklichen oder angeblichen Guido'» verfahren und bedient 
worden sind, kann ich mich des Zweifels an der Echtheit jenes £go IrVanco 
nicht erwehren. Der Ürlieber jenes Gopendiums , der fiir gut fiina , dieMnal 
seinen Franco, progen dessen sonstige Gewohnheit, in der prima persona sin- 
golaris sprechen su lassen, hatte natürlich den Scholasticus von Lüttich im 
Sinne, in welchem man schon früh nnd vielleicht nicht ohne Orund einen 
Cölner vermuthete, weil er dem Erzbischof von Cöln ein mathematisehea 
Wi'rk zugeeignet haben sollte. Meines Orts gestehe ich, dass ich eher ge- 
neigt bin, jenes Compendium für apokryph zu halten, als zwei gelehrte Franco 
▼on GOln amranehmen ; obgleich kAk es eben nicht f&r nnmOglioh bidte, dass 
diese altberühmte Stadt in verschicHtMien Zeiträumen auch wohl zwei Geist- 
liche gleichen Namens hervorgebracht haben könnte. Ich halte dafür, dass 
die Herkmrft mserea Franco noch problematischer ist, als dessen Lebens« 
pcriode. Sein Name IVanco, d.i. Frank, zeigt übrigens ohne Zweifel einen 
Deutschen nn." Giovanni Sjiataro in seiner 1491 für Bartolnmeo de Ramis 
veröffentlichten Streitschrift nennt ihn Germauus de üolonia, auch von Doni 
(discorso sopra le consonanze S. 257) wird er Fkaneone daCwknda genannt. 
Auf einigen Ahfichriftm seines Werkes über den Mensuraljyesang heisst er 
Franco i^arisiensis (Forkcl, Gesch. d.Mu8.2. Bd. S. 390), daher ihn P. Martini 
mmFranCOne di Parigi macht (Stor. della mus. Thl. 1 S. 169). Daför fehlen 
aber alle Anhaltapunktc, und es ist diese Metastase auch anderwärts vorge* 
kommen, wie denn z. B. de ^luris, der französische Magister der Sorbonne, 
wie Rousseau in seinem Dictionnaire de musique erwähnt, für einen Italiener 
aus Perugia ausgegeben werden wollte, weil auf einem Codex aus Versehen 
statt Parisiensisgppfhrio1)Pn stand Pomsiensis. Mit Franco, einem Scholasticus 
von Lüttich, der um lOüU lebte, und dessen Sigebertus Gemblacensis und Tri- 
themios ab eines tiefgelehrten Mannes gedenken, hat unser Fnmoo nichts ge- 
mein als denNamen. Die beiden uon itintf-ii Autoren, die s«dbe Kenntnisse 
einzeln aufzählen, ihn als Mathematiker rülinuM», auch dass er ein Buch Ober 
die Quadratur des Zirkels geschrieben u. s. w., erwähnen kein Wort von mu- 
sikalischer Gelehrsamkeit, und dieses Stillschweigen allein schon sollte jede 
Verwechslun;^ des Mathematikers Franco mit dem Musiker Franco aus- 
schliessen, wenn man bedenkt, welch' eine musikalische Autorität der Letztere 
war. DieNothwendigkeit sweiRwnco yon Cöln anzunehmen, ist doch wohl 
nicht vorhanden. Deswegen, daas Franco von Lüttich seine Quadratur des 
Zirkels dem Erzbisehof Hermann von Cöln widmete, braucht er nicht selbst 
auch Göln angehört zu haben ^ und eben so ist das blosse eyo doch wohl noch 



L^iyiu^uo Ly Google 



0ie Mentnralnrarik und d«r eigentliche Oontrapankt 861 

wurde eine Autorität, fast wie Guido; spatere Schrit'tstcller (Mar- 
chettus, JeandeMuris, Robert de Handle, Thomas von 
Walsingham, Spataro, Doni n. 8. w.) nennen ihn mit grosser 
Aehtang. Fnuieo*8 Tractat Ist neben swei anonymen HanuBcrip- 
ten der Pariser Bibliothek, deren eines mit der Jahreszahl 1187 
bezeichnet ist, nnd einer ehemals dem Ahbi Teisan (jetst F^tis) 
gehörigen Handschrift vom Jahre 1226, die Mteste erhaltene Ab- 
handlang Uber Mensuralmusik. 

Franco's Tractat ist, wie er ihn selbst nennt, ein Compendinm 
und in dieser Beziehung, als Zusammenstellung der zur Zeit seiner 
Abfassung geltenden (Jrundsätze der mensurirtcn Musik, wichtig. 
Wo er etwas wirklich Neues behaupte, werde er es auch beweisen, 
verspricht Franeo. Wohl ein Jahrhundert später, nm 1220, schrieb 
der Benedictinermdnch Walter Odington yon Evesham seine sechs 
Bttcher de speeukUume murias» Ans der Aehnlichkeit der Lehren, 
die er im sechsten Bache {de karmtmia muUiplicif id est de organo 
et ejus speciebus, nec non de campositione et figuroHone) vorträgt, 
folgt wohl noch nicht nothwendig, dass er, wie Bumey will, ans 
Franeo geschöpft haben müsse; beide lehrten was zu ihrer Zeit all- 
gemeingiltig war. Dagegen tritt ein anderer cngliseber Mensuralist 
Robert de Handlo (der einen seiner Tractate mit der Jahreszahl 
1326 bezeichnet hat) in seiner Schrift Regulae cum maximis magistri 
l^aneoms am addUumilma alienm nmieonm eompihiae a Boberto 
de .HomCo nicht allein als Commentator Franco's auf, sondern er 
macht, da sein Werk in Dialogform abgefasst ist, den Franeo sogar 
zum Interlocntor; er selber ist der andere, und spfiter mischt sich 
der Motettencomponist Petrus de Cmce, dann ein Herr Peter le Visor, 
Jacob de Navernia und Joannes de Garlandia in das Gespräch. 

Der Zeit FrMiuo's entweder unmitt(dl)ar angehörig oder doch 
wenigstens noch nit iit über ihren Standpunkt hinaus ist ein sonst nicht 
näher bekannter Beda (Pseudo-Beda, auch unter dem Autoruameu 
Aristoteles vorkommend), der einen Dractatus de muska quadrata 
aem maiMrata hinterlassen hat, in welchem die Lehre von den Noten- 
gattangen, Pansen, Modis, Ligaturen n. s. w. im Sinne Franco's, 

kein ausreicheTidt-r Grund gt'gen die Echtheit des vaticanischen Manuscripts. 
Ueher Franco's Zeitalter hrachtc Kiesewelter in der Leipziger allgera. mus. 
Zeitung Jalirrf. 1H28 Xo 4S. 40, 50 fincn AuFnütz, der als Cluster musikalisch- 
historischer Kritik gelten kauu. Hr. i* utis suchte dagegen in der Einleitung 
seiner Biographie nniTerselle die Identität Franoo't de« Lttttioher Scho- 
lasticus mit Francodem Mensuralisten durch allerdingsiehrBchwache Crründe 
zu erweisen, Kiesewetter verfocht in der Leipziger allgem. iiiu'«. Zt-itiing 
Jahrprang 1838 No. 24 und 25 seine frühere wohlbejfründetc Ansicht. Da- 
bei wird es wohl einstweilen sein Verbleiben haben. Wie man nm 1(J<jO 
sclioii eine Mensuralmusik hätte besitzen sollen, ja wie Franeo um dirse Zeit 
von der Mensuraimasik als einer schon den „Aelteren'' bekannten Sache 
tollte reden kftnneii, ist allerdings rein unbegreiflich (S. auch die neue Ans- 
gäbe der Biogr. amv. ad v. Franoon 8. Bd. S. 320). 



Digitizoa Ly Li(.)0^le 



362 Die ButwuMang UMlmtinunigiNi Getuget. 

tlitch verworrener und weniger vollht.ünlif^ abgeliandelt wird'). Fast 
Zeitgeuobse Walter Odiugton's war der liieronymus von Mähren 
(Mmum oder it Mwwoia), dessen IVüäaius de Mtisiea lehon 1260 
als koetberes Legat Pieire's tod Linoges in den Besits der Bor- 
bonne gelangte, nnd ans dessen Sebnle Johann de Mnris wenig- 
stens mittelbar bervorgo^^m^en ißt. Zu dieser Gruppe der Kitesten 
Mensuralisteu gehört endlich auch noch der fruchtbare musikalische 
Sdiriftsteller Marcliettus von Padua, muthmasslich ein Mönch, 
denn er lässt sich in seinen Schriften von fingirten Interlocutoren 
mit ,,Frater" anreden. Er nennt sein Buch über Mensuralmusik 
l'omerium, „weil es gleich einem Garten den Sängern unermess- 
liehe Blumen und Früchte bringe", und er bat es geschrieben, „um 
den Musikern nnd SXngem sn seigen, dass die Mensnralmnsik mit 
niehtenansittmerWillk1lr(a&Mte(ot^im<a<isarUlno)herTorge 
sondeni durch die Vernunft begründet sei.** Diese philosophische 
Begründung, bei der ihm ein Dominikaner aus Ferrara, ßyphantes, 
rathend zur Hand war, enthält gute und höchst seltsame Argtimente 
in wunderlichem Gemische. Das ganze Werk ist so weitschweifig 
und schwülstig' geschrieben, dass man die Harmlosigkeit des guten 
Marchettus bewundern muss, der sein Opus dem Könige Robert von 
Sicilien ausdrücklich deswegen widmete, „damit er im Lager des 
Krieges den kSniglichen, von den Wechselflfllwi des kriegerischen 
Mars beunruhigten Geist daran eigStae.** Ob diese tiefsianigen 
XJntersnchungen Uber Cauäas, BropritMu^ Borna» nnd BmctoPst, 
Uber Breves und Brwea aiiei as u. s. w. dem Könige wirklich die 
Sorgen des lüaeges versüsst haben, wissen wir nicht; die Dedica- 
tion ist aber wenigstens für die Zeitbestimmung nützlich, denn da 
König Kubert 1309 — 1344 regierte, so scheint, nachdem Marchettus 
seinen ersten musikalischen Tractat schon 1274 vollendet hatte, 
sein Pomerium jedenfalls seinen spateren Lebensjahren anzuge- 
hören und reicht (gleich de Handlo's Schrift) eigentlich schon in die 
Zeiten des de Muris nnd Philipp von Vitiy hlnllber, denen gegen- 
Uber es jedoch noch den Mteren Stand der Mensnrallehre yeitiitt 
oder vielmehr den Uebergang Ton der Uteren sn der entwickel- 
teren Eichtung vermittelt. 

Marchettus hat das Geschick erfahren mUsseUi die Zielscheibe 

1) Man hat diesen Autor lange mit Beda venerabilis vorwrchselt, 
daher jener Mensuraltractat auch den 1<'»88 zu Cöln gedruckten Werken 
(I. Bd. S. des ehrwürdigen Beda beigegeben worden ist. Dass der 

Mönch-Aristoteles und Pseudo-Beda eine und dieselbe Person sind, Imt 
BottOe df Toulniont vollständig nachgewieftcn. (Die entscheidendsten Be- 
weisstelien ündeu sich im Speculum des de Muris XIL 11 und lö, femer 
6, 19, 90 und 27.) Moria nennt ihn und Franoo die Bsuptb^rfbiaOT des 
mensurirten OcBanges: „inter qnos eminet Franco Teutonicus et alias 
quidani , qui Aristoteles nunciipatur" (Speculum VII. 1). Der Mönch 
Aristoteles gehört dem Kude des 12. oder dem Anlange des 13. Jabr- 
bnndeits an* 



Die HenninlmniUc und d«r «igtnlUdie OontnpiDJct 863 



der Bpfiteren Mnsikgelelirten zu Avcidt n. Sein eignier Landsmann 
ProBdocimus von Bcldomaudo {Fiosdocimus de Bddomandisy 
«iner der Tontli^chateii Vertreter der mittelalleiMien AUiruMMrei, 
gleich Pietro Ton Abano Philoioph, MiAer, Astrolog u. a. w.) 
schiieb 1410 ein ganzes Buch „wider den theoretiBehen und specn- 
lativeii Theil des Lncidarium des Marchettus" Der Earthfiuser 
Joannes {Joannes Carthusieiisis) bezeichnet Marehetto als Einen, 
der f:leich einem Schulknnben die Ruthe \ erdient ifcruhi ivfUt/enfein); 
Bartulumeus de Kamis maclit auf dessen Namen ein unüberset^jbareH, 
nichts weniger als schmeichelliaftes Wortspiel 2), und der Gegner 
des de Kauiis, Nicolaus BurtiuB, glaubt diesen nicht Bchlimmer ab- 
fertigeil an kBunen, als mit der Wendung: „er, Ramis, geratbe der 
groben Dummheit und Albernheit eines Marehettas nach**^). Die 
Folgeteit hat indessen dem VielgeschmXhten seine Stelle unter 
den schätzbaren MusikschriftsteUeni eingerinmt, nnd in der That 
hat er vieles höchst Anerkenneaswerthe gessfrt, oh es gleich keine 
leichte Arbeit ist, es aus seinem unendlichen Wortschwall herauszu- 
fischen*). Für diese filteren Mensuralisten blieb Franco eine Art 
gemeinsamen Oberhauptes: in dieser Beziehung ist eine von Mar- 
chettus gebrauchte Wendung bezeichnend „I rauco und die übrigen 
Lehrer der Mensuralmusik*''^). 

Der Charakter dieser Slteren Lehre ist eine gewisse rohe Altei^ 
ihlbnliehkett und Einfalt, die snweilen an Ungeschicklichkeit grenst, 
obwohl einzelne Partieen schon sehr snbtü heransgearbeitet sind. 
Die ersten Anfänge der Lehre hat man sich wohl äusserst einfach 
nnd auf das nächste praktische Bedürfniss beschränkt zu denken. 
Sobald es darauf ankam fiir die Töne eine bestimmte Dauer zu er- 
mitteln, ergab sich sogleich der natürliche Gegensatz von Länge 

1) Oposcoliim contra theoricam partem sive speculativam Lncidarii 
Marcheti Patafini Dieses mit 1410 datarte Ifanaacript so wie zwei an- 
dere, ein Compcndium tract. practicae cantus mcnsurabilis (datirt 1408) 
und eine Abhandluug „Cantus mensurabilis ad modum lialicorum" (1412), 
befinden rieh im Besitz der Bibliothek der Conventualen in Bologna, 
wohin sie wohl durch P. Martini gebracht worden. Die Notiz des I^crns- 
dorf *8chen Umversailexikons, „dass sich auch in Padua Abschriften findeu", 
ist irrig; wenigatena habe ich bei peraOnlidien Kachforachnngen in der 
genannten Stadt nichts davon aufzufinden vermodbi. Ueber Beldomaado 
Tergl. man die Binprafia deprli artisti Padovani von Napoleone Pietrucci. 

2) In eeiiicr Pract. musicae. £r nennt ihn „DJarchettus, (juatuor 
marchetia Yenetoram venahs". 

3) Crassam etenim Marchetti imitatus est^ nt dixif ineptiam et firtoi- 
tatem (Nicolai Murtä Muaicea opusculum). 

4) Forkel (0. d. M. 2. Bd. 8. 468) bemerkt: .was er zvr Erweiterung 
der Harmonie gethan, war nach der Bescbaftnheit seines Zeitalters be- 
rechnet, schon sehr viel". 

ö) Circa quod sciendum est, quod JUagister Prauco et ceteh doctorea 
nnricae menauratae aio Tetificant n. s. w. (Hardhettns bei Gerbert Scrip- 
toies m. Bd. S. 127). 



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364 IHe BntwiekelaBg des mebnümmigen OetangM. 



uml Klirae, wie ihn die M«'trik für Sylben von jeher in der Weise 
tcstgehalten hatte, dasä „Lange doppelt genommen Kürze sei.'* 
Hatte man in der Nenmenacbrift den einzelnen Ton dnreh den 
Punkt nnd die Virg» Teninnlieht, so gab man jetit diesen Zeichen 
eine feetere, eckige, mehr in die Aogen fallende Oestalt nnd aehnf 
daraas als Zeichen fttr die knne Tondauer die sogenannte Brevis 

für die lange Tondauer die Longa ^ ; bei letzterer sollte der herab- 
gehende Strich [caitda oder tracfMs) die Verlängerung andeuten. 
Dies mögen Anfangs die beiden Quantitäten gewesen sein, deren 
man sich vorläufig allein bediente. Als später noch andere Noteu- 
gattungen in Aufnahme kamen, erklärten die Mensnralisten die 
Longa für die erste und ▼onttgliehste (prima «f primcipalis)^ weil 
alle andern sieh auf sie besiehen. Die Metrik bewegte sich nun 
meist trochSisch oder jambisch (-^; diesem Masse der Worte 
schlössen sich die Notenseichen an: 



1 



^(iroohiiach) 



1 



(jambisch.) 



Diese Verbindung von Länge und KUrze oder Kürze nnd LSnge 
wurde daher tur ein in sich Abgeschlossenes, fiir einen eigenen 
Abschnitt angenommen, man nannte diese das ,,Mass" der Töne 
anzeigende Verbindung Modus, das Mass. ,,Der Modus," sagt eine 
Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert Uber die Kunst des Discan- 
tirens, „ist eine Verinderung des Tones sios LXnge nnd KQne 
geordnet** ^) Das rhythmische Mass war also ein drdieitiges, in« 
sofern die Longa an Dauer so viel galt als swet Breves. DieBrevis 
wurde daher auch tempus (Zeit) genannt. Dieser dreitheiligen Mes- 
sung zufolge galt daher die Longa dann statt zwei vielmehr drei 
Breves, wenn ihr eine andere Longa nachfolgte. Das dreitlieilig« 
Mass, das ursprüngliche, liiess daher vollkommen, perfeduvi. Die 
Symbolik hatte dabei zu bemerken, dass ja in der Drei alle Voll- 
kommenheit begriifen sei, und erinnerte an das Geheimniss der 
TrinitSt^. „Alle Musik," sagt de Muris, „geht von der Dreizahl 
aus; drei dreimal genommen gibt neun, worin alle Zahlen begriffen 



1) Modus est variatio soni ex longitudine et brevitate ordiuata (De 
arte mscantandi bei Goussemaker Hist. de Tbarm. du moyen äge 8. 281). 

3) Perfecta dicitnr, eo quod tribos temporibiii mensuretiir. Bat enim 
temarius numerus inter numeros porfectissimus pro eo, quod a summa 
Trinitate, quae vera est et summa perfeutio, nomeu aasumsit (Franco, Ma- 
sica et cantos msiisarabQia oap. iV). Uebereinatinmiend aa|;t H. d. Ze^ 
landia «pOT^Botio consiitit in nomero temario, imperfeotio m binario**. 



Die Mensuralmuiik and der eigentliche Contraponki. 



365 



rind, da man nach neun immer wieder cur Einheit zur&ckkehrt, daher 
steigt die Mnsik auch nicht ttber die Neunsahl** i). Bas xweitheilige 
Mass, der gerade Takt, wie wir sagen wttrden, galt folgerichtig für 

unvollkommen {imperfedum) und wurde auch so genannt. Er tritt 
als selbstständiges rhythmisches Mass erst im 14. Jahrhundert auf. 

Von der blossen Möglichkeit eines sclbstständigen zweitlieiligen 
Masses hatten die ältt-ston Menhuralistcn so wenig eine Vui^tcllnii«^, 
dass Franco saj^t : die impert'ectc Longa werde olnie ergiinzi nde Hilf- 
leistung einer ihr voransteheudeu oder uachi'ulgcudeu Brcvib gar 
nicht angetroffen^). 

Et iniisa übrigens hier eigens darauf hingewiesen werdeUi dass 
die Uensuralnote mit der römischen Choralnote, wie wir sie noch 
hentsntage in den Canttonalen antreffan, nichts gemein hat als die 
Hussere Aehnliehkcit der Gestalt. Die Neumen behaupteten sich in 
den BUcliem des Kirchengesanges bis in das 14. Jahrhundert hinein ; 
und erst als die Mensuralnote bereits zu einer bedeutenden Anzahl 
von Formen ausgebildet war, Hess man für den Choralgesang eine 
ahnliche viereckige Note, die no(n quadriquarta, geltt'ii und machte 
den der Mensuralnote in Gestalt und Namen nachgebildeten Unter- 



schied der Longa \t Brevia m und Semibrevia 4, deren Daner aber 



im eaniusplanua immer nur eine ungefiUire war, die immer Noten 
unbestimmter Geltung (ineerÜ vahnris) blieben« Viele bedienten sich 
noch immer jener unschönen Schrift der „Flit i^c n Hisse** und Huf- 
eisen/' welche die Uebeigangsform zwischen der Nenme und der 
Ohoralnote bilden 3). Jene Unterscheidung der Quantitäten in der 
Choralnote war eben nur eine Hilfe fiir die der latt'iuisclien Prosodio 
nicht kundigen Chorsänger, besonders fnr die Ch(»rkiial)cn. Die ndt 
den viereckigen Mensuralnoten geschriebene Mensurahnusik hiess 
daher (im Gegensätze gegen die sur Zeit als die Mensuralnote auf- 
kam, noch immer in Neumen notirte musica plana) auch wohl die 
viereckige Musik (titiine» guaäraia)^ oder nach den mannigfachen, 

1) Musica ergo a numcrorum tonmrio sumit urtum. (|ui tornnrius in 
se dactus uovem generat, sab quo noveuario quodummodo omuis numerus 
continetnr, cum ultra norem semper fiat reditns ad nnitatem: ergo musioa 

iiovenarium numerum non transcendit Nnlhi i)crfcctio musicalis 

tornarium cxcodit, sed tomariiim amplottitur et in^truit. Pcrfectuni 

est, quod est in tres partes aequales divisibile, vel iu duas inaequalcs, 
quarom minor in Be ipsa a majore superatur (Mas. pract. S. 21)5). 

'2) ...pro tanto dicifur imperfecta, qnia j-iTii- adjutorio brevis |Hrae* 
cedentis vel subsequeutis uullatenus invemtur (Franco cap. 4). 

3) Notae vero incerti vslorts sunt illae, quae nullo regolazi Tsloro 
sunt iimitatae, cujusmodi sunt, quibus in piano cantu utitur, quarum 
qnidem forma interdum est similis forraae longae, brevis et somihrevis . . . 
et interdum dissimiHs, ita quod pedes mmcarum propter eurum pcnüci- 
tatcm a plerisque nominantur ( Tinctoria, im Tractate de notis et pausiB 
Pap. X. V : de notis incerti Ysloris). 




366 



Die Entwickelang des mehrstimmigen Oetangea. 



oft sehr bmiteii Figuren, welche die Mensnralnote stunml in den 

genannten Ligaturen bildete, Figuralmnsik (musica figurcUis) Der 
letztere Ausdruck hat sich bis auf unsere Zeit erhalten: die Kirchen- 
mnsik wnrd noch jetzt in den Choral, d. i. den Gregoneniiciiea Ge- 
sang, und die Fifjuralmusik uiiter.sciiiodon. 

Die sicli alhnälig reicher gestaltcude Weise in solchen bestimmt 
gegeneinander gemessenen Quantitäten zu singen erheischte bald 
eine reichere Anzahl von Quantitätszeicheu oder Notengattungeu. 
Das NXchstliegende war die QuantitXten in verdoppeln nnd sn hal- 
biren: durch Verdoppelung der Longa anstand die duplex longa 

oder tn^anwia^*!, durch Halbirung der Brevis entstand die Senii' 

hreris^. Diese Notenformen und Geltungen kommen schon bei 
Frauco, dem ältesten Schri fistoller Uber Mensuralmusik, vor. Da 
man das dreitheilige Verhältniss als das vollkommene ansah, so stellt 
sich die Semibrevis zur Brevis ursprünglich so, dass gleichfolls ihrer ' 
drei (nicht swei) der Brevis gleichkamen, wenigstens wollte es die 
Theorie. „Stehen,'* heisst es in der eben citirten Knnst des Dis- 
cantisirens, ,|iwei Senübreven zwischen zwei Longen oder zwischen 
einer Lon^' t und Brevis oder auch umgekehrt, so rrilt die erste Semi- 
brevis den liiitten Theil eines Tempus" (d. i. einer Brevis), ,,die andere 
aber zwei Theile eines Tempus." Beide zusammen kamen also drei 
Dritteln des Tempus, das ist dem ganzen Tempus, gleich. Die ar5 
diöcautanili gibt dafUr folgendes Beispiel: 

NB^ NB^ 



5 



NB NB 



„Diese dreitheilige UntereintheUnng der Brevis,** bemerkt Heinrich 



1) Die Siiuger, die soluhen Gesang ausführten, hiesseu FiifuraliaUK. 
So sagt der Dominikaner Poter Herbipolensis (von Wünbiurg) in teinem 
Chronicon Francofortenso zum Jahre lotX> Musica anii>liata est, jam novi 
cantores sorrexere et cumpouistae et fiyurüttae iauoperunt alios modos 
assuere (vergl. Gerbert, De canta S. Bd. S. 125). A^m von Fidda tagt 
(Mus. I. 1): B^ttlata aimplex vel plana (musica) est, cujus fignrae neo 
auj?Tnentutn neo decremcntura patiuntur, ut tit in cantu ( 1 i **>^oriano : men- 
auralis vel figwrativa est, cigus ti^urae augeri vel miuui possunt in si^nis 
jiizta fermam et speciem et hoo in primis mensurae gradibus, viddioet 
modo, tempore et prolatione. 

2) ^uandocouij^ae duo semibreves iuter «luas iongas vel iater lougam 



uiyiu^uu Ly Google 



Die MeosiurAlmimk nnd der eigentliche C<mtn|Hiiiki 



367 



BeUeriiuuiii ni dem vontdiwideii BeiBpiel i), „lurtto Jeden&lls filr die 
Ansflihrendeii gfoise 8diineri|^ceft wnd ist gewiss in der Praxis 

anders gewesen; man würde dadurch gtets einen neuntheil igen Takt 
erhalten hahen, den wir nicht den Auföngen der Musik beimessen 
können, besonders wenn durch die Alteration der zweiten Brevis 
Rhythmen wie in dem obigen Beispiel entstehen." Die Longa 
duplex war dagegen nur zweitheilig, die „doppelte" Longa. Die 
Theorie unterschied die Longa in eine vollkommene, unvollkommene 
und doppelte; die erste enthielt drei, die audeie sswei Breve«, die 
Longa dupltm naeh Unterschied seehs oder vier Breves, aber immer 
nnr swei Longas^. Zar Verdentlichnng der rbytbmiseben Hessnng 
bedienten sich schon die Vlteren Hensoralisten eines Punktes, den 
sie divisio modi (die Theilung des Hasses) oder Signum perfectionis 
(das Zeichen der Vollendung) nannten*). 



1. 2. 3. I 1. a. 3. 



1. 2. 3. < 1. 2. 3. 1.2. 3. 1 1. 2. 3. 1 1. 2. 3. 



V • 1 II T 




In Werthcombinationen, wie die vorstehenden, müsste ohne Punkt 
die erste und dritte Longa dreitheilig gezählt werden, die zwei da- 
zwi.sehengesetzten Breves abi'r so, dass sie zusammen wieder einen 
dreitheiligen Modus bildeten; die erste {breris tcrta) gleieli den» 
dritten Theil der Dauer einer perfecten Longa, die andere (brevia 
aUera) gleich den swei flbrigcn Dritteln derselben oder gleich einer 
imperfecten Longa. Von swei gans gleichen Noten, swei Breven, 
galt also in solcher Stellung die sweite den doppelten Werth der 
ersten. Der zwischengesetzte Punkt {divisio modi) schied dagegen 
die Noten in Gtmppen, wobei dann die Longa nur zwei Breves galt 
nnd die der Longa folgende oder vorangehende Brevis die Zahl der 
drei Tempora vervollständigte. 

Die doppelt grosse Geltung einer Note oder Alteration und 



et hrcvem, vcl o convorso inveniuntar, prima scmibrevis habebit tertiam 
partcm unius temporis, alia vero duas partes unius tejnporia (a. a. 0. S. 2<)8) 

1) Die Mensuralnoten und Taktseichen des Mittelalten S. 31. 

2) Duplex lonpa . . . duas lonpfas Bifruificans (Fninco cap, 4). J do 
Muris (Quaest. sup. pari, mus.) uutersuheidet die Maxima ala Lou^iasiiua 
nnd Longior; entere besteht ans drei, letstere ans zwei Lon(^: tio ent- 
sprechen also dem, was man dann Modos mi^or perfectus nnd imperfeotot 
nannte. 

3) . . . nisi iuter illas duasj suilicet lougam et brevem ponatur quidam 
tractnlus, qui »ignum perfectionia dicitur, qui et alio nomine diviaio 
modi appcllatur . . . et ttim- lon^'a perfecta est et brevis imperfioit longam 
sequentem. (Franco, (ierbcrt Script. 3. Bd. 8. 4). 

4) Daamm autem brevinm pmna rseto, seoanda vero oilrra brevis 
appellatur. Reota brevis est, quae unom tempus coutinet: altera autem 
brevis aimiUs est longae imperfectiom. (Franco Cap. Y.) 



368 Die Eniwiokeliiiig dei mehrtUmiiugeii CteMBget. 

dieBeselurltnkung einer ursprünglich dreitheiligen Note auf das Bwel* 
theilige Kmss durch eine angrensende Note der nSehgtklemereii 
Gattnng oder Imperfeetion gehörten in der Hensuralmnaik mit 

BU den allerwichtigsten Lelirsätsen. Da ferner der zwischen eine 
grössere und eine kleinere Note gesetzte Punkt die Imperficirung 
wieder beseitigte und die kraft der letzteren nur zweitlioiligo grössere 
Note wieder dreitheilig machte, so verband man mit dem Punkte, 
als nocli kleinere, nicht mehr tlieilbare und folglich nicht mehr imper- 
fectible Notcngattungcn aufkamen, auch den Sinn, dass er den Wertli 
der Note ^wie bei uns) um die Hälfte ihres Werthos verlängere. Da 
nun der Werth der Note hald swei- hald dreitheilig zu gelten hatte, 
da die Alteration und die Imperfeetion auf diesen Werth entediei» 
dende Wirkung hatten, ohne dass in allen diesen FVUen die XoMere 
Gestalt der Note irgendwie veräudei-t wurde: so musste der Werth 
einer jeden Note nicht nach ihrer Gestalt allein, sondern auch nach 
ihrer Stellung und ihrem wechselscitigon Zusammenhange mit den 
übrigen Noten beurtlieilt werden, wjvs bei der in den älteren Zeiten 
mannigfach auheinanclcrgchcnden Praxis der einzelnen Lehrer und 
Tonsetzer nicht immer ohne Schwierigkeit war. Der Sänger musste 
jedenfalls neben dem Tontreflfen beim Gosange auch fortwährend 
sich nebenher mit dner Kopfrechnnng besehftfligen. Manche Lehrer 
der Siteren Zeit dachten wirklich daran, die wechselnden Werthe 
der einseinen Klassen von Noten auch durch Modificimng ihrer 
äusseren Gestalt deutlich zu machen, wie z. B. Pseudo-Beta durch 
■ Anwendung und Weglassung des Striches, durch dessen Stellung 
rechts oder links und durch dessen wechselnde Länge die drei zu 
Bciaer Zeit gütigen Noteuquautitäteu in sechserlei Noten und Gel- 
tungen scheidet: " oder " Longa perfecta, f Longa imperfecta, 
m Brevis recfa, ■ Brevis aKern. ♦ S!r))ii}>revis major, ^ Sctnihrei'is 
minor. Aber dieser Vorschlag und noch mancher ähnliche blieb 
unbeachtet. 

War nun das wechselseitige Verhältniss der Noten durch das 
Verhältniss der Länge und Kürze unter sich geordnet, so war ausser- 
dem noch die Bestimmung eines gewissen Gfmndmasses nStiiig, 
welches die Bewegung des Gänsen flberhaupt regelte. Es musste 
eine bestimmte Gattung der Note (die Longa, die Brevis oder die 
Semibrevis) eine absolut bestimmte Dauer haben. Unser wechselndes 
Tempo, wonach die Taktnote im Presto nahezu der Achtelnote im 
Largo gleichkommt, kannte man nicht; es wurde aber dem Bedürf- 
nisse nach rascherer Bewegung, wie wir sehen werden, allerdings, 
aber rlurch andere Mittel, genügt. Die Longa wurde nicht zum 
Grundiaasse genummeu, wobl aber (und zweckmässig) die Brevis, 
welche sweimal oder dreimal genommen die Dauer der Longa 
ausmachte. Sie gab die eigentliche Zeitbestimmung, daher r 
als Tempus beseichnet wurde. In der lüteren Zeit wurde, 



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Die Menraralmtink ond der eigentliehe Contnpimkt 369 

Glarean erwähnt, in solcher Art p^nu'ssen; an vit lni Orten Deutsch- 
lands erhielt sich diese Weise bis iii das IG. Jahrliuudert hinein. 
Auch Marchettus von Padua nimmt die Brevis zum Taktmasse i), 
doch ohne das Wort Tactm dafttr ansawenden. Die Nieder- 
länder zogen aher die heqnemere Taktweise nach der Semi- 
breids vor, welche man daher auch als Tacius (Schlag oder Be- 
rührung) bezeichnete. Zwei oder drei Takte, je nach der Imper- 
fection oder Perfection, bildeten ein Tempus^). Es pab aber noch 
ein weiteres Mass, die Prolatio, wobei die Mininia Mie liall)e Takt- 
nute) die Einheit bildete, nach der Alles gemessen wurde. Da liier 
die Minima so lange auszuhalten war, wie im Temi)us die Scmi- 
brevis, so würden wir sagen, dass bei der Prolation ein laugsameres 
Tempo heirschte. Umgekehrt wUtde conscquentorweise der Ifodus, 
d. i. die Bemessung nach der Brevis, das schnellste Tempo bilden^; 
man Hess aber wie gesagt diese Ghrnndmessimg fallen: der Modus 
hatte nnr seine Bedeutung mit Hinblick darauf, ob er perfcct oder 
imperfeet sei, d. i. ob auf die Longa swei oder drei Ihcves kommen. 
Tempus und Prolation hatten dagegen die doppi ltc Richtung: das 
Mass der Bewegung und das Verhültniss der 8emibrevis zur Brevis 
(im Tempus) und der ^linima zur Semibrevis (in der Prolation) zu 
regeln. Die Abstufungen des McmIus, dct: Tempus und der Prolation 

1) In dem einen Theil seiuet Pomehum bildenden „Tractatus" de 
applicatione ipsius Temporis.*' 

8) Ut inpoomatis non parum lucis adfert decora carminis caesura, mal- 
tum etiam omatus liKMilrnta arsis et thcsij» i(n in hnc cantu. Si (leluerit con- 
ciuna vocum meusura et in cantantium coetu acqua omuium acceleratio, mira 
nt oonfamo oportet . Nunc igitur de cantas menamra, quam Taehm Toeani, 
nobisdisserendnm Q uibusdani autcmplacct,ut trniporis pntissiintmi raf ioncm 
habeamus in metieudo cantu, quando ipsum medium est intcr moilum pro- 
laiionemque, velui sol inter planetas, ad cujus quidem cursam anni tempora 
metimnr. Horum opinionem aetas saperior secuta est et sdhuc magna Oer» 
maniae portio. Ita tactmfieret ad brrris quantitatem. Quaiiqunin Iti tmiporo 
perfecto etiam qui hanc sequuntur opiuiouem uou tres semibreves uuo tactu sed 
binariam oboerrant diTiiionem, saepiua mensura ad amnanm non oongmente. 
Quaproptcr alii meiisuram ad prolationem rcforunt, ut, totius hujus negotii 
elcmentuni. Quem modum magna GaUiae pars observat, et herde, disceuti- 
buB est expi diiior. Ita tactus fiet addemihrevis mensuram: sed hic in prola- 
tione perfecta eadem variatio accidet, quam pri<»ribus in perfecto tempore ob- 
venire diximus (Glarean, Dodecachordon III. Buch Cap. 7 de tactu S. 203). 
Die Darstellung Glarean's hat hier etwa» Schwankeudes: er nennt Prolation, 
was schon bei H. de Zeelandia Tempus heisst Oder soll der Ausspruch „ita 
tactus ficrct ad brevis quantitatem'* uiclit soviel heisscn wie „die f?r<'vis bil- 
det das Taktmass", sondern »der Tactus (die Semibrevis) wird, als J^Unbeit, 
augegc))en, am die Quantittt der Brevia dadaroh zu bemes8«n?** Dann ist die 
Fassung wenigstens ftnaserst undeutlich undeinHi8s\ < ; ' nduiss si br leicht. 

H ) Eine Hinweisung aufMftlzel's Metronom möge das Verluvltniss ilentlich 
machen. Denken wir uns, das Gruudmass sei z. B. mit &0 bestiumit, so 
mttMten wir sagen: Modas a •-> M. d. M. 50 

Tempus o = M. d. M. 50 
Prolation p —M. d.M. 60 

▲mbros, easohisbl« dar Musik. IL 94 



370 



Die lHuLwickelung des mehrstimmigen GesaDges. 



waren bei den mederlAndiBchen Hneikeni sehen in jenen Früh* 

Seiten, als noch die schwarze Note hemelitey in Anwendung; 
Bclion H. de Zeelandia redet davon^). 

Neben der zu sinfjenden Note miisste Jetzt auch die Zeit schwei- 
gen zu sollen berücksichtipt werden. Sic wurde durch die Pause an- 
gedeutet und als deren Zeichen bestimmt bemessene senkrechte 
Striche zwischen die Linien des Notensjstenis gezogen; jedes Spa- 
tium zwischen zwei Linien bedeutete ein Tempus, d. i. kam an 
Baner einer Brevii gleicli, daher ein nnr halb ndt der Pansen- 
linie geflUltes Spadom einer Semibrevis oder Taktnote, eine dnxch 
zwei Spatien gezogene Linie zwei Tempora oder vier Takten a.8.w. 
„Die Pause", erklärt H. de Zeelandia gut nnd bündig, ,,ist die Unter- 
brechung der Stimme, oder ein gemessenes Athemholen, und zwar 
durch so viel Tempora als das Zeichen Spatien einnimmt"^. Schon 
Franco unterscheidet deren sechs: longa perfecta, longa imperfecta^ 
welche zugleich für die altera hrevis gilt, die brevh recta, seniibrei'is 
major und minor und finis punctommi letzterer ist der durch alle 
Linien gezogene Sdihisssirieh nnd, wie Franeo selbst sagt, „incom- 
mensorabeVS Johann de Muris billigt diese Abstnfcngen, wie sie 



Longa perfecta 





Brevis 


imperfecta 


recta 


oder 












zwei 


eins 



Semibrevis 
Buyor ) aunor 



Finis 
pnnotoram 



drei Spatien 
drei Tempora 

nach den Regeln der Alten (in canonxhus antiquorum) festgestellt 
seien. Dagegen verwirft der sonst wenig praktische Marchettus die 
Unterscheidang eigener Pansen Ar die Semibrevis major und minor, 
weil weder die sehreibende Hand, noeh das lesende Auge genüge, 
um einen so geringen Unterschied im Zeichen gehörig an beobachten: 
es sei besser, die Pause entweder unten oder oben an die Linie sn 
schreiben^). Wohl aus demselben Gmnde fand der von Marchettus 
erwähnte Vorschlag Einiger {quormäom opinio) keine Aufnahme oder 
kam wenigstens bald ausser Gebrauch, die Länge einer Note durch 
die LKnge des ihr angehängten Striches zu bezeichnen, ob er (ähnlich 
der Pause) durch ein, zwei u. s. w. Spatien gehe, so dass eine ^^te 

1) Er sagt z. B. „item modus, tcm])ua et prolatio distingnnntiir n. s. w. 
Et pott'st fieri (syncopatio) in mndo, fcnipore et prolatione. 

2) Pausa dicitur vocum oniissio äeu aspiratio mensurata pro tot tem- 
poribns qvoi fiierint spatüs figurata. 

^ Letztere Pause kommt übrigens schon 



3) Nämlich — »— oder 



bei Pseado-Beda als Semituspirium minus vor 



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Die liensiiimlmnsik und der eigentliche Oontrapunki. 



871 



ohne Strieh ^ Tempna, eine Kote mit einem Striche durch das 
nXchtte 8petinm abwKrts swei Tempora, dorch swei Bpatien drei 
Tempora u. s. w. gelte i). Ueberhanpt seigen die Schriften der Lehrer 

nu(\ Theoretiker ans den Frtihzciten der Mcnsuralmusik ein buntes 
(iewinunel von vereinzelt gebliebenen Einfällen und Versuchen, 
durch welche da und dort netio "Wege gebahnt werden sollen^). Es 
werden neue Quantitüten erdacht: bald soll, wie bei Robert de 
Handlo, zwischen die Longa und Brevis eine Seniiionga cingescliobeu 
werden; bald sollen vier- und tsccliäzeitigc und noch weiter ge- 
dehnte Maiima durch eben so viele aneinandergeschobene Longas 
nebst Seitenstriehen^, oder, wie abermals Robert de Handlo will, 
mit einem einsigen Seitenstriche, aber dnreh Theilnng des Noten- 
körpers in die entsprechende Anxahl Quadrate dargestellt, eine zwei 
Drittel geschwärzte Longa soll nach Anderen dreitheilig gezählt 
werden. Anselm von Parma statuirt dreierlei Breves und dreierlei 
Bemibreves: majores, medias et minores*). Bald wurden seltsam ver- 
wickelte QuantitÄtsberechnungen angestellt: Walter Odington be- 
spricht den Fall, dass drei Semibreves die blosse Dauer einer ein- 
ligen aasmachen, was ohne ein besonderes Notenzeichen aus deren 
blosser Stellung entnommen werden soll. Marchettos plagt sich auf 
eine wirklich mitleiderregende Weise mit der „AnftehwSnsnng** 



1) Marchettus lehrt mit Umständlichkeit, worin Pausa uud Cauda ähn- 
lich und verschieden seien. Beide bestehen aus senkrechten Strichen , die 
durch ein oder mehrere Spatia fjernp-pn sItuI ; a])Pr die Pause ist von der Notf 
getrennt, die Cauda schliesst sich ihr an „quia de ratione caudae est (bemerkt 
unser FlukMoph) incipere a nio taperiori prindpio et trahi deorsum infn 
ijisum." Die Art,aufwclclioMarchettu8 beweist, warum ein senkrechter Strich 
rechts abwärts die Pertection bedeute, wie die rechte Seite des Menschen die 
vorzäglichere sei u. s. w., muss man in dem Pomerium selbst nachlesen. Ein 
Strich an der linken Seite hat natürlich die entgegengeietste Wirkung: „qnn 
sicut est propositum de proposito ita et opjiositum de opposito . . . sed dex- 
trum et sinistrum sunt oppositia etc." Durch so viel Spatia die Cauda links 
berabgeht, so viele Tempora yerliert die Kote; nur soU man, warnt Mar^ 
chettus, die Cauda beileibe nicht durch drei Spatia liehen, „nota perderet 
tiia tempora et tunc mef nota aine tempore." 

2) Noch de Mnris (pract. mus.) saj^'t: cum de ipsa (der Mensuralmusik) 
diversi diversiuuidu seiitiant practicantes. 

3) Erwähnt in franchinusGlafor's Pract. mas. IL 2. Die Figur ist V^^^V 

dergleichen spätor in die Ligaturen wiiklioh angenommen wurde; ferner Oj 

Kj— , bei de Handlo gar° ■■■■>• | 0.0.^. 

4) Die von ihm Torgesehlagenen Figuren waren: 



Der Torschlap mnrhtc kein Glück. „Rejiciendas potius quam approban- 
das esse ueoterici arbitrati sunt", sagt Franchinns Gafor, Mus. pract. II. 4. 





Arcris > • Y 
SemibreriB ^ 



84* 



372 Entwickelimg des mehniunmigen Ge&auget. 

{cßudatio) von Semibroven, d. h. es sollen unter einer Ansahl solcher 
Noten eine oder zwei durcli eine Caada verlingeit werden, wo dann, 
um der Perfcction des Dreitbeiligen gerecht zu werden^), alle 
Quantitätsbcrechnunp^en in's ScLwnnken p;crathen und der Noten- 
werth sich .auf das allerseltsamste viTseliiebt. Bei diesen auseinander- 
gehenden lienuntastcndcn Experiuienten und Problemen der ge- 
lebilen Meiätur bildete wenigBtens die Perfection des Dreitheiligen 
ein ollgeniein anerkanntes, nicht antastbares Dogma. Wenn einige 
der Xltesten Mensnralisten, wie Franco, die DraÄeiligkeit der Note 
als das Vollkommene und Nothwendige dureh eine Anweisung auf 
die höchsten Geheimnisse der Religion zu rechtfertigen snehten, so 
nntemahmen andere auch wohl eine philosophische Erklärung. ,,Bei 
jeglicher Bewegung," sagt Marchettus, „liegt es in der Nothwendifr- 
keit von cinoin äusscrsten Grenzpunkte zu einem andern äussersten 
Greuzpuuktc durch irgend eine Mitte (de uno extrcmo ad aliud ex- 
trenium per aliquid medium) zu gelangen, und ebenso nothwendig 
ist es, dass diese Mitte an sich und wesentlich {per se ei essentuAUer) 
sich von den Grenspunkten unterscheide, was rttcksicfatlieh der 
köfperlichen Bewegung klar und einleuchtend ist; denn wer von 
einem Orte zum andern geht, muss nothwendig irgend einen Mittel- 
raum durchwandern, welcher weder der Anfang noch das Ende 
seines Weges ist. Es ist nun gewiss, dass der Gesang eine Be- 
wegung der Stimme ist, welche in der Zeit gemessen wird, wie ja 
auch jede körperliche l^ewc^ung der Zeit nach mcöshar ist. Wie 
wir nun also in der Körperbewegung eine erste Zeit setzen, in 
welcher das Bewegte in dem Augenblicke, von dem an es sich be- 
wegt {in tmo termtno a qäo movetur)^ sich befindet, und dne sweite 
von der ersten unterschiedene Mittelseit, und dne dritte, wo das 
Bewegte sein letattes Ziel erreicht hat: so müssen diese drei Zeiten 
natuigemSssTon einander auch im gemessenen Gesänge (ta tjMO cantu 
mensurato) unterschieden werden, der in gemessener Bewegung sich 
von einer Note zur andern bewegt, bis er sur Vollendung des drei* 
zeitigen Masses ;xelangt ist'-^)." 

Eines besonderen Zeichens, welches zu Anfang' der Notirung 

1) Wird z. B. von drti Semibrevcn die erste prosohwünzt 
(caudatur), so soll die erste dreitheilig, die zweite eiutheihg, die dritte durub 
Alteration zweitheilig angenommen werden; bei Sehwtnznng dw zweiten ist 

1 18 s Ii 1 g 8 1 s 8 

das £rgebnisB gar T , bei Schwiiuzung der dritten T 

1 8 8 1 8 8 

Aehnliche Berechnnngen fttr vier und fllnf Somibreves schlieBsen adi an 

Was abfr sechs Scmil)r»!V<»'^ hrtrilTf. ..«licitniis ipiod iion", sio müssen unge- 
aohwänzt bleiben. Dabei »trcitet sieb Marchettus mit ti«girten Gegnern (8ed 
diceret aliquis n. f. w.) hat aasser Athem. Ich stimme Heinrich Bellermann 
bei (a. a. O. S. 11), dass dergleichen schwerlich je im Gebranchi; gewesen. 

2) Man lu ttiiH de Padua, Pomerium mosicae mensorstae (bei Oerberi 
•Scriptores Iii. Band 143. 



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Die McnMmlnMuUc und der eigentU^e Coittr»iraiikfc. $73 



gesetzt worden wäre und das dreitlieili^e Mass anp«Mleut('t hätte, 
bedurftü es nicht, weil ein sulches Mass ohnehin das Selbstverständ- 
licBe war. Sollte eine grössere Nota nur sweitheilig gemessen werden, 
so ergab sich das sogleioh darch die Nachbarschaft der kleineren Note, 
durch welche sie impeiiieirt wurde. Man erblickte darin nicht ein* 
mal eine Verringerung oder Werthvennindemng der grtfssern Note, 
sondern in der impeificirenden kleineren eigentlich, wenn sie der 
imperficirten grösseren voranstand, das erste, wenn sie ihr nach- 
stand, das letzte Drittel der p^rössern Note, welches sich selhstständig 
und getrennt hören lasse. ,,Wa8 in drei gleiclic Theile tlieilliar ist," 
sagt H. de Zeelandia, ,,kanu von einem seiner Drittel iuiperticirt 
werden"^). Diese Anschauung erklärt auch, das« man auf das 
wunderliche Mittel der Alteration Terfallen konnte, wo es doch weit 
einfacher gewesen wKie statt der alterirten Note lieber gleich eine 
doppelt grosse zu schreiben. Marchettas behandelt diesen Gegen- 
stand, nach den von Franco darüber gegebenen Andeutungen, mit 
nmstftndlicher Casuistik. Da sich die Longa in drei Breves theilt, 
jede Brevis in zwei Semibreves, so sind sechs Seiiiibreves gleich 
einer Longa: lindet man nun die Dauer eines Tempu.s perftrtum 
(d. i. eine Longa) in nur vier Semibreven dargestellt, so müssen diese 
gleichwohl das Ganze darstellen {oportet quod tales partes ad huc 
tnensureni mum lotem), sie rnttsaen also nntereinander so geordnet 
werden {imoieem Ha coaptentur), dass dnrch sie die sechs Theile der 
Zeit dargestellt werden (caii^^riimdaMiur), Es liegt nun (meint der 
philosophische Mnsiker) in der Natur, dass jenes, was sich dem vollen 
Gänsen annShert, der ersten Einthdlong (in grössere Theile) ent^ 
spreche, und erst aus diesen grösseren Theilen naturgemSss eine 
zweite weitere Theilung in noch kleinere Theile geschehen kann, 
mit der man wieder bei dem ersten Theile jener ersten Theilung 
den Antang machen muss. Daher miissen folgerichtig die zwei 
ersten Theile der aweiten Untertheilung dem ersten Drittel der ersten 
Etntheilung des Tempus entsprechen und folglich Ton den sechs 
Theilen awei reprSsentiren; die beiden andern Theile müssen dann 
eben so nothwendig den noch ttbrigen Raum füllen, das heisst em 
jeder doppelt gross genommen, alterirt werden. Wo fünf Semibreves 
ein perfectes Tempus darstellen, hat aus ganz demselben Grunde erst 
die fünfte und letzte Note den Kaum zu füllen, oder, mit andern 
"Worten, ist do})])elt lang auszuhalten. Wo aber sechs kleine Noten 
den Kaum einnehmen, bleiben sie alle in gleicher Geltung, weil sie 
ohne Rückstand aufgehen u. s. w. Man sieht, dass die Theilung der 
Brevis in noch kleinere Noten diese letateren nrsprünglich als Ton 
der Brevis nnd der Longa völlig abhSngig und ohne eigentliche 

1) Etuuotiescum quid potcst dividi in tres partes aequales, toties polest 
imp«äoi abiOa tertia parte. Et imperfidentespostantpcaepomvelpostpom 
illiouiimperficitnr (H.aeZedaadia,TraQtatiis de perfeoto et imperfecto canta). 



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374 Entwickelttiig des mehrstimmigen Gesanges. 



selbBtBtSndige Geltung eneheinen lieis. Maidiettiit ttennl rie mwar 
anch scbon Semibrayes (Hlüften der Brevis), aber eigentlich sind sie 
ganz allgemein Noiae muufrta l), kleinere Noten, nnd diese kleineren 
Koten iiiUfiscn zusehen sich so su fttgen und zu strecken, dasssie sich 

gegen (las hcrrscliendc Hanj)fmass der Longa undBrevis ausgleichen, 
we«ler eine- Lücke lassen, noch über die Schranken hinausgehen. 
Diese schwankende Werthgeltung der Semibreven bewog schon die 
ältesten Meusuralisten, wie Franco und Beda, die Bemibrevis in eine 
grössere und kleinere (nMjor et minor) einzntheilen ; erstere ttt die 
alterirte Semibrevis, welcbe an Daner der imperfecten Bre^is gleich- 
kommt^. Die spSteren Hensuralisten lieaaen diese Unterscheidung 
wieder fallen. — Die ersten Anfönge der MeuRurirung waren einfach 
gewesen, weil sie nach dem einfachsten Hedürfnisae sich Uber wne 
gleich massige Dauer der auszuhaltenden Tö-^e zu verständigen ge- 
modelt waren. Die Sänger, welche sich darüber für die unmittelbare 
praktische Uebung waiirscIuMnlich nur durch Verabredung geeinigt 
hatten, würden vor Erstaunen ausser sich gerathen sein, hätten sie 
es erlebt, welches weitläulige UberkUnstliche System aus ihrem Hilfs- 
mittel Tlieorie und Pnuds wetteifernd im Laufe einiger Jahrhunderte 
herausspannen. Die Menaurirung war ursprünglich keineswegs ein 
Mittel der Rhythmik, sondern eben nur die zahlenrichtige Aus- 
gleichung aller NotenquantitSten untereinander^); die Rhythmik be- 

1) . . . quaelibet minor Semibrefris dicitnr (Franoo cap. V). Für die BreTit 
raobi, It-lirt Franco, könne man nicht weniger als drei, nicht mehr als 
HC un.Senubreves annehmen, oderzwei ungleiche, deren eine die kleinere, die 
andere die grössere Semibrevia genannt werde. Damit ist die Dreitheilung 
anoh der Brevis bestimmt ausgesprochen und die neun sind eigentlich die 
sogenannten minimae pmlationis porfcc-tae (wie die späteren Mensuralisten 
dergleichen annahmen). Für die Brevis altera, fkhrt Franco fort^ können 
ntdit wenigar als yier, nicht mehr ahi tsehs Semibreren geltea, tem ^ 
Brevis altera enthalte zwei rectas. Die Rechnung ist seltsam, denn folge- 
richtig sollten dann achtzehn Semihreves (oder eigcntlicli minimae cam pro- 
latioae perfecta) die grösste Zahl sein. Hier beschränkt sich also die Drei- 
theÜang wirklich auf drei Semibreves gegen die Brevis, und sechs Semibre* 
ves '^c<^rn die alterirte, doppelte Semibrevis. Die Mindestzahl von vier Somi- 
breveu ist wieder nur durch Alterirung begreiflich; es ist der Fall, über 
welchen Marehettas seine philosophische BrCUie ansfl^esst. Ebenso gut hitten 
drei Semibreven den Raum eiiu r Brevis altera aaarallen kOnnen, wenn man 
die letzte Semibrovis alterirt hatte; aber davon mag Franco nichts wissen 
und ereifert sich „Per quod patet quorundam mendacium, qui quandoque 
tres semibreves pro altera brevi ponunt, aliquando vero dins^. 

2) Bei Beda hcisst es: Scmibrevis major dicitur, quoniam majorem 
partem retinet rectae brevis, und von der kleineren „eo quod minorem in 
se continet rectae brevis.** So sagt aaoh Fnmoo: . . major pro tuito 
dicitur, quia duas minores in se includit (cap. V.) 

3) (^iiiil vult dici „mensurato mensuram adaequare"? Plures cantns 
sub multitudiuc vocum in bona proportiune musica consociari (J. de Muris, 
Quaestiones super partes muiicae). Mensora est hsbitudo^ qusntitatem, 
loiiq-if udinom et brevitatem cujuMibet cantus mensursbillS imnifltstint 
^Franuo, Musica et cautus meusurabihs cap. 7). 



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I)ie Mensuralmiuik und der eigentliche Contraponkt 



375 



mSchtigte sieh vielmelir nnprünglich der Meiunirirniig^quaiititilten 
in einer Art, in welcher noch halhverschollene Traditionen antiker 
Metrik nachklingen, wie sie von der Poesie her in die Musik hinttber- 
wirkten. Schon bei Franco treten fünferlei Masse oder Messungs- 
arten (modi) auf: die erste aus lauter Longis, die zweite aus Brevis und 
Longa, die dritte aus zwei Breven und einer Longa, die vierte ans zwei 
Breven, einer Longa und wieder zwei Breven, die fiint^e ans zwtü 
Breven und Semibreven bestehend. Im ersten Modus ist das Gegen» 
bild des antiken MoIossub, im sweiten des TrocbXai und JambttB n.8.w. 
nicht m verkennen; nnr der fünfte Modue, der nieht mehr anf der 
einfachen abstrakten Entgegensetanng von LXnge nnd Kttne bemht, 
sondern schon die relativ kleinem Notenmasse zur Geltung bringt, 
tritt aus dieser Verwandtschaft heraus. Johann de Muris erklärt die 
fünferlei Masse als die Anordnung der Figuren, welche die ver- 
schiedenen Bewegungen des Genüithes im Gesänge darstellt'*. 
II. de Zeelandia statn rt sechs MoiJos, bemerkt aber, dass manche 
Musiker deren nur fünf gelten lassen; wie denn auch Franco er- 
wihnt, es gebe yerschiedene Arten derlei Modos zu zählen, man 
habe deren aneh wohl seebs bis sieben, die sich aber von seinen fttnf 
nieht wesentlich untersebeiden. In keiner einsigen erhaltenen Gom> 
Position jener Zeiten ist indessen eine wirkliebe Anwendung jener 
ftinf oder sechs Modi naek Art eines geregelten Metrums oder einer 
dem Gleiohmasse unserer Takte entspreclienden Anordnung der 
Quantitäten nachweisbar. Wie aus einer Stelle des Job. de ^fnris 
zu entnelimen, dienten die tunt' Modi zur sichern Beurtheilung des 
Nütenwerthes: die Longa vor der Longa ist perfect; vor zwei Breven, 
▼or drn Breven, vor einem Punkt, vor einer Pausa longa gilt die 
Longa ebenfalls jedesmal drei Zeiten. Die Imperfecta eikennt man 
an der ihr vor- oder nachgehenden Einheit. Dieses solle, sagt Unris, 
aar Unterscheidung dienen, weil man je Perfectes und Imperfbetes 
in ganx gleicher Art schreibt Insofern aber diese Masse etwas 
unserem Taktmasse Analoges sind ,wo derselbe rhythmische Absatz 
stets die gleiche Sunune von Not<>ngelt nngen enthält, wären die 
Modi zur Berechnung; der schwankenden Aiisirleichungen der klein- 
sten Noten (wie sie Marchettus casuistisch tractirt) alb-rdings sehr 
nützlich gewesen, wären nur jene gelehrten Grübeleien überhaujit 
Je praktisch verwerthet worden. — Schon bei den Sltesten Mensnra- 
listen spielen auch die sogenannten Ligaturen eine grosse Rolle. 
Sie bilden, nebst der Maxima, die sogenannten figuras composüas im 
Gegensats au der Longa, Brevis und Semibrevis, welche fiffuroi aim^ 
plices hiessen. Schon die Neumen hatte man sehr oft zu ganzen Grup- 
pen verbunden, wenn mehren^ Noten auf eine und dieselbe Textes- 
sylbe zu singen waren. Eine ähnliche Verbindung m«direrer Men- 
buralnoten zu einer zusammenliäugenden Gruppe nannte man oben 

1) Mus. pract, Distinotio quinque modorum. 



376 Die Entwiokelimg Bm mcSinlimmigen Q«Mitg«t. 



„Bindung" Ligatura. Darauf wurde grosses Gewicht gelegt: „man 
innss wissen," sa^t Franco, ,,das8 eine bindbare nicht liprte Figrur 
tVlilerliait ist, aber ein noch ärgerer Fehler ist es, wenn m.in aus 
nicht bindliaren Noten eine Ligatur macht." Die Ligatur ist ent- 
weder aul'hteigend {ai^cendem)^ wenn die zweite Nute höher ist als 
die erste; im entgegcugesetaten Falle ist sie absteigend {descendens). 
Es gab Ligaturen von swei und noch mebr Noten. Den GnmdstoflP 
der Ligatur bildet die Breris, sie ist sn Anfang, in der Mitte und sa 
Ende der (Gruppe bindbar. Mehr als zwei Longas zu binden (wie 
muiohe Musiker tbaten) sei ein grober l^ehler, raeint Franco; Berai- 
brevon können nur zn Anfan": und nur unter der besondern Modi- 
iic ation erscheinen, dass man sie wie Breves schreibt, aber die erste 
Note mit einem Striche links auiSsärts bezeiclinet. In diesem 
Falle galt die erste und die zweite Note als Semibrevis und die 
Ligatur biess dann „^m opposita proprietate.*' Eigenheit (prO' 
prietaa) hiess nUmlicb die nrsprQnglidie Geltung jeder Note, inso- 
fern sie am Anfange einer Ligatnr erscbien, am Seblnsse der 
Ligatur unterschied man dagegen die Perfectio^). Zu Anfang der 
Ligatur war die Note cum proprietate, d. h. sie blieb Brevis, wenn 
sie in einer absteigen den Ligatur einen Strich rechts abwärts hatte, 
o<ler wenn sie, ohne Seitenstrich, am Anfange einer aufsteif^enden 
Ligatur stand. Sie hiess sine pro in ietate und zahlte als Longa, wenn 
sie entweder in einer aufsteigenden Ligatur einen Strich links ab- 
wSrts hatte, oder in einer absteigenden Ligatur ungestrichen erschien; 
der Strich links aufwärts gab ihr, wie gesagt, die opposita proj ridßs^ 
und machte sie sur Semibrevis. Die Bcblussnote (finoHs) war ent- 
weder am perfectione oder sine perfecHenei im erstem Falle (der 
eintrat, wenn sie tiefer war als die vorletzte Note und nicht in einer 
schrägen Zusammcnziehung stand, welclie man insgemein corpus 
ohliquum nannte und die bei Roliert de llandb» C)bli(|nit!iten heissen) 
galt sie als Longa im corpus ohli quiwi] oder wenn sie hi)her v. ay als 
die vorletzte Note hiess sie aine perfttiiout und galt als brevis ausser 
sie hätte einen Strich abwärts gehabt, wo sie als Longa zählte und 
Ton Einigen longa propier oppimlUm pi oprißtoim genannt worde^, 
wohl um der dreifachen Unterscheidung der Anfimgsnote etwas 
Aehnliches en^egensnsetien. Die Mittelnoten (medta«) galten alle 
als Semibrev es, ausser die erste Media bei der oppoäta j^ropridas^ 

1) Proprietas est nota primariae invcntionis ligaturae data a plana 
muaica in principio illius. Pcrfectin diritur ni in tiiie (Franco cap. 7). 

2) Quarta regula est : in omni ligatura nota habens tractum a parte 
sinistra sacendentem cum üppotita proprietate este dicitur et fiicit primts 

duas esse semibreves (II. de Zeelandia). Item omnis ligatura ascendens 
sive deseondeiis, tractum gerens a pnjno puncto ascendeute cum oppimtu 
proprietate dicitur (Franco cap. 7). 

3) H. de Zeelandia. 

4) Franco : Item omnis media brevis est, per oppositam Proprietäten 

semibreviter (cap. 7). 



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Die Menauralmusik und der eigentliche Contrapunkt. 



377 



Diese Ligatoxregdn beliielten ihre GMtang aneli in aller Folgezeit, 

80 lange dieMentnralnote tibcrliaupt angewendet wurde. Jenew^under- 
liehe, bei Fnmco, de Muris, H. de Zcelandia ii. A. gebräuchliche und 
BOgar noch von Franchinus Gafor erwähnte Terminologie kam bei 
den späteren Mensuralistcn völli«; ausser (if})rauch 

Diese vielfachen Unterscheidungen setzen jedenfalls eine 
längere mit besonderem Eifer gepflegte Bescluiftigung mit der Men- 
suralmusik voraus und scheinen, von Schule zu Schule Uberliefert, 
bald Gemeingut der Mndker geworden sn sein. In diesem Sinne redet 
Franco, den man gewöhnt ist ale den Vater der Menenralmmiik oder 
gar alt Erfinder derselben ansusehen, von derselben als von einer 
überkommenen Sache. In stetig fortgehender Entwickclung des 
Gegebenen echloss sich den älteren Mensuralisten eine Kcilie von 
Lehrern an, durch welche sich die Kunst der niensurirtcn Musik 
immer reicher und feiner ausgestaltete und die man die mittleren 
Mensuralisten nennen könnte. Die traditionellen Lehren der alten 
Schule bildeten die unverrückbare Grundlage des Ganzen, aber im 
Einselnen gab es Vieles neu zu gestalten. Adam nm Fuld« fasst 
die ganse Lehre in sw5lf Artikel (gleichsam 12 Glanbensaztikel), 
weldhe der Sehttler genau inne haben müsse: Fignra, Modm, Ttmpiu, 
^roUUio, Signum, Tactiis, PunduSf Tractus^), Ligatur a, AlteraHo, 
Jmperfeetio, Proportio. Mit Ausnahme der Prolnfio, des Signum 
und der Projmrtio sind das alles schon den ältesten Mensuralisten 
wohlbekannte Dinge. Die Noten theilen sich jetzt in kleinere Quan- 
titäten, die Semibrevis zunächst in Mininias, und zu Ende der Epoche 
treten gar noch drei weitere Untertheiluugeu ein: die Semiminiuia, 
Fosa und Semübsa. 

