Geschichte der Musik
August Wilhelm Ambros, Gustav Nottebohm, B. von
Sokolowsky, Carl Ferdinand Becker, Heinrich ...
Geschichte der Musik
▼on
Aogust Wllbelm Ambros.
I
Mit MililrtleliMi If oMnlMrfapIMi und MuallüMltageo,
Zweite TMrWiMrt« Amßttg^
'iter Band.
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Geschichte der Masik
von
August Wilbelni Ambros.
Mit sfthlrelchon NoMnbelsplelan uod ICuslkbellagen,
Zw«lto ▼«rhwerte Auflagt
Zweiter Band.
9 Leipzig, Verlag von F. E. C. Leuokart
(CoutMtin äMd«r>.
im
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HARVARD UNf^fRSITY,
Departmnnt of Music.
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Dv VcrluMr MdUt «Ish du BMhl dar II«b«ntta«w ta ftwide Biiraehmi vor.
1
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Vorrede.
Der Leser, der sich durch einen weitläufigen ersten Band hin-
durchgearbeitet hat, wird es vielleicht übel vennerken» sich an der
Schwelle des zweiten durch eine. Vorrede aufgehalten zu sehen. Er
kann, wenn er will, ohne verdriessliches Antichambriren gleich in
das Buch selbst eingeben; aber ich gestehe, dass es mir Ueb wttre,
wenn er diese BlSHer nicht überschlüge*). Sie enthalten Dinge,
'die recht sehr zur Sache gehören, und ich verspreche ihm, daas ich
mich we^er mit missliebigeu Rezensionen a parte ante (des ersten
Bandes meine ich) herumzanken, noch gegen mögliche ungünstige
Znknnftsrezensionen dieses zweiten Bandes im Vorhinein Verwah-
rung einlegen will. Denn icli bin weit davon entfernt zu glauben,
dass ieh etwas Fehlerloses hingestellt liabe; meinBndi ist eben ein
meiiMlilieli Werk. Aber soviel darf ich mit gutem Glewissen sagen :
waa der Leeer lüer in HXnden hSlt, ist daa Resultat langer und
eifriger Arbeit, wiedeibolter Beiaen und eifriger Studien auf
deuteehen und itaKeidseben BibHotkeken. Ieh babe wenigstens
getraebtet an Wnrsel und Quelle kennen an lernen, worttber ich
jetst spreche. Es heiast, meines Eraebtens, nicht Husikgeschicbte
schreiben, wenn man das knapp gefasste Kiesewetter'scbe Buch wie
eine Suppentafel in so und so viel Mass Parapbradrungswasser ser>
kocbt und die dfinne Suppe dann allenfalls mit den aufgesetzten
Fettangen einiger Citate ans Glarean wttntt und anmutet Noch
♦) Enthielte die Vorrede nicht einige Personalien, so hiltto ich sie
„Einleitung'' fiberschrieben. Ich spreche hier noch eine Bitte aus: Man
nOgc die Anmerkungen und Zasfttse nicht fttr Ballast halten und
wolle sie berücksichtigen.
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IV
Vorrede.
sehr viel schlimmer ist es aber, wenn man mit meinem lieben Oheim
die Immersionstaitfe in „geistreichen" Fenilletonslyl yomimmt.
Kiesewetter w«r eine Persönlichkeit voll ruhiger WUrde; aber ich
glanbe, er würde etwas weniger blitsen und donnern, sKhe er das
vielfache Unheil, das sein gelehrtes, in seiner Art bis Jetst noch
immer nicht flbertroffenes Buch (ich würde dasselbe UrtheÜ Hellen,
auch wenn mir Kiesewetter fremd und ich nicht sufidliger Weise
sein Neffe wir«) angerichtet hat. Wer es gelesen, glaubt, wenn
ihn sonst die Lust dasu anwandelt, sofort über Musikgeschichte
Öffentlich mit dareinreden tu können; wo denn jeder sieht, „dass er
nichts sagt, als was im Buche (d. h. im Kiesewetter) steht" 80
stirbt Josquin de Pris noch Immer „um 1515 als Hofkapellmeister
Maiimilian des Ersten" (vide Kiesewetter, Pag. 57; conf.: „die
gesehiehtliche Entwickelung der Musik" In der östeir. Wochen-
schrift, Jahrgang 1863, 3. Band, 8. 461), obgleich uns Gousse-
maker schon 1860 in seinem Büchlein „gaelgii«» ipitaphes des iglUes
d$ Cmimea, Cambrai, Oonäit Esne sfo." Seite 13 die Notis gegeben,
dasa der grosse Meister als Dompropst des Capitels von Condi am
S7. August 1531 sein Leben geendet. 80 heisst Loyset (d. i.
Louis) Comptee noch inuner nebenbei Pi^ton, weil Kiesewetter
diese beiden nach Zeit und Schreibart ihrer Werke sehr ver-
schiedenen Tonsetxer irrig für eine und dieselbe Person gehalten.
So finden wir bei Antonius de Fevin nicht allein noch immer
den Beisatz „oder Feum," weil Bumej in irgend einem alten
Codex die Ucberschrift Feuin falsch gelesen, sondern es muss
sich dieser höchst bedeutende Meister noch immer gefallen lassen,
so beiher als „glücklicher Nachahmer Josquin V su fungiren,
weil Kiesewetter tu unglücklicher Stunde Glarean's Worte „fdix
iUe Joäoci aemulator** also übersetzt hat*). Alle wahre Musik
datirt noch immer erst von Palestrina, der die ,,aufs Aeussersto
entartete, ans blossen Künsteleien bestehende (1) Musik" seiner
*) „Aoniiilfitnr" hoisst denn doch nicht so vie\ wie „Imitator*' nnd
bedeutet keinen Nachahmer, sondern einen nacheifernden Nebenbuhler.
Werke, wie A. de Fevitt*s Lamentationen, wie seine prachtvolle Motette
„Descende in hortum meum" (Gant, select. ultra cent.), seine edeln
Messen u. h. w., kann nur ein grosses originales Talent schreiben. Ich
benutzte Feviu's Erwähnung zu einer Notiz. F^tis (Biogr. uuiv. 3. Bd.
8. 241) sagt: „Bumey est le premier hiatorien de la musiqae, qni ut dit
qu'il (A. de Fevin) dtait nö ä Orleans, mais il n'inrli(pjo jins h quelle
source il a puise ce renseignement". Fetis hat übersehen, dass Buraey
diese Angabe aus 01arean*B Dodecaohordon geschöpft hat, wo A. de Fevis
zwar nicht im Tt xt, aber in dem augenscheinlich von Crlareaa selbst re-
digirien Index „Antonius Fevin Awrltanama gymphaneta" genannt wird.
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Vorrede.
V
VorgSnprr total rofomiirtc. Und so weiter. Das g^rosse Publikum
unsertT hastigen, eiscnhahnfalirenden , telegra|>hiriMi(l('n Zeit hat
freilich nichts daf^e^eii ; es will eben Alles hastig und näihehis,
übrigens gleichviel wie, ahthun, auch seine Belehrung. Die be-
deutendsten Fragen und Gegenstände sollen in brillanten Feuille-
tons oder in einigen amüsanten Vorlesungen abgefertigt, die
geistige Nahrung soll eingenommen werden, wie auf Stations-
bahnhöfen die leibliche: schnell die pikante belegt Semuiel-
schnitte hinunter und dann in 's Ilininiels Namen weiter! Ich
weiss also wirklich nicht, wie ich bestehen werde, wenn ich hier
bekennen muss, dass der ursprünglich auf drei Hände angelegte
Plan meines Werkes eine Erweiterung erfahren hat: es werden
vier Bände statt drei. Damit aber der geneigte Leser nicht
vor einem möglichen fünften, sechsten n. s. w. Bande Besorg-
nisse hege, mü ich hier Anlage und Gang de« ganzen \Yerke8
darlegen.
Dieser zweite Band schlägt, wie man finden wird, schon
ganz andere Pfade ein, als der erste gethan. Jene p;ni(»ranien-
artige Ueberschau auf Völkergruppen i>t hier ein- flir alb-mal
aVigethan. Es hat mich aber innigst erfreut, meine Intention von
einem Manne wie Moritz Carriere in seinem Buche ,,die Kunst
im Zusammenhange der Culturentwickelung" gebilligt und in
höhcn-ni Sinne fortgebildet zu linden. Die Darviellung der Mn^ik
der antiken Welt bildet den geistigen Berührungspunkt zwischen
dem ersten und zweiten Bande; letzterer hat aber nicht mehr
das pliilologisirende , archäologisirende Aussehen des früheren.
Die griechische Musik ist längst verhallt; wolitii ich einen leisen
Nachhall wecken, nnisste ich die übrigen Richtungen des grie-
chischen Lebens kräftig hervttrhelien , wie njan den leise mit-
klingenden Aliquotton nur durch kr;(ltiges Anschlagen der Saite
weckt und hörbar macht. Man hat sich beklagt, der erste Band
führe durch eine Wüste; leider kann ich auch in diesem zweiten
den Leser noch in keinem Kanaan sesshaft niailicn, sondern
ihm zum Schlüsse das gelobte ].iand der vidlendeten Kunst nur
gleichsam erst vom Berge Nebo in der Ferne zeig<'n, höehstens,
wie Josua und Kaleb die grosse Traube als vorläntigt; Pndic
von den Früchten des Landes brachten, einen geleirentlitheu
vorläufigen Ausblick auf Jos(juin, (Jondicrt und andere edlo
Meister machen. Es hat eine Zeit «reirehen, wo man die Kunst-
geschichte mit dem Apoll von Bchedere, oder mit den Werken
üaphael äanzio's an£ug und alles Aoltere in kurzen i:^iuleitungen
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VI
Twrrede.
abfertigte. Bf iit aber dne gani andere Sache, ob es rieh um
ftathetischeii GenasB eines Kanstirerkee» oder ob es rieh um
historisirendes Verstindniss desselben handelt Ich begreife
die entwickelte Kunst nur, wenn ich ihre Vorstufen, ihr all-
mXliges Herankonunen begriffen habe. Wir wollen nicht beliebig
ansgewVhlte mehr oder minder gelungene Kunstwerke nach der
Idealelle mesaen, die wir uns nach Sebastian Bach, oder Moaart,
oder Beethoven, oder wem sonst surecht geschnitrt (sehe man
doch in Bumohr's «italienischen Forschungen*' die geistvolle Dar-
stellung, wie bei einem solchen Verfahren selbst Raphael au
knn fiel, als man in der Antike das absolute Kunstideal su er-
blicken wXhnte): wir wollen die historische Erscheinung in ihrer
Berechtigung Torstehen lernen, gerade so wie der Naturforscher
die hdheren Organiamen der Schöpfung nur dureh gewissenhafte
Durchforschung der niederen und niedrigsten begreifen lernt.
Es ist sehr leicht, aber auch nichts werth Uber die barbarischen
Contrapunkte eines Adam de la Haie» Machaut, Jehan Lescnrel,
Landino u. s. w. im Bewusstsein „wie wir*s suletst so herrlich
weit gebracht** su spotten, wir müssen rie als nothwendige
Durchgangspunkte gelten lassen.
Dr. Joseph Schlüter hat in seiner aUgemrinen Geschichte
der Musik (Leipzig 1863) den ersten Band meines Werkes in
einer gelegentlichen Anmerkung S. 5 also beurtheilt: «»Dasselbe
ist siemlich gedankenleer,** sagt er, „und im Faktischen nur su
hKuHg ungenau und unsuverlSssig; die von Otto Jahn im
Mosart mit Geist und Geschmack angewendete Methode der
Forschung ist bri Ambras trats seiner geistreichen Sprünge bloss
pedantisch.** Ich bin den Lesern nach einer solchen Beschul-
digung eine Erklitrung schuldig. Es ist im ersten Band wie
in diesem sweiten keine Zeile» für die ich nicht einen
tttchtigen Gewährsmann yor Augen gehabt hStte. Wie
ich nun aber die Aushängebogen dieses zweiten Bandes durah-
gesehen, und mir leider abennals viele „Ungenauigkeiten** auf-
gefallen. Z. B. ist mir statt des richtigeren Machaut oder Machanlt
öftor die Schreibart Machaud in die Feder gekommen, ich habe
geschrieben „MinnesKnger** und „Minnesinger**, ebenso Trouveur
und (richtig) Trouv^, S. 220 erwUhne ich des Beimchronisten
Ottokar und nenne ihn aus alter Gewohnheit nodi „von Homeck**,
S. 247 wird Heinrich von Ofterdingen genannt und der Süngei^
krieg, ohne die Warnungstafel des «^lythos** daneben zu hängen ;
so schlüpfte mir, obschon ich genugsam Geographie weiss und
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VII
oft und lange genug in Mähren war, um zu wissen, dnss dieses
schöne Ländcbeu an der äussersten Ostmarke Deutschlands liegt,
Seite 259 das Wort ,, Westgrenze" aus der Feder,*) was fiast 80
schlimm ist, wie wenn Felis von Jakob Gallus sagt: „nS ä
Krain tlans la Carniole^^ (Biogr. univ. 3. Band S. 392). Leute,
die mein Buch nach solchen Dingen durchstöbeni wollen, er-
werben sich jedeufalls ein Verdienst; sagen doch schon die
Xenien:
0, urie schätz' iijh eneh hoeb! ihr bürstet sorglich die Kleid«r
ünsrer Autoren, md wem fliegt nicht ein Federdien an?
Welch' reichen Schatz an Erudition birgt uiclit das vorhin ge-
nannte Work von Felis, und dennoch taiule man darin sein', sehr
viel zu „bürsten"**). Anton Schmid's ,,Ottaviano dci Pctrucci'*
♦) Dieser Schreibfehler, mit vielen andern vom Verf. s. Th. selbst
angemi'rkten, ist inzwischen ausgemerzt worden. (II. Aufl.)
**) Herr £. Schelle in Paris meinte in der neuen Zeitschr. f. M-, „in
Deutschland sei gar niemand, tbr Fdtis contrnliren kr.nne*'. Wolle er
doch nur z. B. £. O. Xänduer's neues treffliches Buch „Zur Tonkunst"
8. 64 bis 94 rar Hand nehmen, wo der Streit mit dem Beotor Bieder-
mann wegen des „musicc viverc" gegsn Fdtis' gani falsche Darstellunff
authentisch erzählt wird. Um aber ein Beispiel zu geben, wie viel und
vielerlei man bei Fätis zu „bürstun^^ fände, hebe ich nur den einen
Artikel , Jjarae** im 5. Bd. dtf Biogr. nniv. des mnsidens S. 800—208
hervor. Ft'-tis sagt: „Le pocte allemand Brusch ou Bruschius, eile par
Printz, prt'tetid, (pie de Lame composa cn 1549 les Lamentations de Jc'-
remie, ü y a Heu de croire qu'il etait mal informi u. s. w.^' Aber Brusch
war um so besser „inform4*\ als er diese Lamentationen, deren Existens
Ft'tis lüugTiot , selbst herausgegeben und dem „reverendis«<inio in Christo
Fatri ac Domino Wolffgango a Yiridi Lapide, Abbati Campidonensi"
dedisirt hat Der Titel, den ioh nach dem in diesem AngenDlicke vor
mir liegenden, der Münchner k. Bibliothek Lri li i-igen Originale abschreibe,
lautot: „Lamentatio | nes Hieremiae Prnjilu la»' | maxiuie higubribus vi
(juerulis cou | centibus musicis, decoro uudiquuque eruditissinie obserua \
to: compositae a daritsimis nostri secoli musicis: | Thoma CrequUone
Caesarci Chori Magistro. Jcliaiun' (lardano. Petro de 1 u Kuo Flandro.
Antonio Feuino. Claudio de Sermisy, Hegis Galliarum Sacelli Magistro.
Et aliu quodam incerto authore | MD. XMX — Tenor. — Noribergae
apud Johannem Montanimi et Vlricum Neuberum Musieos Calcographos.'*
Die AVttlieilung selbst hat die Uel)ersc}irift: Nvuieri i xcclletitivsijiii musioi
Petri de la Hue Flandri in lamentatiuues Uiereniie Prophute. (ich habe
sie in Partitnr gebracht.) F^s schreibt, man kenne wenig Motetten Ton
Deleme: «on na xmprimi, qu'un Salve Regina b voix datis le ciuatri^me
livre des Motetti de la Corona et un Lauda anima mea Dominum ega-
lement k 4 voix dan» le troisi^me volume de la collectiuii de motets
publice a Nnremberg en 1664." Bs ist noch mehr gedruckt, und zwar
im Libcr sehet, amf. ijxas rufijo mufrfns rurfivt: die schöne sochsstim-
mige Motette „Fater de coWü", im Secufuius totnus novi et insignis operis
mwiiei 1538 als No. 86 der Psalm ^ieta jurenhUu^K F^tts schreibt:
fhmmiin ekansons ä deiur opu» se tronvent dans la coUection intitul^
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Vm Vomda
(Wien 1R45, im Bnchlmndel leider vergriffen) ist eines der ge-
wisHcnluiltesten , gelehrtesten Bücher , ein wahrer Schatz für
Musikgeschichte, und dennoch ist dem trefflichen Schmid Seite
IHH das lächerliche Unglück passirt, die Ueherschrift des Liedes
Nr. .'iü im zweiten Theile der Forster'schen Sammlung ,,QMt«7Z*S
d. i. quivtpie rn<iini, für den Namen eines altdeutsclien Kompo-
nisten zu halten (das Lied ,,S() trinken wir alle" ist von Arnold
von Bruck*)), und S. 195 bei Besprechung der yySeledae har-
moinae de pussione Domini'''' nennt er einen gar nicht existiren-
den Johann Stoltzer fes heisst bei dem Stück No. XVIIL
Joannes Stoel , <1. i. Stahl, Becker S. 109 verbessert: Thomas
Stoltzer, wodurch der Irrthum fast noch ärger wird). So schreibt
unser braver alter Lexikograph Gerber in seinem neuen Ton-
künstlerlexikon 1. Band S. 128: ,,Fiore . . . ein älterer Contra-
punktist, von dem noch auf der churt". Hibliothek zu München
aufbehalten werden Mott ffi a 4 rf/c/, Luydinii 1532 — 1539 ohne
Angabe seines Voniahniens" und lässt sich nicht träumen, dass
Moletti del fiore 8o viel iunäst als ,,BIumeninotetteu^' (sie ont-
Bioinia gallica lattna «to. Diese ,fiiie1irere weltlichen sweisiimmigen
Lieder" sind ein dreistimmiges INIiserere mit dem Canon ,,Trinus et unus",
das im ersten Theil als No. LXXVU steht. Von den ^prachtvollen Messen
des P. de hl Kue in der Ambraaer Sammlung weiss letis nichts; es sind
dannitdr einige, die sonst nirgends TOrkominen, als: de S. Anna, Inviolata,
de S. Job, eine vierstimmige sup. Ave Maria; femer kommt hervor,
dass die Messe .sab tuum praesidiom", die in Grapheus' Missae tredecim
im Altheft mit de )a Rn«*s Namen beEeiehnet, in den drei anderen Stimmen
aber mit „Jo-stjuin" überschrieben ist, daher fttr Josqvin'B Arbeit gilt
(F^tis 2. Bd. S. 480. Sehmid a. a. O. S. 1H;J). in der Thnt von V. .b« la
Rue herrülui. Und dennoch ist jener Fetis'sche Artikel treff-
lich und ich ))(;kenne dankbar, dass ich viel daraus f^elernt.
Fetis sagt bei Bespiecliung Ki)nrad Paubnnim's: ,.je no sais oü Kiese-
wetter a pris c^ue i'aulinaun a iuveutü la tabiuturc de luth.^' Nun, die
Sache Stent gross und breit in Martin Agrioola's Musiea instrumentalis:
„da.s jhre tabelthur ri luiiden sei, von einem lautenschläger blind gebom."
ich habe im Laufe d<-^ lJundes einigemal solche Enata verbessert; aber
nicht um Ft^tis zu di.scruditiren, denn ich blicke zu seiner üelehrsanikeit
Terehrend empor, nicht auf ihn herab. Damit ist flhrigens nicht ge-
meint, dass ich auch seine Kunstansicbteii theile.
*) Dan Lied findet sieh mit Armjld's Xumen in Forster's Sammltnig
5. Theil No. XVI. noch einmal (der Grund ist, weil das Lied an Theo-
dorich Schwärt?, gerichtet war, nnd der 5. Theil ihm oder seinem gleich-
namigen Solme gewidmet ist) und in b n „Sflltllnen auserlesenen Liedern
des liochberümpten Heinrici Finckens" als No. 45 vor. Letztere Samm-
lung enthält nämlicb auch Gesänge von Arnold von Bruck, L. Sentl,
ein Lied von Stephan Mahn und mehrere mit I. S. (incertus symphonista?)
bezeichnete. — Die LOsung dieses IMonogramni'^ I. S. ist nicht: Tiieerti
s^mpUouistae: sondern J.... (wulu'ächeiuiich Juhauu) ächeuhiuger. [ILade].
«
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halten Stücke Ton Arcadelt, Berghem u. B. w.)*). Wer also
Mücken seihen will (eine Beschäftigung, die sich schon nach
dem evangelischen Sprache gerne dem „Kameelverechluckeu"
gesellt, dem Nicbtmcrken grosser Verstösse), wird überall Stoff
vollauf finden; nur bilde er sich nicht ein , er habe mit seinem
Mttckenfange eine Ueldenthat vollbracht und sei ein Herakles
i^ig^ia xa%ayo)Vi'^6fitvo? gewesen!
Aber ich habe ja versprochen keinen Protest gegen künftige
Angriffe einzulegen; schnell denn zurück zur Uanptsache!
gegenwärtige zweite Band steht mit dem, will's Oott,
künftig an Yeitfffentlicbenden dritten in so innigem Zusammenhange,
dass es mir nothwendig scheint dem Leser Uber den Ideengang
nnd Inhalt des letzteren schon jetzt Rechenschaft abzulegen, ja
es war ursprünglich meines werthen Verlegers und mein eigener
Plan, die Abtheilung meines Werkes, die jetzt den dritten
Band bilden wird, als aweite Abtheilang des sweiten Bandes in
die Welt in schicken.
Es wird vielleicht nicht unwillkommen sein, wenn ich hier
sogleich sein Programm, seinen Kernpunkt insbesondere be-
tone. Wenn dieses Programm sogleich euie Art KriegserklVrong
gegen Ansichten ist, die wie es scheint onaosrottbar Woisel ge-
schlagen haben, ond man mir solches ttbel nhnmt, so kann ich
nnr sagen: „masis tmiea veritasi** Der dritte Band soll die
grosse Zeit umfassen, wo der aus dem Gregorianischen Gksange
(wie ein reiehversweigter Baum voll Blitter, Blflte und Frucht
aus dem Samenkome) aufgesprosste kunstvolle polyphone Tonsats
herrschte, die klassische Zeit der kirchliehen Musik: die Epoche,
die man mit Johannes Okegkem so beginnen pflegt, und als
deren Vollendung und Absehluss Palestrina erscheint, die Zeit
von (in runden Zahlen) 1450 bis 1600. Ich muss hier einen
Blick in meinen eigenen Bildungsgang thun lassen. Ehe ieh
mich in diese Kunstperiode eingehend vertiefte, betete ich
natürlich noch, wie man mir von Jugend an vorgebetet: ,,sehwer^
fiilliger, geschmaeklpser Stjrl, geistlose NiederlftnderkUnstelei
u. 8. w."
Nicht ohne Bewegung kann ieh an den Moment zurück-
denken, wo ich zuerst Josqnin's Messen in den beiden Ausgaben
*) Mot. de la Corona, dcl Fnitto, del Fion n. a. UL Titel za be-
quemer Bezeichnung der Sammluugen.
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X
Petrnccrs (1503 und 1514)*) in die Hinde bekam, wo ich Ho-
brecht, Ghiselin, Loyset Comp^re, Pierre de la Rue, Heinrich
Isaak, Heinrich Finck, Ludwig Senfl, Adrian Willaert, Gombert,
Arcadelt, Goudimel , kurz wo ich die Vorpalestriner (ich bilde
dies Wort nach der Analogie der Präraphaeliten in der G^chichte
der Malerei) gründlich kennen lernte. Mein werther Lands-
mann, Joseph Ftihrich, hat «of anderem Kunstgebiete einen
ähnlichen Moment erlebt, den er in seiner Selbstbiographie er-
zählt. Mit den akademischen Traditionen genährt, hatte er ttber
Albrecht Dürer Urtheile gehört und gelesen wie z. B.: „wenn
auch seine steifen Erfindungen und altvaterischen Ideen dem
gebildeten Geschmacke unserer Zeit nicht mehr behagen können,
so verdiene doch seine feine, fleissige Nadel als Kupferstecher
Aufmerksamkeit u. s. w." Nun bekam der damals noch junge
Künstler einmal Dürer's Kupferstiche und Holzschnitte in die
Hand. „Ich sah", erzählt er, ,,ich sah wieder; ich traute meinen
Augen nicht : eine bisher unbekannte Welt ging hier vor meinen
Blicken auf. Das also war die Kunst in ihrer Kindheit,
die Kunst in der Wiege» die lallende, unmündige, un-
beholfene, kindisch- geschmacklose Gedanken in roher,
barbarischer Form darstellende Kunst eines ungebil-
deten Zeitalters? Mein erstes Gefühl war ein Gemisch
von Zorn und tiefer Rührung"**). Auch ich empfand „ein
Gemisch von Zorn und Rührung". Vor allem nah ich, dass die
Kunst nicht erst mit Palestrina anfange, dass Palestrina vielmehr
jene herrliclie Kunstzeit herrlichst abschliesse, ganz so wie
Raphael die Malerkuust seiner Vorgänger krönt und schliesst,
jener Vorgänger, deren Werke man zur Zeit der ConnoisKeurs mit
Perrücke und Haarbeutel des Platzes nicht werth hielt, den sie
auf Wand und Tafel einnahmen. Ich sah, dass all' das Gerede
über „Ausartung der Kunst" entweder von der Trägheit, die
sich nicht die Mühe nimmt die Sache kennen zu lernen, oder
von falschem Vertrauen auf eine Autorität (wie sich s. B. selbst
♦) Und noch eine dritte, F^'tis und BecktT iiiilxkajuit gebliebene
Edition, die 1526 zu Rom erschien. Dem Basshefte ist beisedruckt: «Hoc
M»U8 impreasam est expensis JaeobT Junte Florentini Biuiopole inUrbe
Itoma ex arte et industna eximior. impressor. Johani» Jaoobt Fasoti Monti-
chiensis Parrncnsis Dioceseos et Valorii Dorich Sheidensis Brixiensis
Dioceseos Auno domini MDXXVl tnense Martii ' (im 2. Buche Junii,
im dritten Aup^sti.)
**) Siehe Föhrioh's Selbstbiographie im Taschenbaohe Libossa für das
J. im S. 335.
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Vorrede.
II
Ranke ia 8«hieii „FSpsten** von Balm bat lireleiten lasBon)
herrOhrt, dasa die alten, itets abgeschriebenen „Zengnisse" Ar
diese sogenannte Entartung iheils Anklagen waren, die von
firOmmelnder Befangenheit*) erhoben wurden, theils das Wesen
der Saehe gar mcht bertthren, oder geradem ungerecht sind.
Ich sah die Misaa Papae MareeHU und verglich sie mit den
Messen der VorgSnger Palestiina's und ich werde Jedem sehr
dankbar sein, der mir bestimmt und deutlich seigt,
wo denn darin die „Beform**, wo der „neue Styl", das
„Horgenroth einer neuen Zeit*' eigentlich sn finden ist.
Ich hielt die Hessen Noe noe, de &. Vu ijuie, ave ngina**) von
Areadelt, die Messen AM /Bto, de me$ etmuus und U bim qtie
fai Ton Goudimel aur vergleichenden Probe neben die Marcellus-
mesae und konnte weder in der Factor noch sonst einen nennens-
werthen Unterschied erkennen. Ich fand bei den Vorgängern
denselben Styl in kaum merklich alterihtUnlicherer FSrhung;
ich fand, dass Palestrina weder die canonischen Nachahmungen
▼ermieden (gleich im Kyrie sind die BXsse canonisch oK'imuoNO
geftlhrt) noch etwa der VerstSndlichkeit dee Textes su Liebe
dem kunstvollen Stimmgeflechte entsagt habe. Die fanxbourdon*
artigen Episoden, welche neu schonen kannten, konmien in
*) Es jjab Zeloten, diu alle Musik als frivol verwarten. Eine mork-
wflrdige Stelle enthält Johannes ütto's Vorrede des Secundus Tomus
novi operis musici: „Qoidam laudatisHimae arti ideu iniqaiores sunt, quasi
ad volujjtatrtn tantwn cotnpnrata sit." So schrieb Otto schon 1538 und
vertheidi^t die gottesdienstlitihe Muaik. Weuii man aber die tolle Schil-
denmg einer mehrstimmigen Monk ans dem tollen Bflohlein Agriupa's
von Nettesheim ,^e vanitate omniom scientiarum" als vollgiltiges Zeug-
niss emsthaft citirt, wie z. B. Winterfeld thut, so ist das geradezu unver-
zeihlich i Und kann man glauben, der Gesang einer Kapelle, die aus den
ersten Kfiottleni der Welt Eusammengesetzt war, habe geUung^ wie
ein nS&^^USporcelli!^ plcnus"?! Diese bei lialuz mitgothi ilto, stets citirte
AeoBaerung des Cardinais Capranica war dem Papste gegenüber eine
ünschicklicbkeit und beweist höchstens, dass S. Emiucns so wenig ver-
standen wie jener Scythenkßnig, der das Wiehern seines Pferdes dem
Qesang einer berühmten frriff liischen Künstlerin vorzuziehen erklärte.
**) Fetis (Biogr. univ. 1. Bd. S. 127 ad v. Areadelt) satft von der
Anigabe dieser Messen bei Adr. le Boy mid Bobert Ballard lo67: „vprb»
ces messes, on en trouve uno de .Tcnn Mouton et une autre d'Andrö de
Silva." Diese Angabe ist unrichtig, wie ich nach dem mir vorliegenden,
dem prager Museum gehörifjen Originale ersehe, dagegen der wahre Sach-
veriialt, dass die Messe „Noe, Noe" übST das Motiv einer \\ i ihnachts-
cantate von Mouton (leider habe ich versäumt zu vergleichen, ob t < die
in den Mot. della Corona 2. Buch fol. 23 gedruckte ist) compouirt wor-
dsn, so wie die Messe Ave Begina naoh einer Motette Ton Adr. de Silva,
wie auf dem Titel ausdrücklich bemerkt ist.
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Vorrede.
glc'ulier Art bei Goudimel, was sage ich, sie kommon schon im
(iloria dt»r Messe „dung aiUtre amer" von Josquin vor. Gegen
(Jas intricatc Stimmgewebo alter Messen, wie Isaak^s „o praeclara",
V. de la Jiue's Missa de S. Crttce, gegen Josqiiin's Messe Gaude-
amus, K^'^?^" Sj)ielen mit Mutiven, wolclies z. B. manchen
Sätzen der Herculcsiiiesse von Lupus in der Notining das An-
seilen einer gemusterten Tapete gibt, ist hier allerdings Einfach-
heit , Durchsichtigkeit; aber dieser ruhigere, massvollere Styl
ist keine neue, oppositionelle Richtung (wie z. B. GlucVs drama-
tische Oper gegen die Melsche Luxusoper war), er hat sich im
Lauf der Zeiten in ganz naturgeniässer Entwickelung heraus-
gebildet, und l'alestriua verhält sich zu seinem Lehrer Goudimel
genau wie sich der Raphael der ersten Periode, der Raphael
des Sposalizio und der Disputa, zu seinem Lehrer Perugino vor-
hält*). Das Entzücken des Papstes und der Cardiuäle über die
„neue, wahre Kirchenmusik" war nur die offizielle Anerkennung
eines Styles, der in fortgesetzter und gesteigerter Kunstübung
von selbst emporgeblüt war, wie die Blume aus der Knospe.
Es ist ein grosses Unglück für die Musikgeschichte, dass man
bis heut, missverstandenen Zeugnissen zu Liebe, zwischen der
Mvisa Papae Marcelli und aller älteren Musik eine chinesische
Mauer zieht, durch welche nicht einmal ein Verbindungspfdrtchen
führt. Wenn in der päpstlichen Kapelle die ältere Musik all-
mälig ausser Gebrauch kam (allniälig, denn noch 1587 bedurfte
es eines päpstlichen Befehls, um den Widerstand der Sänger zu
brechen, welche die von ihnen mit Recht hochgeschätzten Lamen-
tationen des Oar^eutraB**^ nicht gegen die, allerdings unsäglich
*) Die Analogie geht sogar in ein fast spielendes Detail. £s ist be-
kMmt, cUn Raphael ein Bild Mine« Lehrers Pemgino, die Vermlhlong
Maria*«! das dieser für den Dom sa Perugia gemalt, in seinem Sposalizio
(jetzt in der Brera) frei wiederholte oder vielmehr umschuf So hat Pa-
lestrina in seiner Missa brevis (die man in der Proske'schen Sammlung
einsehen mag), wie schon Baini richtig bemerkt, die Messe seines Lehrer«
Goudimel „Audi filia" nmgeschaffcn. ({(nulimers Glesse fjehört zu den
musikahsclicn Seltenheiten, sie ist lö5b bei Adrian Le Koy und Rob.
BaUard gedruckt worden. Ich habe ne darnach in Partitnr gebradit.
Wenn aber Baini meint, dass erst bei Palestriria etwas aus der Sac^e
geworden, BO ist das entweder Blindheit oder niclit zu entschuldigende
Ungerechtigkeit. Ooudimcrs Messe ist von wunderbarer, zarter Schön-
heit, and seielmet Paleitrina manchen Contour (gleich im Kyrie) feiner
aus, 90 enthält doch seine Messe nicht eben vieles, das Goudimel's un-
vergleichlich gesangvollem und innigem Tiio «Et reaorrezit (von den
Worten „et iterum" an) gleichstünde.
**) Fetis kennt, eingestanden ermassen, nur den ersten Absatz und
hfttte folgUoh vorsichtiger nrtheilen aoUen. Gleich die Abtheilung Beth
I
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Vorrede.
xm
•ell5nen, Palestrina's vortansclion wollten) und wenn Palostrina's
Wirken in diesem Sinne refuiniatorisch war, wenn die alten
Musikcodices fortan nicht mehr aufs Pult kamen, sondern nur
noch von Bücherwünnern und Musikarchäologen aufgesucht wurden,
(nur mit dem Unterschiede, dass man eisteren mit dem Zutritte
nicht 80 grosse Schwierigkeitfii inmlit wie den andern): so ist
das eine analoge Erscheinung, wie wenn Julius TT. in den Vati-
cansälen die Wandbilder alter Meister herunterschlagen Hess, um
fiir seinen Raphael Kaum zu scliafl'en, woraus nicht folgt, dass
Jene alteren Kunstwerke Sudeleien gewesen. Ich arbeitete mich
durch die Geschichte des Tridentiner f'oncils von I'allavicini und
von Fra T^aohi Sarpi dnreh iiiul fand, was Baini hei aller seiner
Vergötterung Palestriua's mit iehrenwerther Wnlnlieitsliebe zught,
dass die Kettung" der Musik durch Palestrina eine jener Mvflien
Bei, von denen man sagen kann: ,,viel Irrthum und ein Körn-
chen Wahrheit". Ich fand, dass die Zeit unmittelbar nach
Palestrina dasselbe Schauspiel zeigt, wie nach jedem höchsten
Idealisten (z. B. in der Malerei nach Kaphael Sanzio): es komnien
die Manieristen zu Schaaren, ein leerer äusserlicher Tdealisunis
soll den fehlenden inneren Gehalt ersetzen, der Styl wird stellen-
weise unruliig und gewaltsam, oder man will die grossen Vor-
gänger durch eolossale Häufung der Mittel Uberbieten (die Messen
fiir gehäufte Stiniuien, vier bis t"iiuf Chöre u. s. w., als Seiten-
stück der prunkenden Kirchenbauten und Kieseufresken aus den
Zeiten Urban VIII.). Aber schon 1600 erfolgte eine gewaltige
Wendung und lenkte die Musik auf eine neue Bahn.
Ueber die Zeit vor Palestrina herrschen die wunderlichsten
Vorstellungen. Man höre z. B. was Berlioz in seinem ä travers
chaiits sagt: ,,man vreiss, bis zu welchem (irade des Cynismns
und des Blödsinns (!) die alten Contrapunktisten es getrieben
haben, welche zu Themen ihrer sogenannten kirchlichen Com-
positionen Volkslieder nahmen, deren munterer und selbst obseö-
ner*) Text allgemein bekannt war, und die sie zur Grundlage
„Florans ploravit" würde ihm die TToborzengung Tenoheffl heben, hier
sei unendlich mehr als ein „lourd contrt puint".
*) Ich kenne ein einziges wirklich obscönes Lied, dessen Motiv zu
emer Messe ▼erarbeitet «iirde, and diese letitere gehört einem sehr
«ateri^eordneton , kaum freiiannten Tonsetzer an. Es ist die Messe „Bs
iolt em Mcgdlin holen wein" von Sampson, die sich gedruckt tindet im
„Opus decem missarum quatuor vocum in gratiam scholarum atque adoo
mnsici« 8tudio»omm ooUectum a Oeorffio Rhavvo, Musico et TypograpUo
Voitembeigeiisi (sol) ▲nno Domini MDXLI" beilftafig eine Sammlung,
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Vorred«.
ihres harmonischen Gewebes während des Gottesdienstes machten.
Man kennt die Messe Vhmnme arme." Berlioz scheint diese Messe
fiii: d;is Aljtha und Oincpa der „alten Tonkunst" zn halten, sie,
die nie gescliaute, flattert vor seiner Phantasie hemm, wie irgend
ein ahontenerliclier, fahelhaft hässlicher Pterodnktylus der Vor-
welt. Berlioz scheint zu frlauhcn (und viele glauben es mit ihm),
dass diese Volksliedemiessen etwa so aussahen, wie man ein
Kyrie kurz und gut nach der Melodie ,, blühe liebes Veilchen"
sänge! Wie würden die Herren über den kirchlichen Geist, die
Weihe, die Grossartigkeit dieser vermeintlich ,, frivolen" Messen
und Kirchenstücke staunen. Josquin's herrliches, ja wohl herr-
lich es, aus den tiefsten Tiefen des Herzens, in reinster An-
dacht gesungenes „Stahat mater" hat in einem Codex zu Florenz
vom .Talnc 1180 und in der köstlichen, von Peutinger und Senf!
herausgegebenen Motettensammlung {Liber selectarum cantionum
quas vulfjo Middds ajjpdhntt) die Beischrift „Comme femme". Der
Tenor ist ein weltliches Lied dieses Textes; es tindet sich
weltlich behandelt von Alex. Agricola und von einem Un-
genannten in den Cauti cento cinquanta, und dieses Lied hat
sich ausgiebig genug bewiesen, dass darüber auch noch Pierre
de la Kue ein Stabat (liandschriftlich in Brüssel), Ludwig Senfl
seine rosenduftige Mariennintctte ,,Arc rosa sine sjnni.s" und
ITeinrich Isaak eine ganze Messe c(»ni[M)niren konnte. Wollt
ilir Herren über eint' Saclu^ oder Kunstrichtung abs])rechen, so
ist es ein billiges Verlangen, dass ihr sie frülier kennt. Ich
versichere: vor Uobrecht's ,,jba/i;ß crux", vor Josquin's ,^wcrerc".
die sieh weder bei Fetis noch bei Beeker erwähnt findet. Sie enthült
ausser Sampson's Messe, der dritten der Sammlung, noch folgende: Adieu
mei amotirs Ton Adam Rener, Niri Dominttt ron lAdw. Senfl, nne
Musque de Biseay (so) von Heinrich Isaak, Octavi Toni von Adam Rener
Leodicnsis (d. i. von Liittieh), Baisez moy von Petrus RoseUi, Missa Car-
minum von Heinrich Isaak, Missa brevis Vuinkcn ghy syt grüne von
Johann Stahel (Stahl, Stoel), Missa Dominicnlis von Adam Rener, missa de
Feriii von Pi]>elare. Sami'son hat jenes ,.Wein holende Miidchen" auch
als weltliches Lied gcset/.t, man findet es in Forsters tSammlvmg, 2. Theil
No I (mir liegt die Ausgabe von 1565 vor). Ob der Schlnn des „baises
moy" (weltlich von Josquin in Tybnan Susato's Sammlung „Chanacms*^
7. Bucli fol. XH) nicht auf eine ]>e(ienkliclie Schelmerei hinausläuft, wage
ich weder zu bejahen noch zu verneinen. Der Sinn des Textes ist mir,
geatebe ieb, niebt dentlicb. Wiridicb böobst obsofine, aber weltHcbe
Liciler enthält die grosse bei Pierre Attaignnnt IMO u. s. w. erschienene
Sammlung „Chansons n<»vvelles a quatre parties,'' elegant und geistreich
erzählte Anekdoten mit sehr witzigen, aber auch überaus frivolen Pointen.
Es tbilt mir leid, dass selbst Männer, wie Manchicourt, Certon, Janne-
qnin n. s. w., ibre Kunst an diese Frivolitäten Tersobwendet baben.
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Vorrede.
XV
▼or Pierre's de U Bae „SaUaam kotHaf*^ und anderen Werken
jener ,3^dheit der Kunst" bieehen eure phantastiselien, druna-
tisehen tu s. w. Biesensymphonien, eure Biesenopem und Biesen-
cantaten wie KartenliXuser lasammen. Lernt die alten Meister
erst begreifen, dann werdet ihr sie verehren!
Und 80 ist es denn anch wahrhaft beluBti^oud i. B. ge-
legenüieh Ausspruche su lesen, wie: dass Josquin in seinen
Weisen „eine gewisse Genialität der Erfindung belsunde", eine
gewisse OenialitXt; hac gaUa contenius ahUol Und weiter in der-
selben Abhandlung: „so sehr aber auch einselne dieser MKnner
mit Eifer und Qeschick die Husilc fortbildeten, mehr als
historischen Werth**) können nur sehr wenige ihrer
Oompositionen beanspruchen". Man kennt jene altügyp-
tisehe Daistellung, wie der Pharao ein Dutaend Gefangener mit
dnem grossen Generalhieb abschlachtet; aber das ist eine wahre
Kinderei gegen die Heldenthat alle jene alten Meister mit einem
Worte absnfertigen und ihre Werke in die „historische" Bumpel-
kammer lu werfen. Wer den Ctflner Dom oder den Genter
Altar nur noch „historisch** interessant fitnde, weil ersterer nicht
aussieht wie ein Glaspalast lu Industrieausstellungen und letzterer
nicht wie mn Salonbild von Winterhalter, würde sich unsterblich
blamirenl Jene TonsStse kennen aber wirklich an gothische
Dome erinnern« Wie in diesen die ganze strenge Speculation der
mittelalterlichen Scholastik mit aller Seelentiefe, allem Henens-
anfechwunge der mittelalterlichen Mystik ein wunderbares Bttndniss
schliesst, wie dem gansen Bau irgend eine mathematisch durch
den Verstand berechenbare Formel su Grunde liegt, die in allen
seinen Theilen, im Grossen wie im Kleinen, ihren Ausdruck
findet, selbst die reiche Fttlle des anscheinend so Tttllig phan-
tastischen Zierwerks hervorruft, das Alles susammen aber den
Geist emporführt lu Ahnungen des Hdchsten: so t5nt etwas gans
Wanderbares, etwas Ueberirdisches aus diesen aus irgend einer
klmnen Formel (Thema) aufgebauten Tonsttaen, und jener wunder-
sam erweiterte Schluss, den ich den „Josquin'schen Sehnsuchts-
blick" nenne, mahnt mich immer an die Kreusblume, die sich
an der bSchsten Spitze des Baues dem Himmel entgegen auf-
*) In der Missa de S. Anna, (für den Moment der Wandlung.
**) Wenn ich recht verstehe, so ist „nur noch historiadi werthvoll"
dies (liisjonige, was man nicht mehr wagen darf einem verehrliohen
Bobilicum aui^s Uoocertprugramm zu Belsen.
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XVI Yorreda
blättert, in welche der Bau gleichsam RehnBiichtsvoll ausklitifi^
Der pllantasti^c■he Zug^ nher ist es denn auch, der in den so-
genannten „Künsten" der Niederländer sein Geponhild findet.
Diese Canons ,,rrt/^rriza" (singe alle Noten von rückwärts, nach
vorn), „C/ama ne ces,sts'^ (lass alle Pausen weg). „AVie geistlos,
wie kindisch"! ruft man. Die eigentliche Bedeutung ahnt man
gar nicht: dass ein Canto fermo, nachdem er in einer gewissen
Gestalt aufgetreten, durch solche Motti tur den folgenden Satz
eine ganz neue (lestalt, eine neue Bedeutung gewinnt, den AVeg
zu neuen Condiinationen bahnt. Glänzende Beispiele enthält
Josquin's Mes.se Vhmnnie arme suj er voces tnu.sicahSj Hobrecht's
Messe y^Fürtiina'' und Missa (hddoyum. Zuweilen enthält das
Motto irgend eine wahrhalt sinnige Beziehung, wie das ^^Erunt
duo in canie ?/;/«" in der Iloch/.eitsniotette „^«i invatit midierem
feonam" von Jak. Buus, wie das ..qiii se exaJiat humilinhitur"' und
„qtti se humiliat t\r(dt<d>itiir'^ in Christian llollander's ^ySaidus cum
Her facereV" *) oder das ,,Crescite et miiUijdicannin^^ in Jos<|iiin*8
Com})osition des achten Psalms**). Das fein berechnete Zn-
sainuK'nsingen unter verschiedenen Zeichen, die oft wundersam
conibinirt ineinandergreifende Notenfilgung mahnen an die kunst-
vollen Constructionsprol)lenie unserer alten Domliaumcister. Mag
manches Spielerei sein, nur grosse geistige Kräfte können so
sjiielen***). Manches in diesen Satzkiiusten ist aber auch nur
wieder Symptom , dass die Kunst jener Zeiten auf die Knt-
wickelungsstnfe gelangt war, wo sie sich, gleichsam um das
lyiass der erlangten Kraft zu piiilen, eigenthümlich schwierige
Aufgaben stellte, welche in dieses «»der jenes Werk hineingezogen
wurden, obwohl sie nicht notliNs endig damit in Verbindung ge-
setzt zu werden brauchten. Es ist diese Zwischenstufe auch
Wühl in der Geschichte der anderen Künste auzutruÜ'cn. AVer
*) ÄTnn sehe diese Motetten bei Commer 4. Bd. S. .34 tmd 8. Bd. S. 78.
**) A. a. (). 7. Bd. S. .'U. Der altf .\btlnuk in Psalmor. selec-
torum etc. Noribcrgau ex ufhcina Joauuiii Montaui et Ulrid Keuber. Iaö3.
Tom. I. No. 7.
***) Idk verkenne nicht, dass diese Kümfc zuurilin in Kümtclei aus-
arfetryt, so trie ich f<rlhi<trrrsfmitUirh mir nicht im Traume einfallen lai<He
zu behaupten, Jede alte Mnnik Hci dc8uc(jen auch schon gut. Es Iiat zu
allen Zeiten Mittelffut und auch Verfehltes genug gegeben. Gerade die
gröfiscstrn Geister, J(>s(pii7i, llolnecht, haben zuweilrn verzuirktr orlcr
frockene Sätze geschrieben. Es ist wieder eine Art Analogie, wenn Hübsch
(neben Bfitticher der geistvollste Gegner der Oothik) tadelt, „dass die
Steinmetzen den Kunttitüeken im Behauen det Steine$ im groesm ^'el-
raum
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Vorrede.
xvn
Mantcgna's Wandmalereien bei den Eremitanern in Pa<lua kennt
(an denen bekanntlich (loethe so viel Freude fand), wird Hich
erinnern, wie der Meister bei jeder der darjjcstcllten Scenen
aiis^icr dtT deutlichen Schilderung der Begebenheit sich irgend
ein rroblem eines besonderen perspektivischen Augenpunktt!%
u. dgl. stellt. So soll Mantegna's todter Christus (in der Brera
zu Mailand) der Hauptbestininiung des Werkes nach rührend an
den Erlösungstod erinnern, zugleich ist es aber ein bis dahin
unerhörtes Kunststück von Verkürzung. Die geistigen (irund-
z'n^i' einer Zeitepoche sprechen sich eben in allen ihren Pro-
duktionen aus. Burkhardt redet in seinem Cicerone (S.
von dem ,, phantastischen Zuge, der durch das 15. Jahrhundert
geht". Diesem Zuge begegnen wir ja eben auch in der gleich-
zeitigen Musik, selbst bis in die kleineu Kunstwerke der Lieder
der Canti ceiäo cinquavfa u. s. w. hinein; der Styl der Kunst-
epochc spricht sich in ihnen aus, wie der Styl der Gothik, der
Renaissance bis in den Leuchter, das Salztass und den Becher
nachwirkte. Nur ist es grundfalsch, wie man zuweilen hört, zu
glauben, dass die Künstler den Unterschied der specifischon Auf-
gabe nicht gekannt*), dass ihre Lieder wie geistliche Musik
klingen. Bcilioz meinte: Palestrina habe seine Taf«'Hieder (V?)
genau so coniponirt, wie seine Messen, und entschiildi^jt es halb
spöttisch, liallt mitleidig mit der ,,Kindlieit der Kunst". Aber
man sehe docli .Ins(juin's geistvolle, ernste und heitere weltliche
Lieder mit iliier feinen Berücksichtigung des Textes; man sehe
die Lieder des liebenswürdigen Ijoyset Compere, in denen der
lugirte Styl geradezu graziös scherzt und die Stimmen einen»
leichten Blumengeflecht gleichen (wie mituntei- itoi Sei». Bach);
man hnlte lsnak*s tief empfundene erz- und lu r/deiitsche Lieder
neben seine Motetten, die J^ieder des maiudiaftcn Heinricli Finck
neben seine Hymnen! Ks ist übrigens doch wohl keine blosse
Grille der Aesthetiker, wenn sie, wie Kiesewetter (S, 54) mit
leisem Tadel bemerkt, ,,die Künste als eine schöne Kunst um-
fassen wollen". Man darf unhedenklicli noch weiter gidien und
für sie sogar mich den ganzen Zi'it^reist überhau]»t postulinn.
Paleatriiia gehört noch iu da» Zeitalter Leo des Zehnten, ob-
*) Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie z, B. Josquin de Pr^s das von
ihm geistlich und weltlich verwerthcte Lied Una mttaflM de Biscaua
anders behandelt, wo er es Sil einer Messe nimmt, und anderB als wcit-
lichet Gesani^sstOok.
xvm
Vorrede.
wohl er^ noch Knabe war, ab dieser kunstliebeiide Papat starb.
Aber ich wttssfce die anscheinende VeispXtang nnr durch ein
Natorbild an erkliren: wer je am Heeresstrande gestanden, wird
sich erinnern, wie dem Schanmkreise, den das Meer an das Üfer
schlendert, in Sekundenfrist ein aweiter folgt Die Physik lehrt
nns, beide seien das Prodnkt einer nnd derselben Strömung,
aber die nnglmche Dimension der Wellen Tenusache das nn-
gleiehe Eintroffen. Die Mnsik ist nun Jener sweite Schaumkreis,
den dieselbe geistige Strömung trmbt, aber der um Sekundenfrist
(was sind in der Oeechichte fün&ig Jahre?) spSter eintrifft Des-
wegen ist die Uusik doch keine Nachaflglerin, keine Verspittete,
die fremd in yerSnderte Zeiten hineingerttth. Kiesewetter meint,
die Musik habe „ihre grOsste Vollkommenheit erst spSt in einer
Periode erreicht, die man eben nicht als das goldene Zeitalter
der Poesie, der Maleroi, der Baukunst u. s. w. an beaeichnen
pflegt." Nimmt Kiesewetter als ReprXsentanten jener „grdssten
VolULommenheit** etwa Palestrina an, so liegt die Antwort schon
im vorhin Bemerkten; Übrigens hat der .alte Michel Angelo Buo-
narotti Palestrina's bewunderte Improperien, dessen Messe ut re
mt /a, seine frttheron Motetten u. s. w. noch gehSrt, und er hXtte
nur um ein Jahr länger zu leben gebraucht (er starb am 18. Fe-
bruar 1564), um am 28. April 1565 jener berühmten ersten
Aufiflihmng der Mareellusmesse, die in der Sixtina Angesichts
seiner Propheten und Sibyllen und seines Weltgerichtes statt-
fand, beiwohnen su kutanen. Wenn aber Kiesewetter unter der
„goldenen Zeit der Musik" die Zeit Mosart's und Haydn*s ver-
steht (er deutet es nicht nfiher an), so dttrfen wir nicht vergessen,
dass sie freilich nicht mit der Zeit der Kunstblttte Italiens xn-
sammenfiel, wohl aber mit der Zeit Schiller's und Ooethe's, Lessing*s
und Winkelmann's. Man preist die Kunstblfite der neapolitaner
Schule, welche ihre schönsten Triumphe auf der OpembUhne
feierte. Nun denn: sieht diese Oper mit ihron etikettenrnSssig
(auch in der Musik) gemassregelten Leidenschaften, mit ihrem
eiteln Qeltendmachen der Persönlichkeit, mit ihrem unsinnigen
Prunk und ihrer tollen Ausstattungs-Verschwendung, diese Oper,
welche die Biesengestalten des Alterthums von Verschnittenen
agiren und den Heldenmuth eines Achill oder Alezander nch in
*) Nach Ciccrchia's neuen Bntdecininprcn ist 1514 das wahre Geburts-
jahr Palestrijia's. Sein Familienname war Sante. Er ist also porrar auch
liaphaers NamcusveUer, da dieser eigentiiuh uicht „Sauzio ", sundem
Santi hienl
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Vorrede.
XIX
einer KMtratenkeble «iistnlleni UesB» nielit im alleibedenklicluteii
ZasAmmenhange mit dem Leben der damaligen Grossen? Mahnen
die^e endloseii Arien mit dem unbarmhenigen da Capo ol fme
niekt an die breitspurige Weitlftnfigkeit des damaligen diploma-
tisehea Sty^lea» ist dieses langaihmige Colenitiirgeschnörkel nicbt
daa G^^genbUd der bordirten brodiiten Oallakleider, des Locken-
geringela der AUongepertteken, bei aller SkalÜiokkdt iKcher'
lieh und bei aller LVoherliehkeit stattlich? Man wende nicht
Sebastian Bach ein! Humboldt braucht irgendwo den sehSnen
Ausdruck: das atete kiiftige Grttn der Nadelwlüder sei dem
Kordlinder ein erfreuendes Zeichen des fortgltthenden Natur-
lebens, wo alles andere ringsum in Schnee und Iiis erstorben
iat So ist Bach eine Riesentanne oder Zeder, die fbrtgrttnte
im todten "Winter des Zeitalters und dem deutschen Volke
seigte, wie so treu, edel, gesund und kräftig sein innerster
Kern sei, in jener Zeit, wo die deutschen Throne mit Duodea-
copien des französischen Ludwig XIV. besetat waren, wo firan-
iSrisehe Axt, Sprache und Tracht das deutsche Wesen tiber-
wucherte, wo Fraubasereien und Misere aller Arten sich breit
machten, TheologengeaVnk und Pietistengeseufz die einzigen
Laute waren, die man au hSren bekam. Nicht die erbttrmliche
Zeit — die unTerwUstliche Tüchtigkeit des deutschen Volkes
hat einen Seb. Bach hervorgebracht £s geschieht nichts gegen
^e wandellosen Gesetze der Natur: man pflückt im Dezember
keine Kirschen von den Bftnmen. Das reiche herrliche 15.
und 16. Säculum, dieser entzUckonde Cicisterfriililing hat denn
aoch wie billig seine reiche und herrliche Musik gehabt. Die
Presse war in Nürnberg, in Venedig, in Paris u* s. w. in vollster
Thätigkeit, Luat und Nachfrage gross, es ist eine ehrfurchtge«
bietende Literatur; sehe man, wenn nirgend anders, so wenigstens
bei C. F. Becker „die Tonwerke des XVI. und XVII. Jahr-
hunderte** nach, man wird staunen! Vieles ist verloren, bei
Vielem mag der Verlust endlich auch nicht zu beklagen sein,
aber noch sind reiche Schätze au heben. Einaelne, wie Commor,
wie Proske, haben das sehr wohl gewusst; aber noch fehlt der
alten Musik ihr Sulpiz Boisser^e, ihr Kumohr. Der alte bravo
Zelter hat uns Sebastian Bach gleichsam neu entdockt, Thibaut's
„Reinheit der Tonkunst" hat seit ihrem Erscheinen 1825 wenigstens
für Palestrina und seine Zeit entschieden gewirkt; die filteren
Heister harren bis beute der Erlösung. Baini hat hier viel auf
dem Oewisfl^n. Um seinen g<(tüichen Palestrina aum blauen
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Vorred©.
Meerwnnder m mftchen, stellt er alle seine YorgXnger als Dar-
baren hin, wXhrena er fttr Palestrina den gansen enthnnastischen
WindmÜhlenflügelstyl in Bewegung setit, dnich den jedem Ita-
liener die Biographie snm ^tElogio^* nrnschlltgt (wie s. B. ancb
Angeloni's Gnide von Aresso, Caffi's Gapitel über Zarlino be-
weist). 80 ftllt denn Batni Uber Joeqnin ein UiCheil, das schon
Gommer mit Recht „mehr als nngereeht, hart nnd verkehit^*
nennt. Stets werden von Josqnin nnr die kindisehen Anek-
datchen ans Glarean immer wieder nachersShlt, 1. B. die apokiyphe
Historie von dem Iß $ol fa r$ mt, wKhrend memand er^ithnt,
dasB gerade diese Messe ein Wunder musikalischer Kunst nnd
▼on wundeibarster Schönheit isf). Man wfthlt die Beispiele so
Abel wie möglich, Forkel yerdurbt eine Menge Blitter mit nn-
frnchtbaren Canons, ja mit der t^ocasa cantio regia Fm/ndat^ als
„Probe" Josquin^scher Kunst**), gerade als ob man um einen
grossen Maler su charakterisiren eine gelegentlich aum Scherae
fluchtig gezeichnete Fraise in Kupfer stechen lassen wollte!
Schon in Commer*s „CoUedio uperum mtuieomm Batwonm**
(Bd. 6, 7, 8 und 18) kann man Josquin anders kennen lernen,
jenen Meister, von dem Kiesewetter mit Recht sagt: „er gehöre
unter die grössten musikalischen Genies aller Zeiten" von dem der
geistreiche, edle Kunstfreund und Kunstkenner Johannes Otto
schon 1537 in der Vorrode des ytNovum et instgne opus mmi-
am** propheseit: Joequitmm eelebenrinmm arUa keroem
faeUe agwacent omMSt habet enim vere divinum et tni-
miiahile quiddam (das ist der Zug des Genius, den Otto
sehr wohl empfindet) neque haue laudm grata et eandida poste^
ritas ei vmdebiL Wie wttrde Otto staunen, wttsste er, dass
dn Sohn der „^oto ä Candida posterüaeF^^ dass der WMse
*) Icli (Ii Iii«', tlic Anekdote von dem Hofherm, der stets sagte „lasci
far mi, laisöcz faire moi" ist erst hinterdrein der Messe zu Liebe er-
dadit worden. Messen nach den Sofanisationisylben des Hauptthema
benannt waren nichts Unpewfihnliches. So Piorn 's do la Rne Messe
„Ulfa", Brunn l's Messe „L't re mi fa sol la"; de Orto's Messe ^jMi-mi"
u. s. w. Ich niuss bemerken, dass 183U ein gewisser Dr. Wilhelm Christian
Meyer ein Buch unter dem Titel „Binleitungen in die Wissenschaft der
Tonkunnt" litninsi^r^'clM-n , viu v5lh'p freist- und werthlosps Älachwerk,
unter dessen Beilajzeu sich ein Sat/. betindet, den er für das Kyrie aus
Jo8qnin*8 ,Jj8 sol m re mi'* ausgibt, der aber etwas total anderes ist
**) Ueberhaupt ist Forkel's Abtheilung über Josquin enischioilen
schlecht , du« Schleclittste in seiner ganzen Musikgeschichte. Wo Forkel
CS mit dem (Jenie zu thun hat, macht er seinerseits geistig Bankrott, wie
CS bei solchen Qottsched-Nioolai'acben Naturen picht anders sein kann.
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Vorrede.
Onlibicheff kurz und gut erklttrt hat: Josqmn sei gar kein
Musiker gewesen!
Es überfallt mich eine Art trüber Besorprniss, wenn ich mir
all' diese Werke in unser babylonisches, theils frivoles, theils
ungesund überspanntes Musiktreibon, in unsere Salons und Con-
ccrtsüle eingeführt denke. Würde man in ihnen grosse Denk-
male einer grossen Zeit erblicken, Zweige und Aeste am grossen
Bliitonbanme der Kultur, die uns noch innigst berühren, wie
wir mit Iktinos, Phidias und Sophokles, Dante und Giotto,
Raphael, Tusso und Shakespeare im geistigen Verbände stehen,
oder eben nur Curiosa, ,, historisches" Gerümpel, Objekte sou-
veraitun Auiüseineuts (culcr Ennuys) im Concertsaale ftlr acht
oder zehn Minuten? Muss man doch diese Geisterspracho vor
allem erst wieder verstehen lernen. Leute, die ihren Geschmack
an der leeren, l'rivolen Eletranz IVauzösischer Lifho^rraj)hien, oder
an der stahlharten, stalilglatten, .stahlkalten Sauberkeit englischer
Alliurnbilder gebildet, und nun mitten darunter auf dem Hilder-
tisch eines Salons All)r<'cht Dürer's Kupferstiche und Holzschnitte
fänden, würden schwerlich einen Eindruck erhalten wie die
Kiinstlerseele Fiihrich's. Lasst die Werke der alten hohen Meister
lieber in den Archiven und bildiotheken ruhen! Da geriith zu-
weilen Einer hinein wie der Wanderer in Uhland's Gedicht in
die „verlorene Kirche" mitten im wildverwachsenen Walde,
staunt der Herrlichkeit, sieht „geöffnet des Himmels Thore und
jede Hülle weggezogen."
Gerne möchte ich im dritten Bande den Weg zu jener ver-
lornen Kirche wenigstens einzelnen Wallern bahnen helfen!
Aus Erfahrung überzeugt, wie gefiihrlich es ist, die alten Meister
nach einzelnen auf gut Glück aufgegriffenen Proben zu be-
nrtheilen, suche ich mir so reiches Material wie möglich zu
schaffen. Freilich gleiche ich Einem, der die Antiken, Uber die
er sprechen will, sich in Pompeji eigenhändig aus der vulka-
nischen Asche ausgraben muss. Ich muss mir fast alles aus
alten Drucken, aus alten Handschriften erst in Partitur, aus
der alten Mensuralnotirung in die moderne Note umsetzen. Die
Liberalität der k. k. Hofbibliothek und der Gesellschuft der
Musikfreunde in Wien, der k. Bibliothek in München hat mich
dabei in einer Weise unterstützt, für die ich hier nur den
wärmsten Dank aussprechen kann, ohne die meine Arbeit gar
nicht möglich wäre.
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xxn
Vomde.
Der vierte Band mll die nramkaUsehe BeaaisBanee,^ die
EntotehuDg der Monodie, der Oper, des modernen Tonefitains,
die Glansseit der welüicben MasilL dafsteUen, mit der Zeit von
1600 beginnen nnd bis anf imsere Tage flibren. Aneb dafttr
liegt mir bereits reicbes Material vor. Gott gebe mir nur Kraft
nnd gönne mir Zeit das Begonnene an vollenden!
Prag, am 1. MJtn 1864.
W« Ambroa.
Bemerkungen
anr awelten Auflage dea sweiten Bandea.
Die Yontehende Vorrede zur ersten Auflage wurde unver-
kürzt in die zweite herUbergenommen, weil sie einen integrirenden
Tbeil des ganzen Werkes bildet und einen Einblick in die PlSne
und die Sebaffensweise des Autors gewäbrt Wie wenig die darin
ausgesprochenen WUnscbe und Hoffnungen in XhrfHUuug geben
sollten, ist bekannt Nur die ersten drei Binde Iconnte Ambros
selbst zu Ende führen, wSbrend die anm Tbeü druckfertig, zum
Tbeil in Fragmenten binterlassenen Kapitel zum vierten Bande
erst nach seinem am 29. Juni 1876 erfulgton Ableben von be-
rufener Hand geordnet und ergänzt wurden.
An der notbwendigen Revision und Redaction der vorliegen-
den sweiten Auflage des zwriten Bandes bat Herr Musikdirector
Otto Kade einen belangreicben Anibeil genommen, wofUr ibm
der anfbierksame Leser niebt minder dankbar sein vird ab
Leipzig, Ende Mai 1880.
der Verleger,
Meine Betheiligung an der Correctur au diesem zweiten
Bande, die wKlirend des Druckes eist erfolgte, begann mit dem
16. Bogen. Dieselbe erstreckt sich nur auf die Berichtigung
grober Druckfehler oder Verseben, ohne in den Text selbst
irgendwie einzugreifen. Nur wo wirkliebe Tbatsacben an be-
*) Renaissance, insoforne man in Opposition K^R^" die aus dem Gre-
Soriauischeu (iesangü eutbtHiuleue Musik plaumässig auf eine Restaurirung
er antiken Tonkunst ansgiug.
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Vorrede.
XXUI
richtigeii waren, habe ich diircli Abfindeningen oder kleine Zu-
slCtzc nachgeholfen. Diee triflH insbesondere eine Stelle auf
Seite 424, Anmerkung, wo die Citate ans Kiesewetter fast durch-
aas unzutreffend oder unsnlfin^lich waren. Besondere Sorgfalt
ist den Musikbeispielen sowohl den in den Text verflochtenen,
als auch den im Anhange beigegebenen zu Theil geworden,
deren Uebersichtlichkeit durch mancherlei Entstellungen wie z. B.
durch falsche Schlüssel, fehlende oder falsch angebrachte Vor-
seiehnang, durch anrichtige Untereinanderstellung der Stimmen ete.
seltr erschwert war. Namentlich sind sSmmtliche im Anhange
gegebenen TonstUcke einer sorgfältigen Vergleichnag mit der
Originalnotation oder mit den Qnellenwerken, ans denen sie ent-
lehnt sind, nochmals unterzogen worden, was zur Rectificimng
derselben nicht unwesentlich beigetragen hat. Gänzlich nen
musste die Lösung des auf Seite 480 angeführten „Kadels von
drei Stimmen'* gegeben werden, da der von Ambros angestellte
Versuch sich als su wenig sachlich erweisen wollte.
Schwerin, den 28. Mai IbSO.
O. Kade,
GiQMlMni«sl. HrnftÜMotar uS DMiMl
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Inhaltsverzeichniss des zweiten Bandes.
S«iU
Vorrede III
ErKtea Bneli. Die oraten Zeiten der iitiuon chrigtlichon
Welt und Kunst 3
Die SiiiKe^' l'ulen (Boholae cantorum) 12
Die vier autliciitischcii Kirchei.f ime 13
Dir Kir( h» ii im i )i i>M>t. Die Musik iu Byzauz .... 19
i\hisikiii>triiiiuMitc .... . 27
Der Crregorianische Gesang und seine Verbreitung 43
Die acnt Kirchentöne . 4b
Der vitüliaiii^ciic (leaang • . . . . 63
Die N<'unifii ■ ■ ■ . G9
Die Zeit der Karolinger » . 92
Die Sangerscliiile von 8t. Gallen. Die Sequenzen. . . 98
Das religir)Hc \'i>lkslied 113
Hucbalil von St. Alna 11(1 uml das Ür^^uiiuni . . . . l'J'i
Die Kirehentoiie und die antiken Tonarten . . . ■ . 120
Versuche eiinT Notenschrift 130
Das Ur^jaiiiiin lluchald'H l.'>.">
Guido von Arezzo und die Solmisation 144
Guido'a Tonaystem 151
Die „finprte^^ Musik 155
Dir V()(-aleii-Melodien ir>9
Das Oryamini (Tuiilo's . 163
Die y<>tensclii-it't auf Linien 166
Die Solmisation 170
Das Klavier . . . , , . , . , . . . . . , . 192
Die Orgel . . . . 203
Die niyatiBchc Symbolik der Tftne 211
Dift Trnii hadniirs und M instrela aiK
Der Ohatelain de Coucy 222
Gnucelm Faidit 226
Tltihaut von Xa\arra 227
Adam de la Haie 231
Die Bpnnischoi Trohadorea 232
Die Gcigcniiistruniente S(g38
Die Minnesinger 246
Die Meisten^ intrer 2r)9
Das zukünftige Musikantenthum 261
Das Volkslied 275
Die Musik ^Geistlicher Srlutusi)ielL' 298
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lulialtsverzcicliuiss. XXV
Seite
Zweites Buch. Die Entwickcl ung tlc3 mohrstiiiimitrcn
Ci L- s a II ^ e 8.
Der DiscHiitus und Fauxbourdon *. . . 309
DieMensuraliTiusik uiitl der cipctitliclic Cuiitrapuiikt 350
D"ie erste niodi-rlftiul ischc iSchulo 39t?
H. de Zeelandiii '. '. '. '. 7^ '. '. '. '. '. '. '. [ 4Ö5
pio \v<M te » i <' Moii s uraluot e 42 o
i)u- KiiiisU} ItÜ
Wilhelm Dufay i.^>3
Kgyd .Binchois 458
Vinceuz Faugues 460
Eloy . > • 4fi2
Antonius Busnois 1t>:j
llaynu 1<;7
Carontig 4f>H
Johainics Kepfis i '. ! '. '. '. '. '. '. '. '. i '. TTTH
Joliii DimstüMp 471
Staml lii f hiiij^o in Deutschlnnd 475
Klingt in Italii'ii 1^1
Zasätze und Nachträge ...... ÖÖÖ
Miif»ikhoilafjroii.
1. Chanson: Cent mille eseus zu 3 StiniDieti von SVilhelni Dufay . 2
2. Kyrie, Christ e und zweites Kyrie aus der ]Me^«se omnie arme zu
4 Stimmen von Wilhelm Dufay 4
3. Kyrie, Christe und zweites Kyrie atis der Messe <mime arme zu
4 Stimmen von Vineenz Fannuc« 11
4. Chanson: Je suis venut zu 3 Stimmen von Antonius Busnois 17
5. Chanson: De tous hiens zu 3 Stimmen von Heyne von ttizeghem -t>
6. Chanson: 0 rosa hella zu 3 Stimmen von .lean Dunstahlo . . 22
7. Kyrie aus der Messe omme arme zu 4 Stimmen von Firmin Caron 24
ERSTES BUCH.
Die Anfange
der
europäisch-abendländischen Mnsik.
AmhfB, G«okl«talt 4m Moilk. U.
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Erstes CapiteL
])i<} ersten Zeiten der neuen ebrisüichen Weit und Emt
T^ie Zeit der antiken Welt hatte sicli erfilllt, das Morf»^cnroth
der christlielieii Iciiciitote auf. Aus (Inn klt-ineii Palästina ciscliull
die frohe H«)ts< liatr' des ewitren licilcs. I)ic \ t'iv.wcit'i'he Weh
richtete »ich mit und ii»»r<'hte (h'r triistciKk n Stijiinie. \ er^ehciis
liesseu die Machtbaher das Blut der Märtyrer stromweisc liiesseiij
umsonst saebten Keuplatoniker und Theufgen durch mystisehe
Lehren und Wnnderthsten dem Heidenthum das Leben su fristen.
Das beilige Herdfeuer der Vesta erloseh, die Tempel vnirden ge-
schhisscn. Dafür erhohen sieh Basiliken, in denen das reine, un-
blutige Opfer des neuen Bundes (lar;x<'hraeht wurde.
In den allerersten Zeiten hatten Privatwohnungen, zur Zeit
der Verfnljruu'jen dunkle untiTirdiscIie P.'iiiiiie, die K afakomlM'u
oder sonst verhorpene Oerter. wrli-he eine siclu-re Zutlm lil Imtcu,
die neue ftenudude aufj^enoninieii. In diesen Käiunen töntiMi ziHTst
die Gelänge, womit diu erlübte Mensehheit dem einen walireu
Gotte ihren Dank darbrachte. In das Opfer dieser Gemeinde, fiir
welche es nicht Knecht nicht Freie, nicht Ghiechen nicht Bar-
baren gabf sondern nur Brüder, Kinder eines Vaters im Himmel,
schrie nicht die grelle Pfeife des Tibicen hinein. Diese in Glauben
und Liebe einigen Mensehen vereinten auch ihre Stimmen im
Zusammenklang frommer Gesänge. Ueher den (irabem der hin-
geojifeiien Blutzeugen tönten ihre ersten aus dem ller/en driniren-
deu Hymnen. Das religiös gehobene (Jemiitli lieht es, seine \\m-
j»iindungen im(Jt'saugt' austöucn zu lassen, fiir das in Worten uieht
Auszubpreeheude die Klänge der Musik in s xMittel zu nifen. L eber-
dies n^m der neue Bund, wie in Lehre und Gebrauch so vieles
Andere, auch den Psalmgesang beim Gottesdienste aus dem alten
herttber, inmal die allererste Christengemeinde rieh in Jerusalem
bildete ; die Psalmen David^s enthielten ohnehin so vieles prophetisch
auf den Erlöser Deutende, so viel Erhabenes zum Preis«« (Jottcs.
Der königliche Ahn des Stammes, aus dem das Heil der Welt her-
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4
Die Ali tauge der europftisch-abeudläjidih« heu Musik.
vorhin«:, hat ue gedichtet, nnd nach dem letzten Abendmahl«,
nach der £in8etzun<; der heilig-mystischen GcdHchtnissfcirr, ehe der
Heilaiul soitiom Luiden entgegen auf di>n Ocllicrß: irin<j^, stimmten
die Apostel einen Lf»bj]jesannj an, nach der }i;('w iihnlii Inn Meinung'
den III. l'salni, welcher bei den Israeliten noch jetzt das fp-osse
Hallelujah heisht und hei der Passahf'eier peHunf^en zu wenb u
pflejrte. »So hatten auch Kngeliiymneu die Geburt des Christkindes
gefeiert: „Ehre Bci Gott in der Höhe und Friede auf Krden den
Menschen, die eines guten Willens sind". Dies Alles macht es er-
kllbrlich, dass die Apostel den Gesang der Psalmen und Loblieder
so oft und so dringend empfahlen.^) Die geschriebenen Psalmen
bildeten gleichsam den Kern gottesdienstlichen Gesanges — nach
den dem Clemens Roinanus« einem (jefKhrtMl des heil. Paulus zu-
geschriebenen apostnlischen ronstitutionen wurde bei der Abend-
mahlfeier der Psahn angestimmt. Ausser den eigentlichen Psal-
men wurden auch die in der heil. Schrift vorkommenden Psalmlieder
(cantica) gesungen: der Triuniphgesang Mose's (Exod. XV), der
Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen (Daniel III), der Ge-
sang des Zacharias (Lue. I. 68), Maria's „Magnidcai** (Lue. L 46)
nnd die Lobpreisung des greisen Simeon (Lue. II. 29).
Daneben gesehah es nun wohl auch, dass Dieser oder Jener
in der Gemeinde anfttand und das Lob Gottes sang, wie es ihm
eben die Begeistenmg des Augenblicks eingab. Das ist was der
heil. Paulus (teistesgesänge, Gesänge begeisterten Anhauches {('{niue
;r»'i i'//«r<x«<r) nennt, im Gegensätze zu den mündlich oder schrirtlich
aufliewahrten P^^aluien {xpnlunC) nnd Hviimen (vftvoi). Wenn das
Wasser zum lländewasclu'u iierunig»'reiiht und Lieht gebracht
worden (schreibt Tertulliau), so wird eiu Jeder aufgefordert mitten
unter den Andern Gott mit Gesang an preisen, entweder nach
Worten der heiligen Sehrift oder ans eigener Eifindung, wie er
es vermag^. Machte eine solche Im)»roTisation Eindruck auf die
IL'rer, so wurden ohne Zweifel ihre Gedanken nnd Wendungen
bei nächster Gelegenheit wiederholt; und so mögen die allerersten
specifisch christlichen Ges&nge als echte Volks<lichtungen wie von
selbst entstanden sein. Wer Dichtertalent hatte, dichtete auch
wohl Etwas, das er dem Gottesdienste weihte und das gern an-
genommen wurde, denn die neuen Ideen wollton ausgesprochen,
der neue Wein wollte in neue Öchläuchu gegossen sein. Man musste
1) Ephes. V. 19i Col. m. 17; Jacob. V. 13. Als Paulus und Silas
SU Philippi eiugt korkert waren, beteten sie im Geftngniase um Mitter-
nacht nnd sani;<'ii Gott Tioblicder, bis da«-< eiu Erdbeben die (irund-
fcsten dos Kerkers ersclnilterte und die Tdüit'n nprengtc (Act. XVI. 25).
^) Post aquam manualem et lumma uL quwquo de scripturis sauctis
Velde proprio ingenio potest provooator in medio Deom oanere (T' talL
Apolog. 89)
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Die ersieh Zeiten der olirisUichen Weli vmi Kamt.
6
dem evrigen Vater daflir danken, dass er seinen Sohn snr Erlösung
der Welt, dase er in Stannesbransen und Fenemmgen seinen Geist
gesendet; dem Erlöser mnsste man für sein Leben, für seinen Tod
danken, und ihn preisen, dass er als Sieger Uber Tod und Hölle
die Bande des Grabes gesprengt*). Dor jüngere Plinius meldet in
jenem bekannten Briefe, den er als bithynischer Statthalter an
Trajan über die Christen schrieb : ,,das8 sie an gewissen Tao:en
vor Sonne nauffrnnp: zusaninieiikinmnen und Cbristo, gleich wie
einem Gotte, einen Wechsclgehung bingen" Zuverlässig war dieser
Gesang der ersten Christen höchst einfacli, ernst und kunstlos. Auf
▼oUkommene AnsfiUirang, auf Hervorbringung von etwas künst-
lerisch Schönem kam es Ihnen snnächst auch gar nicht an. Des-
wegen war es anch nicht nöthig den kunstlosen Gesang dnrch In-
strumente sn lenken nnd tn beglmten; der natOiliche Tonsinn
genügte die Rinprenden inneihalb der wenigen Töne zu erhalten,
auf welche sich der Gesang unter solchen Umständen beschränken
musste. Eben so v enip' bedurfte es niedergeschriebener Musikstücke.
Die eiufacben MelnJien waren leidit /.u merken und nachzusingen;
der Gesang stand sogar nach dem Zeugnisse des heiligen Augustin
und des heil. Isidorus dem bloss sprechenden Kecitiren naher als
dem eigentlichen f mit gehobener Stimme ausgeführten Singen, er
war mehr ein eintöniges halblantea Psalmodiren*). Was die Instru-
mente betraf, so war die Lyra das Instrument weltlichen Gesanges,
die Tibia das Instrument der Opfer der Heiden, alle beide aber
Tonwerkseuge, mit welchen in den Theatern die sehr sucht- und
nttenlos gewordenen Schauspiele, die üppigen Tänze nnd Panto-
mimen begleitet wurden. Wie hlitten die Christen dergleichen KlHnge
b<'i ihrem reinen Opfer dulden sollen? ,,Wir gebrauchen", sagt ('le-
rnen» von Alexandrien, ,,ein einziges Instrument : das Wort des Frie-
dens, mit dem wirG(»tt verehren, nicht aber das alte Psalterium, die
Pauken, Trompeten und Flöten''^). Es ist also ein blosses Symbol,
wenn auf den iltesten christliehen Haiereien die Lyra als Sinnbild
des Gottesdienstes erschdnt Femer aber mussten die CSnisten
1) Psalmi (^uoque et cantica fratrum, inde a vrimordio a fidelibuB
eonteripta, Chnstum Terbiim Dei cuucelebrant. Diese Worte gehören
einem Cajua an , der gegen die Irrlehre des Artsmon schrieb (Gecbert,
De cantu I. S. 70).
9) Quod essent loliti staio die ante Inoem ooinrenire carmenqne
Oiristo qnasi Deo dioere secnm invicem (Plin. Ep. X. 93).
3) Tarn modicr» flexn vocis faciehat sonare lectorem psahni ut pronun-
cianti vicinior esset quamcanenti (8. Augastin.Coufess.X.). Priuntivaautem
eoderia itapeallebat, nt modko flexn Tocit ptallentem faceret retonsre, ita
ot pronuncianti vicinior esset quam p^alleiiti (S Tsid.De nffio. 7). Auch Gla-
rean (Dodecachordon I. 14) meint: rrincipio cantilenae adeo siniplices fucro
Apud primores ecclesiae ut vix diapeute ascensa ac descensu iiupleret
4) Paedag. IL 4,
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0
Die Anftnge dar enropftiaoh-abendlftndiidhen Monk
schon au i Rücksichten der Klnp^heit jede laut nnd weit idtaUende
MuBik vermeiden, welche geeignet geweaenwire dieAofineiiuainkett
ihrer Verfolger m erregen. Gewiaa aangen aie mit gedlmpfterStimme
in aehr mässig bewegten TSnen ihre Hymnen, auch wenn sie
Freude und Dank aoaaprachen. Wenn die Inatmmente verbannt
blieben, 80 waren dagegen, damit im Gesänge Ton und Ordnung
gehalten wurde, Vorsänfr«'r iinentbelirlich, wozu einzelne Geübtere
nnd mit besserem (Jeliörc nnd klanj^voller Stimme Befrabte zweck-
mässig zu bestellen waren. Unter den minderen Kirehenämtem,
die sieb aus den ältesten Zeiten herschreiben, finden sich wirklich
neben den Pförtnern, Exorcisten, Lesern auch Sänger (cantores).
Unter den sogenannten „apostolischen Constitationen" findet rieh
die Anordnung, dass die Vorsänger die Psalmen anstimmen sollen,
die Gemeinde ihnen aber nachxnsingen hat. Bei vorgeschrittener
Uebnng konnten aneh wirkli( lic Wechselgesänge in Ausruf des Vor-
sängers und Antwort (nicht in blossem Nachsingen) der Gemeinde
im Chor, oder Wechselgesang ganzer Abtheilungen feines ersten und
zweiten Chores'l iti Anwendung kommen. Die erste Kinnibning
solcher Wecliselgesiinge wird von d«'r Ueberliefernng dem heil. 1 g-
natius, Bischof von Antiochien, der unter IVajan zu Kom den Miir-
tyrertod erlitt, zugeschrieben. Die Legende fugt hinzu : er hal)c im
Zustande der Entsttckung die Engel in Wechselchttren singen gehört
nnd das Gehörte im Gesänge seiner Gemeinde nachahmen lassen i).
Auch bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten, den Agapen, sangen
die Christen statt der bei den Heiden üblichen Scholien religiöse
Lieder^. Secten, wie die ^laniehäer, venvarfen den (iesang völlig.
Dagegen war ihr muthiger Bekämpfer, der heil. Augustinus, als er
zu Mailand den von dem dortigen Bischöfe, dem heil. Ambrosius,
geregelten Kirchengesang hörte, wie er uns in seinen ,, Bekennt-
nissen" selbst er/ählt, bis zu Tiiränen gerührt. An einer andern
Stelle sagt er, dass „mit dem lieblichen Gesänge das Wort Gottes
in*8 Herz zieht, die Seele mit emporgt schwungen werde nnd Wahr-
heit nnd Leben der Lehre emptinde"^). Per heil. Ambrcains
hebt ganz ansdrttcklich den tiefen Unterschied zwischen dem
1) . . . (jK> TÜv dvtt^unnav vuvtav T/jr dyiav TQtdda vfHovrTutv (bei Socrates
VI. 8).
2) Cyprinnus, der Bischof von Karthago, saj^'^t : Xec sit vel hora convivii
gratiae coele^tis immunis — sonct psalmos convivium sobhum (Ad Donatum).
3) Indessen hatte erdoch seine Bedenken: Ita flactoo inter periculom vo-
laptati8«texpwimentomaalabritatis,magiaque adducor,non quidem irretrac-
tabilem sentenliam proferens, rantandi consuetudiTiPTn approbare in oecle«ia,
ui per ublectumeuta am-ium iuiinnior animus ud utlectum pietatis assurgat.
(Confeas JLdS.) Sehr schOn und treffend tagt er ebenda : Omnesaffectus spiri-
tualesnostri prosuavi diversitatc habent proprios modos in voce atque cantu,
quorum occulta faniiliariter excitantur. Der j^osse Kirchenlehrer »pric iit
hier, wie man sieht, als Aesthetiker. Am schwuugvollstea erhebt dieMocht
des ufisanges Justin der Märtyrer: Ibcmtatenimanünamadfenreas desiderium
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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst.
7
ehnadiehen KifchengvMng und d«r lieidiiüeheii Theatemmiik
beiTor. Diese chromatische Theatermusik verweichliche und roizi>.
nur sinnlichen Liebe, jene andere singe im Einklänge der Sürn-
men das Lob Gottes i).
Die Antwort auf die Fra^e, woher alle diese (Jesänfre der Ur-
zeit des ('liristintlmmes stammten, wird je nach dem Standjmnkte der
Antwortenden in sehr verschiedener Weise gegeben. Die Einen
sagen: Die Kirche habe sich vorerst und vornehmlich desjU-
diiehen Tempelgesaugea bedient, wie «r von David angeord-
net nnd nnTeründert fortgepfianit worden^; wogegen Andere im
kirchlichen Bitnalgesang einen betrichtlich entttellten aber kost-
baren Best der alten griechischen Musik erblicken, welche selbst,
„nachdem sie unter den Händen der Barbaren gewesen, ihre or-
sprüngliche Schönheit nicht ganz verlieren könne"^). Noch Andere
erklären die christliche Musik für etwas Eigenes und Neues. „Die
Musik der ersten ('bristen", sagt Kiesewetter, ,, meist armer, unge-
lebrter, in den sublimen Kenntnissen griechischer Musik schon zu-
mal nicht eingeweihter, schlichter Leute, war ein höchst einfacher,
knnst- und regelloser Natnrgesang, welcher nnr allmtUig gewisse
Aecente nnd Inflezionen bleibend annahm, in dieser Gestalt dnrch
Öfteres AnhOren sich in den Gemeinden feststellte nnd von deren
einer zur andern sich fortpflanzte. Dass sich noch damals griechi-
Bche oder auch wohl jüdische Melodien unter den Christengemeinden
eingeschlichen hätten (wie einige Schriftsteller angenommen haben),
ist durchaus nicht glaublich. Wären auch Jene guten Leute fähig
gewesen, griechische Melodien zu fassen und mit ihren wenig geübten
Organen nachzusingen, so war ihr Absdieu gegen Alles, was an
lieidenthum erinnern konnte, uuch dem Zeugnisse der ältesten
Schriftsteller zu gross, als dass sie Gesinge ans den Tempeln oder
Theatern der Heiden zugelassen bitten; eben so wollten sie von
dem Jndenthnme dnrchans sieh sondern («s ffiäetudur judaiMare,
wie ein alter christlicher Schriftsteller es ansdrUckt), und überhaupt
war es ihnen ganz eigentlich darum zn thnn, eine von dem
Wesen jedes andern Cultos verschiedene, ihnen eigene Art des
flliuB, qnod in canticis oelebratnr: ledat ezsoi^entes ex came vitiosos appe-
titus: nialas cogitationes repellit, quae nobis injiciuntur ab invisiMlibus
hostibus: irrigat auimam, ut ferax sit bonorum divinorum: fortes ac ge-
nerosas ad constantiam in rebus adverais effidt aihletas pietatis: omnimn
Titae molestiaram medicina fit püs homimbiis (Quaeit 107).
1) Quos non mortiferi caiitns cromaticum Bcenicorum qxmp mentem
emolliant ad amores, acd coucentus ecclesiae et con aona circa Dei laudes
pu]>uli Tox et pia Tota deleotent (HexataieroD YT).
2) Jakob, Die Kunst im Dienste der Kirche S. 193.
3) Ce chftnt, tel qu'il subsiste encore aujourd'hui, est un reste bien
detigure mai-s hien precieux de l'ancienne muflique g^ecquo, laquelle apr^s
aroir pa886 par les mains des bsrbares n'a pu pcordre encore toutes aes
premitaes beant^ (J. J. Ronssean, DiÜ. de mns. ad ▼. p1ain«obsnt.)
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.8
Die Anfänge der earopäiMh-abendl&ndischen Masik.
GeMUlges ra itiften, was üinen auf Uurem Wege vielleicht nur
■n gilt gelungen sein mochte
Im Gesänge clor ersten Christen gans nnbedingt eine nnmittel-
hare Fortsotzunpr dos hohräisch-flavidischen zu erblicken ist eine un-
bowicHono Voraiissotzung. Als der Tompol Salomo's durch Nebu-
kadnezar 587 v. ('lir. zerstr)rt und das Volk in die Gelangenscliatl
geführt worden, hatte natürlich auch der geregelte Tempeldienst und
mit ihm die Tempelmusik einstweilen ein Ende. In Babylon hingen
die Kinder Israel ihre Harfen trauernd an die W^den, nnd wenn
ihre Dringer geboten: tt*higet uns doeh ein Lied von Zion," ant-
worteten sie: „wie sollten wir singen des Herm Lied im fremden
Lando?" Die David-Salomonischen Tempelmolodien waren durch
keine Notenzeich on fixirt. Als nach der Befreiung durch Cyrus der
Tempol neu gebaut wurde und die Tempelmusik wiodor ortönte,
konnte wohl dieselbe äussere Ausstattung der letztem mit Trom-
])oten, Psalteru u. s. w. stattfinden, schwerlich waren es aber die un-
veränderten alten Melodien. Von der babylonischen Gefangen-
schail an nähern sich die Juden in vielen Sitten und Aeusserlich-
keiten bei weitem mehr den andern Vttlkem. Die tyrannischen
Reformyersnche eines Antiochns Epiphanes scheiterten freilieh an
dem energischen Widerstande, den sie fanden. Aber der unmerk-
liche Einfluss gjiechi'^cli -antiken Qeistes wirkte 80 sehr ein, dass
griechische Sprache, Philosophie n. s. w. endlich entschieden F'uss
fassten, dass sieh z. B. der Epikuräismus bei den Juden zum Saddu-
oäismus gestaltete, dass bei d«*n Essäern pythagoräische Vorstel-
lungen zu finden waren, dass der Hohepriester Alcimus, obwohl
aus Aaron's Geschlecht stammend, daran denken konnte die Vor-
höfe der Juden und der Heiden im Tempel durch Niederreissung
der Maner an einem einsagen an Tereinigcn (159 t« Chr.), dass end-
lich der prachtvolle Neubau des Tempels unter Herodes nicht mehr
in dem alten phSnikischen Slyle, sondern in brillantem korintfai-
sehen gesch.ah. Man darf also unbedenklich auch die hebrKische
Musik als allmttlig der Knnk der übrigen d. h. der antik-hellenischen
Welt ähnlich geworden annehmen. Der heilige ( 'hr^ sostomus sagt
freilich: ,, David sang in Psalmen, wir singen noch heute mit
David."-) Damit ist aber das Psalmonsingon Uberhauj)t, nicht aber
das Anstimmen Davidischer, alterthümlicher Melodien gemeint^
1) Kiesewettor, Geschichte der europ.-abendländisolu'n ^fusik. 2. Aufl.
S. 2. Der alte « hnstliche Schriftsteller, welcher versichert, dass die erxten
Christen nicht lieliraisiren wollten, ist übrigens nicht, wie mau nach
jenem Citate vermuthen kOnnte, ein Zeitgenosse det Olemens von Alex-
andrit'ji, 'l'fi-tiilliaii, Justin u. s. w., sondern St. Thomas von Aquino, ge-
boren 1220, gestorben 1274 Die Stelle steht in Summa II. 2 quaest.
91 art. 2 in objed. 4. Bas Citat ist also nicht ganz fiberzeugend.
. 2) T.iialU noTt iJaviä h ^mkf^^mi vi^Jwniv^nov n. s.w.
(zu Paalm 145).
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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst. 9
denn Chiysostomiu fthrt fort: „David braiiehte di« Gither mit leb-
losen Saiten, die Kirdie aiber brauchte eine Cither, deren Saiten
lebendig sind; unsere Zungen sind diese Saiten, sie bringen Ter>
schiedene Töne, aber eine einträchtige Liebe hervor/' ^) Die alte
Davidisch-Salomonische Tempel musik erschien soprar als ein nur
sehr unvollkommenes Vorbild der christlichen; ,,<l<'r (Icliriiuch der
Instrumente," sairt der heil. Chrysostumus, ,,war den JikIimi damals
wegen ihrer Schwäche gestattet, sie sollten dadurch zur Eintracht
gestimmt werden" n. b. w. So viel wird angegeben werden
können, daes die Apostel ihre GesXnge, wie a. B. den Lobgesang
beim letaten Abendmahle, sicherlich nach den oft gehörten, ihnen
allen gelKnfigen Psalmenmelodien anstimmten, and dass auch die
erste Christengemeinde in Jerusalem zum Psalmengesange auf keinen
Fall andere als die gewohnten Singweisen wird liaben hören lassen.
So gut die Christen das spezifiscli jüdische Oster- und Pfingstfest
(freilich zu höherer Bedeutung im Sinne der Erfüllung umgedeutet)
feierten, so gut konnten sie unbedenklich jüdische Melodien zu
Texten beibehalten, die ja dem Wortlaute nach unverändert her-
übergenommen wurden. Aber wie wfiren nun diese Melodien an
die rasch anfbltthenden ersten christlichen Gemeinden an Ephesos^
Korinth, Bom n. s. w. Ilbergegangen? Dnreh die Apostel schwer^
lieh, die als Sendboten des ewigen Wortes in alle Welt gingen, and
nicht als Musiklehrer oder Sing^eister, und die vorläufig gana
andere und höhere Sorgen hatten als eine christliche Kirchenmusik
nach hebräischem Vorbilde zu organisiren. So unbefangen die
Christen mit den Heiden aus demselben Brunnen tranken, die
gleiche Anlage der ^V^)llnunJ^en u. s. w. nach wie vor beibehielten,
weil alle diese Dinge mit Religion nichts zu schaffen haben, ebenso
nnbefangen konnten sie ihre Art und Weise zu singen nach der all«
gemeinen Sitte der Zeit und der allgemeinen mnsikalisehen Bildung
regeln. G^egen die GesSnge Ton Jemsalem stachen bei der allge-
mem gleichen Physiognomie der Kttnste in jener Zeit die Gesfinge
der andern Gemeinden sicherlich so wenig ab, dass sie schwerlieh
als ein Fremdes, Besonderes, nicht als ein Heidnisches im Gegen-
satze zum Judischen auffielen. Ganz arglos nahm die christliche
Kunst das Motiv des widdertragendeu liennes für das Bild des
guten Hirten herüber, sie malte den mythiscben Ürj)lieus als Sym-
bol Christi an die Decken der Katakombeukirchen, sie modelte die
Sarkophage (wie z. B. jenen des Junios Bassns) nach dem Konst-
geschmack heidnischer Sarkophage, sie fand die Gestalt der heidni-
schen Kanf'^ nnd Gerichtshallen, der Basiliken, für die Bedtlrfiilsse
des christlichen GU>ttesdien8te8 sehr branchbar nnd behielt die An-
lage nnd sogar den Namen derselben beL P^dentlns dichtete in
1) Zu Psalm 160.
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10 Bie Anfüge der europäisch-abendländischen Musik.
der Spraehe und Venart VugU'a. Es ist kdn Grund absniehen«
warum bei dieser nnbedenklichen Benutsung d«r antiken Knnst-
fonnen für christliche Zwecke gerade nur die ICusik hfitte nusge-
Bcklossen bleiben sollen. Die ersten Christen konnten ach der
geistigen Atmosphäre mid den Bil(ltinp:sf(»rnien , in welchen sie
lebten nicht (Mit/,iolien ; und so Hiclicr os ist, das.s sie keine M(düdien
verwendet haluMi, die nuin in den I rinjicln oder Tlieatcrn zu l>ör< i
gewülint war, so sicher werden doch ihre tiesänge andererseits den
Charakter antiker Melodiebildnng im Allgemeinen au sich getragen
haben. Die Ansicht, als seien die ersten Christen aller Bildung
fremd, eine Sehaar g^ter, ehrlicher, aber dnfiütiger roher Menschen
gewesen, muss entschieden surttckgewiesen werden. Leute, an
welche die geistreichen Briefe des Apostels Paulas gerichtet waren,
für welche das Johannesevangelinm mit seinem philosophischen
Ti«'fsinn bestimmt war, können auf keinen Fall ein solcher kläg-
liclier Haufe eintaltigen Pöbels gewesen sein. Allerdings wurde
das Evangelium zunächst den Armen im tieiste gepredigt (wo-
runter al>er durchaus nicht Geistesarme zu verstehen sind), aller-
dings begegnen wir auf altchristlichen Grabsteinen ortliographischeu
Fehlem, die wohl annKchst dem yerfertigenden Handwerker inr
Last fallen; aber wir wissen auch, dass Personen, die anf der Höhe
der vollen Bildung ihrer Zeit standen, dem Ohristenthnme sieh an-
wendeten. Oleich der erstbekelnte Tieide Cornelius gehört zu den
gebildeten Klassen der Gesellschaft, und Patrizier, Ritter, Gelehrte,
edle Frauen, selbst einzelne Mitglieder der kaiserliclien Familie
waren eifrige Cliristen. Es genüge auf die Denker und Schritthteller
der t'rsten cliristliclien .Jahrhunderte hinzuweisen oder auf den eigren-
thUmlichen Geist und Reiz der ältesten Werke christlicher bilden-
der Kunst, aus denen uns, wie der Anhauch eines kommenden
Frühlings, ein belebender beseligender Athem anwehet. Die an-
tiken Melodien waren femer sicherlich nicht so nneriiört schwierig,
dass snr Möglichkeit sie nachsnsingen eine gani ansserordeniliohe
Gelehrsamkeit und ganz besondere musikalische Bildung nOthig ge-
wesen wKre. Die Tonartcnlelne, Kanonik, Semeiographie u. 8. w.,
womit die Musikgidehrten der antiken Welt sich und Andere plagten,
waren für die praktischen Musiker sicherlich so wenig ein Stein des
Anstosses, als es lieutzutuge etwa die weitläufigen und gelehrten
Arbeiten eines Euler, Marpurg u. a. sind. Die antike Musik wurde
von zalilldseu Musikern von Beruf, von zahllosen Dilettanten be-
trieben. Unter den neubekehrten Christen gab es gans ohne Zweifel
viele im Sinne ihrer Zeit und also auch musikalisch gebildete Leute.
Fflr das Bedttrfiiiss des Volksgesanges wie der Hausmusik genfigte
sicher die allgemeine Uebung und Bildung ^ ohne dass man Euklid
und Aristoxenos dazu nöthig hatte. Am wenigsten ist die Idee
haltbar, dass die ersten Christen gleich darauf ausgingen , eine
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Die enten Zeiten dw dirifüichen Welt and KonsL 11
neue, gegen die antike Kunst oppositionelle christliche Kunst zu
Bcha^n. Wo eine echte Kunst sof echter Grundlage emporblUht,
kann man unbedingt behaupten, lie sei geworden und nicht ge-
macht, und nichts weniger als nach einem bewnssten ftberdachten
Plane ontemommen und <lui-cligoftihrt. Der neue Geist baute seine
Welt ans gegebenem Stoffe. Man darf von der Mnsik der
ersten christlichen Zeiten annehmen: sie sei zu erst Vo 1 ks-
gesang: gewesen, gegründet aufArt und Weise der gleich-
zeitigen antiken Tonkun st, aber durchdrungen, gehoben
und getragen vom neuen cliristlichen Geiste.
Wie einst der Sieger über Tod und Hölle nach drei Tagen
ans dem Dnnkel der GhrabeshShle ▼erkllM auferstanden war, so
ging nach drei Jahrhunderten die Kirche ans dem Dnnkel der Ka-
takomben, die Siegesüdine schwingend, henror. Constantin der
Crrosse und seine Mutter Helena waren beflissen ihren Eifer durch
den Bau mächtiger Basiliken zu bethätigen; ttber der Stelle des heil.
Grabes zu Jemsalem erhob sich bald ein grossartiger Bau, ähnliche
auch in Bethlehem, in Korn über dem Petrusgrabe und zu Ehren
des heil. Kreuzes^). Die Basilika des Biscljofs Paulinus zu Tyrus
aus dem Anfange des 4. Jahrhunderts wird von Eusebius als gross
und prächtig beschrieben. Auch Ravenna, Byzanz u. s. w. wett-
eiferten im Bau stattlicher Gotteshftuser. Die bildende Kunst, die
schon die düsteren Katakombenrtttmie durch Wandmalereien erfreu-
licher SU machen verstanden hatte, fand in den grossrVumigen An-
lagen der Basiliken der weströmischen wie in den hohen Kuppel-
bauten der oströmischen Städte ein weites Feld sich zu bethKtigen;
bald zierten kolossale Mosaikbilder den sogenannten Triumphbogen,
die Apsiden, ja die ganzen "Wandflächen. Sclinn in der Hälfte des
5. Jahrhunderts vermochte es die neugeborene christliche Kunst in
der Paulusbasilika vor dem Ostienser Thor bei Rom ein riesiges
Bnistbild des Erlösers von hoher Majestät, und in dem Mosaik der
Tribüne von St. Cosmas und Damian in Rom eine Christusgcstalt zu
schaffen, welche an den wunderbarsten Oestalten altchristlicher
Kunst gehört Die Bauwerke der folgenden Jahrhunderte ent-
wickelten einen blendenden Prunk in Versehwendung einer kost-
baren Ausstattung an Mosaiken, Edelsteinen, edeln Metallen. Der
Gottesdienst erhielt eine reiche und künstlerische Ausstattung,
neben welcher ein einfacher, kunstloser Naturgesang sich allzu änn-
licli ausgenommeu hätte, Audi iiatte der Gottesdienst, ob in seinen
(irundzügen vom Anfange an bis auf den heutigen Tag derselbe,
allgemach bestinimteie und reichere rituelle Formen angenommen.
Die wiederkehrende Gedächtnissfeier der Hanptmomente der hei
1) Aus«it'rliall) Rom's gab es allerdings chri^Jtliclie Basiliken von
höherem Alttr, z. B. zu Castellum Tingitanum im heutigen Algerien
die Basilika des Reparsins t. J. 853.
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12
Die Anfinge der europäisch^abendländischen Maailc.
ligen G^Bcbiclite oder mni Andenken geopferter Olanbenihelden
gestaltete allmäli^ das Kirebei^ahr mit seinen Festen und Cere-
monien. Hier konnte nWBt dem einzelnen GlUnbigen fli^rlich nicht
mehr Uberlassen bleiben, wie er Gott im Opsan«fe nach dein Dran'^e
seines frommon IToncons proison wolle: die Kirche musste aucli für
die GesJiiige ein(^ bestimmte Norm, einen bestimmten Ritus vor-
schreiben; es that Nüth eigene Sänger zur Verfügung zu haben, wel-
chen jedesmal genau vorgeschrieben war und welche genau wussten,
was und wie sie ma den gelieiligten Ceremonien an ringen haben.