An der Spitase der mittleren Mensuralisten steht der weitbertthmte 
Magister der Sorbonne Johann de Muris, er ist filr sie was für 
die Xlteren ^lensuralisten Franco war; sein Ruf und sein Ansehen 
drang nach den Niederlanden, nach Italien und Uber Deutschland 
weg bis selbst nach Böhmen*^); Adam von Fulda beruft sich auf 
ihn, Prosdocinius von Beldomando trat als sein Commentator 
auf und suchte tluils den de Aluris commentirend, theils den Mar- 
chettus bekämpfentl die Grundsätze der Mensuralmusik nach itali 
scher Weise" {canttu mensurabiUs ad modum Italiconm) festzustellen. 

1) War aber noch nicht vergessen. Stephan Monetarius erwiümt 
ihrer euch noch. 

2) Tructus est totins cantus dispositio ot effectus, videlicet figurnrum, 
pausaruni, notarum, signorum etligaturarum etc. . . . Tractus vero notanara 
est, qui deraonstrat valores et dispositiones notamm, ligaturarum ac eorum 
proprietates per gradus et sigua (Adam v. Fulda III. 9. 10). 

'6) Die Prager Universitätsbihliotlick besitzt eine Handschrift, die mit 
den Worten schliesat „£xpUcit Munica Magistri Juarmis do Muris.'' Dem In- 
halte nadi irt es aber augenseheinlioh kein von J. de Mnris selbst yerfiustes 
Buch, Bondem ein ComptMidiuTti, das Jemand nach den Grundsätzen des htv 
rühmtenPariser Lehrers zusanunensteUte,vermutblichza eigeuemGebrauche. 



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378 



Die Entwiokeliuig des mehrstimmigen Gesanges. 



Denn es hatten sich «wischen der Weise, wie man die QaantitKten 

in Frankreich und wie man sie in Italien siüilte, allerlei Untenehiede 

herausgebildet, und es verschwanden diese specifischen Italianismen 
aus der KunstUbnng wohl erst dann, als Italien mit den berühmten 
niederländischen Musikern, die es berief, auch deren Mosiklehreond 
Uebun^ annahm ^). 

II. do Z»;elHndia weist auf die Schriften des de Muris als 
Quelle richtif^ster Einsicht hin. Zu dieser aweiten Reihe von Men- 
suralisten gehVrett in Finrnkreich noch Philipp yon Vitry^), in 
Italien Anselm Ton Parma^, Philipp (Phisiphus) von Ga- 
serta*), in England Thomas Ton Walshingham und John 
von Tewkesbury, denen auch nocli der Deutsche Adam von 
Fulda beizuzählen ist, obgleich der letztere erst um 1490 schrieb. 
Wie Marchettus unter den Mensuralisten der scholastische Philosoph, 
so ist Adam von Fulda der klassisch gebildete Humanist, der 
seine Tractate reichlichst mit klassischen Keminiscenzen und mit 
Citaten aus römischen Diclitern würzt und die Lehre der Meusural- 
musik durch Verse aus Virgil, Horas und Ovidius zu beweisen sucht, 
wie B. B. die Dreitheiligkeit der Perfeetion durch die Worte Tfaga's 
^mmen äeiu impare güudd*', den Modus durch ^ mete m 
rflbus"^ den Punkt gar mit dem Horasischen Spruche illuslrirt: 
OMM iulit punctum qui tniscuit utile Adei n. s. w. Wie Marchettus, 
der noch den älteren Mensuralisten angehört, schon zu den mittleren 
Mensuralisten hinUberleitet, so leitet Adam von diesen zu der dritten 
Reihe oder den vollendeten Mensuralisten, Johann Tinctoris, Bern- 
hard Hykaert, Franchinus Gafor seinen Zeitgenossen, von denen 
aber erst später zu handeln sein wird. Neben de Muris nimmt za- 
nXchst Philipp von Vitiy die bedeutendste Stelle ein. Eine Poetik 
ans dem 14. Jahrhundert, also ein beinahe gleichseitiges Zengniss 

1) Eine bemerkenswerthe Stelle über diesen Gegenstand findet sich bei 
Marchettus von Padua: „Sciendum est autem, quod inter Uulicos et Gallicoa 
est magna diffsrentia in modo proportionandi notsa, similiter in modo oaa* 
tandi de tempore impcrfecto. Nam Italici scmper attrihuunt perfcctionem 
a parte phncipii: unde Italici dicunt, quod nota tiuis plus continet de 
perfeotione, eo quod finis. Sed GsUici oppositum dieunt, sdlicei, quod hoo 
Bit verum de tempore perfecto, dt imperfeoto autom dii unt. finalis semper 
est imperfectior, eo quod finis. Qui ergo rationabilius cantantV Et respon- 
demus: quod Galilei. Cujus ratio est, quia sicut in re perfecta ultimum com* 
plementum iinperfectio ipaius didtur esse a parte finis — perfectum enim 
est, cui nulla deest non solum a parte i)rinoipii, sed etiam a parte finis, ita 
in re imperfecta imperfectio et defectus ipsius sumitur a parte tinis.*^ 

5) von ihm bentst Rom swsi Manuscripte in der BiUioibeoa Yätt» 
oellana B. 89 und in der Ystiosaa No. 5881 „Ars oontrspuncti magistii 
Philippi de Vitriaco." 

ii) Sein Werk besitzt die Ambrosiana in Mailand in Handschrift. 
4) Seine Schrift Philippi de Osierta de direvtis figuris im Oodn 
JPerrarensis (XV. Jahrl».). 

6) Auch Glareau macht im Dodecachordon daaaelbe Gitat 



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Die Mensoralmosik ond der eigeatliche Contrapaakt. 37 D 

eehieibt ihm httdut wiehtige Erfindungen su: „spi^ vint Philippe 
de Yitiy, qiii trouTe Im meni^ des mot&B et des beladet, et de 
lais et de simplee fondeaux, et en musique troma les quatre prola» 
HoTis, et les notes rouges, et la nouvelete des propordons"^). Unter 
„Prolationen" verstand man in dieser Zeit die Notengattungen 2), 
und die vier Prolationen des Philipp von Vitry sind wohl die Tion«ra, 
Brevis, Semibrevis und Minima, denn er wird auch sonst als Er- 
finder der Minima bezeichnet, deren zwei auf eine Semibrevis gehen 
nnd deren Form eine Semibrevii mit einem Btridie abwSrts ist 

spSter I). Von den rothen Noten und den Proportionen wird 
weiteriiin sn sprechen sein. Johann de Mmis kennt bereits die 
Minima, rie ist ihm, eben weil sie die „kleinste** ist, die schlecht- 
hin mitheilbare Note*). Zn seiner Zeit hatte sich neben der sonst 
ausnahmslos giltig gewesenen Dreitheiligkeit anch bereits das zwei- 
theilig gemessene Tempus imperfectum Anerkennung und Giltig- 
keit errungen: er bemerkt, daas ehedem die Musiker in allen 
Getiängen das dreitheili^e Mass aufgewendet haben, ,,weil sie 
nichts Unvollkommenes in die Kunst einführen wollten.'* Auch 
Marchettus bespricht bereits das Tempus imperfectum und die ab- 
weichende Alt wie man es in Italien nnd Fmikrelch sn singen 
pflege. „WiikHeh wird Ton jetst an dermensnrirte Qesang in den 

1) Das Manuscript befindet sich im Besitze des Herrn Monmerauü und 
ist flbersohfieben „Cy commenoent les reglet de la teconde reotoriqne. Anch 
sonst wird Philqpp Ton Vitry p^opriesen. Ganse de la Yi^e SSgt fon ihm: 

. . . un motet qu'il fist nouveaulx 
Et puls fu evesque de Meaulx 
Philippe de Vitry ent nom 
Qiip micux scut motez quo nul hoin. 

2) Partes proiationis quot sunt? ^uiuque. (^uae? Maxima, Lou^a, 
Brens, Senalwevis, Minima (J. de Munt, Quaeet sup. pari mas.). Ita 
enim sunt quinque partes prolationis, videlicet maxima, lonpa, etc. (H. de 
Zeelandia). Der Ausdruck Prolation für Notengattung [kam später völlig 
ausser Gebrauch, nachdem man sich gewöhnt hatte damit eines der Haupt- 
masse des ganzen Systems zu bezt ichuen. Ursprünglich hatte er im All« 
gemeinen ,,Vortrai;" bedeutet. ,Jn plana aotem masica prolatio est ipse 
oantus in se'' (Adam vou i^'ulda Iii. 5). 

8) Minima qnaeeit? Impartita. Quare? Quia non est ^bre minore minus. 
Demnach entstand spilter eine Somiminima, Fusa und Somifusa. Auch Mar- 
chettus kennt bereits die Minima, handelt aber meist in ganz confiiser Weise 
nnd erkennt sie nur als eine Modification der Semibrevis an . . . Secundum 
autem Oallos «i ipsa nna (semibrevis) caudetur statim transimns ad tertiam 
divisionem temporis imperfecti, quae est semibrevis in sex aequalos quae vo- 
cantur minimae. Also eine Art Prolation. Wird von zwei Semibreven eine 
geK^wttnst, so gehe man damit nach italienisdher Weite zn der sweiten ESn- 
theilung des Tempus imperfectum in vierSemibreves (d.h. Minimas: dieri-ste 
Eintheilung ist nämlich die der Brcvis in zwei Semibreves) über, wo dann 
die geschwänzte Semibrevis drei Theile gilt, die andere aber in sua natura 
bleibt, diese nenne man Majores. Nach französischer Art enthalte die ge- 
schwänzte dann fünf Theile, die andere bleibt in natura, d. h. bildet den 
sechsten und letzten Theü. Dieses seien eben jene sogenannten Minimae. 



380 



Die Entwiokelnng des mehntimmigeii Otemngpk 



Uebenchziften der Lehrbücher nach dieeen zwei Hmiptarlen nu- 
drficklich untersehieden und die Lehrer betitehi ihre Tractate in* 

weilen „de caniu perfedo et impei fedo." 

Sobald das zweitheilige Mus, die Imperfcctioiii einmal eelbst- 
stKndig als Eintlieilunjrsart panzer TonsStze Geltung errriTip'en liatto 
und nicht l>los als zufallipos Kr«rol>niss der Imperhcirung einzelner 
Noten auftrat, wurde es iiotlii'^ dem Bänger in Vorhinein dar- 
über eine deutliche Vorschrift zu geben. Dieses ftihrte zu dem 
Gebrauche der Zeichen (Sigm)y welche zu Anfang derNotirung gesetzt 
wurden, Ton denen aber noch Johann von Huris nicht die leiaeate 
Andeutung gibt, sondern die Perfection oder Imperfeetion aus der 
blossen Reihenfolge der NotenquantitXten errathen sehen will Doch 
taucht die erste flüchtige Andeutung ttber die iSic^ta schon beiMarchet* 
tns auf. Um den Willen des Tonsetzers zweifellos zu erfahren, zumal 
wenn Gesänge im Tempus perfectum und imperfectuin gleichzeitig 
miteinander verbunden werden, soll man ein Zeichen beisetzen, 
weil aus den blossen Noten dergleichen denn doch nicht zu ent- 
nehmen sei. „Manche setzen", sagt er, „als Andeutung der Per- 
fection und Imperfeetion die Zahlen I und n, Andere, um die Drei- 
und Zweiiheiligkeit anandeuten, die Ziffern 8 und S, Andere 
wieder andere Zeichen nach dem Belieben eines Jeden". Ander- 
wärts sagt er: „die Franzosen setzen zu Anfang eines nach französi- 
scher Weise einzutheilenden Tempus imperfectum den Buchstaben G 
{galUrej französisch); dagegen die Italiener, um die italienische 
Eintlieilung anzudeuten, den Buchstabon 7 \J(nIice, italienisch)". 
Jenes venneinte G ist offenbar nichts als der wohlbekannte Halb- 
kreis der Imperfeetion. Ausgebildete Zeichen fUr die verschie- 
denen Abstnfiingen der Perfection und Imperfeetion kommen suertt 
bei H. deZeelandiavor, dessen Tractat ttberhaupt gegen die Lehren 
desMarchettus und des de Huris einen betrltehülchen Fortschritt in 
der Ausbildung der Mensurallehre zeigt, welcher Fortschritt sonach 
in den Niederlanden gemacht wurde und die BlUthezeit der ersten 
niederländischen Tonsetzer, eines Diifay, Elay u. s. w., vorberei- 
tete, zu deren voll ausgebildeter Mensiirirung von dem Standpunkte 
des U. de, Zeelandia aus nnr noch eine ganz kleine Stufe ist. Der 
genannte niederländische Lehrer ist der erste, bei dem wir die 
Unterseheidniig der schon erwähnten Chrnndmasse dm Hodus, 
Tempus und der Prolaüon antreffen, welche wieder in perfecte und 
imperfecte getheilt werden. Um jenen sichern Massstab einer 
Grundbewegung au erhalten, nahm man ein sogenanntes „volles 

1) Dagegen berichtet Bamey, Hist. of mus. 2. Bd. S. 208 Uber einen Trac- 
tat ,.f|uilibL't in nrte" fatigeblicli von TMiiris: Tliis is tlio most ancient manu» 
Script iu whichl have fouud thc aigus of the modes (folgt der Ki'eis uudHalb- 
loretu mit und ohne mittleren Punkt). Das ist ein ganz nnrereinbarer 
Widt isju II Ii mit »Ich Lehren, die sonst unl' i ^rni is' Namen cursircn. In den 
authentischen Werken des de Muris, in der pariser Bibliothek konunen 



Digitizea L7 GoOglc 



Die Mentundmosik und der eigentliobe Contrapaiikt. dSl 

IUm der Noten" {itUeger valor naiarum) an, so tchnell als (wie 
Onfor sagt) der A^em dnes ndug Athmenden gdit^), oder als 

man bei mässiger Schnelle die Hand hoben und senken mag. Da 
man nun bei der Senkung das Pult, das Buch oder den Tisch leicht 
SU berühren, vielleicht auch, besonders beim Einstudieren, die Ab- 
Bätzo mit kräftipjeror Bcrülirunf^ anklopfend zu markiron pflegte 
so liiess ein solcher Abschnitt Tactus, die Berührung, woraus unser 
Wort Takt entstanden ist. Sanjj also Einer im Tonipus, der Andere 
zugleich in der Prolation, so uiussteu im Parte des letzteren alle 
Noten in nnr lialbgrosser Gdtnng geschrieben sein. Von diesen 
drei Qmndmassen gehörte also der Modus der Longa (undHaxima) 
an, das Tempns der Brevis, die Prolation der Semibrevis*). 
GKngen drei Takte in Semihreveii auf das Tempus, so hiess es 
perfedum, wenn swei Takte, so hiess es imperfecium. Ebenso war 
die Prolation perfecta oder major, wenn drei Takte in Minimen auf 
die Seinihrcvis pinj^eu, dagegen imperfecta oiler minor, wenn deren 
uur zwei der Seinibrcvis gleichkamen. Die Pcrfeetion oder Trnper- 
fectiou des Modus beruhte ebenso auf der Drei« oder Zwcitlieiligkeit 
in Bezug auf die nächstkleiuere Notengattung {partes propinquiores)^ 
und swar unterschied man wieder änen JffMiKS majore der sich 
durch die Theilung der Maadma in drei oder awei Longas bestinmite, 
und einen Modw minor, der die Longa in swei oder drei Breren 
theilte. Diese Masse konnten dann combinirt werden, z. B. als 
Moifas minor perfectns am tmjpor$ perfecto et proUUione imper^ 
f'eäa, d. L 

:i b a b a b 



^^^^ 



♦ ♦ ♦ 

TtttTt 



a b 

♦ I II I I 

u. s. w. 

Solche vielgliedrige Zusammensetzungen kennt nun schon de Zoe- 



diete Zeichen nicht vor; ich habe, che ich di^se Zeilen schrieb, darüber 
Bppziell die Versicherung eingeholt. Reissmann (S. 151) sdireibt Bumey's 
^^otiz mit oincr zweifelnden Wendung „sollen vurkommeu'^ nach. 

1) Semibrevis recta, plenam temporis mensoram ooniequens, in modnm 
scilicet pvjlsus a(n|u«' respirantis (Gafor, Pract. mus. III. 4). 

2) iSehr treiilierzig bezeichnet solches Hermann Finck in einer mitten 
in seine lateinische Uelehrsamkeit eingeflickten deutschen Phrase „Perfecta 
prolatio est, ubi senubre^is tres minunas continet, aut semibrevis integre 
tactujuxta veterum musicorum consuetudinem mensuratur, sowirteine 
Minima einen gemeinen Krauthackerischen Schlag gelten." 

8) (Etermsnn Finck.) Modm consideratnr in notas maximis et longis 

Tcmjxis in bn!viliuB 
Prolatio in semibrevibos« 



DigUizea by CoOglc 



382 



Die Kniwickelong des mehniunmigeo Oeaangei. 



laodia, auBser dam er anicIrtteUieh nur einen dnsigen Modus an- 
nimmt, der dem Moäuß mmor entspricht; aber anch der Modu$ 

major ist ihm thalBlchlicIi nicht fremd, denn «r llast die Mamma 

perfecta drei Longas, die Maxima imperfecta zwm Longas gelten. 
Aber aucli schon de Muris deutet dicso Abstufungen an, denn er 
nennt 81 ,,die Zahl der Zahlen, die alle l'erfectionen und Tmpcrfec- 
tionen einer jeden Stimme in sich begrreift" ^J, was nur beim Modus 
maj(rr cum tempore perfecto et cum prolatione perfecta der Fall 
8ein kann ^. Natürlich konnte ein so mannigfaches Spiel von Com- 
btnalionen der Notengattnngen nicht mehr nach dem Uoasen Noten- 
ansatse errathen irerden, man erfand also eigene Zeichen*). H. de 
Zeelandia bestimmt für den Moäiu perfedMB dn Quadrat mit drei 
eingeseichneten Punkten, fllr den Modus imptrfKtus desgleichen 
mit zwei Punkten, einen Kreis fUr das Tempus perfedum, einen 
Halbkrois ftir flas Tnnpvfi im] erfrcfitm, einen Kreis mit drei Punkten 
fUr die üolatio major mit zwei Punkten fUr die Drolatio minor: 

(Aus dem Tractate des H. de Zeelandia). 





5=E 



-<*»- 



Jif. 



All U-fe4-L-t-Ult 

♦ * » ■ * ♦ * 1 



Die Tempusseichen bleiben in der hier angenommenen Form auch 
fortan ^tig; dagegen wurde «Iii- Zahl der Punkte bei der Frolation 
auf einen einzigen reducirt O G und fiir den Modus kamen völlig 
andere Zeichen in Aufnahme; merkwürdig ist aber, dass Franchinus 
Gafor um 1490 doch noch bei dem swei- und dreipnnktirten Quadrat 



1) Numeri numerorum quot sunt? 81, qui omnem pcrfcctionem et impetw 
fectioiiem cujuelibet Tocis oontinnae detenninat (Quaett. sup. parte» mus.). 

2) Nämlich 1 Maxima 3 Lonpf^n = 0 Breven = 27 Scmibreven 
« 81 Miuimen: wobei die Minima die Cieituug des Integer valor, also 
eines YoUen Taktes hat. 

3) Diese Zeichen sind: 

@ Modus (minor) per£ cum temp. perf. (Heyden, Finde, Adam t. Fulda) 

(§) Modus (minor) imperC enm temp. perl (Hejden) 

(C) Modus (minor) perf. cum temp. imperf. (Heyden und Adm von Fnida) 

(O^ Modus (minor) imperf. cnm temp. imperf. (Heyden) 

Modus (minor) perfiactus com. temp. et com prolatione (Adam v. Fulda 
^ u. Finck). 



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Die Mensoralmank and der eigentliche Gontraponkt 883 

für den Modiu minor perfechta und mperfedua bleibt Manche 
Tonsetzer snehten die verschiedenen Zeichen dnrch in einender ge- 
schachtelte Kreise auszudrücken; aber selbst Adam de Fulda nennt 
diese Schreibart alterthttmlich, ebenso beschreiben sie Sebald Heyden 
undllermann Finck als .,ohpnial8 gebräuchlich geweseno Zoiclu n der 
Alten.'' Der nussiere Kruis drückte den Modus, der innere diis 
Tempus aus, ein ein{;ezeichneter Punkt deutete die Prolation an. 
Andere zeichneten in eine Note selbst zwei oder drei Punkte ein'-^). 
Oder sie wendeten sogenannte Signa interna an, d. i. vorgesetzte 
Noten oder Pausen (pmuae indieiaiea), welche suweilen auch schon 
für das Tonstflck selbst wirklich aussafUhren waren. Da nlfanlich 
der Hodns auf die grossen Notenprattungen wirkt, das Tempus auf 
die Breven, die Prolation auf die Semibreven, da femer die Regd 
galt, die dreizeitige Pause dürfe nur im Modus, die zweizeitige 
Pause (pau.sa hrevis), die Taktpause (pausa semibretns), nur in der 
Prolation gesetzt werden '^j, so schrieben die Tonsetzer zu Anfang 
ihrer Sätze entweder drei schwarze Noten der gedachten Art oder 
drei Pausen als „innere Zeichen'''^). Diese signa intenia waren aber 
schon snr Zeit der ersten niederlXncIischen Schule, um 1400, nur noch 
für den Modus gebriuchlich, wie rieh Überhaupt ein geregelter Ge- 
brauch der Zeichen eilt in dieser Schule feststellte, und Hermann 
Finck*s Angabe, dass die Heister dieser Schule „viele Zeichen er- 



1) Fraot. mm. IL 7. Fhmclmrat hat dieses altniederlftndiMlie Mo- 

duBzeichon wohl von seinem Lohror Johannes Goodcndach übcrkoniiTien. 

2) Hermann Finck sagt: Signarant eÜam poncta in ipso corpore 
notarum, hoc modo 

quibns mcnsuram indicarent (Selbstverständlich : erst bei weissen Noten). 

3) Item notandnm qnod non dsbet poni pause lemibrevis neqne 
major nisi in corapleta prolatione, nec de', jt poni pausa hn-vis no«iiie 
mii^or uiü in completo tempore, pausa longa triam temporum nisi in 
Gompleto modo (B. de Zeelaadia). 

4) Hemiann Fitn k bozeiclinet den Unterschied sehr g-ut : (Signum) Ex- 
ternum (est) quod in priucipio cautus cxpresse pouitur ex quo statini priiiio 
intuitu moricae gradus cxtrinsecus coguoscimus, et tribus modis signatur, 
puncto, circulo et numero . . . Sigmm intemmn est, quando cognoscimas 
pradns musicales absqup cxtemo sipno tantum ex rantilmn, hnc; est ez ge- 
minaüone pausarum aut colore notat um. Die Zeichen selbst sind: 



Externa : 
tOcr den Modus migor Q8 

InUma: 







1 


1 J 















Digitizoa Ly Li(.)0^le 



3^4 Die Entwickelung de« mehnUminigeti Oesangee» 



dacht*', hat wohl ihre Richtigkeit 1). Henriciu de Zeelandia wendet 
hei seineii Compositioneii keio Signum an, Dufay, Binehois n. 8. w. 
liessen ihre frohen noch lehwan notirten, weltliehen Chansons auch 
ohne alle Zoicheii, ebenso die florcntiner Contrapnnktisten des vier- 
sehnten Jahrhunderts. Wo kein Zeichen war, weder ein inneres 
noch ein Xttsseres, sollte jetzt das Tempns imperfectom Terstanden 
werden 

Auch die soi^^cnannto Diminution, ein hernach zu vielen 
Spitzfindijjkeiteu benutztes Mittel, kam zur selben Zeit bei den 
niederländischen Monsuralisten in Aufnahme. H. de Zeelandia be- 



EaBtema: 
Skr den Modus minor 



Interna: ,„i,.r 









Externa: 
fibr das Tempus Q G 
Intsma: 








Externa : 
ix die Prolation Q 0 

Interna: 


* 











(Aus Hermann Finck*« Prsot mna.) 



Die Niederländer verbanden die Pauscuzeicheu auch wohl mit dem Signum 
cxtcmnm. Zwei gleichgestellte Fausae longse itlr denModuB major perfeo- 
tuH, zwei dergleichen fürdoi modus major imperfectus, und dann erst Kreis 

odri- Halhknis den Teiupuszeichens, eine Pausa longa oder zwei ungleich 

J^cbtelltc für deu Muduä minor perfectus, zwei gleichgestellte Pausae breves 
mr dem M. minor imperfectns, und dann erst dis Zeichen, s. B. 

Modus minor perfectus cum tempore perfecto et prolationc perfecta u. s. w. 
StauiU u ;: MchL- Pausen hinter dem Notenschlüssel (Clavis signata) und 
vor dem signum (wie in Torstehendum Beispiele), so waren sie auch nur 
lilosse Zeiehen; im ctitgegengeaetsten Falle kamen sie aaoh als Pausen 
in Anwendung (Hcrmauu Finck). 

1) Dafifti, Bosttoe, Budioi, Caronte . . . multa nova Biffen addiderunt. 
Die Nameu sind zum Theil entstellt, es soll heisien: Du&y, Bnsuois, 
iiinchois, Carontis. 

2) Cautileua autem careus externis signis aut interuis simplic iter cen« 
seuda est esse temporis imperfecti, qood omnes Mnsici af&rmant ^erm. 
Finok). 



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Die Menroralmank und dar eigcntliolie Ckmtrapnnkt 385 



q^eht bereitB die ente nnd noch einfitehe Anwendung der- 
selben. Die Diminntion bestand darin, dass man im Gesänge allen 
Noten nnr die HjQfte der Oeltong gab, die ihnen nach der geschrie- 
benen Note angekommen wäre, also statt wo eine Maxiina stand, 
eine Longa sang, statt der Longa die Brevis u. 8. w. Die Nieder* 
IXnder zu Ende des 14. Jahrhunderts deuteten ein solches Tempus 
diminutum dadurch an, dass sie durch das Tein|Mis'/,eicheu einen 
senkrechten Strich zogen, was auch in den folgenden Zeiten beibe- 
halten wurde: 



Umgekehrt konnte man angmentiren, d. h. alle Noten do|)pelt gross 
singen; dies wurde aber dnreh kein Zeiehen, sondern durch Bei- 
schrillen wie nOreseit im duplo" u. dgl. m. angedeutet; diese Manier 
kommt zuerst (und zwar gleich in praktischer Anwendung) im 

Tenor der Messe se la face ay pale und iant je me deduis von Dufay 
vor. Die Bezeichnung solcher Verkleinerungen und Verpriisseruniren 
durch dem Signum beigesetzte Zahlen, die also fz:enaunten Propor- 
tionen, ist in dieser Epoche noch nicht gebräuchlich, sondern ge- 
hört einer späteren Zeit an. Die „Art de rectorique" schreibt die 
„nonveleti des proporeions** dem Philipp von Yitiy an. Der Gk- 
braneh der rothen nnd weissen, d. h. ungefüllten Note {rvhea und 
vocva), welche die ebengenannte Schrift auch aU Erfindung des ge- 
lehrten Bischofs bezeichnet, kommt bei de Muris u. s. w. noch nicht, 
wohl aber in theoretischer Auseinandersetzung bei II. de Zeelandia 
und in praktischer Anwendung schon in alftVanzitsichen, der Zeit 
des Dechant oder ältesten Contrai>uiiktes aii^M'liiirigcn Nutirungcn 
und in den frühesten, noch schwara notirten Conipositionen Dut'ay's 
und Binchois' vor. Die Einmischung solcher durch ihre Farbe auf- 
fisUender Noten hatte den Zweck diese Noten als imperfect, d. i. 
■weiseitig dem Singer schnell bemerkbar an machen. „Hodna, 
Tempus nnd Prolation**, sagt H. de Zeelandia, „werden andi durch 
rothe oder leere Noten bezeichnet, die in einem Gesänge abwech- 
selnd eingemischt werden; finden sich also in einem Gesänge 
schwarze und rothe oder leere Longä, so jj^ehören die seliwar/en 
dem perfecten, die rotlien oder leeren dem iinperfecten Modus an; 
desgleichen wo sich schwarze, rotho oder leere Breves linden, ge- 
hören die schwarzen dem perfecten, die rothen oder leeren dem 
imperfecten Tempus an; finden rieh endlidi schwane SmnibreTes, 
so gehSren sie der grosseren Prolation, rothe oder leere aber der 
kleineren«!). 

1) In demTractate heisst es: Item modus, tcmpus et prolatio distiurrnnn- 
tur etiam per notas riihe<is vcl vacuas et per mgras, quae in aliquo cauta 

Ambro«. 0<icbicbt< der Muik. II. 85 




[jj Tempus perfectum diminutum 
0 Tempus impwfiBctum diminutum. 



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386 Die Entwickeltuig des mehnümmigen GesangM, 

So wendet i. B. "DuSäj die veisse Note im Tenor seinee drei- 
stimmigen LIedee «je prmidi coi^^' aa: 




tltlllll 1S< lai 12 S I 12 s 



Sfi fiingt auch Binchois sein, dreistiiuiniges Lied „ce mois de Mai 
in der Oberütimme also au: 




In England erhielt sieli der Oebianeli rother Noten snr Be- 
seichnang der Diminntlon sehr lange. Bumey sah eine Sanunlang 
Yon CompodtiDnen engliseher Tonsetser ans dem 15. nnd dem An- 

fange den 16. Jnlirliunderts in einer der Thoreshj*8chen Sammlung 
gehörigen Handschrift, wo dorlei Noten vorkamen i), und Wilhelm 
Cornyshe, ein Cajiellmusiker im Dienste Heinrich VIT. (um 1500) 
redet von farhipren Noten zur Bezeichnung des Werthes als von einer 
gcwühnliclien ^ache*). 

Eine durchgreifende Modification in der Notenschrift trat um 



v: riantm*. ünde ri in aliquo cantu reperiantor longae nigrae, mbeae vel va- 
cuae, nigrae sunt modi perfecii et mbeae vel vaenae mmu imperfeoti, nt hio 

(folfft ( in Beispiel). Item si breves inveniatitur nigrae, rubeac vel vacuae, 
nigrae sunt temporis perfecti, rubeae vel vacuae temporis imperfecti ui hiu 
(Beispiel). Item ri nigrae semibreves inveniantur, sunt majoris prolationis; 
si rubi rie vcl vacuae sunt minori!', ut hie (Beispiel). Ein Beispiel ein«'r 
solchen schwarzen und rotheu Notirung findet man unter den Facsimiles zu 
Coussemaker^s Histoire de Tbarmonie du moyen &ge. Sebastian Yirdung 
erwähnt: ,,man saaganfang in der perfekten Zeit colorirt mit Ruliro^^ 

1) Hist. of mut. Bd. 2. S. 539, 540 „with a mixture of red notes 
for diminution". 

S) Und zwar in Versen. In einer Ali Lehrgedicht „a pariUe bct- 
wesn inibnnaeion and Musikc*' sagt er: 

In Muaike I bave learued Uli colours as this 
Blake, ftd blake, verte and lykewise redde 
By these colours many suhtill alteracions ther is u. 8. w. 
Das Gedieht findet sich vollständig bei Hawkins 2. Bd. S. Ö08. Die 
Handschrift war ebenÜEÜls im Besitze des Mr. Kalpb Tboresby. 



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Die Meiuimlmniik uiul der eigentliche Contnpunkt. 887 



etwa 1400 ein: dieNoten wniden bis nur Hinime (der halben Takt- 
Bole) henb dnrdigeheiids weias geechrieben, die get>cbwlfi»te 
Koto wurde nur da angebracht, wo snr Zeit der Hennchaft der 

schwanen Norirung die weisse orlor rothc Note stand. Die Xlteren 
Chansons der Meister Dufajr und Binchois sind noch mit schwarzen 
Noten, die Messen Dufay's und der andern Tonsetzer dieser Schule 
schon mit der weissen Notirung geschrieben. Der Anlass zu 
dieser veränderten Uebung- mag weniger die entschieden leichtere 
und raschere Schreibart in weissen Nuten, als die häutigere Auf- 
nahme der kleinsten Notengattungen, die man von der Semiminima 
(nnserer Viertelnote) anfangend schwars sehrieb, gegeben haben, l) 
Die weisse Notation kam in der zweiten Hälfte des 14. Jahr^ 
hnnderts in Frankreich auf, wurde aber erst von den niederländi- 
schen Componisten in allgemeine Aufnahme gebracht. Umgekehrt 
blieben in Frankreich, in Deutschland und in den Niederlanden viele 
Musiker noch bis tief in'» 15. .T.ilirlmndert hinein bei der gewohnten 
schwarzen Notinmg, welche erst allmälig der weissen wich und 
endlich in der zweiten Hälfte des genannten Jalirhuuderts völlig der 
Vergessenheit anheimfiel^, da sie fiir die mittlerweile äusserst tciu 
ausgebildete Kunst derHensurimng nicht mehr ansreiehte. 

1) Virdung (Musica gotutscht) sucht die Varaulassuiig in Papiercr- 
spamiss: „weil der Gesang nun SO gemein iit worden, sollt man es mit 
schwarzen Noten alles schreiben, «o kann man nit luiib und umb berganun 
haben, so schleicht auch daz bapevr so gerne durch, unt wäre not, das man 
allweg nur anff sin seyte notiret, das nem dann sn <rQ bapejrn". 

2) Die näheren docunicntgemftsscn Nachweisungen aus französischen 
und belgischen Archiven wird Fetis in seiner Hint. uiiiv de nuis. liefern. Wir 
nehmen davon einstweilen Act und sehen dem Versprochenen mit Antheil 
entgegen. Einstweilen sei bemerkt, dass die schwarze Note auch in Hand- 
Schriften des 1'). Jahrhundertf«, welclie die Bibliotheken zu Wien und zu Vv.vr 
bewahren, häuiigvorkommt, wie im Lambacher Liedercodex, in dem Codex 
No. 3856, in der Hendschrift der Gedichte dss Oswsld v. Wolkonstctn u. s. w. 
Die contrapunktirten Lieder in der Handschrift des H. de Zeelandia sind 
durehaus schwarz notirt, und ein Codex der Präger Universitfttsbilih'ttthek 
(XI. B. 2) enthalt einen in spitzer schwarzer Notirung, welche laut Beischrift 
„Inspice notas gallicanas'* als franzSsisch beseichnet Mrird, geschriebenen 
„Rundellus'*. Zur Zeit der w« isscn Note kommen durchaus schwarz nrttirte 
Stücke nur als besondere und sonderbare Ausnahmen vor. In der bekannten 
grossen, ron 0. Förster su Nllmberg (1540 8. Aufl. 1660 u. s. w.) herausgege- 
benenLiedersammlung fuidet sich im zweiten Theilc (erschien 1560) alsN.XI 
ein Lied von Hans Teuplein „und ist er doch kein reitcr" und als N. XXV ein 
Lied von L. Senil „es hat ein bidernian ein wcyb" durchgängig^ in sehwarzen 
Noten. Tinctoris erwähnt einer Missa nigrarum von Jean Cousin, einem Zeit- 
genossen Okeghem's. Jean Cathala, Musikmeister bei der Kathedrale zu 
Auxerre componirte eine fünfstimmige, 1G7Ö bei Christoph Ballard zu Paris 
gedruckte Messe „ad imitationeni moduli: nigra som sed formosa**, die emit 
spielender Beziehung aufihrMotto ganz und gar in schwarzen Noten schrieb. 
Jacob Hobrecht schliesst seine Passionsmnsik mit einem Satze (qui passas 
etc.) in lauter schwarzen Noten — eine naive Symbolik, die an die schwarzen 
IVauerengel aof M. Schongauo^s Krcuxignngsbild (imWieuer Belvedere) er. 
iniMrt. In ilmlichem Sinne setii Hieronymus Vinders su den l'salmworten 

25* 



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388 



Die Entwiükeluug des mehrstimmigen Gesanges. 



Jm 14. Jahrhundert consolidiite sich neben der Lehre von der 
Mensur oder vielmehr mit derselben auch die eigentliche Kunst dos 
Contrapunktes, die Kunst zu einer Melodie eine zweite zu setzen, 
docli in bpsserem und höherem Sinne al8 jenes barbarische Zu- 
sanimenHicken von Melodien, die einander von ilausu aus niclits 
angingen. Die Bezeichnung Discautus kam allmälig ausser Ge- 
brauch. Sie deutete mehr auf das Improvisiren, auf dtn aat dem 
Stegreif ausgeftüuien Gegengesang, wXbrend bei dem Contraponkt 
(fmäm eonlra pmeitim, d. L woUi connira notom) mehr anf die 
sehriftlieh angesetzte Composition hingewiesen wird. So wie es 
indessen (wie wir sahen) auch schriftlich aufgezeichnete Discante 
gab, 80 pab es umgekehrt auch impro\'isirte Contrapunkte: der so- 
genannte Canim supra librum oder Coutrapundo a mente, aus dem 
französischen Dechant entstanden, von den Niederländern fleissig ge- 
übt, durch sie in die päpstliche Capelle verpflanzt und von dort aus die 
Kirchenmusik beherrschend, spielte in den Niederlanden, in Italien 
nnd Franlueich eine grosse Bolle, nieht so in Deutsehlaad, wo er 
nicht sondeilieh geachtet wurde nnd die wenigsten Singer sieh 
darauf yerstanden. Adrian Petit-OocUcus beklagt sich darüber leb« 
haftl). Bei dem improvisirten Contraponkt mussto der gebildete 
Sänger seine Stärke darein setsen, „über dem Buche," in welchem 
der von einem anderen Sänjror atisg;enihrt(3 Cantus firmus in Noten 
aufgezeichnet war, rein und harmonisch einen Contrapunkt aus- 
fuhren zu können. Willaert erregte damit bei seinem Erscheinen 
in Venedig Aufsehen, bei S. Marco wurde sogar der Säuger mit dem 
ansdrttcklichen Titel „ConirapwUo" in den Dienst aufgenommen >). 
Gewandtheit im Singen des impro^rirten Gontnq[innto was noch 
im 16. Jahrhundert eines der allerersten Erfordernisse dnes ttteh« 
tigen Musikers, ohne welches er kaum lllr genttgend gebildet 
galt Niederländer, Picarden und Franzosmi galten darin für 
Meister und waien fllr die Gapellen der Grossen sehr gesoeht*). 

„nam si ambulavero in medio umbrae mortis (Psalm, select. 1553 bei Monta- 
nns und Ncuber I. Theil No. IG) plötzlich in allen Stimmen schwarze Nuten. 

1) Modus canendi contrapunctom in Germania rarus est, haud dubio nou 
alism ob causam, quam com puloherrima hacc an diuturno usu sc labore 

maximo perdiseatur, nec praemia eam callentibus constituta sini: perpauci 
ad haue disceudam animum appliucnt . . . Ac si quis contrapuucti mentionem 
fiMOst, ae in perfoeto mutioo requirat, huno odto plus quam osnino laoerant 

IL ■. w. (Adr. Petit-Coc^licus, Comp. mus.. de rej^. cnntrap.\ 

2) Z. B. wurde noch am 25. Januar lliHl eiu gewisHcr F. Lodovico Fuga 
mit 100 Ducaten Uohalt als „Gontrappunto" angestellt und zugleich mit ihm 
P, Lodovico Zanchi als canto furino (s. Cafli, Storia doUa mus. sacra nella gik 
capiii'IIa ducjilr ili S. Marco in Vcnezia 2. Bd. S. 12\ In den Constitutionen 
PapstPaul III. tür die päpstliche Capelle vom Jahre läl5 heisstes unter andern 
an die Sänger gesteOten Anfordenmg^n: cantei sufficientor oontrapanctum. 

3) Primum itaquc. quod in bono compoHitoi e desidoratur, est, ut contra- 
ponctum ex tempore cancrc sciat. Quo sine uuUus erit. (A. Pctit-Cocliuus.) 

^) ... et ex tempore super Choralem aliquem cautum contrapunctum 



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Die Hensnnliiuink und d«r eigantliehe ContrAponkt 889 



Wenn mehrere Sänger Uber dem Buche sangen, führten sie zu- 
sammen mit dem Tenor drei- und vieratiiiiiidge Sltse ans, ihre 
Stimmen erklangen in Tollen Aceorden, da jeder der Contrapunk* 
tirenden bedacht wer cur Note des Tenors ein anderes consoniren- 
des Intervall zu singen. Das war freilich nur dadurch möglich, dass 
sich eine gewisse Uebung, ein gewisses bleibendes Uebereinkommen 
Bwischen den Sängern feststellte, dass sich für TonschlUsse, Absätze, 
Einschnitte und Ufter im Tenor wiederkehrende Wendungen ge- 
wisse Formeln und Manieren der contrapnnktirenden Stimmen fest- 
setzten. Die zehn Cadenzregeln, welche Omitoparchus lehrt, sind 
ganz in diesem Sinne zu verstehen. Die Grundregeln der älteren 
Lehrer des Contrapnnktes, wie Philipp ron Vitry, Tincto- 
ris u. B. w., sind augenscheinlieh mehr fttr den improrisirten, als fUr 
den nach Componistenweise schriftlich aufgezeichneten Contrapnnkt 
berechnet; Pietro Aron handelt ganz ausdrücklich davon, und 
selbst noch Zarlino (um 1570), Antonio Bruneiii (t610) und Lodo- 
vico Zacconi (1622) maclien sich damit zu schaffen^). Das liupro- 
visiren, die Fähigkeit im Augenblicke nach Verschiedeulieit der 
einzelnen Aufgaben eine reine, wohlklingende, regelrichtige Musik 
ausführen zu können, ohne dass mau sie ausdrücklich in Noten auf- 
gesetst vor Augen hatte, spielt überhaupt noch lange eine sehr grosse 
KoUe, selbst als der improvisirte Gontrap unkt ausser Uebung kam, vom 
17. Jahrhunderte an, besonders in der Ausflihmng beaifferter oder 
auch unbezifferter Bässe als Begleitung, feiner in Prfiludien, Toe- 
caten, Phantasien und Zwischenspielen n. s. w. Daran wollte man 
den tüchtigen, durchgebildeten Künstler erkennen: je geistreicher 
er seine Aufgabe löste, auf desto mehr Anerkenimng diiifte er 
rechnen, ja es gewährte das grösste Interesse dasselbe Stück von 
verschiedenen Künstlern unter solchen Bedingungen ausführen zu 
hören und deren Talent, Bildung und Geistesgegenwart ver- 
gleichend gegeneinander abwSgen an können. Der Instrumentalbt, 
der SXnger sollte durch stets neue, stets intereBsante Wendungen 
und Verzierungen, die er anbrachte, tiberraschen, dieselbe Melodie 
mehrmal geistvoll verändert vorzutragen, der begleitende Cembalist 
die Mittelstimmen in anzicliender Weise einzuschalten wissen u. s.w. 
Utisere Musikalien, wo alles bis auf die kleinste Verzierung ausge- 
schrieben ist und die von Vortragszeichen wimmeln, hätten damals 

SQum prononciant ... Belgici, Picardi et Galli, quibus fere naturale est, ot 
reliqiiis ])nlmam praeripinnt ; ideo soli femntur in Pontüicis, CaesariB, Re- 
gia (ialiiae et quorundam principum sacellis (a. a. O.). 

l)Äron im Toaoanello, Buch 2, cap. 21. ZarUno Inst. hann. 8. parte. 
Ant. Bruneiii Regole dichiarazioni d'alcuni contrapunti etc. Zacconi Prutt 
di mus. 2. Buch 34. Cap. „del obligo ehe hanno i macstri in inst'gnare di far 
contrappunto alla mente a i loro Scolari. Nach P. Martini haben ( Jiov. Maria 
undBemardino Nanini handschrifllich trefifliche Anleitungen zum improvi- 
•irten Coatraponkt hinterlaswn (Sagg. di Coitepp. 1 Th. 8. 57 and &8). 



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390 Die Entwickelmig das atelmtimniigen GeMuigflt. 



den Eindruck gemaeht, ab lege man Jemaudem, der tanzen soll, an 
HlCnden und FQaaen Fesseln an. In Italien ist die Erinnening 
daran bis heute nicht erloschen i). Der improvisirte Contrapnnkt 

hatte strengere Regeln als die schriftlich ausgearbeitete Composition, 

der riohrancli der Dissonan/en war weit beschrSnkter u. 9. w., weil 
die Gefahr bei freierer Handhabung der Mittel in der Eile in etwas 
Uebclklini:;^ondos unversehens hinein zu gerathen grösser war*). 

Das Wort Contra j>unctus wnrd schon von Philipp von Vitrv 
und l^rosdocinins von Bei dorn an de an«i:e wendet, von de 
Muris und weiterhin im 15. Jahrhunderte von Tinctoris, Frau- 
chinufl Gafor n. s. w. In dem „Diffinitorium terminonm muri- 
ewwn** von Tinctoris wird allerdings noeh der „Contrapanctna^ md 
der „Discanttts" unterschieden, aber in der That nur dem Namen 
nach, dfim die hoigegebenen Erklärungen zeigen, dass binde eine 
und dieselbe Sache bedeuten 3). Muris braucht beide Benennungen 
synonym*). Die Regeln ftir den Oontra])inikt finden sich daher 
znm Tlieile schon dort, wo noch ausdrücklich vom Discantus die 
Rede ist: mit einer vollkommenen Consonanz anzufangen und zu 
schliesseu^), die Gegenstimme steigen zu lassen, wenn der Tenor 
föllt, und umgekehrt, Dissonansen nur im stnfenweisen Durch- 
gange aninwenden. Aber es gestaltet sieh alles INeses in der An- 
wendung reicher, freier, minder fteif und nnhehilflieh, als im Dis- 
cantus der Fall gewesen. Man suchte die Gesetze der Fortechrä- 
tung und Verbindung der Intervalle besser sn erfassen und tiefer wa 

1) Die zuweileTi skizzenhafte, nahezu lüderliche Art italienischer Opern- 
purtituren findet darin ihre Erklärung und Entschuldiguniir' Italien ist ja 
aiicli die Heimat der conimcdia del arto, wo den Srhanspii-Icni nur der In- 
halt der Sceue im Aligemeinen voiveschrieben wurde uud die Ausführung 
im Dialog ihnen ganz anheimgesteUt blieb, wobei sie lo viel Wits, Munter- 
keit und Geist entwiekeln durften als nur immer möglich. Interegsani ist es 
in O. .Tahn's „Mozart" (^4. Bd.) die Programme der Akademien anruselien, in 
welclu-n der juiif^e ^(eiiiale Cavaliere fih\niionico Alleszum Enthusiasmus hiu- 
ris8. Die Improvisationen spielen fast die Hauptrolle, sogar bissum blossen 
Vistaspiolrn herab. Nuch Mi Tidclssnlni (man sehe seinr liebenswflrdigea 
Keisebriefe) musste in Italien die i'^euerprobe des Im^rovisirens bestehen. 

it) Adrian Petit-Codicns mgt: Regula Compositionis a regula oontra- 
{lUncta panun differt. Compositionis regula liberior est, et in hac plura lieent, 
quam in contrapuneto. Wie man sieht, heisst hier Compositio so viel als Res 
facta, sclu'iftliche Composition, Contrapunctus soviel als Cantiis supra librum. 

3) Contrapunctus est eantus per positionem noias vocis contra aliam 
punctuatini effeetus. Discantus est cantus ex divcrsis vocibus et notis 
curti vaiuris editus. Prosdocimus von Beldomando bemerkt: Contrt^^ 
siHo vere est interpretatio istius tennini Oontre^nehu. 

4) In seinon Quaest. sup. part. mus. betitelt er die eine Abtbeilung 
„de diseuntu et oonsonantiis", dagegen ist das in der Vaticana befindliche 
Manuschpt No. 5321 übei'schrieben: „Ars contrapun* li Joh. de Muris." 

5) . . . quod dissonantia sit quoddsm imperfectum, requirens i)erfectum, 
quo jicr^ci ])ossit, eorisonantia autem est perfectio ipsttts« (MarchettU8| 
Luoidahum. Tractat V. cap. (».) 



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Die Mensuralmusik und der eigentliche Contxapuukt. 391 

begrQnden unA insbesonden das Wesen der Dissonansen, deren 
Werdi nnd Bedeutung für den Tonsntz man mehr und mehr ahntOi 
zu erkennen. Ueberrascbend tiefsinnig nnd geistreich ist ein Ge- 
danke des vielgesclimKhten Marchettus: die Dissonanz, sagt er, 
sei das Unvollkommene, das sich sehnt vollkommen zu werden und 
Bich in dem Vollkommenen zu vollenden; diese Vollendung aber 
liege in der Consonauz i). Mit anderen Worten: die Dissonanz 
strebt nach der Consouanz, will in ihr ruhen, sich in sie auflösen. 
Daher darf nie Dissonana anf Dissonans folgen ; die Dissonans nrass 
steigen oder fallen, nm in die Consonans flbersngdien. Der 
Hann der dieses zuerst bestimmt aussprach, war der Idiot nicht, an 
dem ihn seine Gegner machen wollten. 

Es wird hier jener Erscheinung zu gedenken sein, die in den 
Schriften des Marchettus liberrnscbend auftaucht-), aber ebenso wieder 
verschwindet ohne dass es J(Miiand der Mühe werth hfilt den Ge- 
danken aufzugreifen, nämlich Anwendung der Chromatik in theil- 
weise richtigen, theilweisc freilich auch noch in ungeschickten 
Wendnngen. In dem Capitel seines Locidariums, „von der Diesb" 
lehrt näidich Marehettusi wie man^ nm ix^gend eine Consonani Uber 
(supett im Texte steht» nach den beigegebenen Beispielen offsnbar 
irrig: subter, unter) dner Ten, Sexte oder Dezime, indem man nach 
irgend einer Consonanz hinstrebt, zu coloriren, den Ton in zwei 
Theile theilen müsse. Der erste grössere Thcil des also behandelten 
Tones heisse, wenn es aufwärts geht, Chroma, der restirende Theil 
lieiHse Diesis, die Diesis sei aber der fünfte Theil eines Tones. 
Zu dieser Lehre, in welcher die antiken Grundsätze von der Theilung 
des Tones seltsam missverstanden und entstellt sind, gibt Marchettus 
folgende Beispiele : 



c ■ 








— ■ — 1 

1 

i - — 








— l— 


— -4- J 


^_ 




■ » ■ 





— ^ 1 1 1 1.1*1 1 1 Ii 

Die Colorirung besteht, wie man sieht, aus der Anwendung des 

1) . . . utrsqne duanim voonm in dissonantia est et propter hoo utra- 
i|ur appi'tit pf-rfici, nec potest si non movrtur de loco, sive de so7w in 
quo est: oportet igitur quod moveautur ambae sarsum et deorsum ad 
aliqnam eonsonaotiam intendentes. Dsftst mttem ügwnanHa dUtart ante 
eoiuenanHam per tninorem dttCaniMMM et per hmIimi vMmt^ue, rationibus 
Buperius allegatis, ut hio: 




8) Bei Gerbert Script. Bd. III. S. IS und 74. Die Noten sam Theil 
fehleriiaft, bei Forkel 9. Bd. 8. 468 nnd 464 Terbessot 



899 



Die Entwickelong de« mebntimmigen Gesäuges. 



swisehenfiegenden ehromatischen Halbtones. Harchettos Teifolgi 

den eingeschlagenen Pfad weiter und belelurt uns im nlchrten 

Cnpitel Uber den Gebrauch des diatonischen und enliannoniRchen 
Semitoniums zugleich, damit eines durch dan andere besser erkannt 

werde, was er mit dem Beispiele illustrirt: abhc\chha und 
dabei bemerkt, es wt-rde hiervon nicht im planen, sondern nur im 
mensurirten Gesango Gebrauch gemacht. Endlich kommt er im 
nächsten Capitel auf das „chromatische Öemitonium" und erläutert 
es mit den Beispielen: 









I ■ 5» F 


■ & 








~ i ' 




_ -| - - T i J 








P — iw . 


- ■ — 








1" ^ — 1 1 — 


Ii T I J 

















-F— f— 


-r T r II 



Dieie fruchtbaren Ideen blieben unbeachtet Marchettus selbst 
kann nur durch die Mnska fida nnd durch die in der Scala foctiach 

Torkommende F<ntichreitnng a h h e auf den Einfall gekommen 
sein den g:esetzm888igen Verbindungen ähnlicher Fortschreitungen 
nacliziiforsehen. Es war ein für jene Zeiten kühner Gedanke, Nie- 
mand hatte den Miitli zu folgen 2). So leuchten bei Marchettus 
in oft trostlos grauer Oede iibenaschende Lichtblitze auf. Abge- 
sehen von ihnen ist die Lehre des Musiklebrers Ton Padua im Ganzen 
noch sehr befangen. 



1) Diese Fortschreitung gehört nur uneigcntUch hierher, denn sie ist 
nichts als eine Gadensfonnel, wie sie dnidi «Ue Ekvatio vooii im Fignral- 
gesange angewendet wurde. 

2) Ft'tis sagt: „les successions harmoniques, (ju'offrent ces exemples, 
fjont des hardiesses prodigieuses pour le temps oii dies ont 6i6 imagiu^es. 
Elles semblent devoir creer immediatement une touahte uouvelle; mais 
trop prtaiaturees, elles ne furent pas comprises par les musiciens, et rest^ 
reut satis siiriiificution jusqu'k la tin du seizii-mo Hi^ele." Die Anwendung 
erliühter Töne in den Cadeuzen ist natürüch etwas Anderes, als die von 
M. gelehrten FortschreHongen in halben TOnen. IVaet I. cap. 6. 7. 8. 



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Die Mennmlmiiiflc und der eigeatlidie Oontnpimkt 



893 



Entwickelter als bei Marcliettus, filr den die (Quarte nocli immer 
unbedingt consonirt, der die Sexte und Terz tür dissonirend erklärt, 
die Sexte in die Octave aufgelöst wissen will, weil sie Tollkoin* 
mener eei als die Quinte, die Sexte swiaeheii diesen ilir gleieih nahe 
benachbarten Conaonanien die Tollkommenere wKhlen mfiese ^) nnd 
deren Auflösung In die Quinte nur als Licens (eeilor fieiitius) gelten 
mflsse, obscbon es son^^t die Natur der Dissonanzen sei sich ab- 
wärts (per descensum) aufzulösen ^, ist die Auseinandersetzung Uber 
die Fortsclireitung der lutervallvcrbindun^en beiJoh.de Muris, 
wie er sie in seiner Ars contrapuncti lehrt. Der Unison geht zweck- 
mässig durch Auseinandertreteu der Stimmen in die kleine Terz 

c d 

Uber - , , nnd umgekehrt die kleine Ters durch Znaammentreten in 

C ft 

den Einklang; sonst nimmt ilic, kleine Terz als unvollkommene Con- 
sonanz eine andere unvuUkumniene, oder auch eine voUkonmieue 

^ ^ widirend auf die grosse Ten swar nie eine sweite 

a—g a—g 

grosse Ten (a. B. ^ ^ ^) folgen darf^ wohl aber eine kleine, oder 

eine Quinte, so wie umgekehrt die Quinte sehr gerne in die grosse 
d — s 

Ten übergeht -» - « Tenengänge und Gänge in (grossen) 
g — c e — g 

Sexten sind gestattet^). IHe grosse Sexte geht am besten (wie auch 
Marchettus gelehrt) in die Oetave^); sonst kann die Sexte, wenn 



1) A. a 0 

2) Ornitoparchus (Micro!. IV) sncrt: ,,in omni cantilona conso« 
nantia« quaerantur vtoximiores . uam quau dit^tunt nintiuui dissonantiam 
sapant — tmdont PjrtbagoricL** 

9) Wegen des Diabolos in mntiea f^h. Bs musi heissen 

4) In dem Capitel de discanta (bei Gerbert m. Bd. & 906) sagt de 
A[uris: Item sciendum est , quod nos pouumos ascendere per unsm tei^ 
tiam, per duas, vel per tres, sicut placpt. cnm tenoro. 

5) In dem ebenerwälmten Capitel „de discautu'' sagt de Muris gar: 
Item sciendum est, quod sexta nuUo modo potest poni in discantu sim* 
plici, nisi quod octava sc(nisitur immciliatp. Pietro Amn (Tiistit härm. 
III. 13, quomodo secundum praecepta veterum ordinandac sunt cousonan- 
tiae) Imurt auch noch, daas man, nm eine ▼ollkommene Consonanz ein- 
treten zu lassen, sie am besten durch die nächstverwandte Consonanz 
vorbereiten kann, die Octave durch diu grosse Sexte: „si octavam sexta 
item major, quia illi vicinior est, praeponenda erit. ... Et ita quidem tieri 
debere Tetenmi praecepta nos edooent. Quod nos qvoquc monere ▼olui- 
nuis, non tanquam sit omniiio n<'fes8ariimi, sed quia u\h\\ tjuod ifrnorare sit 
turpe praetermitteudum judicamus. Hoc auteni ita dixisse volui, quia lex et 
eonsnetudo seeali hiyas ita noi consonantias componere non egit." Zu Aron's 
Zeiten war also das Oebot niofat mehr in Kraft. Franehinns Gafor sagt 



894 Bie Entwickelnng det mefantimmigen GecangM. 



Oure tiefere Not« nm eine Ten steigt, aaeli in die Quinte flbergelieii 

^ «nbediogt in eine kleine oder grosse Tera ^ ^ ^. 

• 5^ ^ 

Die OetaTe endHeh sehieitet in die grosse Sext Was Uber die 

Oetaye hinaas liegt, nnd nnr 'Wiederholungen der entspfechenden 

tieferen Intervalle. Es gab noch bis tief in das 15. Jahrhundert 
hinein (wie wir von Adrian Petit-Coclicus erfahren) Musiker, die 
sieh an die Fortschrcitnnprsre^ehi des de Muris mit Strenj^e, ja mit 
Aenj^stliclikeit liielten, z. B. nach einer Sext kein anderes Intervall 
zu briii{;en gewagt hätten als die Octave. Die goiiialeti Küiistlor 
jeuer Tage, au der Spitze Josq^uin de Pres, durchbrachen aber die 
starre Satmng nnd bahnten den Weg zu einer weniger eingeengten, 
frieren Kunstfibnng — In die Zeit des de Muris nnd Philippus von 
Vitiy fifllt endlich die Anerkennung eines Knnsigesetses, welches 
bis heute das erste und wichtigste Fundament rmnen Tonsatzes 
bildet: dieses wichtige neue Gesetz, das erst jetzt klar und bestimmt 
ausgesprochen wird, ist das Verbot der Fortschreitung zweier 
vollkommener Consonanzen in gerndi r Bewegung. Ins- 
gemeinwird es auf Joliann de Muris zurUckgelÜhrt, gleichsam als 
habe dieser in einer glücklichen Stunde das Octaven- und (Quinten- 
Verbot erfunden, wie Berthold Schwarz das Schiesspulver. Aber 
auch sehon Philipp von "Vltiy kennt diese Grundregel: „zwei voll- 
kommene Consonanzen," sagt er, „dürfen me aufeinander folgen, 
wohl aber verschiedene** WMhrend Philippus Regel aussieht als 
dürfe man vollkommene Consonanzen auch in der Gegenbewegan^; 
nicht anbringen, fasst de Muris die Sache scharf und prKcis also: 
,,wir müssen auch zwei vollkommene Consonanzen in fortschreitender 
Verbindung auf- oder absteigend vermeiden"^. Die Regel hat sich, 
wie wir sahen, allmalig in der Praxis des Discantus ausgebildet. 
Philipp von Vitiy und Joh. de J^Iuris sprechen nur aus was ihre 
anerkannte. Erfinder des Verbotes ist keiner von beiden. 
Den Grund, warum man die parallele Folge aweier vollkommener 
Consonansen vermeiden solle, deutet weder Philipp von V itrj noch 



(VIT. rog. Contrap.): Quod quidem proprium est sextan majori» ad octavnm 
Bcilicet trausmeare. Die seltsame Ciulenz der pftpstlicheu Capellsäuger 




ist augengcheiiilich aus gleicher Quelle geflossen. 

1) Sed haeo Dominus Josquinas non obaorvavit, sagt CocHcus. 

^ ... et neqoaquam dnae istarum apederum perfectarum deh(>nt 
sequi nna post aliam . . . spd bene duae diversae (Philippus de Vitriaco). 

3) „Debemus etiam biuas consonantias perfeotas seriatim coiyunctaa 
asoendendo toI desoendeodo evitare." So hat das Oenter Manuscript des 
Joh. (lo Muris. In jenem, das Gerbort (Script. 3. Bd. S 306) abdrudBen 
liess, steht der abschwächende Zusats ,j^out fi§mimus evitare.** 



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Die Meninriliiuiiik und der eigentUehe Oontnpankt. 



395 



Johann de Muris näher an. Das Verbot kam auf, alti sich das 
richtic^ G^bllr w weit «usgebildet liatto, daw nm die Mhleehte 
WiriLong soleher Fortschreitungen empfiiad; einen andern Grand 
dalür m geben als die ibatslehUeli nnangenehme Wirkung wnstte 

man nicht, erst Zarlino ging um 1570 mit wissenschaAlieher 
GrttndUehkeit auf die Sache ein. Pietro Aron erinnert in seiner 
Harmonica InstituHo (1516) in einem beiläufig «joprobenen Gleich- 
nisse an den Ueberdruss, welchen unansgesetxter Geiiuss süsser 
Weine und feinster S})eisen eiregen niiisste; in flcr Abwechshiii;^ 
liege aller Keiz^). Hieronymus Card an ub, der berühmte Philo- 
soph und Arzt, der auch einen gehaltreichen Tractat Uber Musik 
geschrieben hat, stellt den Gmndsats anf, dag Wohlgefollen an 
T5nen werde dadnreh erregt, daas das VoUkommnere anf das 
llindervoUkonunene folgt: die Consonanz anf die Dissonanz, die 
vollkommene Consonanz auf die unvollkommene; ferner dass die 
Mannigfaltigkeit der Abwechslung erfreue. Beides fehlt, wo voll- 
kommene Consonanz auf vollkommene Consonanz folgt; bei Octav- 
fortschreitungen erscheint sogar eine Stimme völlig mUssig, weil 
( )ctavschritte nahezu als Homophonie (gleich dem Einklänge) gelten 
dürfen^. 

IHe Kegeln, welche Philipp von Vitiy in seiner „Kunst des 
Contrapunkts'* neben dem Verbote der parallelen Fortsehreitung 
vollkonunener Gonsonanzen gibt, sind im Wesentlichen die bereits 
wohlbekannten: dass jeder Contrapnnkt mit einer vollkommenen 
Consonanz beginnen und schliessen müsse, weil diese dem Gehöre 
eine vollständige Befiriedigung gewährt^), dass Dissonansen im 

1) Ratio autem, quare non deceat tales consoiinntias eo modo, quo 
diximu9, cnntinuare, ac ita committere, non alia qiiidem est, quam quia 
intermixta varietaa gratiorem melodiam et suaviorem conceutum gignit. 
In iis nempe, quibns animos pascitur, simile quitUlam accidit, quod illa 
videmuH ('{ticfre, quae cori)us ahmt. Nam si duioi viiio friM|uenter utaris, 
ac eodem modo epulis vescare delicatioribus, brevi fastidium illa res et 
nanieam inirmienihit (Aron, De harm. inst. III. 19). 

2) 13. Dictum est de comparationo, quae est inter sonos eodem tempore 
produ('tos vocaturque haec proportio. Alia est, quae suecessione habetur, 
quae non minus est priore digna cousideratione. Nam cum jucunditascoucen« 
tos in hoc ooniistit ut nu liora deterioribus succedant, plurima commoda ex 
hac regula nascuntur, 11 I'rimo quotl varicfa^^ ipsa ad (leltfctandum praeci« 
pua siut. Quae enim mcliora sunt, si succcdaut dttterioribus^ duplici ex oanta 
delectant, tnm qnia meliors, tum qnia ob varietatem jtaeimdiora. ... 15. Non 
igitur dnae peHectae consouantiae ut duae diapason aut duae diapeuto sibi 
Buecedere possunt, nam ueque altera altera melior, quod 13. rcgula postulat 
neu varietas uUa quod praecedens edooet. Sed et videbitur in diapaao super- 
floamiavox, quoniam est ac siper unisonum progrederentur. Est enim diapa- 
son symphonia adeo perfecta utpropinqua sit valde homophono (Cdrdntins, 
De Mus., in dessen Werken, Leydeuer Ausgabe von 16(>3, Bd. X 8. lOG). 