Sehon das Goncil von Laodicea im Jahre 867 verordnete: „es solle
kein Anderer ta der Barehe singen als die dazu verordneten Sltnger
von ihrer Tribüne"^). Diese Ausscheidung der Masse der andttch-
tigen Oemeinde, welche darauf gewiesen war am Gottesdienste als
Zuseliende, ZuhönMide, Empfangende Theil zu nehmen, sprach sich
in der Einrichtung^ des Chores im Kirchengebäude aus, den oft
Scliranken als einen eit:C<'uen Kaum abgrenzten, wie es noch jetzt
in der alten Basilika von St. Clemens zu liom zu sehen ist, oder den
ein durch Stufen erhöbeter Platz besonders hervorhob (St. Maria in
Gosmedin n Born). Wie der Gemeinde das lehrende Wort ans den
bdden an den Chorschranken angebrachten Ambonen vorgetragen
worde, so tönten ihr die heiligen Oesinge ans dem Chorramne ent-
gegen und vereinten sich mit der „Fülle der Gestalten", womit die
bildende Kunst die Wände geschmttckt, und mit der einfach erha-
benen Poesie der Ritualtexte zu einem Ganzen, in welchem auch
die Macht der Künste zur Erwecknng jeuer Andacht im Geiste
und in der Wahrheit diente, mit welcher der eine, wahre, geistige
Gott angebetet sein w(dlte. Wie einst das antike Theater in
seiner Blütezeit eine Vereinigung aller Künste zu dem bedeu-
tendsten Zwecke bewirkt hatte, so sehlossen nun anek in der
christliehen Kirche die Künste alle einen Bund und unter ihnen
auch die Musik. Die Kirche bedurfte jetzt gebildeter SSnger; ge-
regelter Unterricht und Uebung im Gesänge wurden unentbehr-
lich. Schon zu Anfang des 4. Jahrliunderts errichtete Papst Syl-
vester zu Rom eine Singschule. ,, Damals", erzählt Onophrius, „war
die tägliche Psalmodie in allen Kirchen nicht gebräuchlich, denn
den einzelnen Hasiiiken der Stadt waren die nöthigen Einkünfte zur
pjrhaltung besonderer Sängercollegien nicht angewiesen. Es wurde
also eine gemeinsame Siagschule für die Stadt gestiftet, und bei den
Stationen, Prozessionen und an den einseinen Festtagen der Kirche
kamen die Sfinger nun susammen und sangen die BitualgesSnge
und festlichen Messen"^. Der Vorsteher hiess Brmieeruu oder
1) Non oportere prseter oanoiiieo« eantores, qui ra^fgeitimi asoendnnt
et ex mcmbrana legunt, aliquos alios canere in ecclena. Oonc Laodio.
Oaa. XV. Diese Membrana enthielt die Rilualtexte.
2) Gerbert, De mus. et cantu I. S. 35. Yergl. auch Forkel, ' Glesch,
d. Musik 8. Bd. 8. 142 fg. und Gounemsker, TrvM sar Bnöbsld.
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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst.
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Drior acholae emdonm und war kraft seines Amtee eine angesehene
Penon, der zweitnXchste Vorgesetzte Secundtcerims, Eine andere
Singschule gründete, nach dem Zeugnisse der unter dem Namen de«
Anastasius Biblinthecarius bekannten Biographie der älteren PSpste,
Papst Hilarius im Jahre 350 i). Der Unterriclit begann schon im
zarten Knabenalter; die Singeschulen wurden auch wohl geradezu
Waiseiiliäuser (Orjthanotroj/hia) genannt^). In diesen öingscliulen
8tclituu sich allem Anscheine nach jene Tonreihen fest, welche man
mit demNameii der authentischen d. i. echten, ur.spriinglich von
derKirehe aanetioniiten sn heieiehnen p liegt und welche nehst den
etwa dreihundert Jahre spSter heigefllgten SeitentOnen oder plaga-
lischen Tonarten das Fundament aller musikalischen Compositionen
hu tief in das 17. Jahrhundert hin^ bildeten. Zur Zeit der Ent-
stehung der authentischen Tonarten waren die antiken Traditio-
nen noch in frischem Andenken; sie waren aber für die Bedürfnisse
der Kirclie allzu verwickelt. Die Sänger waren mehr Diener der
Kirche denn cigcntliclie Musiker, wie der ganze (iesang m»>br
Gottesdienst als Musikjtroduktion '^j; es mussto eich also die Lehre
auf das beschränken, was auch mittleren Talenten leicht zugänglich,
sowie die üebung selbst auf das, was von gewöhnlichen Stimmen
leicht aussnfllhren war. ICan nahm also aus der Beihe der antiken
Octavengattungen die Scale d e f g a h e dtXi das Fundament alles
Kirchengesanges herttber. Da indessen der Wunsch bei gewissen
Gelegenheiten oder einzelnen Texten durch höhere, heller klingende
Intonation eine charakteristische Wirkung hervorzubringen fühlbar
werden mochte, und auch noch die nächsthöheren drei OctaTenreihen
dem menschlichen Singorgan nichts Aussergewöhliches znmuthe-
ten, so wurden aucli diese angenommen. Bei Fcstsetzting der Vier-
zahl scheinen nur jiraktisclie Kücksichtnahmen im Sjiiele gewesen
zu sein; ob nichteine symbolische, jener Zeit bei äiinlichen An-
lassen geläufige Beziehung, etwa auf die vier Evangelisten, mit
gemeint war, mag unentschieden bleiben; eine ausdrflcUiche
Andeutung darüber findet sich wenigstens nicht. Sonach basirte
sich Tom 4. Jahxhundeiie an der Kirchengesang auf Tier den
alten griechischen Octayengattungen analoge Tonreihen:
1) Gcrbcrt, a. a. O. T. 203.
2) Anastasius in vita Sergii Ii. Foutif. : schola ouutorum, quae pridem
orphanotrophium vocabatur.
3) Sehr charakteristisch hebt diese Seite der heil. Hieronymus in
seinem Briefe an die Eubcsier Cap, 5 aus: Audiant hoc adolescentuU,
aadiant At quibus 2)8alUnai in ecdesia officium est: Deo non voce eed corde
cantandum est, nec in tragoedorum moreraguttar et fauccs dulci medicamine
colliniendas, ut in ecclesia theatrales modtUi audijuitur et (vuitira. sf.,1 in ti-
more et in opere scientia scripturarum. Quamris sit lütquh (ut sulent ilU
qmarare) »aa^vei^e«, li bona cpera habtierit dalcw <mid Deum can*
Udor eßt. Sie etmtet fSfnts CkHgH, non vox canenH» sed verba pUweont,
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14
Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik.
c d . . . . 1. authentische Tonart: autheitius protuB
Q Ä H c d e . . . 2. „ „ „ deuterus
F O A jTc d^. . 3. „ „ „ tritns
GAHcdefg.i.
Die Ueborlicfprunp;' schreibt diese Auswahl dem hoil. Ainbmsiug
(starb 397) zu, er j;ilt für den eifreiitlichen Bo<rriiiider des Kirchen-
presaiipres und nach ihm worden Jimh' vier Tonrcihen inspeniein als
die Ambrosianischen Kirc hontöne bezeichnet, obfjleich es an
einem direkten Zeugnisse für die Uiclitigkeit dieser Benennung
fehlt!). Haillndiflehe Kirchengesang sUrnd damalB «af weit
höherer Stufe als der Kirchengesang zu Rom. So erklärt es steh,
dass gleich den Eigenheiten der Mailänder Singweise auch jene der
1) In Fötis Biogr. univ. 1. Band S. 85 heisst es: Saint Ambroise noiis
apprond dans unc lettre f» sa soeur (saiiitc IMarcclliiip) quil regia lui meme
la tonalite et le mode d' ejLccution des psaumes, des tantinues et des h^nnet,
qu'im y chantaU, et St. Aagustin dii «m t(>nnes pr^dt« qne oe fot suivant
l'usa^e des «'t^lises d'Oricnt (Confess. IX. 7). Le systi^inr tonal adopte par
8t. Ambroise fut donc celiii dos huit toiis du chaut de l'eglisc grccque doiit
qnatre (le dorien, le phrj jzieu.le lydienct 1cmixolydien)(^taieniautlientiqueh,
et quatro (rhypodorien, riiypoplin^nci), l'hypolydien et hypomizolydien)
etai('ntappelt''Sj)la«jaux. TiU iihij»art deschaiif sdel'E^rliso j>Tee<nieftireiit aus'vj
iiitruduits duus Tej^lise de Milau uvec leur niude d'exccutiou, c'cüt k dire avec
leurs omementsqni entrafnaientavec eox Teniploide petita intenralle8(aeeiin-
dum morem orientaUum partium, dit St. Augustin). Unter den Briefen des
.St. Ambrosius finden sich nur zwei an seine Schwester: der eine handelt von
der Auf'tindung der Leiber der hb. (ier%asiu8 und Protasius und enthält kein
Wort von (Jesan^r; der ancU'ie (Buch V. Brief .'$3) erzählt den Streit wegen
Herausgabe der Hasilic-a, und da licisst es w»irflieh: ('ireuinfiisi cnint nnlifes,
qui basihcam custodiebaut. Cum fratribm psaltnoH in evclesiabwtUica minore
diximu». DernAohsteSatefthrt fort: Seqnenti die lectus eitdemoretiber
lob u. 8. w. Oic Stelle in den Bckonntnissi'n des heil. Augustin (IX. 7) lautet
Vfill ständig also: Non lunge coeperat Mediohuiensis Kcdesia srenus lioc
consolationis et exhortatiouis celcbrare, magno studio fratrum coueiueutium
vocibus ei oordibus. Nimiram annuserat, aat nonmnlto ampliua, omn Jnatioa
Valeiitiniaiii regispuori mater, liominem tuum Anibnisimn ]iersiM]iien-tur hae-
resissuae causa, quaeiucrat sedurta ah Arianis. Exuubabat pia plebs in Ecele-
sia, mori parata cumE]>i^et>p<) buo, servoiuo. Ibimatermea, anciUatna, solli-
oitndinis et vigiliamm primas tencna, orationibus vivebat. Non adhuc frigidü
a calore Spiritus tiii excitabamur tarnen civitateadtoiiitaat.|iietnrhata. Tunc
hyumi et psahui ut cauerentur socuudum morem orieutalium partium, ne po-
pmof moeroristaedio contabesceret, inttittttam eat, et ex illo in bodienram
retentum, mullis juni ac paeue uinnibus gregibus tuis, et j>er cetera orl^is imi-
tantibus. (Der folgende Abschnitt U handelt von dem Aunindcn der Leiber
St. (Jervasiuü' und Protasius'.) Das heisst denn doch deutlich : man sang nach
der Gewohnheit der orientalischen Kirche, wo man die Leute während
der Vigilieii mit (iesanL' wacli und in der Stinnnuiig hielt (wie eine weiterhin
citirte Stelle des heil. Basilius zeigen wird), uicht aber: man sang dieselben
Hymnen und nach den Manieren der onentalitehen Kirdie. Wo hatte denn
St. Ambro» währen<l jener wenigen Stunden der Blockade der Kirche Zeit
gehabt, denLeuten in derüUle die fremden orientaliachenHymnenznlehren?
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Die flcatan Zeitea der ehriatlidien Welt und Kwat
15
Mailändiüclieii Singschule boi deu andern Kirchen Beifall und
NaeliAlimuug finden konnten.^ St. Augustiu, der Freond und glü-
hende Bewunderer des heil. Amhrosios, brachte die MailSndische
oder Amhrouenische Singweise in seine afrikanischen Kirchen.
Mit den vier authentischen Tönen war die Diatemk, mit Aus-
sehliessnng der ohnehin längst verschollenen Enarmonik und der
unnatürlichen antiken Chromatik, als allein giltig und anwendbar
anerkannt; obwohl nicht unwichtige Andeutungen vnrlicfjen, dass
im Ambrosianischen Gesan^^e doch auch von clin>inatisirrii(l«'u
llalbtonfolgen wenigstens» in allerlei Zierwt rk. (Jebraiu ii j^eniat ht
worden sein soll-J. Da die Musiker der Folgezeit, welche zumal im
frohen Mittelalter meist Mdnche und Geistliche waren, in der aus-
schliesslichen Anwendung der diatonischen, innerhalb der ge-
1) INfaii darf nicht anssor Acht lassen, dass der Antiphonengesanp in
die abendländische Kirche auf anderem Wege als durch Anregung des
heil. Ambrodns gelangte. Ton Antiochien am war er nämlich nach Con*
stantinoju'l fj:t'dnin<,'eii, wo ihn im Jahre .*5!>H der heil, riirv^osf (•ums anord-
nete. Von dort aus wurde er von Hilarius von Poitiers in seiner Kirche ein-
geführt, und ob Papst Cftlcstin ihn für die röniiHche Kirche auf diesem Wege
oder aber über Mailand erhalten habt , il t w* uigstens z\v< l. üiaft. l>iö
niitt« lalti i liclirii Sclu-in^lfllcr füliron den ( n l>rauch ganz cnischi« ilni aiiCdie
Auurduuug des heil. Ambrosius zurück. iSo sagt Aurelianus Keontensis, ein
Mönch ans dem 9. Jahrhondert: Antiphons dioitur vox recipoca, eo quod a
choris altematimcantctur: quiaHi i licet chorus, qui camincepitabalterochoro
itenun eam cantandam suscipisit, iitiitan« in liocSeraiihini, de ijuibus scriptum
est: Et claniabant alter ad altcruui: Sauctus, Sauctus, Sanctus Dominus Den«
Sabaoth. Reperta ttutem ttuU primum a Graeds (d. i. in der orientalischen
Kir< h( \ a <iuil)us et nf)niina sunipscnnit. A]>ti(l Laf'nios mit, ni niictur eontm
beattHgimm exatitit Ambrobim MedioUmeiuns antivtcii aquu hunc muran hus-
eepUmmU oeeidentalia eccUsia. Ecsponsoriaaatemab JroZt« primum reperta
sunt — dicta auteaiReq>onBoria, eo quod uno «nmtante (moris enim fuit apud
priscos a sinpT'ilis responsoria cani) rcliqni omncs eantanti resjxmderent.
2) Felis (Biogr. univ. Artikel: St Ambroiso) behaui)tct, die EiKenhoit
des Ajnbrosianisdien Oeaanges habe in der Anwendung von Halbtöncn
and ehromatischen Ornamenten bestanden, wie sie in der griechischen
Kirdie gebrftuchlich waren und noelt »'uu\ B.
f:rst St. Gregor hal)e diese:Mauieren, als zu künstlieh beseititrt und die strenge
Diatonik eingffülirt. Die Stelle ausüddo, die ercitirt, ist l>orück8ichtigiing8-
wetih: Sanoti .lu. ..jue Ambro«ii,pcriti88imi inhacartc, Symphonia netiuacpiam
ab hac disoordat regula (dem diatonischen, nach der Mensur th- IMmim»-
r!i..r.l>i percfrellen (irs(-ldechte) , nisi in quibus eam tUmium delkutarum
vocum pcrvertit luscivia (bei Cjcrl)crt Script. 1. Band 8. 275). Femer be-
ruft sich FÄtis anf das Buch, welches auf Auft'ordorung des hed. Borromeus
der Mailänder Priester CamUlus Pcrajn vt i lasst, dessen Beweiskraft, in-
dessen fraglieh ist (La regola del cauto lenno ainbrosiauo. Mailand l'>--),
und bemerkt: Sauf Vmage de» demi tim$ indi«iue par le 6-mol et le diöze,
lefrequent emploi du mouvement descendant de quarie aux finales et le«
intonations de la pr^faoe, on ne voit pas dens cet ouvragc ce <jui consUtuait
16
Die Auffinge der eoropäisch-abeiidlAiidiMliea Musik.
InUigten Octmreimiheii voikommendeii Ttee nicht tlUbk ein Knnsfc-
gttflets, Bondern auch eins tufdiUelie Ssbrang erblickten, so blieb
die Anwendung der zufHlligen Erhtfbnngen der Töne aasgescbloBeen
und wurde erst späterhin unter der Einwirkung der mitderweile
entstandenen nudirstimmigen 8inp;inn8ik nur dort gestattet, wo
sie sich als eine durchaus nicht abzuweisende Forderung des
Ohres lierausstellte. Diese GeVjundenhcit bewalirto oline Zweifel
die Musik davor, sich, noch ehe sie auf der einfachen diato-
nischen Grundlage festen Öchrittcs wandeln gelernt, in's Ziellose
zu veilanibn; andererseits aber wurde sie der Anlass zu harten
KSmpfen und schwerer Mtthe, unter der sich zu Ende des 16.
Jahrhunderte die Musik aus den einengenden Banden zu voller
künstlerischer Flreiheit losrang.
Im Sinne antiker Theorie angesehen, stellt jeder der vier
authentischen Kirchentöne zwei neben einander gestellte getrennte
Tetrachorde vor, von denen beim ersten, zweiten und vierten Ton
durch das ti< trrc Ti'trachord nach der dreimal veränderten Stelle
des llalhiitusi hriltcs zugleich die drei Gattungen von Quarten re-
präsentirt werden. Beim dritten Ton ergibt sich der Missstand, dass
im tieferen Tetrachord ein HalbtonadiritI gar nicht Torkommt,
dasselbe folglich keine reine, sondern die aus drei ganzen Tönen
bestehende ttbermMssige Quarte darstellt In dieser Tonreihe machte
sich in der Quarte f — h jener von der ganzen mittelalterlichen
Theorie so sehr gefiirchtete Tritonus geltend, mit dem sie nicht
anders fertig zu werden wusste, als dass sie ihn völlig verbot, jenen
musikalischen Teufel (diaholus in musica), zu dessen Ramiung es
nöthig wurde, unter gewissi ii Umständen jene«; // um einen Ilalb-
ton zu erniedrigen^). Franciiinus (jiafor «Twülint. dass die Ainbro-
sianer den lydischeu Tun abwechselnd in den mixolydischen ver-
wandeln, indem äe (in der Tonreihe von f) statt h Tielmehr 5
singen^. Allerdings wird erst bei den Schriftsteilem des 11. Jahr-
les differencea esaentieiUes entre les deux chauts. Im Grande macht das
>>l()ss(^ Pünmischon von chromatischen Appoggiaturen u. dgl. einen im
W esentlichen diatonischen Gesang noch nicht zum chromatischen.
1) Post ditonnm «ose tritonus oflfortj duras, asper et insmabilis, ac, si
fieri possit, repellendus semper. Qui quidem in tantum auris veterum vel
offcnilitvel exterruit, ut nccessitatoni illisiinposueritomni solertiavestigandi,
qua ratione, qua lege leniri possi ac tempcrari, netautcm auribus obstreperet.
Inventnm est igitnr by qnod a soni lenitate moüe dioimiiB, qui sese Uli oppo-
lu ns HO opportUTU' « Mncntihus ofTerons illius asperitatem atqne (hiriti«-tn
miro tcTupernmeuto muiliret (Piero Arou, De harm. irnt. L 20 de tritono).
2) Plerumque etiam alterna Lydiae et Mixol^diae modolationis oom-
mntatione concentus rcdditor suavior quod jK^imnM AmUnro»iam nosfrt im
ecclrfiui.<<ti<-is ohsermnt modk, quum qniTittiin ipsum et septimum commu-
tatiouc h durau qualitatis iu b möllern tanquam diapcntes vel diatessaroii
speoie oommixtos modnlsri soleni. ^us. pract. L f. Das Bach ist 14S6
zu Mailsad gedruckt.)
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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kuui.
17
bimdexts (Guido von Aresso n. a.) die anidxttekliche üntenchei-
duDg dea randen nnd des eckigen b ß rtmtmdum nnd b quadrtm
d. L 6 und }^ letsteres unser h) gemacht; aber factisch wird diese
durch ^e unabweiBbareu Rücksichten des W<ili1klan<res und der
Singbarkeit gebotene Unterscheidung schon in sehr früher Zeit ge-
macht worden sein, bosiondcrs da die noch zu Zeiten des heiligen
Ambrosius vollgültifje antike 'riu'<irio der Musik durdi die Anwen-
liunj; des verbunileiu ii niid des jcetrcnnten Tetrachordes j;anz den-
selben Unterscliiecl lii'(d)aolitete. lluebald von St. Amand, der zu
den älttibtcu MusikscIiritUstc.Uern des Mittelalters gehiirt, bestimmt
swar in den von ihm erfundenen verschiedenen Tonschriften keines-
wegs verschiedene Zeichen für die Töne t( und 6, doch eiklKrt er die
Differens zwischen beiden so deutlich als möglich, freilich aber
nur indem er nach jener antiken Tetrach<»denlehre surflckgrcift^).
Natürlicli konnte die Sache nur im dritten auf / basirten Kirchen-
ton sich geltend machen, weil sich nur hier die widrige Kelation der
übemi?fssip:en Quarte bemerkbar machte. Marchettus von Padua (zu
Knde des Iii. und Anfaiif!^ des 14. JahrliundcrtH) p:ibt die Weisung,
man solle im dritten authentischen Tone aufsteigend /t, abstei^rend h
intoniren-;. Mit der Doppelgestalt der Quarte des dritten Kirchen-
tones war aber die starre diatonische Consequenz gelu-ochen und wie
1) Quodsi inseratur synennuenon tetraohordum, cujus locas est inter
Mosen et Paramesen, tanc post Mesen loeabnntnr hae tret hoc ordine:
Mese, Tritc synommeuon, Parnncte syneinmenon, Netc -synemmeiion. In
quibus una tantum, hoc est trite syneininenon, diversum a superioribus
obtinet 8onum. Nam pai-unctu syiiumiiienon eadem, qua tritu diezeug-
meooD, resonabtt voce; nominibas enim tantom discrepant: sed propter
hoc adscribuntur, quia quotiens nielum quodlibet ita coniponitur, ita ut
post mesen semitouium, totius et totius (nämlich n^iü") iiant sursum
rersus, eodemqne tenore per tonnm, tonum ei semitoninm usque ad ipsam
mesen redoatur (das ist also nV^d f d*?^^), uecesse est ut suo nomine
tetrachordo nunoopato dicatnr decorrere, quod vocatur synemmenont id
est conjnnctuni, (juia cum nieso ]»cr s^cinitnuium juniritur. Quotiens vero
post mesen toni inti-rvallo Uiilucto a juiramese tetrachordiua usquc in
neteu diezeugmeuou provehitur (daa ist a 2| c d), alio ipsum tetraohordum
oportet nomine appeuari, id est dieseugmenon, quod est disjunetum; quia
inter mesen et paramt'^tm tnnu^^ 'b-*tuiitiam facit. (Hucbaldi INfusica bei
Gerbert Scriptoresl. llt>.) J? ür Hucbald ist Proslambanomenos soviel als A,
folglich Mese a Paramese il| Trite synemmenou b, Paranetc syuemmeuou und
Tnim diezeugmenon c, Note synemmenou und Paraaete dieseugmenon 7
3) Qoiutus tonus (der 3. autlient.) formatur in suo ascensu ex tertia
qiKMSie diapente et tertia diatessaron superius, in descensu vero ox oadom
specie diatessaron et ex cpiarta diapente i^Lucid. mus. planae Iii. 1-1 bei
Oerbert Script. III. 110, III). Tinctoris (lib. de natnra et proprietate
tonorum cap. 2. ) sajrt : I t auteni excitetur tritoni durities nccevsario ex
Jiuarta specie diapente isti^ duo toni ^der 3. autbent. und 3. Plagalton)
ormabnntar, neqne b moUis siguum apponi est necessarinm. Arou (della
natura e co^j^nizione) bemerkt aber: dato che non sempre tal tuono (der
3. authentische), si <li bbe cantare per detto b moUe ])erche sarebbe oontra
agli versi dellu mcdiazioui di lor tuuui ordinati da gli autiühi.
▲»ktos, acMklchto dw MMlk. IL 2
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18
Die Anfiing fl der europäisch-abendUndiachen Musik.
in einer enten, weitesten Andeutung der Weg in fernerer künftiger
Befrmnng angebahnt Durch Anwendung dor reinen Quarte im
ersten Tetrachord des dritten Kirchentones erhielt derselbe ferner
völlig die Beschaifenheit der natürlichen diatonischen Durskala.
Hollten nun die vier Töne entschieden zur Geltung knimneii,
so musst<Mi in den einzelnen aus ihnen ^^(ibildeten Ges;in«;en ilue
charakteristischen Eifj^cuilieitcu bemerkbar wcrd en. Bei dem v erse-
weisen Gesang und den dadurch von se Ibst entstehenden kurzen
musikalischen Phrasen des Gesangs waren vorzüglich drei Punkte
in beachten: Anfang, Mitte und Sehlossi). Diese drei Momente
werden bm Bestimmung der Tropen, das ist gewisser auf die
KirchentiSne gebauter Grund- und Hauptmelodien, in der That ans-
drfteklich hervorgehoben und festgehalten (primtis, aecundus eie,
tonus ffic incipüm'f sk mediatur et sie finitur). Das Natnrgemässe
war, den CJesang vom Stammtone (d im ersten n. s. w. Kirchontone)
oder auch von der Terz ausgehen zu lassen, die Mitte auf den wichtig-
sten N('l)Cuton, die 'Vvsz oder Quinte mit Bentitzung der Zwischen-
stufen zu leiten, und den Schluss beruh igend auf den ersten Ton
zurückzuführen. Besonders die Schlussnote galt fUr sehr wichtig^.
Als eine Eigenkeit des Ambrosianiseben Gesanges wird insgemein
seine melodiscb-riiydimiscke Beschaffenheit hervorgehoben. Ist die
Annahme richtig, dass der itaUenische Kirchengesang in dürftigster
Wosemne Art monotoner Cantillation oder Recitation gewesen, so
ist es begreiflich, dass der in feierlicher Gemessenheit volltönend
strömende Auibrosianischo Gesang auf die Hörer eine tiefe und er-
greifende Wirkung hervorbringen musste-'j. Das Zeugniss Guido'»
von Arezzo, der den Ambrosianiseben Gesang wundersUss (per-
1) Tiiicforis leitet sein (nach seiner beigesetzten Üatirung am No-
vember lilG zu Neapel vollendetes) Buch de natura et propriotate tono-
rom mit den Worten ein: Tonus nihil aliud est, qnod modus per quem
prifieipium, medium et finis cujuslibet eantus ordiimtur. (^uem (}uidem
tonum uouuuUi tropum id est converaionem vocant , eo quod per touos
omnis cantus in diversas species convertatur.
2) So sagt Ghndo von Aresso in seinem Mtorologns oap. U.: Finito
(veno) cantu iiltirnae voci" moflnm ex ijraeteriti'* a]>erte cognOSOimUB. In-
cupto euim cantu quid sequatur iguurus, liuitu autem quid praecesserit vides.
Itaque finalis toz est, quam melius intnemur. — ~ Additur quoqae et illud,
qiiod accurati cantus in finalem vocem maxime distinctiones mittant. Nec
mirum est regulas musicam suinere a tinali voce, cum et in gramniaticae
partibua artis pene ubique vim sensus in ultimis literis — — disceroimus.
Ä fInaU itaqiie voce ad quintam in quolibet cantu jmta est dc-
positio et mi'inr ad oi:tnrnf< rlfimtio. —- fJn-Jr et finafrs voces statucriint
Df Ef Ff (jT. quia hia primum praedictam devatiotuim vd deposUioncm
monoekortU potitio eommodaverit; haben* enim haee deortum umtm tehro'
ehordum grainum, surmm vero dm acutarum.
3) Railulph von Tongern (im Ii. .Talirh.) hebt es als Eigenheit des
Ambrosianiüchou Gesanges hervor, dass dabei die Mediationcn plan,
d. Ik ohne in Tersohiedene TOne (wie im spltoren Qregorianiaohen
Qesange geschah) aussuweichen, gesungen wurden.
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Die ersten Zelten der cbristlichen Welt ukd Kunst.
19
didtis) nennt, Ut freilich nicht viel ^icrtb, wenn man sich erinnoi-t,
dasR er anch nn der „Weiclilit'it" von t^)uailcnparnll('l('n sein AVnlil-
pcfallen hat. Er spricht von „nietrihchcn (u'siinjrcn", wclclie s«t pc-
bimgen werden, wie man Ver^e se?unlirf ; nnd wenn er nun torltahri,
das8 in den Gesängen de» heil. Anihro^ius die Kotengrupjie (Xinma) '
der Notengruppe, und der Abschuitt (disliudio) dem Abschnitte
entspricht, so dnss eine Aefanlichkeit im Verschiedenen (smÜüuäo
diasmüis) entsteht: so kann man, snmal nach den weiteren von Guido
daraher gegehenen Erklärungen , darunter nnr eine su symmet-
rischer Gliederung geetaltete I^Ielodie verstehen. Diese Melodien,
unter denen wir uns doch wohl vorzugsweise eine von Ambrosius
veranstaltete Anwendung bereits bekannter Gesänge zu denken
haben, müssen noch durchaus einen der antiken Mclddic ver-
wandten Zug gehabt haben, ohne doch mit ihr identisch hcisseu zu
können. Bei der nahen Venvaiultscliat't der Anjbrohianisclien
Melodie mit der antiken verdient auch die Versicherung Guido' s
Glauben, dass sie wesentlich auf Metrik gebaut war, d. h. statt
sich gleich dem spSteren Choral in gleich gemessenen Tönen sn
bewegen, die Quantitit der Sylben unterschied.
Die Kirchen im Orient hatten ihre eigene Singweise. Der
Kirchenhistoriker Eusebius^) erzShlt von der Kirche in Cttsarea,
dass, wenn einer einen Psalm zu singen anfing, der Clior der
Gemeinde mit dem Schluhsvers volltönend einfiel: eine Manier,
die auffallend an die alte ^'ortra•iw ei>^e der Pin<lar'schen Kpiiiikien
mit dem Sohtgesang des Gliortuhrers und dem unter Kitliai klangen
den SchlusB zu Ende singenden Chor erinnert. JSogar diese Kitharbe-
gleitnng wurde beibehalten, denn der heil. Basilius -erzXhlt, dass,
„wenn der Tag anbricht, alle die in der Kirche dieNaeht in Gebet und
ThrXnen durchwacht haben, im Einklänge unter den Tönen der
Kithare Gottes Lob anstimmen." Es war eben der heil. Basilius
(starb 379) der Grosse, der für den orientalischen Kirchengesang un-
gefähr Aehnliclies wirkte, wie der heil. Ambrosius für den occiden-
talischen. Auch der Patriareh von Alexandria war in solchem
Sinne eifrig bemüht. Ja es ist sogar bel»au]>tet worden, der heil.
Ambrosius habe nicht allein die Art des (iesanges in seiner Afai-
länder Kirche dem wesentlicli griechisch gebildeten Ostlande ent-
nommen, sondern auch die vier authentischen Töne: eine Meinung,
die durch den Umstand einiges Gewicht bekommt, dass diese vier
Kirchentöne von altersher auch im Abendlande mit den griechi-
schen Zahlworten protos, deuteros u. s. w. beseichnet wurden
1) Hist. ccci. 11. IG.
2) Forkcl (^(iesch. d. Mus. 2. Bd. 8. 1G3) meint: „man könne aus diesen
Benennungen sug^eich einen neuen, vielleicht den allerstArksten Beweis
hernehmen, dass überhaupt die Kirchentöue, nicht Mo.s die vier Ambrosia-
nisöhen, sondern auch die übrigen vier, sie mOgen nun hinzugethan sein
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20
Die Anftnge der europäisch-abendUiiidiBchen Musik.
Der bewegliche Geist der Grieehen, der fenrigc Sinn der
Orientalen konnte eich im Zusammenstellen ritueller Uymnologie
gar nicht genug thun. Daher denn in der orientalischen Kirche eine
Monj^e Arten und Abarten «jeistlichen Singewesens aufkamen, bei
denen aber freilich die Musik das Wenigste zu sagen hatte. Eine
neue und sehr bestimmte Physiognomie, leider keine sehr erfreuliche,
bekam der griechische Osten nach der Gründung des byzantinischen
Kelches. Als dort der goldene Kaiserthron aufgerichtet wurde,
flohen die letzten Genien des alten Hellas „nnd alles Schöne, alles
Hohe nahmen sie mit fort** Zwar dauerte das hysantinisehe Beicb
ein Jahrtausend lang; unter Justinian, in der Mitte des 6. Jahr»
hnnderts, konnte der Zustand sogar glänzend heissen, aber, wie ein
neuerer Schriftsteller mit Kecht bemerkt, es ^ar der Phosphorglanz
der Verwesung.". Die by/fuitinischen Herrscher, umgeben von einer
corrupten Schaar knechtischer Höflinge, suchten vor allem durch
orientalisches (.'eremoniel und pninkenden Glanz zu imponiren, man
kann sagen, dass sie es bedauerten, das Gold, von dem sie strahlten,
nicht auch noch vergolden zu können. Das Volk von Constantinopel
bot das Bild eines entarteten Pöbels; nur die Parteien in der Benn-
bahn oder dogmatische Streitigkeiten, in die er sich unbemfen
mengte, Tennoehten ihn m dnem dann allerdings iSmatisehen An-
theil aufzuregen. Das Einiige, was in diesem T^eiche noch durct
ideelle Macht wirken konnte, waren neben den kirchlichen Streitig-
keiten eben jene Factionen des Circus; Theodora, die schamlose
Tänzerin, welche durch ihre schlauen Künste zum Throne gelangte,
wendete sich mit Erfolg an sie, und ein andermal enrn^te <las Volk
um ihretwillen einen Aufstand. Von den Künsten fand allein die
Architektur ein Feld sich in Ubertrieben prunkvollen Bauten zu
bethXtigen ; meinte doch Jnstinian mit der Sophienkirche Salomo
fibertroffbn su haben. Die Malerei durfte gar keinen eigenen Ge-
danken haben, nichts aus innerem Antrieb schiUFen: ne stand unter
der geisterdrUck enden Controle des Glems, der die Bilder nach
einem unverbrüchlichen Gesetz (i9f<r^<rt?«a^) geschaffen wissen wollte.
Die bildende Kunst erstarrte jetzt zu seelenlosen, stets mit skla-
vischer Treue wiederholten Typen. Selbst die Religiosität im
byzantinisclien Leben sieht mehr wie knechtisch zitternder Aber-
glaube als wie die eelite, in Dank und Liebe anbetende Gottesfurcht
aus. Auch das gemalte Kunstwerk (wenn man es so nennen darf)
hatte kidnen Werth als ein Schttnes, Edles, Ideales, was es gar nicht
war, sondern als Darstellung eines reUg^ös verehrten Gegenstandes«
Ein Bild der „Pana^" konnte seine Verehrer mit einem gelben
Lmchengesichte oder mit einem schwanbraunen ansehen, genug es
yon wem sie wollen, griechischen Ursprunges waren*. Bei den Neugrie»
eben heisien die authentiMhen TOne »v^to* «lro<<
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Die ersten Zeiten der obriiUielieii Welt und Knnst
31
war ein Bild der Panagia und folp;lich heilig:. Ob Bilder als solclio
Verehrung verdienten oder nicht, konnte den Streit mit den lk>»no-
klasten bis zu fanatischer Wuth anfachen. Die Darstellniitr der
Martyrien erjnng: sieh mit Wohlgefallen im Grausamen, Gräs.sli( lien
und Blutdürstigen. Ein solches Reich, wu die Kunst zur Sklavin
derPnmktaelit, siim AnsdnidLe geistiger beditaeliaft und in ihren
Fonnen snr dfirren Mamie, wo das Ideale in gedankenlosem Prunk
und sinnloser Verschwendung gesucht wird, wo das Erhabene durch
ein umständliches Ceremoniel erreicht werden will , wo im Staate
Knechtssinn, in der Kirche Aberglaube die bewegenden M&chte
sind, kann den idealen KUnsten der Poesie und Musik keinen
gfinstigen Boden des Gedeihens gewähren. Die Musik kam nicht
eiimial iiiclir als Mittel sinnlicher Anregung in Verwendung, ob-
gleich der Kaiser si iiie Spieler (Pägniota)^) hatte, die aber eigent-
lich nur ein Trumpeterchor waren, um den Er<lengott mit Intraden
zu begrüsscn oder anzukündigen. Dem purpurgeboreuen Herrscher
genügte seine schwere goldstrahlende Pracht, gegen deren soliden
Werth das luftige Spiel der TOne eitle Gaukelei schien. Was an
Musik ertönte, wenn der Kaiser ansritt oder zur Kirche ging, Ter-
diente kaum diesen Namen. Nach der Schilderung, die Codinus
von der Einrichtung des byzantinischen Hofes gibt, wurde, wenn
der Kaiser zum Ausreiten fertig zu Pferde sass, auf Trompeten,
llfirnern (huccinae) und Pauken in ganz eigener Art gespielt: es
klang, als flehe jemand um etwas, oder als leide er irgend ein Uebel,
also kläglich und jammervoll. Das sollte eigentlich gar keine Musik
sein, sondern ein Signal für Leute, die dem Kaiser mit Bitte oder
Klage etwas yorsntragen gedachten. Jene PSgnioten des Kaisers
bestanden ans Trompetern, HomblXsem (Bucdnisten), Pauken-
schlSgem und Surullisten, also benannt nach einem nicht ntfher be-
kannten Instrument Surullium. Kleinere Instrumente gab es
dabei nicht, wie Codinus ausdrücklich bemerkt. Ging der Kaiser
am Weihnachtsfeste zur Kirche, so stimmten die Sänger einen Ge-
sang an: ,,Gott lasse deine H<'rrschaft lange wahren", wozu jene
Instrumente ihre lärmend pomphaften Töne hören Hessen^). Der
Patriareh Theophylaktos von Constantinopel brachte sogar weltliche
Gesänge in die Kirche^). Schon Justinian, der eifrige Gesetzgeber,
1) Pagnioten, wörtlich Spieler von »ait».
2) Wer von den prahlerischen, hoffilrtlg devoten Kirch ongflngcm
der byzantinischen Kaiser ein lebendiges Bild haben will, sehe das Mo-
•sik ans St. Vitale in Ravenna, wo Justinian und Theodora mit ihrem
Oefoii^'e zur Kirche gehen.
3) G.Mir}^ Codrenus FTist. cap. 9, Teophylaktus war freilich der
Mann dazu, sich aus der Kirche zu entfernen und den Gottesdienst hin-
totsoscbieben, als er die Nachricht erhielt, dast eine arabische Lieblings-
atute seinen Maratall mit einem Fohlen beschenkt habe. In diesem
Harstali hielt der Patriarch mehrere hundert kostbar verpflegte Pferde.
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22
Die AnAoge der enropftiBch-ebendlindiachen Mnaik.
warf sein Auge auch auf den in Verfall gekommeneu Kirchengesang,
„Alle Oleriker, welche bei den einselnen Kirchen angesfcellt nnd,**
yerordnet der Kaiser, „sollen nngeheissen die Nacht-, Keigen- nnd
Ahendgesinge absingen, damit man nicht aus ihrem blossen Zehren
an den KirchengUtem merke, dass sie Cleriker sind, wShrend sie
iliro Pflicht beim Gottesdienste nicht erfüllen 1)." Dass ein solches
Gesetz nothwendig wurde, ist ein Beweis, wie nachlässig, ohne Lust
und Liebe der Kirchenn^esang in Byza'iz lH'tri»'ben wurde. Die
Spuren der fonnjitioii alles byzantinischen r^ebciis zeigen sich aiuh
hier in sehr cliaraktt ristischen Zügen. Theodctr Balsanion tadelt es,
,,dass man die Keiheu der Sänger jetzt vollständig aus Eunuchen
Busammensetze, was doch früher nicht geschehen sei^.'* Wenn aber
Joannes Kameniates ersXhlt, „dass ein aahlreicher 8Sngerchor im
festlichen Reigen die Augen der Schauenden ebenso sehr durch
seine prlUshtige Kleidung, als ihre Ohren durch Psalmengesang
eigötzte", nnd ntin trlumphirend furtHihrt: ,,wo ist dagegen nun
jener fabelhafte Orpheus, wo die Mnsc Homcr's, wo sind die
Lockuiiucn der Sirenen, jene Erfindungen der Lüge" n. a. w.,
so erkennen wir ein treues Bild des byzantinischen Lebens mit
seinem die hohle Niclitigkeit gleisscMid überdeckenden Pnink.
Einzelne byzantinische Kaiser wendeten allerdings der Musik
eine Aufmerksamkeit zu, welche unter anderen Verhältnissen die
Knnstsn fördern geeignet gewesen wäre. Theophilns (829 — 842)
soll nicht alleinHymnen gedichtet, sondern sich auch in den Kirchen
am Spielen musikalischer Instrumente persönlich betheiligt nnd den
Oeistlicben 200 Pfund Silber angewiesen haben, damit sie sich
in der Musik mit besserer Mnsse ausbilden könnten. Dem Michael
Parapinacius (zu Ende des IL Jahrhunderts^ machte man sogar
zum Vorwurf, dass eriiber den Musenknnsten die KegitM'ungsgeschäfte
vernachlässige. Um 1150 stand der Sänger nnd Kitbarspieler Sa-
motherus Logotlieta um seiner Kunst willen bei dem Kaiser
Manuel in ganz besonderen Gnaden. Loo der Philosoph dich-
tete Hymnen, welche der kaiserliche SXngerchor wXhrend der
Tafel absang; die GXste standen dabei alle auf und sogen (wie
das Buch des Porphyrogeneta über die Geremonien des byzan-
tinischen Hofes berichtet) zum Zeichen des Respectes ihre Ober-
kleider au8. Der Byzantinismus «eht wirklich wie ein in's Chi-
nesische übersetztes Griechenthnm aus^).
1) Omnes Cleriei per singulas ecelesiss oonttitati per ae ipsos
psaUant nocturna et matutina et vespertina, nee ex sola ecclosiasticarum
rerom consumtione cleriei appareaut, nomen quidem habeutes clericorum.
rem autem non implentet clerid droa liturgiam Bomini Bei (Lib. I,
Cod. tit. 3. de episcopis et clericis §. 10.)
2) Nomocan, Tit. T. cap. 11 in can. 4 Synod. 7.
d) Herr Prof. Müller von Pavia, der in der k. k. Hotbibliuthek zu Wien
vide Hoaderte bysantinisoher itaatlicher und kirchlicher Verordnungen
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Die ersten Zeiten der ohristlichen Welt und Kunit.
Für „üebeiliefenuig der bildenden und banenden Kttnste
gab es** sagt E. Förster in seiner Oeschichte der dentseben
Kanst, tfSwei Quellen, neben der Kunst in Italien nocb die
im bysantinisehen Keiche'^^). Die Skizze byzantinischen Le-
bens, die wir zu geben versucht, lässt einen Blick in die ür-
saclion thun, warum dort die Tonkunst nicht gedieh, vielmehr
ihre antiken Traditionen nur ein gespensterliaftes Schattenlebeu
fiihrtcn^), obschon das Keich mit seiner Pracht und Herrlichkeit
erst 145^ vor dem Türkeusultau Mohammed II. zusammenbrach.
Italien aber wurde schon vom Beginn des 5. Jahrhunderts an
▼on den Ztlgen nnd Kflmpfen der Ydlkerwandernng heimgesucht.
Es kam die Zeit, dass ein reinigender Sttinn Uber cUe Welt
dahingehen, dass dem cultivirten aber entarteten SUden rohe aber
gesunde Elemente von Norden her sich vermischen sollten, dass die
Völker aus ihren Wohnsitzen aufgeschreckt und verdrängt sich
andere Stätten suchten und dass maimi<x^achsto neue Combinationen
ans ihrem Zusammentrefien hervorgingen. In jenen Uebergangs-
zeiten. wo es in Frage gestellt war, ob die Meuschlieit hinfort ein
wüster Barbarenhaut'e bleiben, oder ob eine neue, verjüngte Mensch-
heit als Pflegerin des Guten, Wahren und Schönen hervorkommen
werde, war es die Kirche, in deren Asyl sich jene heiligen Besits-
thflmer des menschlichen Geistes flüchteten. Die Ueberliefemng,
wie jenw grosse Papst Leo dem blutigen Manne, der sieh die Geissei
Gottes nannte, kühn entgegentrat und der Verwtlster sich vor dem
wehrlosen Greise beugte, mag ein Bild der ganzen Epoche heissen.
Die Kirche trat den Völkern lehrend, mahnend, abwehrend,
Sitte und Bildung bietend entge^'en, und sie beugten sich und
nahmen das Geschenk mit dankender Ehrfurcht an. Jetzt mischten
sich die Elemente zu der künftigen neuen, romantischen Kunst.
n.t. w. ans den alten Handsdyriften oopirt hat, Tenieherte auf meinBefragen,
dass von Musik darin nirKonds auch nur eine Erwühinnig' vorkomme. Ich
habe mir fast zur Aufgalie gemacht, alle möglichen Werke hyzantinischcr
Malerei an Tafelgemälden und Mosaiken, die mir je irgendwo vorge-
koiiiiiien (and es ist deren eine enorme Menge!) zu durchforschen, ob
irgendwo eine DarBtellnnf; singender Engel, musikalischer Instrumente
u. dgl. zu finden sei. Nir|{eudB auch nur eine Hyxiv. in der Brera zu
Mailand findet sich allerdm^ unter der Beseiöhnung Seuola greca ein
Gemälde, eine Krönung Mana*S| wozu ein üheraus stark besetztes Engcl-
orchester aufspieh: zwei Portativorgeln, Lauten, Psalter, Harfen, Blas-
instrumente, iunihourins. Aber das Bild ist sicher nicht byzantinisch
(ßAom die Composition zeigt et), sondern nur byzantinisirend, von irgend
einem italieni^ihrn Künstler gemalt, wie ja auch die alte Schule von
Otrauto sich wesentlich byzantinisch gebildet hatte, und noch Andrea
Tafi, Jacob Tnrrita bis auf Cimabne dem Style der Bysantiner folgten.
1) 1. Bd. S. ».
2) ^Ihh sehe Kiesewetter's Musik der Ncujyriechen ; Korkers Gesch.
der Musxk. 1. Bd. 8. 443 fg.; auch Bumey 2. Bd. S. 47 fg. In der
Mnsik der Neogriechen leben noch bysantinisohe Traditionen.
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24 Die ABl^nge der earop&isch-abendlftQdiflcheii Musik.
Die nordischen Völker hatten ihre Lust am Gesänge. ESn
Volk, das unter seinen Göttern einen Gott der Biehtnng kennt,
jenen Braga, in dessen Händen die Harfe liegt und welchem Idnna,
die Wahrerin der unsterblich machenden goldenen Aepfel, vermählt
ist, wusste den Zau])errei7 der Dichtung im geordneten Worte wie
in poorduc'teu Tönen wnhl zu erkennen, und in der sinnigen Klang-
Bpieleri'i des Stabreimes, wie in den Hpäteren gereimten Verse-
schlüssen, liegt entschieden ein gewisses musikalisches Element. Für
die Germanen waren alte Lieder die einzigen Urkunden und Ge-
sehichtsdenkmale, in denen sie den erdgeborenen Thnisko und
seinen Sohn Mannns als Stifter ihres Geschlechtes besangen i).
Tacitos erwähnt aneh eines an seiner Ztat bei den „barbarischen
Nationen" allgemein gesungenen Hemnannliedcs. Die Weise dieser
nralten Heldenlieder klingt nach in dem urkräftigen Liede, wie die
gewaltigen Recken Hiltcbrant und Hadhubrant, Vater und Sohn, im
Zweikampfe zusammenstiessen, nach Feussner's Annahme um das
Jahr 700 gedichtet. In Zeiten, wo Dichtungen solcher Art ent-
stehen, tönet was gedichtet wird im Gesänge vom Munde des
Dichters. Solche Lieder wurden bei den nordischen Völkern mit
der Harfe begleitet, wie Venantins Fortunatas , Bisehof an Poitieni
au Anfang des 7. Jahihnnderts, ausdrücklich erwidint'). Hatten die
Römer sich in Deutschland festsetzen, aber den fireiheittrotsigen
Mfinnem ihre Cultur nicht aufzwingen können, so glückte es besser
bei dem celtischen Nachbarvolko der Gallier, welche in ihrer Halb-
cultur gleichwohl weit mehr den Eindruck von Barbaren machen,
als die ganz uncultivirten Germanen. Ursprünglich hatten die Gal-
lier gleich den Germanen ilire Barden, welche zur Harte Helden-
lieder sangen, sie feuerten sich mit Gesängen zum Kampfe an und
Hessen rauhe, starktönende Horner dazu ertönen. Nachdem Casar
das Land der Bömerherrschaft unterworfen, mischten sich römische
Sit jfi und Bildung mit den alten Gewohnhdten. Mit dem rOmlschen
Wesen, mit dem Opferdienst und dem Theater kam ohne allen
Zweifel auch die spedfisch rttmische, d. h. die antike Mudk nach
Gallien. Ein überaus merkwürdiger Fund wurde neuerlich in Arles
an zwei antik geformten Sarkophagen aus dem 6. oder 7. Jahr-
hunderte gemacht, auf denen pneumatische Orgeln abgebildet sind^),
so dass sich also die Kenntniss dieses Instrumentes im Abendlande
nicht wie man bisher annahm, aus den Zeiten Pipin's datirt. Unter
den Keliefs des Fussgestells des von Thcodosius auf dem jetzt
Almeidau geheisseneu Platze zu Constantinopel aufgestellten
Obeliskes findet sich auch die Abbildung iweier kleiner pneu-
1) Taciti Germania 2.
2) Sola bombaicns barbaros leados harba relidebat (in der Epistel
Ton wegpr Ton Tom. Z Poemal) Lmidi sind die Idedsr*
lutgetfaeat Ton Ooossemaker im TnäA snr Hucbald,
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Die ersten Zeiten der ohriatlichen Welt and Kunst.
25
naiisclier Orgeln mh ihren Spielern und Bllgetretem l). Es
kann nickt befremden, wenn die Börner das beUebte Insfcniment
Mck in die westlichen Provinzen mitnahmen.
Mit dem Christcnthume, das sehr bald auch in Gallien Ein«
gang fand, verbreitete sich dort auch der Ambrosianische Kirchen-
gesang vorzugsweise durch die Bemühungen C4regor'8 von Tours.
Dem keltischen Stamme gehörten auch die Bewohner des von
Gallien durch einen nicht bedeutenden Meereskanal getrennten Bri-
tanniens. Bei den Bewohnern des britischen Welschlandes, welche
ikre alten Sitten bis tief in die chiistlieke Zeit kinein bdbekielten,
ja bis anf den kentigen Tag EigentkOmlickkeiten seigen, eikielten
nek die Barden als Pfleger einer originellen Poesie und mnsikali-
scken Beeitadon in besonderem Ansehen. Jones glaubt die An-
regungen SU diesem in seinem natnrwUcbsigen, wilden, tüchtigen
"Wesen eigenthiimlich anziehenden SSngerthume in den wildroman-
tischen Schönlieiten der welschen Gebir;re suchen zu sollen*). Die
Sänger waren die Bosahrer und Verkiindiger des Nacliruhmes edler
Helden, ilir Gesang die Zierde der Königshöfe. Im Leben des heil.
Kieranus wird berichtet, „dass König Angus von Munster (um 490
Ckr.) TOrtrelHieke HarliBasehliiger katte, weleke vor ikm die
Tkaten der Helden in sfissklingenden Liedern sor Harfe sangen*'*).
Bobert of Bronne lobt es an den sokottiseken Ifinstrels Tkomas of
Ereeldonne und Kendel, dass rie nur vor Adligen und Vornehmen
(pride and nobleye) sangen. Das Ansehen, in welchem die kelti-
schen Barden, die Hofdichter (Priveirz, Penceirzion) standen, war
also, wie begreiflich, selir bedeutend. Wie gross ihr EinÜnss auf
das Volk war, zeigt sdioii der Umstand, dass E(hiard 1. von Eng-
land, als er sich 1284 Wales endlieh völlig unterworfen hatte, zu
dem grausamen Mittel griff, sämmtliche Säuger und Harfenspieler
kinrickten an lassen. Naek dem kymriscken Worte Llais, welekes
so viel bedeutet als Stimme, Ton oder Oesang, kiess im Gäliscken
nnd Ersiecken Lied oder Oesang Laoidk, Laidk oder Laoi, ein Wort,
das als Xey in das Angelsädisische, als Lay in^s Mittelengliscke
überging, noch zur Zeit der Troubadours nnd Minstreis in der Form
Lai 'Plural Lais oder Laiz) in Anwendung war nnd als Leicli in's
Miftt Ihoclideutsche aufgenuinmen wurde, ja selbst den Formen des
frotliischen liuthon, des altnordischen liodli , des althoch<leutschen
liod, des mittelhochdeutscheu liet und dem jetzt gebräuchlichen
1) Die Abbildung sehe mau in dem Fraohtwerke: Le moyen &ge et
la renaissance.
S) Wer sich «gründlich zu belehren wünscht, mag das Buch von B.
Joue<9, Musical aud poetical ndik^ of the Wclsh Bards zur Hand nehmen.
3) Hegern Momoniae Augusium citharistis habuisse optimos, qui
dikiter ooram. eo acta keroom in carmine citharizantcs csnebaot (oitirt
kl Traniact. of tke Irisk aeademy Bd. XVL Tk. L S. 835).