8) ... et dicontur ^erfectae, quia perractom et integrum sonom im- 
portant aoribns sndientinm ... et com igu» oaaois dtsosatas debet inci- 
pere et fimrOi 



396 



Die Entwiokelang dei mehrntiminigw GeMiigef. 



Contraponkt der Note gegen die Note nnsnllsiig rind, wohl aber 
wo mehrere Noten des Contmpnnktes gegen eine Note des Cemitts 
fimnts gOBetst werden, wo nSmlich die Brevis oder Semibrevis in 
drei Noten getheilt wird (also in dem perfecten Tempus und der 
perfecten Prolation), kann eine dieser drei Noten dissonirend sein 
Ferner ist es eine allgemeine stets zu beachtende Kegel, dass, 
wenn der Cantns steigt, der Discantus fallen müsse, und umgekehrt; 
es wäre denn, dass man um einer Folge unvollkommener Conso- 
nanzen (^Terzen, Sexten) willen oder aus anderen Beweggründen 
ron dioBem Gebot Umgang nithme^. Den Sets der Note gegen 
die Note nennt Philipp von Vitiy ,tCmtrapuiieM*% für den Contm- 
pnnkt Ton mehr Noten gegen eine „Caiiiua fradiOnfiü^* ftberhaapt 
aber wendet er noch die alte Benennung „Discantus" an. Seine 
formnlirten Kegeln bilden in ihrer prfizisen Fassung den Uebergang 
von den alten casuistisch herumtappenden Discantirrogeln zu den 
Kegeln des ausgebildeten Contrapunktes, wie ihn die Lehrer des 
15. Jahrhunderts Tinctoris und Franeliinus Gat'or lehren. 

Die Vorschritteu des de Muris stimmen im Wesentlichen mit 
denen des Philippus von Vitiy ttberein: auch er will den Anfang 
and Schlnas in Tollkommener Consonans, die Gegenbewegung u. s. w. 
Diese Lehren nnd Begeln der Gelehrten nnd Theoretiker nahmen 
jetstwie man sieht, eine melir dem praktischen Bedflrfiiisse der 
Tonsetser angewendete Biehtong: was als dem Tonsatze gedeihlich 
anerkannt wurde, das galt auch ohne tiefsinnige philosophische 
oder mathematische Untersuchung Uber seine letzten Gründe. Die 
Lehrer des 16. .Tahrhun<lertH warnten sogar vor dem Studium 
der alten musikalisch - «iathematischen Schriften als vor frucht- 
loser Muhe und Zeitverderb Die Praxis siegt Uber die ein- 
seitig betriebene Theorie. Yielee in der Art der Gontnpnnk- 
timng, der Notirung, der Mensturalbereehnnng, was sehon an 
Anfang des 15. Jahrhunderts in den Werken der Tonsetser der 
ersten niederlSndischen Schnle Torkommt, wird von den theoieti- 



1) . . . aliae vero species sunt discordantes et propter earum discor- 
dantiam ipsia non atimur in contrapancto, sed bene eis utimur in cantu 
fractibili, in minoribus notis, ubi semibrevis Tel tempns in ploribus notis 
(lividitur, id est in trilms ]>artibii8| tone una iUerom triom pertiom potest 
esse in specie discurdanti. 

2) . . . quod quando cantns ascendit, disoantos debet e e oa v e rso des- 
cendcre, quando vero cantns dt sci-ndit , cantns debet ascondere, et haec 
regnla generalis est et Semper observanda, nisi per species imperfectas 
sive aliis rationibus evitetur. 

3) ... in coutrapuncto, id est nota contra notam. 

4) Adrian Petit-CoclicuB sagt in stMuem ('omjH'ndiiini (ir>52) „propterea 
paucis verbis et praeceptis volui haue industriam Musiccs puerilem for- 
mare: ne juTOitas ad Masioonmi Msthematioomra fibrös ourreus ra legen- 
üis illis aetatem frostra conterat) et niinqnam ad finem bene eenendi 
perveniat.** 



Digitizea L7 GoOglc 



Die Menturalmnrik and der eigenüiohe Gontrapankfc. 



397 



M^en SehriftsteUem fiut ent dn Jabiliandort spiter unter Hin' 
Weisung mat die Werke jener Meister beeproehen und sur dauernden, 
allgemein giltigen Regel erhoben. Auch hier bewahrte uch (Wa Kr- 

fahrung, dass die Kunsttheoiie und Aesthetik immer erst durch das 
reflectireude Eingehen auf dasjenige ihre besten Erwerlmn«jou 
machen, was der inspirirte Genius kraft seiner pöttlichen Natur wie 
unbewusst erj^riffon und hingestellt hat. Was der Genius in offener 
Feldschlacht mit dem blitzenden Schwerte erkämpft, das recht- 
fertigt die grübelnde graue Theorie hinterdrein am äessionstiuche. 
Das Yeibtitniss war ein strengeres als heutsntage. Die Geseta- 
mfissigkeit der Tonreibindung war keine willkttrlich an Indemde 
Sache; die freie länfUhrung, die regelwidrige LQsnng gewisser 
Dissonanzen wUrdc z. B. damals so unsinnig geschienen haben, als 
wollte etwa ein Mathematiker im Laufe einer Berechnung annehmen, 
dass die drei Winkel eines Dreiecks zusammen nie Ii t gleich seien 
zwei rechten Winkeln. That die Praxis einen Schritt über das von 
der Theorie bereits Anerkannte hinaus, so geschah solrlies stets mit 
einer gewissen Vorsicht und Zurückhaltung. Die Theorie ihrerseits 
notirte dankbar die neue Erwerbung ^) ; fand die Theorie etwas in 
sich Widersprechendes, so tadelte sie oÄ»n. Tinctoris rügt gerade 
an den von ihm so hochverehrten Meistern Okeghem, Faugues u. s. w. 
Einzelnes mit grosser Schärfe^. Die voIIstKndige, scharfsinnige, 
in allen Einselheiten consequent durchgefülirte Ansbüdnng des 
Mcusuralwesens, die mannigfache fein abgewogene Anwendung der 
Taktzeichen, die fast ausgeprägte Cadenzbildung, der geregelte 
Gebrauch der Dissonanzen und noch vieles Andere, welches wir 
systematisch zusammengestellt und besprochen erst bei den grossen 
Theoretikern des 15. Jahrhunderts antreffen werden, entwickelte 
ach, gewann Halt und Bestimmtheit in den Compositionen der 
Nieder iSnder, jener trefflichen Meister, mit denen in der 
sweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine neue Epoche der 
Tonkunst beginnt 



1) Ein Beispiel dazu wird uns der Tonsetser Da&y und der Theo- 
retiker Adam von Fulda frohen. 

2) Zuweileu drückt er sich scharf geinig aus, z. B. in seinem Fru- 
portionale: „ds Dimarto in misM*' spiritus almus intolerabiltter peoca- 
vit u. s. w. Al)C'r er schliosst auch sein Werk „de Contnipuncto" mit 
einem Lobe auf Dufay, Faugues, &egis, Busnois, Okeghem und Caron, 
und bemerkt: „enim vero et eos tnmmis laadibns eztouendos et pcuitua 
isMtandos censco, ue eoutra officium boni viri me solom probsre, alios 
vero, nbi recie feoerint, contemnere videar." 



898 



Der auBgebildote Tonsats. Di« erste niederländische Bohule« 

Dofky und Mine Mt* 

M<an hat sich so sehr gewöhnt, Italien , wo wir die Künste 
nicht erat in Museen aufzusachen brauchen, weil sie uns an allen 
Strasseneeken begegnen, als die eiiiage Kunstheimai ansiuehen, 
dass es eine Art Uebemschmig eir^ite, als Kiesewetter in suner 
Schrift „Ueber die Verdienste der IHededSnder um die Ton- 
kunst^*, bestimmt nachwies, was noch Burnej und Forkel geraden 
auszusprechen nicht gewagt, dass statt des Landes, unter dessen 
tiefblauem Himmel der dem Dichtergotte heilige Lorbeer, die 
königliche ernste Cypresse, die edle Pinie ihre Häupter erheben, 
dessen laue Nächte von Oran<;en(liiften gewürzt werden, in dessen 
vulkanischem Buden Glutweine reiten, wo die zertrümmerten Kestc 
antiker Knnst lehren, was Mass, Klarheit, Harmonie und Form- 
Schönheit i^, ▼ielmehr das prosaisch yerstVndige, gewerbflelsög 
handeltreibende Allnvialland im Nordwestwinkel Enropa's die 
( i^M'ntliche Heimat der zauberhaftesten unter den Kttnsten sei. Der 
Italiener, stolz einen klassischen Boden zu bewohnen und sich für 
den legitimen Erben antiker Bildung ansehend, hat längst ver- 
gessen M, was er den Niederländern zu danken hat*). Ruft doch 
sogar l'ietro Aron, ob er sich gleich in seinen Schriften fortwährend 
auf niederländische Tonsetzer beruft und ihnen die wärmste Aner- 
kennung zu Theil werden iXsst mit fast ttbermttthigem Stolze aus: 
„wenn Franzosen, Deutsche oder sonstige Barbaren irgend eine 
gute Seite haben, so danken sie Solche Italien^**. 

Aber es ist ein schönes herzerfreuendes Schauspiel ehren- 
werther Sitte, frische Lebenskraft, mannhafter Tüchtigkeit und 
solider Bildung, wohlerworbenen Reichthums und echter, kern- 
gesunder FnMule am Leben, feiner Geselligkeit und lebendigen 
Sinnes für »Schönes und Edles, das unserem Blicke begegnet, wenn 
wir ihn auf diese sogenannten ,, Barbaren" an der Scheide und Maas 
in ihrem den Meercsfiuthen abgetrotzten Lande richten, diese 
„Barbaren", deren breites Vlaemisch den italienischen Ohren frei- 
lich wohl wie Froschgequak klingen mochte (schwerlich konnte 
man in Italien begreifen, wie ein grosser Meister des Wohlklangs 



1) Man weiss nicht, soll man lachcTi oder zürnen, wenn Scudo in 
seinem Cavalier Sarti von den Niederländern mit dem aufgeblasensten 
Hochniuth redet. „Diese Barbaren, welche Italien ein zweites Mal in 
Besitz nalnnen, wo sie Schulen gründeten u. s. w." 

2) Seihst auch in der ]»ild»Miden Kunst. Noch zu Michel Anprlo's 
Zeiten galten niederländische Gemälde für besouders fromm und worden 
gesucht. Was die venezianischen Maler durch die Kiederiinder für An- 
regung erhielten, ist ullhekannt. 

3) Sappiauo qucäli noatri malivoli e detrattatori, che, se Franciosi, 
Tcdesdü, o niun altro barbaro, hanno qualchc parte, che traluca in loro, 



Dufay und Beino Zeit 



S99 



„Okeksm" ^)]i«iMeii mOge), die aber in ihrer kakophoniBchen Sprache 
gar Wackeres und Körniges zn sagen wussten! Den greisen Adrian 
Willeert mag etwas Aehnliches bewegt haben, als er sich aus der 

marmornen Pracht Venedig's nach seinem lieben BrUg:fje zurück- 
sehnte! Was aber die Kunst betrifft, so darf das T^and, welches 
die Brüder van Eyck, einen Johannes Mcmling, einen Kodier von 
der Weiden u. A. sein nannte, auch eine Kunstheimat heissen, 
wenngleich der Anblick der Antike fehlte und eine zwar minder 
poetische, aber daftr gleiehaam dnreh und dudi aolid bttrgerUche 
Natar statt der Zitronen nur derbe rothbllekige Aepfel bot und den 
Rand der KanKle statt dee gOtdichen Geschenkes Pallas Athenens, 
statt des „bläulichen Oelbaums" mit nrdinttren Weiden sSumte, die 
endlich, genau genommen, auch wie OelbSnme aassehen. Dass 
aber die Musik, die endlich weit genug gediehen war, um ihre 
ersten Blüten entfalten zu können, diese Blüten nicht in Frankreich, 
nicht in Italien, nicht in Deutschland, sondern eben in den Nieder- 
landen öffnete, lag an ganz eigenen Verhältnissen. £s ist kein 
Zweifbi, dass unter der Leitung von Lehrern wie Joh. de Huris ^ 
eine erfreuHcbe Gestaltung der Tonkunst sich hätte entwiekeln 
können. Die erhaltenen Arbmten eines gewissen Jehannot Les- 
curel aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts (Bondos und Balladen 
in einem zwischen 1316—1331 geschriebenen Codex der Pariser 
Bibliothek, als Einschaltungen in dem Roman Fauvel) zeigen einen 
merklichen Fortschritt über Adam de la Haie hinaus: die Harmonie 
ist reiner, obschon Quinten und Octaven noch nicht völlig vermieden 
sind, zahlreiche Fiorituren sind für den Geschmack der Zeit be- 
zeichnend.^ Aber es kamen für Frankreich wilde, blutige Zeiten, 
in denen die Künste nicht geddhen konnten. Die Kriege mit Eng^ 
land, welche naeh dem Erloschen der Capetingiseh'en Linie durch die 
Ansprüche Eduard III. von England entsttndet wurden, die blutigen 
Tage von Crecy, Poitiers und Azincourt, wo die Blüte der fran* 

che tutto hanno (sia detto con loro paoe) apparato in Italia, come quelle 
che e eimeuto e paragone di tutti belli e buoui iugegui e dove loro con- 
viene, che vengano a pigliare il giuditio el contimento di ogni lor tapere 

IV. Buch S. Ml). 

1) 8o tindet sich der Name ükeghcm's oder Ockenheim'! b. B. bei 
Hermann Finok, bei 8eb. Heyden gar Ogekhera. Dagegen schreibt Q. 

B. Rossi (Org. de Cantori S. 69) „Okgteghen" u. s. w. 

2) Johann de Muris war nicht hlos als Schritt »tt-llcr, sondern auch 
durch mündlichen Unterricht für diu Verbreitung rechter Musiklehre be- 
müht, er sagt es in der Vorrede seiner Sununa m u siflgs ; „Sed cum fte> 
qucnter nniniRdvcrterim socionim ei düdpulorum meonm quam plurimoi 
errare graviter in via'' u. s. w. 

8) F^s hat m der Revue musicale (Bd. XII. No. 84) ein Bondo 
dieses Musikers ,,a x'ous douce dcbotviairc ni man cucur dotiue" in der 
urRpningliohen Notirunp; und cntzifi'ert mitgetheilt. Es ist dreistimmig, 
die Melodie liegt in der Mittelstimme. 



400 



Die £iit Wickelung des niehr&timmigen Gesanges. 



/ösischen Kitterschafl fiel, die GefangenB<Üiaft König Johann's von 
Valois, der das Land verwüstonde Bauernaufstand der Jacquerie, 
die Pöbelherrschaft in Parip, der Wahnsinn Carl VI.: das Alles 
brachte Frankreich an den Knnd des Ab<frunde8, und selbst das 
Privatleben gerieth unter diesen Stürmen in die schlimmste Entiiitt- 
lichung und Verwilderung. 

Als Ludwig XI. (fireilidi dnnli dse bii snin Baehlosen ge- 
triebene politiBcbe Klugheit) die Uaeht Fnuikreich*a wieder liob, war 
der rechte Moment für die Entwickelong der Tonkunst bereits ver- 
strichen nnd hatten die Niederlande die musikalische H^emonie 
emingen. So schwere Stürme Frankreich heimsuchten nnd dort 
die anfspriessenden Keime der Kunst verwüsteten und vernichteten, 
so glücklich gestalteten sich in den Niederlanden die Dinge. Dort 
blühte Gewerbfleiss und Handel; die mannhafte Bürgerschaft 
wohlhabender StSdte hatte sich durch die eigene Tüchtigkeit and 
den fest zusammenhaltenden Geist der Gilde and Verbrüderung 
(Oommoiyiie, ConspiraHtmt Frame) mKchtig gehoben. Vom 9. bie 
snm 18. Jahrhundert war der niederlXndisehe Handel in stetem 
Steigen begriffen gewesen, mit ihm kam Reichthum and nüt dem 
Beichthum behagliches Wohlleben in*s Land, ein Wohlleben, das 
von Schwelgerei und Entartung ferne blieb und immer etwas Ehren> 
festes behielt, da die Mittel dazu nicht gewaltthStig durch Raub 
oder mühelos durch Renten und Gefälle, sondern durch red« 
liclicu Erwerb and anhaltende geordnete Thätigkeit herbeigeachafift 
wurden. 

Fühlte sich der Kaufmann im Bewnsstsein seines Beichthums, 
seiner UnabhXngigkeit von würdigem Stolse erfüllt, so standen ihm 
die Tuchmacher, die in Flandern nnd Brabant dne Hauptmacht 

bildeten, die Weber, ebenso tüdltig und stolz gegenüber. Flaa- 
drisehes Tuch, Brüsseler Leinenzeug war schonim 13. Jahrhunderte 
berühmt. Wie die Niederländer durch gemeinsame ThStigkeit jene 
Däninic anfwarfen, durchweiche sie ihr Heimatland dem Meere ab- 
gewaiiiuju: so war ein Zusainuienwirken vereinter Kräfte, deren 
jede lür sich tüchtig dastand, aber keine sich vereinzelt auf sich 
selbst verlassen mochte, sondern ihren Bückhalt in allen übrigen 
fand und deren eintrltchtige Wechselwirkung den Grundsug alles 
niederlXndischen Lebens bildete, der KempuidLt, aus dem daa Gre> 
deihen sprosste. Der Niederländer schmückte seine StXdte . nicht 
allein mit erhabenen Domen, sondern auch ganz vorzüglich gerne 
mit prächtigen Stadthäusern (wie zu Lccuwen, Oudermrde u. s. w.), 
den wahren Palästen der einij^en Gommune. Feierte er Feste, so 
kamen nicht einzelne Gäste, sondern es hielten gleich jjanze Städte 
durch ihre Gilden, Gewerke und Brüderschaften vertreten mit 
wehenden Baunern triumphirende Einzüge; da rauschte undglänate 
Allee fün Sammt, Seide, Taffet, Goldstickerei und Schmuek; b«i 



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Der ausgebildete Tonsaiz. 



401 



dem 1331 gefeierten Feste der sogenannten 31 Könige 1) waren 
nicht weniger als vierzehn Städte vertreten. 

Vergegenw;irfip:t mnn sich diese Eigenheiten belgischer Art 
nnd Sitte, so scheint es eine jjanz natürliche Conseqnenz, dass sich 
dort der das Leben erheiternde (^esaii}; nicht wie bei den Trouba- 
dourä zu Einzelgesängen, »ondern zu vielstimmigen Tonsätzen 
gestaltete, wo Jede Stimme ia wahrer Polyphonie ibren eigenen 
melodischen Gang einschlug, aber nur im Zusammenwirken aller 
das TonstOck erst seine Gestalt und Bedeutung erhielt. WXhrend 
die Kunst des Troubadours fast nur auf Im{ffOvi8ationen heg:eistetter 
augenblicklicher Anregungen berechnet schien, galt in den Nieder- 
landen die wohlUberle<jte niedergeschriebene vielstimmip^c ('onipo- 
eition des Tonsetzers, wo dann die Sanfter sich als eine Art ,,C'om- 
nioirrne" vor das Notenhiich hinstellten, wie wir es auf dctiv (Jenter 
Altar der Brüder van Eyck abgemalt sehen, und ein jeder in ein- 
trächtigem Zusammenwirken seinen Part daraus heruntersang. Wo 
man seit lange so Tortrefllieh Zeuge und Stoffe webte, war man 
pridestinirt «ich die T5ne au reichen Kunstgebilden su yerweben, 
nnd wie die Teppichweber von Arras die historische Figurengruppe 
eines Ilaupt- und lüttelbildes mit dem zierlichsten Rankenwerke 
von Arabesken umgaben, so umgab der Tonsetaer seinen Tenor 
mit reichem ötimmengetiechte. 

Itali en bot in seiner ganzen gleichzeitigen Erscheinung manche 
den Niederlanden sehr analoge Verhältnisse. Der Handel der 
Venezianer, Pisaner, Genuesen, Florentiner u. s. w. durfte sich gar 
wohl neben dem Handel der NiederlMnder zeigen; ia luxuriösem 
Wohlleben standen die italienischen Kauflente den medeilXndischen 
nicht nach^; die StKdteverfassung mahnt an die niederländischen 
Communen und das reiche ßtadthans {paXazzo puhlico) wie der 
prächtige Dom waren glänzende l)enkmale des Keichthnmes, Ge- 
meingeistes und Kunstgeschmacks der stolzen Bürf^erschaften. Dazu 
hatte Italien neben seinem den Sinn des Künstlers zu heiterem 
Schaffen anregenden glücklichen Himmel, seiner reizenden land- 
schaftlichen Natur mit ihren malerischen Berg- und Pflanzenf<irnien 
endlieh den unennesslichen VorUteU des Anblickes der edel ge- 
bildeten Reste des Aherthnms, deren tXgliche Anschauung von selbst 
den Schönheitssinn wecken musste. Daher finden wir auch schon 
im 14. Jahrhundert, also gleichseitig mit dem Beginne der nieder- 

1) Bfirgw in KOnigsmaiken, wie s. B. den KOnig Candebrinhas em 
gowisser Johann Thibegnd, den KOnig Abilacui em Jacques Mouton 

U. 8. w. reprftfientirte. 

2) Zu welcher Höhe und Ueppigkeit nm 1350 der Luxus in Kleidung und 
Tafel gestiegen war, mag man in der ^.'hrouik von Piacenza l)ei MuratoriXVL 
579 und 582 nachlesen. Die Chronik bemerkt, solcher Luxus sei a mer- 
catoribws Placentiae, qoi utuntor in Franoia, Flandria ac etiam Hispauia, 
Der Verkdir mit den l«iederlaadem(Flanden) wird hier ausdraddich betont • 

Aabroi, 0«i8|i|eM« 4«r Miufk. H, 9$ * 



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403 



Die Eniwickclang dea roehrstimmigen Gesanges. 



ländischen Tonkunst, Anflätze zn einer ähnlichen Entwickehinp (?(*r 
Kunst in Italien. Aber jenen fördernden Einflüssen standen weit 
iiborwicg^end licmmondo entg^epren. Statt sich gleich den nieder- 
ländischen Städten zu frohen Festen zu einen, waren die ilAlieni- 
schen Communen fortwährend in blutifre Fehden untereinander ver- 
wickelt, und Eifersucht und wechselseitiger Haas wurden nicht 
mttde den Brand zu schüren; selbst der Haas einzelner Familien 
vererbte sieh, noch 1490 konnte in Perugia das Hodueitsfest 
Giifonetto Baglione*s sn einer Bluthocbseit umschlagen. In Venedig 
drückte ein Adelsregiment voll offener und geheimer Sehrecken; 
in Rom, dem Mittelpunkte des Katholicismus, hielt man, Jeder 
Neuerung misstranend , an dem einmal gutgeheissenen und san- 
ctioniiten Ritual fresang, und als die PSpste im fernen Avignon 
weilten, zerriss der Streit der Barone die Stadt und verwandelte 
die Keste altrömischer Herrlichkeit in Zwingburgen. Süditalien 
gehorchte seufzend oder murrend fremden Herrschern. Da und 
dort sassen In den Stedten und auf Burgen kleine, sIldHeh heiss* 
blttlige Tyrannen^) oft bis snm Dimonischen fbrähtbar, wie im 
18. Jahrhundert Ezselino da Romana. Selbst der Handel Italiens 
hatte nicht den Segenszng des niederlftndif=!chen, bld dem zumeist 
Produkte eigenen ehrenwerthen Fleisses in Geld umgesetzt wurden, 
während Italien mehr die kostbaren, aber bedenklichem Luxus will- 
kommenen Produkte frenuler Welttheile. die Perlen der indischen 
Meere, die Edelsteine, die (lewürze und Soidenstot^V des Orients, das 
Elfenbein und die Straussfedem Afrikas, herbeizuschaffen bemüht 
war und Wucher und Oeldgeiz den eifernden Predigern oft genug 
GelegenhMt an Strafreden gab. Die Baukunst gedieh, die Maler« 
blühte in Florenz und Siena wunderbar auf; aber die Tonkunst fend 
vorläufig nicht die ruhige StStte, deren sie zu ihrer Entwickelung 
bedurft hätte. Damm geschah es, dass bei dem steigenden Kufe 
der niederländischen Musiker diese bald genug auch nach Italien be- 
rufen wurden und die nachmals so bedeutend gewordenen Schulen 
Venedigs, lioms u. s. w. auf niederländische Gründer zurückzu- 
führen sind. 

England war nach dem Tode Eduard III. der Schauplatz 
heftiger Unruhen und wilder Kämpfe. Deutschland wurde durch die 
heftigen Streitigkeiten der Kaiser mit den Plasten (bis auf Ludwig 

▼on Baiem), die Parteinahme der Fürsten, die Interdicte und was 
sonst die Folge davon war, und ausserdem durch mancherlei Local- 

bedränp:nisse beunruhigt; dazu kam 1348 das grosse allgemeine 
Uebel, die fürchterliche Seuche des schwarzen Todes, welche ganz 
besonders in Deutschland die Oemiither bis zum Wahnsinne er- 
schreckte, dass Schaaren verhüllter (ieisselbrUder, fanatischer Bnss- 

1) Als charakteristische Schilderung dieser Mensühenart mag man iq 
A. Keumont's „itaL Studien" die „Herzogin toq PaliaqQ" lesen. 



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Der ausgebildete Tonsatz. 



403 



prodip^erund Propheten das Land durclizogcn, ein Jeder das Ende der 
Welt erwartete. So blieb der Musik in Europa kein ruhiger Winkel 
vergönnt als die Niederlande. Wie grogs das Ansehen der Nieder- 
länder als Musiker war, beweist das ausserordentliehe Lob, welcbes* 
ilinen ein Italiener, der florentiner Anibassador Lodovieo (4nic- 
ciardini, in seiner Beschreibung der Niederlaude (155<i) i«|H'udct: 
„Die Belgier*', sagt er, „sind die wahren Vontelier der miisika- 
iischen KmiBt, die sie sowohl begrttndet als inr höcbgten 
Vollkommeolieit auBgebildet heben. Denn sie ist ihnen so 
natttflich und gleichsam an^eVH)ren, dass HXnner und Frauen 
Munmen nicht allein auf das Zierlichste, sondern auch harmonisch 
eine ganz richtige Musik von Natur singen, und da zu dieser ange- 
borenen Anlage nachmals auch noch die Ausbildung der Kunst sich 
gesellet hat, so liaben sie sich zu jenen l^eistungen der VtK-nhnusik 
sowohl als der Instrumentalmusik emporgeschwungen, von denen 
wir sie tagtäglich Proben ablegen sehen, so dass sie mit Recht an 
allen Httfen christlicher Fürsten eine ansgeseichnete Stelle ein- 
nehmen und hoehgehalten werden^ ^. Die ttberraschende Meister« 
schafl, mit welcher die Tonsetzer der ersten niederländischen Schule, 
ein Wilhelm Dufay, Eloy, Egidius Binchois, Vicentius Faugnes, 
sogleich auftreten , setzt eine vorhergegangene Epoelje eil'riger 
Kunst und Uebung in den Niederlanden voraus, welche unverkenu- 
barmit der französischen Singekunst in einem nicht blos äusserliclien 
geographischen, sondern in einem inucrn geistigen Zusamnienliaii<;e 
stand. Der französische Poet Martin le Franc nennt die beiden 
grossen Meister der ersten niederlKndischen Schale Dnfiiy nnd 
Binchois in einem Athem mit drei Dichantenrs Tapissier, Carmen 
nnd Cesaris, über deren Knnst gans Paris ausser sich war. In 
diesem Sinne verdient jene von lÜesewetter als altfranzösisch be- 
zeichnete Chanson „mais qn*il vons viengne a plaisancbe,'* welche 
Fürstabt Gerbert nach dem in der Sammlung des Georgsklosters zu 
Villingen befindlichen Original in der ursprünglichen Notirung publi- 
zirt und Kiesewetter seiner Musikgeschichte beigegeben hat, ein 
höchst schätzbares Denkmal zu heissen. Sie und die Chansons von 
H. von Zeeland beseichnen den Uebergang von der roheren Kunst 
eines Jdhaa Lescnrel n. s. w. tu der ansgebildeteren, wie sie schon 
in Wilhelm Dnfay*s Jugendarbeit, der noch schüchtern behandelten 
Chanson ,jeprends congi", su finden, von wo, in dem hochbe- 
gabten Di^ajselbst, ein weiterer Weg snr geklXrten und gereiften 

1) Qnesti sono i veri maestri della musica, e qnelli, che l'hanno ristao- 
rata e ridotta a perfpzziono, pcrche Tliaiino tanto propria e nafiiralo, che 
haomini e donne cantan' naturalniente a niisuru^ con graudlBsima gratia e 
melodia, onde havendo poi congtnnta Farte alla natura, fanno e di voce, 
e di tutti gli stroinoTiti quella provn. e barmoiiia. ehr- si vcde c ode, tal 
che se ne trova sempre per tutte le corti de' principi chrisUani (Gnio* 
oiardini, Desoriiione di tutti i paesi baasi. Antwerpen 1556 und IMl). 



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404 



Die Entwickelung des nehrttinmigeii OesMigei. 



Kunst der späteren Chansonn Diifay'« und seiner KunstgenoBsen 

Kircheiistückc führt. 

Was aber voHoiiHh merkwürdig lieisson darf, i'^t dvr Umstand, 
dass die Kunst jener Ucborgängc von dem halbbarbarisclien Dechant 
zu eiiii in frer«'p:<'lten Tonsatz in Frankreich und den benmlibarten 
Niederlanden wie in Italien (Florenz) ganz genau dieselben Foria«u 
annahm. Die Anlage der Chansons des H. de Zcclandia wie des 
Flormtiners Francesco Landino (und so anch jenes anonymen 
,,niaiB qa*il vons") ist eine von der Dufay-Ghanson, welche dann 
auch fsät die folgenden Meister Muster und Vorbild blieh, wesent- 
lich a)>weichcnde. Die Hauptmelodie liegt liier niebt im Tenor, 
sondern in der Oberstimme; das Lied gliedert sich in eine pars 
prima und pars senmäa, bei U. de Zeelandia selbst noch in eine 
pars teriia, während die neuere Clianson mit sehr wenig Aus- 
nalnnen, wie z. B. Jajiart's ,,Joier mi fault uiiy carjientier ," wo 
der erste Theil zu wiederholen ist, in einem Zuge durchgeht; ferner 
wird zuweilen der erste, öfter auch der zweite Theil wiederholt und 
awar mit jedesmal geindertem Schlüsse (Wiedeiholnng mit prima 
und aecanda vaUa, bei den Italienern jener Zeit genannt „chinso**, 
bei H. de Zeelandia „daus.** d. i. dansura). 

Die Chansons sind sämmtlich noch mit der alten scbwar/en 
Note geschrieben, zeigen aber eine bereits sehr ausgebildete Men- 
surirung mit Anwendung der fein distinguirenden Regeln über 
Ligatur, ImperHzirung und Alterirung, des Tempus und der Prola- 
tion (die Mittelstimme der anonymen Chanson ist in ju-rtecter Pro- 
lation gesetzt, alle drei Stimmen im jierfecten Tempus), der Synco- 
patioD und Cadenzirung. Die Harmonie ist zwar noch völlig ohne 
Gestalt und Schöne, aber sie zeigt bereits eine sehr bestimmte Ah- 
nung des Wahren und Sichtigen und nähert sich dem Standpunkte 
untadeliger Reinheit, wie denn fehlerhafte Quinten und Octaven 
bereits vermieden werden. Die im Contratenor der anonymen 
CSumson und des Liedes Poche perltet von H. de Zeelandia vor» 
kommende Manier des in letzterem Gesänge gleichsam ostenziös an- 
gewendeten Ochetus, welche schon Dufny als obsolet aufgab, zeigt. 
ne})st der im Vergleiche gegen Dufay's Kunst noch unbeholfen zu 
neniK'iidon Satzweise, dass hier Werke etwa aus der zweiten Hälfte 
des 14. Jahrhunderts vorliegen, diu unmittulbareu Vorstufen der um 
1400 pldtalich und mit so ausgebildeter Technik des Tonsataes 
auftretenden ersten niederlftndischen Schule. 

Ob man nun diese Kunstweise als spAtftanaOsische hochausge« 
bildete D^chantirkunst oder als frühniederländische unausgebildete 
Contrapunktik anzusehen hat, wird freilich zweifelhaft heissen 
müssen. Die Sprache in den südbelgischen Provinzen (die in 
gleichzeitigen Schriften oft als Gallia bezeidmet werden, wie die 
Niederländer in Italien damals auch Galli genannt wurden^ war 



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Der «Mgebfldeto Tonstts. 



405 



neben dem Vlnemischen auch in Hennep^au, Bur^md u. s. w. sopar 
vorwiegend und selbst ausschliessend die französische, wie ja eben 
bei Mischvölkern solche Drtjjpcllandessprache vorzukommen pHep:t. 
Es ist nun sehr bemerkeuswerth, dasa II. de Zeelandia Lieder mit 
franiOsifleheii wie mit ▼lAemiseken Texten bearbeitet hat: Por roas; 
Tut plus bas boye; FUrs de May; Je langois; Poehe pertiet; — 
Hya heil mjn Trost; De molen bej Paria; Ic prise altoea geataden- 
helt; Vaer rouwe in dander huyas; leb aaeb den may met bloemen 
benaen; Eon meysken dat te werbe gaet. 

So ist in frlricher Richtung der Umstand höchst merkwürdig, 
dasB die Melodie i^der Tenor) jener Chanson, welche Dufay mit dem 
französischen Texte, , je prends conp;^ de vos amours" bearbeitet 
hat, in den sogenauuteu Öoutcr liedekens ^) mit der Textbezeichnung 
„ick seg adieu wy twee wy moeten scheyden'% also mit vlaemischen 
Worten vorkommt, (es ist dort der 65. Psalm unterlegt: , jubilate 
Deo omnis terra" oder wie es in der Uebersetinng helsst; „TroeUk 
en bly loeft'*), und eben dieser hier allerdings schon im Sinne der 
neueren Kunst stark umgebildete Tenor findet sich mit demselben 
vlaemischen Texte im zweiten Theile des Ausbundes schöner teut- 
scher Liedlein" von G. Förster (Nürnberg 1565) in einer guten Be- 
arbeitung eines un}!:enaunten Tuusetzers (No. XXVII. «h'r Samm- 
lung). Die kuustreiche Heimverschränkung der anonymen ( 'hanson 
deutet auf Troubaduurpoesie, dagegen deuten des H. de Zeelandia 
Textanfitnge (mebr ist im Codex leider niebt gegeben) ebenso nn- 
▼eriiennbar anf Volkslieder. Aucb in den Melodien ist der eckte 
Klang der Volksweise gar wobl in erkennen. H. de Zeelandia 
(voraust^esetzt, dass er der Componist der seinem Tra( tat beigege- 
benen Lieder ist) weiss übrigens auch mit dem vierstimmigen Satze 
ganz wohl umzupjehen, er filgt dann den drei Stimmen eine als 
Oontratenor oder Altus bezeichnete vierte hinzu ^). Eine zwei- 
stimmige Chanson, in deren Ob«r«titnme die Volksmelodie besonders 
klar hervortritt, map^ hier als Probe seiner Kunst eine Stelle linden: 
Een mcyskeii dat te werbe gaet. 

Pritn». 

1) Diese Sammlunff erschien bei Tylman Susato in Antwerpen. Es 
werden darin beliebte Volksweisen mit dem unterlegten Texte dwnalmen 

in vlaemischer Uebersetzunp: zum (Jebrauche der Andacht zurecht ge- 
macht. Man sieht, dass es kein blosser burlesker Einfall ist, wenn Shake- 
speare seinen FallstafT sagen lässt: „Das passe zusnmmen wie der zwei- 
und zwanzigste Psalm zur Melodie vom grünen Aenn« ! 

2) Bei dem Liede Vaer rmive findet sich die Bemerkung: ' 

Tenor faciens contratenorem altL 

Altum duobus tsmporibus suis reddo. 
Es ist also seliou hi* r • ine jener Devisen su fiudmi, die i^iter eine so 
vielbeliebte Sache wurden. 



406 Die Entwiolcelmig det melintüiimigm Oeniiget. 



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Tertia pars 



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Scda. pars 




T«itia pan 







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Dar aaigabadaU tooHtt. 407 
(Oodas dw Png«r PijMiJllliliiMiothek.) 



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Ben Meyaken d«t te w«rbegAet: eto. 



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408 



Die Bntwiokehmg das mehntbrnnigeii GtonagM. 



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Tertia pars. 



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3— ^B^A. 




oi^ea 







1 



2x 



Anmerkung: Die frühere (Jebcrtraguag dieses Stückes litt an 
cinieliieii Mangeln tind WUlkOhrlichkeiten, aaaMntlich in rhythmitehar 
Beziehung. Es ist daher hier eine einfiudiere und aberrichtuchen g»> 
geben worden. 



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Dar uigebfldete Tomatz. 



409 



Jene Chanson „mais qu'il vous viengne" ist übrigens ungleich 
erfreulicher. Die ganz muntere Melodie im Discantus ist llber- 
raschend woiilgegliedert und fliesbend^), auch die Harmonie ver- 
bältnissmässig besser, entwickelter und immerhin anhörbar. Be- 
sonders interessant ist es aber, dass einzelne Wendungen der Haupt- 
melodie iteUenweiie dir die andern Stimmen das Motiv geben , so 
daas sieh da nnd dort Ansitae m wirkUehen Nachahmungen zeigen^. 
Der Gebrauch der Dissonanaen ist aneh schon ein geregelter. Sie 
erscheinen im Durchgange und so, dass sie in der Regel nur die 
Dauer einer Minima (nur zweimal einer Semibrevis) ^) haben. Auch 
die zum Schluss beider Theile gleichartig vorkommende syncopirte 

Cadenz jjj^ jj j ist hemerkenswerih. Der Vorhalt der Quarte 

vor der Terz, wie er bei dem wohl nur wenig .späteren Dufay schon 
mit ToUer Sieheiheit angewendet wird, ist Uer einstweilen eine 
noch unhekannte Sache. 

IndenArheiten dea Componiaten der eben erwlhnten Chanson, 
in jenen des H. de Zeelandia u. s. w. steht die fertige Knntt der so- 
genannten ersten niederiXndischen Schule, deren Hanptvertreter 
Wilhelm Dufay ist, schon vor der Thüre, So lange die Kunst des 
Musikers auf der mechanischen Organumsingerei und dem Faux- 
bourdon, auf dem schon aur^ebildeteru Discantisiren und dem be- 
reits eine bedeutende Uebung und Geschicklichkeit erheit^chendeu 
Cantus supra librum beruhte, so lange die mehrstimmig vorge- 
tragene Antiphone oder Messe ein auf den Cantus ftrmut gehautes, 
im Moment entstehendes und verwehendes Produet der Impcovi- 
aation war, konnte natürlich von eigentlichen Componisten und 
Compositionen keine Rede sein. Der Musiker war ein Diener des 
Angenblieka, ilun „flocht die Nachwelt keine Kränae" nnd er machte 



1) Man sehe die aymnietriache, sequenzartige Wiederholung der 
Phrase zu Anfang des zweiten Theils. 

2) Im zweit rti Theile ist im Bass eine Lücke von zwei Takten, wie 
SS in Kiesewetter's Entziffenuig auch bemerkt ist. (Bei Heissmann ist sie 
angshOriff mit Pkosen aaigef&nt; überdies der Oontratenor mit dem 
GeigeDMOlüssel statt des Timorschlassels [oder, wie das Original hat, 
mit dem F-Schlüssel auf der zweiten Linie] geschrieben!) Jene Lttcke 
wäre vielleicht so auszufüllen: 









1 tü ■ 1 







h-rd 





IB) Tiaetoris will der Dissonant nur die Dauer einer Minima sn- 

ffestanden wissen. Seine und seiner Nachfolger Auffassung über das 
Wesen der Dissonanzen geht dahin, dass man sie gleichsam einschmug- 
geln und möglichst schnell vorüberführeu müsse. Mehr darüber an ge- 
Eoi%sr Stelle. 



410 



Die Sntwiekelinig det meliniimmigen Oeiangei. 



selbst 80 wenig Ansprüche in die Annalen der Unsterblichkeit ein- 
pretrapou zu werden, als etwa der Mönch, der zum Kirchenfeste 
des Klosterpatrons die SSulcn und Altäre der Kirche nach bestem 
Geschmack mit dem wieder abzunehmenden Schmuck von Blumen- 
gewinden und Teppichen bestent henasputste. HVchstens hallte 
dem Singer das £eho eines eigentlich inhalüoaen Rofes Ton be- 
sonderer Geschicklichkeit nach, wie der Poet Marlin le SVaae Jenen 
vorhin genannten Dt'chantenrs Tapissier, Carmen und Cesaris 
Mn Andenken gesichert hat, wobei wir freilich nichts erfahren als 
dasf ganz Paris über sie erstaunte („qu'ils esbahirent tout Paris"). 
Etwas Bleibendes konnte der Welt eigentlich nur der traktaten- 
schreibende Musikgelehrte, allenfalls der Erfinder einer neuen in 
den Kirchengesang übergehenden Sequenzmelodie hinterlassen. Das 
war der Zustand der christlichen Musik bis fast 1200 Jahre lang 
nach ihren ersten Anfilngen. Wir beiitien ans dieser so langen 
Zeit eigentlich gar keine mnsikalischen Knnstdenkmale, weil in 
der That keine ezistirten, sondern alle knnstv'olle oder fllr kunst- 
voll geltende Musik im Momente entstand und verschwand und 
keine Spur znrückliess als die Traditionen der Praxis. Das Feste, 
das Dauernde im "Wechsel" war eben nur der CatUus finnus, der 
unantastbare Schatz Gregorianischen (resanges, ein wahrer unver- 
rückbarer Felsen Petri, den die zerfiiesseuden Wellen jener im- 
provisirteu Contrapuuktik umfiuteten. 

Zeigen sieh nun im 13. Sienlnm sehflehteme nnd toheyenneiia 
einer schriftlichen Ausarbeitung mehrsümmiger Slllse, gewinnen 
sie allmXlig mehr Halt nnd Gestalt, so beginnt mit der iweiten 
HSlfte des 14. Jahrhunderts eine erstaunliche Entwickelung: statt 
▼ereinselter, planlos da und dort anftanchender, mehr oder minder 
gelungener Verstiohe, statt der vergehendon Improvisationen ]>er- 
sönlicher Geschicklichkeit sehen wir gegen den Anfang des 15. Jahr« 
> hundcrtö hin ordentlich gearbeitete Compositionen (die „res facta**, 

wie sie Tinctoris im Gegensatze zum Cantus supra librum nennt) 
entstehen, wir seheui wie sich die niederländischen Tonsetser au 
einer förmlichen Schule eonsolidiren, welehe in der Gtotehichte der 
Tonkunst mit dem Namen der ersten oder ftlteren niederlCndi* 
sehen Schule bezeichnet su werden pflegt Sie nimmt ihren Aus- 
gangspunkt gleichmttssig vom weltlichen mehrstimmig behandelten 
Liede und vom Gregorianischen Gesänge. Wir begegnen zum ersten- 
mal e den Compositionen zahlreicher Messen, Arbeiten, in denen sich 
eine so bedeutende Kunstbildung, eine so entwickelte Technik des 
Satzes, eine so sichere Behandlung der Stimmführung zeigt, dass 
mau von hier aus eine neue Aera der Kunstgeschichte datiren muss. 
Der Tom weltlichen Liede genommene Ausgang wirkt auch 
noch und swar in der bedeutendsten Weise in dieie Gompoii- 
tionen einer höheren Ordnung htnein, und de haben dadoich 



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Der »nigvbildflto Toimfti. 



411 



eine Richtung erhalten, welche bis selbst in's 17. Jahrhundert 
hinein nacliwirkte. 

Es ibt eine allbekannte Thatsache, tlass die Niederländer 
selbst für ihre grossen, sorgsam mit allem Aufwände der für die 
Kmift cUunali ^ponibeln Mittel dmehgefllirteii Messen sehr oft 
popnlttre weltliehe Lieder snr Ornndlage nahmen, deren Text- 
anffinge dann der Messe den oft sehr sonderhar klingenden Namen 
liehen. Im Qmnde war aber an solchen Messen nichti anitttssig 
als die Benennung. Die Melodie des Liedes im Tenor verschwand 
zwischen dem contrapunktischen Aufbau, den der Componist in den 
übrigen Stimmen rings um sie her aufführte, selbst wo djis Lied 
wie in Dufay 's Kyrie über das Lied ,,Omme anne" oder Taut je me 
deduis'' unverändert beibehalten wurde; um so mehr, wu der Gum- 
poniat dnreh angmentirende Ziehen oder durch grosse Noten die 
Liedennelodie ausdehnte, sie dorch Pansen unterbrach u. s. w. Der 
Tenor war hier gleichsam nur der Holsreifen, hestimmt den darum 
gewundenen Blumenkrana snsammenzubalten, oline seihst sichtbar 
SU werden. In der aweiten, nach dem berühmten Meister Okeghem 
benannten Schule wurde dann allerdings dem Liedmotive als 
solchem mehr Wichtigkeit beigelegt. 

Sch(jn bei den Meistern der ersten Schule wird jenes epoche- 
machende Lied „Omme armd*' als all beliebter Tenor eingeführt, 
Uber welches nicht nur Dnfay, Faugues, Caron, Busnois, 
Begis, simmtlich Meister aus den Frtthaeiten der Kunst, Messen 
componirt haben, sondern aneh gegen Ende des 15. SKculnms der 
Theoretiker Tinctoris, die Meister der zweiten Schule Mathurin 
Forestier, Matthias Pipelare, de Orto, Josquin de Pr^s 
(eine Messe super voces musicales und eine zweite Sexti toui), 
Pierre de la Rue (unverkennbar mit .Tosquiu's iibennüthigem Vir- 
tuosenstück der M. Omme arm6 sup. voces mus. wetteifernd), lioy set 
Comp^re; femer der Spanier Cristufano Morales (zwei Messen 
Bu 4 und 5 Stimmen) Vacqueras, selbst noch Palestrina, der in 
•einer Omme aim^- Messe seine Tolle Vertrautheit mit den Nieder- 
linderkttnsten' bewies; endlieh macht gar noch nrZeit der Gompo- 
sitionen mit massenhafter StimmenhSufung Giacomo Carissimi 
mit einer zwölfstimmigen Messe den Besehlnss. Das Archiv der 
pSpstlichen Capelle besitzt alle die vorgenannten Compositioneu 
und ausserdem noch zwei Messen gleichen Titels von nicht genann- 
ten Tonsetzem, wovon eine sicherlich dem Franchinus Gafor 
angehöi-t, da er selbst erzählt eine solche Messe den Sängern 
Leo X. gesendet zu haben Auch Anton Brumcl, der würdige 
Genosa Josqnin't und de la Bae% hat eine Messe Uber den nnver- 



1) » . . . ttt in tenors aosiro Chief/laMS dUm pro nahia et primi 
Agnm V» de nusia oinnm armi et in tenore Oiafiaa de missa Mutti ' ; 



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412 



Die Botwiekelnag des mehntimmigen Oeeaoges. 



meidlic'lifii Oimne aniK; componirt («ie lindet sich in seinen 1503 
bei Pctrucci gedruckten Messen), und von Jakob Uobrecht be- 
sitzt die Wiener Hof Bibliothek eine vierstimmige ungedruckt ge- 
bliebene Messe gleichen Titels^). Noch nicht genug: Johann 
Japart, der Zeitgenosse Joeqnin'^ findet bei Bearbeitung des Liedes 
„n est de bone henre ne'S dass der Omme ann^ als vierte SUmme 
und uls Bass vortrefflich dazu passt, und ermangelt nicht die £ait- 
deckung zu einer eigenthümlich geistreichen, sinnig combinirten klei- 
nen Composition zu benützen Desto auffallender muss es heissen, 
dass sich der Omrae anne nirgends als selbstständiges weltlitli 
bearbeitetes Lied findet, während sonst von den zu Messen be- 
nützten Liedern meist auch weltliche Bearbeitungen vorkommen, 
öfter sogar mehrere über dasselbe Lied. 

Eine sweite Gattung von Messen bildeten jene» welche über eine 
Hymne oder eine Antiphone componirt wurden; sie waren minde- 
stens ebenso sahlreich als die Messen fiber weltliche lieder. Schon 
in der ersten niederländischen Schule finden wir die Messen ecc9 
ancilla, dixentnt disciptUi u. a. m. In Messen dieser Art seigt tu- 
weilen selbst auch der Text eine wunderliche Vermischung des 
fremd on und des Messtextes, doch nur im Tenor, nicht in den 
anderen Stimmen. Schon bei Dufay, dem bedeutendsten Meister 
der ersten niederländischen Schule, finden wir in der Messe Ecce 
ancilla JJomini ein seltsame« Gemenge dieser Art: ,,Beata es, cruci' 
fixus etiam pro nobis Maria, quae credidisti, perfiekniiir in te, 
(juae dida sunt tibi a Dmüno, Jüduia**,' Das letste AUeluia trifft 
mit dem „et^ regni non erü fhiW* der anderen Stimme susammen. 
Oder: „Beaia es Osanna qua« credidisti in excelsis*^ Auch das 
Kyrie einer dreistimmigen Messe von Egid Binchois (im Besitze 
der k. BibL zu Brüssel) ist mit solchen ESinschubphrasen (Farcituren) 
ausgestattet. 

Die Sonderbarkeit über weltliche Lieder geistliche Musik zu 
componiren ist nur dadurch erklärlich; andererseits aber auch der 
stärkste Beweis, da.ss sich die Kunst einer solchen Verarbeitung zu- 
erst im Dienste geselligen Gesanges an weltlichen VolksUedem be- 
thitigte, ehe sie in die Kirche eindrang« Ein äusserlicher Beweis 
för das höhere Alter der weltUchen mehntimmigen C^esellschafts- 
lieder ist auch die noch schwarse Kotirung der ältesten erhaltenen 
Arbeiten dieser Art. Die Niederländer hatten von jeher viel Sinn 
für Hausmusik, för Qesellschaftsconcerte. Das Einaige, was daf&r 



»rmcepx atquo in tenore secundi Agnus de missa h souvenir, quaa cele- 
oerrimis oantoribus Leonis decimi Pontificis Maximi misimus, pernotatum 
est. (Fraaddniis (Hfor, Apologia adv. Josanem Spatariam.) 

1) Codex N. 11883. 

2) Canti cento oinquanta fol. 79. I>er Bass ist ausdrücklich mit 
,,Lome arme" beseiohnet. 



Der ftvagebildete Tonaats. 



418 



aufzutroihen war, hostand eben nur in beliebten weltlichen Liedern. 
Dariihcr einen (Tesanp: ,.snf)ra lihrvtn" zn improvisiren, wäre den 
immeriiin kunstgeiibten (ie.sanf^lVeuiiden doeli eine zu schwere und 
zu wenig ergötzende Aufgabe gewesen; hier niusste die lies facta, 
die gwchriebene Composition aushelfen. Von dem angeborenen, 
von Guicciardini gepriesenen glücklichen Talente unterstützt, führte 
man in heitern Gesellschaften, in den Salons, wie wir nach heutiger 
Weltsittc saften müsstcn, künstliche polyphone Sinp^stücke aus und 
freute sicli, sowohl den bekannten und beliebten Liedern in einer 
80 preist reichen Markimng zu begegnen als die eigene Geschicklich- 
keit daran zu beweisen, wobei sich, «'cht niederländisch, keiner 
auf Kosten des andern vordringlicli erwies, sondern alle fiir einen, 
einer für alle einstanden. Nicht einmal die r^riipott-iiz. welche die 
Oberstimme durch Zuweisung der bekannten Melodie erhalten hätte, 
liess man su; die Volksweise lag im Tenor, jede Stimme war gleich 
wichtig und keine davon blosse Begleitmig. 

Als sich diese Singemanier, ^as ohne Zweifel sehr bald ge- 
schah, die allgemeine Gunst erworben, wollte man dergleichen 
statt des armseligen Fauxbourdons oder des doch immer nur auf gut 
Glück auszuführenden improvisirten Contrapunkts auch in der Kirche 
hören. Die Tonsetzer, p^ewohnt weltliche Lieder zu verarbeiten, 
nahmen solche auch für ihre Messen; sie mochten ihnen für die 
neue Con» positionsweise handlicher und sogar oft zweckmässiger 
scheinen als die Sequenz- und Prosamelodien des Kirchengesanges, 
auch hatten ja die schon früher in Frankreich zu Ritualmelodien 
„eingezwängten gemeinen Tripeln und Motete" an AehnUches ge- 
wöhnt Anstoss daran zu nehmen fiel vorläufig Niemandem ein, 
80 wenig als es einem Menschen in ganz Gent einfiel darüber 
Lärm zu machen, dass auf dem weltberühmten Flügelaltare mitten 
unter den Bildern der Heiligen und Engel höchst gemüthlich der 
wohlbekannte Herr Jodocus Vyts mit seiner Frau Lisbettc (als 
Donatoren) knieten und ihren Theil Verehrung mit in Emi»fang 
nalimeii. Der Niederländer mischte sich und sein eigenes derbes, 
kerngesundes Leben ganz unbefangen unter das lieilige, und es 
erregte nicht das geringste Bedenken, wenn auf dem Bilde eines 
Flügelaltars Maria den Gruss des Engels in einer säubern 
niederländischen Stube entgegennahm, Christus von Pilatus vom 
Sdller irgend eines niederltodischen Rathhauses herab dem Volke 
vorgestellt wurde, oder wenn er das Mahl zu Eniaus in einer echt 
niederländischen Taverne einnahm. Ist es dann ein Wunder, wenn 
das Volkslied eben so naiv und unbetangen auf den Kirchenchören 
Platz nahm, ohne dass ein Bischof oder Erzbisehof trotz jenes 
Decretals des Pajistes Johann XXII. etwas dareinzureden fand? 
Der Werth der Comp(»sitionen, der Kuf der niederländischen Mu- 
siker bahnte dieser Art Musik den Weg auch bis selbst in die 



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414 Die Eniwickelang de» mehniimmigen GesangM. 

päpstliche Kapelle, wo man veminthUeh Einspraehe erhoben hKtte, 
wenn die neue Manier dort snerst ihre Versnehe hStte anstellen 
wollen, statt als «n Fertiges und Anerkanntes mit den nieder* 

iXndischen SKngern über die Alpen herttberzakommen. 

Hier, in iler pftpstUchen Capelle, haben die Niederländer jene 
echte hohe Kirchenmusik ausbilden helfen, die auf ihrem Gebiete 
bis heute unübertroffen ist. Schon in der ersten niederländischen 
Schule xejf^en sich die zukuut'treichen AnOiuge des Styles, den man 
als Stile da Cappella zu bezeichnen pflegt: ein Styl, der nach 
einer beinahe zweihuadertjährigen Entwickelang seine höchste 
VeiklMrung in Palestrina gefhnden hat, nm sodann bald genug 
von einer gans nenen Tonkunst, wesentlieh weltliehen Ur- 
sprungs, verdrängt zu werden. 

Von Wilhelm Dufaj, dem glänzenden Morgenstern der ersten 
niederländischen Schule, zu Palestrina geht jene stetige Entwiche- 
lung in einer Reihe edler Meister und bedeutender, selbst herr- 
licher Kunstwerke; sehr analog wie gleichzeitig auf dem Gebiete 
der Malerei eine ähnliche von den alten floruQtiQer und sieneoser 
Malern zu Raphael Sanzio geht. 

In den Weiken dieser Sehule tritt endlldk eine ▼ollslladig 
ausgebildete Kunst henror. Es ist kein Widersprueh, wenn im 
Einseinen vielfach Befangenes und Unentwickeltes nachsaweisen Ist, 
und wenn diese so eben als Tollständig ausgebildet bezeichnete Kunst 
doch seihst erst wieder nur als der Anfang einer fast sweihundert 
Jahre dauernden Entwickelung erscheint. Vollständig ausgebildet ist 
sie in dem Sinne, dass die ihr angehörigen Tonsetzer nicht mehr 
tastend und experimentirend nach den Gesetzen der Kunst suchen, 
sondern im vollen bewussteu Besitze der Kunstgesetze das ihnen 
entsprechende Kunstwerk an seheifon vermögen, ffier treten snm 
erstenmale Musiker auf, die nicht Seholastiker, nicht Aknstiker, 
nicht Mathematiker, nieht Arehiologen, sondern witkliehe Kttnstler 
sind. Daher haben sie auch Arbeiten geliefert, welche den Rang 
giltiger Kunstwerke fUr alle Zeiten einnehmen Es ist in diesen 
Arbeiten, bei noch knospenhaft unentwickelten Formen, eine 
eigcnthümliche Holdseligkeit, etwas, das an Rosen wangen und 
Blauaugen aufblühender Mädchen erinnert. Auf ihrem (lebiete ist 
diese Schule ein SeiteustUck zu der gleichzeitig und ebenso plötzlich 
hervortretenden Cölner Mnlerschnle, deren vorwiegenden Charakter 
Kngler im sich aussprechenden ,Jdealismns** findet Idealismus 
ist der Gmndzug auch Jener Tonwerke. 

Der Tonsats beschrSnkt sich snweilen noeh auf die alter- 

1) Kiesewetter (Gesch. d. Mus. ä. 4Ü) will eben auch nichts anderes 
sagen, wenn er in seiner mhigen Weise heraeikt, dass man die Oompod- 
tionen dieser Schule „noeh heute ohne Anstois, ja mit Wohlgefallen hören 
kann": den Arbeiten einet Do&y gegenflber allerdings ein etwas kObles Ijob. 



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Der anigelrildete Tonaati. 



415 



thümliche Anordnung in tlriü JStiiniiit ii, wo sirli über floii f^cfi«'- 
bt-nen Tenor eine höhere Stimme f'iSV /e/V'iv^ unter ihn eine (irund- 
htimme (Basis) stellt, oder wo sich diese zweite (i egenstimme 
swisehen den Tenor und die OboBtimme als Gontrnfcenor einschiebt 
(Messe Omme ann^ von Fangaes, Messe von Bt:ichois, eine Anzahl 
weltlicher Lieder von Dnfay u. s. w.). Ins^raein aber tritt der 
Sats vierstimmig anf Fiinfstimmige Compositionen sind scltcnert 
in solchen erscheint der Tenor als Spruchsatz, der ir^rond einen 
eigenen Toxt und Satz immer wiederholt. So singt bei Eloy der 
Tenor durch eine pranze Mess<» dieselbe Notenphrase mit dem Text« 
„Dixerunl discipuli" in Ilaltenoten , während die anderen vier 
Stimmen in bewegterer Satzweise contrapunktirend den Ritualtext 
der Messe Kyrie u. s. w. hören lassen. (Dieselbe Anordnung bo- 
hUt noch Jacobns Barbirean [starb 1491] für seine streng altei^ 
thttmliche fiinfstiininige Messe „virgo parens Christi** bei.) Zur 
Abwechslung Icommen im Verlaufe eines Iftngeren Werkes auch 
wolil zweistimmige Theile, Sätze y^duarum uocim" vor (das eine 
Agnus der Messe Ecce ancilla Domini von Dufay). Die Compo- 
sitionsweise ist streng diatonisch über den Gregorianischen Gesang, 
sie bewegt sich daher in den Kirchentonarten. Uiernuch bezieht 
sich der Gesang auf die vier Finaltöne D, E, F, G, wird aber 
auch mit Beibehaltung der Tonreihe auf die Oberquarte transponirt, 
statt D E F0 auf G Ä B C mit einem voigeseiehneten b (CatUus 
mcüis)* G^esXnge ttber die Tonreihe von A und C kommen andi, 
aber seltener vor. Bei der auf O belogenen Tonart wird , wenn es 
Unterscheidung vom transponirten C und Kenntlichmachung des 
Myxolydischen gilt, nebst dem auf die sweite Linie gesetzten 



G^BchlUssel auch noch das b auf die fUnfte Linie gesetzt 

Dnfaj's Messe „Taut je me deduis**). Wird im Laufe eines Ungeren 
Stttckes vorabergehend eine andere Tonart berOhrt, so ist es immer 

eine solche, die auf einer der diatonischen Stufen ihren Sita hat. 
Oft ist die Wendung von Dreiklang zu Dreiklang von frappant 
feierlicher Wirkting. Der rielitige Gebrauch der znfallijr<'n Er- 
höhungen und Kniiedri^nnpren (Accidentien) ist dabei von irmsser 
Wichtigkeit. So liui^n- der Gregorianische Gesang im Kiiiklan<re 
gesungen worden, konnte die allerstrengste Diatouik mit starrer 
Consequenz festgehalten werden. Im mehrstimmigen Gesänge war 
solches nicht m9glich| ohne das Ohr durch widematttrliche Zu- 
sammenklMnge unertrXglich an beleidigen^, Man griff sa dem 

1) Schou Elias Salomouis hielt den Satz zu vier Stimmen für den 
wahren, wesentlidien; doch ffeht er darin sn weit, dast er den Satz ver- 
ficht: ein mehr als vierstiimiii^nT Gesang sei gar nicht möglich (Man 
sehe die betrefifenden Stellen bei Gerbert Soriut 3. Bd. S. 58). 

2) Das uatilrliohe Urtbeil des QehOres wurae keineswegs onterschfttzt. 




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416 



Die Entwickelnng des mebrtiimiaigen GmogM. 



Auskunftsmittel der Musica ficfa, und dasssit' den Meistern der ersten 
niederländischen Schule etwas Gewohntes war, beweisen die zwar 
nicht häufig aber doch in einselnen Füllen im Laufe eines Tonaataes 
an sweifolhaften Stellen ansdrücklich beigesetsten Zeichen^). Da- 
gegen wurden bei Cadensen die Erhöhungen stillschweigend vor^ 
auKgeHotzt nnd nie ausdrücklich vorgeschrieben, ebenso wenig das 
fa (hei h und e\ wo es sich nach der allgemeinen Regel von 
selbst verstand. I)erp;loiclien fi^alt als löbliche, ja uncnthchrliche 
Praxis, wie sie der tüclitif:;'o Siiiif^er immer haben musste '*). Pietrn 
Aron, der lu riiiinite Florentiner, der freilich einer bereits fort^^fe- 
Bcliritienen l^pothc an^M-liört , kommt in dem Anhange (agginvta) 
der zweiten Auflage seines Toscanello (erste Aufl. 1523, zweite 1539) 
darauf zu sprechen. ,,Gott lasse uns'', sagt er, ,,uachdeni er uns 
im Allgemeinen geoffenbart was gut und was böse sei, im Einseinen 
die Freiheit nach unserer Einsicht su handeln und Gute oder 
das Böse zu wählen. So s^ es in der Musik mit den Zeichen 
(SegnaU und Wer, wo mehrere Wege führen (piu straAe da 
pofere caminare), nicht genau weiss, welches eben der rechte We^ 
sei und wo er sich bin zu wenden liat (per quel pae.sc andwe), 
werde selir leicht aut Irrwer!;e f^eratlien. Die Componisten meinen 
freilich, ihre Gesänge müssen von Sachverständigen und geübten 
Ausführenden wohl verstanden werden (die gli loro caiUi h<ibbino 
a e89ere inUsi da 0 datü e huoni praiichi), aber es sei doch 
besser die Accidentalen ausdrücklich beisusetsen*)." 

Adriiin IVtit-Coclicus. .losquin's verdicnstvnllerSchüler und aellist ein tüch- 
tiger Lehrer (in Nürnberg) sagt: „Adhibebit enim somper suarum aurium 
jadicinm. Aares enim quid recte, qnid seons fiat, faoile inteüigunt et 
sunt artis canendi mafjfistri 

1) Z. B. gleich im ersten K^rio der Hesse Se la face ay pale von 
Dufay im Alt ein |/*. im Bass em b. 

2) . „come si vcda in aloani, che qnesto molto bene fanno**, sagt 
Aron (Tüscanello II. '2^'). 

3) Im 20. Capitel aua 2. Buches des Toscanello (del Diesis) redet 
er von der »«aooiaental figura - und bemerkt, dsss die IMesit eigentlich 
R-ufcn Siirijrern gpfjfpnüber für selbstverständlich genommen werde: ..benche 
tal seguu appresso gli dotti e praiichi cantori manco e di bisogno, ma sol 
81 pone, perond forte 11 mal prattioo e non intelligente oantore non da« 
rebbe pronuntia perfetta a ta! positione ovver syllaba, percbc essendo 
uaturaimente dal mi et sol uu scmiditono^senza quel seguo esso oantore non 
oantarebbe altro che il suo proprio, se tfia Voreeehio uon gli dessi ajuta**. 
Man sielit aus dieser Behaujtfung einer grossen gleichzeitigen Autorität, 
dass also Kiesewetter den Ausichten der Alten nicht zu nahe tritt, wenn er 
8.48 seiner Musikgpsohiohte naohdrüciclich darauf aufmerkram maeht. dass 
die Sän<ror ja „für Menschenohren und zwar für geüVite Menschenohren 
sangen ' und dass als) noch ganz andere Bücksichten in's Spiel kamen als 
eine vermeintlich unbeugsame diat »nischeConscquenzaafKosten des Ohres, 
anddastman in jenen Compositiunen nicht „diatonische Stereotypen, wie ein 
Clavior «duic Obcrtnsti'u ' sich vorntjdlen dürfe. Durch eint' solche Modifizi- 
ruug wurde nach Arua's Auseinandersetzung die Note ansich nicht, sondern 
nur das Intenrall geSndert» „peroh^ quel segno non aooresoe et dimiimisoe 



Der aasgebildete Tonsats. 



417 



Nor durfte dadurcli der Charakter des Klrcbentonea nicht aer- 

uVBni werdeTi, <lnnim machen die alten Meister bei dem pbr}'gi8cheii 
Ton (auf E) die Cadenc nicht mit der Dominante, sondem mit den 
Dreiklängen der zweiten oder vierten Stufe, Aveil das Siihsetnitonium 
den Accord H j^d jj^f bedingen würde (nidit H f), gerade /' 
(die kleine Oberhecunde) aber der charakteristisehe "^ron des })liry- 
gibchen Modus ist. Das Charakteristische der l'onarten ibt die 
Venchi^enli^ der Arten von Quarten und Quinten, aus denen 
sie susanunengesetst sind: diese hat daher auf die Cadensbildung 
wesentlichen Einfluss^). 

la nota (er läpsl für beides gelton: „qua! sia la nota auijniontntri o dimi- 
nuita"; in Hobrecht's Ave regiua in den Canti cento cinquauta kommt es 
gleidi anfangs wirldich in der Bedeutung eines \f vor), oltre al t uo ▼alore, 
ma bene accrcsce et dinunuisfe il spatio et intrrvallo tra nnta o nota appa- 
rente, iu quauto alla imagiiiazione et optrazione, ma neu iu quanto alla sua 
ajipareutc locazione (Agg. del Tose). Frätorius im Syntagma (3. Th. S. 32) 
erklärt die ausdrückliche Beisetzung der Accideutalen für „hochuöthig nit 
allein vor die Sänger, damit dieselben in ihrem Singt-n nit intorturbirot 
werden, sondern auch vor eiui^tige Stadtinstrumeutislen und Organisten, 
welche Musicam nü recht ▼erstehen, vil weniger recht ringen kOnnen, and 
daher, wie ich sclbstcn zum öfti rcn gesehen und crfalircn, keinen rechten 
Unterschied hierinnen zu machen wissen, zu geschwcigen dass der Compo« 
nisten ihre Composition also beschaffen, dass diese beiden Signa Chro* 
matica an etlichen Oertcrn gebrauchet, an etlichen aber nicht 
in Acht genommen werden dürfen." rrätorius erzfthlt, dass viclt- 
Componisten das Beischreiben der Zeichen sogar ausdrücklich verboten ^ 
jeder wisse ja, dass snr Gadens der Schlnsston ehien Halbton vor rieh ver- 
lange, dass ein Triton zu vomieidcn sei. Die Schreibart ist in der That 
nachlässig genug. So setzt z. B. Joh. Gero im Verlaufe seines Ave 
Maria einmal ausdrücklich b vor eine Note und unterlftsst es späterhin, 
wo »ich die Stelle Note für Note wiederholt. Solcher Beispiele liessen 
rieh fast zahllose anführen. 

1) Arou ToBcanello II. 18. Umständlich bandelt Aron über die Caden- 
sen auch im 89. Capitel des S. Bvehes seiner Lihri tres de institatione har- 
monica. Er sagt hier unter andemi: ,.St ienduni autcm ilhid est, cadeatias 
omneis, quae terminatae per tonos monstrantur, debere suspendi et primnm 
quidem secum ordinem tenet Re Ut Re. Sequuntur autem Ali Re Mi, Sol 
Fa Sol, La Sol La. Quae vero per semitoninm pronuntiantur, suspendendae 
non sunt, sicut Fa Mi Fa, nam haec quidem naturalem habcnt sccum sus- 
pensionem". Dass unter dieser Suspensio die Erliöhung um einen Haibtou 
SU verstehen sei) seigt nicht nur dw Zusammenhang der SteUeu sondern gans 
ausdrflcUich die Aggivnta des ToscsneUo. An« gibt hier das Notenbeispiel : 




und bemerkt dazu: „che quella ultima brcve (im Alt), o veramente inter- 
vallo ultimo habbia a essere sospeso" d. h. als vorletzte Note ist /is zu singen. 

▲ab rot, G«s«bicht« dsi Motik. U. 27 



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418 



Die Entwickelong des mehrstimmigen Gesanges. 



Die wichtige Begel, dass mne Stofe ttber /» stets la va singen ist, 
war den Meistern der ersten niederlSndisclien Schule geläufig, wie 
Stellen ihrer Compositionen zeigen, wo zur Vermeidung des Tri- 

tonus nothwendig fa gesungen werden musB, und gleichwohl kein 
b vorgezcichuet ist. Aber dieses „Semper est canendum fa" pralt 
doch nicht so ausnahmlos, es |^ab Combinationen , wo eine Note 
supei' la doch das Intervall eines ganzen Tons zu singen war; auch 
hier wurde den Sängern ein feines Unterscheidungsvcnnögeu 2ugc- 
trant^). Im dritten «atbentisehen Ton (von F) der „lydischen** 
Tonart trat der Tritonns f — h schroff sn Tage, er wurde daher 
Bum by der reinen Quart^, gemildert. Glarean bemerkt , dass man 
„den lydischen Ton wie in gemeinsamer Verschworung gleichsam 
des Landes verwiesen habe". Die also entstehende Tonleiter 
entsprach aber der natürlichen Skala von C, so wie die Ein- 
mischung des b in Skala von D dieses der Skala von A entspre- 
chend gestaltete. So erwarben sich auch diese zwei Tonreihen 
das Bürgerrecht. Zweifelhafter ist es» inwieweit bei blos Icite- 
tonäbnliäien Appoggiatnren ^B. ä e d e \ f) etwa Erhöhungen 
gesungen worden, ffierttber fehlt, ausser der allgemeinen Ver^ 

1) Lucas Lo8«iu8 (ErotcmatA, Auspfulx! von 1570) sagt darüber im 
2. Capitel: „Si vocem la una vuce taiituni notula cxcesserit, ea plerumque 
(ganz richtig! nicht „semper**) fa canitur, videlicet %tbi eanhu natwra 
admittit, alioquin harmonia ((uif i-nriis vociluis offenditur, et sie tintonos, 
quintas imperfectas et similes dissunautias cdit". Bin überaus lehrreiches 
Beispiel enth&lt gleich der Anfang des Kyrie Taut je me dednisvonDa&y: 



Kyrie eleison. 




m 



fa^^ 1 m 



7 

1^ 



r 




i 



(Im Orig^inal sind dio Accidentien nicht beigosolzt.) Der Sopran mus3 
nach der Kegel im zweiten Tempus b singen, dagegen der Alt im vierten 
anscheinend gegen die Regel K Woher die üntendieldaBff? Wefl hn 
Alt der Bftokgiiiig (nach a) nur ein schembarer, nur eine Zwischenstufe 

YOr c, und der Gang in der That aufsteigend ist. Das h im Disosnt hO* 
wirkt» dass auch der Tenor b singen muss u. s. w. 



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Der «ufebüdete Tonaats. 



419 



weuang auf's „Ohr", jede feste Begel nnd scheint dem Geschmacke 
und der Einsicht der SXnger in der That ein grtfesei«r Spiel- 
räum gestattet worden ku sein^). 

Ein sonderbarer IdiotiBmus ist eine oft Torkommende Cadonz- 
bilduDg, bei welcher zwischen den Leite- und Schlusston die 
kleine Unterterz dos letzteren, beziehongswttse die grosse Sexte 
des Gnmdtones eiogeschoben wird; 



Dufay 

Kyrie: Tant je mo dcdois. 




Oroeifixas: Eooe anoilU 



SLSL 




8ul) Poutio Jfc*üat4.» 



1 




Eloj. Sohlote d esA gnoi; Dixenint dincipuU. 




1 ^ 



m 



Diese Cadcnzforra erscheint storootyp in den Kltt-stcn italiniisilion 
Corapositionen des 14. JahiliuinltTts (z. B. bei Fraiicesio Lamliiio), 
' wie in den ältesten irauzösi»ehen und niederläudisclieu aus der Epoche 
unmittelbar vor Ihthj (z. B. in jenem TordrwShnten „mais qui*! 
TOUB Tiengne"; in H. de Zeelandia's i,een meysken"), sie prXvalirt 
noch entschieden in den mathmasslich Xltesten Chansons Dufaj's 
und Binchois*. Sie klingt ans sehr fremdartig, weil sie den Zu- 
sammenhang des accordmässig und natilrlich geordneten Schlusses 
unterbricht. Damals, wo man von einer Hannonielehre noch lange 



1) Einen richtigen Anhaltspunkt gewihren die Werke Girolamo 

Froscobiildi's. Dieser prasse Orgclmeister, an der ({hiiizi' der frrnssou 
Musikepochen (vor und nach 1600) stehend, schreibt seine lebhatteru tigu- 
rirten »fttze, seine Toccaten, Biceroar n. t. w. schon in der neuem 
Tonart, d. i. in unsenin Dur nnd Moll, weil fvlr rasche Bewejj^uTij; die 
Kirchentöne nicht gut taugen. Seine A U'^:ir)>eitunijen übi-r ulte kirch- 
liche Ganti fcrmi setzt er streng in den Kircheutünen, und hier wendet 
er allerdings erhOhete Appoggiatureu wenigstens stellenweise an, z. B. 
im Kyrie deUa Domenioa im Alt: fed jj^each 9^ and: f • d^e • f d 

f C VL B. W, 

»7* 



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420 



Die Eniwickelung de« mehrstimmigen Gesanges. 



nichtR wuBste, konnte sie, wenigstens tiieoretisoh genemmeni nielito 

Bedeiikliclics haben. 

luilen ausgebiUleteren Chansons (z. B. Pufftv'sCentmilleescut«) 
und in den KirchenstUeken der Meister der ersten niederländischon 
Schule theilt demgemftss diese aus einer noch älteren Kunstepoche 
ererbte Schlussform die Herrschaft mit jener vollkommen und schön 
ausgebildeten, flbr den niederlilndisehen nnd den ans ibm hervor- 
gegangenen Capellaslyl so ebarakteristiBehen stets wiedetkelirenden 

i • i 

I und II j I. Von dieser Form 
mehr verdrängt, blieb die alt er o 
Cadenzbildung mit der ,, sonderbaren "Wechselnote", wie t>ie 
Kiesewetter nennt, bis in das 16. Jahrhundert unvergessen, von 
1500 an kam sie allmälig ausser Gebrauch, sie erscheint hier 
meist mit der kleinen Eigenheit, dass die lotsten Noten in Send* 
minimen gosetst sind: 

SoUttMd. Sanotos a. d. Messe: Ave maris steQs, t. Joequin de PHs. 



und stet« wirksamen Cadeuz V 
Tonschlusses mehr und 



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D«r «NgalnldAto Tornttt. 491 

Aof der Motette: Exortum est in tenebris, von Leonard Barrd 1648. 



ab«?: 



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NB. 



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^ r r r f r 



I 



tor et ju 



fltns 



19- 




Sias 



ja-sttts Do 



QU 



nns. 



Die Ansicht, als sei diese Cadenzform eine Folge der Scheu 
vor dem Gebrauche des Sabsemitoniums als tingirten Tones, um 
die strenge Conseqnens der Kiiehentilne nicht sa vedelieii, wird 
gans einfaeli dnzdi den Umstand widerlegt, dasa sie ancli auf f 
und c vorkommt, wo das Subsemitoninm « nnd \ doch ohne 
Fiction im System liegt (Bchlnss der Chanson qa*il vous viengne 
und des Benedictas aus Ecce ancilla n. s. w.). Sie mUsste 
doch wohl aus gleichem Grunde vor allem im Gregorinnischen 
Gesänge selbst vorkommen. Dies ist aber durchaus nicht der 
Fall. Aus dem Grundsatz bei Aron, Ornitoparch u. A. , dass 
die Sexte gern in die Octave fortschreite, ist sie auch nicht zu 
eiUlren, weil diese Cadens wohl auf der Sexta toni heruht, im 
Moment des Auftretens aber nie im Znsammenklange einer Sexte 
erscheint. Sie bleibt einstweilen rithselhaft. 

Der Tonsatz ist streng poljphon; ein Unisono zweier oder 
mehrerer Stimmen kommt nie nnd nirgends v^r. Wie nnn aber der 



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42d Di« Bntwiokelimg dM mebfiiiiBiiiig«!! Oenngn. 



polTpbone TosmAi leinen Ursprung daiin hat, dam den TBnm 
eines gegebenen Cantas fiimnt in einer oder in mehreren Oegen- 
sttnunen Air snlftMig gehaltene oder wirklich inliMrige Intervalle 
entgegengestellt wurdeOf konnte sich die Polyphonie erst dann sn 
etwas Sehdnem gestalten, als man durch anhaltende Uebung dahin 
gekommen, in den Gegenstimmen die Intervallfolge nicht nur mög- 
lichst fliossend, sondern selbst wieder zu einer selbstbtündig durch- 
getVihrten Melodie zu gestalten, die nicclumische Arbeit des ehe- 
maligen OrganiHirens und Discantirens zu künbtlerischem Schaffen zu 
erhöhen. Spuren dieses Ueberganges machen rieh noeh in der ersten 
Sehnlefilhlbar : helEloj, einem tüchtigen Meister derselben, haben 
die Sitae im Oanaen mnen gana belnecBgend an^reehenden, selbst 
einen gewissen solennen Klang; im Einzelnen überlassen die Stimmen 
fliessenden Gesang bedeutend vermissen, sie haben durchweg noch 
8chro£fe, harte Contouren'). war freilich gar sehr Sache des 

individuellen Talentes; bei Dufay, gerade dem fi'ühesten Meister 
der Schule, flicssen die Stimmen in Bchonoiii Masse, in reinem Wohl- 
laut von Absatz zu Absatz hin, sie haben eigenthilmlich ariosen 
Zug, der sogar noch bemerkbarer wird, wenn man sie einzeln in's 
Auge fasst, als im Zusammenhange, wo snweilen hohle Zusammen* 
klttnge oder 11ber*s Knie gebrochene Harmonien der Schönheit 
der Gesammtwirkung Eintrag thun. Wie hier nun drei bis Vier 
Melodien wie StrSme nebeneinander hinsiehen, aeigt sich auch 
hier schon eine ausgebildete Kunst. 

T)ie späteren Theoretiker glaubten aus den Werken der ,, Alten", 
d.i. der älteren Niederländer, die Kegel abstrahiren zu sollen, dass 
man mit dem Sopran anzufangen habe, wonach der Tenor, dann 
der Bass, zuletzt der Alt successiv eintreten 2). Aber nicht nur 
Dufay, Faugues u. s. w., sondern «ueh noeh die Meister, welche den 
Uebergang aur sweiten Schule yermitteln, wie Busnois, Caion n. a. w., 
lassen gern alle Stimmen gleich mit einander beginnen, oder aber 
awei oder drei Stimmen, denen sich wenige Tempora spXter der 
Tenor gesellt u. a. w. Die Stimmen gehen insgemein jede ihren 
gana eigenen Weg ohne irgendwelchen inneren thematischen Nexus 
mit den übrigen; auch hierin liegt noch eine Reminiscenz an die 
Entstehung aus dem Caulua aupra librum. In Dufay 's Messesätzen 

1) Man silie die beiden von Kiosewettcr mitgetheilten Satze Eloj'V 
Baini geht indensen ohne Frage viel zu weit, wenn er behauptet, dass die 
Melodien dicHcr ganzen Schale „meist ohne Osatilene, 8chwer»llig und 
hart, die I'hrasen ohne Bedeutung nind". Er ist zwar so billig wenigstens 
Dafay's (\tiii])ositionen als orfreulicliere Ausnnlinieu pelton zu lassen. 
£r hätte dauu aber gerechterweise auch Vinceu/ Fuugues neuneu sollen, 
Anderer zu getchweigen. 

2) Modulatio secundum vcti rum morem et institutionom primuni quidem 
a cantu inchoanda est. äubse(^ui tenor debei. Tertio loco Bauoa. d^uarto de- 
muui (|ui dieitur Altus. . . Kostri ttmen temporit eompositores üufle depre- 
bendimtur haue non senrare GOn9uetadinem)Pietro Aron, de inst. haim. IIL10)i> 



Digitizea L7 GoOglc 



Dar «uf«t»fldeto Toniati. 423 



seigen neb, wenn er nieht etwa einmal iwei Btfanmen an einem 
gans strengen, aber dann doch nur knnen Canon verbindet, eben 

nur keimartige Ansätze zu Imitation und thematischer Arbeit. (An^ 
fallend reich an imitirenden, sehr glücklich angebrachten Einsätzen 
ist sein sehr merkwürdiges weltliches Lied von den f,hunderttausend 
Thalern."). Fast gleicht es rincm blossen Zufall, wenn gleich beim 
Anfang des Kyrie tant je me deduis der liass das Liedmotiv gleich- 
zeitig mit dem Tenor und zwar gegen diesen in vierfacher Ver- 
kleinerung, aber nur durch zwei Tempora und nur die ersten sechs 
Noten davon bOren lltosti}. Die mnsikalisebe Conseqnena des 
Sataes, die man später in tbematiscben Durch Atbmngen u. s. w. snehte, 
war einstweilen genngsam, freilicb aber nur äosserlieb gewahrt, 
wenn nur der gegebene Camius finnus durch den Sata tren nnd 
sorgsam beibehalten wurde: er bildete den sichern Kern, an den 
die anderen Stimmen krj^stallisirend anseliossen. In Dufay's Messe 
Omme am<? singt der Tenor im ersten Kyrie einfach sein Lied 
ab, nur gegen den Schluss hin treten etwas bewegtere Gänge 
ein. Im Chiste fuhren die zwei höhereu Stimmen 31 Tempora 
lang einen freien Sata durch, dann tritt der Tenor und ein Tempus, 
später der Bass binzn, ersterer mit einem Fragment des Liedes. 
im aweiten Kyrie singt der Tenor das Lied aweimal nacheinander, 
das erstemal nachdem er fünfzehn Tempora pansirt, dann, ohne die 
Yorpansen, doppelt verkleinert in den Notenwertben, was Dnfaj 
dnrcb das Jiotto aosdrtlckt: 

Canon: ad mediun reftns; panisa Unqaendo priores^ 

Die Combinatlonen dieser Stimmen geben dnrebsichtige, klare Hai^ 
monie, die tadellos rein ist, aber nicht immer aucli durch Klangfülle 
schön zu heissen verdient, obwolil die magern oder scliroffen Stellen, 
die kindlich unbeholfenen Wen<lungen, welche durch eine ein- 
geschobene Terz u. dgl. so ganz leicht zu verbessern wären und 
die eben auf Kechnung der noch kindlichen Kunst kommen, doch 
nur zwischendurch vorbeigehen, und der [natürliche binnund Schick 
der Meister sieb doch vorwaltend in Harmonien von ttboraschend r 
edlemKlange bewährt Qnintparallelenwerdendnxeiians gemieden*), < 

1) S. Notenbeispiel S. 418. 

2) S. die Beilage. Kiesewetter (S. 49) erwähnt dieses Bäthselmottos: 
„dahinter icii zwar da« vermnthete KuisUtflek niebt fimd", sa^ er. Yeiw 

muthlich las er: ad medium referas pausas; linquendo priores, und da war er 
freilich auf falschem We|[e, der nicht zum Ziele führen konnte. Die Sache 
ist endUch doch so 'deuthch, dsM Hermann Fiaelc, der den gan* ibnlioben 
Caaon mtirt: undecies canito pausas linquendo priores (er steht b^m Bt in 
terra in Josquin's Messe GniuleamuB) gar keine Erklärung zxx geben fBr 
nöthig hält: Versus ^er so plauus est, ergo oxj^licatione non indiget. 

9^ Die Quinten m Dufiiy*! erstem Kyrie l'bomme arm^, wie es bei Kiese- 
wetter vorkommt, stehen zu vereinzelt da, um nicht für einen Copisten- 
fehler (wie dergleichen in den alten ^iotii uugen leider oft genug vorkommen) 



Digitizoa by CoOglC 



424 



Die Bntwickeliuig dM mahnttmmigai Omagei« 



es inrd ihiieiL dnreli Gegegenbewegang vorgebeugt, oder de wwdeii 
dureh eingetehobene ZwisehentSiie, die dann Jedeemel GoBsonamen 

rind, getrennt, oder durch punktirte Noten oder Syncopirungen 
atueinander gehalten Die DiMonanien „erscheinen Uieils im 
Durchgange, und dann immer so, dass dissonirende Accorde auf den 
schlecliten Takttheil kommen, was die Schule heutzutage den regel- 
mässigen Durchgang nennt; theils kommen aber auch schon disso- 
nirende Accorde als Verzögerungen eines consonirenden Accordes 

4 5 6 7 

snm yoraehein, wie 2 4 5 3 nnd »wer lind lolcke gehHiig 

vorbereitet nnd en^^löet, so reg^mlnig, all es noeh bentratage die 
mnsikalisebe Qrammatik nnr immer fordert**^. Dmrdi dieses nn- 



l^clten zu müssen. Auch stimmt das / nicht gegen den Zusammenklang c 
und g der swei anderen Stimmen. Offenbar sind im dritten Tempos die 
drei letsten Bifinimen um «ine Ten sn hoch sageMtst, es mvM bdsien 

♦ ♦ ♦ b 



Diidurch entstehen zwar abermals Quinten gef^en den Discant, aber Quin- 
ten, wie man eio auch noch bei späteren Meistern tindet und die nichts Be- 
leidigendes haben, hier sogar ener^j^inch klingen. Bei dieser Gelegenhmt 
seien nodi nachstehende Druckfehler in Kiesewetter's Musikbeilagen 
(Aoagsbe Ton 1884) bemerkt: S. IX , Syst.^1 Tac t 4 mow der AU beiiian: 



S. (Kyrie, Se la face) Syst. 2 Tempus 6 musa im Alt tUtt stehen^. 
8. XT TT rEloT. No. 6, Kyrie, Dixenmt ditoiptdi) Syst 1 Tefipni 1, Ist im 

DisOSat der Punkt bei der ersten Semilirevis wegzulassen, S. aTTT, Sy?=t 2. 
TrakpOB 1, muss es im Goutratenor (der zweittiefsten Stimme)} heiasen: 



^> 



S. IX. Syst Tempas 6—6, mnts der Tenor heissen: 

1) Ein sehr tüchtiger Meister der zweiten Schule Brngher oder 
Bruhier (wohl in der Capelle Leo X., denn Theophil Folengo nennt ihn 
alSnBroyer" mit anter der„IieonraM sqoadra capellae") hat in seiner Heese 

Mediatrix nostra davon sehr sinnreich Gebrauch gemacht. Im Kyrie singen 
Bass und Tenor den Cantus firmus in reinen Quinten. ftl>er dureh geoohiokte 
Anwendung der weissen Note in der einen Stimme und der Nota colorata 
in der anderen stellen sich die Stimmen in lauter Syncopen gegeneinander, 
wodurch, zusammen mit dem Dazutreten der beiden h/>heren Stimmen, 
jeder Anstoss verschwindet. Die Messe findet sich in den kostbaren Musik- 
bttohem der Ambruer Semmlong in Wien. 

2) Kiesewetter a. a. 0. S. 49. Auffallend ist denn doch wobl, wie F<ttis 
ad voc. I)uf:»y unter Benifung auf Adam von Fulda (noch mehr! mit aot- 
drücklicheni Citiite) behaupten mag, Dufay habe den Vorhalt zuerst ange> 
wendet, da doch Adam k <■ i n e S y 1 b e davon sagt. Vollends eines so grossen 
Gelehrten unwürdig und unkritisch ist die Berufung auf einige Verse Mar- 
tins le Franc, die auch nicht entfernt beweisen, was sie beweinen sollen. 



Dar anigablldcto'Toiiwts. 



495 



ermesslich wichtige, mit voller Siclicrlieit verwendete Kunstmittel, 
durch die so energisch Widerspruch und befriedigende Lösung 
bringenden Vorhalte bekommen die Compoiitieiien hier snm ersten- 
mal das Anaehen des fertigen mnaikaUaehen Kunstwerkes. , Unter 
den Gonsonansen nimmt nlUshst der Oetave, theoretiBeh riehtig, die 
Quinte den Vorrang ein, daher Anfang und Schluss der Tonsälzu 
sich auf diese Intervalle beschränkt: denn, lehrte die Theorie, jeder 
Abschnitt soll in vollkommener Oonsonanz bej^innen nnd scliliessen^). 
Die Terz galt aber als unvollkommene Consonanz. Im Laufe der 
Stücke wird sie oft mit schöner Klangwirkung, aber doch unverkenn- 
bar mit einer gewissen Zurückhaltung zur Anwendung gebracht. 
Dufaj liebt es unmittelbar vor dem Schlüsse in irgend einer meist 
einftieh schönen Wendung de klangvoll hervortreten tu lassen 
(Sehluss des Kyrie; „Omme ann6,^se la &ee aj pale, tant je me^ 
dednU**)« Daraus hat dann spiter der geniale Josqnin de Prte 
etwas ttberans Schönes herauszubilden gcwusst, jenes den Sehluss 
bezeichnende und oft verlängernde innigliche, sUsswehmiitbige Auf- 
senfzen einer Mittelstimme, das man den „Josqnin'schen Selin- 
suchtsblick" nennon könnte (Sehluss des Christe der Messen Fange 
lingna, De beata virgine, Da pacem, der Sehluss desCiloria in letzterer 
Messe, der beiden Kyrie der Messe Dmg aulire amer u. s. w., Sehluss 
des Ave Maria in den Motetti 0)* Seine Mitsehtller und Mitmeister 
haben ihm die Sache, wie es seheint, abgesehen: man findet den 
Zug verefauelt auch bei Anton Brumel {ÄV9 Btgina eodonm in 
Petrucci's Motetti C), sogar hei dem ernst-grossartigen, sonst nicht 
sonderlich sentimentalen Pierre de la fiue (Andentungen davon 
auch schon in Klteren Werken). 

1) Tinotoris, der seine Lehren mm guten Theile ans den Werken 

der Meister der ersten niederl&ndischen Söhlde geeohOpfb hat, sagt: Omnis 
contrapunctus per concordantiam perfectam incipere finirique debet (de 
arte coutrap. Lib. III. regula 1), JSo auch Oruitoparchus (Microlog. IV. 
1, erschien 1517) Omnes caatilefiae partes in principio et fine veteres in 
concordantiis perfectis posuere, quae lex apud nos arbitraria est. Für 
Omitoparchus ist das Gesetz schon „arbitrarium/' So setzt auch Frau- 
chfaras Gafor in fthnlichem Sinne als erste Regel des Oontrapnnktes: „Quod 
prineipia uniusquisque cantilenae sumantur per concordantias perfectas, 
videlicet vel iu unisonum, vel in octavain, vel in quintamdecimam, seu etiam 
in quintam et duodecimam: quas et ai perfectae miniine sunt, tameu suaviori 
sonoritate perfectis adscribnnt. Yemm hoo primum mandatnm non neoes- 
sarium est, sed arl)itmrium, namqup porfoctionem in cunctia rebus non ])rin- 
cipüs sed terminatioaibua adtribuunt. (Für die Schlüsse gilt also das (iesets 
ausnahmslos!)^ Lide et imjfMrfeotis conoordantüs eaatilenarum ezordia ple- 
riqne iastitnemnt (man ennnere sieh, dass Gafor's Buöh 1496 erschien!), nt 

bis esemplis oomprobatur.** (FblgenNotenbeispiele mit Anilbigen f i i j 

Bloy sdiliesst sein Agnus „dixemnt** mit dem Aooord Ggähg. vielleicht 
aber ist das h im Alt für einen Copistenfehler su halten, und dass der 

' Schlossfrll des Altes nicht heissen soll 3 sondern 3 g. 



•426 I>i» JSntwiQkelonf das melinftinBugeB OeMagiet. 



Die Notenschrifl erlitt um diese Zeit und zuTerlSssig durch die 
K«ifter dieser Sebole die VerladeruDg, daas m die Stelle der 
alten Bchwanen Notirong (der Franeo-Note, nole firtmeaiiimie, wie 
sie F^tis nennt) die weirae, d. h. nngelllllte Neto eingefifliit innde. 
Dabei erhielt die schwarze Note, wo sie vorkanii ^eNota colorata, die 
Bedeutung, welche bei der schwarzen Notirung umgekelut der einge- 
mischtpn weissen oder rothen Note ei{;^en gewesen war. Die weisse 
Notinnip: vcrdrHnp^ jetzt rasch die ältere schwarze. Die Zeit dieser 
Reform in der Notenschrift kann nin 1370 angenoramen werden. 
Die allgemein zur Geltung kommende Anwendung der weissen Note 
scheint aber, wie gesagt, völlig auf Reclmung der ersten Nieder> 
linder gesetat weiden an müssen^). Es war dnrefaana kein nenes 
NotiningBSTBtem, waa jetet in Aufnahme kam| die Note Inderte 
die Farbe, aber nicht Wesen und Bedeutung, welche dieselben 
blieben^). Dennoch aber nimmt sich das nanere weisse Noten- 
System dem älteren schwarzen gegenüber aus, wie das fertige gegen- 
über dem Werdenden. In der scliwar/-en Note arbeitete sich ein 
sicheres festes System aus einfachen Anfangen heraus, in der weissen 
Note wurde innerhalb des in seinen GrundzUgen abgeschlosseneu 
Systems alles Einzelne zu der erdenklichsten Feinheit ausgebildet 
und ToUendet, ja bis an die Grenze möglichster Verfeinerung gerflckt. 
Die Musikgesdrfekte der Epoche yon 1880 bis 1600 hat gegen jede 
andere Kunatgesehiehte das Eigene, dass sie gründlich auf Dinge 
eingehen muss, die an sieb gleichgiltige Nebensache scheinen. Der 
Gehalt der Ilias bleibt derselbe, ob sie in Majuskeln oder in Cursiv- 
Schrift, mit oder ohne Accentuirung aufgezeichnet vorliegt. Die 
Musikgeschichte aher muss sich nothwendig auf eine eingehende 
Darstellung der Art und Weise der schiiltliclien Aufzeichnung der 
Tonsätze einlassen, weil diese Aufzeichnung die Gestalt und den 
Gehalt der Tonsitae eelhet sehr wesentlich mit bestimmte, und ins- 
besondere die Kunst der beiden niederlXndisehen Schulen ohne ge- 
naue KenntnisB der von ihnen angewendeten Uensuralnotimng nidit 
einmal völlig verstanden werden kann. 

Die Erfindung neuer Mensuralzeichen, die sinnreiche Anwen- 
dung der Eigenheiten der Mensuralnote beim Tonsatze, die Durch- 
bildung eines vielgegliederten Systemes, das bis zur Spitzfindigkeit 
scharfsinnig durch seine Consequenz und den inneren festen Zu- 

1) Wenn in der folgenden Darsiellang des Mcnsuralsystems der weisKcn 
Notirung sich einzelne Lehren und Rcjroln wiederholen, die schon bei Be- 
sprechung der schwarzen Notirung vorgekommen sind, so möge man solches 
dem Streben nach möglichster DentUchkeit in einem so TieWerwiokdten and 
iVt indarti^'cn Ciofreustande zu gute halten. Ton neueren Schriften über diese 
Materie ist H. BoUermaxm's Buch „Die Meusuraluoten und Takizeichen'* 
nicht genug zu empfehlen. Unter den iltem Autoren nehmen Sebald Heyden 
und Hennann Fuk k einen hohen Rang ein; schade, dass die yortrefTliche 
Fraotica mnrioa des Letzteren an den bibliogrsp hisofaen Seltenheiten gehAri. 



Diyiiized by Googl 



427 



fau.uienluiiig wie durch vollständige Befriedigung jeder daran zu 
»teilenden Anforderung Bewunderung verdient, und aus dem durch 
V«cei]illiebimg und dureh Awwch^dung des Venlteten im Laufe 
.des 17. Jalirliiindeits rnuer heotiges NoteDs^stem heiTOigiiig: daa 
alias sind, wie Hermann Finck, der es noch recht gut wissen konnte, 
bezeugt, snm grossen Thcil Verdienste derültesten niederländischen 
Heister, welche diesem Zweige ihrer Kunst eine besondere Thätig- 
keit und viel Nachdenken widmeten Es ist in der That bemcr- 
kenswerth, daf?« die muthmasslich ältesten noch schwarz notirten 
(."Oppositionen Dnfay's und Binchois' noch ohne alle Zeichen sind, 
die späteren weiss notirten schon einen feinen Gebrauch der Zeichen 
aufweisen nnd ans deren Werken Lehrer wie Tinctoris, Adam von 
Fulda, Franchinus Gafor die Lehren sehSpften und gern mit eben 
daher genommenen Beupielen illustrirten. Die Mensuralnotimng 
bietet in ihrer Ansbildung nicht nur einoTollgenligende Beseichnung 
für jeden Ton nach Höhe und Dauer, sondern es sprechen sieh in 
ihr schon an und für sich genommen als grosses, zugleich tiefsinniges 
und anschauliches Schema <lic höheren rhythmischen Ordnungen 
aus. Sie kann in diesini Sinne an die Lehren und Geheimnisse 
der alten Bauhütten (das Geheimniss des „Achtortes'^) erinnern, 
die den srehitekteidschen Rhythmus des gothischen Domes in 
bestimmte Formeln Austen, wie jene den mnsikalisdiea der Heese 
und Motette. 

Die vollausgebildete Mensuralnotirung der ersten niederlUnder 
Schule umfasst sechs Noten p:estalten (später kam eine siebente und 

achte dazu), wovon, wie Adam von Fulda, wohl nach der Lehre 
der von ihm als Muster gepriesenen Niederländer annimmt, von der 
sogenannten Maxima abwärts, immer eine aus der anderen liervor- 
geht^); dagegen Zarlino und Giov. Batt. Kossi die Brevia illr die 
„Matter" der übrigen erklären^. 

Maxima oder duplex longß 

Lmga (das Ziehen des JMis) 
g Brm>i8 (das Zeichen des Tempus) 
^ (selten ^'^^ ) SemiWevis (das Zeichen des Taclus) 

T Mnima (das Zeichen der BroUiHo) 
I (selten \) Sem i m in ima. 
Die Brevis, welche das Mass der ,,Zeit'' giht, uud im per- 

1) S. Einleitung der Pract. mus. von Hermann Finok. 
2} Quorum EÜia semper ex aUa consurgit. 

8) Zarlino (lusUt. hann. III. 2) sagt: ,J^a Breve fu la madre et ü 
principio di tutte le sltre." Und G. B. Roni (Orffsno de cantori S. 8): 
„Ma U breve ha qnssto di piü, ohe si dusma madre dell sttte.** 



uiyiu^uu Ly Google 



428 Die Eniwickeltuig det mehnttBunigan OetugM. 



fecten Tempus dxeUSemibmM, im imperfeeten Tempos swei 8e- 
mibreTes in sieh fSust, bt in der Tkat die Matter der andemTdenn 
die Longa igt eine Brevis mit einem Strich (eamda), die Semibrevis 
igt eine tIbereekgegteUte Brevis, sie ist zugleich die „Taktnote**, 
deren Dauer so lange zu währen hat als eine mässige rahige Hebung 
oder Senkung der Hand. Die Maxima ist nur eine doppelte Longa, 
die Minima eine Semibrevis mit einem Striche. Sie gab bei der 
Prolatio dasselbe Dauermass wie sonst die Semibrevis. Die Semi- 
minima, eine geschwärzte Minima, war gar nie Grundmass der 
Bewegung, sondern diente nur für rascheres PassagewerliL Die 
Longa selbst war das Zeichen des „Masses" (des Modns)» in dem 
sieh das Schema des Tempos in höherer Ordnung wiedevhelt. Der 
Modus major regelt das Verhältniss der Longa snr Manma; ist er 
perfecti so dauert die Maxima drei Longas, ist er imperfect, zwei 
Longas. Der kleinere Modus (M. minor) regelt das Verhältniss der 
Brevis zur Longa: erstere erhält den Werth von drei oder von zwei 
Longen, je nachdem der Modus minor wieder perfect oder imper- 
fect ist. Die Prolation wicJerliolt das Schema im Verhi'iltuiss zwischen 
Semibrevis und Minima; es gehen wieder bei der perfecten Prola- 
tion drei Miiümen auf die Semibrevis, hei der imperfeeten drei. 
Daher sagten die Lehrer: Modus offU in Longas, Tempus in Bretfest 
Brolatio in SmuSbrevet.** Die Semiminima, da sie nie Mass der 
Bewegung war, galt immer nurbinXr, d. h. swei Semtmimmae gehen 
ein- fUr allemal auf die Minima. 

Man spaltete die Semiminima in eine noch kleinere Gattung 

die SStsa |^ (selten \ oder welche Prosdoeimus de Belde- 

mandis, der gelehrte Paduaner, den wir schon unter den älteren 
Mensurallsten kennen gelernt, Semiminima miner nennt|irfe die ge- 
wöhnliche Semiminima Semiminima major; wihrend Franehinus 
Gaf or die Fosa als Seminima d. i. ssjuNCto oder ng^amin a mimma he- 
aeichnet, Adrian Petit Coclicus aberCV'oma (die Gefihhte) ge- 
nannt wissen wilL Sie ist ebenfalls in der grössem Gattung swei- 
mal enthalten. Die Tonsetzer verwenden sie vorläufig nie zu län- 
gern Passagen, sondern nur zu raschen Verbindungen BWOier TönOi 
wobei nur zwei Fusae gleichsam vorheischlUpfen 




Bei den ältesten Meistern kommt sie noch gar nicht vor. 

Die späteren Instromentalisten^) brauchten au iliren raschen 



1) Organarii vero, aUique plarimi, qui instrumentis uiuntur musicis, 
etism ftnam diridenmt ot noeront octavam notamm figuram, quam Mmi- 
fusam vocant cpiidam, variiM}uo piii<:ruiit, maxime tamon altcro a^l^^^to 
unco fosae (ülareao, Dodeohacbord. III. 1. S. Xd^). 



Du&y and seine Zeit 



429 



Unfenden Psasageii, wie neh ihre Instmmeiile daftr eigneten, eine 
noeii Uebero Notengatlmig, eie ftiurten die Smifusa ein ^ (sehr 

selten bei Cociicns Semtenma, 

In alle dem sind deutlich cinenieits dieselben Grundzii^;« wieder- 
KuHnd«'n, die wir bei der schwarzen Notirunp kennen lerntt n (nur 
endlich alles ohne weiteres Tasten und lierumsuchcu zu sicheren 
Prineipien fixirt), «ndereneits erkennen wir nnschwer unser heutiges 
NolenBjBtem wieder, nnr dass wir, mit Beseitigung der grossen 
Qnantttllten, errt mit der Bemihrevis, der Taktnote, als Theilnngs- 
mass anfangen. Die grösseren Bhyihmen, die „Rümi di dtte, tn, 
quattro u. 8. w. Battute" ^ treten daher bei uns in der Au&eichnnng 
nicht mit jener plastischen Scharfe hervor, wie es hei den grossen 
Notengattungcn der Mcnsuralnotirung der Fall war. Nehon den 
Zeichen des Bingens brauchte man auch die hcrki.iniiilichen Zeichen 
des Schweigens, die Pausen^). Sie entsprechen den Noteugeltungen: 

, ■ Psusa (proprio) ... ein Spatium ein Tempos, d. i die Dauer 
einer ßrwia oder zweier Takte 



ßemifiama . . . eb bslbes Smitimn, ein lialbos Tempus, d. L 
eine Taktpause, die Dauer euisr Smuhrwii oder eines 
Tacttts 

SmfiMitm • • . ftr die Hßnima oder den halben TUd 



N SenUtutpirinim . . . (virgula aequalis suspirio, sed a parte superioci 
■ ^ " liüoaUasgi Adam von Fnlda)£to die SeiiitfilifNMa. 

Man nannte diese Hxkchen Psiisas acMkatae, und GesXnge, wo sie 
▼orkamen, (kudiu aadeatos. Die Knaben sangen es nicht gerne, 
wie Sebald Heyden bemerkt. Er vnteischeidet auch schon Pansen« 
seichen für die ISua nnd SmifMBa mit iwei und drei Hikchen. 



1) Bs ist merkwflrdig, dass die Theoretiker die Psqm oder vielmehr 

das Pausiren eigens rechtfertigen zu eollen meinen. Adam von Fulda sagt 
(III. 9) : »Sunt autem pausae ex fragiUtate humanae vocis per cantores in- 
veniae. Primo prupter refectionem anhelitas o. s. w.** Lossius sagt: „Cur 
inventae sant paunae? Primo propter anhelitns refcctionem, ne soUioet 
Spiritus canenti deficiat. Si-cuikIo fngarum fomiaudarum gratia, qnae minim 
in modum conceutua dulcedmem uusent. Tertio, propter difticilem notu- 
lae in oompoiitioDe looattonem ad doamm oonoonlantiaram perfeotanmi 
distinctionem, qui nusquam nisi pausae vel concordanliae aUi rius inter- 
positione se sequi permittuntur.^' X)er zweite Uruud nimmt also die Pausen 
doch nicht blos als Nothbehelf, ■ondem als Konstmiitel. So sagt auch 
Adam (II. 11) „Componens discat cantum distincte paosts omare, qnia 
varietatem faciunt, non minus eniro laodabUs est paossre quam eaatore, 
nec acceutus prosae sine pausa sit.** 



430 



Die Entwickelang dee mehntimmigeu Gesanges. 



Feiner für die swei- und die dreitheilige Longa die Pan^a longa 
und die Pausa modt, gleich vier und seelu Takten: 

Die Anwendung der letzten! ist für den Modne kennseichnend'). 
Ein duich eile fttnf Linien des Systeme senkreckt gesogener Stridi 
wird Ton Adam von Fulda Panua gmeraiis genannt^, als Zeichen, 

eine Stimme hnbe durch ein ganzes Stück zu pausiren. Statt dessen 
schrieb man aber lieber ein Tacet (zuweilen mit einer Phrase, wie 
PetruH do Molu, ein Schüler Josquin's, in seiner Missa duarum fa- 
cierum „Fleni don)üuiit'\ oder wie Pierre de la Kue in den Am- 
brascr Messen, der den Sjinj;ern das Tacet immer mit irgend einem 
Sclicrze ankündigt, z. B. in der Messe sMj^er ÄUduia [auch beim 
Pleiti] dem Tenor habaUüms unde reddermUf" ein andermal 
mit komischem Widerspruch ,^aniabü vaemts ecram tofrone viator^'; 
in der Messe de 8. Job wirklich recht passend ndt Hiob's Worten 
fflJoiniuus thilitf Dominus ahstulit"). 

Dasu kommt noch das Zeichen des Anhaltens, das 
mantioms, wie es Coclicns nennt, bei Virgil Hang Signum conve- 
uienfiftc^) ^ und das Wiederholungszeichen (Signum rejictifionist 
bei Lossins ,,P<uis(i rrintilioiiis^^), wobei insjxeniein dieZahl der seok- 
rechteu Striclie andeutet, wie oft der Satz zu wiederholen ist: 

Eine ganz besondere Wichtigkeit behielten auch jetzt die oft 
zu sehr reichen Notengrtipiien conibinirten Ligaturen. Bindhar 
(ligabiles) waren die Maxinia, Longa, Brevis und Semibrevis^). 
Neben der schrägen Ligatur (ligatura obliqua) 

1) Schon H. de Zeelandia sagt in seinem Traetate: , Jiem notandnm 
e>t| quotl Tinn (lebet poni pausa semibrcvis neqiie maior nisi in conij)lota 
prolatioue, ueque debei ^oui pausa brevis neque raaior nisi in completo 
tempore, pause longa tnum temporam in oompleto modo. 

S) Lossius nimmt sogar den Schlnsntrioh als nPansa generalis in 
fine CHntiin" an. 

3) Haug (Erotem. Mus. Pract.) sagt: Convenientiae Signum, quod inp 
dioat omnes simnl Tooei coineidsre in ooDsonantias snares qnidami sed 

non j)laiu' perfecta«, atque ibi voliiti spiritum quondam alacriorem exot- 
pere, (illud cautores rtvfia appullaut) ad reliqua deiudc expeditias ca- 
ueuda. Habent sane eiusmodi Ttvnara multum gratiae, si suo loco posiia 

sunt et Qsurpantor. Dagegen ist für LossiuB das S. convenientiae *S*, 

welches anpcsetzt wird um den Anfiiiig der Folgestimme im Canon und 
die Stelle des Cauonschlusses anzudeuten, auch wohl ohne Canon die 
Stelle des Eintrittes eines Tenors (C. tirmus) in den übrigen Stimmen 
kenntlich zu machen. 

4) (^not «mit notae ligabiles? Quatuor: Mnxfm:!, Longa, Brevis, Semi- 
brevis (Hern*, i* aber, Compendiolum). Die Seoubrevis erschien aber dabei 



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Diiiiij und leiiie Zeit 



431 



(Aas Sebald Heyduu's an canendi ä. 45.) 




i 



(bei welcher nach der herkSnunUchen Weise immer nur der An- 
fimg und djis Ende der Figur die Stelle einer einzelnen Note 
▼ertrat, nnd die verbindende lütte keine TVne, sondern eben 
nur die Verbindung bedeutete) anteisebied man aneh die gerade 
{Ligatura reda) 




Die Unteradieidung war darum von Wichtigkeit, weil, je nachdem 
die Ligatnr gerade oder sehritg war, der Werth der einzelnen Noten, 
aus denen rie zusammengesetzt war, mannigfache Modificationen 
erlitt, wobei noch nach den von altersher überkommenen Lehrsätzen 
darauf zu achten war, ob eine oder die andere Note einen Strich 
habe, ob dieser Stricb nach unten oder nach oben gerichtet, ob er 
rechts oder links anfrebracht sei; endlitli ob die Note am Anfange 
der Ligatur, in deren Mitte oder zu En<l(', stelje, oder, wie man es 
nannte, ob sie eine InUialiü, Media oder Fituilis sei, weil aHes 
dieses den Werth der Note bestimmen half. Man fasste die hieher 
gehörigen Lehren in (^edltchtnissversen zusammen, wie rie bei 
Heinrich Paber und «onst sehr oft vorkommen: 



Prima carcns cauda longa est peudcnte secunda 
Prima careus cauda brevis est scaudeutc sücuuda^) 
Bstque brevis oaadam si laeva parte remittit, 
Semibrovis fertur, nursum si duxerit illani, 
Quaelibet e medio brevis est, at proxima adliacrcus 
Sursam candatae pro temibrevi reputatur. 
Ultima cons(!(Mulcns brevis est qiiaocini(i[ur bgata 
Ultima dupendens quadrangula sit tibi louga 
Est obliqua brevis semper finalis habenda 
Bxdititor oaudam tollens ex parte sinistra. 



Eine luitialis ohne Strich galt als Longa, wenn die nächste Note 
tiefer war; stand letztere höher, so galt die luitialis als Brevis 
(Vers 1 und 2). £s gab Lehrer, wie in Slterer Zeit de Mnris, 
in mittlerer Adam von Fulda, in spifterer Sebald Heyden, welche 



nie in ihrer eigentlichen Gestalt, sondern wurde durch die opposita pro- 
prietas angedeutet. 

1) Bd Fignlns (Mus. praot elemenU brevissma 1666): Bit brevis 
hase wailftin sed consoandente tecundat 



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432 Ditt Entwickelung des mehrstimmigen -Gesanges. 

hier noch die Unteifchndiiiig maditrai, ob die Initialis mit 
der olUihBten Media zu einer schrKgrn Ligatur ▼erbaDden ist: 
in diesem Falle sollte, ohne UnterBchied oh die zweite Note 
höher oder tiefer steht, die ert>te stets die Geltung einer Longa, 
die andere die Geltung einer Brevip linhen*). Hatte die Initialis 
links einen Strich, ao galt sie als Brcvis, wenn der Strich ab- 
wärts ging; dagegen wurde Bowobl sie als die nficbste Media 
nur als Bemibrevis gesVblt, wenn der Strich an^ürts ging'). 
Diesen einaigen Aasnabrasfall abgerecbnet, galt die als Brevit ge- 
sehiiebene Media wirklich immer als Brevis, mochte sie in ge- 
rader oder in schräger Bindung stehen (Vers 3. 4. 5 und 6); 
hatte die Äledia aber rechts einen Strich abwärts, d. h. die Form 
einer Longa, so zählte bie als solche, nicht minder konnte s^ie 
Maxima sein. "War eine finalis» reda tiefer als die vorhergehende 
Note, so musste sie als longa gezählt Merden, im entgegengesetzten 
Fall als brevis^ Die finalis ohligma war stets eine brevü, ebenso 
wenn ne rechts einen Strich aufwürta hatte; ging der Strich «b- 
wSrto, so war sie Umga (Vers 7. 8. 9). Bei Gruppen von nur 
zwei Noten war die Finalis als Semibrevis au nehmen, wenn 
ihre Iifitialis den Strich links aufwärts hatte (Vera 10). Waren 
die zwei letzten Noten (dem Podatus ähnlich) iibereinandergestellt, 
so galt die tirfcve stets als vorleUte^) und war ohne Strich brevis^ 
mit einem Striche Jotiga. 

In mchrstiuiuiigen Gesängen hat sehr oft die Schlussnote 
einer Stimme eine uubestimmte Geltung: der Sänger muss sie so 
lange aushalten, bis die übrigen Stiniipen mit ihren oft noch 
Unger fortgesetaten TongSngen fertig sind. Es gibt ab^ auch 
einaelne Ausnabrnsf^lle, wo die letzte Note nicht ansxuhalten war, 
sondern die frtther mit ihrem Part fertige Stimme den Rest des 
Satzes pausiren musste. (Beispiele: der Schluss des Gloria und 
Credo der Messe Forinna (fes]>ernfa von Uobrecht, erstes Agnua 
der Messe Hercides duoc Ferrai iae von Josquin). 

Geschwärzte Noten {notae coloratae) wurden im perfecten 
Tempus in der Bedeutung angewendet, dass die Note dadurch den 
vierten Theil ihres Warthes verlor, oder wie man sagen könnte, sie 



1) Quinta rej^ilitt Obüqua ligatura, ri initislis sit, cauda oarens, tive 

sursum, sive deorsutn iendat, primam longam, altttram brevem habet. <8eb. 

Hevdeii. de arte canendi S.45.) Oblique vel ßic praecedentrs sunt longae et 
sequcnteti hreves. (Adam de Fulda III. 1 1). In omni corjiore obliquo primus 
punctuB sine tractu longus diciinr. (Job. de Muris. Quaoet. sup. part. mos.) 

2) Das scheint willkfulii'li. ninreins ^ii lit ahcr (S. 197) eine genfipenfle 
Erklärung: „quod ideo factum est, ue uuica ataue sola esset semibrevis 
inter brevet, cum «oapte forma semibrevis non ugatur." 

3) Es ist dies eine Erinnerung an die Keumenfonncn des Podatns, 
bei dem auch die tiefere Note zuerst 7.u singen war: Podatns continet duas 
notas, quanuu una est inferior et alia superior a»catdcndOf sagt de Uuris. 



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Dufay uud seine Zeit. 



433 



mirde gleich der nScIietkleineren durch einen Punkt verlftogerten 
G^tmig. Die scliwawe Brevis galt also so viel wie eine Semibrevis 
mit einein Punkt u. 8. w.'). Man LiMli«Mit(' sich beider Sclireibarten 
nach Belieben und Einsicht-). In dem perfectcn Modus und Tempus 
waren die geschwärzten Noten stets zweitheilig (inipertcct) zu 
nehmen, die schwarze Brevis galt nicht mehr drei Semibrcven, 
sondern nur zwei u. s. w.; die Schwärzung nimmt ihr also deu 
dritten Theil des Werthes, der ilir sonst gebtthren würde'). Von 
diesem Mittel wird in der Notining sehr oft nnd snweilen in sehr 
sinnreicher Weise Gebrauch gemeeht^). Eine eigene Geltung er- 
hielten die schwarzen Noten, wenn sie als sogenannte J^roportio 
hemiolia im imperfecten Tempus auftraten: sie bedeuteten dann, 
ohne Werthverringerung, einen Umsclilag au» dem geraden in den 
ungeraden Takt und, wie Adam (Tumpelzheimer bemerkt, einen 
flüchtiger und leichter zu singenden Satz 5). Sie sind leicljt an 
ihrer Gruppirung von je drei und drei zu erkeni-en, uud von den 
werthverriugernden sdiwanen sn nnterscheidei.. 



1) Hermann Finck (Pract. raus. De colore figur.) sagt: „Est autem color 
nihil aliud quam plenitudo notularumf re\ qnod idera est, denigratio fign- 
ramm principalium''. Die geschwärzte Note Ix lii» It zwar nicht den Werth, 
aber Namen uud Bedeutung: „der Mohr hört nicht uut, Mensch rw sein, 
weil er schwarz ist", sagt Zarlino: „La forma ö quclla, che vetaincnte 
da reisore alle oosa: onde l enser nera non le toglie la forma, si come 
il color nero non leva allo £thiope TeMere huomo et essere rationale 
(Instit. barm. III. 67). 

8) Als etwas Besonderes ist die Zusammenstellung einer schwanen 
Brevis und Semibrevis au bemeriMn, sie bedeutet so viel wie eine punk- 

tirte Semibrevis und eine Minima. Man schrieb — ♦ - oder, was eben 



so viel war, . ffier hatte also die gecohwinte Semibrevis aus- 



nahmsweise eine besondere Bedeutung. 

3) Srbaldiis Hpyrl<>n (de arte can. S. 62) lehrt: Nigredo perfutonm 
cigttoram uotulis tertiam partem adimit, imprrfectxH quartam. 

4) Es kommen wohl einzelne Fälle vor, wo die Schwärzung der Note vcr* 
wirrend statt verdeutlichend ist, wenn niimli( h Minimcn geschwärzt wer- 
den, die danti St-niiniinimen <,'leichen; dergleichen ist jedoch ziemlich selten. 
Ein Beispiel enthält der zweite Theil von Joh. Gero's schönem Ave Maria 
(in dessen 1648 beiH.8cotto in Venedig erschienenen Motetten) und Gaspar's 
„Ave mater omnium" im Bass (bei Scb. Heyden S. 114). Auch ist zu be- 
merken, was Hermann Fiiu k nagt: (^uaudo in imperfcctis signis cantilena iu 
nna parte omneshabetdeuigi alas, tum pro commoni judicio musicorum habe- 
tur aut so! misatur quasi dupla proportio, hoc est dimidia pars valoris cantatnr. 

5) n«'miolia proportio eadem plane est cum tripla, nisi quod ca propter 
nigredinom plus airihtatis habet quam albedo (Adam Gumpelzheimcr, Cum- 
pend. mus.). Bs Kommen aber nicht selten Sätze vor, 8. B. mehrere in 
Hobrecht's Fortunaraesse, wo zwei Stimmen das Taktzeichen 3 und weis«?«; 
^oteu, die beiden andern ohne geilndertes laktzeiohen schwarze He« 
mioleu haben. 

Aaibres, GtsehMhls dtr Mwlk. IL S8 



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434 



Die Entwiokelimg des mehnttumigeii G^euuifga 



Schwieriger und verwickelter als beim imperfecten Modus, 
Tempus oder der imperfecten Prolation, bei denen durch alle 
Noten^nantititen ein bintres YvMhaäßB galt, wurde Alles in der 
Perfeetion. Hier mosste der Singer forfewährend bedeckt sein, 
die gebSzigen Noten im Gesänge zu drdtheiligen Combinationen 
80 lasammenzufassent dass beim Modus je drei Breven anf eine 
Longa, beim Tcmpug drei Seinibreven auf eine Brovis, in der 
Prolation drei Minimen auf eine Semibrevis kamen, als Grunri- 
mass der Bewegung} alle andern Quantitäten wurden zweitheilig 
ausgeglichen. 

Um nun den nrnnerus temarius festhalten zu können, musste 
za dem Anskunftsmittel der auch sebon enrShnten Imperfeetion*) 
und SU jenem der Alteration gegriffen werden. Kraft ersterer 

^It eine Note um ein Drittel weniger als sie sonst nacb ibrer (Ge- 
stalt und Stellung gelten würde; durch die andere, die Alteratio, 
welche Ornitoparchus als altera actio ,, nochmalige Geltung** er- 
klären will^), erhält eine Note das Doppelte ihres Werthes. In 
einer Combination wie diese, wenn das perfecte Tempus galt. 



1= 



wurde die erste Brevis durch die iiachfol^eude Semibrevis imper- 
fectiouirt , ebenso die zweite Brevis durch die ihr vorangehende 
Semibrevis i die folgende Brevis war dreitheilig, dann kam eine 
imperfecte Brevis nebst ibrer den ntmeru» immrim ergänsenden 
Semibrevis; die swei lotsten Bredes sShlten dreitheilig, also: 




Sollte aber Im obigen Beispiel die erste Brevis dreitheilig sein, 
so musste der Componist sie durch einen PuniU von der folgen« 
den Semibrevis scheiden: 



32: 



oder 



IBL 



1) Imperfeotio est notnlae perfectae privstio vel detreotio tertiae 

Fartis . . . 1) Omnis irnpui ffctio fit aut per pan«tam, notam vcl colorem. 
1) Imperft'ctio fit a minori. Siinilis non impei*ficit similem, sed major 
nota minorem. III) Dolor iu pcrfoctis notis aufert tertiam partom, in 
imperfe(;tis iinai tain (Figultts a. a. 0.). 

2) Et (lii'ifur altoratio, quasi altera actio, id est sernndaria alirnjus 
notae decautatio propter ternahi jperfectionem (Micrologus, erächien 1517, 
IL 11). Fignlus definirt: Alteratio est notse dupUeatio, quae fit propter 
eonstitutionem nmneri tomsrä . . . Altenftio fit, quatuU) daae minores 
nu^oribus interponimtur. 



Ly Google 



Dnftj und seine Zeil 



435 



Um nun durch die zwei Semibreven die dnMtlioili<?o Ordnunfj nicht 
zu stören, mnsste die zweite Scmibrevis^) doppelt lang, das heisst 
als Brevis geuommen werden: das war eben die auch schon den 
ilteren Heiifluralislen wohlbekannte Alkeration, nnd der rie be> 
wirkende Punkt hiess pmichtm altteraHania. Ifan alterirte die 
Bweite Note, nie die erste: „pereh4'* sagt Aren in seinem Tos- 
eanello „la perfczione in häte le rose e coneeßsa nello fiiie e non tiel 
priiiciph" Wurde der Punkt, ohne daas er eine Alteration bedeu- 
tete, als Zeichen der Imperfizirung angesetzt, so hiess er Punctum 
divuiiouis oder imperfectionis. £s galt gleich, ob man schrieb 

oder oder 




i: 



Letztere Schreibart wird öfter angewendet, um den Sänuer vor dem 
^lir,>griff zu bewahren, dasB er nicht die zweite Sciiiil>ie\ is etwa 
alterire''*). That nun der Punkt den Dienst unseres Taktstriclies 
und war er ein willkommenes Verdeutlichungsmittel, so galt es doch 
fSr eine Art Schande da Punkte in setaen, wo die Eintheilung für 
den geübten Sftnger anch ohne sie deutlich war. Solche Punkte 
nannte man, wie Tinctoris erwähnt, spott weise Eselspunkte'). 

Als man sich gew5hnt, die Noten der Regel nach für zwei- 
theilig anzusehen (denn während bei den Meistern der ersten Seliule 
und ihren nächsten Nachfolgern die Perfection vorherrscht, gewinnt 
schon von .Josquin an, d. i. von etwa 14H() und weiter, das iniper- 
fecte Tempus u. s. w. mehr und mehr die Oberhand), machte der 
Punkt hinter der Brevis, der sie als dreitheilig, d. h. als perfect 
kennzeichnete, den Eindruck, als habe er den Werth der Note um 
ein Drittel vermehrt: diese Bedeutung hat der Punkt ftlr unsere 
Musik beibehalten. In diesem Sinne wurde er aber auch schon als 
Punctum additionis in der Mensuralnotirung angewendet. Man sieht, 
dass der Punkt eine genug wichtige Holle spielte, um schon von 
Tinctoris mit wissenschaftlicher Grilndliclikeit in seinen vei*schie- 
denen Beziehungen dargestellt zu werden^). In einzelnen seltenen 



1) AUeratio in ultimam cadit uotam, non in primam (Figalus a. a. 0.). 

1) Wirklich hudet sieh bei Ornitoparohus die Alterirungsregel : „quo- 
ties inter duas imperfeotabiles duau alterabile^ clauduntur, absque divi- 
sionis puncto flccunda Semper altoratur". Das ist. ahcr, wie cahlrsiohe 
Beispiele zeigen, nicht überall in Anwendung gekommen. 

3) Quae quidem punoti vulgarltor dioontor aainei, eo qnod ipri ahnten- 
tes, tanquam asiui rationis expertes, ifriiorant, quae uotae minores rcgulariter 
majores iinprrfi, ituit, aut quae in naturali perfectione siue puncto persiatant 
(Tinctons, rruoiutus super punct. musio. cap. 15). G. B. Bosai (Org. de oant. 
9. 69) weist sogar Meistern wie Josquin und Morales solobe Punkte nach. 

4} Tinctoris (s. punot mus. oap. I) sagt: „Puuetns est minimnm Signum 

28* 



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436 D>« Entwiokelang des mehratiiamigen Oenngw. 

Fttllen vereinigte ein und deraelbe. Punkt venehiedeae Eigen- 
Schäften in aidi, s. B. der ente Punkt im 8. Kyrie der Messe 
Vomme amS von IHneeas Fangnes ist sugleleh Divisions- und 
Additlonspunkt 




Pausen im Werthe von S^mihrevon (Semyiausae) hatten im 
perfecteu Tempus die imperfizireiule Kraft der Semibrevon selbst, 
ebenso im Modus die TempuspauHen die Kraft der Brevis, und 
in der Prolation die Halbtaktpause {Suapirium) die Kraft der 
Minima. Die Pausen selbst wurden nie imperfizirt und ebenso 
wenig alterirt^). 

Alle diese Impeifisirungs- und Alterimngsregeln wirkten auch 
in die Ligaturen hinein, da diese nichts waren als susammengrup- 
pirte einzelne Noten. Ebenso traf die imperfizirende Kraft der 
kleineren Note die grössere, wenn diese auch nicht der nh'chst-, 
sondern der zwoitnächstpi-ÖHseren Geltung (»pecies rnnotd) gehörte. 
Stand z. B. im jiorfocten Tempus eine Semibrevis nicht vor einer 
Brevis, sondern vor einer Longa oder gar Maxima, so imperfizirte 
sie die erste Brevis, die in der Longa oder Maxima mit einbe- 
griffen war, so gut, als ob diese isoUrt dagestanden hStte. 

Endlich wurde sur Belebung der Bewegung auch die Triole 
angewendet, und insgemein durch die darttber gesetste Ziffer 3 
kenntlich gemacht. 

Der grttbelhafte Sinn der Lehrer fand in den möglichen Com* 
binationen, die aus diesen Begeln sich ergeben konnten, reiche 



quoil notac apponitiir. Eam dividit, aut augnicntat, aut perficit. Triplcx ergo 
est punctus uotae accideus: videlicet puuutus divisionis, punctas augmea- 
tationis et punotus perfeetionis". Sofort nimmt T. diese drei einsehien 
(iattungen m klarer, gründlicher Auseinandersetzung durch. Hermann 
Finck und A. Petit-CncliiMi« statuiren vier Gattungen: das Punctum ad- 
ditionis (oder valoris), divisiuuis, alterationis oder imperfectionis. 