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26
Die Anfiknge der europäisch-abendländischen Musik.
Worte Lied verwandt erscheint i). Noch cur Blfitesdt des Tron*
ba(loiirLM>sanges waren die bretonieclien Lftis gaas besonderB beliebt
lind sclu'inen eine eijr<MU' Unterart der ganzen Gattung gebildet an
haben: „les saft/s de ih,iis hiis de bretoiis^), un lai en firent Ii
Bretun" und andere älmlic lic \\'eii(liuijren sind den Dichtern jener
Zeit sehr j^eläulig. ,, Durch die .Ton<;hMirs," sag;t Ferdinand Wolf,
tfWurdeu diese bretonischen, norniandischen und auglo-nonnandi-
schen Volkslieder und Volksweisen, lais, weithin verbreitet, und
vonEfiglieh scheineii die ersteren so beliebt geworden sn sein, dasa
we selbst bei den Heistern der höfischen Kunst, den Tronbadonra,
Eingang fanden, wie daraus erbellt, daes sie bretoniscbe Weisen
ihren eigenen Spielleuten empfahlen" 3). Auch die Schotten
waren Gesangesfreunde und ihre (allerdings weit später entstan-
denen) noch jetzt gangbaren Volksmelodien gehören zn den
schönsten Blüten des Volksgesanges. Sonderbar und eigen ist
es, dnsB die alte gälische Skala gleich der alten chinesischen
der Quarte und der Septime entbehrte.
Von einer wirklichen Tonkunst dieser Völker der NordhIÜfte
Enropa's, von einer „Mnsik bei den Oermanen, Galliern** o. a. w.
kann nicht die Bede sein^). Was wir von ihren Liedern, ihrer
Freude an Dichtung und Gesang durch Ueberlieferung wissen, be-
weist eben nur das Vorhandensein einer Anlage zur Knnst, nicht
schon der Kunst selbst. Wo hätte diese auch eine Stätte finden
sollen in einem Lande, wie damals Deutschland war, voll Wälder
und Sümpfe, unter rauhem Himmel, dessen Bewohner dem Zu-
samnuMdeben in Städten feind in einzelnen Gehöften hausten, dessen
Männer in Krieg und Jagd ihre Beschäftigung fanden und ausser-
dem ihre Tage in träger Kuhe hinlebten, oder die Zeit in der Auf-
regung des Trunkes und Würfelspieles hinter sich braehten? Aber
diese blonden Biesen mit den unwirsch blickenden blauen Augen
waren sittenrein, Menschen voll frischer Urkraft «nea tfichtigeB
A'olkscharakters, gmndehrlich, goldtreu, ▼oll Ehiftircht Air das
Heilige und trotz der rauhen Aussenseite von gp'osser Gemttths-
tiefe, die sich in einzelnen zarten Zügen, wie ihre Achtung vor den
Frauen, äusserte. Ihnen gegenül)er stand die Cultur der antiken
Welt, entartet in ihrer \'erteinenmg , fast ruchlos in ihrer En^-
artung, ausgelebt in ihrer Kuchlosif:keit. in ihrer Ausgelebtlieit un-
ttihig neue lebenskräftige BlUteu /u treiben. Sic brach vor dem
Andränge zusammen, und wohl mag man in Christophoms, dem
1) Ich entnehme diese Deductiun dem vortrefllicheu Buche von Fer-
dinand Wolf: Ueber die Lais (S. 8. und 157).
3) Aus Ii fablel dau dieu d'smoors, bei Wolf & 6.
8) A. a. O. S. 10.
4) Ich nehme daher Umgang von einer „Musik bei den Galliern, bei
den Britanniem" u.s.w. also umstindlich su Inndeln, wie Forkel im 2. Bd.
seines Werkes thut.
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Die ersten Zeiten der diritüiclien Welt und Konrt.
27
gemttthlichen Riesen, der das Christuskind dnrch die stttrmenden
Meereaflathen gUicklicli auf seinen Bchiiltera hindurchrettet und
dann treohetsig meint: „das sei ein schwer' 8tttck Arheit gewesen'*,
das Sinnbild der Germanen erblicken. Mit dem Chxistenthnme Über-
kamen sie auch Bildung und mit der Bildung die Künste, von Musik
insbesondere den Kirchengesang. Das war aber kein einfaches Hin-
nehmen und nachnlnnondes Fortsetzen iiiitiker Kunst. Dazu hatten
die ungeschlachten Lehrlinge zu wenig Anstelligkeit und zu viel
eigene und eigenthinnliche, einstweilen Ireilich noch latente Kunst-
aulage in sich, die sich dereinst in ihrer besonderen Weise betliätigen
sollte. Es macht einen fast humoristischen Eindruck, wenn wir beim
Diacon Johannes im Leben des heil. Ghregor lesen, wie die Alle-
mannen nnd Gallier sich Tergeblich anstrengten den römischen
Kirchengesang ansanfilhren, wie ihre nngefllgigen Kehlen, nnfthig
die Feinheiten einer Melodie hervorzubringen, nur ein rauhes, don-
nerndes Gebrüll und Töne hören liessen, welche dem Gepolter eines
bergabrollenden Lastwagens glichen. Aber es war ein eigenthüm-
licli tiefsinniger Zng in diesen Barburen, und aus diesem Zuge ist
die roniantisclie Kunst aufgel)lülit und vor allem die roman-
tischeste der Künste, die Musik. Die gothische Baukunst und die
musikuiische rdyphouie (zwei verwandte Manifestationen dersel-
ben Kanatanlage im entgegengesetrtesten Stoffe, im hart>mate-
liellen Stein und in der unkörperlichea Schallwelle) sollten
durch ne entstehen. Anch ihre nationalen musikalischen Instra-
mente erscheinen wie eine erste entfernte Ankündigung der Be-
deutung, au welcher die Tonkunst einst bei ihnen gelangen
sollte. Den antiken Lyren und Doppelpfeifen hat die Musik des
christlichen Europas gar nichts zu danken; aber von den Geigen
und Ilarfen der Barbaren führt allerdings ein wenn auch weiter
Weg bis zu den Wundern unserer Instrumentalmusik.
Das Instrunieat der nordischen Skalden, der deutschen und
gallischen Barden, der britischen Sänger war die Harfe i). Das
fiteste Denkmal, das wir darttber beritaen, ist eine als Reliquie auf-
bewahrte irische Harfe im Trinity-GoUege su Dublin, daneben gut
geselchnete Abbildungen in einem aus dem 8. Jahrhundert her-
rührenden Manuscripte des Klosters St. Blasien. Die britische Harfe
erscheint hier unter dem Namen cythara anglica. Ihr Name war im
Gälischen und Irisobi-ti Cruit oder Clarsach, die WSlsen nannten sie
Telyn ; ähnlich klang ihr Name im T?r<'tonischen, wo sie T^len hiess.
Sie galt den spätrömischen Sclirittstellcrn für ein specifisch barba-
risches Instrument im Gegensatze zur antiken J^yra-). Sie war den
1) Uawkins (Uisi. of Mus. 2. Bd. S. 272) sagt: of instrumenta in com-
mon use, it is indispotable that the triangutar harp is by fiir of the greateit
antiqni^.
z) Es genüge die bekannte Stelle des Venautius Fortunatus (lib. YIL
cam. 8. ad Lupum ducem) in's Ged&ditniss surfickzurufen:
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38
Die Anfiknge der europ&isch-abendl&ndischen Musik.
heutigen einfaehenSpitsharfen sehr timlieli, mit einem SchaUknaten,
Vorderholze nnd schrüg gespannten Saiten versehen nnd stets anf
die Triangelform basirt, wenn aach Ober ini'l Vorderhols snweilen
geschwungen war nnd eine Biegung (meist nach anssen) machte.
Diesr Harfen waren von mSssiger Grösse (wie sieb aus Abbildungen
scbliessen lässt, wn sie ein Spieler in Händen hat) und leiclit trag-
bar. I^ei (1(11 ( lastnialilcn der Angeltiachsen reichte zuw eilen ein Gast
dein alldem das Instrument, der dann dazu ein Lied sang, ähulich
der griechischen Sitte, der Skolien. Biese gesellige Pflicht traf alle
QVste naeh derBeihe^). Eine Harfe mnsste Jeder besitasen ; dem GlSn«
biger war es yerwehrt die Harfe seines Schuldners zu pfänden. Ge-
spielt wurde bald mit der blossen Hand, bald mit einer Art Pleo-
trum; die Saiten waren bald Darm- bald Drathsaiten^). Eine sehr
kleine Abart der Harfe in Form eines gleichseitigen Triangels, quer
mit Saiten bespannt nnd mit dem Plectrum gespielt, kommt auf
einem angelsächsiseheiiManuscript des 12, Jahrhunderts vor; sie wird
von den alten Schriltstellern als Cithara barliara^) oder auch als
Psalterium^) bezeichnet. Die sogentannte ('ytiiara teutonica, wovon
das Manuscript von St. Blasien gleichfalls Abbildungen enthält und
welche nach dem Namen an sehliessen, die Torzugsweise in den
deutschen Gauen gebrttuchliche Abart der Harfenform gewesen sein
mnss, nähert sich mehr der Lyra als der eigentlichen Harfe. In der
einen roheren Gestalt ist das Instrument ein viereckiges, lingliehea
Sed pro me roliqui laudes tibi reddere certent
£t qua qui8(iue valet, te prece, voce sonet;
Roman usque lyra, plaudat tibi Barbarus harpa,
Graeciß Achilliaca, Chrotta Brittanna canat.
Ferdinand Wolf (Ueher die Lais S. 58) bemerkt dazu: Lassen sich dann
nicht schau die Lais de harpe et de rote des Wace, der Marie de France
Q. A. crtcennen?
1) Nonnunquam in convivio, cum esset laetitiae causa, ut onmea can«
tare deberent, ille, ut adpropinquare sihi citharam cernebat, mirj?ebat a
media coena. Beda IV. 24. Die äusserst interessante Schilderung eines
solchen Wechselgesanges der Oiste rar Harfe findet'ridi im roman du roi
Horn, wo es dann heilst :
a Guter eu aurtis fu la harpe baill^e
E del lai qu'il fist tu la note esoot^e
Loez l'unt qnant il vint jeke U la finee
Tut en reng m aprh fn la harpe liverh.
A chescunpur karper fu la harpe commandie
CAeseiMW % harpa f Tileins seit quil devtel
En cet fois !t}trenf tuit harpe bien manirr
Cum plus ert curleis hoin, tant plus Hol da mesUcr etc.
2) Armstrong vermuthet, die Harfe mit Darmsaiten habe Cruit, jene
mit Metall«aiten Clarsach geheissen.
:i) Kst auteni similitudo cytharae barbaricae m modum deUae lUerae,
Qerbert, Script. I. 2a.
4) Uanoscript des 18. Jahrhunderts, au Tergleidien bei Ooussemaker
a. a. 0.
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Die enten Zeiten der duistlidien Welt und Eonst
29
Biet, in seiner obem HXlfte tu einem Kähmen ausgeseiinitten.
Unten sind fünf Seiten halter, yQllig Jenen der Geige gleichend, an-
gebracht nnd an jedem dayon nnd wieder vier Saiten gespannt, die
am anderen Ende am obern Theile des Bahmens befestigt er-
schciuen^). In etwas ausgebildeterer Form gleicht das Tiistni-
ment dem Corpus einer Guitarrc oline Hals, die obere Hälfte rah-
menartig von leicht geschwungenen Armen gebildet nnd von cincni
einzigen Saitenhalter aus sieben Saiten föcherförmig gespannt -').
Noch weit wichtiger als die nordischen Harfen waren fiir die
Musik jene Gcigcuinstrumente, welche bei Venantius Fortuuatus
nnter dem Namen Crotta Torkommen und den keltischen Volks-
stSmmen eigen waren. Der kyrnrisehe Name lautete Crwth, die
Angelsachsen nannten das Instmment Cmdh, gadhelisch hiess es
cruit, englisdi crowth. Es ist im Wesentlichen dasselbe Instroment,
welches von den Schriftstellern des Mittelalters als Kota oder
Rotte so oft erwähnt wird, wie denn der Name Rotta offenbar
aus der keltisclien Benennung Crowd entstanden ist. Allerdings
wurde allmJilig die keltische Urfnnn des Instrument e> inuditizirt,
handlicher gemacht, nnd jo w eiter, desto ähnlicher wurde die Hotte
unserer Viola und Violine, oder vielmehr sie gestaltete sich all-
mälig an diesen Instrumenten nm. Die nordischen Geigeninstrumente
sind also unbestreitbar die Ahnen der Saiteninstrumente unseres Or- ^
chesters, dieser TrXger des edelsten Ausdrucks der Instrumental«
musik. Das siutenbexogene Geigeninstrument wurde im SpKtlatein
nach dem Worte fides (Saite) fidnla oder vidula genannt, identisch
mit dem in's Deutsche Ubergegangenen videle (wie z. B. im Nibe-
lungenlied Volker's Instrument genannt wird) oder mit dem noch
jetzt populären ,, Fidel". So sagt Constantinus At'ricanus, ein Schrift-
steller des 11. Jahrhunderts, in einer Abhandlung über die Heilung
von Krankheiten: „vor dem Krauken soll süsser Musikklang tönen
Ton Glockenspiel, Vidula, Botta und ähnlichem"^). Vidula und
Rotta sind ab«r dasselbe Instrument; in einer Anmerkung zu Alain*s
de Lille (ans dem 18. Jahrhundert) de plandu naturae wird be-
merkt: die „Vioel** oder „FStola'* heisse sonst auch „de Roet**^). In
einem Vocabnlar von 1419 heisstes: rott, rnh Ja est parva figella.
Gerson, der berttbmte Kansler der Pariser Universität, vergleicht
1) Oerbert, De cantu Bd. H Taf. XXIX Fig. 8. Trots der 20 Saiten
ist es wohl nar ein Pentachord mit fftnf TOnen, nimlich je vier Saiten
in demselben Ton gt'stimnit.
2) A. a. 0. Tal. XXXH. Fijr. 17.
S) Ante iniinniim dnlois aomtns fiat de murieorom generibos, sioot
campanula, vidula, rotta et similibus (i\v nioH». curat. IV
4) Lira. Vioel. Lira est quoddani };t nu8 l itlmnie vd //'oi<i, alioquin de
Jtoet. Hoc iustrumcatam est multum vulgare. (Das Mauuäcript besitzt Ba-
ron Betfenberg. Die Stelle wird citirt von Couasemaker: trait^S snr Huobsld.)
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30
Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik.
die ,,YielIa" dem Rebec, d. b. dem kleinen von den Saracencn ent-
lelnitcn Geiglein der TrouvcurH, und sapt, letzteres sei kleiner*).
An< h llHTonymus de Moravin faus dem 13. Jahrhundert) erwähnt,
(la>s <las Hubebo oder IJcbec blo8 «ln'i Saiten, die „Vicllo" dagegen
deren tiinf bis neclis lialjc'*^). So führte als«» dan Wort fidula, noch-
mals und in anderer Weise corrumjtirt, durrh die Zwischenfomien
Figella, Vielle und Vioel zu dem noch jetzt gangbaren Worte Viola.
Das Wort Kotta galt selbst den mittelalterlichen Schriflstellern fUr
barbarisch ^) ; es ist, wie schon bemerkt, mit dem britischen Crowth
dasselbe. Manche Schriftsteller, wie Gotton (11. Jahrhnndert) nnd
de Huris (14. Jahrhundert) nennen das Instrument anch phiala»
abermals eine Umbildung der fidula oder viella.
Die älteste Form des crowth Ih'snt annehmen, dass es ursprüng-
lich auch ein citherartiges Instrument, eine Art Lyra oder Kithara
gewesen und mit den Fingern oder mit einem I*lectrum gerührt
wurde, aus welch' Utzterem sich erst in der Ftd're der Geigen-
bogen entwickelte und dass durch die neue Behandlung die Ki-
thara zur Geige wurde. Wenn noch der Troubadour Guiraut
de Galanson seinem Jongleur Fadet vorschreibt:
E faitz la rota
▲ Xvii cordas gamir ...
so kann man unmöglich an eine Cieige mit 17 Saiten, sondern nnr
an ein harfenartiges Instnunent denken. Jene alte Form mahnt nun
so sehr an die kräftigen quadratischen antiken Phormingen, an die
T^yra <les Semiten von Beni-Hassan, an die Cithara teutonica, dass
es wirklich schwer ist, «leu Gedanken an einen gemeinsamen
ötammort aller dieser Instrumente alt/uw eisen, l'eber einem mit
zwei grossen SchallüÖ'uungcu versehenen viereckigen, docli nach
unten su leicht ausgesdiwungenen Schallkasten erhob sich zwischen
swei senkrecht aufsteigenden Armen ein von diesen festgehaltener
Hals mit einem bis auf das Corpus desBchallkastens hinabreichenden
O riffbr et. lieber dieses G ri fH^retwaren die Saiten, ursprünglich sechs,
spXter drei gespannt, welche unten von einem Saitenhalter, ganz
wie ihn unsere Geigeninstrumente zeigen, fesf^n lialteu wurden. Bei
den saitenreiclicn Instrumenten liegen die zwei tiefsten Saiten
ausserhalb des Griflfbretes. Als das histrmnent sjiäter ganz entschie-
den zum Bogeniustrumeute wurde, Hess mau die unbec[ucm störeu-
1) VielUon vcl rebecam. quac minor est. (.Ti'act. de contiu. UI.)
S) Notker Labeo (ans dem 10. Jahrhundert) neant die Bote „sieben-
•aitig" föne dtu slnt ändero ih-foi, unde ilndcro röi^iÖ äßttn »(etm.
ündo sibcnc geltcho gewcrlx t. ((tcrhert, Script. I. 9(5.)
3) Notker (in symh. Athauasii) bemerkt, dass die ludicratorcs das alte
Psalterium „ad suom opus traxerant, ejus fonnam conunoditati snae habilem
fcrcrant, et pluTos chordas annectentes etw/mmebafharico RoUam op-
pdlantea.^
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Die ersten Zeiten der christlichen Weit und Kunst.
$1
den £kuteiianiie weg und rundete die beiden oberen scbarfen Ecken
des Bcballkastens, die jetst nacb Entfemnng der Arme rieh frei vor-
gedrSngt hätten, ab und hiMctc cndrRli den ganzen SehnllkaKten zu
einer mamiolinenartigen Gestalt. Vom 12. Jahrhundort an bildete
man rlcn Schallkastcn in ein reines Oval um Die Fidel in dieser
Gestillt imiss damals ein sehr hekaiintes xind beliebtes Instrument
gewesen sein, denn ihre Abbilduug kouimt auf den romanibchou
Monumenten häufig vor.
Bei der LJngcnauigkcit, mit welcher die Schriftsteller des
Mittelalters die Namen der Instramente halb willkttrlich durch-
einanderwerfen, geschah es, dass im Mittellatds, im Alihochdeut-
schen die Namen Sotta, paaUerium, triimgulum und lyra bald das-
selbe Instrument, bald gana verschiedene Tonzeuge bedeuten
Wenn nun dieses Geigeninstrument, als das die Kotte, die Vioel
u. 8. w. denn doch voraugsweise zu gelten hat, von Norden her
Eingang fand, so begegnete es einem ganz verwandten, seit dem
Eindringen der Mauren in Spanien und den Kreuzzdgen von
Süden herankonnnenden dreisaitigen Instrumente, dem Rc\)cv, Ri-
hible, reberbe, rebele, rtibebe, oder rebebe. Die letztere S|»rach-
form mahnt am entschiedensten an das Wort BdMtb, wondt die
Araber ihr gans Uinliches, auch ihren Dichtem, Sängern und Im-
provisatoren dienendes Instrument beseichnen. Die dreisaitige Crotta
und das auch dreisaitige Rebec verschmolzen so au sagen in
einander und die künftige Herrschaft der Gcigeninstnimente war
entschieden oder wenigstens begründet. Die Mauren, Araber u. s.w.
haben auf keinen Fall ihr Rebab von Norden her erhalten (wiewohl
unter ihren Geigen ancli eine ,, Rotte'* genannt wird); wir begegneten
dem Kebee unter verwandten Namen tief in Indien, wohin es wulil
nur unmittelbar von dem benachbarten Arabien aus gelaugt sein
kann, welches letztere bei der Wanderung des Kebec auf keinen
Fall eine blosse Zwischenstation swischen der Kreidekfiste Britan-
nien*B und dem Palmenstrande Indien's, sondern einer der Centrai-
punkte, von wo die Verbreitung ausging, gewesen ist^). Selbst die
einsaitige Negergeige scheint rieh von den mahometanigchen Stäm-
1) Abbildungen der alten Rote sowohl, als der versuhiedeiuni (ieigen-
fonnen finden sieh in vortrefliichen Naeli})ildungen allei- Kunst deiikiiiide in
dem Werke Le moyen äge et la renuiasance, und iu den Aiüiuugeu zu
Coassemaker: 2V. SMr ÜMcftoId. Eine Abbildung des Crowth bei Hswkins,
Hist. ofMuB. 273.
2) Ferd. Wolf a. a. 0. S. 215. Er erwtUmt .len Vers: ..Sidtnrottet pfoto
ousercm an dere harphen" ; und aus einer i\Iüucliener llundschriil: aAls her
David sein rotten tpicn, wau er darauf herpfen wolt**.
3) Kicscwptter, Mus. d. Aralirr S. !»!.
4) In Spanien, wo es an maurischen Kentiuisceuzen nicht mangelt, lebt
das Rebab unter dem Namen Babel bei den Landlenten bis heute fort
(De la Wemarqui.)
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32 I^^e Aulaugü der europHisch-ubuudlandiBchen Musik.
men aus su den armen Schwanen verirrt su haben. Dass nun die
Musikanten der chiiatlichon europäischen Ländw den singenden
Geigenton dem kurzen trockenen Klange der Ljren nnd Kitharen
vorzojren, ist natürlich. Die ältcst»' Abbildung eines Geijrrniiistni-
nu'utes findet sich in dem scluui crw ühntcn, dem 8. .Tahrliuuderto
cutstammenden Manuscript von St. lilasieu, wo ck mit dem Namen
„Lyra" bezeichnet wird. Diese sogenannte Lyra zeigt schon die
wesentlichen Theile unserer Geige. Das Corpus ist mandoUnen-
förmig, der Hals hat keine Bnnde. Die einzige Saite, womit das
Instrament belogen ist wird unten durch einen Saitenhalter fest-
gehalten und ist Aber dnen sattelförmigen Steg gespannt Daau
kommt noch ein leicht und zierlich gestalteter, dem modernen Ihn-
licher Ficdelbogen^). Auf anderen Abbildungen ist das Instrument
mit mehr Saiten versehen: so auf einem Bilde aus einem angel-
sächsischen MamiHcrij)t aus dem Anfaufre des 11. Jahrhunderts mit
vier, auf einem Bil(h\ cikt' der Kirche »^t. Geor^ zu Bocherville mit
drei Saiten. Es j^ab Instrumente mit sechs Saiten, wovon die zwei
tiefsten schon über das Griöbret hinaubliegeu. Nach Analogie
des (weitnhin au besprechenden) Organistmms dnf man als die
eigentliche Normalsahl der Saiten drei bis vier annehmen, deren
Stimmung vielleicht 1, 5, 8 war. Abbildungen solcher Instrumente su
drei Saiten finden sieh Vfter^. Da die Seiteneinbuchtungen unserer
Violinen fehlten, musste der Bogen nothwendig über alle Saiten
gesogen werden^). Wie bei dem Oiganistram tönte su der auf der
1) Solohe einsaitige Qeigen müsten noch im 14. Jahrhundert im Ge-
branon g^esen sein. Denn J. de Mmn sagt: Areas dat ionitom phialae
rotulac monochordae (Summa nuis. Cap. IV).
2) Des F u M i . 1 ) m (T ( US geschieht unter demselben Namen schon im Nibo-
luugeuliode Erwähnung:
Volktr der vU kflene steh näher üf der baue
einen videlbogen starken, michcl undc lanc
gelich eime scarpfeu Bwcitc, viel lieht undc breit|
dO sAzen unervorbten die zweue degene gcmeit.
(XXIXAvent)
Ebenso im Cbronicon picturatum Bninswirense vnrn .Talire 1203, wo ein
Wuuderteccken^ (Wuuderzeicheu) erzählt wird, wie nämlich im Dorfe
Ossemer bei Stendal der „Panier" (Harrer) am Mittwoche in den Pfingit-
tagen seinen Bauern zum Tanze „veddelte". Da „quam ein Donnrescbluch
und scblorli ih'm Barner synen Arm äff mit dem Vcddelbop*'" ""d XXIV
Lüde tod Up dum T\^i." So hcisst es in der vita C'aroli M. von Aimilianus de
Peyrato, AobasMoinacensis (Mannscript No. 1343 der Pariser Bibliothek):
(^iiidam rebccani arcuabant
Muliübrem vocem confingentes.
(Vergl. da Gange ad ▼. Baudosa.)
8) Z. B. Msnuscript derBibhothek von Douai, wo ein Affe, mit der
Beisclirift Ncptunus, ein sokhes Instrument ipielt. YezgL Otte, Kunstart
chäologie 3. Aull. S. 285.
4) Diese wichtige Bemerkong macht FoiksL Hawkins (9. Bd. 8. 87^
sagt vomCrowthrthebridgediffersfromthaiofaTiolinintbatitisilat, and
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Die ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst.
83
cnten Saite gespielten Melodie Gnindton und Quinte auf der dritteii
üud zweiten nach Art eines Orgelpnnktes oder Dudelsackes mit.
Es spricht sich in dieser Eigenheit der Kotte oder Vielle ein den
nurdisclion Völkern cigcntliiiniliclier Trieb nacli stärkerer Klan«^-
wirkun^ durch Zusammcntöucn mehrerer Stimmen aus. Diese In-
strumente sind es, in welchen geradezu der Keim der sich im
Norden zuerst entwickelnden llarmonie und Polyphonie gesucht
werden mnss. Die Freude einfacher Menschen an solcher Klang-
verstXrkung kommt auch wohl sonst noch vor: die ägyptischen Fellahs
hahen ihr Aignl, das auf denselhen Effekt hinauääuft. Seihst den
Spfttseiten der antiken Welt scheint dieser Effekt durch die aus dem
Orient geholte Sackpfeife hekannt geworden zu sein; die dafUr ge-
wählte seltsame Benennung Chorus mag wenigstens einen Anhalts*
punkt geben: das eine Instrument klang wie mehrere zusammensin-
gende Stimmen. Wurde zu der Vielle oder Kotte gesunj^jMi, die
Melodie des Gesanges im Einklänge oder in der höbern Octave auf
der ersten Saite mitgespielt und tönte dazu in den zwei andern Saiten
Grundton und (Quinte mit: so ergab sich, so roh das Ganze auch
war, doch schon eine Art Ensemble und eine Art Unterscheidung
swisehen Gesang und Begleitung, und der Sibiger, der seinen
eigenen Gesang hegleitete, brachte einen Gesammteffekt von Klang-
wirkung hervor, der durch seine Ffille sich vom unbegleiteten Ge>
sänge unterschied und den geringen Ansprüchen der an nichts Aus-
gebildeteres gewJibnten Hörer genügen und ilinen Freude machen
konnte. Spricht docli sogar noch Joliann von Muris im 14. Jahr-
bmidcrt von einer Diaphonia basiliia, ,,wo Einer eine Note als
Hahis beständig ausbält, indessen der Andere, in der Quinte oder
Octave darüber anfangt, auf- und absteigt uud bei den AbsKtzen
mit dem die Basis Aushaltenden in Concordanzen zusammcntri£ft''
Den Gesang su begleiten scheint die yorzUglichste Aufgabe solcher
Instrumente gewesen su sein. Eine Sculptur der Kirche St. Georg
von BocherviUe hei Bönen zeigt eine phantastische Ghaomengestalt,
wie sie dem romanischen Kunststyle eigen sind: ganz deutlich sieht
man, dass das seltsame Männlein, während es seine kleine Geige
streicht, dazu geöffiieten Mundes singt. Im Nibelungenliede singt
der ritterliche Fiedler Volker iuBcchelare beim Scheiden zu seinem
Instrumente:
not convex on the top, a cirnimstanro from which it is to 1k> Inferred
that the strings are to be struuk at tiiu samc lime, so as to all'urd a suc-
cesrion of oonoords.
1) Diaphonia est modus canendi duobus modis molodiam et dividitur
in basilicam et or'i'ini dm. Basilica est : cimcndi <luoV)U8 modis raclodiam,
ita quod unus tentui continue uotam uuani (piae est quasi basis cantus
alterius condnentis, alter voro socius cantum incipit vel in diapcntc vel
in diapason, quandoquo asccndens, qirandoque (Irsrnidcuyi, ita ipiod in
pauita concordet aliquo modo cum co, qui basin obsurvat. iJÜc Muris,
Summa Mos. XXIV.)
Ambro«, a«Mlii«bl« d«r MMik. IL 3
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34
Die Aufzuge der europäisch -abendländischen Musik
Volkdr der snelle mit stner videlen dam
kom (jreüOfjenliche für Götelinde stan
er videlt süeze duene und saug ir sinia Uet:
dimite nun er uloiip, dO er von Becheliren leiai^.
"Ein andereB Instrament, das Organistrum, diente jenem Streben
nach VoUatimmigkeit in Mlinliclier Weise wie die Vidle. Es ist ein
unter dem Namen Bettlerleyei' ^is *ttf den heutigen Tag bekanntes,
bei den Savoyarden lu s. w. noch immer gebräuchliches Instrument.
Das Organistrum ist unverkennbar aus der altertliUmlielicn Rotte
entstanden, an welche auch seine Gestalt auffalleiul mahnt, ja deren
Name darauf Uberging. Um die liugentuhrung, welche schon da-
mals ihre Öchwicrigkeit hatte und einen festen geübten Arm er-
heischte, zu erleichtern oder vielmehr seu beseitigen, substituirte
man den Fidelbogen daxeh den am Inatmmente aelbst angebrachten
Meehanismus dnes BSdleins, welches die Saiten strich nnd zum
Tttnen brachte, wenn es mittelst einer ans dem Oorpos des In-
strumentes henrorragenden Knrbel in Umschwung gesetzt wurde.
Für vornehme Dilettanten war es gewiss eine höchst willkommene
£rleichterung. Da nun aber das Instrument dabei nuthwendig qner
vor dem Spielenden liegen musste und nicht gleich den Geigen-
instrumenten längelang an Knie oder Schulter gestemmt werden
konnte: so musste fiir das Greifen der Töne auf dem GrifFbrete
eine besondere Vorsorge getrofi'en werden, damit es dem Spieler in
der Hand liege; dieses geschah durch eine Art längs des Oriff-
bretes angebrachter Claviatur, deren Tasten die höchste Saite an
den gehörigen Punkten abtheilten; die tieferen Saiten tOnten immer-
fort dudelsackartig mit*). Im 18. nnd 14. Jahihundert erhielt das
Oiganistmm den bezeichnenden Namen Symphonia (Zusammen*
klang), Chifonie oder Cyfonie'). Da man es mit den Benennungen
nicht genau nahm, so gingen auch dio Namen viella und lyra darauf
über; die Franzosen iionncii es noch jetzt ,,vieille", die Deutschen
,, Leier". Auch den Namen Rota bekam es schon in friiluT Zeit,
wenigstens ist der Trrthura nicht selten, diese Bezeichnung nicht
von dem Geigeuiustiumente Crotta, sondern von dem kleinen Rade
(rota) abauleiten, weldies beim Oiganistmm die Saiten in Bewegung
setit*).
Von den nordischen Instrumenten wSren hier noch jene ein-
üuhenHöiner su eiwithnen, welche leicht gebogen nnd yon oft sehr
1) XXVn. Amt
2) Das Instrument ist hi ut zutage eine Seltenheit geworden. Ich
habe oh in meinen Knabeiijaiireu noch spiileu hören. Der Klang war
näselnd und schnarrend, aber keineswegs unangenehm.
3) Vergl. du Gange ad v. Symphonia.
4) So s;igt Johann Cocleus in seinem Tcttiiclionluin Mus. Tract. I.
oftp. 10; Jiota vero instrumentum est, quo coeci meudicautes utuutur.
Babd k t lf w nu m r ohdam purwm, Bas iWroment ging, wie man siebt,
aus den Hftnden der QroMen in die Hftade der BetUer 4bv und wurde
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Die OTften Zeiten der christlichen Welt und Kunst.
85
betrXchtUcber GKrtf sse an die noch jetzt gebrttiiGhlichen Alpeuhömcr
erinnern, und von donon unverkennbar die sogenannten Zinken und
Krummhömer dt's spätcrtMi Mittelalters abstammen. Auf einer Wand-
malerei der Kirche von St. Savin in Frankreich, die Ges«'tzg('buiig
auf Sinai durstellend, halten vier Engel solche Holandsliörner in
Händen^). Ein altes »ächsiBches Mauuscript aus dem 8. Jahrhundert
in der bibliotlieeft Cottonian« tCellt HombUtoer vor, welche faat
manpBlenge Inttmmente tragen. Diese Hömer wurden von wirk-
lichen Stierhömenii von Hols und spiter von Elfenhein verfertigt
und mit Schnitzwerk von Jagden u. s.w. geziert^, saweilen mit
antikisirenden Dantellongen von Quadrigen, Greifen u. s. w. und
daneben als Ornament jenes phantastische nordische Bandgeflecht^).
Das sind die berühmten, unter dem Namen „Oliphani" in drr Kitter-
poesie wohlbekannten Hi»rner. P^iue C'oiiiliination aus Pfcitc und
Horn ist die seit alter und vielleicht Slte.ster Zeit bei den fxälischen
Stämmen gebräuchliche Sackpfeife (bagpipe). Nach Uichard Sta-
nihurst's Beschreibung glich daa Instrument völlig dem noch jetzt
gebriuehlicben sogenannten Dndelsack. I>ie Hibemler sogen damit
in den Kampf. Die allbekannt charakteristische Eigenheit dieses
Instrumentes, tu einer in hSherer Lage gespielten Melodie einen
fortklingenden Basston, und zwar von jeher in der Zusammen-
setzung aus Grundton und Quinte, hören zu lassen, entspricht völlig
der ähnlichen Klangcombination der Orprauistren und Hottoti oder
Viellen, und so wurden durch diese panze Familie von Iiistiumcuten
jene Völker daran gewöhnt, eine (wenn aucli noch ganz rolie) mehr-
stimmige Muhik zu hören, und ihr Gehör gewöhnte sich, den
charakteristischen Klang der uns so hohl scheinenden nackten
Quinte bei jeder Musik au hören. Es ist also gans begreiflich,
wenn späteiliin auch die Orgelspieler auf ihrer Oigel (Organum)
Chnliche Klangeifekte abnchtlich aufsuchten, ja wenn die Sache
unter dem Namen des Oiganums endlich auch in die mehrstim-
mige Vokalmusik hineingetragen wurde.
Mochte die Musik all' dieser Völker noch so roh und liarlt.uisch
sein, ne selbst brachten einjso frisches bilduugsfUhige» Element in die
besonders das charakteristischo TonwtM'kzouff der Blinden; denn aurh
bei du Gange werden Verse aus Bertrand du Guesdiu's Chronik citirt,
worin heisst:
CDS ou pays de France et ou pays Normant
Ne VOnt tels instruTiients fors avmgles portant
Ainsi vont les aveugles et Ii povres truaut
et demaacuat Icnr pain u. §. w.
Bei Athanas Kirch er CMuinrgia 8. 487) hiess das Ibstnmient „lyra men-
dicantium"', die H< ttlerleier.
1) Abgebildet in Kugler's Kunstposchichte (3. Aufl.) 2. Bd. S. 178
Diese Malereien gehOren dem Ende des 11. JahrliuiHlcrts un.
2) Vergl. Atlas vnn Caspar und (iuhl 1. Bd. A. Tat. 1. Fip. 11.
8) Ein sehr schönes Exemplar dieser Art besitzt <\vr l>um»cliat7.
SU Prag. o.
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36 I^i«^ Anfänge der europäisch -abendländischen Musik.
nitgewordene Cultorwelt, ob man gleich gewohnt ist in jenen nor-
dischen Gästen eben nur Culturzerstörer zu erblicken. Jene mythi-
schen Gothen", deren Name ein Sammelbegriff für jede Verwüstung
geworden ist, können liier natürlich nicht in Betrachtniijr kommen.
Die GeHchichte weiss vichnchr von dem ( )stgothenkönige Theodorieh
zu erzählen, dem man mit bcbscrem Kechte als manchem anderen
den Namen des Grossen gegeben hat. Ein Freund der Wissenschaft
undKnnstund sngleich ein tüchtiger, kraftvollerRegent wirkte er von
seinem Bavenna aus segensreich Hlr das der Rnhe bedürftige Italien.
Wie leicht die Elemente antiker Bildung bei ihm und Seines-
gleichen Eingang fanden, beweist neben anderen Ziigen auch jener
Brief an Boethius, dessen Inhalt für uns hier besonders interessant
ist. Chlodwig, der Frankenkönig, hatte auf Zureden seiner Gemahlin
Chlotilde das Christenthum angenommen, ein Rehritt, dem in jenen
Zeiten auch Annäherung an die Cultur der christlichen Länder un-
mittelbar zu folgen j>tiegte. Er w(dlte nun auch einen Sänger haben,
der ihm mit Musik im italienischen Geschmacke, mit Gesaug und
Zitherschlag das Hen erfreue i). Er schrieb an Theodorieh nach
Ravenna und hat dringend ihm einen Citharöden su schicken.
Theodorich seinersdts wendete sich an Boethius, als an einen ge-
wiegten Kenner, und trug ihm die Auswahl auf: „wir kennen dich
als einen in musikalischer Gelehrsamkeit wohl bewanderten Mann;
dir und Deinesgleichen aber, die ihr den Gipfel einer so schwierigen
Wissenschaft zu ersteigen vermochtet, liegt es ja auch ob einen
wohl Unterrichteten auszn wählen" u. s. w. Der Brief ist in mehr
als einer Bezielmug merkwürdig. Theodorich (oder vielmehr Cas-
biodor, der Briefschreiber iu dessen Namen) will vor dem gelehrten
Kümer mit seiner Bildung nicht gar zu schlimm besteben und lässt
daher ganz unnlltfiigar Weise im glänsendsten Wortpomp dceronia-
nischer Sprache die gewohnten Phrasen Uber Werth und Wttrde der
Musik ertönen, wie de sttsstSnend ans der Maschine des Weltalls
klingt, alle möglichen Leidenschaften bezähmt, ja mit einem recht
hübschen Wortspiel wird gesagt: die Saite (chorda) habe ihren Namen
wohl davon, weil ihr Klang die Herzen (corda) rührt. Dann kommen
die bekannten Geschichten von Orpheus, Amphion u. s. w., aber
auch von König David. Die ganze Fassung zeigt, dass es elien con-
veutionelie Kedensarteu der Schulbildung sind, welche um des Cun-
1) Die Ansicht, welche du PcjTat ausspricht und F<»rkel (Gesch. d. Musik
2. Bd. S. auf dessen Zeu<rniRs hin (gelten lüsst, da-^s Cliiodwig den Sänger
hegehrte, damit er die Musik des neuen christliuhuu Gottes-
dienstes einrichte, halte ich f&r irrig. Zu so etwas wOrde man, nach
damaligen JtegrifTen, keinen wtlth'elien Sänger, sondern einen Priester
berufen haben. Und zu was hiitte sich (Jrejror von Toui-s noch nm den
Kirchengesang in Frankreich zu bemühen nütlii^ geliubt, wenn wirklich
dnreh jenen anonymen CitharOdeu aus den nHofsimgeni" des Chlodwig
etwas so Vortreffliches geworden wftre, wie du Pe^rat behauptet?
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tKe etateo Zeiten obrltüielieii Welt und Kniut
3t
ventiouellen willen auch hier wiedorhult werden. Und doch klinj^
ein Ton echtgermauiacberEhrlichkeit heraus, der wohl aui'Kechnung
Theodaricli*8 selbst zu setzen ist: die die Leidenschaft bemeisternde
oder anregende Wirkung der Mnsik ttberhanpt und der Tonarten
insbesondere IXnft bier Tonflglicb darauf binans, die Berserkerwutb
zu beschwichtigen oder aucb, und zwar Tor dem Kampfe, anzn-
facben^). Der wackere Ostgotbe denkt augenscheinlieb an seine
eigenen moralischen Bedttrfoisse: „Nachtheilige Trauer wird durcb
Musik erheitert, aufbrausende Wuth gedämpft, blutige
Wildheit wird durch sie besänftigt, Trägheit und Ermattung
ermuntert u. s. w. Das Alles bewirken unter den Menschen fünf
Töne, die man nach den Namen der Trovinzen nennt, wo sie er-
funden worden sind. Denn die göttliche Gnade, deren Werke alle
lobwttrdig sind , hat ibre Gaben an versebiedene Orte verscbieden
ausgetbeüt. Der Doriscbe Ton bringt Sebambaftigkeit und Keuscb-
beit bervor, der Pbiygisebe erregt KSmpfe und entflammt zur
Wuth, wogegen der Aeolische die Stürme der Seele wieder
beschwichtigt und den Beruhigten in Schlaf wiegt; der Taktische
schärft das abgestumpfte Erkenntnissvennögen und leitet den irdisch
befangenen Sinn zum Verlangen nach dem Ilimnilisclien ; der Ly-
dische dagegen beruhigt die allzuschweren Sorgen der Seele und
vertreibt den Verdruss und stiirkt, indem er ergötzt"'^). Also sitten-
strenge Keuschheit, Kampfesmuth, Erleichterung der schweren Ke-
gentensorgen, billige Ergötzungen und zum Schlüsse die Richtung
zum Himmel: das verlangte der Ostgotbenk0nig an Wirkungen
▼on der Musik, und da bXtten wir das ganze Bild des adeln,
mannbailen, naturwüchsigen Helden beisammen. Theodoricb's
Worte (oder seine Ansiebten, denen der schreibcHlde Cassiodor
Worte lieh) eracheinen hier wahrlich wie ein Programm der christ-
licb-abendliindischen eben erst im Aufkeimen begriffenen Musik.
Als Boethius, an den sich Theodoricli als an das musikalische
Orakel seiner Zeit wendete, jenen Brief empfing, dachte er wohl
kaum, dass es ihm bestimmt sei noch Jahrhunderte lang für die
Welt das echte undbeinabe einzige musikalische Orakel zu bleiben.
Wie Boetbius in seiner ganzen Bildung, Scbieibait, Pbilosopbie
und Oelebrsamkeit, in seinem Leben nnd Tode durchaus nocb den
Eindruck eines antiken Menseben macbt, so bat dureb ibn die an»
1) Saxo Orammaticus erzählt, dass Erik, der Dftnenkönig, durch den
Gesang eines CitharOden in wfltnende Aufregung gericth, so dass er
ihrer Vier umbrachte. Caspar Printz von Waldthurm ma<!ht dazu in seiner
1690 erschienenen ^historischen Beschreilnnig der edeln Sing- und Kling-
kunsf S. 102 die Bemerkung: „sintemal hoher Potentaten Handlungen
allerdings zu fitrohten, wenn sie bei gutem Ventaade, geschweige denn,
wenn sie wüthen, und kein schädlicher Ding für den Unterthanen als dem
Köuip auch nur für etliche iNIinutcn lang seinen Verstand zu verwirren.''
2) DüT Brief wteht in Gaasiodori Varia lib. II. ep. 40.
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88
Die AnfiLnge der eoropftisoh - abendlikndiflcheD Mnaik.
tike Musik, gleichsam sterbend, den Folgezeiten ein Vermächtniss
hinterlaBsen, das Gegenstand der rntthseligsten Arbeit and For^
Bchnng für das Mittelalter wurde, sie hat dnrch ilin in seinen
Bttebem ifo mudea ein Oesammtbtld ihres Wesens, ihrer Lehren
nnd Eigenheiten der Nachwelt zum Andenken hinterlegen lassen,
ehe »ie im Zeitcnstromo für immer unterging. Die Sehriftsteller
des Mittelalters, Ilnchald, Theogems von Metz u. A. m., ermähnen
liocthius kaum Je ohne Lob. Er ist der vir doctissimus, n'JiditissimuSj
(h'sn iissiniHs, geuere et scientia clari.ssimus, ein jtauditor atiis. Abfi-
liirtl rühmt ihn als Reprfisentanten aller Einsicht in Sachen der
Musik, und selbst Papst Johann XXII. beruft t»ich in seinem 1322
gegen die mensurirte Musik erlassenen Deeretale auf die Autoritftt
desBoethius. Franco preist ihn als den Theoretiker allerTheoretiker
(er wird ttberhaupt sehr oft als Theoretiker citirt), wogegen nur
Guido Ton Arezzo einmal meint: „Boethius sei ftir den Philosophen
sehr gut, für den Sänger aber eigentlich nnbrauchbar**^). Anitins
Manius Sevcrinns Boethius gehörte seiner Abstammung nach
einem alten römischen Patricicrpeschleclite an und ward um das
Jahr 470 j^t-hnren. Kr heklcidete versfhiefh'nc Staatsämter, erlangte
die consiilariscln' \\'iir<l»' und gennss das Vertrauen Theodorich's in
hohem Grade. Als die katholischeu Kömer, dem Ariaucr Theodo-
rich abgeneigt, ihre Blicke dem orthodoxen Kaiser in Byzanz zu-
wendeten und der bei ansgebrochener Verfolgung der iürianer im
Orient sur Vermittelung dahin gesendete rOmisehe Bischof Johannes
unverriehteter Sache aurUckkam, witterte Theodorich Yerrath und
Hess Johannes zu Kavenna in's Gefiingniss werfen. Dass nun Boe-
thins die Vertheidigung des Beschuldigten ttbemahm und darin die
unvorsichtige Aeussening machte: ,,er sei eben so gut ein Verriither
wie .Johannes", benut/.ten seine Feinde zu seinem Sturz. Er
wurde seiner Würden entsetzt, verbannt und endlicli im Jahre 526
enthauptet; ein Verfahren, das Theodurich hernuch schwer bereute.
Das bewunderte Buch De consolatione philosophiae, welches Boe-
thius in seinem Unglttcke sehrieb, nnd sein tragisches, an das IGt-
gefühl sprechendes Ende haben ganz gewiss mit dazu beigetragen,
die Aufinerksamkeit auch auf sein tief gelehrtes, aber schwer ver-
BtXndliches Werk Aber Musik zu leit<>n, welches fdt das Mittelalter
eine Art Fundamcntalcodex der Musik blieb. Denn es war jener
Periode ein Bedürfniss für jedes Wissen, für jede Speculation ein
gegebenes, von niclit anzutastender Antorith't hingestelltes Funda-
ment zu haben, an das die Forschung erklärend, ausdeutend, weiter-
strebend ihre Lehren knüpfte, durcli das gej^ebene Fundament aber
eben verhindert war voraussetzuugslos auf die letzten Gründe der
1) . . . . Boetivim in hoc non pequons. cujus Uber non caTitorihn«,
Bcd Bolis philosophis uiilis est (fipistola de ignoto cantu, in tiue^ bei
Gerbert Script 2. Bd. 8. 60).
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X>ie ersten Zeiten der chnstUchen Welt and ^unst.
39
Sache snracksiigeheii. Ja sie hKtte es flir Frevel gehalten irgend
dnen Lehnats jener Autoiitit aasntasten, kanm wagte ne eine
prüfende Untersuchung. Yfw die Scholastik anf die Kirchenlelire
ein unendlich künstliches Denkgebäude auflhUrmte, so fand der
Mnsikgelehrte an Boethius einen festen Anhaltspunkt. Jeno Aensse-
rung Guido's oder das Capitcl des Abtes Wilhelm von Hirschau
,,Wie Boethius sich j^eiiTt" ^) muss den Zeitgenossen beinahe wie.
Ketzerei geklungen haben. Auch die seltsamen Zeichnungen zur
£rlfiuterung der Intervalle, Tonverhältnisse u. s. w. , womit das
Bach des Boethius ausgestattet ist, mochten dem phantastischen
Sinne des Ifittelalters hrsondera ansagen. Man yenrollstlndigte
sogar diese Zeichnungen nnd iLonnte sieh kanm darin genug thun.
Die von Glarean aur Erlttuterung des Boethius entworfenen Figuren
gleichen bald Maschinen und wunderlichen Apparaten aus irgend
einem Laboratorium zu phantastischen Zwecken,** bald märchen-
haften Kuppelbauten, bald verschlungenen Drachenleibern, bald
Zaubercharakteren. So begegnen sie dem Blicke fast anf jedem
Blatte, und seltsam volltönende griechische Namen und mystische
Zahlen, die zur Erläuterung der den Beschauer geheimnissvoll
ansprechenden Gebilde beigeschrieben sind, konnten den an-
regenden Reis der Sache nur vermehren*).
Boethius seihst erscheint in seiner Schrift vonragsweise als ge-
lehrter Bedaetor der musikalischen Theorien und Sitae eines Pytha-
goras, Aristoxenos, Nickomachus, PtolemXos u. A., auf welche er
sich auch ausdrücklich beruft. Was er an eigener Speculation ein-
webt ist ernst, tüchtig und gehaltvoll. Die Musik ist ihm ein
Theil der Mathematik; aber während die anderen Zweige der
mathematischen ^Vissenschaft nur auf Eriorschnng der Walirheit
ausgehen, hat die Musik auch einen moralischen Werth denn
die Zusammensetzung unseres Körpers wie unseres Geistes beruht auf
1) (^ualiter Boctius et ceteri musici in i> et d erraverint, eo quod
duplex et neoessario aaromatnr. St. Wilhelm frftfift ohne Weiteres: Quure
secumhnn Boetium et non sccnmdum Ptolemaoum vel Becunduin omnes
antiiiuissimos musicorum dicamusy (bei Gerbert Script. Bd. 2 S. lt>8).
2) Man vergleiche die liuHler Ge8ammtau8|^abe in Folio v. J. 1570
S. 1371 bis 1481, wo es zum Schlüsse heisst: Amtii Manlii Severini Boethi
libri V Musices per Henricum Ghin'inmm et emendatae et muUis fiffuri»
demonstraiionibusijue luculentisäune auctae. Die Universitätsbibliothek
au Prag besitst einen gans ausgezeichneten Boethius in einem grossen
prächtigen Pergamentcodex des 10. .Tahrhnadais. Auch dieser Ist mit
seltsamen Aufrissen reichlich ausgestattet.
3) Unde fit, ut, cum siut quatuor matheseos disciplinae, ceterae quidcm
ad invefltigationem yeritatit laborent, musica voro non modo specnlationi
vernm etiam innralitati conjuncta sit (I. 1). Boethius knüpft an diesen
Satz die bekannten Wundererzählongen von Thalctas, Arion , Pythago-
ras u. 8. w., welche auf das ffir Legendenmirakcl sehr eingenommene
Mittelalter tiefen Bindmok zu machen nidit ▼erfthlten.
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40
Die AnfiUige der europftitch-abendländiaohen Mniik.
gewinenderMiiakanalogenVeiluatmsBen i). EindiesenYerlilltiiisseii
entspieehender Znsammeiüdaiig erfreut hüb daher, wogegen uns ein
damit in Widerspmcli Hteheuder bcunruliigt nnd uns missfltUt Die
wahre Erkenntuiss besteht aber in dem E^rÜnden des Wesens der
Dinge. Dass Etwas ein Dreieck, ein Viereck sei, nimmt auch der
Unp^ebildete durch sciiio Sinne wahr; aber um zu erkennen, was ein
Dreieck oder ein Viereck eifrentlieh sei, muss er sich an einen Ma-
thematiker wenden^). Die Kraft des Geistes muss darauf gericlitet
werden, das von der Natur Eingepflanzte durch die Wissenschaft
begreifen zu lernen. So ist es also nicht genug, dass man sich an
mnnkalischen Melodien ergötze, man rnnsB aaeh ^eYeiliiatniflse sn
ergründen wissen, durch welche die T8ne untereinander Terbunden
rind^. Der Sinn, der die unmittelbaren Eindrucke des Hörbaren
empföngt, darf nur der Diener sein; Herr und Richter mUBB die
vernünftige Erkenntniss bleiben*). Aus diesen Sätzen, welche
Boethius seinen Auseinandersetzungen voranstellt, erkennt man
seine Tendenz, keineswegs ein musikalisclie> T^ehrbuch, sondern
vielmehr eine philosoplusche Phänomenologie der Musik zu bringen.
Er will die (üiinde der musikalischen Erscheinungen begreifen
lebreu, und zwar zunächst die physikalischen und mathematischen
Momente derselben. Dass die Musikforseher des Mittelalters (mit
Ausnahme des durch und durch praktischen Guido von Areaso)
solches nicht einsahen und die Begriffs philosophischer und prak-
tischer Musiklchre fortwährend verwirrten und durcheinanderwarfen,
war vielleicht der schlimmste Schade, den ihr Studium des Boethius
verschuldete. Bocfliius sucht das Wesen der Musik aus der Natur
des Tones zu bci^rrifcn : die in rascheren Sclilajrm erschütterte Luft
gibt einen hohem Ton, als wenn ihre Schwingungen langsatner
vor sich gehen; das Mass dieser Schnelle und Langsamkeit lässt
sich gegen einander in einem Zahlenverhältuiss ausdrucken, folg-
lich sind mathematisch aussprechbare Proportionen das Fundlunent
der Musik. Diese sind mit Strenge festsuhaltea, deshalb auch die
SXtse des Aiistoxenos su bestreiten^), der die Entscheidung dar-
1) . . . . id nimirum Bcicntes quod tota nostrae animae corporiaque
compago mosica coaptatione conjuncta sit.
2) Kursus cum quis triangulum respidt vcl quadratum, facile id
quod oculis invenitur agnoscit; sed quacnam trianguli aut quadrati lit
natura, a matbematico necesse est petat.
3) Quocrirca intendenda vis mentis est, ut id quod natura est inaitum
sdentia qnoque posHit comprehcnsum tcnori Sic non sufßcit canti-
lenis mosicis delectari, nisi etiam quali inter se ooiyonctae aint rocum
jffoportione diacatur.
^ FSmnlusque nt sensu», judex vero atque imperaas ratio (L 9^
Der Satz ist pythagorftisch.
5) Es ist bezeiuhuend, dass Boethius, der öfter die dififerirenden Mei>
nungen eines Fhilolaos, Nikomaciios^ TütUmJU» u. s. w. in ruhiger Dar-
ttdlong ein&oh nach einander entwuskelt, nicht umhin kann die SAtse
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IXe ersten Zeiten der christlichen Welt und Kunst.
41
Olier dem Ohre anlieimsteUt. Naehdem Boetbius die grieehischen
Namen des Achtzelinton^rtems, die Eigenheiten des diatunischon,
chiomatiseheii and enhannonischen Geschlechtes und die J!«igenheit
der Consonanz erklärt hat, welche darin besteht, ,,dns8 zwei Töne,
ein tieferer und ein höherer, zu«;leich angeschlagen, zu einem lieb-
lichen Mischtone zusanunenschmelzen" was w'u'der auf d»'r
leichten Fassbarkeit der zu Grunde liegenden Zalilcnverliiiltnisse
beruht "^^1 zieht er das Resultut; das Wesen des Musikers, der wirk-
lich dieten Namen verdienen will, bestehe nicht in der handfertigen
Uebung, sondern im geistigen Verst&ndniss, worunter er aber nicht
das ästhetische Verstilndniss des Künstlers, sondern das rein intel-
leetuelle des Philosophen meint. ««Um wie viel ist denn also", fragt
er, „die Kenntniss der Musik im Begreifen ihn r (Irilnde höher als
ihre thatsächliche Ansttbung? Um so viel als der begreifende Geist
höher steht denn mechanisch wirkende Köqx'r! Das Werk der
Hand ist niclits werth, wenn nicht die Vernuufl es leitet. Die
blossen Spieler nennt man nach ihren Instrumenten: der Citharöde
heisst so nach der Cither, der Tibicen nach der Tibia, Nur der ist
ein Musiker, der das W^esen der Musik an sich, nicht durch
Handttbnng, sondern dneh Vemnnft begreift"*). Mit einer so
einseitigen Henrorhebong des specnlativen Theiles war nnn frei-
lich die Mnsik ans der Beihe der Kttnste weg nnd unter die
Wissenschaften hinttbergeftlhrt. Es hat sehr lange gednuei-t, ehe
sich das Mittelalter von dieser Auffassung seines Boethius, der viel
mehr Mathematiker und Philosoph als Musiker war, losmachen
konnte. In der bedenklichen Nähe der Arithmetik, Geometrie,
Dialektik a. s. w. vergass die ^lusik beinahe, dass sie von Hause
aus eine schöne Kunst sei, dass es ihre Aufgabe sei das Schöne in
Tüuen zu verwirklichen; sie begütigte sich das mathemathisch Kich-
tige ni erreichen, bei dem nicht der ttsthetische Sinn, sondern der
Verstand das entscheidende Wort hatte. Doch bleibt dem Boethins
die Erkenntnisa durch Wahrnehmung mittels der Sinne keineswegs
ansgesehlossen. Es ist Tielmehr nöthig die Resultate, welche der
rechnende Verstand gewonnen hat, durch das physikalische Expe-
riment, das ist durch Theilung der Monochordsaite, anschaulich zu
machen. Hier ist aber nnn wieder nur eine wissenschaftliche Seite
erfasst, welche mit dem eigentlichen Berufe der Musik als Kunst
nichts gemein hat. Diesen eigentlichen Beruf lässt Boethins ganz
des Aristoxenos wiederholt und entschieden zu bekfiinjir« ti (II. 30; III.
1. 3; V. 12). Der Lehrsatz von der ungleichen Thi illmrki if des Tones
bildet beinahe den dorchgehendeu Grundzug und das Hauptdugma des
Boetbianischen Bnohas.
1) I. 28.
2) L 29.
8) L 81 Diese S&tse schreibt ihm Begino ron Prflm £wt wOrtüdi
nadi; ebenso Ymeentins BeDoraoensisi
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Die AnHLnge der europäisch •abendlftndischen Masik.
unbeachtet, denn seine allgemeinen mnaeen Aber den rittVchen
Werth der ]S[usik und die Wiederenfthlung der alten Wander-
sagen von Arion, Pytbagoras n. s* W. sind dafür kein genügen-
der Ersatz. Die Grnndziige dieser ganzen AutTassnng findet
man mehr oder wcni<;<>r treu wiederholt bei den musiJcalischen
Schriftstellern des Mittelalters wieder.
Neben dem Buche des Boethius war es vorzugsweise die seljr
eigeuthümliche and allerdings dem mittelalterlichen Geschmack e
sich tttiiemde Dichtung Marti anns Capella tf^on der Hoch-
aeit desHerenr mit der Philologi«,** ans welcher mnsikalische Kennt-
nisse geschöpft wurden. Dadareh wnrde gewissennassen anch Aris-
tides QnintilianuB zugingUeh, da Martianus Capella Vieles aus
diesem Schriftsteller in wörtlicher Uebersetzung in sein Werk auf-
genommen hat. Schon im 9. Jahrhundert fand die Schrift des Mar-
tianus an Remigius Altisiodorensis (Remi von Aiixerre) einen Oom-
mentator*). Wie populär diese Mcrcursliochzeit A\ar, beweist
nebenbei auch der Umstand, dass lledwij; von Sili\val)en in der
zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts dem Klo.ster von St. Gallen
eine Alba schenkte, die mit einer Goldstickeroi geziert war, welche
die VermlChlnng des Mercnr mit der Philologie darstellte, nnd dass
am 1200 die Aebtissin Agnes Ton Qaedlinbnrg mit ihren Kloster-
jnngiranen denselben Gegenstand wühlte, als sie kostbare Teppiche
zur Ausschmückung der Chorwände in der (^lu dUnburger Stifts-
kirche verfertigten Weniger Einfluss scheint das Werk des M ag-
nuß Aurelins Cassiodorus de artihus an disriplinis UheiaUum
lUterarum gehabt zu haben, dessen fünftes Buch eine kurze Ueber-
sicht der Musiklelire enthält. Man bat die unendliche Arbeit, weU lie
das Mittelalter an das Verstandniss der Uberlieferten griechisebeu
Theorien setzte, eine Art Unglück genannt, das Hindemiss einer
raschen natnrgemXssen Entwickelung der Tonkunst, welche erst
in dem Masse gediehen sei, als sie sichren den antiken Ueberliefe-
rangen befreite^. Aber man mnssdagegen inBetrachtangsiehen,da8S
ohne ein von derAntoritXt antikerBildnngtiberliefert Gegebenes, ohne
ein bei den Alten gültig Gewesenes, welches für das Mittelalter non
einmal eine unerlSssliche Vorbedingung nnd gleichsam ein primum
mohilc seines höheren intelleetuellen Strebens war, die Musik einer-
seits in den Händen der Gaukler und ,,Histrionen'* es vielleicht zu
einem liandw crkliclien Naturalismus gebracht hätte, aber immer nur
ein verachtetes, keiner höheren Richtung bedürftiges oder auch nur
fähiges Wesen geblieben, andererseits aber im strengen Conservatis-
mns der Kirchengesänge zu mechanischem, erstarrtem Bjsantinismas
1) Dieser Commentar ist abgedruckt bei Gerbert Soripi. 1. Bd.
S. 63—102.
2) Kugler, Gesch. d. Malerei 3. Aufl. 8. 169 a. 171.
8) In diesem Sinne Kiesewetter.
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Der Chregorianiiche C^etang and seine Yerbreitang.
43
Todiolat wire. IMe mittelalterlieben Theoretiker Tentaaden frettich
Oureii Boethhie, wie die mittelalterliclien Philosophen ihren Aristote-
les; aber es war ^e redliche Arbeit^ die ihre FrUehte tmg, wenn
die Theoretiker des 11. Sficulurns fortfuhren, wo jene des 10. auf-
gehört, und ihre Arbeit dem folgenden 12. .Tahrh. Ubergaben und
80 fort Itis auf diV {rro«!R(»n Theoretiker des 15. und 16. Jahrb., wobei
in jedem Jahrhunderte bedeutende Hesultate gewonnen worden.
Zweites CapiteL
Der GregoriaDische Gesang und seine Yerbreitong.
Das von» heil. Ambrosius begonnene Werk ehu>r KtTrclun«? des
Kirchengesanpes wurde j^ej^en das t^nde des seclistfu .lalnliundcrts
von» Papste (iregor dem (i rossen (geb. um 54ü, Papst von älH)
bis 604) fortgesetzt. £r sammelte die gebräucblicbeu Kirchen-
gesXnge, er Termehrte sie durch neue, er ordnete sie naeh den
Zeiten des Kirchenjahres, er sorgte dallbr, dass sie in dauernden
Tonieichen niedergeschrieben wurden; er verbesserte die Grmnd-
lageu des Kirchengesanges und hat letsterem jene feste, seitdem nur
durch Abweichung:on und Ausartungen im Einzelnen, aber durch
keine vorsiitzliche Reform anderweit verSnderte Gestalt gegeben,
in welcher er unter dem Namen «les (J regoriani sch en (J esangea
in der katholischen Kirche als dert n Kitualgesang bis heut in An-
wendung gebliehen ist. Wie Kaiser Justinian kurz vor Gregor's
Zeiten der Verwinoiug in Gesetzeskunde und Rechtspflege dadurch
ein Ende machte, dass er die gangbaren, aber nicht gleichmUsgig
anr Anwendung gebrachten Ii<»hren, Aussprüche und Entscheidungen
der bertthmtesten römischen Juristen in dem grossen Sanmielwerke
der Pandecten vereinigte und so der Willktthr Schranken setite:
so sammelte, sichtete, ordnete Gregor in seinem Antiphonar die
gangbaren Kirchengesh'uire und setste an die Stelle der bisherigen
willknhrlichen Auswahl der vorzutragenden TJesänge durch <He
Kirchenvorsteher eine feste Nonn. — lieber <leii Punkt, dass das
Antiphonar (iregor's ein Sammelwerk war, sind die Hi'richterstatter
einig^j, und so muss man den (iregorianischen (lesang recht eigent-
1) Der Biograph Johannes Diaconus sagt: In domum Domini more
sapientissimi iSalomouis propter musicae compunctionem dulcediuis Anti-
fkmttrkm eenimem cantoram stadiomssimus uimiB utUiter compilavit.
Bei Sigebert: Antiphonarium rojrulari nmsicae modulatione centonizavit.
Bei Rupertus Tuitioiisis (de div. off. r. 21) noch deutlicher: Antiphona-
rium regulariter centonizavü et compUavit. Gerbert sali, wie er erzählt
(De csnta IL 8. 960), ein Saeramentarinm moaasterii Compcndiensis,
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44
Die Anfänge def* europäisch -abendl&ndischen Musik.
lieh als eine gleiclisaiii Ton selbst empoi^gesprossCe Blflte ans den
ersten Jahrliundeiten der Kiiche ansehen, als den echten specifisch
christlichen Volksgesang; und wenn die Legende etlShlt, der heilige
Geist selbst habe diese Gesänge eingegeben, so kann man es in
dem angedeuteten Sinne auch ohne die Wnndersnge vollstfindi;^
gelten lassen. ( Jn j^'di's V^erdienst dabei ist (auch al>jjjeselien von dm
neuen ( JesäiiLrcn, deren Beifügung ihm eine nicht zu vi-rwertcncle
Tradition zuscliieibt^ keineswegs das eines blossen Sannnlers. Er
hat vielmehr die Gesänge in einer Weise nach Geist und Inhalt zn
einem wahren, grossen Gesammtknnstwerke geordnet; es ist eine
Mosaikaibeit, deren Fngen nnd Jnnetoren man nirgends wahrnimmt
Einem allerdings spttten Zeugnisse snfolge, nXmlieh nach einer
Aeusserung des Johann de Muris (14. Jahrhundert), soll Gregorius
auch insbesondere die allzusehr aasgedehnten Ambrosianischen Ge-
sänge auf ein geringeres Mass beschränkt haben i). Der ältere Am-
brosianisclie und der neuere Gregorianische Gesang wurden fortan
fiir zwei einander beinahe oppositionell gegenüberstehende Rich-
tungen angesehen. An manchen Orten, wie in Mailand (wo das An-
denken an das persönliche Wirken des heil. Ambrosius nachwirkte),
hat sich der Amhroflianische Gesang noch Jahrhunderte lang be>
hauptet ; noch Franehinns Gafor in der sweiten Hüfte des 15. Jahr-
hunderts redet von Amhrosianem nnd GregorianeEn wie von Par-
teien. Freilich suchten geistliche und weltliche Machthaber, um der
worin es heisst: Gregorius praesul meritis et nomine digtma snmmum
ascendens honorem renovatnt monimentn puirum })rioi um t»t coniposuit
hunc libellum musicae artis scolae cantorum per auni circulum. Lambil-
lotte will in dem Worte oentonixare eine Anspielung auf die Notation
des heil. Gregor fiiulcn: or, que veut dire cc mot? N'est il pas dürive
du grec xtvTtw^ qul siguifie a^uiUoner^ poin^onner; et ne pourrait-on y
tronver quelques relations «Tee les jmwi^s, les virguJes et tous les autres
signes nemnraques? (Antiph. de St. Gr^g. S. 25). Diese Frage ist ent-
schieden zu verneinen. Cento ist ein gutes klassisch lateinisches Wort und
bedeutet ein Zusammengeflicktes. So sagt schon Plautus centones ali-
oni sarcve, für Jemanden Lappen snaammeDnlhen, was hier als „anltlgen*
gemeint ist. Bei Jul. Caesar werden Schutzdecken 7.um Abhalten der
Geschosse centones genannt. Juvenal (Sat. VI) saf^t von Messalina:
Intravit cahdum veteri cen/one lupanar. Endlich hiess cento ein aus
allerlei Gedichten zusammengesetztes, zuBammengestop-
Seltes Poem, wie der Conto nuptialis des Ausonius. Den gleichen
ixm behielt das Wort im Mittelalter. Ho erklärt das Glossar Ton du
Cai^: Oentonissre ex ▼arii« libris describere, exoerpere.
1) n^^lucnm emnnon fecit, quemadmodum sanctus Ambrosias dictu9
eit cantum suum modnhxsst . ' In der folpron<len Erklärung lösen Ra-
tionalismus und Wunderglaube einander ab: et huc quidem ut asseriut
propter fatigataones morborom, fiut enim Semper qnartanarins et prae-
terea urgebat eum syncopsis et porlngra. Alii diennt, et melius forte,
qnidquid scripsit Gregorius tarn in cantu quam in prosa, et materiam et
quantitatem et qualitatem a Spirita Sanöto aocepit. (Summa Muaicae
ei^ m bei Ctarbert fleripL 8. Bd.)
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Der Gregorianisdke Gesang und saine Verbreitung.
45
Einheit der kireUicben Praxis willen, den AmbioBianiBchen Gesang
nach Thunllehkeit sn hesehritnhen, wo mSglieh an beseitigen, ins-
besondere Karl der Grosse, der sogar die Arabrorianiscben Ritual-
bttchcr verbrennen Hess. Hentzutag hat eich die letite nachweisbare
Spur Ambrosianischer SingAveise länfjst verloren, auch in Mailand,
obwohl sie dort noch an dem Ambrosiauischen Ritus festhalten.
D&a» Grefjor bei der Redaction Ambrosianischc Melodien mit auf-
genommen hat, ist Nvolil ausser Zweifel. Es muBS aber zwischen
beiden Singweiseu ducU ein sehr fühlbarer Unterschied gewesen
sein-, denn Radnlf von Tongern, ein nnverwerfiicber Zeuge aus
dem 14. Jahrhundert» der den Ambrorianischen Gesang nodi
hSrte, renieheit: er habe ihn ydllig anders gefunden aJs den
idmischen (ommma aHum a romano), feierlich und krSftig (so-
Uimem et fortem cantum), wogepreii der römisch -gregorianische
mehr einfachsUsstönend und wohlgeordnet sei {magis plane dml^
coratus et ordinaftis)^) , eine Unterscheidung, die nicht geeignet
ist eine deutliche Vorst(;llung zu pebcn, denn feierlich und
kräftig darf der Gregorianisclio Gesang auch heissen^).
Der heil. Gregorius war auch bedacht seine Singweise durch
lebendigen Unterricht auszubreiten: er stiftete in Rom eine Öiug-
schnle, weleher er die nötbigen Einkflnfte anwies und swei ansehn-
liche GebXnde einrXnmte, eines an den Stufen der Peterbasilica,
das andere beim Lateran. Dort lehrte er auch wohl selbst; man
wies als Reliquie sein Ruhebett, von dem aus er lehrte, und die
Gcissel mit weicherer die Knaben bedrohetc, wenn sie es während
des Unterrichtes an gebührender Aufmerksamkeit fehlen Hessen^).
Das Antiphonar selbst wurde bei St. Peter neben dem Altare mit
einer Kette befestigt, es sollte hinfort als Regulativ fiir allen Kirchen-
gesang dienen und jede vorkommende Abwoichun'; (Iciiuiach be-
richtigt werden*). Die Erweiterung der Gruudiagon des Kirchen-
1) De Canon, observ. X. propos. 12.
2) Wer sich über die wirklichen oder angebliclien Untersfliirdi' näher
belehren will, wird bei Forkel (Ueschichto d. Mus. 2. Bd. 8. 102), in
Oetbert, De eantu und in den einschlft^^rigcn Artikeln der neuen Ausgabe
der Biogr. univ. von F^tis (Amliroise, St. (Trcfjoire) das Gewiinsdite
finden. Man sehe auch die Annierkini}; S. lö. Was Peretro's iiuch bc-
trifii, so ist er als Autor aus sehr später Zeit (Ende des 16. Jahrhun-
derts) ein wenigstens niöitt unbedeaklidier Zeuge, und was soll man von
ihm halten, wenn er behauptet: x)rinia di Guido mouaoho AretmO non
erano in uso altri tuoni che gl' autentici — !!!
3) Scholam quoquo cantunim , quae hactenus iisdcm institutionibttS
in sancta Romana ccclesia niodulatOTf conHtitnit: eique cum nonnullis
praediis duo haljitaotila, scilicet alterum sul> prradiluis Basilicae bcati l'etri
apostolii alterum vero sab Lnturauensis patriarclüi domibua fabricavit:
ubi usque hodie lectus ejus, in quo reoobans modulabator, et flagellnm
9ains quo pueris mina>>ntur, Toneratione conp^ma cum authentico antipho-
nario reservatur (Joannes Diaoonos in vita St. Gregorü IL 6).
4^ A. a. 0.
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46
XHe An&nge def eorop&üch-abendl&ndischen Hoiik.
gesanges aber bestand darin, dass er an den vier anthentiacliea
Kirelient5nen des Ambrorianischen Gesanges Tier NebentSne oder
Seitentöne, plagale (von nXaytoe^ seitwKrtig, quer, schief), beifügte
Oller vielmehr sie ans den autnentischen Tönen durch eine einfache
Operation herausconstruirte; femer dass er die schwerklingenden
griechischen Namen der Töne beseitiprtc und die sieben Stufen der
Scala nacli den Hiel)en ersten Riichstabeu des lateinischen Alphabets
Äf B, C, D, E, F, G luMiaunte.
Für diese letztere Ueberlief'erung ist kein gleichzeitiges directes
Zeugniss da, yielmchr könnte es fast als Gegengruud aufgegriffen
werden, dasa Gregor deh nicbt seiner bequemen Buchstabennota-
tion, sondern einer gans andern, scbwierigeren, undeutlicheren be-
diente. Aber ein Grund von Gewicht fOr die Bichtigkelt der
alten Ueberlieferung liegt, neben dem Umstände, dass die Wahl der
lateinischen Buchstaben auf die Entstehungsweise dieser Notimng
in Rom deutet, mit darin, dass die Art und Ordnung jener
Buch stabenbezeicbnung nur dann erklärbar ist, wenn
man ihr die erst von Gregor eingeführten Plagaltöne zultn
Substrate gibt. Der tiefste der vier authentischen Töne fing mit
dem als D bezeichneten Tone an. Nichts wäre natürlicher gewesen
als den ersten Ton dieser Keihe vielmehr A, den sweiten B u. s. w.
nt nennen. Dies geschah nicht Der sugehörige Plagaltost der
tieftte der Kirehentöne, ist nun folgende Tonreihe:
ABCDEFG a
Und hier finden wir wirklich die Buchstaben des Alphabets den
Tönen nach ihrer aufsteigenden Skala angepasst, so dass also auf die
ersteNoto des ersten authentischen Tones der Buchstabe D zu stehen
kommt, in den höheren Tnederholungen die gleichen Töne die
gleiche Buchstabenbeseichnung behalten u. s. w. Die Bnchstaben-
benennung der Töne stdit also mit der läntheilung der Kirehen-
töne in authentische und plagalischeim genauesten Zusammenhangt).
Der grosse Fortschritt in dieser Buchstabenbezeichnung be-
stand, neben der Bequemlichkeit des Aussprechens, auch darin, dass
1) Man hat die Erfindung der Buchslabenbcnennung der Töne auf
Boethius übertragen wollen. J. .1. Rousseau (Lex. nni8. S. 327) sagt:
les Latius, qui ii limitation des Grecs notCsrcut aussi la musique avcc
les lettres de leur aiphabet, retranchteent beaueoup de oette qoaniit^
des notes, le gcnrc enhannouique ayant tout k fait ccssc d'etre prati-
quu et plusieurs modes u'etant plus en usage. // parait que Boece
itabiU Vwagt de quinxe lettres tmuement, et Qr^goire, eveqae de Romc,
consid^rant quo les rapports de sons sont lesmemes dans chaquo nctave,
roduisit piicnrc coh qninze notes aux sept premieres lettres de l'alphabet
u. 8. w. Aus dem Werke des Boethius selbst ergibt sich für diese Mei-
nung kein gcuOgender Anhaltapunkt
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Der Gregoriainwdie Oeaanir vnd leiiie T&i^ataUag. 47
durch sie das System der Octaven entschieden zur Geltung kam;
der gleiche Ton wurde in höherer Octavc mit dem gleichen Buch-
staben benannt. Damit war das alte System der Tetrachorde be-
seitigt. Nach diesem System der Buchstabenbeneimung der Töne
WQfden die TSne der tieferen Octave mit den grossen, jene der
höheren mit den kleineren lateinischen Buchstaben beaeichnet nnd
somit ein System von vieraehn Tönen ansammengestellt Dieses
System wurde om den flinfzehnten Ton durch die Unterscheidung
des b rohmäum und h quadrum in der Octave der kleinen Buch-
staben vermehrt. In der Octave der grossen Buchstaben hatte das
B immer nur die Bedeutung des B quadrum weil hier die Stellung
der verminderten Quarte (des Tritonus) gegen ein noch tiett ies, im
Systeme nicht mehr vorhandenes 2^ nicht vorkam, folglich die Noth-
wendigkeit zur Vermeidung des Tritonus das b rotutidum anzu-
wenden entfiel.
Jene Vermehrong der vier Xlteren Kirehent9ne um vier neae
bestand aber anf folgender Operation: man sah, wie wir noch ans
Boethins wissen, die Octave ds eine Combination aus Qainte und
Quarte an, z. B. Die Quinte war also neben der
Octave das nächstwichtige Intervall. Nun waren die authentischen
Kirchentöne ihrem Wesen nach Octavenuniläute; ihre Umstellung
in die entsprechenden Plagaltöne wurde einfach dadurch bewerk-
stelligt, dass iwsr die fünf ersten, tieferen Töne, welche das Spa-
tium der Quinte füllten, an ihrer Stelle blieben, dagegen die der
Quarte eigenen vier übrigen, höheren, den Baum der Octave völlig
abschliessenden Töne um eine Octave tiefer gesetit wurdMl^,
also a« B. beim ersten authentiHchei; 'r .nr:
1) Nicht blo8 die Quinte gibt mit ihrer Umkehrung, der Quarte (und um>
gekehrt), die Octave, sondern jedes andere Intervall gibt zusammen mit
seiner Umkehrupj f ebenfalls die Octuve : die grosse Terz mit der k lej m'u
Sext ^ ^ * T die kleine Sext mit der grossen Ter» ^ * TI"*T
die kleine Ters mit der grossen Sext ^gJt^^ll^t die grosse Sezt mit der
kleinen Ten ^.1^ a—c* Seconde und Septime. Es liegt hinin
eine Art Analogie sn den oomplementtrea Farben der Optik.
2) In diesem Sinne wurden die Plagaltöne schon von den ältesten
Schrift steilem durchaus verstaTidcn. So sagt Flaccus Alcuinus (bei Gcrr
bert, Script. Bd. 1. S. 26): Nomina autem eorum (tonorom) apud no-
vsitota w anctflgitate atque ordine sompserc prinoipia: nam quatooi
48
Die AjofiUige der enropftisoh-abendläudischen Musik.
Dadmeli stellten nch neben die vier andientiBchenTOne rier plagnle:
der Flagim prohta, deuiena, hitus nnd idrardm; authentische und
plegale Töne, in ein System Easammengestellt, bildeten die acht
nach der fortlaufenden Zahl benannten Kirehentöne:
Erster
Kirchenion
^4 ^ Ä
5 m - yj F r ,
■^ iprT^zpii r-^ r — l.aathentTop
Zweiter 1 * V -
Kirobontob -jr
1. plagaler Too
Dritter (gg
Kirohenton 1^
Vierter
Kirohenton
FOofter
^rdienton —
•Sechster
Kirohento
4
i
2. satheat. Ton
2. Plagalton
3. authent. Ton
lansgalton
ßieljenkr | ^£
Barchenten
Aditcr f r
Kirdienion I p^' —
anthentTon
4. Plagalton
eonun authcntici vocantur ad principium eorum sonus refertur, eu quod
alüs qaatnor quidam ducatus et magisterium ab eis praebeator.
Und Aurclianus Reomoiisis: Etonini sunt (juatuor (oni, seilicet authcntus
protus, autlieiitusdeutenis, authentustritus, authentub toti ardus, quigeminati
ex 86 oclo reddere videiUur, quos quidam latm^ quidam autem discipulus nun-
cuiMUit(a.a.0.S.81). Namquod quatun- eorum authentici Vi»cnutur, adprae-
oipnumoonim sonum refertur, oo qtiod aliis quatuor quasi (juidam ducatus et
magisterium ab eis praebeatur (a. a. O. S. 39). In ähnlicher Weise Hucbald.
Nachdem er (MoiicaBncbirisdis Gap. IQ) gelehrt hatj dass der erste antben-
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Der Gfegomnitohe Gesang und seine Terbratong. 49
Der zweite, vierte, sechste und achte Kirchenton sind nicht in
prleichoni Sinne selbstständige Töne, wie der crstf, dritte, lunfle und
siebente; sie sind vielmehr nur zugehörijrc Xt bcntönc der letztern,
oder eigentlich mit ihnen identisch und nur durch die veränderte
Stellung der Quarte gegen dieC^uiute zu etwas anscheinend Anderem
geworden. Daher hat die anthentiMhe Tonrdbe ihr grösatea Qe-
wieht in ihrem Anfangstone, die erste in 2>, die sweite in Et die
dritte in die vierte in G^. Die plagale Tonreihe hat nun folge-
richtig ihren Schwerpunkt in oben demselben Tone wie die
authentische, welcher sie angehört; aber dieser Schwerpunkt fallt
nicht mit ihrem Anfang zusammen, sondern bildet ihren Mittelton,
der fiir sie der eifjontliche Schiusstoii ist'). Was d.ngegen in der
authentisciuMi Kcilu' der den Theilungspunkt bezeichnende, folglich
in der Tonreihe zweitwichtige Ton war (in der ersten in der
zweiten H, in der dritten 0, in der vierten Z>), wird in der zuge-
hörigen plagalen Reihe Anfangston. Daher hat die plagale Tonart
stets das Streben an ihrem Mittel- als ihrem wahren Gmndtone,
eigentlich aber dem Gmndtone ihrer authentischen Tonart, empor^
ansteigen, nm in ihm zu ruhen ; im Grunde ist also diese Steigung
eine der Rnhe zustrebende Senkung; der mittlere Ton ist es, auf
den das ganze Tongebilde seine Beziehung nimmt. Weil nun aber
der eigentliche Anfangston kraft seiner auffallenden Stellung im
Systeme sich bemerkbar macht, kraft (li«'ser Stellung als Ilau))tton
gelten niöchtc und es doeh nicht ist, so halten die jdagalen Töne
«'twas Schwankendes, ein Streben zu ihrem tVrsteH, festgegründeten
authentischen Tone hin. Im authentischen Tone ist das Streben
SU seinem ICtteltone (der fUr den sngehörigen Plagalton der
Gmndton ist) kein sich aur Rnhe Senken, sondern ein wahres that-
- krftftiges Emporstreben, eine Entlemnng vom Ruhepnnkte, der erst
tische und (b r orsto Plapalton iiuf D, die zweiten hufE, die dritten auf i^^ die
vierten auf G eudi^en (terminales sive tinales dicuntur, quia in unum aliquem
ez bis quatuor mdo§ omne fimiri neee$9e est), Murt er Gapitel V fort: Prae-
ter ea cum eodem sono autenfus quisqiie tonus d qui nuh ly/.so est regan-
tur et tiniantur nnde et pro hnhentur tonn vic. Ebenso Rogino von Prüm:
ab authcntico proto nascitur vel derivatur plaga proti. Sic et a ceteii»
tribuB exordium capiunt reliqui tres suntqut ut ita dicam eorwn membra
(Gerbert Script. 1. Bd S. 232). Guido von Arezco besingt dieses Ver^
haltniss in folgenden Versen:
Qaonun dno unam vocem tenent at praedizimus,
"Quia vocum in natura quatuor mnt potiua,
Quo8 n sapis hac in arte nihil est uHUus.
Klar Gedachtes iiudet sich auch in dem Opusculum uiusicum des Her-
mannua Contractu«.
1) Vergl. die oben citirte Stelle über die Finaltr»ne in Hncbald's En-
chinadis, bei Gerbert Script, 1. Bd. S. 232. Ferner die älndiche in üuiilo's
von Arezzo Disciplina artis musicae Cap. XI u. Xil (a. a. 0. 2 Bd.
S. 12). Ein Joannes de Anglia pflegte sn aagen: tota ?is csntos ad
finales respicii (a. a. 0. 2. Bd. S. 53).
ABbxof, OMClOclit« dM Miuik. IL i
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50
Die Anfibige der enropftitch-abeDdl&ndischen Masik.
durch die KQckkehr sam Omnd- nnd Anfangstone wieder erreicht
wird. Nicht hilfsbedflrftig, sondern liebevoll entgegenkommend be>
rflhrt der anthentiBche Ton das Gebiet seines Piagaltones; er gibt
daher ein Bild des festen, kraftvollen, mlnnlichen, so wie der
Plagalton, dor zu seinem anthentischen Tone hinstrebt, ein Bild
rlcH schwankenden, stiltzungsbedUrftigen, weiblichen*). Den
autlieiitisciKMi Ton treibt es liinaiis ans der Hube r^T Bewegnnf»,
der plagalc Ton htrebt aus der Bewegung in die Kuhe zuriirk-
zukebren. Der autlientiscbe Ton bat die Bedeutung der Touica,
der Plagalton jene der Dominante:
a.
p
a.
P-
a.
P-
a.
P-
'r^y.~-T. ■
-I'
— ^Zl
ö_
— Ä_
\
"7
1
-1
Der These des anthentischen Tones, welcher die Fortbe-
wegnng von der Tonica snr Dominante setzt,
steht der Gegensats sdnes plagnlon Tones entgegen, welcher
sich in der Kttckbewegnng von der Dominante snr Tonica
od»
ansspricht Ihre vermittelnde Einigung, in welcbersie beide ruhen,
nach welcher sie beide hinstreben, tinden sie in ibrem gemeinschaft-
lichen Haupttone, welcber in der autbentischen Tonreibe der erste,
in der plagalen der vierte ist. Der Plagalton stobt mit seinem
authentiscbeninuntrennbaremZusamnienliange und kann mit keinem
andern verbunden werden''^). In jedem dieser Töne fand man aber
eine cigenthUmliche Charakteristik, eine nur ihm eigene Ffirbung^).
Es ist leicht einansehen, dass der erste und der achte Kirchen-
ton, ohschon sie ans gans denselben Tönen und Intervallenfort-
1) Man vergleiche die charakteristischen Formeln bei Hermannns
Oontractus, Gcrbcrt Script 8. Bd. 140 o. 142.
2) Si vnlueris seqreparc a mfiiristm discipulum. i»l est ab autbentu
protoplagis proti etcoiijungere cum uUt^uoaltero touo, uonvales. Similiter
et de oeteris mtelligendam mt tonis, qnis semper origo inferioris a soperiori
initium ducit (Aurelianus Reomensis, cap. II. Gerbert Script. l.Bd. S. 31).
In ( )d(lo's Dialog heisst es : M'igister: — hi quatuor autem dividuntur in
octo. Discipul Hü : (^uürc'f M.Pt opterelevatosethumüeacantus. Namcumacu-
tttsvel elevatos fuorii cant us in authento proto, dicitormodua authentos protos.
Sivero fuoritgravi.s vel {luiuilis, in eodem nutbento proto tlicitur plaga proti.
3) Figulus gibt tolgeude Charakteristik der Kii'chcnt<lne : primus
hilaris, secundos maestas, tertius aostems, quartos blandus, quintoa ju-
cunduf, leztus mollte, septimus irraTii, octavun modettu#.
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Der Gregorianiflcha Gesang and seine Verbreitang.
51
sehreitniigeii bestehen, doch nichts weniger als identisch sind. Jener
hat die Nator eines authentischen, dieser eines plagalen Tones mit
allen sich an diese Unterscheidung hängenden Conseqaenzen. Der
sweite, vierte und fünfte Kirchenton hat (1aß:cgen eine Art Doppel-
natur: diese drei Tonreihen sind als Plagaltöne von ihren authen-
tischen Tönen abhSngij?, aber nach der in keiner der ^^pr atjthen-
tischcii Toiircihcn in glciclior Weise vorkoinnuMuU'u Stolluiip: ihrer
zwei Ilalhtüiie können ni«' aucli s(>l))stberecliti^te ( )( taveiiarten,
gleichsam drei andere, neue anthenti.sche Töne rej)rä.sentiion , wo
dann der Anfangston wirklicher Grundton wird und jenes Verhält-
niss von AhhSngkeit verschwindet, ja die Fiüiigkeit voifaanden wSre
selbst wieder drei Plagaltöne m entsenden, s. B.
A H C D E fga
EFQAECDE
4 6
Die Tonreihen von A und von C wurden freilich erst später,
nnd ansdrficklich erst durch Olarean im 16. Jahrhundert) wirk-
lich In diesem Sinne gleichsam emandpirt; bei der Tonreihe
von H trat der Abtheilungston F fidschtönend auf und Hess
ihre Anwendung bedenklich erscheinen^).
Die Theorie mnsste gewisse bestimmte unterscheidende Kenn-
zeichen aufzutinden snriien und mnsste diese Kennzeichen in feste
Ref^eln bringen, mit denen gleicliwi»lil nitlit für alle m()glichen FM'llo.
vorgesehen war, daher sie nntligedrungen si>;renannte Misclitonali-
täten (toums comtutjctu^ und loum pcrniivtwsi gelten lassen mnsste.
Ein tiefgelehrter Mann wie Pietro Aron konnte die Natur und Unter-
scheidung der Tonalitäten sum Gegenstande eines ganzen Buches^
machen; auch Glareanus in seinem Dodecachordon, Tinctoris, Fran-
chlnus Gafor, Hermann Finck u. A. behandelten dieselbe Sache mit
Fleiss und Gründlichkeit DieharmoniseiHMi l^ lationen der TonalitXt
im neuerenSinne beherrschen unsere melodische Erfindung durchaus;
dicGregorianigche war davon unabhängig. Die neuere Melodie weist
iiberall auf die gleichzeitig gedachten Grundharmouien; die Grego-
1) Mattheson (VoUkoniraener Kapellmeister 8. Bö §. 37) sagt darüber
in seiner derben Weise : „sie worden genOthigt, auch sogar den siebenten
diatonischen Klang, welchen man h nennet, mit alhiii seinem Aidmnfje
und Staffen- Werke für unäcbt als einen H — söhn uro spurco zu erklären
and zu Terwerffen, weil de entweder ans grober tlnwinenheit oder aus
thOrkditem Aberglauben und schiilfüclisigem Eigensinn, demielbAi Gnmd*
Mango die Quinte fis nicht ziigestehen durfflen".
2) Trattato della natura u cognizione di tutti gli tuoni, del canto
fignrato non da altmi pin scritti, oomposti per Messer Pietro Aron.Musico.
In Vinesia per maestro Bemardino de Vitali, Venesiano MGOGOOXXY.
4»
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52 Anfänge der europäisch -abeudläudi«chen Musik.
rianische, gleieh nnprUnglicH ▼on latenter Harmonik nnabbXngig, ist
in ihrer Tonalität nur aus ihr selbst, also aus ihrer bewegten Fort^
schreitung zu erklären, daher die Theorie ganz richtig die unterschei-
(loiulou Merkmale aus der zeitlichen und räumlichen Gestaltung der
Melodie schöpft (zeitlich, insofern gewisse Tonstufen zu Anfang, in
der Mitte und zu Ende nacheinander sich geltend machen; räum-
lich, insofern der Melodie ein gewisner Umfang von Tonstufeu
and ein gewisses Gebiet der Octaye, in dem sie sich vorsttglieh
bewegt, zugewiesen wbrd). Daher definirt Hennann Finck: „Die
TonalitSt ist eine gewisse Besebaffonbeit der Melodie, kraft deren
ihr Anf- und Absteigen nach gewissen Regeln geordnet ist, ge-
m<äss welchen wir jeden Gregorianischen Gesang sa Anfang oder
in der Mitte oder zu Ende beurtheilen"^).
Aus dem Anfange beurtheilte man sogleich, ob der Ton
authentisch oder plagal sei; denn steigt der Tongang gleich über
die Öchlussnotc, so ist er authentisch, fallt er uuter die Schlussnote
und verweilt dort, so ist er plagal 2). „Der Ton gerader Zahl will
steigen; aber er will fallen, wenn er ungerade ist'* 3). In der Mitte
kennaeichnet den Ton der Umfang {antbitus) und der Wiedersehlag
(r^ßeratasio)* „Steigt der anthentische Ton,** sagt Heimann Finek,
„über seinen Finalton bis aar Octare, Nene oder Desime nnd ftUt er
damnter blos nm eine Beennde, so ist er anthentiseh ; wenn er dagegen
1) Temas est certa qualitas melodiac seu aficetua eanttonom, qoi
certa« rofjulas ascendondi et desccüdendi habet. <}uibus oinnem canium
gregorianum aut initio aut medio aut fine diiudicamus (Herrn. Finckii
Fraot. SUIS. — ersoluen 1566 — IV. lib. de Tonis).
^ A. a. 0. Hemaim Finck gibt unter andern dasa folgende Beispiele:
Finalton D. Tonalität: 1. authentischer Ton.
\ 1 jr y " cy_^\_^ ^
Oa-li-oem ta-la-ta-ris »o - d - pi - - - - am.
Fiualton E. 2. plagaler oder vierter Kirchcntou.
— -1 ■
To - U
— Ä»—
pol - chra
es.
Schon Hacbald (Ende des 9. Jalirlmnderts) pil)t dcTi •spezifischen Umfang
f&rden aufsteigenden authentischen Ton in solcher Weise au: Uuusquisqae
tonus authentious a suo finali nsque ad nonum sonum ascendit. Descen-
dit aatem in »ibi vicinum et ali(|uaiido ad semitonium, vcl ad tertinm.
Dagegen boscliränkt Hucbald den Plagalton strenf? auf die Octave:
Piagius autem usque in quartum descendeus ad quiutum ascendit.
^ Yolt descendere par, sed sc andere volt modos impar (Glarean.
Dodecachordon I. 5). Die Modi par es (2. 4. 6. 8.) sind die plagalen,
die Modi impares (1. 3. 5. 7.) die authentisohen.
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Der Gregovtaaisolie Gamig und wine VerbreHnng.
eine Quarte oder Quinte unter seinen Finalton föllt, dagegen um
eine Sexte oder Septime darüber steigt, so ist er jdagal." Auch
hier wie man sieht will der ungerade steigen, der gerade fallen,
und das Schiefe (nXäywy) de8plagaltouesbj[nicht hich charakteristisch
hl dem Schweifen ober- und unterhalb seiner Finalnote aus. Ur-
sprünglich scheinen die Kirchentöne wirklich, wie sie noch Her-
mannnsContractuB charakterisurt,auf ihreOetave besohrSnkt gewesen
SU sein, der erste auf D — d, der zweite auf Ä — D — a n. s. w., wobd
ihre Eigeuthümlichkeit auch leichter kenntlich blieb. „Dann fitgte
man,^* wie Bischof Theogerus Ten Mets, (lebte um 1100) bemerkt,
,,au8 Liccnz oben und unten einen Ton zu^). Zuweilen finde man,"
fShrt Theogerus fort, ,,das8 der erste, zweite, dritte und achte Ton
statt eines Tones oben deren zwei annehmen und zu Decachorden
werden." Damit war schon genau der Ambitus festgestellt, wie
ihn die Theorie anerkannte und beibehielt. Der erste authentische
Ton {C)DEF0ÄHed(e) (f) steigt dann wirklich vom Final-
tone D nm eine Oetave oder Nene» oder, wenn noch / beigegeben
wild, nm eine Dedme und ftllt um eine Secunde. Der erste Plagal-
ton, ähnlich erw^idtt{r)ÄHCDEFGa(h) (r), steigt vom Finalton
Dum eine Sext D — Ä, oder nm eine Septime {D — c) und fJillt um
ciiie Quarte A — D, oder um eine Quinte P — D. So ist also die auf
den ersten Blick willkUhrlich sclu'inende Bestinimnng des Ambitus
eine einfache Folge der unbedeutenden Kr\s riti iini^ der urspriing-
lichenOctavenreihe. Diese Erweiterung erkennt sc hon Ilucbald von
St. Amaud und Abt Oddo au. Letzterer statuirt in seinem Dialoge
die Kirdhentonaxten als Tonreiben von nenn Tönen. Die erste von
C bis d: „einige wollen daraus ein Decachord machen," sagt er,
„und geben noch einen Ton in** n. s. w. Der Gesang könne sich,
sagt Oddo weiter, in acht, neun oder zehn Tönen bewegen*); das
Blrste wegen der Octave, das Andere, weil die Nune aus zwei anein-
andergerückten Diapente bestehe (D — A. A — e), das Dritte aus
Achtung fUi den (selinsaitigen) Psalter David's, oder weil die Desime
1) Frimus igitur tonus vel tro^us sive modus versatur re^ulari cui-su
Inter D et d, ulpote in anis speciebus et es Heentia anumU utrimque
ehordam vd Tocem. Dasu gibt Theogerus folgendes Scliema:
StopMOB
Protot
1 TODOS
Diapente Diatcisarna
ToDua 1
1 c
DEFGa\ 64 c d
« 1
Analog für die fibripon Töne.
2) Auch Guido von Arezzo (Discipl. artis musicae, XIII. de octo mo-
domm agnitione) sagt : Anteuti vix a tue fine plus tma voce detcendunt .
Asccndunt autcTn uutcnti upcjuc ad octavani et nonani vel ctiam decimam.
Plagae vero ad quintam n mittuntur et infendunlur; seil intensioni sexta
Tel septima auctoritate tril)uitur, sicut in autcutis nona et decima.
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54 Die Autange der europäisch •abeudlHudischeu Musik.
gerade drei BiatesBaron begreift (D — G, Q — e. e — f). — Die
Bepercussion ist das cbüakteristiBche Intenrall, das in jeder
Tonart zumeist angeschlagen wird: im ersten, dritten, fibiften
nnd siebenten Kirchentone die Quinte der Finaltöne, im zweiten
nnd sechsten die Ter/, im viei-ten und acliten die Quarte
Die vielen Textessyllu'ii , die beim Psalmodireu u. s. w. auf die
Miit«'lpartie des Mclodicabsutzes kamen und am bequemsten auf
einem und demselben Tone zu singen waren, schciueu diese
Repercussionen veranlasst sn haben.
Was endlicb die FinaltSne selbst betrifft, so meint Abt Oddo,
ohne ihre Kenntniss sei gar nichts anzufangen^. Nun ist zwar der
regelmitssige Finalton für den ersten und sweiten Kirchenton D,
fiir den dritten und vi. rten E, für den fünften und sechsten Fy für
den siebenten und achten G; aber neben dem wirklich auf dieser
1) Man prägte es durch die Verse ein (Finck a. a. O.):
D— i. D— #.
Re la fit pri • mi Re Da nor - ma se • cun-di
* 4
E-H.
A.
J «»^^ r— ^-U
Mt mi dat tertios, Mi la po - seit ti »bi qnar-tus.
5 S
F-0. F— D.
^ — ■ «9 py -f^
Ut sol quiuttis petit. fa la sextus sibi quaerii
5 4
O-D. G-C.
u
1 40 A 9 0 ^ A ^ 1
nt sol impar tetrardas, nt fa postrema« h»>bebit.
In (Tinvaimi Battista Rossi's Organo de cantori (1618. S. 8) kommen ahn-
liche Gedächtnissverse vor:
jKc \a vult primus, re fa retinetque secimdus,
Per sextam mt fa temo, quarto dato mi I0,
fa fert quintus, fa la praebet tibi sextus,
üt 80I septenus, ut fa cai)tatque supremus.
2) Magister: Tonus vel modus est rcgula, quae de omni cantu in fine
d^udicat. Nam uisi scieris finem, non poteris cognoscere, ubi incipi vel
quantum tlrvari vel d('|>oni del)t'at cautus. rHscipulus : Quam regulam
sumit priucipium a ünei* M. Omue prinuipium secundum praedictas sex
oonsonantias suo fini oonoordare debet. Nmla vox potest indpere oantum,
nisiipsaTel finalis nt^ vel consonetfinali per aliqnam de sex consonantüs n. 1
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Der Gregorianische Gesaug und seine Verbreitung.
55
Tonlitthe endigenden Geeang (eaniuB regidaris) wendete man «ach
noch den transponirten an, da es bei den kirclilichenTunalith'tcn nicbt
wie bei unsoren auf die absolute Tonböhe, sondern auf (iic Stellung
der beiden Halbtonscbrittc in der Octave ankam. Am liebsten führte
man den transponirten Gesang (canfus oder iouus transpositus) in
der Quarte oder (^hiinte des rr<:iilären aus, tlieils in einer Art Heiiii-
niscenz an das antike hyi>o und hyper, tlieils weil die Transponirung
auf diese Stufen am zweckniässigsten schien: also ein Gesang, der
B. B. natürlich (nicht transponirt, regulär) auf C anfing, wurde ent-
weder Yon F aus gesungen, wobei als Quarte das h rohmdum oder
moUe angewendet wurde (cantus thmoüan$, cmUw moUis, wie man
sieht, etwas gana Anderes als unser MoU), oder von O ans, wo das h
quaänan oder dumm, unser h, gebraucht werden niusste (cantus
b-(luralis, canius dunts). Alles dieses stand mit dem Wesen der
sjjäter zu besjireelieiiden sopennnnten Solniisation im genauesten
Zusanmienhange. AIxt die Leiter der JSinj^ehöre liesseii, wie wir
aus Pietro Aron und sonst wissen, ofl genug aueh in andere
Intervalle transponiren. Als man gar noch unregelmässige Schlüsse
auf den sogenannten Coniinaltönen zuliess, so sehwand vollends
jeder sichere Anhaltspunkt, den die Schlussnote htttte gewlthien
kdnnen. Ueberdies mussten, wie schon erwähnt, BlischtSne (toni
mixti) und Neutraltöne (totd neiäraU») statnirt werden. Es
sind, wie Hermann Finck erklärt, solche, welche weder völlig
den Gang eines authentischen noch völlig den eines plagalen
haben. Der Mischton steigt eine Octave oder noch höher und
ftllt eine (Quarte, durchläuft also das f5el)iet des authentischen
und des plagalen Tones, er ist eine Miscliuu^ heider 2). Der
Neutralton erhebt sich nicht Uber die Sexte und fällt nicht
unter die Terz; er ist also weder entschieden authentisch, noch
entschieden plagal. „Bei Gesängen solcher Art,'* sagt Hermann
1) Siehe dess*en Lucidaho IV. 6 del modo di procedere oon le sei
sillabe accidentali.
2) Anch Fruiichinus QtSvr (Mna. pract. I. 7) erklärt : Mixtus tonos
dicitnr si autcuticns rst quuHi vel totnin «zraviiifj siii ])la<r;ilis ntfifft'rit te-
trachordum vel duas saltem ejus chordas (hei aho der uutlu utiHche Ton
statt um eine Secnnde mn eine Terz, so war er schon gemiHcht). Von dem
Bfischton (tonus mixtus) \<i d. i vi'nniaohte Ton (tumi!* conunixtu») zu unter-
sclu'id'-n. Er entsteht dudiui h, tlass im Lautr ciiu r lit'stiinmten Tonalitftt
entächiedeu iu eine andere ausgewichen wird. Ciafor sagt: Cunuuixtus
toDQB ^dtnr li autenticuB est, quam in eo «peeies alterini quam sni coU
lateralis (denn in diesem Falle wJlre er mixtus) disjionif nr. Sin autem
fuerit plagalis, dicetur commixtus, quuni alterius quam sui ducis et im-
itHTis eonsonantes continot fomias. Auch Tinctoria behandelt in seinem
j'xhiT de natura et proprietate tonorum (cap. 13 de comroixtione tonoram)
<1« iisell)on (rogenftniid : ..Si vero aliiiuis octo tonorum i»raedictorum a
principio usque ad tiuem ex six^ciebus diapeute et diatehserou sibi modo
quae diximuB attributia non merit formatns, hnmo speciebus oniu« aut
plurinm oommiflceatur, hnjusmodi tonus eommiseku vocabitur. Verbi gratis,
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56 Die Anfiknge der eiiropiiMih*abeiidliiidiMlbeii Musik.