1) Nütiie tantum altera ntnr, non pauBae (Ornitoparcbus und Wolfgaug 
Fi^nilus) Pausa imperficit si'd mnuiuam inijxirficitur (Lossius, Eroteni.lL 7). 
Es gab da noch eint; Menge Feiubeiten zu merken. So sagt Lossiua: nNota a 
fronte et atergo im])erficit, paua tantum atergo. Quando dnae tenribreres 
]tau8ae contiguae post brevem in tempore perfecto subsecutac fueriiii, nulla 
tit irnperfcctio. Iteiii (niando punetus porfectionis eaiii 8C(jnitur, vol li^atura 
(luarmn seniilircvmui, duabus brevilms luicrpuuitur'*. Uubereinstimmeud 
Hermann finde: „Quarta regnla. Quamvit panta non imperficitnr, led im- 
pcrfirit, tarnen iluae si'niibrcvcs contif?uae post brevem in tempore pcr- 
fecto Bobsecutae fuerint, tum nulla imperfectio tit**. Und Liossios gibt die 
Alterationsregel: Inter dnas figuras perfectas pansa com sna notula looata, a 
primum ponitiir pansa tum nota alterator. &n pausa seqnitnr **i?ty**i slie* 
ratio non habet locum, qaia notae tantum altcönuitar, non pau le. 



Digitizea L7 GoOgl 



Dofajr und seine Zeit. 



437 



Nahrong, sie warfen allerld ganz seliolaatiBcli klfngende Fragen 
auf: z.B. ob eine augmentirte Note auch vieder imperfizirt werden 
könne, was Tinctoris bejaht*). Sogar die Sprache dieser Theo- 
retiker klingt nach dem scholastischen Katheder. So erläutert z. H. 
Gafor die dritte Imperfectionsregel, wie eine Longa zwischen zwei 
Seiiiibreven zu behandeln sei, mit den Worten: ,,Hier wird die 
Longa durch die vorangehende Semibrevis a parte mite in der 
nichitgeringeren Geltung imperfisirt, denn die EÜnnilncevie Ift eben 
der dritte Tbeil der nIehstgeringerenNotengattnng der Longa lelbtt; 
die naekfelgende SemibreTia imperfinrt die Longa a pmU post n.e.w.'* 
Man glaubt einen scholastischen Philosopben tu kVren, wenn Gafor 
lehrt, das« bei der Imperfection die Note entweder paUmu (leidend) 
oder agem (wirkend) sei: eine Maxima könne nur patiens, eine 
Minima nur ageiis sein; die impertizirende Note müsse stets kleiner 
sein als ihre imperfectibilis u. s. w.2). Die Longa, Brevis und Semi- 
brevis könne nach Verschiedenheit der Zeichen sogar patiens und 
agens zugleich sein, macht Hermann Finck bemerkbar. Es wurden 
Etile ausgedacht und Besiehungen ergriibelt, welche aus dem ein- 
fachen Greschlfte des Notenleseos dne kop&erbrechende An%abe 
machten. Gafor bespricht z. B. eine doppelt imperfisirt» Longa. 
Er gibt folgendes Beispiel: 



. NB. L 



NB. S. 






! Ii 











„In diesem Tenor", sagt er, „wird die erste Longa a parte 
post in ihren beiden nächstangrenzenden Theilcu von den zwei 
folgenden su einer Ligatur verbundenen Semibreven imperfisirt, 
wovon die erste die erste verbundene Brevis (Franchinus meint die 

erste in der Longa begriffene) a parte post imperfizirt, die andere 
Semibrevis ebenso die andere Brevis. Die andere Longa wird 

a parte ante in den nSchstangrenzenden Theilen von den zwei 
voranf^cliendt'ii Semibrev«»n und zwar durch deren ernte die erste 
verbundt'iic Brevis, durcli die andere die zweite Brevis imperfizirt.*' 
Dergleichen hiess TrauHlation der Imperfizirung. Zum Glücke 
machte sich die Praxis von solchen Uberfein gegriffenen Unter- 
scheidungen siemlieh bald los. 

1) Liber imperfeolioaiini, de 18 genersL imperf. regolis. Cbp. IIL rsg. 12 

iniine. 

2) Pract. mus. II. 11. 



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488 



Die Eniwickelong des mehntunmigen Oesangea. 



Es ist von selbst einleuchtend, dasB die Tmehiedenen Arten 

des perfecten uud imperfecten Modus, Tempus n. s. w. mit einan- 
der combinirt werden konnten: wenn z. B. fllr das Verhältnis« 
der Brcven und Seinibreven das imj»erfV'eto Tempus palt, so konnte 
zuj^^lt idi für die Breven und Loiipen der perfecte Modus gelten, 
oder es kouute Tempus und Modus zugleich perfect sein u. s. w. 
Die Theofetiker und Prsktiker hatten hier aa dem, wai derfiber 
schon bei Lehiem wie H. de Zeelandis Terkommt» eine tüchtige 
Gnmdlage, auf der sie weiter hanen konnten. Ebenso kam es 
darauf an aus der Menge von Zeichen, womit Mttselne Lehrer 
oder Praktiker diese verscliiedenen Masse heseichneten, sich Uber 
eine Auswahl zu verständigen, die allgemeine Oilti«rkeit haben 
sollte, was liiiclist niitliig erschien, wenn Gesänge nicht auf den 
eigenen Schühnkreis oder den einzelnen Kirchenchor beschränkt 
bleiben sollten. Hermann Finck erzählt, dass Johann Ureisling 
(soll heissen Geisling), Franchinus, Johann Tinctoris, 
Dnfai, Bnsnoe (soll heissen Bnsnois), Bnekoi (soll heissen 
Binehois) nnd Garonte (d. L Caron oder Garontis) viele neue 
Zeichen eingeführt (mtUia nova signa aäüdminiy). Die Lelner 
sachten nun den Schttlem die verschiedenen Verbindungen nnd 
die andontenden Zeichen in Ueberaichtstabellen anschaulich zn 
machen, wie sich dergleichen bei Ornitoparchus, Hermann 
Finck, bei Seb. Heyden, Adrian Petit- CoclicuSi Lucas Lossius» 
G. B. Rossi u. 8. w. findet. 



1) Diese tehr oft kurzweg als glaubhaftes Zeugnitt abgesehtiebcae 

Stelle niu'^s doch mit einiger Vorfiicht aiifj^cnommen worden. Hftttett 
TiDCtoria uud Franchinus wirklich ganz „nette*^ Zeichen eingeführt, lO 
wire wohl in ihren Schriften die Kede daTOB mit 'Wendungen wie «a>^ 
bitnnnnr signandum esse" u. dgl., davon ist nichts zu finden. Daas 
GreisHnp ein Schreib- oder Druckfehler ist, darf für sicher gelten. 
Uermauu Finck hat die Stelle dem Coclious nachgeschrieben, bei dem 
richtig SU lesen: Jo. Oeyslin, Jo. Tinctoris u. s. w. Von einem Qreis- 
ling ist nichts bekannt. Gcyslin aber ißt offenbar der wohlbekannte 
Johann Ghiselin. Dass ihn U. Finck unter die Zeicbeuerfinder rechnen 
will, eridlft eine Stelle bei Sebald Heyden: Johann. Ohiselinnt in 
Hisaa Chratiosa «ngnlari in hoc dat opera, quicquid de varüs signii 
di<TTii)tn ( onrTiitu centut, tsnqttam in upecnlo propoaitis exem|»lis oonqpi* 
cieiidum üedit. 



Do&j und seine Zeit. 



480 



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440 



Dia Entwickdang des mehrttiinmigen Qesaoges. 




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Dulky md Mine Zeit 



441 



War hier das System vollständig durchgebildet, so war es 
freilich auch bis zu Couse^ueuzeu fortgeführt, wo seine praktische 
Braaebbark«it anfhOito. Wonn die Mszima im Modus major per' 
ffdm cum prolaHtme ptrfoda, wo die Dreiiheiligkeit durch alle 
Noten^ltangen dnrebfilhit {Numeri mmtrmm nennt es J. de 
Mnris)') and die Halbtaktnote, das Mass des integer valor nota- 
mm, nicht weniger als 81 solcher Takte dauerte, so vermochte 
keine menschliche Bnist einen solchen Ton ansznlmlten , kein 
Componist in seinem Tonsatze damit etwas anzufangen. Der 
Modus major wurde, wie Petit-Coclicus bemerkt, tiberhaupt „wegen 
der unangenehmen Dehnung der Noten^' selten oder nie ange- 
wendet, und so meint auch Hermann Finck: man finde äusserst 
selten 8ttteke mit dem Zeichen des moäm major perfecku oder 
imperfeehu, und wenn solche ▼orkommen, so sei wenig SchSnes 
daran, weil eine allsageringc Abwechslang der Concordanien nnd 
Fugen vorkomme: zähle ja dann die Maxima 27, die Longa 9 ge- 
wöhnliche Takte. Adam von Fulda nimmt die Nothwendigkeit des 
Modns in Schutz, sage doch schon Horaz : Est modus in rebtis^. 
Dagegen geben aber auch die brauchbaren Combinationen eine 
wundersame rhythmische Architektonik, während z. B. beim Modus 
miiior alle kleineren Notengeltungen zweitheilig gezählt werden 
nnd eine gerade Bewegung geben, sieht sich üi grossen Zügen 
ein aogerade bewegter Rhythmus in den je drei Breden nm&s- 
senden Longen hindoreh. ^Sin schönes Beis piel dasn ist Josqain*s 
Motette „iVosier rerum Seriem", wovon an gehöriger Stelle an 
sprechen sein wird.) 

Die Zeichen, welche gleich unseren Taktzeichen zu Anfang des 
Stückes in's Liniensystem gesetzt wurden, theilte die Theorie '^) in 
Signa numeralia (ftlr den Modus mit beigesetzter Zahl), rinularia 
(für das Tempus) und punctualia (für die Prolatiou). Der Kreis 
mit der Ziffw 3 bedeutet den Modus major, mit 2 den Modus minor; 
wird noch ein Punkt eingeseichnet, so deutet er dasn auch noch die 
Prolation an u. s. w. Die beigesetzten Zahlen als Zeichen des Hodns 
kamen aber erst in der zweiten Hilfte des 15. Jahrhunderts auf. 
Bei den älteren Meistern bedeuteten sie nicht den Modus, sondern 
eine sogenannte Proportion, d. i. die Andeutung einer gegen den 
Tnteger valor zvs'eim.il, dreimal u. s. w. schnellern Bewegung. Den 
Modus deuteten sie ilurch eigens gestellte Pausas modi an, wie es 
z. B. in Eloy's Messe dixerunt discipuii zu sehen ist^). Andere 
Lehrer hatten eigene Zeichen, wie wir bei H. de Zeelandia gesehen 

1) Quaest. sup. part. raus. (Gerbert, Scriptores 8. Bsnd S. 801). 

2) 1. Buch der Satiren, I. 106. 

3) Figulus, De mua. pract. 

4) S. Anhinge, wo eine deutliche Erldinmg aus Seh. Heyden auf- 
geoiHnmen ist. 



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44S 



Die Entwickeluog des mehratimmigea GeeAnget. 



baben. Beb. Heyden nennt den Kreis des peifeeten Tempns und 

den Halbkreis des imperfecten Tempus (nocb jetst unser Zeichen 
des geraden Taktes) signa essetitialia. Die Lehrer nnterscbieden sigrta 
min ueittia, durch welche die Noten rascher worden, als sie sonst 
nach dem jiitrgrr ralor iiotantm gewesen wh'ren, und sigtia avgentiaf 
welche die unigekehrte Wirkung hatten (zu ersteren zfihlt Heyden 
auch den Modus, und zu letzteren die Prolation, weil bei der Pro- 
lation die Minima die Dauer erhält, wie sie sonst der Semibrevi$ 
snküme). Die mAKmiii» waren mebr Im Gebranebe als die 
npna tmgentia. Ifaa konnte die Bewegung unter jedem beliebigen 
Zeichen beschleunigen und langsamer nehmen (das AUegro und 
Adagio unserer Musik), aber ohne die BesMchnung eines Tempo, 
vielmehr durch genaue Zahlenproportionen, in vielfachen feinen 
und von den Theoretikern bis in's Unausfiihrbare verfeinerten 
Abstufungen. Der Lifegei' valor mit seinen stets gleichmässigen 
Schlägen war, wie ein Pendel oder ein Metronom, ein unverrück- 
barer Regulator. Stand ein Zeichen allein, so galt der Integer 
vaUft; wurde dnreb das Zeicben eine senkrechte Axe gezogen, oder 
wurde es umgekehrt, so war die Bewegung doppelt schnell, d. h. 
auf einen Schlsg des Integer vdUr kamen statt einer Semibrerli 

deren awei: 

(l^^ ([/ (|) (0 if^^ 0 3 ; für das Tempus perfedwm 



aber, dessen Zeichen der stets gleichbleibende Kreit irt, naeh Har- 



1) Das erste dieser Zeichen lebt in unserem Allabreve-Takt fort. £r 
hiess sdion im 17. Jahrhundert so, Q. B. Rossi eridirt im Orgtno de Can- 
tori die Benemumg, weil dabei nicht nach Ssmibrevis, eondem nach 
der Brcvis (alla breve □) die Bewegung gemessen werde. Rossi tadelt 
die ToDsetzer, welche eigenmächtig neue Zeichen erfinden „veramente 

?|aeBto h un abbagliare l'intelletto del povero csatore." So habe der 
Jpanier Didaco (Ortiz) in seiner Motettf ,,Tua est potLiitia," um vierfach 
schnellere Bewegung bei perfectem Tempus anzudeuten, den Kreis mit 
swei parallelen Azen dnrohsdmitteb, Vmooiso Rnfb ebenso in srinen 
Capricci den Halbkreis. Rosti selbst unterscheidet segni col punto, segni 
rivoltati (umgekehrte Zeichen), segiii traversi (durchstrichene Zeich» n) 
und la cifera. Der Halbkreis als Zeichen des imperfecten Tempus gibt 
Hermann Finck Gelegenheit zu ganz seltsamen Untersuchongen. Wenn 
der Kreis das Zeichen der Perfection ist, also drei Semibreven bedeutet, 
warum bedeutet seine H&lfte, der Halbkreis, nicht anderthalb, sondern 
swei Semibreren? Zur Beseitigung dieses Bedenkens xeiehneten die 
Musiksr in den Kreis ein gleichschenkliges Dreieck als Zeichen der drei 
Schläge. „Löscht man eine Seite," Baprten sie, ,,so bleiben noch zwei 
Schläge, der Kreis ist aber zum Zeichen des Tempus imperfectum ge- 
worden.*' Mit nichten, wendet Hermann Finck ein, „dann ist es ja ein 
Zweidrittelkreis, kein Halbkreis." Die Erklärung liege ganz wo anders: 
Ist der Halbkreis C gleich einem Takte (= O auif einen Schlag) und der 
umgdnlirte HiJbkreis o das Zeldien doppelt schneller Bewegun^r, also 
zweier Takte ( O O auf einen Schlag), so verbinde man die zwei Halb- 
kreise () = O + O C und man hat wieder den vollständigen Kreia der 
Perfeutiuu uud die drei Semibreven. Quod erat demonstrandum! — 





Daüij and Mine Zeit 



448 



mann 



Dieselbe BedentoBf hattß e% 

[oder i i i ^ T ^^^^ J®^® Ihnlicbe, wo die untere 
Zabl tweimel in der bSbeien begriffen war, JEVoporlto iupla) neben 
des Zeieben gesetst weide. Hier nnd in eilen ttnlieben FMlen be- 
deutet die tiefere Zahl die Anzahl der stets gleioben Schlüge des 
bUgtr «Mrfor, die obere die Ansebl der darauf kommenden Grund- 
massnoten. Die Zahlenprop<ntion \ oder | | n. s. w., Propmiio 
subduplOi machte also die Bewegung doppelt so langsam. Dasselbe 
wurde durch den Beisatz „Crescit in duplo" erzielt, alle Noten- 
gattungen mussten doppelt gross genommen werden (so bezeichnet 
Dufay den Tenor der beiden Kyrie: Se la face ay pale und Tant 

je me deduis) ^) Durch die Proportion ' (drei Grundnoten auf 
swei Schlfige) oder \ ^ (Propartio sesquialiera) wurde die Be- 

.14 8 

wegung um die Hälfte schneller, bei j oder - — u. s. w. um die 
Hftlfte langsamer. Die dreifach schnellere Bi wc^uDp; wurde durch 

eine Proporiio tripla f f ^ - viorfadi sclmellere durch 

eine Ptop<niio quadrupla oder auch dadurch ausgedrückt, dass durch 
das verkehrt gestellte Zeichen noch eine senkrechte Axe gezogen 

V ) v) man neben ein gerade gestelltes durch- 

strichenes Zeichen die ^oporiio dupla s^hnehi ( / Dagegen 

maebte die JVpporKe mMripla - u. s. w. die Bewegung dreifach, 
Bnparth mibgfuiinipla ^, \ n. s. w. vietfaeb langsamer^ 



1) Schrieb man aber tJ^B^ihna rit lougSf longa lii brens** ^lOniut), 

so wurde die Bewcfrung doppelt achnell. 

2) Wie Omitoparchas erzfthlt, soll diese bruchartige Schreibart zuerst 
Brasmut Lapicida, etn gesdiitster Toosetser der sweiten niederlän- 
dischen Schule, angewendet haben, während man früher nur die eine 
Zahl 2, 3, zur Andeutung der Proportio dupla, tripla u. s. w. ansetzte. 
Daraus würde folgen, dass ursprünglich, wie es auch wahrscheinlich ist, 
die 2abl der Qmndnoten immer nur gegen einen Schlag gemessen wurdci 

verwickelte Broportionen wie |i ^ n. s. w. also erst splter in Adnabne 

kamen. Die Sohieibart || u. s. w. ist dem blossen 9 oder 8 weit ror- 

zuziehcn, weil mit den blossen Ziffern 2 oder 3 auch der ^Nfodus gemeint 
sein kann. Eben deshalb musste man auch zu der bruchartigen Schreib- 
art greifen, sobald man die alten Pausenzeichen für den Modus aufgab 
and dafür die Signa numeralia mit 2 und 8 einAlhrte. 

3) Der Erste, der diesen Gegenstand einer umfassenden wissenschaft- 
lichen Behandlung unterzogen hat, ist Johann de Muria. Einen Traktat 
de ProportionibaB nach seinen Lcbiren reHaast, hat Ckibert in die Script, 
eccl. de Musica Band 8 S. 286 — 291 aufgenommen. Tinctoris hat ein in 
drei Bücher getheiltes „Proportionale" geschrieben; es ist für alle seine 



444 



Die Eniwiokaliuig det mehntimmigeD flniiiipt 



Die entgegengesetzte ZiffenteUang im VerUnfii des Stückes 
bob die frObflfe auf und ilellte den Meger valor wieder her, 
ebenso dea entg^engesetite Zeieben. 

Der Begnlütor des Oansen war der Takt (Ta/ttt»), desaen Ge- 
setze sieb dnrob die ganze Comporitioo blnsieben, naeb dem sich 
die Noten gmppiren, dem die Cadenzen folgen, wenn es gleicb Ar 
überHiissig galt, die einzelnen Takte durch Taktstriche zu mar- 
kiren and zu trennen. Doch wird der Takt meist (immer nicht) 



Nachfolger das Fundumeut geblieben, auf dem sie weiter bauten. TiB4>> 
toris dennirt; ^Proportio est duorum terminomm invioem bidniado, fit 
igitur istfi proportionalis habitudo vel canendo vel componendo, quoties 
unua notaruiu numerus ad alium refertur.** Er ontersoheidet die gleich« 
Proportion (Pr. aeqnalii 1 : 1, S : 9 o. •. w.) and die ansleiche (inaequaUs 
2 : 1 , 3 : 2 u. 8. w.). Letztere theilt er wieder in drei OCTchiechtw 
^penera): in das genus Tnnltii)lex. superparticulare und superpartiens. 
Seim ersten entsteht die grössere Zahl durch MultipUcation der lüeinerea 
Zahl mit ganzen Zahlen, wie 2 : 1 od. 4 : 2 od. 6 : 3 (Tinctoris geht nur 
bis zur l*r. 8extupla, wie 6:1, 12 : 2, 24 : 4); beim zweiten enth&It die 
grossere Zahl die kleinere ganz und noch einen Aliqaottheü derselben, 
s. B. bei 8 : 3 entbilt 8 die iw«i gaai and tberdiM noeb deren HUfte, 
daher das Verhältniss als Proport io sesqoialtera beiaichnet wird; bei der 
Proportio sesquitertia 4 : 3 enthält 4 die drei ganz und noch deren dritten 

Theil, analog bei der pr. sesquiquarta 5:4, 10 : 8 (5 = 4 + -1 10 = 8 + - J» 
sesquiquinta (G : 5 oder 12 : 10 d. i. 6 = 5 + 12 = 10 + ^ ) und 8es<jai- 

octava 9:8, 18 : 16 : mehr z&hlt Tinotoris nicht auf. Beim dritten entiiält 
die grössere Zahl die Ueine ganz nnd noch einen sliqoanten Thdl der- 
selben, z. B. bei pr. snperbipartiens tertiaa 6 : 3 enthält 5 die drei ganz 

und noch zwei, bei der pr. superbipartiens quintas 7:5 enthält 7 die 
fünf ganz und noch zwei, analog die Proportio supertripartiens (quartas 

^ d. i T'b4+3, quintas 8;6 d.L 8*5+8) and dio pr. snperqoadri- 

partiens qaintaa (9:5 d. i 9"'5'f 4)i Tinotoris bernft sieb dabei auf 

den Pythagoras und trftgt die Sache mit gewohnter Klarheit TOT. Seine 
Terminologie (der Boäthianiscben nachgebildet) wurde von seinen Nach- 
folgern allgemein angenommen. Unter diesen treibt Franchinus Oafor 
die Sadie am weitesten und in's Masslosc. Er erkllrt sine grosse Menge 
von Proportionen unter den abenteuerlichsten Namen, z. B. Proportio 
duplasesquiquinta 11 : 5, 22 : 10 ^pr. triplasesquialtra 7:2, 14 : 4, 21 : 6, 
Froport. qmntnpla sesqmqnaHa Sa : 4 n. s. w. , bfo er endlidi bei dem 
Monstrum anlangt : Proportio subquadruplasupcrtripartiensqaartas 4 : 19, 
8:38, 12:57. Und dann meint er noch: rcliquas autem biqns generis 
habitudines musicorum diligentiae committimus perscrutandas — ! Heyden 
meint: „Franchinus, alioqai accoratissimus masicas, quid qnaeso de tae- 
tuum meiisura, cum diversorum sigfnorum proportionibus recte conferenda, 
uspiam ita doouit, ut nostrum laborem aiiquantisper levaret? (De arte 
can. — Epist noncap.) &r1lno (Instit. bann. HI. 70) sagt mit ofUnser 
Versehtnng: „Haveano oltra di questi gli antichi nello loro compositioni 
molti altri accidenti e eifere di piü maniere, ma perchö poco piü si 
usano, et non sono di ntUe alcuno alle bnone et sonore et harmonie, 
pert) lassaremo il ragionar piü in lungo, di simil oose a coloro, cbe sono 
otiosi e che si dilettano di simüe cifiive piü di qadio» che facemo nci**. 



Bufay and seine Zeit. 



445 



bei SdiloM nnd Anfang 4er Zeile insofem bemshtet, dmu man 

die Zeilo nicht geine mit eitum halben Takte endet; andi die 
Behieibart der Pansen irird oft dadnrcli bestimmt: 



(Petrocd** Ausgabe 1808 von Josqnin's Messe Heronlss.) 

nicht aber: 



So macht sich das Taktgefühl auch in den hfiufipen Syncojiinin- 
gen geltend, und für die richtige Behandlung der Disäonauzeo 
war die genaueste Beacbtong des Taktes entscheidend. Tinctoris 
seigt sogar scbon «ne sehr richtige Empfindung lllr den ünter- 
schied staiker nnd schwacher Takttbeile'). 

Man unterschied dreierlei Takt: „Von manchen** sagt Sebald 
Heyden, werden drei Taktgattungen statnirti welche auch das 
SSnp^erv'olk beim Sinf^en vorlSngst angenommen hat. Wer aber 
die Eigenheit der Kunst und der Proportionen und die (iesang- 
stilcko der bewährtesten Meister genauer prüft, wird die Ueher- 
zeuguug erlangen, dass es nur eine einzige Gattung von Takt 
gibt, weleher alle Arten wirklieh knnslgerechter Gesiiuge auge- 
passt werden kennen nnd sollen. Denn wenn in den Takt aller- 
dings Eintheilangen gebracht werden mttssen, so wird er doch 
an sich kein anderer, wenn er langsamer oder schneller geschlagen 
wird, sondern vielmehr, je nachdem er mehrere oder wenigere 
Noten abfertigt. Wenn die Slteren Musiker einen rascheren 
oder langsameren (lesang vf>rsrhreiben wollten, so bewirkten sie 
solches nicht durch schnelleren oder trägeren Takt, sondern 
durch die gedehntere oder zusammengedrängtere Geltung der 
Noten selbst Denn es ist kein Zweifel, dass blos deswegen 
die vermindernden Zeichen nnd die Tielfaehen Gattungen von 
Proportionen in die Musik aufgenommen worden sind". Die 
drei gebräuchlichen Gattungen des Taktes, deren sich die ,, Alten" 
(vderea) bedienten, waren nach Adrian Petit- Coclicus der Takt 



1) Tinctorifs redet von der rechten Art DisRonanzru anzuw«'ndrn, imd 
sagt bei dieser Gelegenheit: „Quae quidem discoidantiae purvite ita vehe- 
menter te non praesentant aaditni, qaomodo sopra mltifMu parte» notap 
rtim cnllocantur, ut si nvjyra privin.s assuniantur. Suni «-nini nuisici vio- 
lento motu hunt, unde »i niotus violcntuH ejus naturae sit, ut circa fmem 
remittutur, conaequons est, secundaa parte» noiarvm non tarn rehcmenlis 
iom esse, quam pHmtu ; qmd ^dem ixttelligendum est de notis mena%i- 
ram dirigentihus , earumqur partihuft unititt, in ceteruni enim asque 
exaudiri aonos manifestissimum est (Tinctoris, Contrap. III. .'il). 



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446 



Die Eatwioikelaiig dee awhnUmmigen Geeeagei. 



der Prolatioa oder Tripla G * j O 3 ' — ' ^rei Semibreven 
oder Minimen auf den Takt, der sweitbeilige Takt dnrch die 
Brevie (hinarii per brevem) ^. ■ — ■ * t, der dritte durch dia 

Semibrevis (3 * T T """^^ ^^^^ ^^^'*» ^^"^ Coclicus fort, ,,der- 

zeit der gewöhnliche Takt für alle Zeichen. Es gibt viele 
Stücke, die schwer zu ninpcn sind, wo eine Stimme in der drei- 
fachen, die andere in der zweifachen l'roportion singt oder im 
Tempus oder unter sonst einem Zeichen. Ks gibt Leute, die sich 
ftir dergleichen mehr interessiren als sie sich angelegen sein lassen 
geechmackToU und rein tu singen**. Man nntwsckied sehr genau 
Takt und Mensur: „es ist swischen beiden ein Unterschied**, be> 
merkt Coclicus. Der Takt war das einheitliche Mass der Grund- 
bewegung eines 8tflckest mochte jetat Minima, Semibrevis oder 
Brevis als Mass angenommen werden. ^^Der Takt**, erkifirt 
Heyden, ,,ist die Bewegung dos Fingers nach gleichmassiger Zeit- 
dauer in ph'iche Schläge getheilt, wodurch alle Noten und Pausen 
in Uebcreiustiiuniunj; {^ehraclit werden"^). Dagegen ist die Mensur 
nach ileyden's Detiniliun eine gewisse Bewegung in der Zeit, 
nach deren dusch den Takt gleichmXssig geregeltem Wechsel 
die Noten und Pansen eines jeden Gesanges mit Btteksicht auf 
die Geltung eines jeden Zeichens sich regeln. Der Takt traft 
hinter die Mensur xurUck, während bei uns die MensuT, die Aus- 
gleichung aller verschiedenen Notenquantitäten untereinander, su 
einem einifren Oanzen hinter den Takt zurücktritt, welcher offen 
und sichtbar wie der Pendel einer grossen Uhr seine Schläge 
schlägt. Daher hat unsere ncu(M-e Musik etwas eigenthümlich 
schart und präcis Gegliedertes; die rhythmische Eigenschaft der 
Motive macht sich in energischer Weise bemerkbar, wir werden 
gleichsam ttber Berg und Thal gefllhrt, wXhrend die alteithttm- 
Uchen Gesangstttoke aus den Zeiten der Mensuralmusik etwas 
YOn dem gleichmSssigen Hinströmen eines grossen Flusses haben, 
dessen Wellen in einander spielen und kaum merkbar inein- 
ander übergehen, und wo dem Auge nur der Eindruck einer 
grossen ruhig hinwogenden Fläche bleibt. Freilich brachte, 
wie wir aus jener Aeusserung des C<K"licus sehen, die Uebung die 
Sänger allgemach wie von selbst auf diu drei Taktirarten, die 



1) TactuB ... est digiti notas aut nntas ad temporis traotom in 

vices aequales divisum, omnium notulaniTn nc pnuHRmm quantitates 
coaptsns (de ari cau. I. 5). Hennann Finck dehuirt: Tactas est motio 
Continus praecentoris mimi signorom indido fkola, caatsm dirigsns 
menimraliter. Adam de Fulda (^ehr gnt): T^Mtos est oontinua motio in 
U)e&»uia contentae rationis (III. 7). 



uiyui^uu Ly Google 



Dafay vnd aeine Zeit 



447 



noch für uns massgübeud sind: den ungeraden, geraden und 
den Alla-Breve-Takt Als jene kflnsäieliett Tonsätze aufkamen, 
wo jeder Stimme ein anderes Signum TOigeselirieben war, mosste 
der Leiter des Gesanges naeh einem gemeinsamen Ifittelmasse für 
alle Sfiinmen greifen. Dies war eben dor Takt im Tempus, die 
S(Mail>rovi8, die nach jener Angabe des Coclicus als gemeinsckafl- 
licher Re^^iibitor flir alle Stimmen angenommen wardc. Sebald 
Heyden stellt die zwei allgemeinen Regeln {regulas catholicfVi) auf: 
itCrstenH, in allen Gosrängen nur einerlei Art von Schlägen anzu- 
wenden, zweitens, alle Zeichen nach dem Werthe der Semibrevis, 
als einer unverrückbaren Grundlage, zu bemessen.'* Aber solche 
Siltse waren in der That sebr sehwer an singen, um desto scbwierigcr, 
je verwickeitere Zahlenproportionen der Gomponist in Anwendung 
brachte. Es hiess dem SXnger beinahe das UnmiSgliehe sumuthen, 
wenn er die verschiedensten Verhältnisse nach den stets gleichen 
ScblÄgen dos l'aktes regeln sollte. Sebald Heyden beschränkt die 
ausfuhrbaren Verhältnisse auf die Relationen von drei und vier. 
Als man dahin kam, die Auff^abe der Musik nicht, gleich den 
gelehrten Theoretikern, in der Lösung verwickelter m<ithema- 
tiscber Probleme zu suchen, fing man an vom iideger valor völlig 
abauweichen, indem man durch schnellere und langsamere Bewegung 
ein eigentliches Tempo anauwenden begann. Damit ist nun Sebald 
Heyden wieder ganz und gar nicht einverstanden. In der epistola 
numupatoria seines Buches sagt er: , .Zuverlässig würde sich die 
Bedeutung der Zeichen unverändert erhalten, wenn nicht die Ein- 
fiihruiipf verschiedener Taktarten jene Bedeutung verdunkelt und die 
wahren (Frenzen der Kunst Uberschritten hätte. Durch diese un- 
besonnene Zulassung von allerlei Takten ist das Wesen und die 
Eigenheit der Proportionen, welche den Werth der verschiedenen 
Zeiehen unter sich bestimmen, verwirrt oder wenigstens entstellt 
worden. Wir müssen solches um so mehr beklagen, je weniger 
es nöthig war mehrere untereinander verschiedene Gattungen des 
Taktes zu ersinnen. Denn da diese Meng^ verschiedener Takte 
nur zu dem Zwecke erfunden worden ist, um dadurch verschie- 
dene Ü.'wegungen des Genaustes aiisztidriicken, Jetzt eine langsame, 
jetzt eine raschere, jetzt eine äusserst selmellc: so muss man 
wirklich fragen, ol) diese Neuerer von Propintioncn, Augmenta- 
tionen und Diminutionen etwas verstehen. So viel ist gewiss, 
dass sie durch ihre verschiedenen Takte leisten wollen, was die 
Alten viel besser und kunstgemässer durch die Diminution und 
Proportion geleistet haben" 1). 



1) Es konnten versohicdsne Stimmen unter verschiedenen Zeichen 
ohne xi^thmiscbe Verwirrung singen, wenn nur die Summe sller Zeichen 



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448 



Die Eniwickelung des mehntimmigen Gesäuges. 



Die Mnnker dieser Epoche untoschieden anch wieder dici 
Hauptgattun^en von Takt: den grösseren (majot), den kleineren 
(minor) und den proportionirten (jyroiwriioiiatus). Der erste, der 
auch ganzer l'akt (totalis oder interjralis) hiess, bestand darin, 
dass die Breviw in nicht verminderter Taktining nach Modus und 
Tempus bemessen wurde j dagegen kamen beim anderen zwei Semi- 
breven oder Minimen auf einen Takt, d. h. Schlag: „er herrscht 
bei den Neuem gar sehr vor," sagt Hennann Finek, „und wird 
auch allgemeiner (gemeräUs) oder gewöhnlicher Takt (fmlgan$) ge> 
nannt Kamen drei Semibreven gegen eine, wie in der THpla 
(sc, proportio) oder in der perfecten Prolation drei Hinimen, so 
hiess der Takt proportionirt" 

Zu den Feinheiten der Mcnsiiralisten gehörte endlich die Syn- 
copirung (syucopatio), v^ 'n' llennann Finck definirt: „Die Beziehung 
einer kleineren Note über eine grössere weg auf eine fthnlichc 
kleinere, der sie zugerechnet wird, wie wenn zwischen zwei Mi- 
nimen eine oder mehrere Semibreven stehend gegen den Takt ge- 
sungen werden, oder s wischen swei Semibreven eine, awei oder 
drei Breven.** Das ist dieselbe Bedeutung, die -mr noch heute 
mit dem Worte Syncopirung verbinden. Durch die ganze Mensiiral« 
musik spielt diese Anordnung eine grosse Rolle. Unter Syncopen 
(Syncnpae) vorstand man aber ancli itisbosondere fiinftln-ili^o d. i. 
halbseliwarze N(»ten, deren weisse Hälfte drei, die schwarze zwei 
Semibreven {raU, oder auch einen constanten Wechsel >veisser und 
schwarzer Breves. Bei dem Schreiben der Pausen durften mehrere 
Pausen nur dann in ein einziges Zeichen ausammengezogen werden, 



ein zusammenstimmendes Resultat ergab. Sebald Heyden (S. 7^ rÜh 
die Resolution sehwierigcr pcrfcctcr Säf ze in die Tmpfrfection Tin machen 
(ex Integra perfectione in diminutam imperlecttoaem resolvere), was er 
an dem Kyrie „Malheur me bat" von Agrioola nachweist, statt 




solle man rssolviren : 

Der Hörer werde gar keinen Unterschied bemerken (nt utrumlibet rede 
cantari proeul audiens dgodiosre nequeat, mt^^rofM jp»feeHo eantetmr, 

an reisoluta diminutio). 

1) Uermann I mck, Musica practica, Lib. II de Tactu. 



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Jhähj und HOB» ZtÜL 



449 



wenn sie zuHammen in denselben binären oder tcrnären Absclinitt 
gehörten; Ronst miissten sie getrennt notirt werden. Dieses ganze, 
grosae, reich und siunvoU ausgebildete System findet sich schon bei 
denlfeiilAfii der enken mederlindiseben Sehnle ab etwas vollBtibiidg 
Bekanntes nnd dnreh anhaltendeUebung handlieh Gewofdenes vor; 
die Anwendung desselben auf kttnsüieh durchzufUirende Probleme 
bildete sich jedoch erst in der sweiten, nacb Okegbem benannten 
niederländiseben Schule aus. In der ersten machen sich erst die 
Keime davon in ziemlich bescheidenen Versuchen bemerkbar. Hat 
unsere jetzige Notensclirift für uns, an sich genommen, keinen 
selbstständigen Werth, ist sie eben nur ein Mittel die Composition 
zu tixiren: so war jene Mensuralnotirung weit inniger mit dem 
Wesen and Kern des Kunstwerkes selbst Terwaebsen. Neben dem 
dnrcb die Ansfttbrung dem Obre ▼eiraittelten Klange , neben dem 
knnstreicben Tonsatae bietet meist selbst schon die blosse Notimng 
jener alten Compositionen irgend eine interessante Smte^. Die 
sinnreiche Anwendung der schwarzen Noten, der Ligatoren^ der 
Punkte, die feingegriffeiien Imperfizirungs- und Alterimngsnille, 
die Concordanz der einzelnen in verschiedenen Taktzeichen ge- 
schriebenen Stimmen, die durch blosse Proportionen durgestellteu 
künstlich combinirten Vergrösserungen und Verkleinerungen, selbst 
das spielende Arrangiren der Notenquaiititftten in eine regelmässige 
Folge ^): alles das hat soweilen mit dem eigentUchen Knnstweike 
gar nichts sa thnn nnd an rieh nieht mehr Werdi als etwa die 
DnrehfHhmng eines Rösselsprunges auf dem Scbachbiet, aber es 
hat etwas eigenthUmlich Anziehendes. 

Die Mensuralnotimng, und wesentlich sie, führte zurEntwicke- 
Inng jener Seite der niederländischen Kunst, welche unter dem 
Namen der ,, Künste der Nicderlän»! er" beriilnnt und verrut'eii 
i^t und die ungerechteste Beurtlieilung erfaliren hat. Schon Kiese- 
wetter hat mit vollem liechte darauf aufmerksam gemacht, dass 
„keineswegs alles, was die NiederlXnder liefiarten, Canons nnd 
BSthsel waren, wie man au glauben Tersucht wird, Ja glauben muss, 
wenn man ne blos nach den Lehrbflcbem, Compendien, ja selbst 
nach den grossen gelehrten Traktaten der naehgefolgten Theoretiker 



1) Diese Seite geht bei den sogenannten „Entzifferungen" in moderne 
Tonsdhrift natHflioh f eri oren. 

2) So z. B. hat Ludwig Senfl (um 1520) eine seiner Bcarboitungcn 
des Fange lingua (sie steht in Rhaw's Sacror. hymii. lib. I. 1542 
N. LXVI) in einer fast unglaublich fein abgewogenen , künstlichst ange- 
ordneten Notimng niedei^^eBchrieben. An einer Stelle des Tenors ordnet 
er die Noten fast wie Pnternnsterkügelchen, abwechselnd eine punktirte 
Brevis nnd eine Minima, weiterhin eine weisse and eine schwarze Brevis 
n. s. w. Es w&d mdbt tbecflflarig sein sn bemailBen, dass das Toastfldc 
selbst Yen miohtig feierlichem Charakter ist. 

A»bto», OsisMcfcH im Mnlk. U. S9 



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Bio BDtwiokclinig dei mehnkhmiiigen OmngM. 



und Didaktiker, besuiiders der deutschen^), beurtbeilt, welche ganz 
eigentlich darauf ausgingen aus den Werken der Meister nur der> 
gleichen viel bewunderte Spielereien sn sMnmeln***). 
/. Wurde eine Composition Uber einen knnen Liedtenor, oder 
Über das knne Motir eine Antiphone gesetit, so lag es dem Com» 
ponisfcen nahe» seinen Tenor das Motiv entweder in sehr langen 
Noten vortragen zu lassen, um für die contrapunktische Entwicke- 
Inng der übrigen Stimmen Kaum zu gewinnen, oder es ihn zu 
gleichem Zwecke mehrere Male durchsingen zu lassen. Um das Lied 
als Lied selbst fiir den Blick in der Tsotenschrift deutlich hervor- 
treten 2U lassen, wurde statt langer und schwerer Noten die Notirung 
in Breven nsd Uinimen vorgezogen, aber dem Sänger doreh die 
beigeschriebene Anweisung „Alles doppelt, gross" CeresetltiifiiiplMM) 
oder „dreifach gross" (vk triphm) deutlich erklirt, dass er jede 
Note doppelt oder dreifach so lange auszuhalten habe, als ihr nach 
An&eichnung nnd integer valor eigentlich zukäme. Zu gleichem 
Zwecke konnte man die Stimmen unter verschiedenen Zeichen singen 
lassen, z. B. den Tenor sein Lied in der perfeeten Prolation, die 
andern Stimmen im perfeeten Tempus, wie Vincenz Faugues im 
Kyrie seiner Messe Ommt anne,^ (den Tenor in solcher Weise 
durch einen knapperen Takt auszuzeichnen, kam später h&ufig vor: 
als Bdspiele seien die weltlichen Lieder Comtm ftmme von A. Agri- 
eola, Tamdemakm von Lapicida, Tartara von Isaak genannt, simmt- 
lich in den Canti cento cinquanta). Der weitere Einfall gab sich nun 
wie von selbst bei wiederholtem Durchsingen den Tenor das Lied 
das erstemal in langen, das anderemal in kurzen Noten vortragen 
an lassend Das konnte nun wieder entweder mit einer kunen bei- 



1) tiiareanuB und Sebald Heyden obenan. 

S) O. d. M. 8. öS. Iii der Tbat ist die Vorstellung aar nicht selten, 
dass man sich einen Okeghem, Hobredit n. i. w. in seiner düsteren Studier» 
stube denkt, wie er irgend einen unsingharen, für Menschenohren unmög- 
lichen HsUhselcauon nach langem Kopfzerbrechen ausheckt, und schadenfroh 
vergnflgt in den Bart lacht, wenn CoUegen und Sänger sich daran ihrer» 
srits (lio Köpfe zerbrochen; bis ihm zur Revanche eine fthnliche unknack- 
bare Nuss entgegengehalten wird; und als sei das die Kunst der Nieder- 
lllnder gewesen. Wie staunt man, wenn man den gewaltigen Ei-nst, die 
Tiefe und Urkraft dieser verrufenen Meister aus ihren Werken fc ^ mm 
lernt! Freilich mnss man die Werke in selten besucliten Winkeln grosser 
Bibliotheken, im Staub der Archive suchen, und wenn man sie gefunden, 
erst aus ihrem Zauberschlafe erwecken. Das ist aUerdiags nirat Jeder- 
mann's Sache, sie kostet viel Zeit, trrosse Mfihe (und, um den pro- 
saischesten, aber leider nicht zu umgehenden Punkt zu berühren, (leid) 
und es ist jedenfalls weit bequemer Forkel und Kiesewetter abzu- 
schreiben und SQ sagen, was sie sagten, ,^ar mit ein bischen anderen 
Worten," als, wie weiland der brave Bumey, den" unsere Zeit über die 
Achsel anseht, weite Reisen durch deutsche und italienische Biblio- 
ftheken und Kirchenarchive su machra, wom heatsutage gar aodk die 
nicht minder wichtigen helgischeD and franiteisdhen koounenl 



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Do&y and leine Zeft 



451 



geschriebenen Andeutung geschehen, wie Dufay's ,,Ad metlium 
referas pansas linqvendo prioi'cs", oder ohne zu einer direkten In- 
struktion für den «Sänger zu greifen, durch ein doppelte» Takt- 
leicben, welches den Sänger bedeutete, dass er seinen Satz erst 
iMMili der Geltang, welche das eine Zechen den Noten gab, toisu- 
tragen habe, alsdann aber nach dem »weiten Zeichen, wie s. B. 
schon Eloy im Ägim seiner Hesse ,JHxeruui disdpuU** ein solches 
Doppebeiehen {tigmm conira ngmm) anwendet. 

(Diesp Noten sind das erstomal im Modus major cum tempore perfcctn, dag 
zweitemal iui Modus Diiuur cum tempore imperfecto dimiuuto xu siugeu.) 

Ans diesen gans nnverflCnglidien Mitteln die schriftliche 
Aufzeichnung zu vereinfachen (der bei<re.scliriehenen Anweisung 
und dem melirfachen Zeichen) entwickelte sich hernach die ganze 
Uclx rtulh» der mnnni;:fachsten Künste und Probleme. Man liebte 
es in jenen Zeiten, jeden Spruch, j<'fl(« Kegel in metrische Form 
zu bringen: nach der Zeit ^V^•ise wurden also die Andeutungen 
für die SKnger in verbifizirte Denksprüche gefa«8t. So gibt Eloy 
bei jeuer Messe den Sffngem die Belehrung mit auf den Weg: 

NoQ faciens pausas super signis capiens has 
Tempora tria primae lemper bene pause 
Sex deoies currens cunctaque dgna videns. 

Der erste Vers macht die Singer anfineiksam, dass die Pausen vor 
dem Zechen blosse Signa des Modus und nidit wirklich zu pausiren 
sind u. 8. w. Hatte der Sänger bei einem blossen „crescit in duj^um** 
u. dgl. die erhaltene Anweisung eben nur einfach zu befolgen, so 
konnten andere Sprüche schon ein Nachdenken herausfordern (8ch<»n 
JJufay's ,,ad nudium" u. s. w. klingt wenigHtens rathtselartig) und 
von da war nur noch ein Schritt bis zum wirklich änigmatihcheu 
Spruche, zu den Bäthseln, wie sie in der Folge, immer eines spitz» 
findiger als das andere, oft sehr sinnreich und suweilen mit einer 
sehr witaigen Pointe, in grosser Menge aufkamen und die man 
Canon nannte, weil sie dem S^inger als Regel und Richtschnur 
(xavttiv) dienten^). Aehnliche Erweiterung und Steigerung erfuhren 
die wiederholten Tenore und die l)(»pjielzeiel)en. Wenn unter den 
Meistern der zweiten Schule z. B. Jajiart in ^>einem hübschrn Linie 
ffFwtma d'un grau tempo" einen m&ssig langen Tenor nicht nur 



1) Bei den uiederläudischen Häthselcanons brauchte eine uachahmendo 
Folgestimme dudiaas nicht Yoriianden zu sein. Unser „Canon" ist etwas 
gans anderes. 

89* 



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452 Die ^twickdung des iiMlinlun]iug«a G«Miiget. 



blo8 zweimal, »uadem gar viermal (unveräudert) durchsingen*), 
wwnii J«kob Holireeht, der «Bete Anodbiiiig vonüglich liebt, in 
Semen MeiMB dnen gansea lang dnrebgeflbrleii Pttit sfreimal 
naehemaader unter swei Zeleben vortragen lisst, wie in aeiner 
Heiie „Fofitma disperata" im enten Affnus den Tenorpart, im 
dritten Agitmt den Sopran; wenn eben wieder Hobrecht femer 
einem kurzen Tenor drei Zeichen vorschreibt (wie gleich im 
ei-steu Kyrie der Messe ,jc iie flentaiide" der Tenor das nur fünf 
Noten lange M<jtiv nacheinander im Tempus perfectum, imperfeC" 
tum und imperfectum diminulum singt) oder ihm vier Zeichen 
voransetzt, wie im Credo derselben Messe, oder gar Abif Zeiebea, 
wie bdm „et in spirüim'': 

(Jaa Hobrsdii es Uissa Je ae demaade.) 



£t in spiritum sauctum. 

80 sind das nnr Erweitemngen waA weit getriebene Conseqnemen, 
wozn sich der Anfang nnd Anlass in jenem an sieb barmlosen 

Signum coiitra Signum der ersten Schale findet, von dem damals 
nicht blos Eloy, sondern auch schon Dufay Gebrauch machte« 
wie Pietro Aron ausdrücklich zu bemerken findet^). 

Der sinnige Dufay unternimmt es mit besclieidener aber so- 
lider Kunst Nachahmungen in zwei Stimmen so zu gestalten, dass 
die zweite etwas spüter eintretende Stimme wenigstens eine Ittirze 
Strecke weit das treue Spiegelbild der ersten darstellt, die Stimmen 
also dagentge bilden, was wir heutsutage einen Canon nennen, 
was aber den alten Tonlehrem, wie Tinctoris u. s. w., Fnga beissL 
So verbindet Dulaj in seinem schöntti swelstimmigen Rnurrfidns 
der Messe Ecce ancilla Domiiii die Stimmen an zwei Stellen zn un- 
gezwungenen Canons in der Uctave, so gestalten sich ihm in seiner 
Chanson ,yCent mille esads" die Naclialimungen wiederholt zu 
kurzen Canons in der Uuterquinte. Gesteigerte Uebung konnte es 
bald nach Dufay's Zeit wagen swei Stimmen ein ganzes Tonstück 
hindurch in soldie BedprodtHt au bringen. Dabei mnsste von selbst 
auffallen, dass für zwei Stimmen solcher Art einerlei Notirung ge- 
nüge: man deutete nur der Folgestimme die Stelle des Eintrittes 
mit einem Zeichen an nnd allen£slls mit einer kurzen Andeutung 
Uber das Intervall, wenn der Canon nicht all' unisono gesetzt war. 
Der Bass fand dann z. B. nur die Weisung ,Jbn88um guaere im t^ntfrc 



Canti cento cinqnanta foL 68. 
^ 8. dessen Toacanello in musica I. 38« 



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Dn&y imd tem« SSeit 



45d 



in hypoäiapente". Aber ancL liier konnte man die Sache in De- 
viöenform fa.ssen, z. B. „ejcempluin dedi vobis ut et vos facialis sicut 
€t eyo feci" ; man konnte allenfalls noch sonst etwas Räthselhafies 
damit yeibinden, sollte s. B. die Folgettimme alle Noten der ans- 
geaehriebenen ersten ringen, nnr die schwanen nicht, so diente 
der evangelische Sprach snr Devise „qui stquUwr me non ambvHM 
«I fsiM^m." Oder man setste der Folgestimme ein zweites Zei- 
chen, wenn es ein Canon per augmentationem oder diminutionem 
war (so Barbyioau im Plem seiner Messe rirgn parens Christi , so 
Uobrecbt im Christe seiner Messe Peti'^us apostolns). Man konnte dann 
in gesteigerter Kunst nicht bloss zwei, sondern drei Stimmen aus 
einer entwickeln; mau schrieb dann allenfalls devisenmässig „triui' 
iaim ta mUate vmsramur'* oder, wie Arnold von Break i&inig in 
einer schönen Motette an die „hdlig Dreiueltikeit^* ,jtrwUaB t» mi- 
lote". Oder gar vier fikinunen ans einer, wie Fierre de la Rae in 
seiner Hesse „0 «oltf^am hosHa". Solche Käthselstimmen oder im- 
plizirte Canons waren selten (wie hier bei P. de la Rae) selbststXn* 
dige SStze, sondern sie bildeten einen Bestandtheil eines vier- oder 
fllnfstimmif:^en Ganzen , wobei die übrigen Stimmen offen nusjro- 
schrieben waren. Später spitzten die Meister die Sache bis in's» 
Undenkbare zu. So entwickelt Josquin im Agnus seiner ersten 
Omme-armi-lAesse drei gleichzeitig anfangende Stimmen aas einor 
einzigen mit dreierlei Zeichen. Pierre de la Rae treibt in seiner 
rivalisirenden OmiiM^arm^-Messe die Sache (aaeh im Ägtm) bis zu 
vier Stimmen und vier Zeichen! In dem Vorstehenden soll hier 
vorläufig nur der Nachweis gegeben werden, wie jene so merk- 
würdige und eigenthümliche Richtung der zweiten Schule sich 
aus {ranz natürlichen, ja einfachen und ursprünglich nichts weniger 
als räthselhatt gemeinten Anfängen entwickelte, die alle schon 
in der ersten Schule wurzeln. Es wird auf jene Künste erst bei 
Darstellung der Zeit und Schule Okeghem's (der meist fUr den 
Führer and Bahnbrecher dieser ganzen Bichtang gilt, wKbrend 
er and seine Schüler and Kanstgenossen eben nor weiter aaa- 
bildeten was rie von ihren Yorglngem überkommen) omstibidlieher 
einzugehen sein. 

Fassen wir nun die einzelnen der ersten niederlfindischen 
Schule angehörigen Tonsetzer näher in's Auge, so ist nach Zeitfolge 
wie nach Talent der erste in diesem Künstlerkreise jener Wilhelm 
Dufay, ein Hennegauer von Geburt (als sein Geburtsort wird 
Chimai genannt^)). Von seinem Leben wissen wir nur, dass er 

1) Fetis „Memoire snr cette (iut'sti«»!i ttc." S. 12 und 13. Auf einer 
Handschrift aus dem Anfang des 10. .Jahrhunderts fand nämlich Fetis die 
Ueberschrift „iSecaudum doctrinam Wilhelmi Dafais Cimacemtia Hann." 
Dermal macht F4ltu daranf anfinerksam, oh nieht Dnhj etwa aas Ft^-la- 
Ville oder Fl^-le-Ghftteaa (beideB Orte auch im Henaegan) abstanraie. Tiao- 



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Die Entwickeliuig dflt mehrstÜDmigeo OeaMigen 



sehon 1380 In der päpsdielieii Kapelle SSngw war; da nur drei 
Jabre Torher, ninUich 1877, die Büekverlefaiig dee pl^illielien 
Stuhles rom Avignon nach Rom erfolgt war so mag Dnfay yielleicbt 
unter den mitgebrachten Sängern gewesen sein. Er starb hoch- 
betagt und allgemein verehrt zu Rom 1432. Sein und seiner Mit- 
künstler und Landsleute Eintritt in die päpstliche Kapelle war für 
die Musik höchst folgenreich und eines der wichtigsten Ereignisse 
in der Geschichte ihrer Kntwickelung. Als Clemens V. im Jahre 
1305 den päpstlichen Stuhl nach Avignon versetzte, war der Chor 
der Sänger, die Sckola Cautamm, nebst ihrem Piimicerios in Bom 
snrftckgeblieben, in der neuen Besideas aber wurde ein neuer 
8Sngei«bor filr die geistliebe Kapelle gebildet i). Die fransösischen 
SXnger, die man an Ort und Stelle warb, brachten ihre Fauxboor- 
dons, ihre Verzierungen und Manieren in die päpstliche Kapelle. 
Clemens V., der erste Avignoner Papst, hatte zu viel mit den In- 
teressen des Königs lMiilij)p, dessen gefügiges Werkzeug er war, 
mit dem Prozess der Templer u. s. w. zu thun, um gegen die Neue- 
rung etwas einzuwenden. Warf ihm doch Cardinal Napoleon Orsini 



toris nennt Dufay einen Franzosen, was bei der geringen Unterscheidung, 
welche man damals zwischen NiederlAndern und Franzosen machte, ▼o& 
kfiiH in sonderlichen Belang ist. Sebald Heyden in der Vorrede seiner 
„Ars cuneudi'' nennt Dufay ehrenvoll, A dam von Fulda spricht von ihm 
mit Bewanderang. Auch Joh. Spataro, Franehiniit Oaxor und Aron 
sitirenihn als Autorität. Hermann Finck (Heinrich Finows Oronnelfe, 
nicbt, wie P'orkel Bd. II. S 517 vcrmuthct, Sohn; er sagt: patruus nieus 
magntis) erwähnt Dufay 's kurz, in niciit glücklicher Charakterisirung seiner 
Bedeutung. Hawkins und Bumey beobaehten flher Dolay tiefe« l^bÜI- 
schweigen, sie scheinen von seiner Existenz «jar nichts gewnsst zu haben. 
Walther, der den Namen bei S. Heyden fand, nennt Dufay einen „alten 
lirantsOttflchen Mnsicus,'* was Geiber ia wuner gesdunaddosen Manier ri» 
„eini r der ältesten Granbftrte imter den Contrapunctisten" wiedergibt 
Schilling's musikalicihes Lexikon weiss von Dufay wenigstens nichts mehr 
als was schon in Kicsiwetter steht, das Schladebach'sche bespricht den 
gnrasen Künstler, den Bpochemann, in zwei ans Kiesewetter abgesehrie» 
l)erioti Zeilen. Forkel nu itit, dass von Dufay „nach aller Wahj-scln-iiilich- 
keit keine einzige Nute mehr vorhanden ist" ; da irrt er freilich gaj- sehr; 
die Aeonernng igt aber oharakteristiieh: „was ihr nicht tastet, liegt euch 
meilenfem." Forkel hat nichts von ihm zu Gesicht bekommen: ergo ist 
nichts mehr vorhanden. Fetis in seinem Memoire und Kiesewetter in 
seiner Musikgeschichte halten über Du Tay wirklich WerthvoUes mitjni- 
theilen gewuwt Emen gehaltvollen Artikel (gehaltvoll trota groiier Be- 
denken, die man pregen Einzelnheiten desselben ausspreclion muss) brinsrt 
Fetis in seiner Biogr. univ. 2. Aufl. iS. 70, 71, 72. Kiesewetter hat durch 
seine Verbindung mit Baini Termocht, was filr andere Sterbliche beinahe 
eine Unmöglichkeit ist, aus dem Archiv der päpstlichen Capelle Compo- 
sitionen von Dufay, Faupues, Eloy u. s w in Ahschrifl zu erhalten. 
Wenn Fetis (a, a. 0. 2. Bd. S. 128 ad voc. Busuois) die Veröffentlichong 
in Aussicht stellt, so haben wir nur den Wonach aossosprechea, dais 
ta» nicht zu lange auf sich warten lassen mAjje. 

1) Baini, Vita ed Opere di i:'ieriuigi da Palestrina. 



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Dufay und seine Zeit 



455 



▼or, er wolle die Kiiehe „auf einen Winkel der Oeaeogne reda- 
eiren.** Wie bitte er, der ganz und gar frensttaiaeli decbte und han- 
delte, etwas dagegen haben sollen, wenn man in seiner Kapelle 

auch im französisclHMi Geschmacke sang? Aber schon sein Nach- 
folger Johann XXll., der starre, harte, kalte Jurist, der gefiirch- 
tete Blutmann", wollte den Gregrorianischen Gesang von jenen 
Zusätzen mit energischer Strenge reinigen und decretirte im Jahre 
1322 jenes berühmte Verbot der mensurirten Musik. Das Verbot 
mag Tielleieht bia an seinem Tode (4. Deeember 1884) reepectirt 
worden sein, aber sicber nicbt llCnger. Benedict XII. (1884 — 1843) 
war dem Pranke nicbt abgenwgt (er bavfte den präcbtigen Palast 
zu Avignon). Clemens VI. (1842—1852) war ▼eilends der Welt 
Herrlichkeit nnr an sehr gewogen, sie musste nur eine sacerdotale 
Färbung annehmen, wie er es denn z. B. sehr wohl aufnahm, als 
seine Schmeichler am Pfingstfeste einen prfichtigon Ruliiti seiner 
Tiara mit einer der feurigen Pfinpstziin<;en verglichen. Die Curie 
war so arg in üppiges Leben, Geldgier und Prunksucht verstrickt, 
dass selbst die Bemühungen der strenger nnd besser gesinnten 
Päpste wie Urban V. mit Reformyersncben scbeiterten. Da mocbte 
man freilicb an der Askese des nngewttraten Cantut planus keinen 
Gefallen finden und dem volltönigen Vortrage der französiseben 
Sänger und vollends der Niederländer den Vorang geben. So ge- 
schah en. dasH die Avij:;^noner Kapelle mit nach Rom genommen 
und mit der Kömischen Kapelle versclnuolzen wurde, als Gregor IX. 
im Jahre 1377 bleibend dahin zm iickkehrte. 

Gleichzeitig mit Dufay nennen die Documente der Kapelle 
eine Anzahl von SXngem, deren Namen auf niederlKndischen, viel* 
leicbt anm Tbeil franaOsiseben Ursprung deuten: £gyd Flannel 
genannt Penfant Jean Redois, Bartbolomaens Poignare, 
Jean de Curte genannt Pami, Jakob Ragot, Qnillaume du 
Malbecq, nnd neben ihnen nur einen italienischen Namen Egidio 
Lauri, und einen keine Anhaltspunkte gewährenden Arnoldo de 
Latinis. Mit den Niederländern kamen auch ihre Compositionen 
nach Rom, gegen welche wieder die französischen Decliants als 
niedere Kunststufe erscheinen niussten. Es war in der päpstlichen 
Kapelle Sitte, neue Figuralcompositionen an Messen, Motetten u. s. w., 
welcbe bei der Probe BeifUl fanden, von eigenen Copisten in grosse 
Codices einscbreiben an lassen^). Diese riesenbaften Btleber hatten 
dieEinricbtung, dass sie aufs Pult gelegt, von allen SKngem, welcbe 
sieb davor stellten, leicht eingesehen werden konnten und dnaelne 

1) So wurden z. B. 1561 die von Palestrina (der damals noch Kapell- 
meister in Lateran war) den päpstlichen Sängern überreichten Motetten 
Beatus Laurentius und Estote rortes in hello, uid die Missa super ut, 
ro, ini, fa. so\, 1a prohirend prosun^en und, als sie gefielen, sofort in die 
Codices ^io. 3b und M eingetragen. 



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456 



Die Entwickelimg de« mehrstimmigea Gcnoges. 



Anflagstminien eBtbebilieh maditeii. Die pi^idielie Kapelle beeilit 

solclio mit gemalten Initialen und Randornamenten an Blmnen, 
Arabesken, Menschen- und Tliicrgestalten prfichtig geschmückte 
mächtige Pergamentcodiecs, vclil o eine bedeutende Anzahl von 
Coinpositionen der ersten nicclcrläudi^clien Schule enthalten. Mit 
dem Eintritte der Niedorl.'iüi^cr in iViv ]>Hpstliche Kapelle war ihr 
Uebergewicht auch iu llnlicu entschieden. 

Dafay'B Ruhm rciclito nicht lange nach seinen Lebseiten so» 
gar Uber Italien hinaus; 14C0 bemerkt Adam von Fnldai der 
in Jenem Jahre seinen gehaltreichen mnsikaliadhen Traetat in swei 
Thdlen sehrieb, über ihn: „Die Compositionen Dnfay's haben un- 
seren ToDsetzern einen sehr bedeutenden Anfang geregelter Form 
(magmm initium forvialitaiis) geboten, was man insgemein Manier 
{manerum) nennt. Mit den bestehenden Kegeln nicht zufrieden, 
ging Dufay in der Versetzung (der Tonart) über die Grenzen (des 
Guidonisehen Systems) hinaus, was den Instrumenten sehr nützlich 
und auch wol um ihretwillen geschehen ist** u. s. w. Adam bemerkt, 
dafls Dufay tber das mI* und unter das Gamma^if Guido's nodi 
drei Töne snsetate i). Die UamUa, wie der ehrwürdige Adam 
sagt, würden wir in nnserer Ansdmckswdie Styl nennen.- Dnlky 
war der Erste, dessen Arbeiten wirklichen Styl zeigen, und der den 
Tonstticken jene Form, jenen organischen Bau gab, welche auf 
Jahrhunderte hin fallordings mannigfach erweitert nnd modificirt) 

Kegel und (besetz blieben. 

Als Jugendarbeit Dut'ay's gilt die schon erwähnte noch schwär» 
uotirte Chanson „Je prends conge". Im Tonsatze schon völlig un- 
tadelig und „mit allen Feinheiten der Mensnralmnsik" componirt, 
llsst sie bei noch sehr schflchtemen nnd mageren Formen doch in 
der Bildung und Ftthmng der beiden gegen den Tenor gestellten 
Stimmen unverkennbar schon etwas von jenem melodischen Zug, der 
eigenthUmlichen Innigkeit und G efllhlswärme erkennen, wodurch 
sich Dufay's reifere Arbeiten auszeichnen. Die Chanson Cmt miUe 
escus guant je voeldrai und eine andere auch dreistimmige „De tout 
m'estais ahandonn^" (aus einem Codex der Bibl. zu Paris) zeigen 
gegen jene frühere den Fortsdiritt des Schülers zum Meister. Be- 
deutender aber als alle diese zierlichen Kleinigkeiten sind Dufay*s 
Eirchenstttcke. Das Archir der pKpsÜlichen Kapelle besitnt von ihm 
die vierstimmigen Messen: 8e la faee ay paU, Tamt je ms deämt, 
Lmme arnU und Eece andUa Domini — Arbeiten von geklirtem, 
edlem S^l, in denen sich die innige OefUhlswSrme und der reine 
Schönheitssinn Dufay's in der anziehendsten Weise ausspricht. Das 
erste Kyrie der Messe Se la face bat schon etwas von jenem sera- 
phischen" Zuge, wie ihn, bei allerdings weit reicherer und viel 



1) Ad. de Fulda, Mos. (IL 1) bei Gerbert 3. Bd. S. 342. 