Finck, ,,8ehe man auf den Scliliisston, da zeigt es sich, woliin
sich der Oepang mehr nci^'t: füllt er von der (Ober-) Quinte
zum Fiimlton, so darf er tiir authentisch gelten; dagegen ist er
plagal, wenn er von der (Unter-) Quarte zum Schlusston steigt.**
Der Grund ist nach dem Erklärten leicht einzusehen. Schon
Hucbald redet von solchen Hischtönen, die er Pantpteree nennt,
nnd deren er vier Btatoirt^).
Diese KirchentSne worden Toni oder MoM genannt, eneh
wohl Tropi oder «nch Tenores, insofern sie nSnüich als eine fest-
bestimmte, genau einsuhaltende Norm {fenor) anzmeben waren*).
Letzterer Name kam aber ausser Gebrauch, als man im mehr-
stininii^cn CJesnnp:e den canius finnus Tenor zu nennen anfnip^*^).
Unter den Trttpen verstand man nicht sowohl die abstrakt ge-
nommenen Tonarten, als 3Iclodii l"ui mein, die nach den Kirchen-
tonarteu gebildet beim Psalmen- und Kesponsorieugcbange an-
gewendet wurden; sie bildeten rieb mit ibren mannigfachen
Abweicbungen (Differensen) im Lanfe der Jabibunderte in der
Idieblicben Praxis allmXlig ans^}.
Als die cbarakteristiscbe Eigenheit des Gregorianischen Ge-
si in primo tono oonstitaatiir quarta apedes diapente, regulariter attribota
septtmOi tarn appeUabitnr hic tonus primu§ flqrfMio cosunuefM, vt bio patet :
1
Die Theorie wurde nicht müde Diatuictionen zu machen, z. B. die im
Grande mQsnge der vollkommeneD, iiBToUkommaieD nnd libervoUkom-
tnenon TorialitatcTi (t. pcrfcctus , imperfectuB et plusquamperfectus), je
nachdem der legale Umfang vöUig, oder nicht völlig ausgefüllt, oder über
ihn hinausgegangen wurde.
1) Farapteres dicti eo« qnod iter praeparant descendendL — — Pap
rapter primus coutingit tontim secundum et intrat in versum ut tones
secunduB, et finit sicut tquus primus u. s. w. (De armon. inst.)
9) — rogattis a fratribat, nt super quibnsdam regnlis modulattonimii
quas tono» seu ienores appellant praescribcrem sennoncm (Aureliani
Reomcnsis Musicae disciplina, in praofatione, bei Gorbert Scriptores
Bd. 1. 8. 28). Tonus est totius coustitutionis harmonicae dififerentia et quan>
titas, quae in vocis accentu sive tenore consistit (a. a. O. Gap. VIII. 8. 39).
3) Wicdt.M- in anderem Sinne verstiht Guido von Arezzo das W'uri
Tenor: es ist ihm so viel als Ualtetuu, ausgehalteue Note. Es war eine
Eigenheit Giiido*8, wie «ach sein Gommentator Cotton bemerkt: Tenor
aotem ateneo, sicut nitor a niteo, splendor a splendeo — — — sed et moram
idtimae vocis Guido tenorem vocat (XI. de tenoribus modorum).
4) Unter Trojicn versteht man dermal im Choralgcsange insbesondere
die Schlussformel des sogenannten Evovae (d. i. Saeculoram Amen). Her-
mann Finck sagt: Trn]»us est Im vis concentus in cujusque toni rejier-
cussione iucipieus, quae in siugulis versibus psalmorum et responsoriorum
et in tirii additur per istas litteras Euouae, quae siguiiicant saeculorum
Amen. IIi(rüher,towie Aber die damit inVerbindung stehenden Differensen,
die ConHnaltöne u. s. w. Pfbe man dif^ T;<^liH>üclicr des Clioralfypsanprefj :
etwa U. L. Kimberger's Haudbuch des rüm. Choralgesanges, Landshut lööö.
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Der Oregorianisohe Gtemaag und Mine Yeathnaknng.
57
Sanges wird insgemein angenommen, dass er sich im Gegensatze
gegen den metriselien, die QaantitSteii der Bylben geiuui beobach«
tenden^) AmbrosiMiiachen Oesang« in lauter ganz gleiebmässig lang
ansgehaltenen Noten bewege, dasa er also jenen eigendiftndichen
CSharakter habe, der den Choral von allen anderen Singweisen ans-
zeichnet und ihm jenes streng Feierliclie, ernst Gemessene, jene
würdevolle Ruhe und vollauKtönende Klangwirkung gpbt, durch
welche er so sehr gei'ij^net ist für eine chonnässij^ sinkende Aft'n<^o
den rechten Ton und Ausdruck der Andacht zu g^ewäliren. 1 »avon
heisse der Gregorianische Gesang auch cantus planus (tVaii/ösisch
plain chant) oder caidus choralia. Aber diese Unterscheidung erfor-
dert eine tiefere Eigrilndung des Gegenstandes, als dass sie mit
einem so allgemein lautenden Ausspruche fttr erledigt angesehen
werden kSnnte. Zur Zeit des heil. Gregorins war die antike Metrik
noch weit mehr in Yttgessenheit gerathen, als zur Zut des heil.
Ambrosius; für GesKnge des Chores oder vor der GemMnde war es
durchaus zweckmässig jede Unterscheidung der LSngen und Kürzen
der Sylben zu beseitigten. In der Gleichdauer der Töne la;r auch
eine Art Bürgschaft für den genauen und präciscn Vortrag ilt's (ie-
sanges, wenn ihrer Mehre zusammensangen. AVenn alier der einzelne
Priester am Altare Psalmen, Gebete, Kvaugelientexte singend oder
im Singloseton (im Concentus oder im Accentus) vortrug, so hätte
es gar nichts Ungeschickteres geben kdnnen, als ihn lauter gleich-
gemessene Sylben hVren sn lassen. Hier war eine Art Declamation,
eine Art nach der musikalischen und grammatischen Periode wech-
selnden und durch diesen Wechsel erst mit Farbe und Ausdruck
belebten Vortrages unentbehrlich. £s konnte dabei nicht auf eine
subtile Anwendung des Vortrages ankommen , zumal hei den in Prosa
abgefassten Texten, sondern nur auf die natürliche Betonung im
Aussprechen des Lateinischen, das uhnehin jedem Priester geliiufig
sein musste. Fiel es doch mehrere Jahrhunderte spJiter noch auf,
als ein ileiliger, der zugleich ein grosser Denker und Gelehrter war,
ans lauter Bemuth statt dOcSre immer dOcl^rS aussprach^. Der
Gregorianische Gesang war nicht so gans „plan", er hatte gleich
onprBnglieh eine Menge Vortragsmanieren und Modificationen. Ro*
manns, der zu Ende des achten Jahrhunderts von Papst Adrian
ganz eigens als Lehrer des Gregorianischen Gesanges abgesendet
1) Cantni autem hujusmodi niuHici acewatfa Tocant, <|iiod in eomm
cornjtositoTK^ cura adliilM-atur. Hos ctiam metricon yn-r sinnlitudiiiom ap-
peilaiit, uuod more met rorum certis legibus dimetiautui\ ut sunt Ambro-
wiam (Job. Ootton XTX. bei Gerbert Script. 2. Bd. 8. 265).
2) Dasselbe Wort braucht Bcmo Augiensis als Beispiel. Die Stelle
ist sehr bezeichnend: — apta et concordabili brevium longorumque Bonorum
cqpulation^ componitur cantua — — si quis in secundae coiijugatiouis
▼erbo acuto aocentn in antipenultima pronuntiat ita docete, \v\ in tertta
conjngatione in penultima circunifli xn Ityite, omnino ipsa aaditus novitate
Ubescit (bei Gerbert Script 2. Bd. iS. 77).
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58
Die Aufäuge der europäisch -abendländischen Musik.
wurde, seichnefce in sein mitgebrachtes Antiphonar eine Menge Vor-
tragsseichen ein. Da ist eine Stelle rasch (c. d. i. celeriter), eine
andere gehalten d. i. teneaiur) zu singen, ja ein celcritcr-teneatar
(c. t.) drttcktaus, dass die erste Note fast wie ein VorHchlag r.Kcli,
die andoro (laj;<*<ron ansj^fhalttMi zu nehmen ist. Ein lnM^'^tvot/ti s h
(hent'j v(;rstäikt /iiwcilcn diese Cieliote. .In in den 'rnii/.ciclien, in
den Neuiiu'H, wie sie iiiesseii, ist oft uel»en der lie\vt'j;inijij der
Stimme auch das Ma>s der Hewejjung vurge.sehrielien : der Semivo-
caliö besteht z. Ii. in der Umkehrung des celeriter und teuere, es wird
die erste Note gedehnt, die zweite kurz genommen; der Gntturalis
gleicht einer raschen Triole u. s. w. Als im 13. und an Anfang
des 14. Jahrhundert die viereckige Choralnote an die Stelle jener
Neumen trat, zeigen italienische, spanische und poitu^^ncsisehe Can-
tionale aus dem 13. Jahrhundert gleich die Unterscheidung zwischen
der quadr.itischeii und der rautenförmifjen Note. Die Rautennote
hiess aber nacinnals nota semibrevis, zum Zeichen, dass sie nur die
halbf Dauer der quadratischen Hr<'\ is bt'deute. Aucii an Zierden,
an allerlei Tononiaiiientik fehlte es dem Grej^orianischen (»(»sauge
keineswegs. Die »Säuger wendeten im Vortrage eine Menge von
Feinheiten an, deren Erlernung späterhin den rauhen Kehlen der
frSnkischen Sttnger sehr schwer fiel. In dem Antiphonar von 8t.
Gallen sind Neumengrappen mit beigesetstem b. e. (bene celeriter)
au finden, die sich unschwer als Versiemngen nach Art unserer
DoppelschlSge und Gru]>etti erkennen lassen, und die wahrschein«
lieh der Vorsingende allein ausführte, da ihre prSsise Ausführung
von einem ganzen Chor nicht auszuführen wlire. Das ,,('ircum-
flectiren" und ,,('ircumv(»lviren'* einzelner Textessylben , von dem
Aurelius Keduiensis spricht, scheint auch nur eine Art Doppels< iila^
oder eine ähnliche Verzierung des Gesanges andeuten zu sollen
Die Stfnger hatten ihre C^uilismen, d. i. jenes tremulirende Angeben
eines Tones, welches Engelbert von Admont mit dem Sehmeäerton
der Trompete vergleicht und welches die neuere Gesangknnst Tiillo
caprino nennt^); sie hatten ihre Vinnnlae, wo sich der Ton um den
Ton ,, gleich Weinranken" schlingt^), also etwas dem Triller mit
dem Hilfjitone Aehnliches, wo sich durch schnellen oder langsamem
Wi^clist'l der zwei Töne allerlei ,\l>stiifmi^en anbringen Hessen. Das
waren aber lauter Manieren, die mit der ganz streng choralmässigen
1) 6erl)ert Script. Bd. 1. S. 56: ... sin autem producta fuerit (seil, syllaba)
tunc circumflexione j^ainb bit Ootava (syllaba) voro . . . circuniflectur.
2) Die Meinung Lainhillotte's, das Wort Quilisma stamme vom >^rie'
chischen «^A^o/ia, quod vulvitur, ab, ist ohne Zweifel richtig. Er verweist
auf das Kulisma de.s griechischen Kiichen^fesanges.
3) Vinola vero dicitur a vino iil » st ciiicim» iiiollitci- Hex«» (Aun-lianus
KeoDieusis Cap. V), fast wOrthch gleichlautend mit isidurus Hispalensis,
„Vinnola est voz moUis atque flexibilis et vinnola dicta est a vino id est
dncinno molliter fleao" (bei Oerbert Script. Bd. 1 S. 95 und 28).
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Der Gregorianische Geutog und seine Verbreitung.
59
Singweifle nicht gnt sni vereinbaren wSren. Behäbiger bemerkt gans
richtig, dass noch im 10. Jahrhundert, cur Zeit degBomanna, und
noch Jahihunderte nach ihm die KirehengesKnge kcincswc«;» in
TSnen von gleicher Dauer vorgetragen wurden. „In der Bestiin-
nnirif]^ des Tonwertlies", sagt er, „richtete man rieh nach dvr lie-
stimmung der musikalischen Metrik, welche mit der ])(<('(isclien
grosse Aehnlichkeit hatte. Wie uamlich ein (itdiclit ans Vrrst n,
die Verse aus Versfiissen ("pedes) und diese endlitli aus einer
oder mehreren iSylbeu bestanden, ebenso theilte man auch einen
Gesang in sogenannte Distinctionen, aus einer grösseren oder
kleineren Neumengruppe (Notengruppe) bestehend, eine Pistinc-
tion in Neumen (Notenseichen), und diese endlich in einen oder
mehrere Töne ab. Auf diese Weise entsprach einem metrischen
Verse die musikalische Distinction, einem metrischen Fusse das
musikalische Neuma und einer Sylbe der Ton"^).
Man pfle;.'t wie gesagt den Unterschied zwischen dem Amhrosia-
uischen und dem ( J ref^orianischen Gesänge wesentlii li darin zu suchen,
dassj euer Längen uiui Kürzen unterschieden, dieser dit' unterseliiedh>s
gleiche Dauer aller einzelnen Töne einget'iiln*! habe. Richtiger hiesse
es vielleicht: dass der Ambrosianische Gesang wesentlich
auf der poetischen, der Gregorianische auf der musika-
lischen Metrik beruhte. Zu den Zeiten des heil. Ambrosius
war Bildung im antiken Sinne, waren antike Anschauungen noch
das Vorherrschende. Unter den Schriften des heil. Augustin, de»
berühmten Kirchenlehrers, des begeisterten Freundes des heil. Am-
brosius und Bewunderers des And>rosianischeu Gesanges, finden
rieh sechs Bücher ..de .Musica", welche aber nichts enthalten als
die auf Musik angewendete antike Metrik. Selbst wenn Augustinus
den Satz ausspriclit : „Syllaharum sjiafid aliter grammatiri doceni" ~'\,
so steht er \yi'\v wissen es von der antiken Musik her} damit auf dem
Boden antiker Anschauung; und wenn er nun in's Einzelne geht,
▼om Hetmm aus Pjirhichien, Jamben^ u. s. w. handelt, wenn er
▼ersichert, dass iXngere als viersylbigeFUsse keinen Namen haben^),
wenn er untersucht, warum die letzte Sylbe im Metrum glrichgiltig
sei^), wenn er die TonschlUsse nur nach den Versschliissen regelt
und das Pausiren nach der ICatalexis und der Akatalexis u. s. w.^),
so linden wir (lurchaus Lehren und Sätze der antiken von der Poesie
auf die Musik ülirrtragenen und letztere heln-rrsrhendtMi Rhythmik.
Die Siin»:«'r, ohnehin in antiker Schule gebildet, fanden sich mit
alle dem nicht auf fremdem Gebiete, und die Sprache, von deren
1) A. Schubiger, Die Sängerschule von St. Ualleu, 8. 17.
2) IT. 1.
3) IV. 3. 4 fg.
4) III. 6.
5) IV. 1.
6) IV. 14 fg.
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60
Die Anftnge der eoropAiseh-abendlindiMhen Muaik.
Massen hier die Musik Gesetz und Kegel empfing, war ihre
gewohnte Unttersjprache. Anden freilich dann, als der Kirchen-
gesang andi an andern« zxx den sogenannten BarbarenTÖlkem
gebracht werden sollte. Diesen war das Idiom der antiken sswet
Colturvölker fremd, ihre Metrik nnverstilndlick, aber sie hatten
das (natürliche) Kliyt]m\usjrerühl.
Für die natürliche Empfindung ist zunächst die Untorscheidwig
der beiden llanptniomrntc der Arsis und Thesis, folplicl» die zwoi-
zeitige Bewegung ohne l'nlerscheidung quantitirender Länge und
Kürze das Angemessene. ,,Was sogleich in die Sinne fallt", sagt
ein neuerer Schriftsteller, „dass nämlich der acccntuirte Gesang, der
sich in Hauptmomenten bewegt, weit mehr geeignet ist von grossen
Volksmassen gesungen an werden, als der qnantitirende, weU jener
ungebildeten Stimmen sn Hilfe kommt, die sich blos dem kunstlosen
Naturgefühl Ton Arsis und Thesis su überlassen brauchen, und über-
dies grosse Tonmassen sich allezeit anständiger und würdevoller in
gleichen Zeiträumen fortbewegen als in ungleichzeitigen: dieaet
bemerkte aucli (iregorins und gründete auf diese Bemerkung seinen
Plan zur Kefonnation des Kircliengesanges"*). Als späterhin, mit
dem 12. und 13. Jalirliundert, die Mensural- oder Figuralmusik auf-
kam, welche auf einer auf das Genaueste bestimmten Dauer der
Nütenwerthe durch Notengestalt und beigesetzte Zeichen beruhte
und die QuantitXten langer und kurzer Noten gegeneinander regelte
und ausglich und sich dem GregoiianiBchen cantus planus, der nie
eine so mathematisch genaue Tonmessung gekannt hatte, gegenttber-
stellte, wurde die strenge Gleichdauer des cantus planus in allen
einzelnen Noten zum wesentlich unterscheidenden Merkmal des-
gelben und zurRegel erhoben^), undFranchinusGafor selbst schreibt
es auf Rechnung der Musiker (nicht des heil. Gregorius), dass ,,sie
seine Noten in gleichmässig langer Dauer geordnet haben*'^).
eigentliche Bedeutung der Gleii hdauer der Bewegung des Gregoria-
nischen Gesanges liegt aber nicht in dem tactmässigen, gleichlangen
Ausbalten jeder Note, sondern (im Gegensata gegen die metrischen
1) Apol II. § 408.
2) Elias SalomoniB (Scient. art. mus. V.) sagt: Bene caveatur, nou
debemus pon^re faicem nottram in mestem aliensm assnmendo natnnun
organizandi, punctos properando, nnm qui ad utrumque festinai, ntromque
(h'stniondo neutrinii bene porn<rit lictjula infnllihilis: omnis cantus plnmis
in aliqua parte mi nuUam ftutimitionem in ttno loco patittir plm qtiam in
olfo qitam est de «Mfwm «Nt; ideo dieiiwr etmttupiUnn»», quia omninoplaniB'
aime appetit cantari.
3) Cujus notulas aequa temporis mcnsura musici disposuerunt. In
der Musicae Choralis medulla in usum Sacri Ord. Cartus. heisst es: Mu-
sica igitur choralis est, quae introducta nna vel plnribua vooibos aequam,
siTitjtlicpm <'t unifomieni in suis notis sorvnt monsuram, absque incre-
mento prolationis. Vel: cujus notulae ejusdeni ferme sunt valoria. — Ich
eittre nach einer mir vorli^enden Handschrift yoro Jahre
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Der Ctrogoriaaisdie Genng und aeine Yerbreitiiiig.
61
d. i.dic prosodische Eigenschaft jeder Sylbe zur Geltung bringenden
Gesänge) darin, dass an sich alleSylben ohne Bttcksicht auf Prosodie
für völlig gleichbedentend, Ittr bometrueh genommen werden, und
daher nach den BedUrfbisaen des Bhythmna die proaodiach lange
Sylbe andi in der Geltung einer Juanen genommen werden kann
nnd umgekehrt, und blos die Gesetze der natürlichen Declamaüon
•n berücksichtigen sind. Schon die antike Welt war mit der streng
metrischen Messung desGcsanp^es in Verlejjonheit «j^ekommcn, und die
Musiker hatten sich im Namen der unabweisbaren Bedürfnisse ihrer
Kunst gegen die abstrakten Dietateder Metriker empört. Treff end sa;j;t
K. Ch. Fr. Krause über den Gregorianischen Gesang: „Der erste
Schritt war die Befreiung der Melodie von den Fesseln
der Proaodie. — Es bildete sich in der lateinischen Kirche der
langsame, einfiMshe, nnisone Choralgesang, awar Anfangs anch
mit Abwechselung langer nnd kurzer T9ne, aber nur mit
Beobachtvng der Lttnge und KUrze der vorletzten Sylbe
jedes Wortes, ftbereinstimmig mit unserer Art das Latein
auszusprechen. Hier/u war derUmstand förderlich, dass zu dieser
Zeit die prosodische Aussprarlic des I-iatcin nach nnd nach sich verlor,
bis zu der Ausbildung <l<'r älu stm gi'rcimten Verse, die späterhin
Leoninische Verse genannt w urilon nnd bald Eingang in die christ-
liche Liturgie fanden. Auf solc he Weise wurde zuerst der
Anfang des Tactmasses gefunden, in swei-nnd dreisylbigen,
nicht mehr prosodischen Versfllssen"^). Aus dieser richtigen Be-
merkong ist yon selbst klar, dass gerade der Gregorianische Gesang
der Boden war, aus dem später der tactmässig gem(>ss(>no Figural-
gesang emporkeimte, dem sich dann jener als Cantus planus gegen-
überstellte. Die Befreiung der Melodie von den Fesstdn der Metrik
zerriss das Band, welches bis dahin die cliristliche ^Iiisik noch mit
der antiken verkniiiift hatte, und emancipirte die Tonkunst factisch
von der Worttiichtung, in wcU lic jene bisher fast als iutegrirender
Bestaudtheil uuselbstständig aufgegangen war. Wie nun der Ton von
der Wortsylbe befkeit war, durfte er selbstSndig seinen Weg gehen,
er konnte sich auf der einseinen, nach Belieben dehnbaren Textes-
sjlbe in bunter Mannigfaltigkeit m gansen reichen GSngen, an Go-
loratnren und Figurationen gestalten. Der plastuchen Gemessenheit
der antiken Tonkunst widersprach dieses, man könnte sagen maleri-
sche, bunt-phantastische Wesen, wogegen die barbarischen d.i. nicht-
griochiHrlicn, asiatischen Völker so gtiwiss schon damals an solclien
Verbrämungen der Melodie ihr Widilgefallcn hatten, als sie es hrule
noch haben. In den asiatischen und alVikani>chen Kirchen niögc^n
sich also vielleicht zuerst jene reichen Tongänge herausgebildet
haben, die hernach anch in den GregorianischMi Gesang der abend-
1) Barstellangen aas der (Hich. der Mus. S. 97*
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62
Die Anfiinge der enropäiaek-abendlAndieohen Mnnk.
iXndisehen Kirche aa%enommen worden and hier eine sehr wesentr
liehe Geltung erlangten. Es ist bekannt, den die Kopten, dieNadi-
kommen der alten Aegypter nnd Bewahrer der Traditionen der alten
ehristliehen Kirche in Aegypten, noch heute in ihrem Bitaalgesang
endlose Gurgeleien anbringen and z. 6. ein blosses Alleli^a anf
solche Art zu viertolstilndiger Dauer dolmcn ^). Was hier zur bar-
barischen Caricatiir geworden, erscheint in allerdings würdiperor
Form in den Gesängen der griechischen und lateinischen Kirche,
wenn sich auch die griechische Kirche, wie die Kitesten notirtcn
Gesangbücher zeigen, mitunter in Uber Gebühr langathmigen Figu-
rationen anf einselnen Sylben gefiel. Vorzüglich daa Wort Alleluja
war OB, durch welches sich dieser Zieigesang besonders in den
Kirchen einbürgerte. „Man sang," ei-zfthlt Durandns, „von Altersber
das Alleluja mit dem Pneuma," d. i. mit Coloraturen, welche den
Athem (nvevfAa) der Sänger in Anspruch nahmen^). „Es ist aber das
Pneuma oder der Jubellaut," fahrt Durandus fort, „eine unaus-
sprechliche Freude des Gemüthes über das Ewige, und es wird das
Neuma einzig auf die letzte Sylbc der Antiphon gemacht, um anzu-
deuten, dass Gottes Lob unaussprechlich und unbegreiflich ist, —
das Pnenma hedentet die Freude des ewigen Lebens, die kein Wort
anssadrflcken yeimag, daher das Pnenma auch eine SCinune ohne
bestimmte Bedeutung ist," — das heisst Mne Vocalise, ein Solfeggio
anf der letzten Textessylbe.
Nacl) Cassiodor pflegte an Festtagen das ganze in der Kirche
versammelte Volk (atdn Domini) den stets neu ertönenden Versen
der Säuger mit dieBem Kufe wie mit einem Gute, dessen man nicht
satt wird, zu antworten 3). Als man die Gradualresponsorien auf
die ansgewllhlten Verse (selecii verms) und zuletzt auf das blosse
antwortende Alleliga Teikilnt hatte, konnte der Stngerehor, der
mittlerweile an die Stelle des antwortenden Volkes getreten war,
nicht nmhin das Alleluja mit jenen Schnörkoleien vorzutragen,
welche es erst zum rechten Jnbellaut (jiihUus) machen und das ,,in
Worte nicht zu Fassende" der geistigen Freude versinnlichen sollten.
Die Ausführung erforderte unter solchen Umständen kunstmässig
gebildete Sänger; daher kommt es wohl, dass Theodor von Kent
verordnete, „kein Laie dürfe in der Kirche das Alleluja anstimmen,
sondern nur Psalmen und Responsorien ohne Alleluja*'*) Diese
1) Vüloteau. In der Descript. de T^gypte. Er gibt die Probe eines
solchen Allelnia.
2) Antiquitus onim mos erst oi Semper cantaretor Alleliqa cum pneoma
(Ration, div. off. V. 2).
3) Hinc ornatiir lingua cantorum : ifltod Sohl Domini laeta retpondet,
et tanquam insatiabile bonum tropis Semper Tanautibas innoTator (in tit.
pi. CIV. citirt bei Tommasi V. S. 20).
4) Laioos in ecclcsia non dehvt recitare uec AUeluia diecre, sed psalmos
tantam et respoiuoria sine AUekga(MabiUan^praefat. in Saec. 1. Benedict).
Es freat mich, meineTermathung tot einem Idanne wie Ferdinand Wolf ge-
Der Oregorianiiche Gesang und «eine Verbreitang. 63
Ausdehnong der Schlusssylbe des Alleluja, welche etwa seit dem
9. Jahrhandorte in AufiiaJime kam, war das sogcuannte Alleluia-
Baha, eine wie es scheint spöttische, durch ungeschicktes Athem-
hoku und Aspiriren der Sänger, bei dem das ein&che ,Ja" anm
,»Baha" wurde, hervorgerufene Bezeichnung.
Zum verzierten Ch<»rn1tr»'sang: ^ohörte vermuthlich auch der
nach dem Papst Vitalianus (staih OfiO) benannte; wcnifr^tens
wissen wir nacli einer von Ekkehard IV. von St. allen in seiner
Lebensbeschreibung des Notker Balbulus gegebenen Notiz, dass es
noch zu Anfang des 10. Jalirhunderts in der päpstlichen Capelle
eigene Sttnger gab, welche Vitalianer (Ttfoltaat) hiessen und, wenn
der Pi^st selbst den Gottesdienst leitete, den Ton Vitalianns ange-
ordneten Gesang ausführten. Eswar also gewiss ein reicher festlicher
Gesang, aber auf keinen Fall etwas Anderes als eine Modification
deM rJreg-orianischen. Denn abgesehen davon, dass es höchst unklug
gewesen wäre die erst kurz vorher von (»regor für die ganze Kirclu!
angeordnete Singweise iindern zu wollen, war Vitalianus vielmehr
für die Reinerlialtung des Gregorianischen Gesanges eifrig besorgt.
Er sendete 660 zwei römische Sänger Johannes und Theodor
durdi Gallien und Britannien, um den bei den dortigen Geistlichen
und Mönchen ansgeaiteten Gesang auf die echte römisch-gregoria-
nische Weise zurükzufiihren. Bei dem sogenannten Vitalianischen
Gesänge wirkten insbesondere auch Knaben mit, welche in dem so-
genannten Pmtn'sium verpflegt wurden und jmeri Syiujihoutaci {huch-
stäblich: mit einstimmende Knaben) hiessen, also nicht bloss eine
Singeschule zur Bildung künftiger Kirchensünger waren, son«leni
schon im Ch«)r mitsangen. Dass in den ersten Zeiten der Kirche in
der singenden Gemeinde auch Wmber und Kinder ihre Stimme
hOren Hessen, wissen wir ans den Gedichten des Pmdentins so gut,
wie ans einer Stelle der PsalmenerkUtmngen des heil. Ambrosius:
,,Was ist erfreulicher als ein Psalm? Er ist Lob Gottes, er ist ein
widilklingendes Glaubensbekenntniss der Christen. Freilich be-
fiehlt der Apostel, dass die Weiber in der Kirche schweigen sollen,
aber Psalmen sin^^eii sie sehr gut. Jedes Alter, jedes Geschlecht
taugt zum Psahnengesange. Die süssen Stimmen der Jünglinge und
Mädchen klingen lieblich zusammen, ohne dass es Gefahr bringt.
Es ist keine kleine Mühe das Volk in der Kirehe zum Schweigen zu
bringen, wenn voi^lcflen wird. Aber der Psalmengesang bringt es
theilt zu sehen. Er citirt ^lieber die Lais S. 2bB> obiges Gapitulom Theodori
Cantoarensit und bemerkt dazu: „Woraus hervorgeht, data froher das Volk,
die ganze (juinciiKlf (laicorum populsritas) das Alleluia mitgesungen habe;
dass aber, wahrscheinlich wegen des immer künstlicher werdenden Gesanges
dorMelismen znm Alleluia, des Nenmattzirens der Jubilation, die nicht schul-
gerecht geübten Laien es nicht mitsingen konnten und durflen, und sich mit
dem einfach und volksmäi'^ifr f^t blit ltencn (}esau}re der Psalmen und Respon-
soheu begnügen mussten, wahrend die Jubilation von dem geübten Sänger-
c9iore(so]iolacaQtomm) statt desVolkes oder der Gemeinde gesungen wurde".
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Die AnftDge dar europliadi- abwidUndiaohen Mank.
von selbst dazu. Psalmen können König und Herrscher so gut
wie gemeine Leute aiutimmeii. Man lernt sie ohne Klllie md be-
lillt rie leicht im Gediehtniss. Sie vereinen Uneinige nnd ver-
flöhnen ZwietrSchtige; wie sollte man demjenigen sflmen können,
mit dem man seine Stinmie sum Lobe Guttes einigt?'* Als der
Kirchengesang ein strenge geregelter Theil des Ritus und eine Sache
der Ocistliclikeit geworden, blieben Frauen und Knaben natilrlich
ausgeschlossen, doch wurden in den Frauenklöstem und Stiften
die canonisclien Tageszeiten unter Leitung der Cantrix oder Uan-
torissa gesungen, und wo Chorherren waren, Hessen sie auch wohl
ihre Stimmen im Wechseigesange hören. So sagt der heil. Ald-
helm, Bischof von Salisboiy (starb 709), in der poetischen Beschrei-
bung der vonBngge, der Tochter des angelsXclisisehen Königs
Centnin, gestifteten Basilica, wo nach dem Gregorianischen Bitns
des Kirchenjahres geordneter Gesang ausgeführt wurde:
Fratres concordi liiudemus voce tonantem
Cantibus et crol»i is coiiclamct tni lia sororum —
und sp&terhin, 1260, war es am Feste der heil. Fides zu Zürich im
Frauenmttnster Sitte, dass einen Vers der Seqnena die Stiftsdamen,
den anderen die Stiftsherren sangen i). Von Vitalianus haben wir
nun bestimmte Nachricht, dass aneh Knaben aum Kirchengesange
herbeigesogcn wurden; dasselbe geschah in den Klosterschulen, wie
in jener von St. (tallen, an dereu SchUlem Konrad der Franke so
viel Freude hatte, als sie durch die schönsten Acpfel, die er ihnen
in den Wej; hatte legen lassen, nicht verlockt wurden, aus der
Ordnung <ler Pr(»zes8ion zu weichen. Noch jetzt werden bei den
katholischen Kirchen und Klöstern Singknaben (Chorknaben, Voca-
listen) unterhalten, nicht allein Ahr die FiguralmusUc, sondern aneh
für die Besponsionen des Gregorianischen Gesanges. Heutautage,
wo letstere mehrstimmig, nach Art eines sogenannten Falso-Bor-
done, gesungen werden, fallt den Knaben natürlich der Part des
Sopranes und Altes zu. Wie ihr Gesang zur Zeit Vitalian's n. b. w.
vor Einführung der Harmonie verwendet wurde, wäre zweifelhaft,
wenn nicht eine Stelle der Sequenz Caiitemus cunrti von Notker
Balliulus von St. Gallen (starb 912) darüber einen deutlichen
Wink gäbe. Er redet dariu seine Klostergenossen, die Mönche
und KlosterschQler, an:
Nnno TOS 0 sodi cantate laetaates: Allelma.
Et V08 pnemli respondete semper: Allelma.
Nunc omnos caiiito simul: Alleluia.
Es war also Wecliselgt'sang, der zuweilen durch Zusammensingen
(von Seite der Knal)eu selbstverständlich in der höhem Octave)
unterbrocheu wurde. l)ass die Knaben schon damals in der Weise
des spXter allbeliebten Organums etwa in der höheren Quarte
1) Schäbiger a. a. 0. S. ö3.
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Die üregomnisohe Gesang und seine Verbreitung.
65
oder Qninte mitgestmgen hStten, ist wenif^stens vSUig unerwiesen ^.
Zweifelhaft bleibt aneh die Richtigkeit der Angabo, dass Papst Vita-
lianus zuerst den Gebrauch derOrgel in der Kirche eingeführt ha}>c
Indessen ist es kein Go^engnmd, wenn eingewendet winl, djiss ja
die erste Orjjel erst im Jalirc 757 ans Constantinopel in's Abendbind
an Pij»iu j^elanjrt sei. Die Notiz ma^ IVir chis Land der Franken,
(iermanen u. s. w. gelten, aber in Italien kannte man ja Orj^eln von
der Kömerzcit ber, und die in Arles (Arelate) aufgefundenen röini-
tehenSaikopha^^o mitAbbildmigenTon pnewnatischen Orgeln zeigen,
dass diese Instrumente im Abendlande auch ttber Italien hinaus nicht
unbekannt waren. Der Gebrauch kleiner Oi^elwerke in den Kirchen
mag älter sein, als man insgemein annimmt, nicht um darauf Prä-
ludien and Intcrludien im spttteren Gescbniacke zu spielen, wozu
vorläufig nocb Alles fehlte, sondern nin den Sänj^ern den reehten
T<»n anzuschlagen, /ur Zeit der Karolinger waren die Orgeln in
di»' Kirchen bereits eing«*tVilirt ; die Berichterstatter reden davon
allerdings noch als von einem kostbaren, nicht gewöhnlichen Zier-
Btflcke, aber durchaus nicht wie von einer unerhörten Keuttrung.
Als Ludwig der Fromme einen venezianischen Priester Geofg nach
Aachen sendete, um für den dortigen Mttnster eine Orgel su bauen,
wurde diese Angelegeidieit von beiden Seiten wie etwas Selbst-
verständliches behandelt. Ferkel bekämpft s<»gar die Annahme, als
habe ( 'onstantinns (^)pronymus an I'ipin wirklich eine Orgel ge-
sendet, nnd will die Organa, von denen der Uerichterstatter Kgin-
liard redet, als eine Sendung musikalischer Instrunieiite verstanden
wissen '^). ALit den Trompeten, Buccineu, Surullieu und Pauken,
die am Hofe von Byzans im Gebrauche waren, wäre dem firftnki-
liehen Könige eben keine sonderliche Gabe dargebracht worden.
Wir wissen aber, dass der byzantinische Kaber Theophilns (829 bis
842) zwei sehr kostbare Orgeln bauen liess, die mit cdeln St^en
geziert und an denen goldene Bäume mit Vögeln angebracht waren,
welehe letztere statt der kleinen iMeifen dienten nnd während dos
S|iielens zu singen schienen. Ein wcrthvolles Kunst-^tia k solcher
oder äliTdicher Art wäre allerdings ein des mächtigen byzantinischen
Kaisers würdiges Ehrengeschenk au einen befreundeten Herrscher
gewesen. Isidor von Sevilla erwfllhnt flberdies, mtm nenne jenes
1) Kiesewetter (tTOscb, d. Mus. 2. Aull. S. 16) hat diese Frage kritisch be-
leuchtet und sehr mit dargestellt. Es ist dies einer der weni {Ifen detaillirt
behandelten (Tegenstündo in dem so iiusserst gedrängten Werke.
2) Sie stützt sich einzig auf die Stelle in Platina's LehenHlx'sclireüiimgen
der Papste: Vitalianus, cultui divino inteutus, et rcgulam ucclesiasticam com-
posnit et cantom ordinavit, adhibitis ad oottsonantiam, ut quidam volnnt,
Organis. Also gibt Fiatina selbst dieXotiz als eine nnvfrlnirirte, zweifelliaftc.
3) Eginhard in seinen Aunalen de gestisPipini rej^is vom Jahre 757 sagt:
Ck>nstautinu8lmperstorPipino regi multa misit munera, inter qtiaeetorattna,
qoae ad eom m Gompendio (Compiegne) perrenerimt, nbi tono popiui sdi
generalem convi^ntnin liabnit.
Ambro», OMChlcitt« dw Mtuik. IL 6
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66 I^io Anfüge der eoropäisch-abeudläudischen Musik.
Infltniment, weldies eigentlicli Hydraulum (Wasterorgel) heiMe, in
der gewöliulichen Bfaftdie Organum. Audi sogar scbon St. Augustm
bemerkt, Organum heisse jedes Instrument, nicht blos jenes,
das durch Blasbälpro zum Tönen gehraclit 'wird'*; woraus
gerade fol^t, diis« Kclion damals unter Orjranuni in der gewöhn-
liclicn Sprache die Orgel verstainh'n wurde. Die mittelalterlichen
Schriltistcller bedienen sich aber durchw eg der populären Ausdrucks-
weise. Auch Cassiodor besehreibt die Oigel unter dem Kamen Or-
ganum* Der Uöneh Ton St Gallen spricht von einem Organum, das
die Abgesandten des bysantinischen Kaisers Karl dem Gbossen
brachten, und besehreibt es in einer Art, dass wirklich von einer
Orgel und von nichts Anderem die Kede ist Diese Orgeln muss
man sich freilich als zugleich im Tonumfang beschrankte und sehr
plumpe schwerfallige Instrumente vorstelh-u. ])ie Tasten waren noch
mehrere hundert Jahre später oft vier bis sechs Zoll breite, schaulel-
forniige von ciuauder getrennte Claves, plumper als unsere jetzigen
Orgelpedale ; der Organist musste sie mit Fttnsten „sehlagen*' oder
audi mit dem Ellenbogen niederdrücken« An ein rasches, Teisiertes
Spiel war nicht sn denken, ja nicht einmal mehr als swei TSne
konnte man zugleich ertönen machen. Die Tasten und Pfeifen waren
nach der diatonischen natttdichMi Skala mit grosser Terz gereihet^;
der Umfang stieg bis zu cinnndzwanziu'" Ti'uen 3). Seliallstark und
dröhnend, ja schreierisch dürfen w ir uns diese sonst armen Orgel- ^
werke vorsti llen; die dauialige Zeit lii-ble das Derbe und roh Kraf-
tige: zu Aachen war im i). Jahrhundert im Dome eine Orgel,
über deren Klang eine Frau in Ohnmacht fieH). Dasu kam noeh
1) De reb. bellicis Caroli M. Lib. II.
2) Bei Hucbald(dc hanu. in8tit.)bcisst es: porro exemplura Bemitouii ad-
vertere potes in cithara sex chordarum iuirr tertiam et qnartam chordam
sitniliterque in hydrnulis eodem loco. (itrl)ortS< i iiit. 1. Bd, S. 101). Gedenken
wir nun auch der iStimmuug des Urgauistruuis, so sehen wir, dass mau sehr
wohl die natfirliche diatonische Skala als das wahre Fundameut
derÄIusik erkannte, auf welches die Tonarten als künstliche
Oebilde gebaut waren. Hucl)ald stellt folgendes Schema auf: To(uus)
fcJeCujitouium) To, To 6c To, To, To Se, To, To, Se, To, To (das wäre also
die Stimmung von A, M, C, D, E, F, O a h \ c d e f g) und fUhrt fort: nec
tanieu aliquid aAV-rt srupuli, si forte hydraviin vd aliud quodlibet conside-
rauB iustrumeutum non ibi voces tali rej/eriaa hdumate deductas, quodque
numerom diordaram yideantnr ezoedere. Baee enim äuirümHo seeMtMliMi
viH diaerügsimi Boetii distrilutionem (a. a. 0. S. HO). Die ftlteeten Orgeln,
die Prätorius sah, hatten die Skala c, d e, f g, a h, c, d, e, fg, a oder c, d e,
f g, a, h, c, d, c f. Man sehe auch Porkel, 2. Band S. 355 u. f.
3) N umerosit as nenronmi vel fistularum utputa viginti nnias ant ploriom
(Huchald a. a. 0.).
4) i:>oerkI&re ich die Stelle beiWalaiiidStrabo. DeapparatutempliAquis-
grauenais: Didce meloa tantom vaiias deludere mentes
Goepit, ut una suis deccdens seusibus, ipsam
Femina j)crdiderit vocuni duleedine vitam.
Qei*bui't meint, das sei uiueLiceutia poetica. Aber aus der Luft gegriffen hat
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Der Gregoxfaniaehe Genug und aebe YerbTtttiing.
67
das Donnergetöse des aus den vielen Bälgen einströmenden
Windes i).
Den Werth des Gregoriamseben Gesanges als Bestaodllieil des
Bitoa aa i mte n a uchen kami nicht Aufgabe derKnnstgescbiehte sein,
nnd nnr im Allgemeinsten mag bemerkt werden, dass sich kaum
eine allen Anforderutipen besser ontsprecliende, zweck- und sach-
peinJissere Singart dafiir denken iJisst. Die Kunst<;escliicliti' Iwit von
ihrem Standpunkte aus bl(»B auf die liolie Würde, die prossartige
Einfachheit und die eindringliche Kralt der unter diesem Namen
noch jetzt in der Kirche gebrauchliclien Mclodit'n hinzuweisen.
Der Ton des festlichen Hymnus klingt im Magnilicat, im Te Deum;
der Ton lUai^ben innigen Gebetes in der FrifiUion, im Pater
noster. In den Ghoiilen, in denen sich Ton neben Ton, ausgebalten,
gleichmfissig, fest, streng nie in einem Basilikenbau eine Granit-
sXnle neben die andere, hingestellt; in den, reichem Ornamente ver-
gleiclibar, in colorirten Tcmgängen sich ergelienden Intonationen
des Ite missa est, des Allehija, ist es stets ein und derselbe Cieist,
der sich in den verschiedensten i'ormeii und Stimnmnpcii aussjMicht.
Die innere Lebenskraft dieser Gesänge ist so gross, dass sie auch
ohne alle Uarmonisirung sich auf das Intensivste geltend machen
und mchts weiter an ihrer vollen Bedeutung au erheisdien scheinen,
wihrend sie doch andererseits fttr die reichste und kunstvollste
harmonische Behandlung einen nicht au erschöpfenden Stoff bieten
und Jalirhunderte lang einen Schatz bildeten, von dessen Reich-
thiimem die Kunst zehrte. Die Musik ist an der gewaltigen Lebens-
kraft des Gregorianischen (M'sang<>s erstarkt, sie hat siih an seinen
Melodien von den ersten uniL^cscIiickton N'crsuclicn des ( )rgannms,
der Diaphouie und des Faux bourdon an bis zur liöchsten Vollend-
ung im Palestrinastylc herangebildet Und, wunderbar genug, neben
den höchsten BesuHaten, -welche von den begabtesten Geistern in
Jahrhunderte langer Arbeit auf diesem Gebiete gewonnen worden
sind, steht die Gregorianische Melodie in ihrer einfachsten Urgestalt
nicht als rohe erste Kunststufe, sondern als ein Gleichberechtigtes
da; nach dem hinreissenden seraphischen Stimmengewebe eines
Kyrie von Paleetrina ergreift das gans einfache Gloria in excelsis
Walafrid Strabo die Bache gewiss nicht. Auf nervenschwache Personen kann
der Orgelton allerdings so atnwirken, dass sie ohrnnftchtig werden: der ver-
ewigten Malibruti <:rschahetwa8AehnlicIu'8, ali^ sclion der Keim ilirerTudes-
krankheit in ihr lajr. Das „perdere vitam" hodeutet nach poetisclu in Sprach-
gebrauche gewisH nicht deu Tod, sondern eben nur eine Ulinniacht. Ja ich
sweifle an dem bedauerliehen Zufalle viel weniger, als dass die Orgel wirk-
lich daran Schuld trug.
1) Der Apparatdes Windeiuströmenswar äusserst plump. Der Schreiber
des Briefes auDardanus spricht von „swOlf Schmiedeblasbälgen'' (duodecim
follis fabrorum); natflrliöh war das GetOse nnd Sausen sehr merklieh, was
Aebed tadelt.
6*
68
Die Anftnge der enroptisoh abendHindiwdien Muaik.
Deo KU des Priesters Hände mit dem Tone mijestXtischer GrBese
und ingleieh eines jubelvollen Aa&ehwnnges, Werth den Rahm des
Allerhdehsten zu vorküii(lig;cn. Das Mittelalter brIi in diesen Ge-
sängen geradezu Werke göttlicher Inspiration. Der Diakon Paulus
hatte versichert, auf der Schulter des schreibenden Papstes die
himmlische Taube sitzen o^eseheu zu liabcn*); Tür die Maler wurde
es sein Wahrzeichen. Eine Malerei in einem Codex aus dem
10. Jahrliunderte stellt ihn in solcher Art vor, wie er auf einem
Thronsessel sitzend mit gehobener Hand zu einem Schreiber spricht,
welcher mit dem Ansdiueke der Anfinerksamkeit die ihm von dem
diktirenden Papste angegebenen Oesinge anf eine Tafel notiit^
Um die sor nnverbHIehlichen Regel für den Oottesdienst erhobenen
GesSnge vor Vergessenheit zu bewahren, war neben dem Unter-
richte die schriftliche Aufzeichnung: das geeigneteste Mittel. Ein
erhaltenes Denkmal über die älteste Art der Notirung dos Grej^ftria-
nischen Gesanges ist das sogenannte Antiphonar von St. Gallen^).
Ekkehard IV. berichtet Uber die Art, wie es um das Jahr 790 in den
Besitz des Klosters gekommen, Folgendes: „Als der Kaiser Karl, mit
dem Beinamen der Grosse, in Rom war^), fand er, dass der Oesang
in den Kirchen jenseit der Alpen vielfiich vom itfmisehen abweiche.
Er bat also den Papst Adrian (wdl ja die einst von Gregor ge-
schickten Sänger ISngst gestorben), er möge abermals solche, die
des römischen Gesanges wohl kundig seien, in das Frankenland
senden. So wurden denn Petrus und Ivomanus, des Gesanges
und dt'r sieben freien Künste wohl kundig, zur Kirche nach Metz
abgescliickt, um dort die Sache zu leiten. Als sie nun vom Comersee
(lacu Cumam) an von dem gegen die i^utt liom's verschiedenen,
ranhen Himmel an leiden hatten, erkrankte Romanus, so dass er
sieh kanm bis in nns (nach 8l Gallen) fortmbringen im Stande war*
Von den swei mitgegebenen Antiphonarien bradite er eines trets
der Einwendungen seines Geföhrten Petras (Petro renitente vellet
nollet) mit nach St. Gallen. Dort genas er mit Gottes Hülfe allmälig.
Jetzt sendete der Kaiser einen Boten, der ihm die Weisung brachte,
nach seiner Genesung bei uns zu bleiben und uns den Gesang zu
lehren, was jener auch, um die Gastfreundschaft der Väter zu lohnen,
sehr gerne that. Der Kaiser aber schrieb: „Vierfach habt ihr euch
an mir, ihr fivmmen ICKnner, göttlicheii Lohn verdient: er war
fremd, ihr habt mich in seiner Person beherbergt; er war krank,
1) Vergl. Job. de Maris, Sumna mnsieae osp. HI (Gerbert Script 8. Bd.
Seite 197).
2) Copirt als Titelbild zu Lambillotte'a Antipbonaire de St. Gn^goire.
'6) Im vollstäudigea Facsimile mit erldutemdem Texte zu Brüssel 1051
hennsgegeben von P. Lambillotte. Die erste Seite allein schon früher in
Pertz, Monumcnta OerniaTurH' hi-^torica 2. Bd.
Dies müsste dcriieauch uji Juhrt? 774 oder, wahrscheinlicher, 706 sein.
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Der GregomniM^ Gesang imd seine Verbreittini^.
69
ihr habt ihn besucht; er hungerte, ihr gabt mir in ihm zu essen; ihr
gabt ihm lu trinken/' — ,fiomumB aber gedachte nni erem 8t Gallen
eine Ehre n, wie sie Bom sehen genese, wo nSmlich die Anstalt
getroffen war, dass das in ein KSstchen gelegte authentische And-
phonar an einem Orte, der Cantarinm hiess, zur Einsichtnahme,
eines Jeden aufbewahrt wurde. Romanus veranstaltete eine ähnliche
Hinteilcfi^iing des mitgebrachten authentischen Antiphonars am
Apostelaltare, und so oft über eine Sinp^weise ein Zweifel entsteht,
dient es bis heute dazu, dareinzusehen wie in einen Spiegel und
jeden Fehler zu verbessern." Das Exemplar, welches Petrus nach
Mets mitgenommen, ist im Lanfe der Jiiirhnnderte abhaadea ge-
kommen; das von Romanns mi^ebraebte Antipbonar oder dodi
eine sehr alte, auf keinen Fall Uber das 11. Jahrh. hinaus su datirende
Copie desselben bildet noch jetzt das kostbarHte Besitzthum
der Bibliothek des Klosters von St. Gallen 2). Für die Musikge-
schichte ist das Wichtigste an diest ni in jculem Sinne ehrwürdigen
Denkmale die hier schon in bedeutender Ausbildung vorkommende
Notirung in den sogenannten Neumen, das ist gewissen über
die Texteszeilen des Gesanges geschriebenen Strichelchen, Häkchen,
Pnnktra, Halbbogen und Shnlichen anderen Figuren. Der Grund,
warum sieh Gregor der in mehr als einer Benebnng mangelhaften
Tonsekrift der Neumen bediente, muss wohl in dem Umstände ge-
sucht werden, dass diese Notirungsart in seiner Zeit bei den
Sängern schon so völlig eingebürgert war, dass er sich ihrer als
einer bereits allgemein verständlichen Schreibweise unbedenklich
bedienen konnte. Es darf als eine auffallende Thatsache gelten,
dass Gregor die zur Bezeichnung der Töne von ihm gewählten
Buchstaben nicht auch als Tonschrift benutzte, wie doch später
wirklieh gesebah, so dass Ghiido von Aresso diese Notirung sogar
als die beste pries:
Solis litteris notare Optimum probaviraus.
€ktttsn vero brvriandi Xeunmc solrnt ficri,
Qjaae si curiose fiant habentur pro litteris.
1) Der Gharahter der Sohriftzflge deutet auf diese Zeit.
2) Kiesewetter ^beipz. allgem. Musikzeitung) erwähnt des K&stchens,
worin das Antiphonar verwahrt ist. und des Deckels mit dem Beifügen, die
Figuren seien im sogeuaunteu etruskischen Styl, entschuldigtaber zugleich
•eme UnerlUiradieit auf diesem Gebiete. Lambillotke SI): on reoon-
naltlescaracti' n s dcnsculptures Etrusques. . . ellessontextr^menu'ntayicieyines.
Das ist nun freilich ganz irrig. Hätte Lambillotte einen kundigen Archäo-
logen gefragt, so wtMe er mit Vergnägen gehOrt haben, dass dieies Sdmitz-
werk einer der beachtenswerthen Beweise für die Echtheit des Antiphonars
ist. Der geübte Blick wird sogleich erkennen, dass hier keine antike oder
gar etruskieche (!), sondern eine Arbeit etwa aus der Karolin^erzeit selbst
vorliegt. Die Figuren zeigen bei stark antikisirenden Reminiscenzen in
den Motiven ilrr Stellunpr und Gewandung voUig den Ghsrakter Ähnlicher
Schnitzwerke aus der genannten iiipocbe.
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70 Aafiknge der «nopftiich-abendliLndiachen Musik.