Da&j and •dne Zeit 



457 



httlierttr Avibildimg deBTonBatsee,Palettriiia*8Gompositioneii zeigen, 
y länselne Stellen, mt der Sehlnw des ersten Kyrie der Hesse L'mtM 
omni, erheben sieh ra einer gans entwickelten Schönheit Fast dnreli« 

gängig ist der Ausdruck einer wundersam süssen Welirauth und 
holdseligen Innigkeit über diese Sätze gebreitet; die Messe OmeM 
wnini könnte man am besten mit dem Ausdrucke cliarakterisiren, sie 
sei ein Lächeln in Thränen. Nirgends wird der Zug und Gang der 
Stimmen lebhafter oder energischer, alles liegt in der Verklärung 
desselben reinen Lichtes da, und wo jener lieblich wehmüthige Aus- 
druck ja einmal zurücktritt, bleibt wenigstens ein eigenthttmlich 
mildemster, stillfeieiÜclier Metettenklang übrig. (Das OmcifixäS 
nnd Owmna der Hesse JSeee onctOa sind Hanptbeispiele fllr diese 
Bichtang 1)). Bei diesem Vorwalten von Firbong und Beleuch« 
tang treten die Contourrn nirgends mit jener energischen Schärfe 
hervor, wie bei den niederländischen Meistern der folgenden 
Zeiten; die Stimmen verschmelzen wie ineinanderspielende Strahlen 
milden Lichtes. Dabei ist die Btinirnenfuhning durchgehends sehr 
fein belebt, in Sätzen des pcrfVcten Tempus sogar durch genau 
ineinandergreifende Syncopirungen n. 8. w. ziemlich complicirt. 
Der ideale Zog des Garnen hilft Uber maaehe befremdliehe Wen« 
dnng, Uber manchen tersenloeen Leerklang hinttber, welche jenen 
Friihselten der Knnst angehören. Selbst der magere iweutimmige 
Satz gewinnt unter Dufay's Händen Winne, Firbniig- und Leben 
(BenedietoB der Hesse Eoe» aneUla), 



1) Wenigstens ein Fragment des Oasnna mag «ine Tontellung geben: 



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^xcelsis 






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458 



Die Sntwiokehiiig det mehntimmigeft (Ifingfü. 



Anaser Rom besitzt nur die k. Bibliothek za Brüssel in «mem 
rat dflr Kapelle der Herzoge yon Burgund heirlllireiidea Codex 
(Nr. 1555) einige bedeutende Compositionen von Dafay : drei Metsen 
in drei Stimmen nnd drei andere m vier BtimlDen; und in 
einem Codex der Bibliothek zu Cambray (Nr. 6) findet nch ein 
vientininiiges mit Dufay'g Nninon bezeichnetes Gloria. 

Der berühmteste Meister der Zeit neben Dufay ist Egydius 
Binchois, so genannt nach seinem Geburtsorte Binch, einem St^dt^^ 
chen bei Möns im Hennegan. £r war in seiner Jagend Soldat: 

en sa jpuricsse il fut soadart 
d'hoDorable moudauite 
pnis a etlu la meilleor pari 
tervant Dien en hunilitA 

hetsst et in einer enf seinen Tod gedichteten Traaereentate*). Bin- 
chois wurde Singer am bafgandisehen Hofe. Nach Doeomenten im 
Brüsseler Archive verlieh ihm um 1438 Philipp der Onte eine Prä- 
bende bei doi Kirche sn 8. Waudm in Möns, und 1452 wird er als 
swdter Kapellan genannt (der erste war ein Messire Nicolas 
Dupuis). Im Stande (Status, ('tat) der Kapelle von 1465 wird er. 
nicht meiir mit aufgezahlt; er muss also in der Zwischenzeit ge- 
storben sein Binclidis wurde nicht blos seines persönlichen 
Charakters wegen gcac litet („patron de baute" nennt ihn jene Trauer- 
cautate), soudei-n auch um seiner ivunst willen bewundert. Uemiaua 
Finck (1556) nennt ihn neben Dufay, Busnois u. a. als einen der 
Meister der Tonkanst, welche voisüglich durch „Specnlation** die 
Mnsik förderten nnd „viele neue Zeichen erfanden**. Tineloris 
rfihmt Binchois «la Tonsetaer, „der dch durch seine angenehmen 
Compositionen einen ewigen Namen gemachte* ^ Sein Ruf dmng 

1) Siehe: Morelot, Codex Dijon, S. 20. 

2) Felis, Biogr. univ. 2. Aufl. 1. Bd. S. 417—419. 

8) Ich muss hier nach fremden Urtheilen greifen, da ich von 6. nichts 
Vonnc, als das unbedeutende T^ii d Ce niois, welches Kiesewetter mittheilt. 
Vergleicht man die ühginalnotiruugmit Kiesewetter'a £ntsifferungf so ist 
vor allem tu bemerken, daas der Discant nicht (wie die swei tnderan 
Stimmen) ein \f vorgezeichnet hat, sondern ohne Yorzeichnung ist (bei 
Dufay's „Je prond conge" ebenso). Kiesewetter hat mit Unrecht das 
bupuliren su sollen gemeint Solche ungleiche Yorzeichnungen sind nichts 
io UnmhArtes: KiMlaas OonlMit hat bei seiner MMrienmotette mit dem 
Motto „Diversi diversa orant" diesen Umstand mit grosser Gteschickli«^ 
keit zu benutzen gewusst, wovon Kossi (Org. de. cant S. 18) meint: ,.arti- 
ficio in vero non cosi facile, come alcuni pensano" (Man vergleiche was 
darüber S. 358 gesagt wird). In der Originalnotirung der Chanson sind 
vfTHcliii'deue Schreibfehler. Die erste weisse Semibrovis im Discant 
muss einen Funkt hinter sich haben. Die letzte Note im zweiten Tempus 
des Contratenors hat K. aus c in fr verftndert, * ebenso im Diseant im 
dritten Tempus andere NotenquanÜtlten gesetzt! wohl in Yoramnetxung, 
dass hier C<)|>iKtenfV})ler zu verbessern Äid. I>er Anfang wOrda sidi 
nach dem Ongiuai so guttlaiten: 



Dufay and seine Zeit. 



459 



aaeh Italien, obwohl er selbft nicht penSnlich dort gewesen wa sein 
•eheint. Franehinns Qafor gedenkt seiner als einer Antoxitit Von 




Bei a) ergibt lich dann aber wieder der groeee Hieiitand des ünisoao* 

Schrittes zwischen Tenor und Contratenor, und nimmt man im Contratenor 
die letzte Note des zweiten Tempaa imperfect and stellt die Sache also: 




^ 



io wird der Fehler um den Pn-is einer harten hässlichen harmonisclu'n 
Combination vermiedea; man müsste sich denn erlauben eine Note ein- 
■ehalten an wollen, wodurch freilich die Stelle tadelloa rein wfirde: 

NB 




Femer steht im Oritrinal hinter b) ein Divisionsjiunkt, (h r iirnorirt worden 
müsste. Die gmuUi In- Fortschreitung zwischen iJiscant und Tenor im fünilen 

Tempoe ist ein Druckfehler: das Original /eigt, das« das /"liegen bleiben 

muss (Kiesewetter selbst liat eine verViesserte Entzifferung in die Musik» 
beilagen der „Schicksale und Beschatlenheit des weltl. Gesanges^' No. 16 auf- 
genommen, WO die Sache richtig gesetzt ist). In der weiteren Bntailferang 
hat K. im INsoant zweimal eine Semihrevis gesetzt^ wo im Original that- 
sftchlich eine Brevis steht, aber auch eine Semihrevis stehen sollte Tm 
vierten Tempus vor dem Schlüsse hat K. einen augmeutircudun Punkt 
im Discant unterdrflckt, weil um eine Miniroe zu ▼ielheraoakommt, wenn 
man ihn gelten lässt. Ich denke aber, dass von den beiden folgenden 

Mininien /" f die eine anf der zweiten Linie stehen muss und ein lei( ht 
erklärlicher Fehler des alten Cupisten ist. Der Schluss wäre dann so: 




JNIag indessen schon das alte Original selbst noch so arg entstellt sein, 
die Stelle „chautons, dansona" allein genügt -'on Biuckois* Talent eine 



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460 



Di« Entwickeliiog 6m mdintiauugeii Q«MtigM. 



den Gompositioneii dieses berühmten Meisters ist nur noch wenig 
naehweisW. Die k. Bibliothek wa Brüssel bemtst Ton ihm rine 
dreistimmige Hesse in der Yelicana finden sieh drdstimmige 
weltliehe firamSsisehe Lieder vnd Motetten ■osammen mit Stfleken 

von Dunstable. Ein Manuscript des 15. Jahrhunderts (ehemals im 
Besitze des Herrn Reina an Mailand, seitdem Terkanfl) enthält eben- 
falls dreistimmige Lieder von Binchois, ebenso der Codex der Pariaer 
Bibliothek (zusammen mit ähnlichen Stucken von Dufay, Comago, 
Busnois, Ilykaert, Compfere u. a.), aus dem Kiesewetter ein noch 
schwara notirtes dreistimmiges Mailied ,,ce mois de May" mitgetheilt 
hat^), welches auch darum interessant erscheint, weil es an Dufay 
gerichtet ist, der im Texte ,/Mn8sime Dufay'' angeredet wird, was auf 
ein frenndschaftliches YerhSltniss der beiden Meister deutet Die 
sneeessiven EinsXtse der Stimmen bei den Worten ,^ehatiUms, ätmatmf* 
haben viel mnntere Lebendigkeit Jene von einem nnbekannten 
Tonsetaer (von Busnois?) eomponirte Tranercantate (dnreh welehe 
wirklich eul Ingubrer Klang geht) ist auch darum meritwllrdig, weil 
sie die erste Frohe jener Diplorations ist, momit man ^Iterhin 
grosse Tonsetzer nach ihrem Ableben ehrte: eine Stimme sinst 
lateinisch die Worte des Requiem (Pie Jesu Domine, dona ns re- 
quiem), die drei anderen singon dazu in französischen Versen das 
Lob des Verewigten. Um Binchois' Werth und Bedeutung würdigen 
zu können, liegt vorläufig leider viel zu wenig von seinen Com- 
positionen vor. 

r Der Knnstweise der ersten niederlVndischen Sehnle gehSren 
auch dieArbeiten des Yineens Fangnes (Fanques) an. "Et selbst 
gehört schon sn einer sweiten Kttnstlergeneration; seine Compoa- 
tionen ersehienen in den sur Zeit des Papstes Nicolaus V., d. i. 
zwischen 1447 und 1455 geschriebenen MusikbUchcm der pXpst- 
Uchen Kapelle. Unter den Messen befindet sich eine dreistimmige 
Uber den Omme am^j(ferner gehört ihm eine Messe „ Unius", eine Messe 
Uber das Lied ^yleseni(eHr"{(\as nachmals von Alexander Agricola 
ebenfalls zu einer Messe, von Tadinghen und von Martin Ha- 
nard zu ven^'underlichen weltlichen Chansons verarbeitet worden 
u. a. m.^)). j Vincenz Faugues zeigt einen sehr verwandten Zug 

bedeutende Idee zu geben. Um so erwartungsvoller mfissen wir der YtKw 
Offeutlichung jener dreistimmigen Messe entgegensehen. 

1) Fetis, der den wichtigen Fond gemacht, yerq^rieht „Ce monument 
interessant sera publik." 

9) F4tis (Biogr. uniT. ad Bmehoit) tadelt Eieiewetter't Bntatffsnuig 
äusserst iohsrf „bien qne je connaisse pas Toriginal je n'hösite pas Ik 
ddclarcr, que cette traduction mal faite est remplie de faules" u. s. w. 

3) Das Lied ,^Le Serviteor'^ ist durch seine Vorzeichuuug zweier j;^ be> 
mericenawcatih, mit der es überall wo es vorkommt ausgestattet ist Tnietotis 
führt es daher auch ab Prifjiicl an, wie man ühereino Tonnt f in Zwoifel sein 
hönne, und iutroduzirt mit naiver Lebendigkeit einen iragenden luterlocutor ; 



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Dnfay and «eine Zeit 



461 



mit Dnfiij in ichttaier, melodiVMr Ftiuning der Stimmen ond in 
ensdraeksvollem Gesengt). Im Gensen hat er etwas noeh sarter 
Behttehtemes, wenn man will SchwitelilieliereB alt Dnfiftj; gegen die 
barten, mannhaften Meister der zweiten Schule Mst es der ent- 
schiedenste Gegensata. Im Kyrie Omtne arme kommt der iiito- 
reesante Zug vor, dass das Lied erst auf seiner gehörigen Klangstufe, 
dann in der Oberquint (etwas innrlifizirt) nach Art eines Mittolsatzes, 
dann nochmals in der ursprünfiijlichcn Ijh^k gesungen wird: ein 
Beweis, dass die Meister nacli musikalischer Architektonik strebten 
und doch ^ schon weiter dachten als nur einen Canttis /irmuÄ wohl 
oder übel mit contrapunktircuden Stimmen zu umkleiden. Aller- 
dings ist der Tonssla bei Faugues noch sehr mager, magerer als 
selbst bei Dnfay, so viel Verwandtes er sonst in der Art der Er- 
findung nnd in der melodisch von Absate an Absats fliessenden 
Ftthrung des Gesanges mit ihm anch haben mag, nnd so entschie- 
den Ii Ii iilich bei beiden joner fast rUhrmide Ausdruck einer eigen- 
thtimlich sarten sUssen Wehmuth ist. Fangnes leitet gleich das 
erste Kyrie und dann das Christe seiner Omme-armd-Messe mit einem 
langen zweistimmigen Satze ein, in den sich erst weiterhin der 
Tenor mit dem Liede einfügt. Aber bei aller Ma<::^oikeit und 
kindlichen oder, wenn man will kindischen UnbehUlflichkeit des 
Satzes (der Schluss des Christe ist selbst für jene Zeiten ein selt- 
samer Passusi) leuchtet da und dort ein merkwürdiger Schön- 
heitssinn heraus, oder es taucht irgend ein so interessanter Zog 
anf, wie s. B. die Syncopinmgen des Soprans gegen das Ende 
des Chruto*). 

„dicas mihiTinctons" u. 8. w. Faugues, den er sonst schätzt und belobt, wird 
getadelt, dass er in seiner Messe einmal „mi contra fa*' gesetzt. Tadinghen*8 
ondHanard'sObansons schliessen die Sammlung der Canti ccnto cinquanta. 

1) Man wolle die Führung der obern und mittlern Stimme im zweiten 
Kyrie Omme armö einzeln in's Auge fassen (die mittlere, der Tenor, ist 
das Lied). An swei Stellen bringt P. durch orei sofawarse (sweitheiuge) 
Breven in den kUineren dreitheiligen Rhythmus einen grössmea, anch 
dreitheiligen, der in breitem Klange bedeutfud hervortritt, wenn er im 
Uesauge besonders markirt wird — ein uackmaia oft benutzter Effekt: 



1. S. «. t S. 8. t 8. 8. 1. 3. 




2) Das Stück findet sich, von mir nach der Originalnoiirung des piptt> 
liehen KaDcllenarchivs in Partitur gebracht, unter den MuKiklioila<rpn Das 
]S weite Kyrie hat Kieaewetter seiner Gesok, d, Mus. beigegeben ; loh habe 



463 



Die £ntwickelnDg des mehnttmiiilgea OassngM» 



VincensFaug ues* Zeitgenoaie war Jener Bl 07, ,^ochgele]iitiB 
Anwendiug des HodiiB**, wie Tiaelofu sagt^), woros Mnie grosse 
Messe im pipstliclien Aiehiv dise^^" em bedeutendes 

Beispiel gibt Unter den Meisteni der ersten Sehnle niibert sieh 
Eloy zumeist dem Erhabenen, woftir freilich der milde Wohlklang 
Dufay's ond Faugaes' fehlt Von anderen Meistem derersten Scbnle 
wissen wir vorläufig kaum mehr als die Namen: Domarto^, von 
dem die päpstliche Kapelle ^) und die Vaticana Geistliches und Welt- 
liches besitzt, und den Tinctoris \K('p:('n eines „unleidlichen Ver- 
schens in seiner Messe Spiritus a/w/ws scharf tadelt*); Brasart» der 
völlig vergessen wäre, machte nicht Gafor gelegentlich eine flüch- 
tige Erwibniuig von ibm'^). Jean Consin dagegen, Sänger der 
Kapelle KarVs VII. Ton Frankreieb und folgllcb Okegbem's College, 

esj um kein blosses ]<^ra^ment der ganzen Kyriegruppe zu bringen, auch 
wieder aufgenommen. Das 1? ist nur im Tenor vorgesetcfanet, und es ist 
nach dem S. 458 Anm. 2. Gesagten gar nidit selbst verständlich, daas 

diese Vorzeichnung auch für die anderen Stimmen gelten solle. Indessen 

gewinnt das Stück unendlich an Wohlklang, wenn man das |^ für alle 
timmen gelten llsst; oder Yielmebr, es ist siemlich peinllöb, wenn man 

solches nicht thut. So mag denn Kiesewetter Rocht haben, wenn er das 
P auch fiir den Discant und Baas als giltig annimmt. Der Bass beginnt 
gleich dus erste Kyrie mit dem Liedmotive; dieses hat aber uberall die 
kleine Ters. Freihch ist im Original das |^ einigemal ausdrfickljtA bai- 
jresch rieben, woraus man für die Noten, bei denen es nicht steht, a con- 
trario folgern könnte. Indessen, was war damals und noch bis auf die 
Zeiten des braven Prfttorius die Genauigkeit in diesem Punkte! Eine 
zweifelhafte Stelle im ersten Kyrie habe ich mit — ? bezeichnet. Im« 
Ghriste habe ich die Textlegung dorohgeflQlut, weü daa Stflck dadnrch 
erst die wahre Färbung erh&lt. 

1) „Eloy, quem in media dootissimnm accepi." 80 si^ anch Oafer 
(de modo cup. 7): Eloy in modis docti^^-imus. 

2) F^tis meint, er stamme aus der Picardie. Bei Eloy macht Fetia 
darauf aufmerksam, es gebe noch Familien dieses Namens im Hemiegau 
and in Flandern. 

3) Codex No. 14. 

4) De Dumarto in Missa Spiritus almus intolerabiliter peccavit u. s. w. 

5) In der ]\lus. utr. cant. pract. III. Buch sagt Gafor: „Complurca 
tarnen discordantiam hujus modi minimam atque semibrcvem admittebani, 
ut Dunstable, Binchoys et Dufay, at(iue Brasart." Ein anderer Brassart 
(Olivier), von dem in dem „primo libro de Madrigali a ^uattro vooi, Roma 
per Antonio Barr< 1664** etwas an finden ist g^Ort emer sp&teren Zeit 
an. Von dem älteren Brasart wüsste ich nichts nachzuweisen, nicht einmal 
in der päpstlichen Kapelle. Im Interesse der Sache plaube ich hier eine 
Stelle aus Herrn August Beissmaun's neu erschienener Gesch. d. Musik 
bervorheben au mflssen. Seite 160 irt wdrtlieh nnd bnehstlblidi Folgendes 
zu lesen: „Viel weniger pnU das (es ist vom genial srhaffenden Geisto die 
Rede) von den Meistem, die wir der Verwandt.schaft ihres Strt'l»en9 wogen 
jenen anreihen müssen: Brasart, Eloy, Faugues und Biuchuis. Die (io- 
sänge, welche uns in den Canti oento oinquanta (1503) erhalten sind, 
liefern den Bi wcis (!), dass diese Autoren wohl Meister der jenen Zeiten 
eutsureuh enden Technik waren, dass sie dieselbe aber nicht genial au 
banobabea Terrtandea.** Die GmÜ cmto ewf/uaiiH entbalieii aber 
▼on jenen bier lo soharf getadelten Tonaetsern keine Note!! 



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Dufay and seine Zeit. 



463 



Oonponiit ^er von Tinctorit enrihnteii Jüna welche 
vennntblich von der Ncia eoUtrakk emen besonden dmueiGheo 
Qebranch machte, möelite eben um dieses Kunststaeks willen sebon 
rar «weiten 8ehule zu iXhlen sein. Dagegen können Cerontis, 
Regit» Bntnois oder gar Hobrecht, in denen Kiesewetter 
Ueberlänfer von der erfeten zur zweiten Schtilc erblickt, auf keinen 
Fall noch zur ersten Schule gerechnet werden; der Letztere kann 
kaum noch als Okeghem's Zeitgenosse gelton. Eher könnte man 
Philipp BassiroQ nennen (obschou auch er ohne allen Zweifel 
der Zeit um 1470 — 1500 angebbrt), dessen Messe de Frmiza oder 
Franzia noch viel&eh an die We&M der ersten Sdiole anklingt 
und am besten mit Eloy's Weise sn vergleiehen sein möchte, 
triten nicht wiederum an manchen Stellen (s. B. im Onuifiamij 
die Eigenhttten der zweiten Schule entschieden hervor. 

Ebensowenig als rar ersten Schule gehören die vorhin er- 
wähnten Meister sur aweiten, sie stehen zw ischen beiden und ver> 
mittcln den Uebergang; wäre blog die Zeit ihres Auftretens mass- 
gebend, so müssten sie schon zur P^poche Okeghem's gerechnet 
werden. Sie haben mit der ersten Öchule den verhältnisHmhssig 
immer noch ziemlich schlichten Satz, wie den Sinn für Wohlklang 
gemein, welchen sie nicht, wie später uft genug geschah, der Con- 
sequens irgend eines contrapunktischen Obligo opfern ; dagegen sind 
bei ihnen die -Umrisse schon weit fester gezogen, die Harmonie 
wird kemhafter und enetgischer, als es bei den Heistern der ersten 
Schule der Fall war: jenes mttdcbenhaft sarte Wesen beginnt einer 
mannhaft strengen Kunst zu weichen. 

Anton Busnois, eigentlich Antonius de Busne^) war, wie 
die Rechnungen über die Hofhaltung Karl's des Kühnen von Bur- 
gund zeigen, im Jahre 1467 Sänger in der Kapelle dieses Fürsten. 
Der kriegerische Herzog Karl war nicht blos eifriger Freund der 
Musik, sondern selbst auch Tonsetzer, er hatte sich noch als Graf von 
Charolois den Sänger aus seines Vaters Philipp des Guten Kapelle, 
Robert Morton, eigens fUr seinen Dienst erbeten und brachte es 
(wie es scheint unter Horton's Anlmtung) so weit, das« er, wie 
Messbre Olivier de la Marche in seinen Memoiren (1563) erzählt, 
selbst verschiedene Chansons setzte „5tsii faicUs it "bim wUes." 
Die Kapelle war reich ausgestattet, sie zVhlte 24 Slinger, dazu die 
Singknaben, einen Organisten, einen Lautenschläger und mehrere 
Violaspieler und Oboisten. Karl, vor d«m Tag für Tag eine Figural- 
messe gesungen werden musste, konnte den Gennss seine Kapelle 
zu hören so wQuig entbehren, dass er sie 1175 soirar bei der Be- 
lagerung von Neuss mit sich tührte. £s ist begreiüich, dass er bei 



1) Sein Name kommt in flen scltsaniston Entstellnngen vor: nlsBusnoe 
(bei Hermann Finck und Sob. Heyden), Buiua ^bci Adam v. Fulda) u. s. w. 



464 



Die Entwidtölang des mehntimmigeii Oowngefc 



seiner Vorliebe flir Musik und seiner ausgezeichneten Bildung in 
dieser Knuet einen Meister wie Busnois besonders schilMn nmtste; 
verschiedene gleichzeitige Docnmente^) rlihmen «isdrttcklieh seine 
guten Dienste (agrMles servtees)» deren Belohnung endfich die 

Stelle eines Dumdechaiits Bu Voome war, daher Busnois in der 
Uebcr8chrift eines Gedichtes von Jean Molinet als „Monseigneur Je 
doyen de Yomes maistre Bugnois^' ln /( lehnet wird. Tinctoris gab 
ihm ein besonderes Zeichen seiner Aclitung:, indem er ihm nnd 
Okef^liem zusammen 11 7 6 sein Buch „de natura et propriitate to- 
iwru))i'* widmete 2), und jener Poet redet ihn an: je te reiids hom- 
mcKjt' et irilna nur tous autres, car je cognois, que tu es instnuct et 
imbuz en tou.s numcaux eshanois u. s. w. Adam von Fulda preist 
ihn als würdigstes Muster. Pietro Aron slthlt ihn sn den Besten 
seiner Kunst*). Der Name des aiisgeseichneten Mannes kommt in 
den HofhaltnngsrechnungenMaria*s von Bnxgund noch am 26. Oet. 
1480, dagegen am 2. Februar 1481 nicht mehr vor, daher sein Tod 
Buverlä.ssig in die Zwischenzeit zu setzen ist. Die Compositionen 
Busnois' gehören zu den bedeutendsten Leistungen ihrer Zeit; seine 
vierstimmige Messe „Ecce ancilla" ist beinahe das Hauptwerk jener 
EiK)clie, sie gibt einen eben so sichern als bedeutenden Massstab 
fVir die Fortschritte der Kunst, wenn sie mit Dufay's gleichnamiger 
Messe zusammengehalten wird. Die Kunst hat an selbstgewisser 
Sicherheit, die durchaus reine und klangvolle Harmonie hat an Kern 
und Körper gewonnen, sie gestaltet sich frei und selbst kühn; 
während sie in der früheren Epoche nicht weiter ging als den Ckmtu» 
fimm liebevoll in Wohlklang einsnhüllen, beginnt sie nch jetzt stuf 
eigene Füsse an stellen nnd ihre eigenen Zwecke in verfolgen. 
Ein kleiner aber bedeutungsvoller Zug sind in dieser Richtung die 
bald in flüchtiger Andeutung, bald ausgeführter auftauchenden 
regelmässigen Hannoniesequenzen (im Lied „Dieu qud mariage", im 
sweiten Tbeile des Liedes „Maintes femmea" u. s. w.) eine Manier^ 



1) Diese Nachrichten danken wir Herrn Alexander Pinchart in Brflfwel. 
Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, dass wir von den Bemühungen des 
gek-lirtcii Herrn Smst v. Birck in Wien demnächst etwas Aehnliches für 
die Hoflialtung und insbesondere auch die Hofkapelle Maximilian I. zu 
hoffen haben. Auf gleichem Gebiete ist Herr Dr. Bacher in Wien mit 
aufopferndem Fleisse thätig. Nach dem, was ich durch die Aenndlich- 
keit dieser Herren von den Resultaten mrer Forschungen sn sehen be- 
kommen, dürfte Neues und T^üpfcahntes in grosser Menge zu erwarten 
sein und sollen über Isaak, Arnold von Bruck, Petrus Massenus n. A. 
interessante Daten mitgetheilt werden. 

2) Die Dedication lautet: Praestantissimis ac celeberrimis artis musicac 
professorihns Domino Joanni Okeghem, Christianissimi regis Franconnn 

Srothocapellano au magistro Antonio Busnois, illustrisaimi Burgundoruni 
ucis oaatori. 

8) Ochcphon, Busnois et DufTai . . . perche Busnois et gli altri preno» 
minati, gli ouali erauo huomini magni etc. (Aron, Toscanello L 3o). 



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Do&y und Mine Zeik 



465 



wolche die Componistcii bald in noch umfassenderer Weise, immer 
aber mit künstlerischer Mässigung und Einsicht verwendeten*). 

Die künstlerische Bedeutung streng im Canon einander nach- 
abmender Stimmen, die dem Satse zugleioh die Einlidt und Mannig- 
faltigkeit geben und bei Dufay nur ent gelegentUch in knnen 
Epiioden ▼orkommen, tritt bei Bnsnoia bereitg sehr entsehieden 
hervor. In der Bearbeitung jenes Liedes „Dieu qttel wuariofft^ weiss 
Bowois der gewählten Melodie doreb einen mit munterer Unge- 
zwungenheit fortschreitenden Canon zwischen Tenor und Alt eine 
neue, höhere Bedeutung abzugewinnen, während der Bass theils 
auf das Thema flüchtig anspielt, tlieils seinen eigenen Weg geht, 
im Discaut aber die Melodie eines andern Liedes „Corps digne'' mit 
der ersten in so natürliche, zwanglose Verbindung gesetzt ist, als 
sei es ein frei und eigens erfundener Contrapunkt. Was bei den 
altfiransösiscben Döehanteurs neeiiPtodiikt des barbarisebestenUnge- 
schmackes und gedankenloser Bohbeit war, erscheint bier aom an- 
sprechenden Kunstwerk geklMrt nnd veredelt*). Solche Doppel- 
lieder kommen dann auch b<d den Meistern der sweiten Schnle und 
bei den deatscben Meistern (Senfl, Arnold von Bruck) als an- 
ziehende, zuweilen geistreicbe Studien vor^). In einem seiner 
beiden vierstimmigen Regina coeli führt Busnois den Tenor und 
Bass in langer canonisclier Nachahmung, während die beiden oberen 
Stimmen sich frei bewegen; auch dies ist für zahlreiche spätere 
Meister Vorbild geworden*). Er versteht es gleich gut die Stimmen 
iu einfachen Combiuationen , wie in intricat sjncopirten Verflech- 
tungen (erster Tb^ des maintes femmes) gegen einander sn ^llen. 

1) Im Agnus der Messe Salve diva parens von HobreobL im Schluss des 
Ssnetes der Misia festivalia Ton Ant. Bramel, im Oraeimnis der Messe 

„Prftlich Wesen" von Isaak, in dessen Lied „Par ung iour de matinße" u. s.w. 

2) In den Canti cento cinquanta steht heim Discantus der Textau- 
fang: Corps digne, bei den drei andern Stimmen: Dieu quel mariage. 
Kiesewetter hat diesen bemerkenswerthen Punkt bei Veröffentlichung 
der Coraposition Busnois* ganz fallen gdatssn (Sohiokssle dss weltUoben 
Gesangesi Musikbeilage Ho. 18). 

8) So hat Ludwig Senfl mit dem Liede Fortona dsspemta (Ober das 
Hbbrecht eine Messe von strenger, migestätischer Erhabenheit^ Josquin 
eine andere, sehr kunstreiche componirt hat) eine ganze Reihe musika- 
lischer Experimente gemacht. Einmal setzt er es mit einer siunreicheu 
Spielerei Uber das Hexaohord in yerbindtEmg (Fort sap. voeea masic. 
gedr. in ,,121 newe Lieder", auch bei Seb. Heyden S. 46), dann ver- 
bindet er es mit der Kirchenmelodie des Pange lingua, und ein ander- 
mal mit dem VoIkalieJe „Ea taget vor dem Walde." Letzteres Lied 
verbindet Arnold von Bruck wieder mit einem andern „Kein Adler** 
(alle diese Compositionen in „121 newe Lieder" etc.). 

4) Um aus vielen Beispielen nur Einiges zu nennen: Josquiu's fünf- 
stimmiges Veni sancte spiritos (hn Not. et insign. op. mus.) mit strengstem 
Canon awischen den beiden tiefiAen Stunmen; sein Lied mit der Devise 
„ad nonam canitur bassu«i hie tempore lapso" (Canti cento cinquanta), wo 
der Bass gegen den Discaut einen Canon in der Noue bildet, u. a. m. 

Anbros, QMomcbte d«r Maalk. II. 80 



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466 



Die Entwickelong des mohrstimmigen Gesanges. 



Die Devise gestaltet sieh flun sehon stiin neckenden Blthsel, wie hm 
dem mainUg femme$ die ▼erwnnderltch genug klingende Bdscbrifl 
„Odam si prctham teneas diapaton amparilma Ur tmgeai^* und für 
den Tenor noch insbesondere: „voces a tiwse mnmuUas usque ly- 

canosypatoii recine singulas". So sind in einer vierstimmifjen 
Motette an den heiligen Antonius mir drei Stimmen ausf^esehrieben, 
die vierte muss nach ähnlich räthselhaft klingenden Andeutungen 
gefunden werden. Neben den vorerwShnten Stücken geistlicher 
Mu>ik sind von Busnois noch mehrere Motetten zu nennen; eine 
Bearbeitung der uralten Sequenz „Victimae pasckali lauäes^*, ein 
WeiknachtsUed Nod, nod, ein Magnifieoi $€xH iom (besondefs be- 
deutend), em ifVerinmearofaehm'*, sümmtliehTientimmig; tkaUagm» 
ficat primi Und^ eine Hotette ,/mima mea", beide dreistimmig: «He 
diese Compontionen in einem aus der herzogl. burgundiscben Kapelle 
herrührenden, jetzt der k. Bibliothek zu Brüssel einverleibten Codex. 
Auch die päpstliche Kapelle besitzt im Codex Nr. 14 eine Anzahl 
Messen von Busnois, darunter jene über den omtne arme. Die 
Anzahl seiner weltlichen Chansons ist beträchtlich. Die zwei vorhin 
erwälmten sind in Petrucci's CarUi cento cinquanta gedruckt; ein 
jetzt zu Dijon befindliches, von den Herzogen von Burgund her- 
rttkrendes Manascript entthält siebensekn dreistimmige und svei 
Tierstinmiige Lieder von Busnou^). 

Die Magliabecehiana au Florenx besitst yon ikm in einem Codex 
der Fnnd. Btvoiai (Nr. 53 XIX und Nr. 166) vienehn Lieder, und 
ein Codex der Pariser Bibliothek die dreistimmigen Lieder , Je Susi 
vewä vers moji ami*^ und „cAt dist en pudicite madame ma pfm 
grand chh'e^^ Tonsätze von eigentliiiinlicher Feinheit und Elegans. 
Indem Busnois die gewählte Volksweise zum Tenor nimmt, weiss 
er sie in leichteren oder strengeren Nachahmungen in bald ein- 
lacherem, bald kunstreicherem Harmoniegewebe mit den anderen 
Stimmen in eine geistreiche Verbindung zu setzen und das Ganze 
entweder Bentimental ausdrucksvoll zu gestalten, oder es ist (wie in 

1) Der Pijnner Codex No. 295 enthalt folgende mit Busnois' Namen 
bezeichnete dreistimmige Chansons: Quuut ce vendra au droit; ma deraoi- 
selle ma maitrcsae; bei acueil le sergent d'amours; c'est bien malheur; joie 
me ftiit et douleor me qnenrt; ma plus qu'asses et tant bmiante ; je ne pnis 
▼ivre ainsi toujours: c'est vous en qui j'ai csperance; je m'esbais de vous 
mon cueoT} je quu luy ; vostre gracieuse: quelque pour komme qui je soie; 
anne dame j'ay fait veu; en voyant sa dame; au ^rö de me ieolz; quant 
vous me ferez plus de bien ; j*ay mains; femer zwei visntimmige: „en toas 
IcB lieux ou j'ay cste" und „On a prant mal par trop amer." Morelot ist 
geneigt auch jene „Complainte sur la mort de Gilles Binchois'^ für Busnois* 
Arben sd hslten. Bas Stfidc bat etwas Dumpfes und Monotones, drflokt 
aber düstere Trauer ganz wohl aus, wie es die Aufgabe erheischte. Man 
findet dieses jedenfalls merkwürdige Stück in Stephen Morelot's Mono- 
graphie „De la musique au quinzieme si^cle, Notice sur uu manuscht de la 
bibüoth«quedeD^on."Faiisl856beiI)idronetBlanohet BeikgeNcIIl 



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Doükj «nd Mine Zeit. 



467 



dem Dieu fitd mariage) von einer gewissen leichtbewegten An- 
muth, von jenem friumttdseh mmitereii 6^ (daa finmsdrisehe 
y^esptU^*^ ist dafür beaeieboender), der die weltlidien Gesänge der 
tipäteren Meister Josqniii, Gerton, Gombert n. s. w. oft so erfreulieh 
macht. In vielen Beziehungen er8clu>int Busnois Uberhanpt wie ein 
Viirlüufer Josquin's* Unter den Liedern des deutschen Ueiiirich Isaak 
findet sich eins „parung jowr de «Nrftn^e" völlig eine Palingenesie 
des Busnois'schen „Dieu qtiel mariage^), aber im Uchte einer neuen 
Zeit, einer entwickelteren Kunst, schwerlich p'llisscntliclu' Nnch- 
ahimnifr; es H«'gt eben nur in der Kunstrichtung der Zeit, die 
sich hihon in Husnois in so bedeutender Weise ankiiji<liji;t. 

Zeitgenosse Busnois' und mit ihm zugleich in der Kapelle 
KarPs des Kühnen angestellt war ein von Aren genannter Ayne, 
Hayne oder Heyne^), eigentlieh Heinri^cb van Gbizeghem, 
der in den Hansreehnnngen KarPs als f^duMtre d vM de ekanulbrt 
de Monaeignem** vorkommt Aron erwlthnt zweier Lieder dieses 
Meisters: t^dmi§ rndtre amer'' unrl ,,de tom hiens pktine est ma 
mailresse". Das sweite Lied beHudet sich in doni vorerwähnten 
Dijoner Codex. Es ist eine ganz achtbare Arbeit; bemerke nswerth 
igt in der Stimmfilhrung, dass die Stimmen meist auseinander ge- 
halten sind, sich nicht durchkreuzen und ühcrsteigen, für jene Zeiten 
eine Seltenheit. Andere Stücke llayne's finden sich zusaninien mit 
Arbeiten.Iosquin's.Brumers undCrespiere's in einer Handschrift des 
britischen Museums^). Petrucci hat von den Liedern liayne's Einiges 
gedruckt, im Odheeaton die vierstimmigen Lieder „Atnour, amoiar" 
und i,a lee regret^% im Bnebe B. (OtminB n. quinguayinta) ein drei- 

1) Cnnfi cento cinqnnnfri fol 51. 

2) Es ist bemerkenswert h, dass ein Lied von Johannes Japart (Cauti 
cento cinquanta fol. 81) in der Anlage beinahe als direkte ^'achbildung 
des Busnois'schen „Dieu quel mariage" erscheint. Eb ist ebenfalls «in 
Doppelli(d; das eine Motiv „plus no chnsrcT-ay sans gans" gestaltet sich 
in den Mittclstimmen auf eiue lauge »Strecke iun zu einem leichtgefügten 
Oaaon im Einklang, im Charakter dem Dien qael eto. sdir tthnnch: 

Pins ne 

Das andere Lied „pour passer temps" geht (wie bei Busnois das corps digne) 
im Discant in gcmeBsenem C4aijge darüber hin. Der Bass begleitet wie er 
kann und mag. £s ist ein hübsches, geistreiches Stttok and verlangt, gleich 
dem Liede Busnois', einen ziendich raschen leichtbewegten Vortrag. 

3) Tratt. della nat. e cogn. de tutti gU tuoni, cap. IV. Heyne ist, 
wie nns F^tis (Biogr. xndw. Art. Ghizeghem) belehrt, die altflandrische 
Form für Henri. 

4) Biime^, Hist. of mus. 2. Bd. S. i89 AjUD. s. Die Handsohhft ist 
beseichnet: Bibl. reg. 20. A. 16. 

30* 



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468 



Die Entwickelong des mehrstimmigea GesangM. 



•tiiniDigw Lied Ja regrdU^* Anffbllend iit die sehr blufige Aa^ 

Wendung der alterthlimlichen Cadenz mit der Untwten vor -dem 
Schlusstone. Das Lied „de ious Hens" war Übrigens, gleich der 
fiFortuna deaperata**, eines der beliebtesten nnd b&ofigst be- 
«rbeitetcn 

Ein anderer Meister dieser Gruppe von Tonsetzern, Firmln 
Caron oder Carontis, reiht sich Busnois würdig au. Tinctoris hat 
dessen Chanson „la tridaine^^ in sein Vereeichniss von Mustercompo- 
gitionen aufgenommen^),und SebaldHejden nenntihn neben Okeghem 
und Bnsnois ele den Dritten, der die von Dnfrj nnd Binehoie über- 



1) In den Ouiti oento einqninte findet et rieb §dL Sl von Griipiinu da 

Stappen (wobei die erste Stimme erbaulich genug mit einem Viemoten- 
motiv immerfort dareinsiiifrt „beati pacifici"; die Zusammenschitiiedung 
dieser heterogenen Gesäuge ist durch den Zufall motivirt, dass jene kirch- 
liche Intonation wie ein ^obstinater Discant" zu dem Volfailiede passt), 
fol. 80 von JohanTi J apart mit dem Räthsplmotto ,,Hic dantur antipodes", 
foL 84 von Alexander Aghcola, dann noch fol. 89, III, 143 und 144 vier 
Beeriieitoiigen von ungenannten Tonsetzem. Josqnin hat ein Oredo (Patrnn 
omidpoteiitein eto.) Aber dasselbe Lied componirt, das nch in der von 
Petrucci herausgcffebenen Sammlung „Fragmenta Missarum" findet. Von 
dem Stücke Japart's sagt Fetis (Biogr. uuiv., neue Ausgabe 4. Bd. S. 429) 
„Le eheaton mmgaite ofie enni ime aingnlaritö remarqueble m ce jn'eBe 
peut etre chanUe ä qnatre OH ä einq partiea ä volonti. Le contratenor a pour 
inscr^ption ,,hic dantur antipodes". La Solution de cette önigme se trouve 
eu prenaut le chant de cette partie par mouvement ritrograde, ce qu'indi- 
qneot l« mota Ate dantur antipodes. 8i Ton fait le oeaoii, la dbamon ett d 
cinq voix; mais si Ton ne fait pas eile eM simplement ä quatre. Ce morceau 
est fort bien fait: j'en ai pri$unecopie ä Vienne et je l'ai niis en partition/* 
F^tis musB geradezu im Traume gelegen haben, als er diese Zeilen schrieb; 
Mine Angaben sind völlig falschlt Jene Gegenfüsslerstimme ist bflinriie 
notengetreu der Tenor, den Heyne bearbeitet hat, sie passt, so genommen 
wie sie dasteht, gar nicht zu den übrigen Stimmen, und eben so wenig, 
wenn man rie „per notiTeinent rdtrograde" nimmt. Petrnod ist tonii bdl 
B&thselstimmen so artig gleich die „Resolatio^' beizusetzen (was beinahe 
Usst als nadle ein Schalk einem Yerlarvten heimlich ein Zettelchen mit 
Namen und Adresse an den Domino) hier hat er's aber unterlassen. Die 
AnflOsang, die iob endlicb nadi ▼ielerlei Hin- and Heiprobiren glfloldioh g»> 



fonden habe, ist aber folgende: Erstens muas man den Tenoraobläsael 




der TOigeBeiohnet ist| «n sejaem Antipoden, d. b. tum M esBOs ep ra n scfa lfl sse l, 

maeben^TE- Dann nwm man alle Schritte Terfalnt nehmen, d. b. fro es 

in der Notiru^ eine Terz aufw&rts geht, eine Terz abw&rts ^ehen n. s. w. 
(bi Hernumn Iinek*a Aaotica mnsloae findet sich ein Tenor mit dem Canon 

„Contraria contrariis curantur," wobei die Auflösung genau dieselbe ist.) 
Zum Unglück bat sich obendrein der unselige Setzer Fetrucci's bei der 
18. Note vergriffen und eine Brevis statt einer Longa eesetzt. Ueberwindet 
man nun alle diese beabsichtigten und niebt beabsiditigten ObttakeL so 
ergibt sich ein leidlich klingender, immer aber nur vierstimmiger Sats« 
Oder hat F^tis aus Versehen ein gauz anderes Stück bekommen?! 
2) Zorn Schlttss der libri de oontnponoto. 



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t)nfay und seine 2eiC. 



46d 



nommmie Knnst erhöhet und verherrlicht Soino Arheiten befinden 
Bich zum guten Theile im pXpatlichen Kapellenarchiv (Codex No. 14), 
darunter eine Messe Vomme nrm^ welche interessante Verg^leichnngs- 
punkte mit jenen Dufny's und Faugues' bietet. Der Zusammen- 
klang des (Janzen, die Harmonie, hat hier unvergleichlich mehr 
Körper und Consistenz: es ist nicht mehr das weich Zerfliesscnde, 
aber auch bei weitem nicht jenes arios Singende der Stimmen, die 
bier Tifllau^ ^en gewissen strengen Zug haben ^. Ein drei- 
lümiiiiges Lied im Dyoner Codex ,Jiela8 que pomra dmmu" und 
«in auch drelttimnilgM „wm m'anttM prü U coeur" leigen des Mdsten 
Tfichtigkeit aneli anf dem Oebiete welüiehen Oesanges; Ider ent- 
wickelt er eineichttne freie Stimm ftihrung voll feiner Wendungen ^. 
Von Johannes Begis (du Roy) hat Petmcci Mehreres gecbrackt: 
die rünfstimmigen Motetten: Sähe .tpon.fa, lux solempniSt clangat 
plehs flares (letztere von Tinctoris als Mustercomposition genannt) 
und ein Ave Maria in den Motetti a cinqiie, ein Fat rem in der 
Sammlung „Fragmenta missarum"^) und ein weltliches Lied „Sil vmis 
plaisist'^^)'m den Canti cento cinquanta. Letzteres eine Composition, 
die durch kühne, energische Harmonie mit wohl motivirten Aus- 
weichungen, Trugsehlttssen, und durch eichere, effeetvoUe Behand- 
lung der Dissonansen frappirt Der Discant beantwortet das Lied- 
motiT des Tenors gani Ingengereeht in der Oberquinte. 

Dass sich von diesen ausgezeichneten Meistern keine eigene 
Schule absweigte, ist ganz natürlich. Sie selbst bildeten den lieber- 
gang tnr zweiten Schule, und ihre eigenen Schüler (über welche 
anr Zeit alle Anhaltspunkte fehlen) gingen dann ohne Zweifel 
vollends zur Okeghem-Josquin'schen Richtung Uber, sobald diese 
einmal das Uebergewicht erlanf^t und die öffentliche Meinung für 
sich hatte. Dass unter den nicht mit Autornamen bezeichneten Chan- 
sons der Canti cetUo cinquatUa gar Manches dieser Uebergangsschule 
angehört, steht wohl ausser Zweifel, wie das vierstimmige Cent mUU 
§euB, das einer Umarbeitung der Iflteren Arbeit Dufay^s gleicht, wie 
das vierstimmige anonjme Fortuna dapetaia (es ist auch noch eine 
swMte Bearbeitung von Pinarol da) mit seinem noeh sehllehten Ton* 

1) A Gallis Dufai et Binchois celebriortirn quidem redditum, donec 
a Johanne Okgeghem, Busuoe ac Carunte ceu per mauus acccpta magis 
atqne magis inclaresoeret (De arte canendi, Vonrede). 

2) Gleich im fünften Tempus des Kyrie muss der Bass über nur drei 

Stufen von S bis c herab ; das Lied im Tenor mit dem monotonen Herum* 

schlagen auf 3 g ist nicht eben glücklich arrangirt u. g. w. 

3) Ft^tis bemerkt: „on trouve daus ces morceaux de tracoii d'elügance 
dans le moavement des partieis soos ce rapport Caron est sup^ienr ^ 
Ok^hem et U Busnnjs. 

4) Ein Exemplar (leider fehlt der Bass) in der Wiener Hof bibliothek. 
5^ Bei Kiesewetter in den Scbioks. des welÜ. Gesanges als Musikbeilage 

No.l9. Nur redndremta die von K. im Uebermasse angebrachten! und I?. 



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470 



Die Bntiriokeliiiig &m mAnlthmS^ flewnggt. 



satz, den Übrigens an einigen Stellen ungeschickte Hfirten (einmal 
Parallelquinten von d zu es!) perturbiren u. a. m. 

Eine eigenthümliche, in ihrem evidenten Zusammenhange mit 
der niederltfudischen Kunst noch nicht genugsam aufgeklSrte Stel- 
lung nimmt England ein. Dieses» nach 8hak e^) e are*s stolzem Aas- 
dfnck „durch die Silhersee vor minder beglllekter Linder Neid" ge- 
sehtttate Reich hielt sich die l^ederllnder seihst an einer Zeit fem, 
wo sie ftir «aller Herren Länder als Musiker gesucht wurden. Kein 
niederlündischer SSnger, kein niederlfindischer Kapellmeister passirte 
je don Kanal; dass man aber umgekehrt in der Heimat der Musik, 
/ den Niederlanden, englische Sänger zu schätzen wusste, beweist der 
schon erwähnte Robert Morton und ein gewisser John Stuart 
öder Stewart, auch Sänger in der Kapelle Karl'sdes Kühnen. Wie 
England seine eigene Kirclienbaukunst im romanischen wie im go- 
thischen Slyl/ und im letstem seine gegen einander oppositionellen 
Idiotismen des spitsen Lanaettbogens und des breitgedriiekten Tudor- 
bogens, sein Lattenomament n. s. w. hatte, so wollte es auch in der 
Musik nur auf sieh seihst gestellt sein. Nun sind aber die Prinai- 
pien des Tonsatzes dort im Wesen doch ganz dieselben wie in den 
Niederlanden, und die Niederländer haben nicht nur die PrioritHt 
des Besitzes derselben, sondern auch die grosseren Talente für sich; 
noeh zur Zeit Heinrich \'1II. lassen sich die englischen Contra- 
punktisten in keinem Sinne den niederländischen an die Seite setzen. 
Es ist ein sonderbarer Umstand, dass sogar die Ehre der Erfindung 
des Contrapunktes (der freilich in der That gar nicht ,, erfunden'* 
worden, sondern sich naturgemäss aus rohesten Anfängen alhnälig 
entwickelt hat) gerade ^on dem gelehrtesten aller niederllndischen 
H nsikschriftsteller, von Tinctoris, nicht seinen Landsleuten, sondern 
den EngiSndem angesehrieben wird. Er ssgt an einer oft er- 
wähnten Stelle seines „Proportionale Mndces*^ (In welches er Aber- 
hanpt mancherlei historisirendc Notizen aufgenommen hat), daaa, 
„wie man versichere, die Quelle und der Ursprung dieser neuen 
Kunst bei den Engländern gewesen sein solle, als deren Hanpt 
Dunstaple hervorragte, der Zeitgenosse Dutay'sniid Binchois', auf 
welche dann unmittelbar die moflornen Okenheini, Husnois, Kegis 
nnd Carun folgten, die vorzüglichsten Meister des Tonsatzes, von 
denen je zu hören gewesen 

1) Cujus, ut ifa (licani, iinvae artia fons et origo apud Änglos^ quonun 
caput Diiiisfaple rx^t itit, l'uisse perhibetur. Et huic conteniporaiuM fuerunt in 
GalliaDulai i l Binchois, ({uibus immediate successeruut moderui Okeuheim, 
Busnois, Regis et Caron, omniam, quos audiverim in compositiotte pTaestaas* 
tissimi : nt-c Augli nunc licet vulgariter jubilare, Gallici vero cantare dican- 
tur, veuiunt coufercndi. Uli cnim in dies uovos cantus novissime inveniunt, at 
isti, quod miserrtmi si>rnura est ingenii, una Semper et eadem compoaitione 
ntlUltar (J.Tinotoris, Proportionale muRices). Man sieht, dass Tinctoris auch 
nuTTomHörenssgeu (perhibetur) redet. Nichts destoweoiger hat e« ihm einer 



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471 



Dieser von Tinctoris erwähnte Dunstaple hiess ei^cntlicli Jo- 
hann Dunstaple oder eigentlich J ohann vou Duuötaplc (John 
of Dunstable), also genannt nach seinem Geburtsorte, einer Stadt in 
der Grafscbaft Bedford Dam er wirklich ein Musiker von einigem 
Bnfe war, beweist der Ümstand, dais sicli Franckinus Gafor, der 
berttbmte Lehrer sn Mailand, auf ihn nnd auf die Art und Weise be- 
ruft, wie er in seinem Veni Sande Spiritus im Tenor den sogenannten 
Modus major notirt habe') und ihn golon:f>ntlich noch ein andermal 
als Autor eines Tractates „de menswabili musica^^ nennt 3). Sogar 
Martin le Franc nennt ihn zusammen mitDufay und Biiulinis, nm die 
Besten der Zeit zu bezeichnen*). Ziemlich grob bthaiulclt ihn da- 
gegen sein Landsmann Thomas Morley, Musikus der Königin Elisa- 

nach dem andern nachgeschrieben: so Sebald Heyden 1540 in der Epistola 
nnneapatoria seiner arseanendi und Johannes Nucius IG 13 in seinem Werke 

„Praeceptiones musices poeticae." Die Stelle bei Seiiald Heyden ist zugleich 
eine lehrreiche Probe, wie der Irrthom im Nachsprechen vou Mann zu Mann 
wftehst Er beruft sieh ausdrfloklioh auf Tinctoris und dessen Proportionale; 
nun höre man aber selbst: „Quam musicam Johannes Tinctoris in libris Pro- 
portinnarum suarum fquorum mihi copiam nu])er fecit Ueorgius Forst ♦>rnB, vir 
ut litcrarum et mediciuue, ita et 3Iusicae peritissimus) novam artem appellat, 
et esm in Anglia a qwtMm Dunaiajdi (so, nicht wie Forkel 2. Bd. S. 484 
citirt ,,Dniis(al)li") prituo excogitatam affirmat." Hier wird also Dunstable 
gar schon selbst „Erfinder des Contrapunktes. Johannes Nucius aber lägst 
sich Temehmen: „Duxtapli (so!) Anglus, a quo primum figuralem musicam 
inTentam tradnnt.'* Dass Nucius wieder dem alten Heyden nachgeschrieben 
hat, zeigt das «rctroue Wiederbringen der von Heyden ganz fehlerhaft ange- 
wendeten Geuitivlorm „a quodam Dunstapli'* statt „Dunstaplo/' Franz 
Lustig in s^ner Musikkunde Terweehselt der blossen (entfernten) Nsmens- 
ähnlichkett wegen unsem Johann Dunstable gar mit dem heü.Dun8tan, En- 
bischof von Cantor1)iiry (starb 988). Aehnliche Verwechplung-en wurden 
Anlass, dass Buddaus, Printz, Marpur^ u. a. dem heil. Duustau die Erfindung 
des mehrstimmigen Gesanges zuschrieben, wobei denn Argumente vorge- 
bredit wurden, wie „dass man St. Dunstan auf der Harfe mit beiden Händen 
spielend abbilde." So wurde aus der von TiiK toris beiher und zweifelnd pege- 
!)enen Notiz ein wahres Monstrum von Irrthüraem. Burney, obwohl mit Leib 
und Seele Engl&nder, dachte viel zu rechtsohaflen, um seiner Nation einen 
Ruhmzuvindiciren, der ihr nach seiner Ueberzeurnmpr nicht{]re1ȟhrte: erpole- 
misirt in seiner ruhigen, ernsten Weise dagegen (Uist. of m. 2. Bd. S. iOO a. 449). 
Mit noch sohwerer in*sGewieht fkUendeuGmlnden trittForkel(Gesob.d.Mus. 
2. Bd- 8. 484) auf. Kiesewetter (Gesch. der Mus. S. 47) erwähnt dt r Sache 
ganz kurz und weist auf den schlntrrndenGegenbi'wiisliin, der in den Arbeiten 
i>ufay'8 liegt, womit freiUch die Frage ein- für allemal erledigt ist. 

1) John of Dunstable, so called from the town ofthat name in theeounty 
of Bedford, wherc he was boin (Hawkins, Hist. of m. % Bd. 8. 298). 

2) Pract. niu8. IL 7. 

3) A. a. O. III. 3. Franchinus schreibt Donstaple. Der Tractat wird 
auch von Morley und Uavenscroft citirt. 

4) Guillriume Dufay et Binchois 

Car ils ont nouvelle pratique u. s. w. 
Angloite et entwy DuntMU 
Pour quoy merveflleuse playsance 

Bend leur chant joyeux et stalle. (Le Champion v. Martin le Franc.) 



472 



Die Entwickelong des mdmtimiiufeii OetaagM. 



beth, der (m seinem Bliebe „a plakiM and eatU MroAuHim to pndieaU 
Ifttficfte** 1597 8.178) ibn mit einer Antplelvng auf s^en Namen 

za den „Dunsen" reebnet. Wenn sein Ruf aber aneb von England 
hxf^ Mailand reichte, von Daaer war er wenigstens nicht; schon 
Heyden nennt ihn einen „gewissen" Dnnstable, und auch Morley 
braucht die Wcndiiiif,' „O"^, whose iianic is Johannes Dunntahle."' Er 
war nohHtl)t!i (oder vielleicht hauptsächlich) Mathematicus, Astronom 
und, wie es die Zeit mit sich brachte, Astrolog. In Weewer's Samm- 
lung von Grahschriften {Funer al-Monnmenta) wird er der Mann ge- 
nannt, der den ganzen Himmel in die Brust schloss, der Mitwisser 
des Kecbtes der Sterne, was aber Musik betriHl, „ihr Lob, ihr Ucbi 
nnd ibr Fttnt" (Ate vir erat Iva tot», Uia nrnsica^ princeps). Die 
Grabscbrift in FuUer^i Wortbies, Terfaset von Jobann Wetbamated, 
Abt von St. Albans^ erscliöpfl sieb gleichfalls in Lob: sie nennt 
Dunstable den Streiten PtolemKus, den jüngeren Atlas, dvt den 
Himmel getragen, lässt aber seine musikalischen Verdienste unor- 
wfilint Als Dnnstfthle's Todesjalir wird vom Bischof Tanner 1453 
angegeben 2), anderwärts 1455 3) oder gar 1458*). Begraben ist er 
in der St. Stephanskirche, Walbrook in London. Der ( irund jener 
unliöHicheu Bemerkung Morley's ist eine allerdings selbst fiir jene 
Zeiten grosse Unschicklichkeit. In seiner Motette „nesdens virgo^^ 
ibeilte Dnnstable das Wort „Angelomm" im Texte so ab, dasa 
Btriseben die vorletate nnd letate Sylbe vier Tempuspansen (im im- 
perfeeten Tempns so viel als aebt Taktpansenl) fallen^). Ausser 
diesen wenigen Noten bei Morley nnd jenem Itorsen Beispiel bei 
Francbinus, die um so weniger bedeuten, als es herausgerissene 
Fragmente einer einzigen Stimme sind, scheint von Dnnstable nichta 
erhalten als einige dreistimmige Gesänge in einem Manuscript der 
Vaticana. Auch sein Tractat ist verloren. Hätte er jene Vorzüge 
besessen, die seine Epitaphien an ihm preisen und wovon, wie Füller 

1) Man findet die Grabschriften bei Hawkins 2. Bd. S. 299 und bei Forkel 
2. Bd. iS. 4H1. Füller selbnt nennt die luRchriften „hyperbolical epitiphs.** 

2) Bibliotb. britauuico hibemica S. 2öi^. 
8) Hatrkina 2. Bd. 8. 298. 

4) Bumey 2. Bd. S. 401. 

5) Bumey (8. 399 und 400) erblickt darin einen Copisteofehler; aber 
die Zahl der ^oteu zeigt, dass es keiner ist: 




ip - sum re - gem An-ge*lo • rum 

Burney's Verbesserung ist nichts werth, er flickt für das „rum" noch eine 
Brevis ein, waa in der einzelnen Stimme angeht, im Zusammensing^u aller 
Stimmen aber natfirlioh alles Ober den Haufen werfen trflrde. Aeimliche 
Dinge sind bei den ftltcrn Gomponisten nicht unerhört, freilich nicht so 
ffrell, wie in jener Composition DutiHtablc*». So setzt s. B. selbst Joiqnin 
in seinem Miserere: Audi- (Tempuspause) uuditui meo. 



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Bu^ ud Mine Zeat 



473 



sehr richtipr bemerkt, ein Drittel zu einem grossen Manne hinreichen 
würde, so hätten gewiss seine Arbeiten nicht so völlig der Ver- 
gessenheit anheimfallen können. Burney, der fleissige, gründliche 
Forscher, der fUr die musikalischen Alterthümer seines Vaterlandes 
das grössto Interesse halte, war nicht im Btande auch nnr das Ge« 
ringste Ton Dnnstable^s Compositionen anfirofinden. Dnnstabie hat 
21 oder gar 26 Jahre ISnger gelebt als der in hohem Alter ge- 
storbene Dufny; er ist also jedenfalls der bei weitem Jüngere. Bei 
Lebzeiten Dufay's stand es mit der Kunst des Tonsataes in England 
nicht eben glänzend. 

Nacli dem Siege bei Azincourt 1415 wurde eine Art ranfate^ 
ein Danklied gesungen, dessen Notirung im Map^dalenen-Colle^^iiun 
zu Cambridge in der Pej)ysian-(^ollection anfbewalirt wird 1). Eine 
Stimme intonirt eine Art (janto ftirnio, der nicht notengetreu, aber docii 
in aualogen Gängen, auch dann die Grundlage bildet, wo die zweite 
nnd im Chorrefirain die dritte Stimme „Deo groHas Änglia^* hinsntritt. 

Die Composition zeigt bestimmte Cadenseinschnitte nnd ttber- 
hanpt eine gewisse planmSssige Disposition, im Uebrigen ist sie 
aber ron sehr roher, fast barbarischer Einfalt^. 

Wenn nun bei einem grossen Nationalereigniss, welches noch 
nach beinahe zwei Jahrhunderten einen Shakespeare zu einem smner 
glänzendsten nnd reichsten Gemälde anregen konnte, nichts Besseres 
gesungen wurde, so stand die Kunst des Tonsatzes in Eiifrland vor- 
länfig noch bei iliren «Tsten Anfangen, während die Niederländer 
sclion fertige Meister und eine ausgebildete Tonkunst besassen. 
Um SU weniger dürfen wir also dort die Ueimut der Contra* 
punktik snchen. 

Eine in ihrer Art sehr merkwürdige altenglische Composition 
ans der Mitte des 15. SXenlnms findet sieh im Manuseript No. 978 
der ColUäio Harleiana im britischen Hnsenm. Es ist ein altes 
englisches Volkslied „Sumer is cumm**^ tu einem Canon im Unison 
umgeformt. Später wurde unter den ursprinifrlichen weltlichen Text 
ein geistlicher geschrieben ^,Perspice Christ irohi^' u. s. w. 1 )er Catalog 
der Harleian-Manuscripts bemerkt dazu: Antiphona PERSPICE 
XP'TICOLA miniatis Ulteris scripta, supt a iiiiam tot syllabis nigro 
ntyameido neu rovnnuiii cemuntur verbn am/Iica <um notis wn.Klns 
a (puituor caidoribu^ aernatim atque simid cuticnda. Hoc yeuua con- 
trapumtionis sive composUunds canonem vocatU musici rnodemi, 
Angliee (cum verha aieid tn praesenH conte aud omiitiio hidicra) 

1) Bnmey, Hist. of m. 2. Bd. S. 3Ö3. 

4 Bomey, der diesen Gesang als „venenthle reite of oar natioiiB 

prowess and glory" bczfichrut, findet doch (Wo rnmposition desnelben 
„v*<ry iiicorrcct'' und nimmt besonders an drei (t^uiuteu in der zwei- 
Bti nun igen Part ie gerechtes Aeivemiss. 

3) In der ursnrüiiLdiclien Volksweise findet es sich in dem kflRlich 
erschienenen Werke: ropnlar songs eto. 



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474 



Die fintwicketnng 4et malintlBiiii^pen Q«Miiget. 



a Catch, vctKstioribus vero^ vti ex praesmti roih're virlere r.cf, 
imiuujtabatur Rota" Zn der Ilatijitmelodie der vier Siinger singen 
zwei andere mit Anspielung auf »Icn Text des Friihlingsliedes eine 
Art Kukuksruf in einer kurzen stets wiederkehrenden Phrase, welche, 
wie es dann bei Khnliehen sinnreichen Spielereien gelnrStichlieh war, 
alt Pes (FasB) beseiehnet wird. 0ie Kotimng jener ,^B/iiM* Qin. 
aehwanen Noten) ist in einsr einsigen Zeile begriffen, mit bei- 
gesetsten Krenscben als Zeichen des Eintrittes ftir die einzelnen 
Btinimen. Die Benennung£ofa(l^ad)ist bezeichnend gewählt, nin die 
stete Rückkehr der Stimme auf denselben Punkt, die 8teteBewegnn|p 
der Stimmen in demselben Umkreise anzudeuten. Hier wird dieser 
Ausdruck zweifellos im Sinne eines Canons angewendet. Die oft 
zitirte St«'ll(' von de Muris „Scienänm est noiahiliter ^ quod non 
j)ossumui> (}i(as mtas iiourre in rota vel in una liiiea, vel i)i uvo 
spatio^ ei eod^n modo duas odavcm^' ist nicht so ganz deutlich und 
klar, obschen die ErklKning allerdings die stiehhaltigsle ist: Mniia 
habe sagen wollen, man dl^e in einem Canon nicht iwei Stimmen 
im Einklänge oder in Octaven fortsehrdten lassen. Dieselbe 
Hand, welche den geistlichen Text beigesetst, hat eine sehr um- 
stXndliche ErklXmng Uber die Art der Ausfülining beigeschrieben: 
lyAoNS Bot am cantare possunt quaJtwjr socii, a paucioi-ihm ouieM 
quam a hibm vel saltem duobiis non debet dici. Praeter eos 
qtd dicunt pedem. Canitur nutem sie: tacetdibus caeto'is umts 
inrhoat cum his qui tenetd pedem et ann venerit ad piHmam notam 
poat cmcem, ivchoat alius et sie de cetcris. Singtdi vei'o rejuiusf i.t 
ad pauaaciones aeriptas et non alibif spacio tmius longae uotae." 
Und der oberen Stimme des Pes ist beigeschrieben: tMcrepeüi 
mm qmeieiis epi» eti faeiens pmuaeionm ta /Ine,** der unteren 
Stimme: „Jkoe dieti alk» pamtaiu i» meäio et non tu /Ine, «sd tm* 
nudiaie repetenn principitm*^. Diese weitlKufige ErUlnmg sdgt 
deutlich« dass damals Compositionen dieser Art eine gans neae 
Erfindung nnd eine ungewöhnliche Sache waren. Befolgt man nun 
diese Anweisung, so ergibt sich ein reclit sitinreich combinirtes 
sechsstimmiges Ganze, welches trotz der mehrfach ungeschickt 
zusammensto.ssenden Harmonie zeigt, dass sich in kurzer Zeit, 
vielleicht durch die Bemühung tüchtiger Lehrer wie Dunstable, die 
Coutrapunktik in England nicht unwesentlich gebessert hatte. Die 
vier Hauptstimmen bilden einenCanon im Einklänge, der ohneBnde 
fortgesongen werden kann nnd folglich, wie Shakespeare sagt, 
„einem Leineweber drei Seelen ans dem Leibe haspeln kSnnte.** 
Die knne Phrase des Pes bildet selbst wieder in den beiden 
Stimmen eine eanonische Lnitation*). Das Ganse seist schon 

1) Man findet das Stüök bd Bmney 2. Bd. 8. 407, bei Hawkins S. Bd. 

8. 96, bei Forkel 2. Bd. S. 492, und sogar bei Busby (1. Bd. & 884 der 
bei Baumgiyrtner in Jjeiprig ersohieneaen UebersetsuBg). 



Jhahj und eefne ZtItL 



475 



eine wohldurchdachtp. Berechnung? des Zusammentreffens der Töne 
voraus und ist ein beachtcn8\vertli08 Denkmal ältester englischer 
Kunst, die sich hier auf einem Gebiete zeigt, welches Glarean 
vonagfweise für Okeghem und Josquin in Anspruch nimmt, 
iiKmUch «ni „einer Btfanme mehrere ni entwickeln^". 

In DentBohland, welches prldestinirt war (gerade in der 
Hiuik eine der allergHtnsendsten Seiten seines geistigen Lebens 
SU entwickeln, lag im 14. und bis lief in's 15. Jahrhundert hin«n 
ToUends so ziemlich alles brach. Wenn uns Stttdte wie NUmhoi|f, 
Augsburg, Cöln, Lübeck u. a. m. ein anziehendes Bild tUchtigen 
mannhaften Bürgerthums zeigen, wenn Gewerbe und Handel gediehen 
und Wohlstand das Leben erfreulich maehte, wenn herrliche Dome 
und Rathhäuser noch jetzt jenen Zeiten ein schönes Zeugnis« geben: 
80 sollte man denken, hätte wohl unter ähnlichen Verhältnissen wie 
in den Niederlanden die Musik, und insbesondere die gesellige 
Mnsik, IduiUehe Bluten wie dort treiben sollen. Aber es fehlte das 
fireiei firöhliche Leben, das die belgischen Stüdte unter einender 
▼erbend; Separatismus lastete schon damals wie ein Fluch auf 
Deutschland, jede Stadt war in ihre Spezialitäten eingefangen, WO 
sich „Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit forterbten**, wo 
Patrizier und ZUnfte einander oft genug scheel ansahen, und wo die 
Kunst, von kleinen und kleinlichen Verhältiiinsen eingeengt, es mit 
Mühe und kaum über den Standpunkt eines liildiclien Handwerkes 
hinausbrachte. Nimmt sich doch der herrliche Albreeht Dürer in 
dem Nürnberger Wesen wie ein Adler im Käfig aus. Während 
man in den Niederlanden fUr die Sfinger Belohnungen aussetzte '■^) , 
durften in Deutschland die Musiker durchaus auf keine glänsende 
Versorgung rechnen, sie standen in sehr geringem Ansehen und 
verdienten oft kaum ihr Brot. Noch Heimann Finck beklagt sich 
lebhaft darttber^. Solche Verhältnisse madien es begreiflich, wie 
«in solches trostloses, ja leblosesKnochenprttparat von sein sollender 

1) „Amavit Jodocus ex uua voce plures deducere, quud post eum 
molti «CTomlati sunt. Sed ante eum Joannes Ockenheim es in exeroita* 
tlone clanierat (Glareani Dodecachordon S. 441). 

2) Adrian Petit-Cüclius sagt : „luurbibusBelgicis ubi cautohbus praemia 
dantur ac ob praemia adipisceudo nollus non modus et labor adhibetur" etc. 

3) £r sagt: „His" (näiolioh den Musikern in den Niederlanden, Italien 
u. s. w) stipendia amjjla decomuntur, rpditi])U8 et dignitatibus locuple- 
tautur (ein öeitcublick auf die Domherrenstelieu Buanois', Jo«quin's,Pierre*8 
de la Rae u. s. w.) „quae quidem praemie non pomnnt non ezdtare liber- 
alia iugenia et currenti calcar addere quam maximum. Apud uos Tero 
excellentes artifices (ut nihil dic^am amplius) in tanto honore et pretio 
non sunt, imo saepe periculum famis vix cBugiuut" (Herrn. Finck, Pract. 
mut. Lib. V. de arte eleganter et suaviter cuiendi). Anoh Adrian Petit- 
Coclius khi^i, dass die „Hch^ne Kunst des (improvisirten) rniilr;i])uiiktes 
in Deutschland so gar selten gefunden werde, und nur äu^sernt wenige 
dieser nur durch lange Uebung su erlernenden Geschicklichkeit Zeit 
und Mflhe snwenden (Vergl S. 388 Anm. 1). 



Die Bntwickelimg ^ melintammlgeii (SknuigM. 



Poesie and nein sollendem Gesang, wie die Meistersingerei, die 
leliendei blflhende Dicht- und Tonkunst ersetsen mochte. Als gegen 
1500 hin nnd spitter eine_ grosse Ansah! hrayer dentscher Meister 
des Tonsaties mftrat, ein Heinrich Finek, Isaak, Stephan Mahn, 
Senfl, Panl Hofflieymer, Arnold von Bmek^), Breitengasser, Sixt 
Dietrich n. a* m., würde freilich alles reichlich eingebracht, eine fast 
nnUbersehbare Menge melirstimmiger deutscher Lieder, die, echt- 
deutsch im fharaktor, an Trefflichkeit des Tonsatzes mit den besten 
niederländischen wetteifern, kam in Nürnberg und Augsburg unter 
die Presse und beweist, wie gross die Freude daran nnd die Nach- 
frage war; jene Verhältnisse trugen hier eiulliili doch ihre Frucht, 
his dahin aber sah es öde genug aus. In den Kirchen blieb mau 
ein^Mh heim planen, unisonen Gregorianischen Oesang. Warden 
doch seihst in der kaiserlichen Knpelle sn Wien erst 1498 Sünger 
gestiftet, welche, wie es in der schriftlichen Urkunde darfiber 
heisst, „auf Brabandisch su discantiem" hatten, d. h. die niederlia- 
discheKnnstweise einftlhren sollten. Indessen fehlt es doch nicht an 
Andeutni^en, dass man von der künstlicheren Musik der Nachbar- 
länder einige Notiz genommen hStte. Schon Kbcrhard Oersne von Min- 
den spricht 1404 in seinen „Miuneregeln^^ von künstlichem Gesang: 

DUeant^ bymol semiton 

Tetior SV da by machten. 

— Dy tlores in naturalihus 
Mid Quinten vndo Quarten 
Tercien vnd Octaven 

— der bardunen Chor 
mit iren Semitouen 

worin die „Quinten vndo Quarten*' des Organums, die Zflge des 
firansösischen Döchant bis seihst auf seine Florataren leicht wieder- 
zuerkennen sind. Eine Parallclstelle dazu enthält der zwar erst 
1511 in Druck gekommene, aber schon 1474 verfasste „Spiegel der 

Sitten" von Albrecht von Eyb, wo in der Vorrede vom „Gesang 
mit Tenoriren, Discantiren und Hurdaumen" die Rede ist^. 
,, Burdaumen" erinnert an den Bourdoti , die tiefste Stimme, die 
Brummstimme, die in ihrer rohesten Fassunpr, wie Job. de Muris 
sagt, auch bei den französischen Säugern nicht allein bei der so- 
genannten Diaphonia bas-ilica'^), sondern auch bei der Triphonie in 

1) Die (rründe, warum icli Arnold von Bruck nicht für einen Xieder- 
lindtT aus Brügge, sondern für einen Schweizer aus Brugg halte, werde 
ich bei Besprechang dieses grossen Meisters darlegen. Dass er nieht mit 
Amoldus Flandrus zu vorwechscln ist, hat schon Fetis nachgewiesen 

2) Selbst die Reihenfolge, in der die Stimmen genannt werden, ist 
charakteristisch. Erst der Tenor aU Unuptätimme, dann der sich ent- 
gop^en stellende Discant, snletst die n den beiden noch antretende tii^ 

hounionironde Stinimo. 

Ii) Siehe oben S. 33 Anm. 1. 



Dttfay und seine Zeit. 



477 



einem orgelpnnktaxtig feitUliieaden Banton bestandi). Sebandan 
Bnmd fedet im Nanenacbüf vom „Qmntiroii**. Ein firtther, freilieh 
nodi sehr roher Venmeh eines gearbeiteten (nicht hloBsupra librum 
improvisirtcn) Tonsatzes in Deutschland ist ein auch noch drei- 
stimmiges mit der Jahreszahl 1459 bezeichnetes Regina coeli laetare 
in einem Codex der Strassburger Bibliothek^). So ungeschlacht hier 
die Stimmen noch auf einander stossen — gegen die um ein Jahr- 
hundert filteren völlig barbarischen (auch oberdeutschen) Biscante^) 
ist hier doch schon einiger Fortschritt wahrzunehmen. Sehr be- 
merkenswerth aber ist es ohne Zweifel, daas dorch alle Rohheit und 
Plmnpbat liindwdi ädi dodh achon gana unTerkennbar der die echt 
dentaeben Meister, wie Fiiiek, Hoffbeimer, Stoltaer n. a. w., und 
dnrcb aie die denlaebe Bdinle, gegenttbor der mederUndiseben 
individaalisirende Zug ankündigt^). Ein in aeiner Art interessantes 
Stück aus derselben Zeit enthält der schon erwähnte Codex Nr. 2856 
der Wiener Uofbibliothek, ein Lied „zart liebste Frau" („wertlich'* 
wie die Beischriflt sagt), dessen armselige Melodie auf keinen Fall 
eine Volksweise, sondern (vielleicht vom Dichter selbst) frei er- 
funden ist. Was dieses an sich ganz unerfreuliche Stück bemerkens- 
werth macht, ist der Umstand, dass trotz seiner sehr naturalistischen 
Factur doch in der (noch schwarzen) Notirung von den Regeln der 
Menaoralmnalk in Impeifiaimng, Alterimng und Ligatur aebiil- 
riebtiger Gebraueb gemaebt wird, nnd daaa eine tiefe Stimme, ein 
BoHrdm, naeb Art einea Batso eaiifjmio daangeaetst ist mit der 
beigesclniebeuen Bemerkung: „das ist der Pumhart darzu^S Dieser 
„Pambart*S ein dem „Bardaumen*' analogea Wort, aagleich an das 
grosse oboenartige Instrument Pommer, Pummer oder Bombard 
erinnernd, ist wiederum äussert armselig, fast nur Tonica und 
Dominante. Das Ganze trägt die sonderbare Ueberschrift: ,,das 
Nachthorn vnd ist gut zu blasen", was unmittelbar an den üblichen 
Beisatz aufTituln der späteren deutschen Liedersammlungen erinnert: 
„&uS die Instrument dienstlich" (schöne auserlesene Lieder des 
boebberttmpten Heiniid Fineken 1536), „auff allerlei Instrument 
an gebrancben** (ESn Ansabond scböner teutscber Liedlein, beraus- 
geg. von G. Fonter 1589 nnd 1560 u. a. w.), ein Beiaata ttbrigens. 



1) De Maris, Soauna mnaioae oap. XXIY, (Herbert, Scriptores 3. Band 
S. 240. 

S) Uandsohr. B. IL 15. 

3) In Gerbcrt's De oaato. 

4) Man erlaube mir ein (rleichniss! Jenes Rt qrina eooli verhält sich 
z. B. zu Finuk's „Christ ist crbtaiiden" und „in üultcs uam so iarcu wir'* 
(No. 1 and 2 in den f,iobOnen aosserlesenen Liedern des boohberfimpten 
Heiiirici Finckon") wie etwa ein erst aus dem Rohcstoti au-^j^ehauenes Stein- 
bild zu di r voll ausgearbeiteten Statue: es ist kaum noch menschenähnhch 
und enthalt doch »cbon alle wesentlichen Züge des fertigen Kunstwerkes. 



478 



Die Ebtwiokdoiig des mdintiiimiigeii Oniingfw. 



den die gro8};e Chanson-Sammlang Tylman Ba8«to*s auch macht 
t^owenables tatd 4 la vaix cmme antx itutrummilt*. 



(Codex No. 8856. der k. k. HoflnbL m Wien IbL 185b~186 a.) 

Das Nachthora vnd ist gat zu blasen. 




Wertlirli 



l 



Zart liebste fraain lie • beraubt 
Bas ist der ^nliart dann. 

i 



I g ^ fl> I 




lieh frö-lich naöhtwamiao meta herei ddn trew be • tradit 



i 




* — ^ 



das freut all 



Icrafttndnaolit anf sta-taa 



1 



^ ^ ^ 



3=t 




J l 



2: 



syn so ich uu piu da - bin el - leod vnd aiu vnd 











9: 1 




— « 










1 — 9 — 9 — 6? i 






1 ^ 1 





i 



— ^ 

fd-mand main ra tr& - sten midi wen didi mit se •> nen 



1 



-Ä» » ^ 



1" ' 



-Ä» 



-6» — ^ 



1) Ob dieser Satz anstatt des Chroma vor £ nie Ambros vorsohUgti 
nicht hesser mit eiaeni h rotaadnm ao Teraeheii ist, lasse ich dama 
gestellt 



Kada. 



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Dufay und seine Zeit. 



479 



m « - 










(S*— 







i 



ich den slaf bekrenk daz ich d^ nacht gar TÜ 



-49- 



i 



— 



dioh gedenk 



min tremn dich maeheiitniidi fo gtll du 




1 



1 



<9- 




ich mir voinsch daz hail 



daz ich sla - fen 8olt an 



1 



1 



1 



1 



2: 



I 



•Inf • fen 



•ol • eher Ii - her nuah ay end 



I 



•49- 



-49- 



(fdgmtara oppotit«* 
pr^rieUiit.) 




Gleichzeitig mit der eng^ieelien Bota „iSumer w ctmten" und 
tinter der gleichen Bezeichnung, nXmlich ah „ain Rädel von 
drein Stirnen" taucht ein in einer einzigen Zeile pesclnipboner 
Canon auf mit dem Texte des deutschen alten Martinslicdes „Martin 
lieber Herre mein" ^ in einer Handschrift aus dem Kloster Lam- 
bach in Oberösterreich (jetzt in der k. k. Hofbibliothek au Wien), 

1) Rädel, süddeutsches Diminutiv von Rad, so viel als Rotnla, Rftdchen. 

2) Btä Förster (2. Thoil No. V) kommt oin im Texte (nicht in der 
llusik) ähnliches MartmsUed vor: ^^artine, lieber Herre mein, na schenk 



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480 



Die Entwickelung des mehrBÜmmigen Gesanges. 



auch für jene Epoche in Deutschland eine bemerkenswerthe und 
fast räthselhafte Erscheinung. Es ergeben sich freilich noch sehr 
ungeschickte, ja horrible Combinationen « es treffen stellenweise 
die Stimmen in Unisonoschritten, in Quintparallelen, in unzu- 
lässigen Dissonanzen u. s. w. zusammen. 



-C- 



(Lambacher Handschrift fol. 170.) 
Ain Rädel von drein Stimmen. 

♦ \ — 



Martin Ii - ber her - re uu lasz vns frö • hch sein heint zu 



-C— 4- 



dei-nen e - ren vnd durch den wil • len dein di genns solt du 



VQB me>ren und auch kuelen wein ge - sot - ten vnd ge - bra- 



-C- 
zfz 



ten sy muessen all herein. 



Gleich der englischen Rota dreht sich dieses deutsche „Rädel" 
ohne Ende fort, freilich noch sehr viel holpriger: 

(Versuch einer Auflösung.) 




JZ 



-et 



1 



l?? 5 - 



:=p: 



vns nur gar dapfer ein, ja heut in deinen ehren, wöllen wir alle fröhlich 
sein, o Martine, o Martine." Forster sagt in der Vorrede, dass „die 
schlechten singer, so hin vnd wieder auff den schulen mit der Lieben 
Gans vmb Martini vnd Weihnachten oder zur andern zeyt herumb recor- 
diren," mit gutem Erfolg und Beifall zu singen pflegten. Ueber jenes 
sogenannte Rädel sehe man auch Ferdinand Wolfs Mittheilung in den 
altdeutschen Blättern von Moritz Haupt und Heinrich Hofmann 2. Bd. 
8. 311. Ich gebe es oben im Texte nach dem Original. Die Auflösung 
des Canons überlasse ich billiger Kritik. Einige gar zu schlimme Con- 
flicte der Stimmen Hessen an der Richtigkeit zweifeln, gäbe es nicht auch 
sonst ähnliche Barbarismen genug. 



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Dufay und seine Zeit 



481 



wi _ ..ir^..^ - -0 - — 1 M- — r — r 


- 6 2 1 


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(En.lr) 



1^"' 'Tri r-r^r i-^r-f^ 



3: 



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ünison 



3 




r-t-- 



i 



?! Unison 



i 



1) Der von Ambro« gegebene Versuch einor L<\su»ig dieses Canons 
gibt zu manchen Bcdmkcn Veranlassung. lusbesoudcre scheint die 

Avbroa, QM«Jilolite der Miuik. IL 31 



482 Die Entwickelung des mehrstimmigen Gesanges. 



n 


















Mar-tin 


Ii - her 




her 


ro nu 


lasz vns 


frö- lieh 


sein 



sie? 




Mar'tin Ii - her her- 



— 



hcintzu dei-nen e - ren vnd durch den wiUlen dein 



die 





















- ^^ —r, 


o 


^^^^ 


—z^ — 1 

re nu 


laez vns 


frö • lieh 


sein 


päf 




r — a -1 










» 



Martin 



U-ber 



her 



-fj f9- 



p — r — ^ 



X — r 



genns solt du vuh nie • ren vnd auch kuelen wein ge- 



heint zu dei - nen o • ren viitl durch dcu wil-Icn dein 



die 



:3 



ro nu 



4V 



22: 



lasz vns frö 



üch 



sein 



Fassung in Gruppen von je drei Takten gewiss verfehlt zu sein. M/ip^e 
darum eine atidere Losung hier folgen, die mit Ausnahme einer einzigen 
mit sioV bezeichneten Stelle eine ganz leidliche Harmonie ergiebt. Ivade 



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Dofay und seine 2eit 



483 



sot - ten Tod ge - bre - ten 17 mnee-Mn all her - ein. 




n 



gciins soll du vns me - reu 



vud auch kue-len wein. 



heint sa dei - nen • • ren vn 



öl 



nen • • ren vnd doroh den wU • len dein. 

DietellMHuidaelirifteathllt Jenes iweistimmige Lied von f^sant 
maitins firewden'*; die eine Stimme bt eis „der Tenor** beieiehnet^). 

Wie die englische Beta in OberOeterreich, so tritt mit einem 
Spränge Aber gans Dentsehlaad weg, nnd eben so flberraschend in 

l^iihmen der französische Rondellus auf. Vermiithlich kam diese 
Kunetfoim durch Guillaume Machaut dahin, der den König Johann 
(von Luxemburg) als SecrctÄr nacli l^rag; begleitete und viele Jahre 
dort verweilte (gerade wie der von Johanns Sohne Karl IV. n)it- 
gehrachte Matthias von Arras den pragor Dom nach iVanzösischcm 
Kathedralcnsy Stern baute, eines so exotisch wie das andere). Di»^ 
prager Universitätsbibliothek besitzt in einein Codex^) einen zu 
Anfang des 15. Jahrh. geschriebenen Rondellus mit schwarzen 
spitzen Noten im Diseant nnd derben Ligaturen im Tenor, welche 
Notimng in derBeischrift ausdrücklich die „fransttsische** sowie dies 
Stttclc ein „sehr 8ch5ner Bondellus" oder „Bondellinus** genannt 
wird^. Nach französischer Weise sind iwei einander fremde Ge- 
sänge mit zweierlei Text Busammengekoppelt: der Diseant enthXlt 
einen lateinischen Lobgesang, der, wie es sclieint, die heil. Agnes 
angeht, im zweitenTheil aber plötzlich die heil. Maria apnstrojiliirt ^), 
Der Tenor hat den deutschen Text t,ach du getruys blut vou aldea 

1) Die Anflfltting hat mir nicht glOcken wollen. Das Motiv liat 
einige Aehnlichkcii mit dem Ra>lel: 

All ±1 

e e il e e d 9 de 

2) S. oben S. 3K7 Anm. 2. Der Codex enthftlt die Sophismata einet 

ISf Albt'rtua und einen Traktat ^^Oonsequentiae" eines gewissen F. Forgbrey. 
Auf dem vorderen Deckel ist geschrieben; raoy wyborny sokolyku („mein 
trefflicher Falk"). Dieser Sokolik spielt in der sJtbfthmischen Dichtung 
seine Rolle; auch die si-hr alterthiimliche Fomi ^moy" deutet an. »lass 
der Codex von Alteraher in Böhmen war. Die «Schrift des Koudollns 
gehört ih r Zeit von 1400 — 1420 an. 

H) ,Ji)si.ice notas gallicaiias ' und „Tenor htgos pnlorimi rundelli." 

4) DiT Tf^xt lautet : Fl >s floruni iiifer lilia. quae spernit mundi \ 
«eoaturifl nata (soll wohl huiöseu „tilia," dauiit es reimt). Es ist vemiuthlioh 

8l» 



n. s. 



484 



Di« Entwickelnng des mehntiiiiiiiigen GeMogei. 



•oln". 1>M Ganse ist Tennaihlicli die Arbeit eines in dnem b6li- 
mischen Kloster lebenden Hönebes, vielleicht eines Gonndus de 
Egra (von Eger), der auf dem Anssenblatt seinen Namen bei- 

gcschrieben hat Die Melodieflihrung im Discant hat eine leichte 
wiegende Sech8achtelbewo<!;ung, yöllig im französischen Rondellua- 
8^1; der Tenor schreitet durchaus nur in gehaltenen Noten einher. 

So besitzt dieselbe Bibliothek auch einen Tractat, den sich ein 
p^ewisser W e n z e 1 von Pracbatiz, vielleicht ein Student oder Ma- 
gister der von Karl IV. nach dem Muster der pariser 1348 pestifte- 
ten pragcr Universität, nach den Principien des Johann de Muris 
(wie ausdrücklich bemerkt ist) zusammengeschrieben hat^. Die 
durch die luxemburger FUrsten vermittelte innige Verbindung »wi- 
schen Frankreich nnd BQhmeii bitte b« dem bekannten natOf liehen 
Tonsinne der Böhmen Tielleicht eine Entwiekelnng der Mnaik her- 
Torrofen kSunen« welche ein Gegenttllck der niederllndiielien ge- 
worden wäre, hätte das glänzende Leben, wie es unter Karl IV. Prag 
zur fröhlichsten deutschen Stadt" machte, nnd der mfichlige Cultur- 
aufsehwung, der s. B. gleichzeitig die so äusserst merkwürdige böh- 
mische Malcrschule hervorrief, fortgedauert. Unter Karls Sohn und 
Nachfolger Wenzel brach 1419 der Hussitenkrieg aus und verwüstete 
alle die hoffnungsreichen Keime. Jetzt erklangen nur noch jene 
Choralinclodien voll wilden Glaubensfeuers, die noch jetzt in den 
verschiedenen im prager Museum, der dortigen Univerbitätsbibliothek 
n. s. w. aafbewahrten utraqniatisehen Cantionalen und anderen 
gleichseitigen Anfreichnvngen in grosser Menge erhalten sind*). 

St. Agnes gemeint, die Patronin der in Böhmen hochverehrten Aebtissin 
Agnes (Vaters Schwester Otakar des U.). Der Text des zweiten Theiles 
ist: tfkye quae laetaris, cum ab ipsa (nlinlieh von 8t Agnes) adorsrii in 
ooeli palatio." Ich bemerke, dass dieses „adoraris" der Lehre der katho- 
lischen Kii die völlig entgepen ist, obwohl es auch sonst vorkommt, z. ß. 
Heinrich Isaak s grandiose Motette zu sechsStimrocn „Virp;o prudeutissima" 
(er hat auch eine kleinere Tierttimmige) endet im Ongimd den ersten 
Theil mit der Wendung: „cujus numei modo spiritus omnis et gcnus 
humanum merito vencratur et adorat'' (Liber seluct. cant. miaa vulgo 
mutetas appellant 1520). Hans Ott, der das Stück in das Movum et 
insignc opus mus. auch aufgenommen, hat daher den Text geändert. 

1) I)er Notirung ist beip« srlirieben: P'ratri suo praedilecto notavi 
hunc rundellinum in memoriam Iratcmitatisj" dieser Bruder dürfte wohl 
eis Orden^nider gewesen sein. Des gaai devtUch geschriebene Wort 
„•oln* weiss ich nicht sn erklären. Die angrsmmaüadhe Wendimg: 
itSao . . . notavi" steht so im Original. 

8) Zum Schlüsselst beigesetzt: „et hic finitar musica Magistri Johannis 
de Muri« secartata (?) de Masioa Boethii. Scripta est hee per Wenoeslaam 
do Pnichatiez." Ein anderer Musiktractat in demselben Codex ,,por raanus 
Stanislai de Gnezna'' (von (IneFien) ist mit der Jahreszahl MCCCCXXXI 
bezeichnet. Der Codex tnigt die Signatur V. F. 6. 

3) Eine zahlreiche und interes8ant (> Sammlung solcher Melodien ist 1554 
zuWiftcnberg bei den Erben GeorpRhau's gedruckt worden unter dem Titel: 
Canüoues ovangelicae ad usitatas harmonias, quae in eocleaüs boemigis per 



Dil&y und Min« Zatt 



485 



Indessen begannen nach Deutschland die glänzenden Vorbilder 
der niederländischen Meister hcrüberzuw irken. Adam von Fulda 
bekennt sich aU begeisterten Verehrer Dufay's und Auton Busno^s 
imd erUlit sie Air seine Vorbilder, denen er nacheifere. Jene vor- 
erwXlmte Einfthrang des «»brabantSsehen Diacants" ; in der wiener 
Hofcapelle ist aber sicherlich nicht gana allein auf Beehnnng des 
steigenden Ansehens der niederlündisehen Mnsik sn setsen, sondern 
zuverlässig doreh die VermJihlung Maximilian*s L mit Marie, der 
Erbin von Burgund, Tochter Karls des Kühnen, yermittelt worden. 
Der kunstfreundliche, ritterliche Max hörte am burgander Hof die 
Gesänge der vortrefflichen Kapelle und wünschte fUr seine eigene 
Kapelle etwas Aehnliches. So fasstc die niederländisclie Kunst 
nicht allein durch ihren Werth, sondern auch unter Beg;iinhtigung 
politischer Ereignisse in den Kapellen der höchsten geistlichen 
nnd der höchsten weltlichen Autorität, in der päpstlichen und in 
der kaiserlichen Kapelle, festen Fuss. Bald soUten in letsterer 
KttnstlerwieHeinrich Isaak, PanlHoffhoTmer, LndwigSenfl, Arnold 
Ton Brack glltnaen. Als Philipp der SehSne Ton Bnrgand den spa- 
nischen Thron bestieg, nahm er niederUtndische Singer (unter ihnen 
Alex. Agricola) mit nach Spanien. Die Kapelle von Valladolid 
wurde hernach unter Karl V. eine der ersl^ in der Welt uud 
glänzte durch niederländische Künstlernamen ersten Ranges. Noch 
Philipp II. meinte 1564 ohne einen niederländischen Kapellmeister 
gar nicht fertig werden zu können; seine brieflichen Verhand- 
inngen darüber mit Marjrarethe von Parma, der Gouvernante der 
Niederlande, werden noch im Archiv von Simancas aufbewahrt. 

Italien schien einen Augenblick lang seinen eigenen Weg 
gehen sn wollen, aber es konnte sieh anch d«n aUgemeinen Loose 
nicht entsiehen. In Italien, nnd awar in Florens, hatte sich nm die 
IGtte des 14. Jahrhonderts allerdings eine in ihrer Art nicht unbe- 
deutende eigene Schnle von Tonsetzern gebildet, deren Werke 
trotz ihrer „biaanen nnd unregelmässigen Harmonie** fUr die 
Kunstgeschichte von bedeutendem Interesse sind. Denn wenn sie 
einerseits ihre so bestimmt ausgeprägten Eigenthümlichki-iten haben, 
dass sie als von der damaligen durch H. de Zeelandia und die 
französisclien Chansons der anonymen Tonsetzer repräseutirten 
niederlandisclien Tonsetzkunst unabhängig erscheinen, so zeigt 
andererseits der Zuschnitt, wie schon vorhin erwähnt worden, die 
grösste Aehnliehkeit. Die Notirong ist hier wie dort die schwane 

totius anni circulum canuutur, accommodatae, praccipue Christi beneücia 
breviter oompleoteirtea. Antore Vencenlao Xicolaide Vodniano, Reipnblicae 
Satecensis Notario." In der Vorrcile lielolit Xicolaidcs die Mcloclien: sie 
seien ,,n innjoribus uostris raira arte compositae, pro circumstantia tem- 
poris üiultuni gravitatis, maiestatis, immo etiam snavitatis in 8« continent 
. . . unde apparet veteres Boemos inusicae vakle Htudiosos fuisse." Die 
Bibliothek des Klosters Strabof in l'rag besitzt das Werk (U. V. 1). 



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486 Di« Entwidnlmig dM mehntunnugea GeftagM. 



(auf einem System von sechs Linien), der Gebrauch der Ligaturen 
in den Hauptzügeu derselbe. Die Cnntüene wird hier wie dort statt 
in den Tenor auch wohl In die Oberalinune veilegt An einen £in« 
flosB der NiederlXnder Igt In to früher Zeit nicht wohl m denken« 

Der als Gegner Marehetto's und als ^lusikgelehrter bekannte 
KarthäuBer Johannes von Mantua (Joannes Carthuaianna odwCarthn- 
unus Mantuae, bei Gafor Joannes Carthusinus) war, wie er uns selbst 
er/ä1ilt, aus Namur, also ein Niederländer, und ging doch nach 
Italien, wo er, nachdem er sich daheim zum Sänger gebil- 
det, die Musik, das heisst also wohl die gelehrte musika- 
lische Theorie, bei Victorinus van Feltre lernte^). Die 
praktische Musik erlernte er also daheim, aber die eigentliche 
mntikaltsche Gelehrtheit glaubte er sich In Italien holen in mflasen^). 
Auch die Paduaner Marehettns und Pioadoeimns von Beldoninndo 
können nicht als Abkömmlinge ttner niederllndischen Schule enge- 
sehen werden, und wie Prosdocimus die Mensnrallebre gans aos- 
drttcklich nach „italienischen Grundsitien*' {secundum morem Ttali- 
corum) behandelt, so sieht man, dass man die Unterschiede und 
Eigenheiten der verschiedenen nationalen Musikschulen sehr wtdil 
erkannte, l'adua, die alte Universitätsstadt, die noch heute dareiii- 
sieht ,,als stünden grau leihhafti«; da Physik und Metaphysika", war 
die Stadt der f^elehrten Theoretiker, aber das lebensfrohe Florenz 
hatte, gleich den Niederlanden, »eine Componisten geselliger mehr- 
stimmiger Litider. In der Stadt, deren Edle es Torzogeu, während 
in Deutschland der schwane Tod blutige Judenverfolgungen oder 
wahnsinnige Bussflbungen hervorrief, sich vor der Pest (wenn wir 
dem Dichter Boccaccio und dem Maler Oreagna glauben dürfen) in 
die sichere Ferne reizend gelegener Landhäuser zu flüchten und 
dort die Zeit mit Erzählungen, Tänzen, Saitenspiel und Gesang 
bestens 7m vertreiben, konnte es ancli nicht anders sein. Die Zahl 
der erlialttMicn Compositionen dieser Horentiner Schule ist bedeutend: 
ein Codex der Bibliothek zu Paris (No. 535 Suppl.) enthalt 199 
TiiedtT zu 2 und 'A Stinimcn von Francesco Landino, Maestro 
J aco po da Bologna, I lateGuglieluio de Francia^Franzose?), 
S. Feo, ^laestro Giovanni da Pirenüe, Giov. Toscano',) 

1) In genauem Zusammenhange damit steht, was noch Adrian Petit- 
Coclius schreibt: In belgids urinlras, nbi nullns noa modus et lahot 

adliihetur, QUO ad soopum henc canendi perveniant, nulla scribitur aut 
dictatur musica, d. h. man »chrieb dort keine gelehrten Tractate, sondcm 
griff die Sache praktisch au. 

9) Br u^: „Gallia namque me genait et fedt OofllorWM, Itslia vsro 

qualfincum<iue sul> Victor. iio Feltrcnsi, viro t;im literis graecis quam latinis 
alTatim inihuto, Gramtnatioum et Multicum, Mantua tarnen Itaiiae civitas 
indignuni Ciirthusiae raonachum (Joann. Carth. libellus nius. pars 1. libr. 
8. Mscr. No. 5904 der Vaticana). 

3) F<'tis fRev. mu8. 1. Bd. S. 109) ist K'oneifrt, Giov. de Fireasa und 
Qlov> Tottcauu für eine und dieselbe Bersuu zu iiultuu 



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Dn&y und Mine Zeit 



487 



Don Paolo Tenorista da Firenze, Don Donato da Cascia 
(Casciano bei Fioreaz), Lorenso di Firenze, Gherardetto, 
Nicholo di Proposto, Frate Bartolino, Frate Andrea, 
l'Abbate Vineensio da Imola. Der bekannteste nnter diesen 
Tonsetsem ist Franceseo Iiandino, aneh Franeesco degli 
Organi oder i1 Cicco (der Blinde) genannt, Sohn eines florentiner 
Malers Jacopo Laudino, um 1325 zu Florenz geboren. Die Blattern 
raubten ihm schon aU Kind sein Augenlicht, wie zum Ersätze zeigte 
sich ihm die Musik und die Poesie günstig; man rühmt ihm nach, 
er habe alle Instrumente gespielt und einige neu erfunden; die 
grösste Kunstfertigkeit entwickelte er aber auf der Orgel. Seine 
Gedichte kommen hin und her in Manuscripten unter der Ueber- 
schrift vor „versus Franciscif organistae de Flarentia." Er wurde 
von den Zeitgenossen viel bewundert, an Venedig wurde er von 
dem König von Cypem mit einer Lorbeerkrone gekrttnti). Er 
starb 1990 nnd wurde in St Lorenao an Florens begraben. Unter 
den oben genannten Tonsetzem ist er der bedeutendste; ibm an- 
nKchst steht Jacopo da Bologna 2) und Giovanni da Firense. Dass 
diese Meister auch geistliche Compositionen lieferten, beweist ein 
erhaltenes zweistimmiges Gloria von Gherardetto, ein Credo von 
Bartolino und ein künstlich vocalisirendes Sanctus, Agnus und 
lii'iiedicamus Domino von Frate Lorenzo^). Die weltlichen Lieder 
haben italienische Texte, Liebesgedichte u. b. w., wie sie dann 
bis fast auf unsere Zeiten als willkommener Vorwurf für Com- 
ponisten ibre Physiognomie unyerSndert behalten haben. Allerdings 
haben wir es hier noeh nut nnbehilflichen Anftngen lu thnn. 
Parallelfortschreitnngen ▼ollkommener Consonanien, Quinten, Oeta- 
veu (auch selbst Einklänge) werden so ziemlich unbedenklich ange- 
bracht, dafUr wird in den TonschlUssen der Tera, wie einem bösen 
Geiste, ausgewichen. Der Gebrauch der Dissonanzen ist völlig unge« 
regelt. Das Bizarre des Tonsatzes wird durch Syncopirungeii jeder 
Art erhöht, durch welche der Tonsatz etwas Schiefes und Schwankeu- 
des annimmt und unangenehm schluchzend wird, wie denn diese Syn- 
copirungen eine Aliart des Ochetus nnd ans ihr durch Unterdrückung 
der Zwischenpausen entstanden sind. Zwischen air dem Schutt uud 
OeröU tauchen Fragmente gesangvoller Melodie auf, aber ihr Reis 
erstickt unter der ungeschickt sntappenden Contrapunctimng. Die 

1) S. Filipi)o Villani, vite d'illustri Fiorentini S. 84. Oaffi (Stör, della 
inuä. uella cappella ducale di S. Marco) erzählt: Laiidiuu habe mit dem 
Organisten von S. Maroo, Prancsesoo da Pesaro, einen Wettkampf be- 
standen, der unentschieden geblieben sei. Leider hat der sonst SO g^ 
wissenhafte Caffi die Quelle nicht an<xt'geb€n. 

2) Von Jacopo da Bologna heis.st es, er sei auf Veranlassung eines 
Hersogs von Amalfi erdolcht worden. Eiftnnrocht soU die yeranllMsung 
gewesen sein. S. Ft-tis a a. 0. S. 110. 

3) In dem Pariser Codex No. 535 Supplem. 



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488 



Die Entwickftlnng de« mehntiminigeii Gesanget. 



Notirnng macht Ton den Feinheiten der Menfoiellehre, welche die 
Niederlltaider so tinnxeich sa Tenrerüien wisseii, nur sehr misrigeii 

Gebrauch. Die Imperfection, der Divulonipmikt, die AngmentelioB, 

nnd die einfachen Formen der Ligatur werden angewendet. 

Wenn sich die feine, geistreiche, in den übrigen Kttnsten an 
Gutes und Bestes gewöhnte florentiner gute Gesellschaft an so uner- 
quicklichen Tonsätzen zu erfreuen vermochte, so war es wohl nur 
deswegen, weil sie vorläufig nichts Besseres kannte. Der Wunsch, 
eine der Blüte der übrigen Künste würdige Musik zu besitzen, war 
übrigens in den Florentinern lebhaft genug. Der Organist Antonio 
Sgnareielnpo , genannt degli Organi (etwa 1480 — 1470), 
welcher sie, wie es faiB^em Epitaph heisat, au „süsser Bewnndemn^ 
hiniiss", war ihr Btolt; mit lebhafter Genngthanng enihlt Christoph 
Landino, der Commentator Dante's, dass, sowie einst Leute von Gadiz 
nach Born eigens deswegen kamen, am den ffistoriker Livios sa 
<:<^->ien, so seien Reisende, darunter sehr angesehene Mosiker ana 
England und den entlegensten Gegenden des Nordens über die See, 
die Alpen und Apenninen gekommen, um den Meister Antonio sn 
hören. Die Florentiner fanden, er habe „die Musik zur vierten Grazie" 
erhoben; Lorenzo der Prächtige selbst soll ein Lobgedicht auf ihn 
verfertigt haben Die Flurentiner weihten ihm im Dome St. Maria 
del Fiore neben Dante und Giotto eine denkmal verzierte Grabstitte^ 
als dem ReprSsentanten ihres Bnhmes in der Mnsik, wie jenen beiden 

1) Ploscoe erwähnt es zweifelnd im Leben Lorenzo's Cap. VII und 
beruft sich aof Tenho?e, M^m. g^n^al. de la Maison de Medicis üb. X. 
S. 99. Dam Antonio bei Lorano in Gnaden stand, erwihnt aach FQippo 

Valore, vergl. Bumey 3. Bd. S. 243. 

2) Das^foninnontSguarcialupo's steht dem durch die Thüre der Fa^^de 
Eintretenden zur Linken, es ist gleich das erste der dort angebrachten Denk- 
male. Et ist von Beoedetto da Migano (der aach Giotto*i Denkmal arbeitete) 
verfertifTt und in seiner Anlage höchst einfach. In einer kreigrunden ver- 
tieften Nische sieht man in kräftig herausgearbeitetem Relief daa Brustbild 
des Meisters völlig en face. Es ist ein unschönes Gesicht, gans bartlos ; das 
siemlich lang und schlicht herabwalleude Haar ist nach damaliger Tracht 
perückenartig zugeschnitten. Hart unter dem Bild ist eine mässig hohe, aber 
sehr breite viereckige Tafel mit der Inschrift angebracht, die ich hier nach 
an Ort and Stelle genommener Absohrift diplomatisch trea mittbeile: 

MTltom profeoto debet masica Antonio 

sqvnrcialvpo organiste is enim ita arti 
gratiam conivnxit ut qvartam sibi vide 
rentur charites musicam ascivisse so- 
rorem florentina eivitas grati aaimi 
oficivm rata eiva memoriam propagare 
GvivB mauvs sepe mortales indvlcem ad- 
mirstionem addvzsrat wn sfo mon?- 
mentvm point 

In Walther's Lcxicon ist sie S. 575 und bei Bumey 3. Bd. S. 243 zu finden, 
aber mit einzelnen Abweichungen in der Orthographie und sogar im Texte, 
2. B. statt „posmt" ist dort das letzte Wort „donavit." Gerber hat sie für sein 



Bu&y und aeiiie Zeit 



489 



an<leien in der Poesie und Malerei. Meister Antonio's Orgolplian- 
tAsieeu sind laugst verhallt; es wird ihm aber schwerlich Unrecht ge- 
schehen, wenn wir uns seine Kunst, trots aller Bewandmng, di« 
fie erregte, riemlidi beteheidan oder vielmehr ziemlich primitiv vor^ 
stellen: wir bnmehen nar die fatt ein Jalirhandert jüngeren ,^am- 
tone e Skereari äaU eeedUnHuimo Air. Vuigliart (Willoert) • 
Oipriano Bore uto dudpclo a quattro e cinque die 1549 zu 

Venedig in Druck erschienen, in Betracht zu ziehen Wie sehr 
sieh die Florentiner an der Kirchenmusik in ihrem kolossalen Dome 
erbauten, zeigt die schöne Schildernnf:^, welche Leo Battista Alberti, 
der berühmte Architekt und erste namhafte Förderer der Keuaissance 
(St. Spirito in Florenz, St. Francesco in Perugia), in seiner Schrift 
„über die Zuflucht vor den Sorgen" von dem tiefen Eindruck gibt, 
den die Musik in den Hallen von Santa Maria del Fiore auf ihn 
geBiMiht. 

Die gute Oesellscheft in Flerens tthte nneh noeh andere, minder 
knnitreiehe, aber ohne Zweifel mehr anspreehende Moink als die 
holprigen eontrapnnelisehen Singestttcke eines Landino. Im De- 
camerone wird nns oft von Liedern erzählt, welche einer der Herren 
oder eine Dame aus der heitern geistvollen Gesellschaft singt; zum 
Theil sind es Tanzlieder, wie denn gleich der erste Tag damit be- 
schlossen wird, dass Emilia eine reizende ,,Canzone'* oder ,,Balla- 
tetta'* singt ,,?o so?i si vaga della niia bellezza'\ wozu die Andern 
fröhlich tanzen und im Chor in den Kefrain antwortend einstimmen, 
der hier durch den stets wiederkehrenden Rundreim „vayhezza" ha- 
zeichnet ist^). Ein andermal fordert die Tageskönigin Ehnilia den 
Dioneo anf ein laed {una eaiuone) zu singen. Der Schalk neckt 
die Damen mit Anftngen von damals bekannten Liedern, deren wei- 
terer Yerlanf sehr arg gewesen s^ mnss, weil die Damen, welche 
in den Novellen überaus starkes Gewürz vertragen, dagegen so leb- 
haft pfotestiren. Dioneo bemerkt io avessi un cembalo io direi** 
u. 8. w., womit kein Ciavier, sondern eine Schellentrommel, ein Tam- 
bourin gemein ist 3). Die Königin des ersten Tages Pampinea Ittsst 

neaei TonkOntilerlesicon Bd. 4 8. 944 herflbergenommen. Kandier <F^e- 
strina*8 Leben) behauptet: „Die Büste sei nicht mehr auf dem Monument" 
— wo er nur die Augen gehabt hat? Beiläufig sei bemerkt, dass Dante's 
Monument im Seitenschi£f, eben so wenig wie sein Kenotaph in S. Croce, 
des grossen Dichtm Qraomal ist, der Mkanntlich in Savenna ruht. 

1) Niedergeschriebene, gearbeitete Compnsitionen Sguarcialupo's 
finden sich noch iu Florenz. Es wird von ihnen im 3. Bande die Rede sein. 

2) Auch im Roman de la Rose V. 743 ist die Rede vom Refrain 
Sur Can.le. 

3) However ihe harpsichord is certainly of later invention than the 
time of Boccaccio, who in the passage where the word Cctnbalo or Otem- 
iolo is nsed, probably meant onty a Idnd of Tawhowr de Basqutj or 
dnua in the shape of a sieve, with small bell» and bits of tiu jmgling at 
the Ildes of it: a tinkling Cymbalf but not the modern harpsichord a. s. w* 



490 



Dm EDtwiokatiiog dM mehntiminig«!! G«itiiigiM. 



musikalische Instiumente herbeiholen, Dioneo nimmt die ^mito 
(liuto) Fiametta die Viele (viuola) sur Hand und sie spielen einen 
Tana, eine langsame Carole (um earola eo% Mo passo). Daam 
werden frohe Lieder gemmgen, spKter singt Enulia anf Verlangen 
der KVnigiti jene Torliin schon erwidmte Cansone, wem Dioneo anf 
der Laute bcp^leitet 1). Die Lante mius schon an Ende dea 13. Jahr* 
hunderts in Italien ein durchaus populäres Instmment gewesen sein, 
denn schon Dante braucht sie als Gleichniss, um im achten Uöllen- 
kreise die Missgestalt dea MttnafiÜschers Adam vonBrescia anachnii- 
Uch an machen: 

io vidi im Iktto a gvlsa di Itufo 

pur ch' egli avesse avuta rangfui'naja 
tronca dal lato, che Tttomo ha lorcuto^ 

Die Sltnger rar Lante ^^eamicri a UM' bildeten eine eigene 
Klasse. Ihr standen die „GaR^ort a Ubr^* die Singer ans Bneh nnd 
Note, gegenüber, welche knnstreiehe mehrstimmige GesXnge ana* 

führten, während der Cantore a Ihäo als Solist zu seinem Gesänge 
nar der Laute bedurfte. Man darf sich unter den Caniori a liuio 
nicht gerade unp-eschickte Naturalisten vorstellen, welclie nach dem 
Gehör etwas zusaiinnenstilnijtorten, so gut es eben gelien wollte. 
Ein gelehrter Mann, eine Musikautorität ersten Ranges wie Vietro 
Aron würde sonnt dieser Klasse von Musikern nicht so ehrenvoll 
J^lrwiihnung machen, wie er in seinem Lucidario thut. Er beruft sich 
ausdrücklich auf sie, nm der „httswilligen Veranglimpfung'% daas 
man in Italien nicht singe, sondern nach Ziegenait meckere 9fi 
Boliam cajirixano"), durch eine Thatsache au antworten. Er nennt 
unter den LautensSngem einige vornehme Dilettanten, wie den 
Grafen Lodovico di Martinengo, einen ▼enezianisclien Magnifieo 
Messer Camillo Michele, den Archidiacon von Como Marcauton 
Fontaiia, aber auch zwei Namen von Musikern, von denen ge- 
«Iniekte iiielirstiniiiiige C\)ni])()sitioneii zum (ielirautlu' der Cantori a 
Itbro vurliegeii: Hartolotiieo Trombonci no von Verona, von 
welchem Petnieci in den 9 Büchern Frottolc zahlreiche Nummern, 
ausserdem sogar Kirchenstücke (dreistimmige Lamentationen und eiu 
Benedictus) druckte,^ und March etto von Mantna, von dem sich 

(Bumey bist. o£ mos. 8. Bd S. 344). Bumcy h&tte nicht nOthig gehabt 

„probably" zu spredien; er hat übersehen, dass eim* andere Stelle im 
Decamerone seine Yurmutbung vollkommen bestätigt: „E iu iscambio 
delle cinmie lire le &ce il prete rincartare ü oembal tuo, e appicarvi 
un sonagliuztc^* (CKom. VIII. Nov. 2). 

1) . . . conmndi) la Reina che. Kinilia caiitasse noa canxone dal leuto 
di Dioneo aiutata (Decam. Giom. 1. in Hue). 

2) Diy. Gorom. inHamo XXX. 

3) Im ,J.;inii-iitationuTn lihcr tecnudus". Bin Exemplar im Besits 
des Liceo filarmuuico zu Bologna. 



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I 

Dofay and aeinft Zeit» 491 

mn Stück ^^angea la doma mtV in den 1526 zu Rom gedmcktea 
Camoni Frottole und Capitoli (geaaimt de la Croee naeh einem 
Krense anf dem Titelblatte) findet. Auch Damen aeichneten sich 
als Sän^rinnen anr Lante und angleich nach dem Notenbnehe 

(Dome a liuto a libro) aas. Aren nennt ihrer eine ganze Reihe, 
es sind Namen edlen Klanges darunter Da die Erfindung der 
eigenthlimlichen Notirung für die Laute (der sogenannten Lauten- 
tabulatur) erst in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts fhilt, so 
scheint bis (Inhin das Lautenspiel eben nur auf Gehör, Gedächtniss 
und Uebung beruht zu haben. 

In diesem Sinne fand gerade im Lantenspiele und Gesang zur 
Laute eine eigenthUmliche Seite des italienischeu Wesens das p:is- 
sendate Mittel sieh sa lussem, nimlieh die Lust und Freude an der 
Improvisatieii, an der Fihigkeit der ^Gelegenheit das Gedicht an 
schaffen/* die Anregung des Angenblicks in kttnstlerisch schöner 
Form sogleich auszusprechen. Gegen die Canhri a libro, die ihr 
kunstreich vierstimmiges Tonstttck auf das genaueste in Noten nieder- 
geschrieben vor Augen haben mussten, bildeten anf diesem Gebiete 
die Cantori a liuto den vollsten Gegensatz. Der grosse Maler Lio- 
nardo da Vinci pflegte in solcher Weise zu allgenioiuoni Entzücken 
singend zu improvisiren, wobei er seinen Gesang mit der Laute oder 
der Viola begleitete '^). Aehnliches wird von dem um ein Jahiliuudert 
älteren Meister Andreas Orcagna belichtet^). Neben der Laute 
diente nSmlich audi die l^ole sur Begleitung des eigenen Gesanges, 
insbesondere der Improvisation (eatttar ol vMtno); mit solchem Ge- 
sänge etrrang in Rom Andrea Marone von Breseia, den Leo X. 
sehr sehXtste, bei einem von diesem Papste veranstalteten dichte- 
rischen Wettkaniiife den Preis. Man will in dem 1518 gemalten 
„Violinspieler**lUpliael Sanaio's in Rom(im Palaste Sciarra)sein Bild- 



1) „La signora Antonia Aratrnna in Napoli, la signora Castan/n de \uvo- 
lara, Lucruzia da Corregio, Frauoeschina Bellaman, Ginevra Palavi^n'na, 
Barbara Palavigina, Susanns Ferra Ferrarese, Girolama de 8. Andrea, 
ISIarietta Bellamatio, Helena Vinitiana, Isabella Bolo^cse (F. AronLnoi- 
dario a. a. 0). Di»'.se Dämon iri-hörfu lU-r Z«Mi vm 1 l!)0 -1510 an. 

2) Dette alquantod'opera aila musica, ma tosto si risolve imparare a 
Bonsre laVra, oome qnello, che della nainra havea spirito eleratissimo e pieno 
di leggiadria, onde sopra qm lla canth divinamente all' improviso ( Vusuri, 
2. B(i . Loben des Lionardu da Vinci). Unter „Lira" ist hier ontwcili t die 
Laute oder die Viole zu verstehen. Die italicuischeu Maler waren oft 
gute Musiker, wie Giorgione, Pordenonej Lmndro da Ponte u. a. m. 

3) Bullurt, A<-adern Theil 1. S..TJ!». Von Orcagna rührt bekanntlich der 
Bau der IiO«;<;ia de Lanzi, das Altartubei iiakel in ()r S. Micchele in Florenz 
her, ferner die herrliche Darstellunir des Parudicsea (Wandgemälde) in der 
Kapelle Strozzi der Horcntiner Kirche S. Maria Novella, die grossen 
Wand^eniiilde „il trionfo della morte" und das Weltgericht im Campo 
Santo zu Vna,. 



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49S 



Die Sotviokeliiiig dM mfllintiiniiugw OMtBgei. 



niss erkennen; es ist ein schönes blasses Jünglingsgesicht mit 
tiefernsten, geistreichen Augen, ein grllner pelsrerbiimter Uebef^ 
wmf scheint efaie nrle Gestali la hergen, die Üringefoimte Hand 
bllt den Geigenbogen nehtt einem Stranss von Veflehen und 
Lorbeer, eine Andeutung des Sieges in einem Wettikampfei). So 
wurde auch Giulio Cesare Bottifanga von Orvieto (ein höchst 
absonderlicher Kauz und Tausendkfinstler) als singender Dichter 
gepriesen*). Wie sich dabei Gesang und die Begleitung der Laute 
oder Viole einten, ist nicht sicher zu bestimmen. An die uns 
geläufigen Formen der Arpeggirung, des vorschlagenden Basses 
und nachschlagender Accorde u. b. w, darf man nicht denken, 
davon wusste man noch weit später nicht das Geringste. Ueber 
die Art der Melodie können uns Baitolomeo Tromboncino^s, des 
gesehlttiten Cantote a Linlo, noeh vorhandene BVottoIe euiSge 
Vorstellnng geben, wie sie Ton Franelscns Bossinensis ftr 
eine einselne BmgsCiinme mit Lantenbegleitang eingeiiehtet wot* 
den smd*). 

(Bartolomeo Tromboncino (Frottole, Buch Vll foL 2.) 



Af^litti q»irta . nie! sia-te eonten • ü 




■pir • timieisi • a*tsoon • tsii*ti 



1^. ^ 



Af.flii 



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Ü ni • ei sia-te 



coaten- 



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qpir 



mieiiiate 



eon- ten- 



1) So glaubt wenigstens Fsssavaai, s. dessen „Baphael Ssnsio'' 1. Bd. 

S. 299 DTul 2 Bd. S. 335. 

2) Erythr&oa (Bossi) sagt von ihm; „non solnm fidibos praeclare 
canebat, atqne ad earom sonnm vocem aeeonmodabat, Teram etiam ▼ei^ 

aibus, qao8 oantabat, modos llkciebat (Pinacotheea tL 8. 68). Dissss 

Universalgenie nRhte sogar seine Kleider selbst. 

3) Der Titel ist: Tenori e contrabassi intabulati col sopran in canto 
fignrato per osntar e sonsr ool laato. Libro primo. Fraaoisoi Bossinennt 
opus. (Gedruckt bei Petmcci 1509.) Das obige Stück steht folio 3. Es 
und Stocke auch noch anderer Meister als Tromboncino's au%eaoiameii. 



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Dsfay und seine Zeit 



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Daiay und ■eine Zeit 495 

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Die Aehnlichkeit und der Unterschied ist klar. Die melo- 
dii'fiilin'ude Oberstimme ist unverändert beibolialten und wird 
von der Sin^^stimme solo ausgeführt, die andern drei Stimmen 
sind der Laute in solcher Art zugewiesen, dass sie die wesent- 
lichsteu Intervalle und Gänge des Original» ausfuhrt. Es war 
di€>sM £e allgemeine Art solehw LaBtenarrangements. Als ein 
gewisser Gnillanme Morlaye die ursprünglich vierstimmigen 
Psalmen Pierre Certon's für Sologesang mit Lantenbegleitung be> 
arbeitete, geschah solches, wie gleich aaf dem Titel dieser 1554 
bei Michel F^zendat zu Paris erschienenen Sammlung bemerkt 
ist, „reserve la partie du deuHS, gut est notee pour chanter en jauant^). 
I'iino Lantenbegleitung, welche nur die Umgestaltung eines ordent- 
lichen polyphonen Satzes ist, dürfen wir im 14. Jahrhundert 
noch nicht sudien; aber el)on so wenig ist zu denke«), dass der 
Lautenist nur die blanke Verdoppelung der Singstimme hätte auf 
seinem Instrumente hören lassen. Muthmasslich schlug er zu der 
Melodie die tiefere Oktave und die Unterquarte, auch wohl zwischen- 
durch die Unteraezte, d. L volle Dreiklänge an, wie sie ihm auf 
dem Griffbrette völlig bequem in der Hand lagen. Hitte er 
Ton für Ton der Melodie also begleitet, so ^wMre freilieh das 
alte barbarische Organum wieder in's Leben getreten. Er mag 
also diese VoUklänge nur bei passenden Einschnitten haben hören 

1) 1). h. die Singstiinme ist, wie in dem gogfehcncii Beispiel, in Noten 
geschrieben, wiUirend die i^ugleitong in Lautentabulatur übertragen iat. 



t 



496 



Die Entwickelung des mehrstimmigen Qesangcs. 



lasBon, dann einige Töne des Gesanges einfach verdoppelt, dann 
wieder einen Vollklang angeschlagen haben u. s.w. Die italienischen 
Tanzmeister begleiteten noch gegen den Schluss des 16. Jahr- 
hunderts hin Tanzweisen in dieser naturalistischen kunstlosen 
Manier, und man wird in jenen filteren Zeiten auch die Lieder- 
mclodien kaum reicher und kunstvoller begleitet haben. Elin 
Beispiel dazu mag eine Pavaniglia (kleine Pavana, Padaanertanz) 
geben, aus dem der schönen Bianca Capello gewidmeten, 1581 
in Venedig bei Francesco Ziletti gedruckten Buche des berühmten 
Tanzmeisters Messer Fabritio^) Carobo da Sermoneta, be- 
titelt „il Ballarino", 



Pavaniglia von Fabritio Caroso. 



— 1 



2- 



- 4 2-4 - 



2 S-2 



1—1 



^-3-2-e- 



Eiitzifferung. 



Iii«- =ä^lf!^^S^^5^ 



1^ 



_ ■ ■ ■ ■ 




<^ 




3 






3 


3 


3- 


. -2- 


— 2- 


-5 



5 3 2^ 




I J J 





t — 1 — — 1 







— 


— ^- 















1) S[)rich: Fabrizio, Man wird 
auB Aron u. b. w. dio aliitaUenisuhe 
xto) beibehalten habe, weil ich mich 
MeiBtom das Pensum zu corrigiren. 



bemerkt haben, das9 ich bei Zitaten 
Schreibweise tio (für das moderne 
nicht für berechtigt halte den alten 



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Bvfiqr und seiiie Zeit. 497 





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-e — 9- 














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PIr «ind uns schon aus dein 14. Jahrhundert einige Namen 
von Tonkünstlern überliefert, die als wahre Cantori a Uuto an- 
gesehen werden müssen. Dante begegnet vor dem Fegeteuerberge 
dem Schatten seines Freundes Casells, eines ausgezeichneten 
Mniiken, er bittet ihn su singen. Casella stimmt sogleich eine 
Canione an, deren Worte von Dante gedichtet sind: 

»Amor che ueLIa mente mi ragiona" 

Ocmindb allor A doloemeate 

CShe la doloena anoor dentro mi sona.^ 

In der Vaücana findet sich ein Gedicht des Lemmo yon 
Pistoja mit der Bandbemerkung: ,fCaMa diede ü mom". Wie 
Dante*s Cansone hatte er also auch dieses Gedieht in Mnsik 
gesetst. Dies imterscheidel diese italieniaehen Musiker von den 
firansösisehen Trouv^res. Letztere waren hauptsächlich Dichter 
und sangen ihre Verse nach eigenen oder fremden Melodien ab; 
jene dichteten nicht selbst, sondern erfanden zu fremden Versen 
passende Melodien: sie waren Musiker, Componisten und zugleich 
Sänger'-^. Das Verhnltniss wird besonders in einer der schönsten 
Erzählungen Boccaccio's anschaulich gemacht, in welche die histo- 
rische Person eines solchen Musikers eingeÜochten ist, des M i u u c c i o 
von Arezzo, der damals den Ruf eines überaus feinen Sängers und 
Spielers hatte nnd vom Könige (Peter von Aragon, dem Behenscher 
Sieiiiens) gerne gesehen wurde'). Binjonges ICXdchen aus Palermo, 
für den König in heftiger Liebe enibnumt, bittet den Minueeio um 



1) Pai^torio, C^to n. 

2) Italien hatte alier auch seine Troubadours (Trovatori). So wird 
ein edler Venezianer Bartbeiemi Zorgi genannt, der den Tod des 
unglücklichen Conradiu von Schwaben besaug (»iehe v d. Hagen, Minne- 
smger 4. Bd. S. 9). 

3) Era in quö tempi Minueeio tenuto un fiiiissimo cantatore e tona* 
tore, c volontiöri dal re Pietro yeduto (Ducam. (iiom X. No. 7). 

AmbroB, Oeacbicbt« d«r MuUc iL 



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498 



Die Eniwickelung dM mehntimmigen Geaangeai 



Trost und Hilfe; er selbit ift nicht im Stande ein Gedieht sn 
machen, er eilt in dem Dichter Mico von Siena, der eine Canione 
dichtet, in welcher der Gernttthssnatand der Liebenden geschil- 
dert ist. Diese Worte setzt Minnecio sogleich mit „sanfter und 
licrzbowegender Melodie, wie es der Gegenstand erfa«sehte*S in 
Musik 1), singt sie dann vor dem Könige zur Viola u. s. w. Das 
Getiifht Mico's oder Boccaccio's hat eine Einleitung von vier 
Versen und dann drei Strophen von je zehn Versen; natürlich 
ist Minuccio's Melodie dazu als fönuliches Strophenlied zu denken, 
so gut wie Thibaut von Navarra seine melodischen Strophenlieder 
sang. Dass Minuccio seinen Gesang jedesmal mit der Viele 
(Viuola) begleitete, wird im Laufe der ErsXhlnng wiederholt er- 
wähnt^, auch wie sein Gesang die Hörer inniglich bewegte. 
So fesselt auch Gasella's Gesang nicht blos Dante, sondern die 
ganse begleitende Schaar: 

Lo ndo man^ ed io, e qoeUa genta, 

Ch'eran con lai, parevan 8\ contenti, 
Come a nessun tocasse altru la me&tC, 
Noi eravam tuiti hssi od attouti 
Alle soe note n. s. w. 