Blosse Abkflnungen statt der Bnehstaben waren die Nenmen keinea-
wegs, wie Guido meint; sie hatten yielmehr iliie eigene Bedentang:
iltr Grandgedanke war, das Steigen oder Fallen der Stimme doieh
steigende oder sich senkende Züge aoKodrücken. Sie mussten,
sollten sie ihrem Zwecke entsprechen, sorgsam (curiose) geschrieben
werden, und hielton auch dann, was deutliche Bezeichnung der
Tonhöhe betrifft, den V^ergleich mit dun blossen Buchsta))en nicht
aus. Gregor zog es vor sein Antiphonar statt mit Buchstaben
(über deren Anwendung als Tonschrifl zu Gregorys Zeiten jede
Spar feUt) Tielmehr mit Neamen sa notiren^). Dieses Anti>
phonar» welekes anf Befelil Gregorys als luiverllndeilieiie Satzung
fUr den Kirchengesang in ein eigenes BehÜtniss (theea) nieder^
gelegt und in der Petc'i>basilika au Rom mit einer Kette an dem
Altar befestigt wurde und dessen treue Copie in dem Antijdionar
von St. Gallen erhalten ist, war mit einer so ausgebildeten und cora-
plicirtcu Neumenschrift notirt, dass hier augenscheinlich nichtvonAn-
föngen und ersten Versuchen dieKcde sein kann, vielmehr mindestens
ein volles vorangehendes Jahrhundert dauernder Beschäftigung mit
diesen Charakteren ▼oranssasetaen ist Ihre Entstehung fiÜt jeden*
falls Bwisehen die Zeit des heiL Ambrosios nnd des heiL Ghregor.
Fttr ^e Amlffosianisehen Sitnalgesänge waren sie gewiss noch nieht
angewendet worden; hlitte man sich ihrer schon damals bedient, so
würde es an einer Nachricht darüber kaum fehlen. Ihr Name ist
griechisch: der lange figurirte Schlussgesanp;^ des Alleluja, der den
Athein (nt'ivjuft) des Sängers in Anspruch nahm und eben deswegen
Pneuma oder Neuma genannt wurde, gab auch den Zeichen,
womit er notirt war, den gleichen Namen.
Der weitUnfige Apparat der antiken griechisehen Tonschrift
mochte, eben nm seiner WeitUtnfigkeit willen, sich nie einer grossen
Verhre^ng ecfrent haben und nur das geistige Besitathum der ge-
lehrten Musiker und Theoretiker gewesen sein. Seine Anwendung
für den christlichonKirchongesangwärenichtunmJiglich aberwenig
zweckmässig gewesen, da die Sänger nicht wohl erst eine mühsame
Vorschule (luvcliniachen konnten, um nur musikalisch lesenzulemen,
und aus allen Völkern und Zungen zum Dienste der Kirche berufen,
durch ein solches V^orstudium eines mühsamen das Gedächtniss be-
lastenden und die Kenntniss aller Feinheiten antiker Harmonik vor-
ausseteenden Zeichenschrift leicht hXtten abgeschreckt werden
können. Diese Zeichensehrift accommodirte sich den antiken Klang-
geschlechtem und Tonarten, Dingen, die fttr den Kirchengesang
1) Ueber die Tonschrift St. Gregorys vergl. den Aufiaatz Kiesewetter 's in
der Leipziger allgemeinen musikal. Zeitung 30. Bd. 8. 401 tg.
2) Meibom hat in seiner Einleitung zu deu von ihm hersnsgegebenen
pricchischcn Autoren fiber Musik das le Deum laadanmi in antike Noien^
schrillt gebracht.
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Der GregoriAiiiscIie Qesaiig und seine Vwbreitaiig.
11
die Brauchbarkeit verloren hatten und durch die vier authentischen
und vier Phigalt5iie yerdrXngt woiden waren. Unbekannt oder ver-
gessen waren ttbiigenB die antiken Tonseichen noeh knn vor den
Zeiten des heil. Qregor keineswegs: Boethius notirte damit seine
Tabelle der Tonarten und bespricht sie ausdrücklich Man habe,
sapt er, um die wcitläufip^<^n Namen der Töne l*roslainhanomeno8
Hypate hypaton u. 8. w. nicht immer voll ausschreiben zu müssen,
fiir hie fjewisse abkürzende Zeichen erdacht, wovon er, und Ewar für
die lydische Tonart, eine Probe geben wolle u. s. w.
Dem tiefgelehrten Boethius selbst war also das rechte Yerstünd-
niss der antiken Tonscbrift bereits ablianden gekommen; er sieht in
den Tomteichen, welche nmprttnglich nach der Reihenfolge der T5ne
und der Buchstabenfolge des Alphabets ein verwickeltes, weit-
Iftnfiges, aber wohlgeordnetes und scharfsinniges Ifystem gebildet
hatten, nur noch Bequemlichkeitsabbreviaturen, etwa wie der
receptschreibende Arzt seine Anordnunj^en in «gewisse conventioneile
Abkürzungen brinji^t, oder wie die ('hcmie, Mathematik und Astro-
nomie sich ihre ei<;enen hieroglyphischen Charaktere zusammen-
gestellt haben. Wie die ganze antike Musik, oder vielmehr wie die
ganse antike Welt hatte sich auch die antike Tonsehrift ftberlebt,
es war Zeit sie dnrch etwas Anderes in ersetsen. Was nun an ihre
Stelle trat, die Schrift der Neumen, war anscheinend ein Rück-
sehritt. Während das antike Tonzeichen den damit gemeinten Ton
zweifellos erkennen Hess, unterlag; die Ausdeutung der Neumen der
grössten Unsicherheit; und während wir, wenn heut der Fund eines
bisher unbekannt p^ewesenen jj^riechischen notirten Manuscripts ge-
machtwürde, die Tonzeichen ohne besondere Schwierigkeit entziffern
könnten, sind ans die siüilreichen mit Neumen versehenen Manu-
seripte so gut als unverstindlich. Aber in Wahrheit war das
Notirnngssys tem derNeumen ein grosser Fortschritt gegen
die antike Tonsehrift dnrch den Umstand, dass darin das
Steigen und Sinken der Töne nach der Höhe nnd Tiefe zu
durch entsprechende Zeichen sinnenfällig ausgedrückt
wurde. Das antike Zeichensystem war ein völligunfinchtbarer Boden,
ans welchem nichts weiter em})orznkeimen vermoclite. Die Neumen
trugen kraft ihres das Wesen der Sache treffenden ( Jnindgedankens
die Möglichkeit einer bedeutenden Vervollkommnung in sich, wie
rieh denn in der That unsere Notenschrift ans ihnen entwickelte.
Freilich verhlüt rieh diese m ihnen wie der Banm som Keime des
Bainenkemes.
Wir vermögen es mit unserer Notenschrift das Gewebe des
kunstreichsten Tonstückes bis in seine feinsten Feinheiten liinein
auf das Vollkommenste auü^adrücken: dem kundigen Auge gewährt
1) Do musica V. 3.
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72
Die AnfiUige der europ&iscb-abeudländiscben Muaik.
ein Blick auf die Paiütar sogleich einen klaren nnd bettimmten
Ueberbli^ des TonstUckes selbst; arcliitcktonisch bauen sich die
Notengrnppen ttbermnander und nebeneinander auf, und mit dem
Blicke erklingen sie aueli schon im (i eiste. Da« ist nun eben das
Resultat der C(inso(|iHMit('ti Dnrclifuhrunfr iles mit den Neuraen in's
Leben getreteneu rriut ips, während eine in aiitiki ii Zeichen geschrie-
bene Partitur (soweit eine solche überhaupt ausführbar wäre) dem
Auge nur todteBnchstabenrciheD böte, deren Sinn erst mühsam heraos-
gesncht werden mttsste nnd wo Uber der Mfibe des Heraassuchens im
Einzelnen die Ueberriebt des Ganzen nothwendig verloien gOB^gß»
Die Neomenschrift bat man sich nicht als ein Erfondenes, son-
dern als ein aus unbedentenden flüchtigen Anfängen bis zur maanig'
fachsten Gestaltung und hunderterlei Varietäten Entstandenes zu
denken. Sie machte ferner ursprünglich p:;ir nicht lU-n An>i)ruch
eine Tonschrift zu sein, sondern eine (J edächtnisshil fe tur den
Säuger, der die Mehulie auswendig wusste und sie nicht erst aus dem
Neumengeschnörkel herausfinden sollte. Ueber Zeit und Art der
Entstebnngsweise fehlen historische Zeugnisse, doch lässt sich im
Allgemeinen die Genesu der Neumen enrathen. Wir sind es ge-
wohnt ans beim Lesen durch gewisse Zeichen die Absätze, Deh-
nungen, ja (wie durch Frage- nnd Ausrufzeichen) den Ausdruck
selbst vorgeschrieben zu sehen, und in ähnlicher Art mochten die
reichlichen, Aussprache und Betonung: bezeiclinenden und modifiziren-
den Accentzeichen an Striclich licn , Häkchen und Circumflexen,
womit die Grammatiker der ah'xandnnischen Zeit die griechische
Schrift versehen hatten, das Auge daran gewöhnt haben diese
Schrift mit einer solchen Verbrämung ausgestattet zu erblicken*
Nichts natttrlicher, als dass zu einer Zeit, wo der Lecüonston
(Accentus) der Texte d. L der griechisch abgefassten Evangelien,
Epbteln, Uomilien u. s. w. in der Kirche in allgemeine Uebnng
kam, der Vortragende die Stellen, wo er die Stimme um eine Ton-
stufe zu erheben oder 7a\ senken hatte, mit einem Zeichen markirte,
etwa mit einem eiut'aclicn kurzen schrägen oder Querstrich Wo
nun die Stimme um zwei Stufen zu heben war, mochten zweck-
mässig und leicht fasslich zwei Punkte oder zwei Striche, einer Uber
dem andern, angebracht werden. Die Neigung im raschen Ab-
schreiben solche Züge in ein einziges Zeichen zusammenzuziehen
verband die zwei Striche zum stumpfen Winkel oder zu einer leicht
geschwungenen, oder auch zu einer Art Zickzacklinie. Um dem
Zweifel zu begegnen, ob vom tiefern Ton zum höhern zu steigen
sei, oder ob die Stinune um die angedeutete Stufenzahl von der
ILohe zur Tiefe sinken solle, mochte die Stelle des Einsatzes oben
oder unten an der Linie durch einen stärkeren Zug deutlich gemacht
1) Man wolle sich der musikalischen Acoente im hebräisckou Syuagogen-
gesange eriunem.
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Der ChnegorianisQhe Geaaag und Mb« Verbreitung.
78
werden. Bellte die Stimme sn einem hohem Tone steigen nnd von da
ram eretenTone nirttekkehren, irw solches dnreh aneAitCiieamflex
recht gnt engedeutet. Diese einfachen Tonaccratei sohald sie einmal
eine dem Auge und Verstand geläufige Sache geworden» mochte man
nun ohneWeiteresaufStellen anzuwenden versuchen, wo der singende
reeitirende Ton in wirklichen CJcsnii/; überging; die Melodien be-
wegten sieh ohnehin in wfiii<;cn Tönen, in ven^andten Tonfällen
und Phrasen, und die wohlbekannte oft wiederkehrende Cadenz
konnte ihr eigenes Zeichen bekommen, das aber freilich, wenn es
nicht wieder eine abstrakte Tonhierogljrphe im Sinne der antiken
Tonschrift werden sollte, die Tttne durch steigende und sinkende
ZOge dem Sinne anschaulich und der Erinnerung lebendig machen
nuis^tc. Jetzt wurden notliwendig die Zeichen zahlreicher und com-
plicirter. Da nun Zeichen gleicher Art öfter wiederkehrten, so fing
man an, jeder solchen Figur einen bestinuntcn N.inion zu geben,
und so nalitnen sie denn endlich den Cliarakter einer ftirnilichen
Tonschrii't an. ])ieNnnu'n sclljst klangen sonderbar genug: sie
deuten zum Theil auf lateinischen, zum 'J'heil auf griechischen,
cum Theil auch auf barbarischen Ursprung der Zeichen , wie in
denGedSchtnissversen aus einem Codex von St. Blasien, wo ttbrigens
einige Namen Tom Abschreiber etwas entstellt scheinen:
^ y ^ P
Scandicttt et Salicos, Climacna, Toroolus, Ancos
(IT jir c >^
Fentafonus, Strophicus, Onomo, Poereclus, Orriäcus
Virgula, Celaliuus, Cliuis, Quilisma, Pod.itus,
Pandola, Finnota, Gutturaiis, Tramea, Gemr
Frodam-bamoenon, Trigoii(oD), Tetracliuis (Tet(adiu8>, igon
A. ^ V/
Pentadioon et Trigoniens et Fhiucolns, Orix
Billicus et Gradicus, Tragicon, Diatinua^). Kxon
YpodieoB, Centon, Agradatos, Attieui, Altos
1) Ditouus?
74
Bie AnAnge der enropiiaoh-ftbendlftndischen Münk.
Et Pr( ssus minor et niyor — non plnribus utor
Neumarum Signis, exna, qni plant refingit^).
Diese Zahl war, selbst wenn man sieli dnreli die Wanning des
leisten Ve 1*868 abhniton liess neue Formen an erfinden, nnbeqnem
gross. Ein Manuscript aus dem Kloster Mnrbaeh leducirt die Zahl
der Neumonformen niif sicbonzchn:
Epiphonus, Stro^ihicua, Punctus, PorrectuB, OrriaoaS|
Virpula, CtMt^jhahous, Clinig, Quilisma, Podatua,
Scaiulicas, »alicm, Climaout, Torculus, Aneaa,
Et Pressus niinor et major, non pluribas utor.
Noch besclu'iileucr ist die Anzahl, welche Johann von Maris (erste
Hälfte des 14. Jahrh.) nennt:
GUves, Flicae, Virga, Quilisma, Fkmota, Podati
Nomina eint hanim, sint Pressi conaociati.
Es heiTsclit in der Wahl der Namen nnd Formen viol
Willkühr und Verwirrung:. Man kann aber die gebräuchlichst. 'u
dieser Zü^e in eine Art Ordnung bringen, wenn man sie nach
ihrer Bedeutung in einzelue Galtungen zusammenstellt.
Erste Klasse: solehe, die einen einzeluea Ton
bedeuten.
Dahin gehören die beiden einfachsten Gnindformen (simples
nenma) *):
Punctum oder Fundus • • in der spiteren CSioralnote Brevis * und
Semibrevis
Virga J |^ 0ak der CShoralnote Longa ^).
der Punkt für den kttraer, die Vuga lUr den länger aosrahaltenden
1) Die If ehrssM dieser Kanen ist nach ihrer ffrieohischen oder latei-
nisohen Allleitung leicht zu dcutt n: Pcntaphoniu der Fflnfton, Strophicus
der Umweiick-nde, GnomodorWinkelhaken, Scandicus derSt('igende,Salicu3
der Spriugende. Ganz fremd sieht aber das Wort Cemr aus, so dass man
an der richtigen Deutung der Schriftzüge zweifeln mOchte, kime möht das-
solbc Wort atich im Tonarius des Abtes Oddo vor. Dort bfMsst : (Quarta
Bumitur autem difTerentia touus cantus et plagis deuten, vox iubilo, metrimi
verohypate meson, organam Salpion, Syraphonia varietas plagis deuten;
diorda vero Caemar et sccmata E. Quarta autem differsiraa lumitor in
qtiinta chorda quae dicitur Oieninr et ascendit ad septimam quae vocatur
Ucicbe u. s. w. Aua der Zusammculialtuug dieser Stelle mit den übrigen
des Tooariiuns geht hen-or, dass mit dem Worte Gaemar nichts mein* und
nichts weniger als der Ton E gemeint ist. Die ganz barbarisch klingen-
den Nameb: scembs für i>, buc für A, neth für caphe für 6, Saggese
für c, Caemar ftr £, üdche für g, asel ftr o, re fBr (f, Nar fttr d, widie
in dem Tonarium vorkommen, rühren vielleicht aus den fnitikischenffing-
Bchuleu her. Oddo spricht stets von einer chorda buc, chorda asel u. s. w.
und bestimmt stets ihre Zahl, ob sie die erste, dritte, siebente u. s. w. sei;
und so möchte die Vermuthnng nicht zu kflhn sein, dass diese Bezeichnangen
von den Namen hergenommen sind, womit die keltischen Harfher die
Saiten ihrer Instrumente bezeichneten.
8) SimpKeem autem dicimus neumsm virpt^am vel ^wicfmii. (Johsanes
CoCtooias.)
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Der Qi«gonMUMbe Q«aaiig md teiiie Veri>reitiiiig.
75
Ton, analog den daraus entstandenen Choralnoten. Die stehende
Virga bedeutet im ZuMmmenhange saweilen das Anfirteigeii in
einem höheren Tone (Arns), die liegende das Sinken sn einem
tiefem (Thesis); doch herrscht auch hierin, wie in der gansen
Neuinenschrift, viele Willkühr. Diese einfachstiMi Zeichen wurden
wiederholt und gruppirt. In gleicher Höhe nebeneinander ge-
setzte Punkte (notae repcrcussae) bedeuten die Wiederholung
desselben Tones, ebenso wie die Formen:
(iu Choralnoten unter derselben Benennung bei Walther Odington, dem
Mtadi Ton Bveabam 1940: rhjihmiMdi dem Spondeas entsprechend);
TrMrga W
(Walther üdiugtou).
£beu8u leicht verständlich siud die Uruppirungen des Punktes
Bipundum
(nach Walther Odington, auter gleichem Namra).
Dasselbe mit Bepercussion:
^^^^
Tripmc/him / • *
bei Walther Odiugton
Die GmppiruQgen von Punkt und Virga worden wieder mit
eigenen Namen beieichnet:
ScandicM y ^—m —
^5 <y ♦ * 1 =
(in Ghoralnoten unter gleichem Namen in der Calltopea leghale des Fra
Ami§<ikc» QM^i finde des 14. Jahrh. ; stufenweise annteigend Äjthmisoli:
der Anapftst).
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76
Die Anfüge der eorop&tsch-abendlftndischen Moiik
cf >r * * 1 —
{OtUi\ii, ipmiigweiie Mifrteigeiid.)
(Ottobif stufenweise, wie auf einer Treppe, «JU/iaf, absteigend; rhythmisch:
der Baktylna.)
In der NmimentafiBl ans dem Kloster Ottobeuem (monasterium
Ottoburanom, dann in der Freiherrlich von Lassbergischen
Bibliothek zu Mersburg am Bodcnsee, jetat im Besitze des
Fürsten von Fiirstenberg) kommen noch mehr solcher Grup})en
vor: virga priuhipumiis , virga syl/hiiinictLs , virga conbiputictis
u. 8. w. Der Münch von Kvcsham gibt für die
virga dteoNpiiiidt» ^ die Ckondnotengmppe ♦ * | ^
Nach dieser Andeutung ist es nicht schwierig auch die audereuNameu
und Combliiatioaen in der Ottobeuem'sehen Tefel wa denten, s. B.
nkga coniripunctis » ^ "
virga praeHaUiteri» ^••*) * ♦ *
virga tMOaimma \\ ^ * *
Zweite Klasse: solche, die in einem einzigen Zeich ea
swei oder mehrere T8ne darstellen. Sie sind aas der Zq-
sammeniiehttiig von Punkt und Viiga in ein einziges Zeichen
entstanden nnd sind das Vorbild der sogenannten Ligatoren in
der Hensuml- und Choralnotensehrift, in letsterer ist dto Idenütit
sogar oft Bweifellos kenntlich:
FUxa, CUm oder aivts ^ ^
nsflk JWi OMi:
cuvi n E
Man siebt, dass letzteres die ursjirüngliche Gestalt war; um die
zwei Tüue zu kenuzcicb neu, machte mau zwei getrennte Istriche: der
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Der QregoriaiuMhe Qeung imd seine Verbreitong. 77
xw«ite Ungere deutete den Schritt nach der Tiefe an. Indem
man sie dann in einen einsigen Zug vereinigte, entstand die
bogen- oder hnfeisenförmige I^gor.
lUxa strophica ^\ ^
FUsM resupina ^
r
Epipkonus, auch Qnomo, Smiwealia, EtapKoima, BVaucidm und
snr Zeit Franeo's Ton Cöln
lUea ateendena U ^ U —^^-41
ts=±
(Piica asuendeiiä m der Jform des 13. Jahrh.)
Diese Figur bedeutete zaweilen einen Terzensprung, wie zu
Anfang der Antiplionie Videmnt (nach einem von P. Lambillotte
g^^ebenen Beispiel):
^ ^ (Bpiphonus)
Tidemnl rid» - roDt
zuweilen als sogenannte Plica eine Gesangmanier, eine Art Vor-
oder Nacbscblag aus langer und kurser Note (Smivoealis)^ ins-
besonderB in Verbindung mit dem Clinis ?f n , wo der Clinis das
Fallen der Stimme, der Ghiomo das rliTtlimisebe (troehXische)
Haas andeutet 1).
(naeh Fra OUobi)
(riiytliiuisch: der Jambus)
1) Auch Lambillotte nimmt an, diese oft vorkommende Figur bedeute
saien langen und einen kuraea Ton in Verbindun?
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78 Die Anfüge der enropftiioh-abeiidliUidisolien Musik.
Fes flexus resupinm
Die Tafel von Ottobe.nem hat dazu noch Bes subbipuuctis, JBbs
flexus suibbipunctis u. a. m.
die beiden Folgetöne kurz nachschlagend, in unserer Schrift etwa:
bei JPVa Jj^elteo OiUibi mit demsellMii NeumenBeieheii p ala
„Himaco**; ib den beigegebenen Cboralnoten jedoch als kuiser
Vorachlag
— j-it d. i. ^^^ ^
Dritte Klasse: solche, die besondere Singmanieren
bedeuten. Zn diesen gehSrt eigentlich auch schon der Gnomo
und der Ancns, femer aber die Formen:
TravMM, od. i^ica descendem
9/'
(Letrteres Schreibart im 18. Jahih., wo man aadk die umgekekrte Form,
mit den Strichen anftrirts, alt PUea atcendcBB anwendete).
Oriseus ^ f eine rasch nachschlagende Note, bei OlfoK als
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Der Gregonuuaclie Gesug und seine VerbreiUuig. 79
Arriaco
mit der Plica desoendens identucli, in der Form so nemliek
dasselbe wie der
Gutturalis ^ ein mit der Kehle (gnttnr) rasch auszuführender
Vorschlag I [^H=3^:j— 1
2wttidii» ^ die nmgekehrte Manier
Apo6tro2jha^ kurzer Nachschlagtou , kommt auch als Bistrojilia^^
und Tristropha vor (die beiden letztem bei Walther
Odington in Noten
und in diesem Sinne mit der Bivirga und TMvirga identisch i)).
Das Qoilisma erseheint aneh in Verbindung mit anderen Formen,
z. B. ab (^üUwa resupinum ^^ ^ ^ i welches eigentlich nur die
Yereinigong des QNtlimia mit dem IVs fi/am re$it|»inis ist:
Vierte Klasse: solche, die ganze Iti'otenformeln be-
deuten.
Das wXre nach F. Lambillotte der iVemiff welcher
eine Cadensform andeuten soll, und swar
H-emis minor ilir PhrasenschlUsse
Prestm major für den Schluss bedeutender AbsStze
-it-
1) Repercussam vero (neumtm dioimiis) quem Bemo Distropham vel
Tristropham vocst. (J. Cottomos).
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so Die Anfiinge der europäiBch-abendlftndischen Musik.
Sehr seliwtiikend nnd nnricher ist die Bedentong des soge-
nannten Cephalicus (Kopf-Nenme, von M^paX^ oder
Nach Lambillotte soll er bald einen, bald swei T5ne bedeuten und
in letaterem Falle eine Art Portament (?) Tonohreiben. Fkm Ottobi
bringt dafür Folgendes:
Cephalici Jl/^ *** A
Es ist dieselbe Figur, die in der Neumentafel yon St Blasien als
Strojthieus angesetxt ist
Mit Lesern yerwirrenden Beiehthum an Formen nnd Namen
war die Sache noch nicht aus, os ^ab dann noch mannichfache
Combinationen: Clivus cum podato, Podatus cum clivo u. s. w. Kein
Wundor, wenn der Unterricht jahrelanjj dauerte, wenn, wie fiuido
von Arezzo spottet, ,, die Sänj;er ewig lernten und nie t'ertigjwUrden",
wenn «lieselbea Figuren in den verschiedenen Singe.schulen anders
gelesen und gesangen wurden. „Kaum Einer stimmt mit dem Andern^*
ruft Gmdo von Arrexso ans: „nicht der Meister mit dem Schttler,
nicht der Schttler mit dem Mitschüler," nnd 6uido*s Conmientator
Johann Cottonins schildert nicht ohne Hnmor eine Zanksoene
swischon einigen SXDgem, wo jeder anders singt nnd jeder Recht
zn haben behauptet: „Sagt Einer: so hat mich*» Meister Trudo ge-
lehrt, HO wendet der Zweite ein: so habe ich es vom Meister Albinus
gelernt, und der Dritte schreit: Meister Salomo singt ganz anders."
Wo Einer die kleine Terz oder die (Quarte singt (er/ählt Cottoin, l;is>t
ein Anderer die grosse Terz und die Quinte hören: „es stimnieu",
schllesst er, „wunderselten aneh nur ihrer Dr^ fiberein, weil sieh
Jeder auf seinen Lehrer beruft und es endlich so viel Singemanieren
in der Welt gibt als einselne Singemeister.** Die Neumen blieben
also, ob sie gleich eine Tonschrift vorstellen sollten, doch nur ma»
blosse Gedttchtnisshilfe, etwas, das nur durch Uebung (usus) za er-
lernen nnd wozu die Unterweisung des Lehrers unentbehrlich war.
Ilucbald von St. Amand (starb 930) domonstrirt es seinem Leser
handgreiflich, er setzt ein Alleluia (AEVLV) in Neumen und fragt
nun: „Das erste Zeichen magst du wie immer iutuuirt habend wie
wirst du aber das zweite Zeichen, das da daneben siehst nnd welches
tiefer ist, mit dem ersten verbinden? Du wiist nicht wissen, ob es
nach dem Willen des Tonsetsers eine, zwei oder drei Stufen fallen
soll, wenn da es nicht von jemandem wirklich vorher singen gehört
hast^)**. Als Guido von Arezzo seine Schttler dahin brachte, das»
1) Johsnn de Maris sagt flbercinstimmond von den Noumen:
Sed tamcu hitic oculi ucqueunt perpendere cantum,
Si non auris adesi ei vjces praemodulaatam.
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Der Gregoruuiiaehe Gesat^ und seme VerbraitaDg.
81
sie unbekannte Gesänge, welche sie nie vorher gehört, vom Blatte
sangen, sckieu es den Hörern freilich ein Wunder^).
Bomaniis in St GMlen dachte an Abhilfe. Er kam aof den
Einfkll den Neunen kleine Bnchatabenbeseichnangen beisusetsen,
welche dem SXngw die nOthigen Winke geben nnd gewiasermassen
den mttndlichen Unterricht des Lehren enetaen sollten^. Diese
Komanusbucli Stäben (wie wir sie nennen wollen) finden sich
Kchon in dem Aiitiphonnr, welches er mitgebracht, und überhaupt
in den von St. (t.illcn nnsfjo^an^M'iu'U oder nach d«»rtijj^en Mustern
copirten Xcuniatisiruiif^en. (Tlücklic lienveisc hat Notker Ii al b u 1 u s
einem aulVagunduu Freunde NameuM Lantpert die Bedeutung
dieaer Bnehstaben in einem gehaltenen Briefe erklKrt, so daes wir
Aber aie genau unterrichtet sind. Sie haben eine dreifache Bedeu-
tung: theila zeigen aie die Tonhöhe an, thmla das Mass der Be>
Et quia sie tali pro oonsaetadine oresoit
Usus habet, non cantu«, quem niusica iifseit.
In seiner ^uuima mus. l'ap. <i piht er einige Erklärungen : „Punctus ad modum
poneti formatnret adjungitur quandoque virgac, quandoque plicae, quandoque
podato, quandoqne unom solum quandoque plura paritcr, praecipae in tono-
rum deseensu. Virjja est uota siinjtlex ad modum virgae oliloii<;ae. Clivis
dicitura eleu quod eelmelumetcompuniturex/i^ta et souinuta et biguat qaod
▼ox debet inflecti. Plica dicitur a plicando et oontinet dna« nofau, unam
aaperiorem et aliam inferiorem. Podatus continct duas notas quarum uua est
mferior et alia superior ascendendo. Quilisma dicitur curvaüo et continet
notas tresTel plores qaandoque asoendenseoitenim descendena, qnandoqaee
contrario. Pressus dicitur apremeudo et minor oontinet duas notas, maior
vero tres, et scmper debet acqualitcr et cito proferri." Man sieht aus dieser
Stelle, das8 die Neumeu zuweilen aueh die Art der Bewegung, ob gleieh-
mässig, ob sehnell u. s. w., andeuteten und dass ihre Namensbedeutung bei
den verschiedent ii Lfhrcrn verschieden war: z. B Ix-dcutot bri IMtirisderOUvis
das, was sonst die Bedeutung des Seuiivoeals oder Epiphouu» ist.
1) Fflr die Bntsiffenmg der Nemnen ist in neaetter Seit dmxsh D a n j o u ,
Fe tis, The odorNisard, besonders aberdurchP.Lambillotte, C. Cous-
B f m a k e r und AnselmSchubiger höchst Verdienstliche» geschehen. Wer
mehr darüber zu lesen wünscht, dem seiCoubseuiaker'sllistoirederhannoniu
da moyen ftge, Larabillotte*sAutiphonaire de St.Galle und Schubigcr'sSftngetw
ficbule von St. Gallen empfohlen. Nur möge er sich von dem PhaTitftm der
Note saxonne und Note longobarde nicht irre macheu lassen ^ schon IsLicse-
wetter hat in der allg. Leips. mnaik. Zeit, vom Jahre 1843 die Sache glänzend
widerlegt, noch umständlirher Lambillotte. der leider nur des Guten zu viel
thut und neben trefllichen Argumenten auch unhaltbare in's Feld rücken lässt.
CouBseraaker (dessen Verdienste um die Musikgeschichte des frühem Mittel-
alters nicht warm genng anmerkennen sind) macht, meines Erachtens, mit
seinen Neumt-s points 9uperi)08e8 eine unnütze Unterscheidung,'; ea i'^t keine
besondere, abweichende Sj^ielart, sondern nur eine andere Schreibweise, so
wie daa ABC dasselbe bleibt» obsehon es im 9. Jahrhnndert andere Zflge
hat als im dreizehnten.
2) In ipso quoque primus ille literas alphabeti signilicativas notnlis, qni-
bns Visum est, aut susum aut jusum aut ante aut retro assiguarc cjccoyitaviti
quas postea quidem cuidam amioo quaereoti Notker Bawnlu dflnoidavit
(CasoB St. GaUi cap. 3.)
Aabro«, 0«ielil«kl« 4«r Moslk. IL ^
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82
Die AnfiUige der earopAiach-abendländitdaen Masik.
wegting (das Tempo könnten wir sagen), tliells sind es Vortrags
Beiehen, sehr analog unserem j9vnd f (piano nnd forte). In spielen-
der Weise, sugldieh aber als recht wohl gewählte GedICchtnisshilie
stellt Notker seine Erklftmngen so, dn^^s alle oder doch mdglichst
viele Worte der Erläuterung mit deui Buchstaben beginnen , um
den es sich eben handelt, z. B. f, ut r//m fragore seu frendorc feria-
tur flagitat (also unser forte, es kommt in(l«'ssen sehr selten vor) ; g,
ut in gutlure gradatlm garridetur geuKute gratulatar ; M, mediocriter
tuelodiam moderari meiidicaiido meniorat. Die Tonhöhe wird ange-
deutet dnrcli a (ut aiHm eleretur admonet), d (ut deprimakir de-
monstrat), i (jusum vel infeHui tnsinnat), « (sicaiim Tel summ
scandere ribilai), e (ut eqtuditer sonetur eloquitnr). Freilich blieb
dann noch immer die Frage offen, wie hoch man Steigen, wie tief
man herabgehen solle. Tempobezeichnungen waren e (ut cito vcl
celeriter dicatur certificat) und / {trahere vel tenen debere testatur).
Das h (bcne) dient zur Verstärkung, nnd z. B. b. t d. i. hone teneatui
entspricht völlig unserem ben tmuto. Ein Kreuzchen in Form eines
^ (expectare expetit) deutet eine Pause oder einen Absatz an. Im
Antiphonar von Bt Gallen sind nur die Buchstaben a, b, c, t, 1,
8,M,i und X angewendet Am hünfigsten kommt e, die Andeutung
der Besehleunigung, Tor^). Nun war freilieh noch immer keine
Andeutung da, auf welchem Tone der 8ttnger anfangen und dann
mit Hilfe des ihm durch die Neumen nnd die Romanasbuchstaben
angedeuteten Steigers, Fallens u. s. w. das Stück durchsingen solle.
Diesem Uebelstande suchte man durch die sogenannten Tonarini
abzuhelfen, d. i. Verzeiclmisse der Antiphonantange , nach den
Kirchüutöueu, in welchen die betre£feuden Antiphonen gesungen
werden sollen. Diese Tonaiien finden sich hXufig: mn vielbenutster
Tonaiins s. B. unter denArbeiten des Abtes Berno von Reichenau^.
Bomanus bezeichnet die acht Kirehentttne, dureh die an den
Rand gleichsam als Vorzeichnung gesetzten Buchstalcn a, e, i,
if, y, t». Da, wie wir wissen, jeder Kirchenton seinen bestimmten
Anfang, seine Mediation und seinen Schluss hatte, so konnten sich
die Sänger bei diesen Hilfsmitteln leidlich zurechtfinden. Nur die
Schlüsse mit ihren ,,DiftVrenzen'* machten noch eine Massregel
nöthig: stand der Buchstabe allein, so war der regelmässige Schluss
gemeint; war aber noch ein MiÜauter dabei, so bedeutete es nach
der Beihenfolge des letateren im Alphabet die erste, sweite n. s. w.
DüSsrens, s. B. 7 e den siebenten Kirchenton mit der sweiten
Differena.
Die Erinnerung an dieRomanusbuehstaben erhielt sich ziemlich
lange. Noch Berno von Reichenau und der Scholastiker Aribo
1) Notker's Brief ist in Geibert's Seriptorss IBd^ Hsmer bei Schnbiger
S. 10 abffpd ruckt.
2) Bei tierbert im 2. Bande.
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Der Or^iockniadM Qmutg imd >eme Yeriweitaiig. 83
reden davon. Unverkennbar ist dvreh sie euch Herrn annnt Con*
tractas (starb 1054) auf den Gedanken einer eigenthUmlichen
Tonschrift per uäenfaüonm dettgnoHonem gekommen, welche
darin bcBtand, dass über den Text Bnchstabou gesetzt wurden,
welche dem Sänger die Fortschroitung som nüclistfolgcnden Inter-
vall andeuteten, z. B. e (cqualittr) , wenn dersolbo Ton anzugeben
war, .s (scmitonium) den Ilalhtnn, wie kleine Seeunde, t (tonus) den
Ganztou, die grosse »Secunde, t s {toiiu.s ( kiii i>ciniio)i(t ) die kleine
Terz, t t {(luo toiti, ditoitwi) die grosse Ter/, D (Diatesseron) die
Quarte, J (Diapente) die Quinte, J s {Diapente cum semitouio) die
kleine Sext, J T {diapttAe cum tcmo) die grosse Bext, J D (Dia-
pente nnd Diatesseron) die OctaTe^).
Es war alles dieses anch recbt sinnrelcb, aber doch noch immer
•ehr nnbeliilflich. £inen weit einfachem, glücklichem und rulLcn-
reicbcrn Weg schlug man in Italien ein; wenigstens sind es alte
italicnisehe Chorbiicher, wie jene, die sclion Kirelier im Kloster zu
N'allonibrosa in Händen hatte, wo man zner>t (jner <luri li die Neu-
men eine rothe Linie (Chorda) gezogen findet, welche den Tou f
bedeutet: was also auf der Linie selbst steht, hat die Tonhöhe von ^
was darüber steht ist höher, was darunter ut tiefer an singen.
P. Martini gibt eine Probe dieser Schreibart ans einem angeblich
dem Anfange des 10. Jahrhunderts angehörigen Codex, einem Missal
des Domes su Modena:
(Die Linie denk« mao sich roth.)
Die Züge der Schrift deuten aber eher auf die Zeiten des 11. Jahr-
hunderts. Wurde eine gelbe Linie gezogen, so bedeutete sie den
Ton c. Guido von Aresao erwShnt dessen in den Versen:
Quasdam lineas dg&amns varüs colorilnis,
Ut quo loco «it »onns mox difcernat oriilus,
ürdme tertiae vocis spleuduus crocus radiat,
Sexta cijus affiois^ flavo mbet minio.
Die gelbe Linie wurde stets nur in Verbindung mit der rothen an-
gewendet, wie in dem von P. Martini einem ihm selbst gehörigen
1) Darüber zu verf?1eichcn im 2. Bande von Gerbert*8 Scriptores
Hermann seihst, und S. Cottouius.
2) P. Martini. Storia della mus. 1 IJuml S. 184.
3) Tertia vox. Sexta. Da der ticM»- Tf^n der ersten PlugsltonreiheAist,
80 ist mit dem dritten Tone C, mit dem sechsten F gemeint.
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84 I^i® Anfänge der europäisch-abendländischen Musik.
Mistfale entnommenen Beispiel, welches naeb dem Charakter der
SchriftzUge des Textes sogar bis in das neunte Jahrhundert snrUck-
datirt werden will. Aber im genannten Jahrhunderte herrschte nocb
die rihiiische Schrift, während hier bereits jener Mi^ehcharAkte^
zwisclien rihnisel» und jjotliisch zu erkennen ist, wie er im 11. nur]
12. .lahrliinuleite im (Jebrauelic war. Auch daö lauge öchlubb-J"
(ttttUP beutet auf diusü Zeit hin.
IM« obtt* litai« dank«
gdb^ dl« ttofen Liato roth. 1)
Die Magliabeeebiaam in Florens besitit ein Missale angeblicb ans
dem sehnten Jabrbundert, in dem beide Arten abwechselnd ange-
wendet nnd, stellenweise die redie, an uideren Stellen die rotbe
und <^r]hc Linie. In diesem einfachen Hilfsmittel lag ein nnermess-
licher Fortschritt. Jetzt war dem Slfanger schon so vi(>l ^ans deut-
lich gemacht, das» die C'haraktere zwisclion den beide ji Linien nur
die Töne ^, a oder h bedeuten können. Diese Linien sind die ersten
Ansätze zu dein Systeme von vier Linien für <lie Choralnote, von
iuul' Linien tur den gewöhulichou Gebrauch, dcsbcu wir uns noch
jetst bedienwi. Umstand ist b^ ^esw gansen Sache nicht sn
Übersehen. Warum worden gerade die Tonstufen / und c durch
farbige Striche ansgeselehnet und nichts. B. d und a? Die Stufe f
gibt nach der sogenannten Solmisation Guido's von Aresso
Ol r» mi f» lol la
die Sylbe fa im natfirlidien Hexachord c d e f g a.
ut r« mi
Die Stafe e gibt die Sylbe fa im harten Hexachord g a k
e
Ml U
d «.
Also gerade die Stelle der zwei so wichtigen Ilalbton-
schritto, des den Kernpunkt ^ er Solmisation bildenden
mi fa, ist durch die farbigen S triebe markirt. Sollten Jene
1) Die Entzifferung Martini's dazu ist folgende, vemmthlich richtige:
Po • pu - le me
US
quid fe-ci «ut
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Der Öregorianiflclie Gesang und seine Verbreitung. 65
Codices nun nicht alle erst dem 1 1 . Jahrhundert angehören, wie die
Solmisation in Aufnahme kam? Man bemerke, dasB Guido von
jenen zwei Linien und Farben wie von einer ihm angehörigen Er-
findung redet (Signaraus etc.). Die St. Gallener Sängerschule, zu KarPs
des Grossen Zeiten gegründet, weiss noch kein Wort von jenem
bequemen Hilfsmittel. Dass Guido dann noch zwei Linien zog, war
nur eine Vervollkommnung des ersten glücklichen Einfalls ^). Die
Erinnerung an die beiden farbigen Linien ist in unserem JF^-SchlUsscI
und C-Schlüssel erhalten. Gleich ursprünglich pflegten die Schreiber
den Buchstaben f oder c links an den Anfang der dazu gehörigen
farbigen Linie zu setzen, um ja keinen Zweifel übrig zu lassen.
Späterhin, da man einsah, dass unter diesen Umständen die Colo-
rining der Linien auch wohl entbehrt werden könne, zudem dei
Schreiber vielleicht nicht die nöthige Farbe zur Hand hatte, be-
gnügte man sich mit den andeutenden Buchstaben. Aus der ur-
sprünglichen Form der Buchstaben C und F wurde dann unter den
Händen der Schreiber C ^ ^ ^ "F 9» Giido
von Arezzo zog dann, wie eben erwähnt, zu den beiden gefärbten
Linien noch zwei andere, die ungefärbt blieben und ursprünglich
nur mit dem Grifiel in das Pergament eingeritzt wurden; auf solche
Weise kam das System von vier Linien in Gebrauch. Aus den ge-
ringen ursprünglichen Uber den Text geschriebenen Accentzeichen
1) Die Erinnerung an die rothe und gelbe Linie erhielt sich lange. Ein
Codex des 14, Jahrhunderts in der Prager Universitätsbibliothek (XIV G. 46)
wendet in seiner Notirung nicht bloa den G-.B-und C-Schlflsscl, sondern zum
Ueberflusse auch die gelbe und die rothe Linie an ; letztere ist ungeschickter
Weise in das Spatium zwischen der dritten und vierten Linie gezogen:
Die 4. Linie toq unten denke man sich rotb, die 3. Linie gelb.
not tt— jemmmnm
Diese Notirung ist also zu verstehen:
iflc:
Co - ro
nat re
gem
om - ni - um
In den derben fracturähnlichen Zügen der auf dieses Liniensystem gesetzten
Neumen zeigt sich auch der Uebergang zur Choralnote mit grosser Deut-
lichkeit.
86
IMft Anftag» der •oropftiaoh-ftbendltoditchen MosOl
lur Andeutung fttr die Flexionen der Stimme konnte endHch eine
flo reiclie und sinnvolle, jeder Anforderung genügende mnaikaliBcbe
Schreibeknnat hervorgehen, wie unsere heutige Notirung.
Die Tonseiehen dw griechiHclicn BUcher Bind in den
älteren Zeiten nur sparsam angebrachte blosse Accentzeicben, kurze
Striclic, die bald horizontal, bald schräge gelegt sind, leichtge-
zogene Circumfiexc, Winkelhaken, Häkchen, die dem sogenannten
Spiritus lenis (') gleichen, andt-r»', die wie ein Lituus oder liirten-
stab gekrümmt sind. Zuweilen ist in den Text ein Kreuz als Kespira-
tionsseichen eingeschaltet Die Neumen £Ur den eigentlichen Ge-
sangton sind durch rothe Farbe ausgeseiehnet Keben den mSebti-
gen Minuskeln des Textes nehmen sie alle snsammen eine sehr
untergeordnete Stellung ein. Die einfacher nemnirten lateinischen
Codices haben entschieden ähnliche aus ebenso einfachen Zügen
bestellende Zeichen: so ein Sacramentarium von St. Gallen ans
der K.uolingerzeit , ein anderen P.icramentarium von St. Denis ^)
und elu nso die aus dem 9. Jaluliundert herrülirenden Neunien eines
Codex Casanatensis, der in lungobardischen SchriflzUgen ge-
schrieben ist^. In letzterem, sowie in einem gleichfalls longobardi-
sche Schrift enthaltenden Codex aus der vaücanischen und barberi-
nischen Bibliothek^ seigen auch die Neumen den Charakter der
longobardischen Schrift: gpitsige Ansätze, die sich plötzlich zu kräf-
tigen, schwerfölligen Schattenstrichen verdicken und der Schrift
etwas Ungefüges geben, während die Neumen der Sacramentarien
leicht, flüchtig, nu lst haarstrichartig und nur in zusammengesetzten
Formen dun Ii scliwaclie Schattenstriche markirt erscheinen, llierin
liegt aber kein Anlass eine besondere Abart longobardischer Neu-
men KU statuiren; es sind genau dieselben Zeichen wie in den
römischen Schiiftstttcken und nnr so im Sinne der longobaidisehen
Handschrift charakterisirt, wie die lateinischen Buchstaben des
Textes, die ja auch keiner longobardischen Nationalschrift ange-
hören. Ans ihrer nördlichen Heimat brachten die Longobarden sicher^
lieh keine andere Kunst in das Land, das nach ihnen den Namen
erhalten sollte, in die Lond)ardei, mit, als die Kunst ihre langen
Spiesse (l^arden), nacli denen si e ihrerseits genannt wtirden. dem
Feinde gegenüber nachdrücklich zu gebrauchen. Was sie in der
neuen Heimat an Künsten fanden, eigneten sie sich an und über-
setaten es in eine ihrer Sinnesart ansagende Form. Die alterthUm-
liche Kirche von St Michael in Pavia mag in ihrer barbarischen
Pracht ein Denkmal sein, wie man damals im Lombardenreich baute;
aber so wie diese Kirche nur eine Modificimng des röndaehen Ba>
1) Facsimile bei Qert>ert Scriptores Bd. 2. Tti. XL
2) Taf. XII.
8) Taf. Xin.
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Der OregoriniMlie OeMog tmd Mine Verbreitung. d7
silikenbaues ist*), so sind jene Neumen nnr eine obendrein knnm
nennenswerth«i Modificatioti der römischen Nemnenschritt und nichts
weniger als mitgebriichte-i Gut aus dem Norden. So lange die
Lougobardeu Heiden und so lange sie Arianer waren, werden sie
rieli um den römiscben Ritualgesang und die dazugehörige Neumen»
Schrift nicht viel gekümmert haben. Als endlieh Theodelinde ihren
Gemahl Anthorieh snm Katholidamns hinllberieitete, kamen diese
Gaben von Rom an den longobardischen Königshof und nicht um-
gekehrt. DerDomschatz von Monza besitzt ein Uberaus kostbares
Gradual mit Neumen in G(dd- und Silbcrschrifl, das als Geschenk
Gregor's an Theodidinde gilt (aber allem Anschein nach einer späte-
ren Zeit angetiört). Seine Neumen haben den bekannten longobar-
diBchen ächriftcharakter.
AbwdieAehnlichkeit der griechischen und lateinischen Nenmen,
ans welcher anf eine gemeinsame Q<>^1® wechsel-
seitiges Yerstindnis^ g€«ehlo8sen werden kSnnte, verliert sich bei der
Ausbildung und Bereicherung dieser einüschen GrundzUge voll-
ständig; die Zeichenschrift geht im Ost- und Westreiche unab-
hängig ihren eigenen Wog. Sogar schon zu Ende des 4. Jahrhun-
derts soll St. Ephrem eine ganz eigene aus 14 zierlichen Zeichen
bestehende Notenschrift oder vielmehr Neuniirung eingeführt 2),
St. Johann Daraasccnus-^j soll im 8. Jahrh. auch hierin eineKefonn
vorgenommen und die jetzige griechisch -liturgische Tonschrill
snerst gebraucht haben; auch hierin das Gegenbild St Gregor's.
Indessen verdient Ktesewetter's Ansicht alle Beachtong, dass diese
Schrift nicht vor dem 11. oder 12. Jahrhundert von Geistlichen der
griechischen Kirche erdacht worden sei; denn während sich aus
dem 7., 8. und 9. Jahrhundert Codices mit den Ephremischen Zeichen
finden, zeigen erst die Codices aus dem 1<). und 11. Jahrhundert
eine veränderte Gestalt der Tonschrift. Neben der Minuskelschrifl
des Textes raachen sich jetzt schon die parallel damit fortgehenden
Notenzeichen als ein gleich Wichtiges geltend; für den ersten
Anblick haben sie Aehnlichkeit mit dem Charakter arabischer
Schrift: die Lage der Zeichen ist meist hofiaontal, viele spitiwink-
lige, aber auch elUptiBehe Charaktere mit und ohne beigesetite
1) Und auch dieser sogenannte „longobardische" Stylist nur ein barbari-
sirtes Romanisch. St IGchael, wie es jetst ist, rflhrt mathmasslioh ans dem
11. Jahrhundert her, also aus einer Zeit, wo Karl der Grosse längst dem Lon-
gobardenroiche ein Ende gemacht. Tn noch viel spfttero Zeit gehört der Dom,
von Munza (vcrgl. Lübku, Gösch, d. Architektur 2. Aull. S. ^öti und Xugler,
Gesch. der Bauhonst 2. Bd. S. 77 und 8. Bd. S. 668).
2) Diese Zeichen find: ^ ^ f J f \) + ^ \ ff 1]
Bnmey fand solche Zeichen in den Handschriften der Harleiana No. 5785
3598, nnd bemerkt (Hist. of mas. 2. Bd. S. 50): „the Codex Ephrein in the kin^
dbrary at Paris of the flfth Century haslikewise theiamekindofinQsicalaoies\
3) ä. Zariino, lustit IV. Ö.
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88 Anfenge der europiiidMiibeBdNtiiditdieD Musik.
Punkte, Bögen, Doppclstriche, quor durchstrichene Kreise u. 8. W.
reihen sich ziemlich enge aneinander*). Dieser Oliaraktor erlih'lt
sich bis in'.s .lahrlnmdert unverändert. Im weiteren Verlauf des
Mittelalters wird die neugriechische Tonsclirift immer 'derber, immer
aufdringlicher: es sind die hergebrachten Charaktere , aber ener-
gisch, gross, kräftig, gebSnft; sradetst wird dai Oanie ein Tennar
derliches Oemenge, das beinahe wie die Arbeit nagender Hols-
Würmer aassieht, so dass der in kleinen dttnnea Hinnskeln daswisehea
geschriebene Text dagegen fast verschwindet^). Bemerk enswerth ist
Überdies, dass die filtern ScIirit't«>Ti nach der Stella ng der Charaktere
einen syllabischenGesangbo , (uler wenigstens einen solchen andeuten
wo auf eine Textsylbe nur liin und her eine bescheidene Noten-
gruppo kommt. Dagegen entlialteii die spätesten se hr langathmigo
Coloratureu, denen zu Liebe der geschriebene Text wunderlich aus-
gereckt wird*), wobei das Bespirationskreas soweilen mitten in dift
endlos gedehnte Sylbe gesetst wird. Der Umsta nd, dass ein beden*
tender Theil dieser Zeichen (nebst manchen Znthaten) in der nea-
griechischen Tonschrift bis heut im Gebraaehe blieb, macht uns die
Bedeutung derselben zugänglich. Sie werden in aufsteigende und
in absteigende Zeichen unterschieden, z. B. — Oligon [oXlyoy das
Wenige), / Oxeia (f) o^da das Scharte) n. g. w. bedeuten das Steigen
um eine Stufe, " Kentima (ro x^vriurt <ler Stachel) steigt zwei, ^ Hy-
psile {ij uipüt} die llöhe) vier Stuten. Bedeutet der Apostrophos '
einen Ton, so fallen zwei Apostrophe (ol 9tlfO datdar^oqxn ") am
eine Btafe, Elaphron (das Leichte to ikaqiQOP n) am swei Stafen
n. s. w>). Nach einer seltsamen Distinction sind dnige dieser Zeichen
„Körper", so andere ,, Geister**, iwei aber weder Körper noch Geist.
Es werden nh'mlich insgemein zwei Zeichen fUr einen Ton ge>
schrieben: ein Körper mit einem Geist, oder ein Geist mit einem
Körper, dass also eines der Zeichen eigentlich stumm ist. Dafür
gibt es ganz strenge Regeln^). Aus den einfachen Zeichen entsteht
durch Combination derselben eine Unzahl zusammengesetzter, welche
dann nach Unterschied 8, 9, 10 a. s. w. Tonstufen reprSsentireu.