Es war also die grösste Empfänglichkeit fUr schöne Musik, 
fUr henbewegenden Gesang in Italien schon damals in reichstem 
Masse in finden. Aber eben weÜ man gemessen wollte, mochte 
man den beschwerlichen Weg, welcher durch die Wüsten einer 
trockenen Oontrapunktik zu einer höheren Kunst führte, nicht 
gerne gehen. Aus jenem liebenswttxdigen Naturalismus konnte sich 
eine eigentliche Tonkunst so wenig entwickeln, als in Frankreich 
aus den Gesängen der Trouv6res, in Deutschland aus jenen der 
Minnesinger. Eine bedeutende Anreo^ung erhielt Italien jedenfalls 
ernt durch die Niederländer. Der Ruf und das Ansehen der vor- 
tret'Hichen paphtliclien Kapellsänger {celeberrimi catUorea nennt sie 
Gat'or)^) scheint ganz vorzüglich mit darauf eingewirkt zu haben, 
dass der „Vater der Künste und Wissenschafteoi" , Lorenio der 
PfXchtige, in Floreni niederiSnduche und niederltndisch gebildete 
Meister der Tonkunst um sich venaiBmelte, (wie sieh denn Anm 
rühmt in Florenz mit Josquin de Pr^s, Jakob Hobrecht, Alexander 
Agricola und Heinrich Isaak Umgang gepflogen zu haben)^); daaa 

1) Le quali parole Minuccio prestanieute intonb d'uu suoao soave O 
pietoBo, s\ come la materia di quelle richiedeva (a. a. O.). 

2) Vincenso Galilei liess seinen in der Kunstgeschiciite so berühmt 
gewordfncii «Tosaiipmilssifjcii Vortnit: cinor Ei»isode der Divina Commedia 
auch von Violen (nicht, wie es gewöhnlich heisst, mit der Laute) begleiten. 
Doni ersihlt davon: „Cantb molto soavemokte sowa un conowto de 
Viola" (Werke, Ausgabe von 1778. «. Bd. S. 94). 

3) Siehe Anm. 1. S. 411. 

4) . . . Joät^uiuus, Obret, Isaac et Agricola cum ^oibos mihi Florentiae 



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Dnfifty und aeioe ZeiL 



499 



in Neapel, welches die Aragoaesen aa einer Art Hochschule der Mu- 
sik nacliem an wollen aeliienen, um 1480 gleMunitig dfei berühmte 
niederlSodiBohe Lehrer lehrten: Johannes Tinetoria von Nivelles, 
der Gllnsding der HerrseherfanüBe^), Bernhard Hjkaert oder 
Tcart, und Wilhelm Gnarnerii eigentlich Gaarnier (wie denn 
dort auch 1478 der hernach selbst hochberiilnnte Lehrer Fran- 
chinus Gafurins [Gafori, Gafor] von Lodi auf Veranlassung eines 
Kunstfreundes eine i)ffentliche Disputation über Musik hielt): ja dass 
selbst kleinere Herrscher, wie Looncllo von Este (re^:;. l i il — 1450) 
in ihre Hofkapelle Niederländer beriefen 2) und am kunstliebenden 
Hofe von Ferrara niederländische Meister fortwährend beliebt 
blieben (Johannes Japart^), wie es scheint eine Zeit lang auch 
Josqnin de Pkt&s^), ehe er in die päpstliche Kapelle unter Sixtus IV. 
eintrat, gegen die Mitte des 16. Jahriionderts der niedeilSndisch 
gebildete Franiose Johann Gero, genannt Mestre Ihan)*). In 



fiuniliaritas et consuetado samma fuit (Aron, Libr. tres de inst. härm. HL 
osp. 10). 

1) Der lirave Tinctoris äussert mehrmals seine tD uo Anhänglichkeit 
an sie. Sein DifBnitorium (das einzige seiner Werke, das in Druck f^- 
kommen) widmet er der Prinzessin Beatrix von Aragonien und seinem 
Baohe Ab natura et proprietate tonoram hii er die Bemerkung: beige fü^'t: 
„Neapoli incepit et complcvit anno 1476 die 6. Novembris, quo quidem anno 
15. Novembris diva Beatrix Arraponiao TTucrarorum rep^ina coronata fuit." 

2) . . . Cautores ex tiuiUa accersiri jussit, coram suavissimo coni eutu 
divinae laades mirifice jugiter cdebrabantnr. (S. des Minoriten Johannes 
von Ferrara Libri Aiiimlium illustr. famil. Marchionuin Estensium, bei 
Muratori Scriptor. XX. Bd. S. 456.) Dass unter üailia hier die flandrisehen 
n. •. w. Provinzen gemeint sind, ist nach den Zeitverhftltnissen sicher. So 
sagt auch der Karthäuser Johannes aus Namur: GuUia me g(>uuit. 

3) So behauptet wenigstens F6tis (Biogr. univ.) — ich weias nioht, auf 
welche Autorität hin. 

4) Dais Josqnin eine Missa Hercnles duz Ferrariae coinponirt hat, ist 
dafür kein verwerflicher Beweis. Eine andere Messe mit d« ias< Iben Titel 
von Lupu8 ist dagegen (»fl'eiibar nur ein Eeho der .los(iuin*M lieu. Uebrigeiis 
ist es eine kleine Unrichtigkeit, weuu Fütis ad vuc. Lupi sagt: „sur le 
mime ehani qoe celui de la metie de Josquin.*^ Man TrerglMohe selbst: 



Joeqnia. 




Lupus. 




Joe^uin hat sein Thema nach den Yocalen der "Worte BureuleB dux Fer» 
ranae gebildet. B^-i Lupus i^t eine solche Beziehung nicht zu ünden. 
5) F^tis (Biogr. univ. 3. Bd. S. 403) sagt: Gero (Jean de) eompositenr 

32* 



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ftOO 



Die Bniwickelung dos muhrrtimmig» OenngM. 



Mailttid Btaud bis 1490 die Kapelle Johann Galeazzo Sforza*^ 
unter LeitaDg des traffiieben Ifeisten GaBpar (van Weerbeke) 
▼on Oudenaide^. Venedig und was dasn gebSrte (Padua n. s. w.) 
behauptete eine Zeh lang seine SelbststSndigketl g^gen die Nieder- 
länder; die nenn Bttcber Frottole, die Petraed 1504 — 1608 
dnickte (keineswegs verächtliche Werke, aus denen sich das 
Madrigal entwickelt hat), sehen wie ein Protest der zahlreichen 
oberitalienisclu'ti Tousctzer gegen die Kunst der Niederländer 
aus2); insbi'HuiuU're seinen man in Venedig mit einer Art Eifer- 
sucht darüber zu wachen, dass die Organisten- und die Kapell- 
meisterstolle bei S. Marco nur Venezianern verliehen wurde, bis 
endlich 1527 ein Mutuproprio des Dogen Andrea Gritti den Nieder- 
länder Adrian Willaert aus Brügge, sehr gegen den Wunsch 
und Willen der Proenratoren, an dieser Würde berief nnd nieder- 
llndisehe Kunst auch in Venedig die Obeihand gewann. 

Der König des fröhlichen Franlueichs bitte nicht der nächste 
Nachbar der Niederländer sein dttzien, um ihnen nicht den Ein> 
tritt in seine Kapelle zu gewähren. So begegnen wir denn in 
der Kapelle Karl VII. und Ludwig XI. dem berühmten Meister 
Jobannes Okephem (auch Okegara , Okekem oder Ocken- 
heim genannt), tieni Patriarchen der Musik, der so ziemlich alle 
folgenden Tonsetzer als seine geistige Nachkommenschaft in An- 
spruch nehmen darf. Er steht au der Spitze der Schule, die 
man als die zweite niederländische zu bezeichnen pflegt. 

UaUttL Nicht allein die ganz französische Form Metre oder Hestrc Ihao 

oder Jchan widerspricbt dieser Annahme, Bondeni luicli j^nnz direkt die 



endliflneDen Sammlung Motetten dieses Meisten. Der Titel des Sopran- 
heftes lautet: Cantus. Symphonia quatuor modulata vocibos exceUen- 
tissimi musici Joaunis Galli, alias Chori Ferrarine ^lagistri quae vulgo 
flUotecta Metre Jehan) nomiuautur, uuper in lucem edita (darunter eine 
Vignette in Holzschnitt, ein Schiff im Sturm). Das Tsnoibeft sagt bloss: 
SKCelleniissimi Musici, vuljro uuncuj)uti Metre Jehan. 

1) Herr Vanderstraat hat die Nuchvveisinifi:en darüber aus dem Stadt- 
archive der Stadt Oudeuarde geUefert. Beriiardino Corio (hi»t. dulla orig. 
dl MUano, 1554) enililt: „il duca Oaleazzo ttipendiava trenta Miisiet 
oUramoutani con grosse TinTcrdi." 

2) LHese BOgeuannteu Frottole »iud nichts weniger als „Qassenhaaer," 
wie Kiesewetter tibersetzt. ISs sind mehrentheas höchst sentimentale 
Foenen mit entH]ire(-lieiuler, oft cdlur, aber etwas monotoner Mu!>ik. 
Einzelnes ist scherzhaft und iMjjiulär. Ein sehr hühschcs Stück „Che fa 
la ramaciua'' ist übriguus von Compöre. Es wird weiterhin umständlich 
dayon die Rede sein. Doch gab es unter den Frottoliaten schon einzelne 
Ueberläufer zum niederländischen Styl. Die IMotette „Tulerunt Dominum 
meum" (Mot. della corona) von Pr^ Micchael da Verona (mit dem Mi( < hicl 
Peseutos Veroneusis der FrotoUeusumndung zuvcrlftssie ein und dernelbe) 
ist im richtigsten Niederlladerstyl mit allen seinen Idiotismen compouirt^ 




Hieronymus Scutto in Venedig 




ZuflfitBe und Naehträge. 



Zu Seite 12. Die Gründung der Schola cantorum zu Rom dturoli 
Papst Silvester I. steht in den nonerou Musikgescliiditen wie ein un- 
zweifelhafbea Factum da, dennoch aber schüttelt die Kritik den KoplL und 
nr nicht ohne Gnmdl Gerbeit hat durch sem Werk De oantn etc. OL« Bd. 
S. 3.5 und 36) diese Notiz eigentlich erst recht in Anfhahme gehrachi, 
redet aber selbst nur selir zweifelnd: „Konioc scliola»< cantorum Hilnriiim 
Pontiiicem instituisse scribit Anastasius. Sunt qui prae/ornuiifse Jam S. SU- 
vettrvm vclwU. Onnphrint id imrait" u. s. w. Bei einem Zeugen aus so 
später Zeit wie Onuphrius muss man billig fragen, woher er die Sache 
wusste. Onuphrius Panvinius, Eremitanermönch, geb. Iö29jge8t. 15G8, 
allerdings ein grundgelehrter Mann, konnte, wenn er über Thatsachen 
aus der ernten Hilfte des 4. Säculums redet, solches nur auf Qrundlage 
alter Zeugnisse oder auf haltbare Conjecturon hin thun. Nun aber sieht 
es damit schlimm genug aus. Von wirklich alten Zeuffnissen zu schweigen, 
•elbat Platin a (geb. 1421, gest 1481, alio um ein Jahrhtindert lUer als 
Panviniua), welcher in der Biographie der Päpste Silvester und Hilarius 
alle erdenklichen Stiftungen an Kirchen, Bibliotheken u. b. w. aufzählt 
und sehr genau die gespendeten Schätze, die Kunstwerke und Kostbar- 
ketten, womit die Kuchen damals geschmfiokt worden, besdureibt, ai^ 
von der Stiftung oinor Sängerschule kein "Wort (man sehe die betreffenden 
Stellen in „De vitis Poutif.," in der mir vorliegenden Cölner Ausgabe vom 
Jahre 1568 Seite 45 — 48 und 66). Ja, Pauviuius zeugt selbst gegen Pan- 
yinius. Obschon er in seiner Schrift „De Interpretation e vocum eccle- 
siasticarum" Buch 2 Cap, 6 jene Notiz gegeben, die man bei Gerbert 
a. a. 0. in der Urgestalt, im Texte meines Buches S. 12 in Uebersetzuug 
nachlesen möge , erwifant er mder in seinem Ohromeon eecleeiaatioum, 
noeh in seinem Chronicon pontificum roinanomm (zwei allerdings sehr 
knapp gehaltenen Werken in Tabellenfomi) bei Papst Silvester die Stiftung 
einer Singeschule, die denn doch iedeufalls für ein bedeutendes Ereigniss 
tu gelten hfttte. Herr B. Seh eile sagt in seiner in der „neaen Zeit* 
schnft für Musik" Jahr^. 1864 No. 10 veröffentlichten Kritik der Reiss- 
mann'schen Musikgeschichte: „Die Mönche Onuphrius und Panvinius" 
(ist wohl ein Schreib- oder Druckfehler, denn Onuphrius ist mit Panvinius 
eine Person) „haben sich im 16. Jahrhundert das Verdienst erworben, 
diese Fabel mit dem Charakter traditioneller Ueberlieferung in Cours zu 
bringen, verleitet durch die Geschichte der Chnstenverfolgung unter der 
Vandalenherrschafb in Karthago vom Bischof Victor, wo eine Stelle auf 
die Ibdstenz einer grösseren Singschule in Karthago hindeutet und ver* 
worren dieselbe mit Rom in Verbindung zu setzen scheint. Der Wider- 
spruch dieser übrigens selbst aller scheinbaren Beweise entbehrenden 
Annahme n^ den Zostftnden Boms nnter jenem Papste hatte sogar dem 
letzten Chronisten der päpstlichen Capelle Fornaj, einem einfachen 
Sänger und keinem Musikhistoriker von Fach, eingeleuchtet, dass er, dem 
doch daran liegen musste sein Institut in das äusserste Alter hinauszu- 
rflcken, de kopfrehttttdnd als eine Sage zurfickweist." Ich citire die 
Stene. weil mir jenes karthagische Martyrologium niclit vorliegt, und hier 
tpeeiell erkittrt ist, wie Onuphrius auf seine Behauptung kommen konnte. 



602 



Nftohtriga. 



Gleichwohl ist die Sache, wie mir seb«iiit, docli m bedenken. 

Die Zeit Silvester's ist recht eigentlich die Epoche des Anfangrs der 

Srächtigen Ausstattung des Gottesdienstes. Lese man doch bei Piatina 
ie Beschreibung der kostbaren Bildwerke in edeln Metallen, dieser 
Bninueu mit wasserspeienden Hirschen und Lämmern, u. s. w. Die befreite 
Kirche konnte ihre Gesftnge frei und laut aii«^tininion. "NVns ist natürliche r, 
als dass jetzt die Personen , welche die Kircliengesänge bei dem reich 
und feierlidi gewordenen Ootteidienete «iimifttlinn Imtteii, wamamm^ 
kamen und die IntoTiationen gemeinschaftlioli einübten? Iloui so od 
nicht etwa wie ein Conservatorium oder eine Singakademie mass man 
sich die Schola Cantorum in ilirer Urgestalt denken. Und wieder ist es 
natilriidii dait nch der Papst die Oberanftieht Aber ^eae Siagabnnfmi 
VürV)ehielt. Von diesem Gesichtspunkte aus spricht sogar Mehr für Sil- 
vester als für Hilarius, der erst 401, also ein volles Jahrhundert später 
den päpstlichen Thron bestieg. Und so könnte trotz der mangeln- 
den direkten Zeugnisse jene Sage am Ende doch das Wehre 
getroffen liahcn, und ich habe eben deswegen kein Bedenken tr<'fra{:< ii 
die Notiz in den Text meines Buches einfach aufzunehmen und die kurze 
kritische Erörtemng, die dort eu viel Raum in Anspruch genommen bitte, 
wenigstens hier nachzutragen. 

Zu Seite 17. Der Tt xt bei Tinctoris (Anm. 2) ,,ut tritoni durities 
excitetur'' ist wohl durch den alten Copisten entstellt, e« muss sweifels- 
obne heiMfln evitefur." 

Zu Seite 54. Omitoparchus gibt für die Reneroussion der einzelnen 
KirchentOne in seinem INIicrolog (1. Buch Cap. 1 v. Abth. de repercussio- 
nibus tonorum) dieselben Verse und Notenformeln wie Hermann Finck. 
Letsterer definirt: Repercnario antem est Sind propriam intenrallom, 
quod saepe repetit quilihet tonus, quarum octo sunt, quae a VOoe finali 
indpinnt, atque sursum tendunt, ad eainque rursus redeunt . . . 



/Primi 

I Secuiidi 
I Tertii 

IUP«.«« T«» \ ^ 

Sexti 
Septimi 
Octavi 



est de 



re 

re 
mi 
mi 
nt 
fa 
ut 
ut 



la 
fa 

mi 

la 

sol 

la 

sol 

& 



per 



Quintem 

Tertiam 
Quintam 
Quartam 
Quintam 
Tertiam 
Quintjun 
^Qnartam 



Anderwirt« wird die Reperenerion im dritten Ton abweichend mit mi-Ca 
angegeben. Sebald Heyden (de art oem S. 186) md Adrian Pletit-Coclioe 
bringen nadiatehende Formel: 



L Ton 


s. 




4. 


6. 




7. 


8. 






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Wae in monströsen Atedächtnissversen eingeschärft wird: 

Pri re la, Se re fa, Ter nii fa, Quar quoque mi la 
Quin fa fa. Sex fa la, Sip ut sol oc tenet ut fa. 

(Die Verse hei Rossi. welche S. lA Anm. 1 mitgetlu ilt sind, klinpen etwas 
besser.) Furkel (Uesch. d. Mus. 2. Bd. S. 172) hat dafür ein Schema ent- 



Kaohftiigt. 503 

werfen nteh Art des obfgen yon Hermaon Finok inaammengettettten; ee 

mB'^r zur Vergleichang hier eine Stelle finden: 

im ersten 1) — a eine Quinte 
im zweiten l) — f eine Terz 

im dritten E— c eine Sexte (beiOrnitopendi und Findk B— h, eine Quinte) 

im vierten E — a eine Quarte 

im fünften F — c eine Quinte 

im »echsten F— a eine Terz 

im siebenten (t — d eine Quinte 

im achten (i — c eine Quart«'. 
Virgil Haag (Erotemata nms. ]>ract. 1545) lässt für den dritten Ton sowohl 
mi mi als mi fa gelten: De mi ad Mi, diapentes tntervallo, yel de mt ad 
fa spatio quod diapente cum semiditono conficitur. — W» r sich über das 
Wesen der Psalmenintonationen, das Evovae, die Final- und Confinaltöne, 
die verschiedenen Ausgänge (Dififereuzen) der einzelnen Fsalmentöue und 
was sonst dahin gehört, gritaidlieh belehr«! wiD, findet alles in klarer 
und dabei prftziser Darstt llnng in dem „Handbuch des rflmischen Clioral- 
gesanges'* von IT. L. Kinibi'rfjt r (Landsbut 1858), S. 16 u. f. Virj^il Hiiua 
ist auf die „Ditierenzen" übel zu sprechen, er nennt sie „fnvolum (juod- 
dam inTentam." Im Laufe der Zeiten haben sich auch hierin Veränder- 
ungen erpfeben. Die Differenzen bei Kimber<;er weichen z. B. sehr 
wesentlich von den Differenzen ab, wie sie in der Musica Nicolai Listeuii 
(Wittenberg bei Georg Rhen 1547) vorkommen. Mit den Differenzen bei 
Lucaa-LoeeinB (Erotemata 1570) stimmen sie besser, aber doch auch nicht 
viillig zusammen. Heutzutage versteht man unter Differenzen nicht mehr die 
Varianten der Psalmenaus^^ge, sondern die Kepercussionstöne, inaofeme 
aie die erste Note des Evovae bflden nnd tnsammen mit der SeUnssnoie der 
Antiphone den Psalmentim erlminen lassen (Zu vergl. Eimberger a. a. O.). 

ÄU Seite 170. Das Lesen und Verstehen der Nagel- und Hufeisen- 
schrift hat keine Schwierigkeit; mau muss nur immer sehen, wo der Kopf 
der Note, der immer etwas stärker markirt wird, sittt, nnd die dicken 
Stiele eben nur für den hernl)f?('brn(1(>n Strich nehmen. Am mindesten 
deotUch ist die Sache bei der Hufeisenform, doch immer noch k<'nntlich: 

Melodia versuum in responsohis octavi toni (aus Urnitopurchus). 




In Ulenberg*s Psalter vom Jahre 1584 findet sich eine Anleitung, wie man 
„die Signatur vnd noten musicae figuralis" in „Chomoten" umschreiben 
könne. Da heisst es denn: „Schreibe für die vierecketen ♦ auch für die 

gesohwentcten ein solche ^, für diese gebnndene ^ eine sölche ^ 

für diese ein sölche , für die letzten 1 ein sölche \ , so hat, 

er die melodeicn in chomoten" (S. daa kath. deotsche Kirohenlied von 
Karl Severin Meister S. 91). 

Zu Seite 178. üeber die Hntation, diesen eimt ao wichtigen, jetzt 
uns so fremd gewordenen Clegenstand, mag kier einiges Ausführlichere, 
das im Text des Buches zu viel Raum weggenommen hatte, eine Stelle 
ünden, es wird vielleicht nicht unwillkommen sein. Man muss swei 



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504 



Kachtrftgfo. 



Syrteme rniterscheiden : das Ältere, welches das CJenus molle, durnm 
ond naturale arjwcndet, und das neuere, das sich auf das Genus molle 
uud durum beschränkt. Tinctoris in seiner „£xpo8ilio manas^^ (es ist 
bezeichnend f dass er sie einem Schüler gewidmet hat ^^oribus optimia 
et plerisque ingenuis artibus omatissimo juveni Joanni de Latinis, während 
seine anderen Traktate fertigen Meistern wie Okeghem, Busnois, Hanard 
dedioirt sind) geht die Ttrsdiiedenen Ck»mbinationen durch alle drei Ge- 
schlechter durch. Z. B. die Mutationen der Svlbe Be: 

B» Vt est mutatio, qaae Rt in ntroqne Q §ol rmU ftd Meendendani de 
b moUi in ^ durum. 

Jfe Ifi est mtitatio, quae fit in ntroqne a 2a mire ad tscendendnm a t| 
duro in b molle. 

Re 8ol est mutatio, quae fit in D aol re et d la hoI re ad descenden» 

dum de natm-a in ;J durum et in utroque Q-sol re-ut ad des* 

oendendiim de 6 molli in nattmm. 
Se La est mutatio, quae fit in utro(jue a-la-mi-re ad descendt-ndum 

de ^ duro in naturam et in d ia aol re ad asoendeodum de 

natura in b molle. 
Und BO alle andern Conjunctionen. 

Auspfrdoin stellt er sie, Tim für Ton von C fa ut bis d la-aol-re. in 
ein überschauliches Tableau zusammen, wie solches S. 178 des Textes 
für Alami re beispielsweise gegeben irt. Znlefcst fllnstrirt er ^e Sache 
durch die S. 179 mit^ctheilte Zeichnung. Der eminente, überall nach 
Licht und Ordnung strebende Geist des treffliehen Tinctoris zeigt sich 
auch hier. Will man das recht erkennen, so sehe man nur, wie der brave 
Ornitoparchns (1517) den Schüler mit sehn Mntationsregeln entliast, die 
ihm ohne Lelirers Commentar gans dnnkel bleiben roflssen, und wie er 
ihm auch eine Zeiehnunff mit auf den "Weg cribt. die auch ihrer Erklünmg 
bedari, dann freilich al-^ nclit sinnreich an/iu ikcnuen ist. 

dirrrtoriuni mutattonu. 




Forkel (Gesfh. d. Mus. 2. Bd S 284) bemerkt: ,, Diese Mutationen oder 
die vielfache iieucuuuug eines einzigen Tones, nach dem seine Lage 



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Ntohtvig». 



505 



geg^en das Scmitoninm beschaffen ist, hatte schon in der ftltesten ZHt, 
da nur noch die chromatischen Töne b und ^ im Systeme vorhanden 
wurea, gr o n e Sdiwierigkeiteii; wie yiel grOner manten diese Schwierig« 
keiten nicht erst werden, nachdem allmtuig mehrere chromatische Inter- 
valle eingeführt wurden, und überhaupt das Tonsystem nicht nur mehrere 
Erweiterung, sondern auch eine ganz andere Art von Einrichtung bekam? 
Die Versuclie, die man machte, solchen Schwierigkeiten almbelfen und 
dor Jugend die Krlemung der Musik durch einfachere weniger vcrwicki lte 
Mittel zu erleichtern, sind daher sehr zahlreich durch verschiedene Jahr- 
faandefte gewewa. Aber eile diese Vertnehe blieben im Grande fraohtloa, 
bis man endlich Muth bekam, diese ehrwürdige, so lange Zeit bewunderte 
und fast angebetete Reliquie gänxlioh absuaohaffan, und sor nlten Buch« 
tUbenbenennung zurückzukehren.^* 

Anf die ,,d&ometiMben LitOTvaUe*' kommt sehon Hermann Fmck ni 
sprechen: ,fVoce8 autem omnes distant ab invicera per sccundam porfec- 
tam, seu tonum, praeter nii et fa, quae per imperfectam secundani seu 
per semitonium distant. Exc-uipli causa, pro^ouas tibi has duas clavea 
O^l'fa-ut et D'la-8ol-re: in his duabns clavibuB poteris canere: re, 
re mi, fa sol, sul In; hic ubitjue liabes perfectam secundam ex priore 



Bono, propterea quod hae duae per imperfectam tantum, illae vcro per 
perfectam secundam ab invicem distant Amm8 igiimt ei«, quod Musici 
instrumentales sie signant (M, clavis quae medium sonnm int»T C et D 
reddit, ita habebis ex C iu C-^ mi in /a, ex CM in i> iterum mi in /a*), 
nbi Tidee dnat imperfeetas teonndaa eonatitnere nnam perfectam** (Aiict 
mus. Abth. de voctbua). Sebald Heyden (de art. can. S. 19) bemerkt« 
dass manche zu dem genus durum, molle et naturale noch ein viertes, 
ein genus fictum, fügen. £r selbst billigt das nicht nur nicht, sondern 
will Mgar nur das genui h molle und |l| duram >nr Anwendung bringen, 
das natürliche alx r nicht: „nani illius nomenclatione obmissa tum multo 
evidentior et coniniodior divisio umnium cantionum per b ab initio aut 
adscriptum aut non adscriptuni eiticitur. Deinde et solmisatiouia ars, ob 
illnm intermissum tanto paucioribus ao pnerili captni fitdlioribus regulia, 
tum rectissime descrihi poterit. Neqne quidquam scrupuli facit, quod 
natural! cantui quiddam peculiare prac aliis duobus esse constet: prae- 
•ertim cum neque illud ita unquam se habeat, quin aut in cantns il| duri 
aut b mollis septa coincidat: nisi forte Diapente non egrcdiatur, qualem 
tum nihil jilane vetat b duri et nomine et regulia censeri" (a. a. 0. S. 20. 
Auch Ornitoparch sagt: Voces naturales et in |;| durales et in 6 moUes 
mntantur quia ancipiU» mmt). Das ist schon ein sebr wesentlieh«r Sim- 
pHfizirungsversuch ; mit ihm entfallen alle von Tinctoris für das Mutiren 
aus dem natürlichen oder in's natürliche Creschlecht aufgezählten Sylben- 
wechsel. Wenn daher Tinctoris z. B. die Mutation ex b molli in genus 
naturae deseendendo auf p-#ol-re-wt mittelst sol gemaobt wissen will u. s. w., 
so erblickt Heyden hier nur einen Ucbcrgang ex gen. b molli in genus 
ij durum und schreibt vor (wie auch Tinctoris für diese zwei üeschlechtcr 
lehrt) auf a-la-mi-re durch la zu mutireu: „in a lamire si cantus ultra 
ipsum scaaditf b preescripto mi, non praescripto re oanatnr. At si plus 
ditono descendat, perpctiio hi. Plus ditonn dico; nam si tantum per 
ditouum aut minus eo descoudatur, nihil opus erit la, cum per mi re ut 
perfid desoensio possit. (Der Gesang bleibt dann nftmiioh innerlialb des 



*) Qnot tust TOeei flctaet Duae, mi et f», qnae in omnihn« clavibns poni powfiuiit. 



clave 




cani non possunt hoc siniili 




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"1 



606 Nacfatrige. 

hexach. moDe.) Lnoas Lottittt ndutfari die Mvtelioneii «nf den 

nohtsponkt, dan durch zwei Sylben zu mattrai sei, darch Re im Auf* 
tteigem, durch La im Absteigen; er bringt es sogar m fl ^a^hfaMf ff — = 

Voci))U9 utaris solum mutando duahus: 

Per Re quidem sursum mutatur, per la deorsum 

Er führt es sofort aus: „In cantu )^ durali suTnimufl Re in D ei a ascen- 
dendo, descendendo vero la in E et a. In cantu b mollari ascendeudo 
■mnimus re in rut, O sol reut. Descendendo la in D-foZ-re, A-la-9oi^ 
et dd-la-sol: Are, n lamire, et aa-lanüre. De octavis cnim idem est 
Judicium.'^ (Lossii Erotem. neue Ausgabe mit Zusätzen von Christoph 
Prfttorins 1570.) Anf so engen Raum ist hier in weni|^ Zeilen susammen- 
gi-draii^ , was ein JahrliQnderl vorher den grflndlidien Tinetona eine 
Abhandlung kostete! 

Auch Hermaim Finck (Pract. mos. 1556) lehrt die Mutation anf lU 
aaeendmäo und La de9oa»da»do. Br iftelli Saehe in folgendaa Aber- 
■dianlioke Schema, soMiuDflii: 

, Jn caatn ^ duraK mntamna tnbiis^ olavibuti tciUeflt e ei «1 

in deieeiideiido anmimiis La in 

clavibot 

tn aaoenoenao sonumiii jh in |^ ^ 
Cantus ^ dnrelit. 



in ascendendo sumimus in{J f ff. 

E e eef 

in omta h moUi linuliter tribus davibot mntamoa, sdHoei ^ a «t « 

aaoendendo somimiit B» inlj^ > ^ ,^ 

» deecendendo mmimnB La i» 

A. a aat 




ut re mi fa re mi la sol re mi fa mi la sol la la sol ia mi re at 
nt nt mi le ut 

Cantus b moUaris. 



nt re mi fa snl re mi fa re mi fa la sol & mi In aolikniiinnLr 
ut re vt. 

A. Petit-CoclicuB nimmt wieder alle drei Genera an, folgt aber der Muti- 
rungsart Heyden's. Sonst hatte die Sulmisation auch noch allerlei Idio- 
tismen: I. B. die Tonreihe galkt wmrde, obschon sie gans dem hezaoli. 
durum angehArti nicht ui re mi fa solfeggrirt, Bondem sol re nn fa; ea 
wurde das g al^o nicht al» erster Ton des harten, sondern ab letzter des 
natürlichen Hexachords genommen. 

Zn Seite 181. Es inrd nicht flberflflssig sein an bemericen, daas die 
zweite Xotenzoile nicht etwa einen Tonsats vorstellen soll, sondern IVagf- 
mente zweier gegen einander gestellter Hezachorde, um das Znsammen- 
stossen des mi contra fk anschaBlieh ni maehen. 

Zu Seite 188. ,fAuB einem fiagirten Tone z. B. /I« oder ais", d. h. 
in einer Tonlage, welche diesen Tönen entsprach. Als Ton blieb ais so 
unbekannt, dass sogar noch Walther in seinem Lexicon sagt: «Ais könnte 
nnd sollte man billig das mit einem ^ bezeichnete o, aastett dasa ee ine» 



gemein sich muss h schelten lassen, nennen." 

Za Seite 200. Die Uebergangsform swischen Psalter und Ciavier 



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Kaolitr&ga 



507 



ist durch ein sehr interessanfps Kmistdenifmal des 15. Jahrhundorts or- 
balten. Am Sockel der Kirche der berühmten Certosa bei Pavia (be- 
Iniuitlich ut sie Ton Ambrogio Fotsano Im Jahre 1479 erbaut mid ehiet 
der allerbrillantesten Muster edler FrQhrenaissance) sind in Nischen 
sitzende Statuen angebracht, darunter ein Könip David, der sein Psalter 
spielt. Der Form nach ist letzteres das bekannte Istroniento da porco, 
ein TrapeXf aiu einem gleichiGhenkligen Dreieck durch einen Qoeriohmtt 
nnterhalb der einen Spitze gebildet. David hat das Instrument im 
Schoosse liegen, die breite Seite dem Leibe zunächst, die Spitze nach 
Aussen gewendet. Gegen die rechte Hand des Spielers ist das Corpus 
des Inatrumentes seitwärts nicht verschalt, sondem offen, und zeigt im 
Innern acht nebeneinander lie<rende ClaNnertasten , welche den aeht in 
gleicher Richtung laufenden Saiten entsprechen. Unter Ivtztem zeigt 
sidi die Sc^aUroae. David rührt die Tasten mit der rechten Hand, die 
linke Uegt, wie es scheint aU Dämpfer, auf den Saiten. Bekanntlich war 
es beim gewöhnlichen Psalter die grösste Schwierigkeit, das Nachtönen 
der Saiten mit derselben liaud zu dumpfen, mit welcher sie auch mit 
Hilfe ehies Fleetmme oder eines Federkiels gerthrt worden. Dieser 
technischen Schwierigkeit ist durch den Apparat der Tasten, der die 
linke Iland zum Dämpfen der Saiten ganz frei lässt, während die rechte 
ganz bequem auch Doppelgriffe anschlagen kann, in einfacher Weise ab- 
gehoUira. Diese praktiscn-verständige Constniction ist anoh eine aiemlioh 
sichere Bürgschaft, dass nicht etwa Ambrof^io Fnssnnn, oder wer von 
seinen Kunstgehüfen jene Davidsstatue verfertigte, hier nur ein Phan- 
taiidastniment gebildet; ein solches wäre ohne Zweifel viel abenteniw- 
lieber ausgefallen. Der glückliche Zu&ll, dass der Künstler die Reminis- 
cenz an ein solches Instrument, das er irgendwo gesehen haben mag, 
hier verwerthete, ftült eine merkliche Lücke in der Entwiukelungsgeschichte 
dea Olaviers aat. Stellt man die Formen vom einÜMhen Finlter bis mm 
ältesten Ciavier nebeneinander, so stellt der Angensdiein die Sadhe wohl 
ausser Zweifel. 

Zu Seite 218. Die altfranzösische Orthographie schrieb für „Trouveor" 
(der Finder) TVoviohre. Ein neuerer firansteisoher Aotor hat neht witsisf 

bemerkt: Die Dichter hätten bei den alten Griechen „lUsenrs" (;ro<i7rif^ 
geheissen, im Mittelalter „Trouveurs". Die neuen, experimentirenden 
Poeten aber könne man mit gutem Grunde „Cbercheurs'^ nennen, lieber 
die medeiiandisehen Tronvenrs vergl. man „Les tronv^res braban^ons, 
hainuyes, liegeres et namnrois" par Arthur Dinaux, BrQBsel 1863. 

Zu S. 219. Roscoe im Leben Lorenzens von Medici (Cap. V) envfthnt 
unter Berufung auf Muruturi's autiq. ital. vol. II S. 844, dass im 13. Jahr- 
hundert die italienisäien Grossen proven^ische Trobadors an ihre Tafeln 
sogen und dass sclifui im 12. Jahrhundert das Volk in Bolopna auf öffent- 
licher Strasse durch „Cantatores francigen ar um" ergötzt wurde; ferner, 
dass provencalische Jongleurs (Jocnlatores ex Provincia) schon 1227 zu 
Genua ihre Künste zeigten. Er weist darauf hin, dass Muratori (della 
perfetta poesia ifal. Iii». I. S. K». 17) den Einfluss der Provenralen auf 
Dante und Petrarca, der ihnen durch Guido Cavalcanti, den Dichter des 
Terreno amore, vermittelt wurde, keineswegs gering anschlägt. Iis wird 
kaum völlig unbegründet sein, wenn man das Wohlgefallen an den „Can- 
tatoribus francigenarum" und das Anhören ihrer (tcsänge in fremdem 
Idiom als eine Art Vorbereitung ansieht, die nachmals den weltlichen 
Gesftngen der Niederlftnder den Weg bahnen half. Es ist sieher, dass 
Petnicci 1503 seine drei Bücher niederländischer Gesänge (Odhecaton 
vel cantus centum signati A, Cantus B numero quin(|ua{rinta, und Canti C 
centocinquanta, somit zusammen 800 Compositioueu) nicht für den Yex^ 
trieb naon den Niederlanden und nach Fiankreidi, sondem üb* Venedig 



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1 

t 



508 



Kachtrflgfe. 



und Italien drackte. Diese Sammlang enthält aber nicht nur Composi- 
tionen von Niederländern, sondern aach (mit ganz wenigen Aasnahmen) 
Gesänge, deren Texte französisch sind, die sogar in Italien sehr bekannt 
gewesen sein mübsen, weil Petrucci sich (leider) begnügt hat immer nur 
die Anfangsworte des Textes beizugeben. Die Canzoni francesi, wie sie 
hemachmals von Certon, Gardane, Hesdin, Clement Jannequin, Schier, 
Longueval, Claudin Sermisy, Gascogne und andern französischen, der 
niederländer Schule entstammenden Meistern componirt wurden, haben 
sich ganz eigenthümlich folgenreich bewährt. Man spielte nämlich solche 
Stücke in Italien mit Vorliebe auf Orgel und Ciavier und ahmte sie in 
selbstständigcn Instrumentalsätzen nach, welche als die ersten Versuche 
in der Instrumental fuge gelten dürfen. Bernhard Schmid der jüngere, 
Organist im Münster zu Strassburg, hat in sein Orgeltabulaturbuch eine 
Menge Fugen italienischer Meister, wie Adriano Banchien, Christofano 
Malveggio, Andrea Gabrieli u. s. w., aufgenommen und bemerkt, dass 
solche „Fugen" von den Italienern „Canzon Francesi" genennet wenlen. 
Das Charakteristische ist, dass das Thema sich mit dem für die Canzon 
Franccse charakteristischen Rhytlmius 



J J JIJ J /TT] 



und dgl. einführt. Wenn, um ein bestimmtes Beispiel zu geben, schon 
Loysft Comp^^re seinem köstlichen fugirten Liedchen in den Canti ceuto 
cinquanta „mon pöre m'a donn^ man" das Thema gibt 



rü -^ r-t :-i 



-fit 



. . . 

oder der spätere Jannequin das Lied „ung iour que madam dormait" (im 
3. Buch fol. 12 von P. Attaignant's grosser Sammlung) im Tenor so anlegt: 



Ro leitet AdHiUM) Haiichieri in seinem Organo suonarino 1605 eine „Sonata 
in Aria Francese" also ein: 

4Tr 




und ganz ähnlich gestalten sich die Fugen: 
Giacomo Bri^noli. 




1 



m 



Antonio Mortaro. 




Orfeo Vecchi. 



rry. 



^^^^ 



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Kaohirftge. 



509 



Andrea Uabrieli. 




Hehr über diesen höchst merkwürdigen Punkt an gehöriger Stelle. 

Zu Seite 237. Der Dirhtor der Minnerogcln des Eberhanl Cersne 
(140i) nimmt in dem einen Abschnitte „wy der fogel sang suszir vud beszir 



dameligen Spielern m Oebnmoli ttehendeii Lutromente enfinufthlen: 



Nocb cymbel mit geclange 

Noch harffe edir svegil 

Noch sckachtbret monocordium 

Noch stegereyff noch hegU 

Noch rotte elavicoriiimn 

Noch witdiciruUe 

Noch pwrtatiff psdlterivm 

Noch figel samm canale 

Noch lüte clavtcymbohim 

Noch dan quintema gyge vidde lyra rubeba 

Koch phife, floyte noch m^lmey 

Noch allir leye Horner lüd. — 



Ein ähnliches Orchester wird in den Gedichten des Königs von Navarre 
(am beschrieben (Manuscript der k. Bibliothek zu Paris No. 7612): 



La Je vi tout un ceme 

"mue, B«M^)t €hiii9ni§ 

Venmorache, Micamon 

Cytolle et Fsalterion 

Marpe, Tabours, Trompes, Naqwiret 

Orgwet, Comes plus dex paires 

Coryiemuses, Flajols et Chevretis 

DouceineSf Simbales^ Clocettes 

Oimbre la FImtte Brehaigue 

Bt le mnd Cormi d'AUemagne 

Muse a'Aussay, Trompe petitt 

f MtMine, Elia, MouBcorde, 

On ü n'e e'nne lenle oorde 

Et mute d^Ebkt tont ensemble. 



Zur intorcssanton Vergleichung marr aiicli noch ein 8])anischos Godicht 
ähnlichen Inhaltes folgen. Dieses Gtdiclit des Arcipreste de Hita .luan 
Kuiz (um 1350) benennt die Instrumente, deren sich die Joglai-es bedienten, 
in einer, wie ee Mheint, genanen nnd voUitändigen AnfSLhInng: 



JNft en muy santo de la Pascua mayor 
El Sol salia muy claro et de noble color 
lios omes et las aves et toda noble flor 
Todes vAn reoebir cantando al amor. 

Kecibenle las aves, Gallos et Royscnorcs 
Calandras et Papagayos mayores et menores 
D^n cantos plasentores et de dulces sabores 
Mas alegrias fasen, qne loa que ton meyorea. 
Ricebenlc los arlioh^i con ramos et con flores 
De diversas naturas et de hennosas oolore« 



*) nickt aHaNlto", wi« naa fmOtaUek Uert. 



was 




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510 



JKachtrftg«. 



Rioebenle los ome« ei duefiaa oon amores 

Clin muchos estormentos satian los Atamb4nt9 
Alli salian gritando la Qüitarra Morisca 
De las voces af^uda et de los puntos ahsca, 
El arpudo Laud, qne tiene panto 4 la triaoa 
La Guifarra ladina GOn estos se aprisoa. 
£1 Mabe Kritador con Ift bu alta sota 
Oab' ^1 agaravi taiiendo U am noU, 
£1 Salterio con cllos maa alto que la mota 
La Vikuela de pmola con aquellos aqui sota. 
Medio cano et Uarpa, con el ßabe Morütco 
Entre eUoa alegranza al OoXope Franeiteo 
La Rota dis con ellos mas alta que un risco 
Con flla el Tarbote sin ^sta no vale un prisco 
La Vihuda de arco fase dulzes bayladas 
Adormiendo ö las veses, mny alto ä las vegadas 
Voces dulces, sabrosas, ciaras et bicn puntadaa 
A las gentes alegra todaa tiene pacadas. 
Dulce caBo eatero nl oon el PofMMrete 
Con SonajoM de acofi» &ae doli *' souctc 
Los Orgnnos, que dicen canzonctas et moteto 
La Citola albordana entre ellos se entremete. 
Oayia et Exabeva et el finöbado Albog&n 
Cinfonia et Badosa en esta fiesta son 
El Francis Odre»illo con estos se compon 
La ueciancha Bandurria aqui pone su sbn. 
Tron^pa» et Äüafiiea salen con Atabale$ 
Non fueron tiempo h& plafsenterias atales 
Tun grandes ale^ias, nin atau comanalcs 
De Juglares veman llenas ouestas et vallea. 

Za Seite 431. In aebr komiach treohernnr Weise flbenetat MarÜn 
Agricola (Musica instnimentalii deadsah 158^ die V«ie prima carane 
cauda eto. also: 

Vo7i deti ersten Noten der Ligatur tn 

Die Erste one ächwantz ist Longa vorwar 

8o die andere unter sieh steiget gar 

Die Erst one schwantz ist Brevis genant 

So die andere hynauft' steigt zur hatit 

Die erst niddergescliweutzt an der liucken 

Thut allseit nadi einer Brevi winckenj 

Wenn der ersten Schwantz lincks auff thut wandem 

So ist sie Semibreff mit der andern. 

Von den mitteUten. 

Die werden alle mittelste pffaclit 
Zwischen der ersten und letzten gemacht 
Iglidie Nota ym mittel gesatzt 
Wird von den Sengem ein Brevis geschätzt 
Ausgenommen wenn die erst geschwentzt ys 
ist sie und die andere Semibrevis 
Wie oben im vierten regel gemelt 
Meroks an allen regeln hemacb geetelt. 

Von den letzten. 

Die letzt qundrat, so sie nidder steiget 
Wird für eine lang angeseiget 



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Naehttftg«. 



511 



Ist die letzte quailrat hinauff gemalt 
So wird sie för eine Brevem gexablt 
Brevis ist igliche letzt Obliqua 
Ein ding ob sie auff oder nidder ga 
Maxima dieweil sie ist die gröste 
Bleibt sie allxeti jmi yhrem gerOsie. 

Zu Seite 383. Eine seltsame Spezialit&t sind jene Signa interna oder 
intrimecay die jedoch in der kltesischeu Zeit des niederlaiidischcn Styles 
nicht mehr in Qebraadi waren. Das Beste darüber hat OmitoparchoB: 

D» njfni$ mfrtNMCM. 

§. Signa intrinseca sunt, quibus graduum musicalium perfectio in 
figuris denotatur, circa extrinseoorom si^uorum appositionem. Qaorum 
tna ■imt: triam soiUcet temporam Panse inTentio. Qnando enim in oantn 
repentor pausa, tria tangana qiatlA, modam indicat minorem perfectum. 

Inqnit enim Franchinus: non incongrue esse maiori modo duas triam 
temporum pauaas apponi, si minori una apponatur. ^. Notarum deuigratio. 
Qnoties enun invounntiir tres longe ooloratef modoi minor perfeotos deno- 
tatur. Quando tres breves, terapus perfectum. Tribns autem semibro- 
vibuH coloratis prolatio major demoiistratur. §. Tertium est quarundam 
pausarum geminatio. Quoties euim due pause semibreves cuui scmibrevi 
nota odlooantor tempos perfectum designatur. Per dnai antem minimaii 
eom nota minima prolatio maior declarator, hoo modo 



Modna maior. Modnt minor. Tempos p er fec tum . 



Prolatio major. 

Man sieht, dass diese Zeichen nur in der Perfection angewendet wurden. 
Femer, dass die Geminatio pausarum keine willkürliche Bezeichnuuffsart 
war, denn sie bilden snsammen mit der naehfolgenden Note 
gleicher freit ung ein dreitheiligee Ganze, sie sind eben zwei leere 
Theile. Bei Hermann Finck ist nur die Rede von zwei Pausen ohne die 
nachfolgende Note, und da hat es freilich keinen tSiuu. Die drei ge- 
Bchwftrzten Noten brauchten nidbt etwa sn Anfang zu stehen; es genügte, 
wenn sie im Laufe des Stücks vorkamen. Sebald Heyden nennt diese 
Bezeichnungsai-ten veraltet; Siquidem vetustiores rausici modum majorem 
perfectum ab initio fere uon aliter signabant, quam tribus paasis longae 
perfectae aeqnaliter positis. Imperfectnm rero geminis. Qnae panne li 
extra sipnum temporis ab initio scriptae essent, tantum nif^na erant, non 
etiam numeh, id est, in caueudo uon numerabantur. Si vero post signa 
temporis starent et signa et nnmeri pariter erant hoo modo: 



■n 11 1 r^=a= 



Modus mtgor per- Modus mtyor per- Modus major im- Modus major 
fectos cum tem- feotns onm tem- perfecta* com imperfectus 
pore peifecto. pore imperfeoto. tempore perfeeto. cum tctn])ore 

imperfecto. 

Jfodttm minorem perfectom nnioa paosa longae perfe<}tae,'nonn]uiqiiam etiam 



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512 NaobtHge. 

geminis aequaliter aut pluribus sed inaoqualiter poritis signaliani hoc modo: 



Med. minor Mod. minor Mod. min. perfect. Med. min. perfect. 
perfeotm oom perfect omn onm ienpore per- com temp. imper£ 

temp. perfecto. temp. iraperf. fecto. 

Imitcrfectum intt'lli},M volebant, ubi nnlla pausa lonpae perfectae ab ini'tio, 
vei etiam nuUae teruae iongae denigratae in medio cautus conspiceren- 
tur. Atqoe adeo apnd illos per circmnni cam nomero Innsrio C)2, contra 

Sriores canones non moduB ullus sed solum tempos cum proportione 
npla sig^ificabatiir. Quod simplices circulos non modis sed temporibus 
designarent. Integrum perfecto, dimidium imperfecto. Nisi forte dupli- 

cem circulum ita pingerent, quorum exterior modum, interior vero 

tempns: integri atriasque pedeotumem, dimidü @ (§ imperlei»- 

tionem indicarent. Numeros vero, ubi circnlie pone adscriberent, non 
de temporibus sed de proportionibus, temarinm de tripla, binarinm vero 
de dupla intelligendos volebant." 

Es ist nicht willkflrlich, dass drei gleichgestellte ModaspanMB filr 
den Modus major, drei uiipleicb gestvllte für den Modus minor galten. 
Die Nebeneinanderstellung deutete das Zusammengehören dieser Pausen 
als Ganses an, die Summe von nenn Breren, gleidi Arei Longen, gleich 
einer Maadma d. i. den Modus major. Die inigleidie Stellung deutet die 
Trennung und Selbstständigkeit der Modaspau^sen an, jede fta sich glnoh 
drei Breven, gleich einer lionga, d. i. den Modus minor. 

Johann de Mnris, in denen Schriften yon „Zeiehen" noch nielil die 
Bede ist, lehrt das Erkennen der Pcrfection oder Imperfection nach 
blosser Notenstvllung: Ubi possunt haec discerni? In situ vel in ordine, 
qui ponitur in tiguris. Quot modis cognoscitur perfectum? Quinque. 
Qnibns? Onm ant ngnra similis sibi ipsi, ant dnalras rel tribns sni pMÜ^ 
bus, vel puncto, vel pausae sui valor praeponitur, perfectum est. Quot 
modis cognoscitur imperfectum? Duobus. Quibus? Quando fignrae sui 
tertia pars praeposita vel postposita est, sive valor (d. i. eine gleich gel- 
tende raus^. Von einer eigentUdi diirchgeftihrteu imperfecten Qeltuog 
durch ein ganzes Stück ist, wie man si« lit, keine Aede. Die DreiÜieilig" 
keit ist das selbstverständliche Gruuduiass. 

Zv Seite 265. Heinrich von Lanfenberg oder Lonfenberg 
als Dichter mag man bei Wackemagel kennen lernen, wo No. 746 bis ein- 
schliesslich No.7<)7 Gedichte von ihm mitjrcthfilt sind, die theils den reinen 
Miuuesiugertou anschlagen, theils jener weniger pedantisch als naiv aus- 
sehenden Mischgattnng ans Latein nnd Deutsch angehören, als deren 
Begründer Heinrich gilt. Musikaliscli ist ea sehr interessant, bei dem 
„Salve regina" (S. *Jö()) die volksgesangmässige Umgestaltung der 
Melodie dieser Antiphone mit der contrapunktischen Behandlung 
derselben von Nie. Gombert (Motetten l>ei Gardano 1542 No. XVII) zu 
vcrgli'iclien. Noeli sei liirr htMnerkt. <1:h«; die S. 2.')«; mitgetbeilte Mdodie 
aus Feld. Woll's Buch über die Lais genommen ist. 

Zu Seite 261. Unser braver Hent Sachs, den Oothe mit Becht 
in einem unvergleichlich schOnen Gedicht (,,Hans Sachsens poetische 
Sendung") {gefeiert hat, verdient auch in der Geschichte der Musik einen 
riats. In seiner gereimten Lebeusbesclu-eibung, die er im Greisenalter 
als AbsoUnss seines Dichtens nnd Lebens Terasste, rdhmt er sidi nie 
Meistersinger eine Anzahl von „Tönen" selbst erdacht zu liabcn: ,,wan"n 
gieUt in iwcgrhondert lohOnen vnd fiOnf vnd libniiig MeistertbOnao, dnr- 



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ooter nnä dreliehen mein** . . . pin TbOneo idiledit md Ifur gemein, 
der Thön sechtzchn mein eigen sein". 

Zu Seite 303. Das „Ascendo ad patrem" ist in der einen Gestalt 
die Abkürzung^ in der andern die Erweitenmg der Intonation, welche in 
feito ucenBiom« Domini der Priester dreinud mit eiiil^ter Stimme singt. 
Man mag sie in Kiinberger't ,3*n<n>Qch des rtmiMhen CfaorelgeMuiges** 
8. 80 nachsehen. 

Zu S. 350. Wenn die alten Tonsetzer su swei fertigen Stimmen erst 
Unterdreiii die dritte Mizten^ weU eie damit eben nicht beeter fertig sn 

wcnL Ti wussten, so findet sich bei den Meistern der fol(?cnden Zeiten 
diese Praxis zuweilen mit bewusster Absidit zu etwas ganz Interessantem 
verwendet. Josquin de Pr6s hat ein Ave verum componirt (es stvht 
in Glarean*8 Dodecachordon Seite 888, und ist nieht mit dem grossen, 
dreisätzigen Ave verum, quinque vocum sub quatuor, in den voti Sigis- 
mund Salblin^cr herausgegebenen „Concentus oute sex etc. vocum omui- 
om jncnndissimi, Augsburg, Ulhard 1545'* zu verwechseln), in welchem 
die erste Strophe zwei hohe Stimmen idt wohlklingendes, vollkommen 
befriedigendes Duo singen. Bei der zweiten Strophe wiederholen die 
beiden Stimmen ihr Duett, aber es gesellt sich ihnen eine dritte Stimme 
hl der Tenorlage. Wfthrend bei den Alten die anfffeswangene dritte Stimme 
meist mehr oder minder holprig ist, fliesst sie bei Josquin im schönsten 
Gesänge wohllautend hin und hat ganz jenen schwännerisehen, jflngling- 
heft überschwenglichen Ausdruck, jene süsse Wehniuth, wie Josquin ins- 
besondere seinen Tenoren snweilen dergleichen gibt. Bin sehr sonder- 
bares aber geistvolles Zusammen setzespiel mit Stimmen treibt AI ex nn der 
Agricola in einer (Jomposition der Cauti cento cinquanta fol. 105. Zwei 
Stimmen, der Discant und Tenor, singen hier das Lied »Qi^o ^ons Ma- 
dame**. Agrioola findet, dass es mit der Psalmodie ffik peoe in id ipsom 
dormiam et reqin'escam" (Worte des 4. Psalms) gans mgezwungen nnd 
wirklich vortreÖ lieh zusammengeht : er müsste nicht Alexander Agricola 
sein, mn diese Bntdednmg nicht sn benntzen: der Bus intonirt also 
seinen Psalm, wodurch das Stück jenen altfranzAsischen halb geistlichen, 
halb weltlichen MischgesÄngen Ähnlich wird. Dazu gesellt sich nun noch 
ein Contratenor und das Stück ist vierstimmig. Aber der Contrateuor 
ist laut Beisehrift „Ad plaoitnm**. Er kann behebig weggelassen werden. 
Sieht man n&her zu, so bemerkt man, dass auch die Psalmenworte im 
Bass Darüber werde ich in Frieden schlafen und ruhen" ihre Beziehung 
haben; der Bass kann, wenn er will, seine Mitwirkung unterlassen. Das 
Stück kann also ausgeführt werden: als Duo, als Trio, und in diesem 
Falle wieder in zweierlei Gestalt : nftmlich entweder mit dem Contratenor 
oder mit dem Bass, oder endlich als (Quartett. Es hat in allen diesen 
Tier Bedaotionen kOmige, kr&flige Harmenie. Stimmen, die ad Ubitom 
gesungen oder weggelassen werden können, kommen loweil« n vor, z. B. 
in Ludwig Senfl's brillanter Motette zu sechs Stimmen,, Alleluia mane 
nobiscum" (Cantion. selectiss. nec non famüiahssimae ultra centum No.IV.), 
wo der sweite INseaat mit dem Beisätze „ad beneplacitum** bezeichnet 
Ist, in Johannes "Walther's zweistimmiger Bearbeitung des Chorals 
,,Vom Himmel hoch da komm ich her" (Bicinia gallica. hitina ete 1. Tbl. 
No. LXXXVU), der sich eine dritte Stimme „tertia vox ad pbicitum" 
beigesellt. Zu der ausserordentlich beliebten „Bataille** von Clement 
Jannequin hat nachtrftglich Verdelot mit bewundemswerther (»escliick- 
lichkeit eine „Quinta pars si placet*^ beigesetzt. (Man findet dieses im 
16. Jahrhundert oft abgedmckte Stück auch in Gommerns Sammlung 
l«. Bd. No. xxvm). 

Zu Seite 463. Okeghem und Hobrecht können kaum noch als Zeit- 
genossen gelten. Hobrecht trat seine gl&nzendste Stellung als Kapell- 

▲mbrof, Qatctiickt« dar Miuik. U. 83 



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514 



Naohtrige. 



mcister der Kiiolie Nolve Dune in Antwerpen neeh jMob BertHrenn*« 

Tode U92 ftn, and entwickelte in diesem seinem Amte eine sehr ener- 
gische Thätigkeit, machte wiederholte Reisen u. s. w., während gleich- 
zeitig Okeghem wegen seines allzusehr vorgenlckteu Alters sogar auf 
die Stelle des Tresorier von St. Martin zu Tours verzichtete, die 
ein gewisser Errars, Sänger und Organist der königl. Kapelle erhielt, 
während dem alten Okeghem blos der Titel ad honore» blieb (Die Aae- 
ftthrong and NachweUang sehe man bei F^tis in dem sehr tnt«ree- 
aanten Artikel „Okeghem" der 2. Auflage der Biogr. nniv.). Auch Ho- 
brecht's Compositionen zeigen im Vergleiche zu denen Okeghem's schon 
eine mannifffach entwickeitere, minder herb alterthümliche Knnati man 
branölit s. B. nnr die Ohentons der beiden ehrwflrdigen M^iter in den 
Canti ccnto cinquanta untereinander za vergleichen. Sieht man auf diA 
blosse Ziffer des Geburts- und Sterbejahres, bo war Okeghem allem An- 
schein nach um etwa 20 Jahre älter ai» Hobrecht und überlebte ihn um 
einige Jahre. Hobredit ttarb auch im Greisenalter, aber IMitii Okeghem 
scheint mehr als ^M), wenn nioht gegen 100 Jthre alt geworden n sein. 
Mehr darüber im 3. Bande. 

Zu Seite 494« Eine nicht uninteressante Andeutung über die Aus- 
führang kunstvoller Vocalcompositionen ab „Transscriptionen" für die 
Laute enthält eine von Guillaume Dubois, genannt Cr^tin oder Crestin, 
einem franz. Poeten, der lö2ö starb, gedichtete ,^eploration de Cr6tin 
aar le trepas de fea Okergan (so!) trösorier de Sunct Martm de Toors". 
Hier wird enihlt, wie ausgezeichnete Musiker Messen des vetvwigten 
Meisters sangen: die berühmte Missa cujusvis toni, die Misse mi-mi. die 
AIossc au travaü sois and (,1a messe aussi exquise et tres parfidcte de 
Requiem", dann aber heisst es: 

Harne en la fin dict avecqaei son Inci 

Ce motet: ut hermita solus 

Che chascun tint une chosc excellento. 

Diese Motette ist in Petrucci's „Motetti C'^ (nicht ^,C«nto'', denn es sind 
ihrer nur 47, sondern „drittes Bnoh*\ gerade so wie die Genta eento ein- 
qoanta als (^anti C bezeichnet erscheinen) fol. 14 gedruckt, und ausser- 
dem die eine ihrer beiden Abtheilungen als Beispiel eines seltsamen 
Canouräthscls mit aubluhrlicher Erklärung in H. Fiuck's Pract. mus. ; zwar 
nennt weder Petrucci noch Finck den Gomponisten, aber die sehr kenntp 
Uchen Eigenthümlichk» it» n Okeghem's sprechen sich auf das deutlichste 
im Tonsatze aus, und der Tenor, bei dem ein Theil der Noten der Sol- 
misationssylben zu errathen ist, gehört zu den sonderbarsten Binftllen, 
womit je ein Niederländer die Sänger geneckt hat. Die Motette selbst 
ist wirklich „une chosc excellcnte" und würde allein genügen, Okeghem 
als grossen Meister zu legitimiren. Hat nun Harne es vermocht, dieses 
vielkOnsÜiohe Tongewebe aof semer Laote in rewodnoiren, so mmse er 
in seiner Art ein wahrer Virtuos gewesen sein. Vielleicht sang er den 
aus lauter langen Noten bestehenden Tenor and spielte die drei andern 
Stimmen, aber auch dann war es noch eine Aafgabe, deren Lösung einen 
Meister erfiunierte. 



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Musikbeilagen. 



Wilhelm Dufay: Chanson.- Cent mille rsnis. 

Ky r iCy ' ) Ch t iste und zweites Kyrn- 
aus der Messo omme atme\ 

Vincenz Faugues: Kyrie, Christe, und zweites Kyrie ^) 

aus der Messe omme arme\ 

Antun Busnois: Chanson: Je suis veiuil vcrs inon ami. 

Hayne odor Ayne ( Heinrich van Gizeghem ): Ch ohsoh.» 

De tous biens. 

John Dunstable: Chanson,- 0 rosa bella. 

Firmin Caron: Kyrie aus der Messe omme arme'. 



1) und 54) Diese bpiden Nummern llieilf auch sthon Kiesewellei in sei- 
ner Musik/fes(hi<h(e mit. Da jiMlrtch dci- Kiiulrink d«'s CA/As^r und nndern 
Kt/tif wesentlich durth si«« milbedin^l i>i. >(» sind sie hier, nneh vor^enuut- 
inener neuer Kedui-tion (inshettondere in den Accidenii«n), wieder niifg*« - 
noDinwn» und die giinxe JCftie^ («ruppe i»t voÜHlindl^ gegeben. Dara die 
Toiifief/er den (^esnmmlefreet dieser Sätze wohl berechneten^ erwähnt Gla- 
rean ausdrücklich (//of/tfw^atffyif S. %0H). 



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Guillanme Dufay. 



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Kyrie, Christf und zwcntos Kyrio dtT Mosso Ommc arme. 

Siehe: Text, Seife 4Ji3. n.f. Anmerkung". 







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Her piijisl. Kapelle.) 


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jedoch ohn«*"./' raisch. Soll wahrscheinlich^- sein. 



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pimmx re/f'n^Hf priorrs — lass dit« voranslchejiden l*aus<»n %*e^. 



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*)FftlfiGiil Soll wilirfididnlich^seio, demoadi: -X"] ^ J -^^^- "^ '"'c. 

oder noch besser: J J j J " » [ etc. 



F.I::.C.L.a4 82 

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(iuillüume Dufay. 

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Viiicenfiiis Fau«ues. 

Kyrio, Christo un'l zw^'itcs Kyrie «aus «U r M<»j»h) ommv arme\ 

Sieh»*: Seilt? 4»JÜ u.f. Anuici ttun^. 



Kyrie primurj 




(Aivhiv der päpbt. Kapell«, 
in Partitur fpefcradit A.W.A.) 



tinnr'. ) 



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*) Im Ori« i iiai (<'hl( das 4^. 

Hier K(t*hpn fm OrijHnAl snrei Suspirien. 
nii>M> NtiinintT /IIP (tcfiniti\f>n Corrflctli^t ZU briiifrni/ ist wohl mir dnrdi die 

Vorlag di's Ori|cinals möglich. 



P.e.€.L.S482 



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Vincent ins Fauf^ies. 

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♦) Im Oriir. ^. 



) Diese >oteng:ruppe isl fniseh. Sol! heissen: ^ 



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Yinvejitius FaiMTues. 



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siel. Die Aualog'ie des folgenden Taktes >¥rlan^: 

F. K C L. 34 82 








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Autonins Busnois. 

Chant^on a trois voix. 

8ieiie: Seite AHH, 



Parisrr ( odi-x 



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*^ Falsch! Soll wahrMdieiaUch heifü^eii: §( L n { .j J ^ | 

RßCL.8482 



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Hayne odor Arne (Heinrich van Gizeg-hem). 

Siehe: Seife 4U7. 



Dijonor Codex N? :f5»r> Ts. Morelot N9 10.) 



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3: 



Tenor. 




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tous biens pldne 



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Ha\jii' oder Aviu'. 



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22 



John Diiiistable. 

Siehe: Seile 351 und 471. 



fCodex des Valien na.) 
Spnriininif Aon Sieph. Morelol 



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Conlrntenor. 



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27: 



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Tenor. 



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John Dunslable. 



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'-^ Zwar Origioal^'treu^ aber falsch. Es muss heissfn: 

F.K.CL.3482 



etc. 



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Finnin Caron. 

Kyrio ex Missa /'ommr arme, 
Sidii*: Seite 4IM. 



Piip«stHrh»»s Kapt^Ilrn - Archiv. Codi'x >9l4 
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Kyrie 
Tenor. 



Contratcnop. 



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K d«^ 80. April IN80.Kade. 

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