Neb«L diesen Ghankteren haben sie anch noch sogenannte grosso
Hypostasen oder stamme Z«chen. Zn diesen gehört a. B. jenes schon
erwähnte Kreuz (Stauros), ferner Gorgon (das Schnelle), Argon
(das Langsame), Tromikon (das Zitternde), Heteron Paraklosma(die
andere Bitte), Chironklasma (der trockene Bruch), Hemiphonon
(die Halbstimme, in Form einer Lotosblume) vu a. m.^). Diese
1) Fa&simile aus Codi hl Wien bei Gerbert, Script IL Tal VL
2) Taf. VH hh IX.
3) Z.B.8t..<^A^i7AovM wirdge8cbriebenilAA9/gi;i7)}ij/;^J79i!}i2J79A*voMtM>VMaaffa.
4) Wer die Sache yoUstiadig kennen lernen irill, nehme Bamey S. Bd.
S. 51 u. Ö2 zur Hand.
6) Kiesewütter, Die Musik der neueren Griechen S. 10.
6) Wir verdanken diese Mittheilungen dem eifrigen Forscher Villoteaa
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D«r Gregforianiselie Gesang und seine Verbreitung.
Hypostasen sind also Vortrags- und nicht Tonzeichen und heisson
deswegen stumme. Manche ganz älinlichc (das Kvonz, das Hctoron
Paraklcsina, die «nnfachen Apostroplio u. s. w.) ki)innieii schon in
den ältesten Nutirungen vor, auch die Lotosldunio taucht schon in
den mittelalterlichen Notirungen auf. Durch den Couflikt und fort-
daaemden Veikdur nut d«ii maliometaiiiBehen Völkern hat die nen-
grieehisehe Mutik allgemaeh Jenen fremdartigen, barbaiistuchen
Charakter erhalten, der aneh auf die Tonschrift Einflnss gehabt hat.
Statt rieh gleich den Neumen in den christlichen Ahendländcrn
Knropa's zu einer deatlichen Tonschrift zu entwickeln, verliefen rieh
die griechischen Neinnon in eine wüste Schnörkolei, mühsam zu er-
lernen, ann, ungeschickt und selbst dem damit Vertrauten schwerlich
sehr deutlich.
Die Unsicherheit der Notirungsweise und manche andere
Umstände bewirkten, dass rieh in den Gregorianischen Gesang
mannig&ehe Abweichungen von seiner orsprUnglichen Fassung ein-
schlichen. Aber die Fassung -dieser GesXnge blieb, trotz aller Ab-
wttdiungen im Einzelnen, doch im Ganzen immer dieselbe, und
was wir noch jetzt in unseren Kirchen zu hVtren bekommen ist im
Wesentlichen noch immer die alte ehrwürdige Tonweise des heil.
Gregorius. Es kommt dabei mehr auf den eigenthUmlichen Styl
dieser Gesänge im Allgemeinen als auf die Note im Einzelnen an,
und deshalb hat die Aonderung und Entstellung dieser oder jener
Phrase, haben Modificationen in den Tonschlüssen u. s. w. nicht so
sehr geschadet, dase wu besorgen mttssten statt der echten alten Canti-
lens nur einen ungenügenden Nachklang derselben au beritsen. Die
Ueberllefemng und die tSgliche Uebung in der Kirche ist fttr die
£klialtang weit einflassreicher gewesen alsdie sehriflliche Aufzeich-
nnng in Neumen, welche der Ueberlieferung und Uebung doch auch
nicht entbehren konnten.
Es galt nun die für die Kirche unabänderlich zu Regel und
Gi!setü erhobene Gesangweise in der ganzen christlichen Welt zu
verbreiten. Es ist bekannt, wie sehr sich Papst Gregor für die üe-
kdhrung des noch heidnischen Englands interässirte, da ihm, noch
ehe er Papst geworden, das edle Wesen einiger in l(om als Sklaven
cum Verkäufe ausgestellter angelsSchrischer Jünglinge eine Vorliebe
ftr diese Nation eingeflösst hatte. Im Jahre 604 sendete er nebst
dem Abt des Andreasklosters zu Rom Augustin und dessen Ge-
fährten Mellitus, welche er zur Bekehrung der Angelsachsen ab-
schickte, auch einige Sänger, um den gehörigen Kirchengesang ein-
zuführen. In Gallien begegneten sie nach Diipeyrat's Er/.fihlung
einigen andern Moucheu, welche dort den römisch(!n (iesang lehrten.
(Descr. de rEgji>te XIV. Bd.)- Wem dieses soltcno Bibliothekeuwcrk nicht
rar Hand ist, hndet diese Charaktere auch in Kiese wetter: über die Musik der
neueren Griechen.
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90 Die Anfänge der europäisch -abendlätidischen Musik.
Al.s sie in England angekommen, glückte es ihnen, dass bis lur
Weihnachtszeit C05 hcreits au 10,0U0 Angelsachsen die Taufe em-
pfanden hatten. Der erste Ort, wo der Gretj^orianische Gesang in
Britannien eine Pfle^estätte fand, war Kent. Um das Jahr 664 he-
riei' (h-r Biscliof Wilfrid den Heddi Stephanus, einen lienedictiner
aus Kent, welcher die Psalmodie lehrte Um dieselbe Zeit reiste
Bisehof Acca von Kent eigends nacli Bom, nm dort den Ißrehenge-
aang zu lernen'), nnd war bemlllit selbst als YorgXngor in seiner
Krehe den Gesang sn regeln. In Northomberland, wo jener WU-
fried Bischof war, wird um 620 ein Diakon Jacobus als vorzüg-
licher SSngcr genannt. In wiefern die Thätigkeit jener in Gallien
herumziehenden Mönche dort den echten Gesang wirklich förderte,
ist niilit weiter liekannt geworden. Ks niuss sich dort vielmehr ein
eifrenei ivirclient^esang gebildet haben, der von den späteren SchrifV
stellern als CaiUnji Gallicamts bezeichnet wird und einfacher als der
Gregoiianisehe nnd melir dem Ambrosianisclien llhnlieh wai^. Es
hatte schon der Charakter der heidnischen Gallier, wie sieh ein
nenererSchriftsteller ansdrückt, „dieVerwundeningder behafiüehen,
ernsten, disciplinirten RfWner erregt", sie waren „klug, anstellig nnd
gelehrig", ai>er anch „leichtsinnig, veränderlich und neuerungs-
sUchtig"*). Diese freisti^'e Beweglichkeit machte, dass sie den ihnen
von den MJIuelien gebrachten (iesang zwar leicht erlernten, aber
nicht umhin konnten ilm nach ihrer Weise zu verändern, so dass
er eudlicii weder mit dem Ambrosianischeu noch mit dem Gregoria-
nigchen Übereinkam. Von leichtem Verstlndniss der Hnmk endthlt
Gregor von Tonrs ein Beispiel: es habe einer seiner Geistlichen,
Namens Armentar gans leicht Modulationen der Stimme (Melo-
dien) an&nfassen Termocht, wenn man meinte er merke gar nicht
darauf, sondern sei gaim seinen klösterlichen Beschfiftignngen des
Schreibens n. 8. w. zugewendet''). Die kirchliche Singekunst nahm
während der Zeit der Mer(>vin;;^er l)ei dem leichtfassend«'n aber anch
leichtsinniijen V olk»' bald eine ziemlich weltliche Färbung an, nicht
sowohl iu deu Gesäugen selbst als in der Art ihrer Verwendung.
Als der Sohn Chilperieh*s des Ersten getanft wurde, mussten die
Singer, welche von den sahireich herbeigekommenen Bischöfen her>
beigeftihrt worden, bei Tafel im Wettstreite singen; natürlich waren
es die gewohnten kirchlichen Weisen. Dergleichen war nicht nn-
1) Acta ord. Bencd. S. 676.
2) Beda, Hist. gent. Angl. V. 21.
3; üerbert. De cantu L Bd. S. 263.
4) Dolliiiirer, .Tudenthum uud lleidenthum S. 23.
b) De miraculis S. Martini Lib. I. Das Oitat bei üerbert, De cantu 1. Bd.
8. 963: cm tarn fkefle erat Bonorum modahitiones aj^endere, enthftlt einen
störenden Druckfehler in dem sinnlosen appendere (anhäni^ffii). Es muss
heissen apprendere oder, wie Ji'orkel (Geschidite d. Masik 2. Bd. 107) hat,
udprehendere.
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Der Gregorianische Gesang und seine Verbreitung. 91
erhSit. Nach der Erzählung Gregor*« yon Tours Hess König Gau*
tram zu Orleans (im Jahre 585) mitten mitnr dem MittagsinAhle von
einem Diacon dassellte rira<lnale vortragen, das er vorher bei der
FrUhinosse gesungen hatte, und dann mussten auf dos Königs
Wunsch die übrigen auw csciubMi Geistlichen ihre Psalmen und Ke-
sponsorien anstimmen Aul König Dagobert machte der Gesang
der Nonne Nanthüde wllhrend einer Vesper (sehr zum Widerspiele
dessen was die Kirche beabsichtigte) einen solcben Eindruck, dass er
sie aar Gattin begehrte >). Die frXnkischen SXnger hatten an dem
Psalm in exitu Isynel eine Weise, die den römischen Sttngem,
welclie im 8. nnd U. .lahrlmndert nach Frankreich kamen, so sehr ge-
fiel, (lass sie für diesen Psalm die gallische Singweise beibehielten.
Don echten Gregorianischen Gesang in's Prankenland zu versetzen
war erst Pipin beniiilit. Als Papst Stephan II. im Jahre 754 |»er-
sönlich nach Paris gekommen war, um von Pipin Hilfe gegen i\vn
Longobardenköuig Aistulf za erflehen, benutzte Pipin diese Gelegen-
heit, nm seinen Franken durch die GeisUichen im Gefolge desPapstes
den wahren römischen Gesang lehren an lassen, det sich auch rasch
verbreitete^), aber, wie es scheint, nicht überall gehörig vorgetragen
wurde, weil sich Pipin bemUssigt fand schon 758 bei Stephan's
Nachfolger Papst Paul um Absendung geschickter Singlehrer anzu-
suchen. Der Papst sendete jenen Secundicerius Simeon, der aber
seinen mit den Geistüclieu des (naclnnnls lieilig gesprochenen) Bi-
schofs Kemigius angefangenen Unterricht unterbrechen musste, weil
er nach dem Tode des i'rlmicerius Georg zur Leitung der Singe-
schnle nach Born aurilckgemfen wurde. Jetat schickten Pipin und
Kemigius Mönche nach Rom selbst, um dort den Gesang an Ort und
Stelle zu erlernen. Der Papst entschuldigte in einem Briefe an
Pipin die Abberufung Simeon*s und versprach fHr gründliche Aus-
bildung der angekommenen Mönche zu sorgen*).
Der galHknnische Gesang verbreitete sich von Frankreich ans
nach Spanien; das vierte Toletanische Oomil, das unter Vorsitz
des selbst als Musikschriftsteller bekannten heil. Isidorus iüspalensis
1) Gregor von Tours erzahlt die Sache als Aogenzonge: BiiaL Fnuoo-
rum VIU.
S) Gerbert a. a. O. Forkel (Gesch. d. Mos. 9. Bd. S. 107.) macht dazu die
gute Bemerkuiig-, dass bei einem Kruiifr wio Dagoliort, der ohnehin mehrere
Gemahlinnen hatte, das £ntzüuken gerade keine Biirgschafl für die Vortreff-
Uchkeit von Nanthädcn's Gesang zu sein braucht.
8) So erzählt Walafrid Strabo die Saclie. Nach Sigebert hätte schonsur
Zeit des Pii|)stes Zacharias im Jahre Tfil Pipin eine solche Vcrnn^taUunir t?o-
tro£Ceu. Fipinua, rex GaUiarum, ecclesias cantibus romanae aucturitatis suo
studio meßoravit (rergL Geibert a. a. O. S. 966).
4) Der Aief de« Pnpstes findet sich in Grctser's Codex Carolinas, in
Dnchesne's Script, bist. Frunc, bei Gerbert, De canta Bd. 1 S. 267 und bei
Forkel, Gesch. d. Mos. 2. Bd. S. 206.
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d2 Die Anftoge der eoropftiacih-AbeiidliiidiMhen Mnsik,
stattgefunden haben loll; ▼erordnete, duB der Oeseag in gldeher
Art wie in Gallien, anch in Spanien in feierlicher Weise statt*
finden solle i).
Deutschland lag zur Zeit Gregorys des Grossen noch tief in der
Nacht des Heidenthums begraben. Von England und Irland her
kamen die profHprpnflen Sendboten dos Evan«rt'linins Columbanus,
Gallus, di'r (iründor des nachmals so berühmten Klosters St. Gallen,
Willibrord und Winfrid, genannt Bonifacius, der Apostel der
Deutschen. Bonifacius stiftete in Deutschland an den Bischof-
sitzen nach römischem Muster Gosangschulen, im Jahre 744 an
Falda, hemach in ISehstItt nnd Wttrabnrg. Die Unterwerfiing
nnd Bekehrung der Sachsen geschah erst dnrch Karl den Ghrossen.
Er war es anch der das Werk, dem Gregorianischen Gesänge all-
gemeine Geltung zu verschaffen, vollendete; aber auch ihm gelang
es erst nach unendlicher Mühe, Absendung von Schülern nach Rom,
Herbeiholunf]: von Lehrern und rastloser persönlicher Bemühung.
Es lag darin eben so viel politische Klugheit als Frömmigkeit, und
eben so viele Frömmigkeit als politische Klugheit. Der gleichartige
kirchliche Ritus, zu dem auch der Gesang gehörte, war ein ge-
waltiges, vielleicht das einiige wirksame Gnltorband ftr die an
Sprache nnd Sitten Terschiedenen YHlker, welche sieh der trttben
Htidenwelt gegenüber zum christlichen Grossrctche dnigen sollten*
jDie Zeit der Karolinger. Die Sangerschule von Metz und 8t. Gallen«
Die Sequenzen und Tropen. Das Organum.
Die Zeit Karls des Grossen nnd seiner Nachfolger, der Karo-
linger, schliesst in der Welt- wie in der Kunstgeschichte die erste
•rrosse Kpoche ah nnd leitet eine neue ein. Der gewaltige Ileld, dem
Papst Leo III. am Weihnachtsfeste des Jahres 800 in der Peterskirche
zu Rom die römische Kaiserkrone auf das Haupt setzte, wurde
mit Schwert und Scepter der Pförtner, der die Thore dieser neuen
Zeit erOflhete. Hit diesen Z^ten treten an die Stelle der durch-
einander flnctnirenden VolkssUtmme allmHig festbegrinste eon-
sistente Staaten, die AbhSngigkcit von der antiken klassischen Bil-
dung hört in dem Masse auf, als die neue, romantische erstarkt,
nnd das Mittelalter erhält jene ihm eigenthilmliche Gestaltung, die
erst sieben Jahrhunderte später vor neuen Ideen und Lebensformen
au wanken be<j^innt und endlich zusammenbricht.
Was Karl der Grosse filr Unterricht und Bildung und insbe-
sondere auch für Kunst und Wissenschaft gethau, ist allbekannt.
Das Streben, dass sich in einem Vereine geistvoller Menschen Öfter
1) Darüber sehe man Gerbsri, De eaniu 1. Bd. S. 200,
uiyui^uu Ly Google
jSeti der Karolinger. SttQgen<diiüesaMeisiL8i.0«]l«ii. Orgwram. 93
zeigt, Yor den kleinlichen VerdrieBslichkeiten des Alltaglebcns in
eine ideale Welt, In eine Bepnblik des Geistes ra entfliehen, wo
äcb eben der Geist nnbeiirt seines eigenen Lebens freuen mag,
scbnf an KarPs Hofe jenen Verein, wo Karl selbst David biess,
Einhard Calliopens, Angilbert Homer, Alcuin Flacens. Es
war ein Leben voll geweckter Kräfte, recht im (ioj^ensatzc zu dem
geistig todten Despotenthum vonByzanz. An der llofschule lehrte,
wie Alcuin in einem hcBchreibenden Gedichte er/;\lilt. der Lector
Sulpicius die Knaben nach sichern Accenten mit lieldiclier Stiiiinie
singen, der Tonkunst Numerus, Khythmus und FU»»c Nicht
umsonst hatte sieb Karl den Namen des frommen königlichen
Bingers David gewSblt. Er war ein Freund des Gesanges, des
Heldengesanges wie des kireblicben. An seinem Hofe hielt er Ge-
sangübungen, die er nach dem Beispiele Gregor's mit seinem Stabe
selbst leitete und damit dengenigen winkte, der sieb vor den Andern
hören lassen sollte; und kam etwa ein fremder f Jcistlicber zu Hofe,
der nicht singen konnte, so war tür den (Jast kein Ausweg, als
dass er im Chore stehend, ohne einen Laut hören zu lassen, wenig-
stens die Grimassen eines bingenden nachalunte, bis der dadurch
nicht wenig ergötzte Kaiser den armen Figuranten von seiner
Angst erlöste. Für den Kircbengesang war Karl eifriger besorgt als
einer sdner Vorfahren ; in der gamen Welt sollte Gottes Lob in völlig
g^eieben Weisen ertönen. Daher des Kaisers Eifer Oberall mit Bo'
seitignng jeder abweichenden Singweise denGregorianisehen Gesang
einzuftihren , was insbesondere durch eigene Befehle und durch
Schlüsse der Prf»vinzialt'oncilien (803 zu Aarhen, 805 zu Thionville)
streng eingesciiärtt wurde **). Karl bemerkte mit MisHvergniigen «leu
trotz der Bemühungen seines Vaters Pipin nicht beseitigten Unter-
schied zwischen dem gallischen und römischen Gesänge. Schon im
Jabre 774 sendete er, nach Sigebert*s Erzühlung, zwei Kleriker
nach Rom, um dort den „autbentiscben Gesang** von den Römern
an lernen^. Abenteuerlicher klingt der Beriebt des Mönches von
St. Gallen: Karl habe, um den Abweiehnngcn im Gesänge tin
Ende zu machen, vom Papste Stephan die Absendung von Sängern
erbeten, und es habe der Pa[)8t nach der Zahl der zwölf Apostel
KWÖlf SSnger in's Frankenland geschickt. "VVie nun abcu* Griechen
und Römer auf den Glanz der Franken neidisch waren, hätten sie
1) Candida Su I [ i t i 1 1 s post te trabit agniina leetor,
Ut ff'trnt et (lo( cat ccrtis ne n<'centibuB errent,
Xustituit pueroB Iditliun modulaniinc sancto u. 8. w.
9) Aachner Cap. v.J. 789 No. 80 : Monachi vteantumBomamm pleniter
et ordinabilitcr per iioctumale vol gratlulc ot'fu iTiin peragant,8pcnii(liiui (juod
beatae memoriae genitor noster Pipinun rex decertavit, ut ficrct, quando
Gallicanum cantnm hUitobunanui^tmapo»tolicae$edi8 etS.JJei ecdeaiae
paci/icam ronrai diam,
d) äigebert ad. amL 774
Digitizoa Ly Li(.)0^le
94 Die AnitUige der eaiopftiaoh«abepdltodi»oben Miuik
unter einander Badi geflogen, wie wkt e» dalmi bringen könnten,
dass dort nimmer eine Einheit des Gesanges isiiuU verde. Von
Karl ehrenvoll empfangen und an die vorzüglichsten Orte gesen-
det, habe nun jeder an seinem Orte so schlecht tiiid so verdoiv
hfii wie möglich gesungen und in soh'her Weise den Gesang ge-
K'lirt. Als aber Karl das Woilinaolitsfost zu Tric^r und Metz und
im foli^^rndou Jaliic zu Paris und Tours feierte, Jiabe er ganz
vi'r?>( lii(Ml( iie (ü'sänge zu hören bekommen und sich gegen Papst
Leu beklagt, der die Schuldigen zurückrief und tlieils mit Ver-
bannung, theils mit ewigem Kerker bestrafte. Aus Besorgniss,
dass andere abgesendete SXnger mit gleicher Unredlichkeit ver-
fahren könnten, habe der Papst sidi mit Karl dabin verstKndigt,
dass vielmehr zwei fränkisclie Kleriker nach Kom kamen, WO sie
unter des Papstes Aufsicht den wabren Gesang erlernten. — Als
Kern von bistoriscbem Gehalte wird dabei wirklieh nicht mehr
gelten können, als eben nur was der einfaebe Bericht Sigebert's
enthalt; das Uebrigo ist ganz unverkennbar sagenbafte Zuthat.
Wieder anders t'asst der Mönch von Augouleme (Mouachus Engolis-
mensis) die Begebenheit: „Es entstand während des Osterfestes ein
Streit swiscben den römischen und fränkischen SXngem. Die
Gallier rtthmten sich besser und schöner an singen als die Bömer.
Dagegen behaupteten die R^mer, dass sie die Geslinge in rechter
Weise vortrügen, wie sie solche vom heil. Papste Gbegor gelernt;
der Gesang der Gallier sei verdorben, da sie die gesunde Cantilene
völlig zerrissen. Der Streit wurde vor den König, Herrn Karl, ge-
braolit; wobei die galliscben Sänger, weil sie sich auf" ihn verlassen
zu können glaubten, nicht wenig Uber die Kömer loszogen. Diu
Römer, stols auf ihre Überlieferte Weise, nannten ihre Gegner
Thoren und rohe Bauern, deren Tölpelei nut der Lehre St Gregorys
gar nicht in Vergleich kommen d&fe. Und weil nun des Streites
kein Ende war, sagte der fromme König Herr Karl sn seinen
SXngem: Saget selbst, welches Wasser reiner ist: eines, welches
aus der lebendigen Quelle entsjiringt, oderwelcbes bereits im Bäch-
lein einen weiten Weg gemacht hatV Da nun Alle einstimmig riefen,
der Quell als llaupt und Ursprung des (ranzen sei reiner, das liäch-
lein aber werde um desto unreiner und getrübter, je weiter es sicli
von der Quelle entferne, erwiderte König Karl: So kehrt zurück
cur Quelle St Gregorys, da augenscheinlidi ihr den Kircheugesang
verdorben habt Bald darnach erbat sieh König Karl vom Papst
Adrian Sitnger, welche in Frankreich den Gesang verbessern
könnten. Dieser gab ihm die sehr gelehrten, von St. Gregor unter-
richteten Sänger Theodor und Benedikt, und schenkte ihm das
Atitiphonar St. Gregorys, das dieser selbst in römischen Noten auf-
gesetzt hatte; der König, Herr Karl, sendete aber nach seiner
Kiickkehi- den einen Sänger nach Metz, den andern nach Soissons,
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Zeit der Karolinger. SftiigerBohiilesaMetsa.9t.Qallen. Orgamim. 95
und ordnete an, daas alle Meister der fränkischen Siugeächolen
ihnen die Antiphonare zur Yerbesiflning mwimtm nnd von ihnen
singen lernten. Jefast wurden die Aatifhunuare, die Jeder wie er
wollte dnrch Zusätze oder Anslaasnngen entstellt hatte, verbessert,
und alle fränkischen Sänger lernten die römische Nota-
tion, welche jetzt französische Note (rwta Francisco) heisst,
ausser dass die Franken die Trennilns und Vinnnlas, die gebun-
denen und getrennten Noten {collibihiirs vcl scrahilefi voces) im (Je-
sange nicht recht herausbrachten und die 'l'öue eher n>h in der
Kehle brachen. Die beste Meisterschaft des Gesanges verblieb bei
MetB, nnd so hoch der Gesang sn Rom den Gesang von Mets ttber-
trüft, so weit geht Mets den tthrigen frinkischen Singsehnlen vor.
Gleiehermassen unterrichteten die rSmiechen Sttnger jene oben-
erwiClinten frfinkischen Banger in der Kunst des Organisirens (in
arte organandi).*^ Die zwei Sänger Theodor und Benedict kön-
nen unmöglich vom heil. Gregor unterrichtet worden sein: sie hh'tten
nothwendig an zweihundert Jahre alt sein müssen. Dnss der Mönch
von Angoul^me diesen sogenannten Tlieodor und lienodict in
Verbindung mit dem au Karl gesendeten Antiphouar setzt, zeigt
sweifellos, dass er dieselben swei Sendboten meint, von denen der
besser nnterriebtete Ekkehard von St. Gallen, dessen EMhlnng dnrch
das noch vorhandene Antiphonar beglaubigt wird, nnter den mntb-
masslicb richtigen Namen Petrus und Romanus erzKhlt. Von
diesen kam der Eine wirklich nach Metz, nnd da zu Soissons die
zweitberühmtc Schule, und Romanus ursprünglich wohl wirklich
dahin bestimmt war, so ist der Irrthnm des Mönches von Angoulemo,
als habe der andere Sänger in Soissons gelehrt, erklärlich. Ganz
richtig wird es sein, dass die zwei Lelirer neheu dem Gesänge auch
den Gebranch der Neumen lehrten ; beide Unterriditsgegenst&nde
waren nicht wohl m trennen. So kam die Nenmensohrift vielmehr
von Rom in die nördlichen LXnder als umgekehrt Wllig ans der
Luft gegriffen scheint die Erzählung des Mönchs von St. Gallen,
dass sich Karl, während Griechen im AadinerDom ihre Matutiu«' in
ihrer Sprache sangen, lieimlidi dort oinscliliessen liess, die fremdi-n
Sänger behorchte uiul davon so entzückt wurde, dass er seineu
Geistlichen verbot eher etwas zu essen, ehe sie ilim nicht diese Ge-
sänge in s Lateinische Ubersetzt vorlegten. Diese Erzählung hat Alles
gegen sich, von dem horchenden Kaiser an bis zu dem Tyrannen-
stttck seines Befehls an seine Geistlichen, bei dem sie, die vom
Griechischen schwerlich viel verstanden, hätten verhungern können.
Und wie hätte Karl, der Vorkämpfer römiscIuMi Gesanges, plötzlich
eine solche Inconsequenz begehen sollen! Wenig glaublicher ist
der Bericlit des Aurelius I^eomensis, dass Karl fiir jene Antiphonen,
die sich in keine der Kirchentöne «'iureihcn Hessen, vier neue
Tonarten beizufügen befohlen habe, welche man Annano, Noeano,
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96
Die An&nge der eoropftüch-abendlftndiacheD Mmik.
Nonnanoeaae und (nochmals) Noeane nannte, und wdl die GriecBen
es auf acht Tonarten gehradit, habe Karl die Zwdlftahl eireichen
wollen. Die Griechen hitton jetit ihrerseits aneh vier neue Töne
erdacht: Neno, Teneaiio, Noneano und Annoanes. Biese Sylben
sind nichts als Solfofrprfornu'hi tiiid es verlautet nichts weiter von
zwölf Tonarten, dio Karl 8c li<»n ans lOhrfnrc ht vor den acht Kirchen*
tönen St. (irc^ni's kinnn m iirdc lia]»(>ii ^"-«'Iti-n lassen.
Als Kesnltat aller Eiuzelljcrichte wird man gelten lassen
dttrfen, dass Karl in seiner Borge für Einheit des Kitus einige
frXnkische Geistliche snm Erlemen des Gregoriaaischen Gesanges
nach Born schickte nnd, alt sieh diese Massregel im Laufe von nn-
geföhr fünfzehn Jahren unzulänglich erwies, die Absendung r9mi*
scher Singlehrer nach Frankreich vom Papste erwirkte. Auch der
Streit der fränkischen und der römischen Sänger und Karl's Eni-
selieidunp^ wird flir eine historische Thatsache angenommen wer-
den können, so wie der Umstand, dass der zierliche Gesang der
Römer von den Franken nur roh nachgeahmt und hier zum wirk-
lichen cantm planus wurde. Jene zwei Schulen von Metz und
Soissons bildeten die beiden heimischen Pflanzstitten des Kirchen»
gesanges, besonders stand Heta im grOsston Ansehen. Die cottfitt
MeUentes galten Hir die trcfflichstout wie denn das deutsche Wort
tti tif^esang" und „Mt^'^te*' beweist, wieweit ihr Einfluss reichte^
In England genoss ähnlichen Rufes das vom Bischof Benedict von
York frestifltetc Kloster Wcreniouth, wcdiin der Stifter (der selbst
nicht \M iii}:t'r als l'Unlnial in Rom jrew» >('ii war) im .Tahr678 eipends
römisclit' Säiiixer k(inimen liess. In Frankreicli wurden n« lieii den
beiden llauptschulcu von Metz und SoisMons auch in Orleans, Seus,
Toni, Dijon, Cambrai, Paris und Lyon Schulen dngerichtet, letztere
vom Erzbischof Leidmdus, der sich gegen Karl rflhmte, daas «na
seiner Schule Singer hervorgingen, die wieder andere an nnter-
riditen vermochten. Aber alle Bemühungen Karl's reichten nicht hin
die von ihm erstrebte Kinlieit des Kirchengesanges ganz ausnahnf-
lo8 dunliznlViliren. Iii Mailand blieben gewisse gallicanische Melo-
dien unter (b in Namen vn'lo(Ji(ic fravciijcnae in Uebung^) und im
Kloster Glasttuiliui-}- in Knjrlaiid kam es im Anfang des 11. Jahr-
hunderts sogar zu blutigen Auftritten, weil ein gewisser Münch
Turstin aus Caen in der Kormandie, den Wilhelm der Eroberer zum
1) .. .alterum (Clpriciim) vero (Carolu6M.){»».'toiitf filin MioMrtcusi epis-
copo ad ipsam direxit eculesiam cuius industria nun solum nt ooüem loco
pollere, ted et per totamFranciam in tantum eoe])it iir(>]>:igari, ut nunc nsqne
apud eo8, qui in bis rrpionibus Latino seraioiu' utuntur, ccrlesiastica canti-
Icna dicatur Metotsis. Apud nos auteia, qui Theutonica sivf Tcutisca Hncrtia
loquimur aut \ i-mm-Ml», Mett aui Mette vel secuudum Graecam derivationcm
usitato v ocabulo Metisca dicatur (De eod. oura Gar. iL 10 und U, aus dem
Mönche V. St. (iallrni.
8) f aricelli, mon. basil. Ambros.
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Zeit der Karolinger. SäiigerschulezuMetzu.St.Cialleii. Organum. 97
Abte jenes Klonters ernannt hatte, die Mönche swang, den von den
Sehtilem des heii. Gregor erlernten Gesang p:cg:eii einen ganz andern
zu vertauschen, den sie von Fl andrem und NormSnnem erlernen
sollten *\ Eine bedeutenfle Blüte peistijrer Poesie und «reistlichen
rfesanr^es ^^erstere in der .Si)raclie der Kirclio, latrinisili, letzterer
in der Weise des Gregorianisch en) entwicki-lt»' ^ich aber in dem
Kloster von St. Gallon, welches, au den gewaltigen Grenzge-
birgen, welche Deutschland von Italien trennen, nach der deutschen
Seite an gelegen, flberbaupt eine der wi chtigsten CnltnrstXtten jener
Zeit war nnd eine Reihe ausgeamc hneter MSnner zu den Seinen
zählt. Von dort aus spannten sich die Cultnrfjidej) nach anderen
ähnlichen Stiftungen hin: nach FiiMa, wo der bertlhmte Hrabanus
Maurus lebte und lehrte, nach 1\ <■ i c Ii o ii an n. s. w. Von diesen
Stütten aus drang Tjicht und Sitte in die unwirililic heu Felsen\vii>tt'u
Ilelvetien's, in die Xacht der deiitsclien Wäbler; Wissenschaften
und Künste fanden hier ein Asyl vor dem l)rängen der entfesbelten
KrXfte, welche damals, wo sich die Welt neu gestaltete, in wildem
Kampfe ansammentiafen. Daher denn auch die deutschen Heirscher
ans dem Karoling^schen, firXnkischen nnd süchsischen Hanse, wenn
sie zwischen den Tagen ihrer Kltmpfe nnd Regentensorgen Mo-
mente aufathraender Müsse gemessen wollten, sich gerne in eines
dieser Klöster begaben und St. Gallen insbesondere durcli den Be-
such Konrad's des Franken, des grossen Otto n. s. w. ertVeut wurde.
Hier sprossten die von Ko m an u s gelegten Keime bald lebenskräftig
auf, der Gregorianische Gesang fand hier diu sorgsamste l*Hege.
In ebenso warmer als wahrer Schilderung sagt Anselm Schu-
biger, dem wir eine gründliche Darste llnng des Wirkens der Sfinger-
schule von St. Gallen verdanken: , ,Da ertönten nun alltitglich in
mannigfacher und gmiau geordneter Abwechslung die ehrwilrdigen
Weisen der alten Psalmodio, da oröiTnete in mitternJCchtlicher Stunde
der Foierklang des Tnvitatoriums Venite CTnltemus Domino den
Dienst der Xachtvigilien; da wechselten die ansgedelinten , fast
trauernden Melodien der Responsorien mit clem einförmigen Vor-
trage der Lectionen; da widerhallten in d en Käiimen des Tempels an
Sonn- und Festtagen als Schluss des nächtlichen Gottesdienstes die
eriiebenden Klinge des Ambrosianischen Lobgesangs; da begannen
mit der au&teigenden Horgenröthe die GesKnge des Morgenlobs
(maiHtim laus) aus Psalmen und Antiphonen, Hymnen nnd Ge-
beten bestehend; ihnen folgten in abgemessener Unterbrechung die
übrigen canonischen Tag/eiten ; da ward das Volk täglich durcli den
Introitusgesang zur Theilnahme an d«rn lieilitr<'n Mysterien einge-
laden; da hörte es in lautloser Stille die um Erbarmung rufenden
l) Mabillon, Annal. Bencd. II. R3: Glastoni.io turbao ol» r :nitnni. Ich
denke, es waren wohl angelsächsische Möuelie, mit denen Xurstiu aui solche
Art einen Normannisirungsversuch vornahm.
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98 Auftlnge der europäisch - alicndlindisohen Musik.
Töne des Kyiie, erfreute sich an den Festtagm .iin Ct ^ange einst
von den Engeln ailgwtilllint ; da vcrnalim es boim Gradualedic Me-
lodien der St-quenzen, die in lioclijuhelnden "NVecliselchören die da-
nialigon Ft'.sttago verhciTÜc litcn, und d;ivmif die einfadion recitativ-
alinliclKMi Klänge des Synibohinis; da füliltc es sicli beim Sanftus
hingerissen in das Lob des Dreimalheiligen ein zustimmen und <lie
Erbarmung jenes göttlichen Lammes anzuflehen, das die Sünden der
Welt hinwegnimmt: das waren die GesIlDge, welche um die Mitte
des 9. Jahrhunderts in der Klosterldrehe St. Gallen*8 an fSratlichen
oder Ferialtagen in genau bestimmter Anfein anderfolge ertönten i)/*
In dem ans den Zeiten des Abtes Oozpert (816) herrührenden Plane
eines glänzenden Neubaues des Btiltes und der Kirche von St. fJallen
sind in letzterer vor der östlichen Chorapsis und in den beiden
Kreuzsehiffen die Stühle und Pulte (h-r Sänger (fonnulac < niüornm)
nicht vergessen^}. In St. Gallen war alles grossartig, vom Kirehen-
dienste und Gesänge an bis herab auf den Klosterbaekofcn, der, wie
sich der Bischof von Constans und Stiftsaht von St Gallen Salomo
gegen die schwäbischen Hensoge Erchanger und Bevthold rühmte,
angleich tausend Brote buk; dabei waren, was bemerkt werden
mnss, die Sitten im reichen Kloster die strengsten und die Yerpfle*
gung die einfachste, so dass es ein Festessen war, wenn frisches
Brot und geschälte Bohnen gereicht wurden 3).
Die Sängerschule aber, deren Kuhm, wie Ekkehard freudig er-
zählt, ,,von Meer zu Meer reichte", war die Nebenbuhlerin der von
Metz. Es war ein eifriger aber neidloser Wettstreit. Der Wechsel-
verkehr Bwisehen beiden Orten wnrde, wie es scheint, schon durch
die Reisegenossen Boman ns nnd Petrus begründet^); man sang
die Melodien des Letzteren in St. Gallen unter dem Namen „Meten»
ses**. Der Wechselverkehr dauerte fort, der als Wunder seiner Zeit ge-
priesene Mönch von St. Gallen Tuotilo wurde nach Metz berufen,
die dortige Kirche mit Schnita- und Bildwerk ausauaieren, nnd der
1) P. Anselm Schubiger. Die Siingcrschule iSt. Galleu's vom achten
bis zwölften Jahrhundert. Einsicdcln und New-Yoik 1868. 8. 25.
2) Der Plan findet hidi in di r Kl()^t(•lbibliothck wn St Gallen. Fer-
dinand Keller )iat ilni iHil in Nachbildung herauigegeben. Siehe auch
Förstcr's Denkmale 3. Bd.
8) Bin HOnch bedauerte beim Besuche Koarad*s des Franken, dass er
nicht einen Tag j^iiütt r gckomnit n. wo er die genannten Gerichte gefunden
hätte. Auch in i'ulda, wo nach Trithemius' Chrouicon Uirsaugienso zur
Zeit des Hrabanus 270 MOnche lebten, herrschte gleiche Frugalität. In dem
Leben desHraban Maurus sagt der gL dachte Autor: Panis eornm eribrariu?
etat et rusticus, fabae, pisa vi liolera cibus, aqua vel ccrevisia jiotus. Er
hält es der Entartung und Schvvclgerei iu den Klöstern seiner Zeit strafend
entgegen.
4) . . dein utcrque (nftmlich Potins nml Rnninrius> fnma volmitc, studium
alter a1tcriu8 cum audisBct aemulabatur, pro laude et gloria naturali ffentis
uac :<morc ut alterum transsccndcrct (fchlteliard IV. De casib. St Galli.)
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Zeit der Karolinger. Singerschule zu Metz a. St Gallen. Organum. 99
Ersbischof Baodbert von Metz wendete sich an Notker Balbalusvon
St Gallen wegen Verfassung einiger Hymnen an Ehren des beil.
Erstmärtyrers Steplianus. Aueh mit Fulda, wo ein Schüler Hraban
MaiiruH' der Mönch Johannes^), ein Ostfrankc von Geburt, als
der Erste prenannt wird, der in Dcutscliland Kirclicnj^esänge nach
viMstliicdtMion Afodulntionen eninponirte, trat das Kloster von St.
Gallen in Veri)in<hni;j:; ein anderer Scliiiler des llraliamis, Namens
Werenibert 2), trat in das Kloster von St. Galleu ein; besonders
aber zeichnete sich dort ein Irländer Marcellus (ursprünglich
hies er Möngal) als Lehrer der Musik aus, der im Vereine mit
dem Vorsteher der inneren Klosterschnle Iso (starb 871) drei viel-
bewunderte, auch in Diehtong und Münk ausgezeichnete Schiller
bildete: jenen schon genannten Tu otilo (starb 015), einen viel-
seitigen Künstler, Bildschnitzer, Maler, Baumeister, Vergolder,
(dazu war er auch ein heldenhafter Kecke, so dass einst Käuber,
die ihn im Walde antielen, blos vor seinem sprühenden Blicke
und seiner f^eballten Faust zurückwichen^ den Notker Balbu-
lus, aus Ileiligöwe (Sacer pagm) gebürtig, den Karolingern bluts-
verwandt, eine feine Dichterseele, in welcher jede Süssere bedeu-
tendere Anregung sofort in Dichtung und Gesang nacht5nte; und
Katpert (starb um 900), einem adeligen Geschlechte aus Zürich
entstammend, einen der ältesten deutschen Dichter, «lessen Galluslied
das Volk über ein Jahrhundert lang mit Vorliebe sang und von
dessen Geschicklichkeit als Musiker der (Jesauir 7?rr snvriornm
iiiKjelorum Zeugniss gibt. Katpert wurde stdbst wieder ein tüch-
tiger Lehrer, der zahlreiche Schüler bildete. In der nächsten Folge-
zeit lebten: ILartuiann, seit 'J20 Abt, ein sorgsamer Ptieger des
Gregorianischen Gesanges^); Notker Physicus (starb 981), von
dem das Othmarlied herrührt^); Notker Labeo (starb 1022),
der Verfasser des ICltesten Buches Uber Musik in deutscher Sprachest),
1) Joannes, Monachus Fuldeiisis, patriu Fnuieus orientali-^, poeta et
mosiCDS, qui ctplorasoripHit * t oantunieceleüiasticum pn'nuis a)>ii(l (ici nianos
varia modulatinne composiiit (Tritlicrnius, in vita Rlial»ani Maui i I. H«! S. l.'J.
Dies« Lebensbeschreibung tinUct sieh nicht unter den gesammclteu Werkcu
des Trithemins, sondern ist der Ausgabe der Schriften des HrabanusMaaros,
COln 1626, vorgedruckt).
2) Werenbertu'^, i'liilosophus clarng, pocta insignis, graeci sermonis non
i^rnarxi»; hymnos etiani et cautus in honorem domini nostri Jesu Christi et
Sunctonim varios composuit (TritiiMn. Cstalogus illustrium virorum S. 128).
'rrithriuiiis braucht (lau Wcirt coinjionon' zuweib'ii (z. B. S. 157 bei Joannes
Zacharias de Erfordia) auch zur Bczcichuuug der Arbeit des Schriftstellers,
doch Ofter(B.B.beiFranco,Bi8chofvonLQtti<m,HemannnsGontractQsti. s.w.)
far musikalisebc Cuniposit ion : Franco — rcsponsoria in honorem Sanctomm
dvJUi et reyulari melodia cumposuil n. s. w.
3) Hartmaniuis abbas — maxiiuu autem uuthenticum Antiphouarium do«
cere et niclodias romano more teuere sollioitas (Ekkehard IV. a. a. O.).
4) Bei Schubiger No. 11.
5) Es findet sich iu Gcrbcrt's Scriptorcs 1. Bd. S. l'G— 1,02 und hat vier
7*
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100
Dio Anfänge der europäisch -aboutllandischcn Mnnik.
Lehrer rles I.afciuiselien, Griechischen und Deutschen, rlor Astro-
nomie, Matlieinatik und Musik, sr>wie sein Seliiiler Ekk eli ard IV.
(Htarb lOHG), der Ilistorio^raph des Klosters, dabei Sanier und Ge-
san«rle]irer, der noeli als alter Mann die Frrudc erlebte, dass, als
er zu lugelbeim beim Osterfeste 1030 in des Kaisera Kourad II.
Gegenwart im Chore zur Leitung der Musik die Hand erhob, sich
plOtstidi drei Bischttfe, seine ehemaligen Schüler, neben ihn stellten
nnd mit ihm sangen. Der Greis weinte yor Frendea, gerieth aber
in bescheidene Verlegenheit, als er nach geendetem Gesanf;« von
Kuser und Kaiserin mit Ehren;j^aben aasgezeichnet wurde, wie er
uns selbst mit licben8wUrdit;:er Treuherzigkeit erzählt, ,, nicht aus
Eittdkcit" saiTt er ,, sondern zu Ehren der Wissenschaft und Diseiplin
unseres Klosters^' 1). Er wurde V(mi Erzbiseliofe Aribo nach Mainz
berufen, um <lie dorti;;e Sän^erseliulc zu leiten, sowie früher schon
Iso nach Granval im Jura berufen worden war, und so sehen wir,
wie die Bildung die von St Gallen ausging, auch an weit entfernten
Orten Wuisel schlug. Der mnsikaliscbe Sclixiftsteller nnd Oom-
ponist des Meinradusliedes ^ Berno, Abt an Reichenau (Bemo
Augiensis, 1008 Abt, starb 1048), dankte sein Wissen den Klöstern
zu Prüm in der l'ilVl und zu St. Gallen, und der berühmte, gleich-
falls dem Klosti r Reichenau anfrebörigc Hermannus Contractus
(ans dem (trafeuliaus*' von Vehrinfj^en, geb. 1013, st. 1054) kam
schon als si(dieniahri;z«'v Kiialtc naeh St. Gallen, wo er eine fn'"'*^-
lichc musikalische liildung erhielt, so duss auch er uicht alleiu
theoretische Sdiriften, sondern anch geistliehe Gesänge, in Wort
Kapito] ; Dr> orte touis, de ietnudiordis, de octo modis, de
larum orpfauicaruin.
1) Ekkehard V. in vita Notkeri.
2) Bei Sohubiger No. 45. Der An&ug ist (Cod. Einsidl. 23.):
rr-i § * <y 0 -. -aqr
Sauc-to
Me
giu - ra - de
no
stnm
ds - -
m
spe - ei
a -
le.
Die musikalischen Schriitcu Beruu's tiudun sich im 2. Bde. 4er Gerbert'schea
Scriptores.
Digiti.; r
2eii der Karolinger. SängenchuleraifetsQ.Si.6alle]i. Orgtnum. lOl
und Diehtnng «nsgeteiclmet, wie die Seqtmtia de Onicß ond
die SequenHa m retmreeHone Dmini „Bexregum** hinterlessen hat>).
l>ie Bingweiae Ton St Gallen war IHr jeden Diebter und Compo-
nisten geistlicliw GesXnge in ganz Deutsclilnnd muBtergiltig. So
dichtete und componirte Wipo, Hofcaplan dos Kaisers Konrad II.,
die schöne Osterseqnenz Vicfimae j^iOsdiaU /(/?/'/r9 p-nnz nach dem
Vorbilde ahnliilier Arbeiten aus dem Kloster von St. (Jallen; C8 ist
eine jener Sequenzen, die von der Kirche oCficielle Anerkennung
gefunden haben, wozu vielleicht der Umstand beigetragen hat, dass
Wipo's GeflQurte Brnno (ans dem elsnsser Grafenhanse Egesheim)
nadunalt als Leo IX. den plipstlichen Stnhl bestieg. Leo IX.
(it 1054) war selbst Componist; es ist nocb ein ganses (nnisono
chormässig zu singendes) GloiHa von ihm erbalteni daa besonders
in seiner Exposition viel Schwungvolles hat:
(Cod. Etnsid1en«iB No. 1.)
Glo-ri »ain ex-OQl*o-aasDe--*o.
Ebenso setzte der Mönch Heinrieb {Henricus Monachus, es
ist nicht bekannt, welchem Kloster er angehörte, er muss noch
im 11. Jahrhundert gelebt bähen) eine Uarienbymne f^ve praedara
tnaris Stella** in der Weise der Notker'Bchen Sequenzen, nur dass
ihre Melodie etAvas Flüssigeres und weniger altertbUmliclic Strenge
hat; sie fand Bcbon bei Glareanus ibres musikalischen Gehaltes wegen
die wärmste Anerkenniinp:-). 1 1 einrieb's Schüler C« od escb al k erlebte,
•wie er selbst erziiblt, die Genugthuung, dass seine Setnu uzcn Codi
(intarrant und Laus tibi Christi '^) Tür Arbeiten des huchbelobten
Uermannus Oonti'actus genommen wurden, daher er sein Autorrecht
reelamirte*). Es herrschte ein wahrer Wetteifer unter der Geistlich-
keit. Wer Talent lum Dichten oder Componiren in sich verspürte,
bethlttigte es in irgend einer Sequens, wie denn die Gesünge des
Bischofs Guido von Auxerro (961), Kadbot von Utrecht
(917), der Aebte Johann ▼onMet8,Letaldvon8tMenin u.a.m.
1) Bei Schubiger No. 46 und 47. Hennanu's musikalische Schriften selio
man bei Gerbert a. a. O. Beksnntlieh war er auch ein berühmter Chronist,
(h m die Go8chic}itsc'lin il'iii;u ijrnsFCTi T^imk Fchnldicr ist Tritlirmni'^ (< ':itiil.
illustr. virorum S. Iii2) sagt von ihm: U>muo8 quoque ut cautua m huuorvui
Ba&ctorum duldssims moaulations multos oomposuit.
8)Ersagt(l>odecachordon8.17B): plosinnsici iugeuii ost> lulissevidetnr,
qnnm inprens alionim prrex <<excenties cantioiium planstriB. bie ist vollstiindig
uitgetheilt bei Schubigor No. 56.
8) Beide Melodien bei Schubifirer No. 57 a. 58.
4) Die Handsehrift, worin dit s jj, s«-liif ht, ist im Bemtse der k. k. Hof-
bibhothek lu Wien (Thcol. 6ö Saec. XI vel XII).
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102 Die Anfänge der earop&isch-abeadländischea Masik.
genannt werden. Selbst Kaiser Karl der Grosse soll sieh anf
diesem Felde versncht nnd Worte ond Weise des „vtiii Creator'*
erdacht Laben.
A nch die Instnimontalmnsik fnnd in den Klöstern ihre Pflege.
Tuotilo verstand sich auf alle Arten von Saiteninstrumenten und
Flöten und unterrichtete in der Beliaiullung der SaiteTnnstrumente
sogar junge Edelleute, wozu der Abt einen eigenen Ort anwies^).
Als Karl der Kahle 829 das Kloster Reichenau besuchte, kamen
ibm die MOnche mit rdich besetster Instmmentalmiink entgegen^.
Es ist bekannt, dass die Künste in den Zeiten der Karolinger
noch durchweg von antiken Reminiscenzen zehitaii, dass fIbentU
antike Motive, oft barbarisirt, oft aber aneh in überraschender
Reinheit durchblicken. Es wird genügen an die Klosterhalle von
Lorsch und von bildender Kunst an Tuotilo's berühmtes Diptychon
zu erinnern, das wir hier um so lieber nennen, da das Kunstleben
in St. Gallen jetzt dauernd unsere Aufmerksamkeit für sich in An-
spruch genommeu hat. Wie nun auf diesem nicht allein das Orna-
ment gans antiken Oesebmaekes ist, sondern unter den Figuren um
den thronenden Christas, hart neben den vier Evangelisten die
antiken Gestalten Tellns nnd Oeeanns, 8ol nnd Lnna anf-
ti-eten, wie man nhor sieht, dass ,, weder das Kunstvermögen zur
bildnerischen Durchbildung hinreichte, noch selbst das künstlerische
Bedürfniss nach dieser Seite hindrängte"^): so hat in üben-aschend
analoger Weise auch die Poesie der aus St. Gallen nnd den von
seiner Dichtun«rs\veise abhängigen Kliistem hervorgegangenen Ge-
sänge in ihrem Ideengauge, iu der Ausdrucksweise etwas Antikisirea-
des*), aber der Formensinn nnd demgemfiss die vollendet schöne me-
trisehe Form der antiken Diehtnngen fehlt Hitder Spraehe steht die
Singweise im innigen Zusammenhange. 8ie hat (natOrlieh doreii
das Medium des Gregorianischen Gesanges) auch noch eine Art
Nachhall der einfachen Grossartigkeit der antiken Mn8ik<^); man be-
1) Ekkehard in Casib. sagt: Mnsicat sicut etsocü ejus, sed in omni genere
fidium et fiatulamm prae omnibus, n«m et filiot nobfliom in looo ab Abbate
deitinato fidibos edocuit.
8) Im Begrftssongsß'edichte hei'^^t es:
Forte nahla tibiasque
Organum cum cyn^li$
Flatu qui(l(}iiid, ore polstt
Arte constat musica.
Das ist gewiss keine blosse Phrase. Diese Worte wtren eine ünsiemlichkeit
und Lücherlidikeit gewesen, wenn dieListromeate akht wirklich dasn ge-
tönt hätten.
3) Worte auu E. Förster's Beurtheilung dieses alten Kunstwerkes.
4) Z. B. in der Sequentia de St. Othmaro:
Hic velut öidns exiniiiim. ])lnfi(lii<? Den,
Inter fratemas caligiues rutilans micat.
6) Wenn dsr ScUuss von der aften Findamelodie nicht zu gewagt ist.
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Zeit der Karolinger. Sängerschule zu Metz u. 8t. Gallen Organum. 103
gegnet auch schönen melodischen Zttgen, aber daneben nicht wenigen
nngeschickton Taumclphrasen, gerade wie Christas auf d«n Dip-
tychon in antiker Weise feierlich erhaben thront, aber dazu unsäg-
lich plumpe Hände und Fiisse hat Es ist diese Melodik im
Grunde ecljter Grcj^orianiseher (iesauf^. Erdachten die geistlichen
SKnger ein<' ei<:ene Sin;jrweise, so ist es auch ganz natürlich, dass
ihr durch das Tag und Nadit tortgesetzte 8ingcn des Gregoriaui-
Bchcu Gesanges mit den Formen dieser Singweise erfülltes Ge-
dXchtniss anf ihre Erfindungskraft einen sehr wesentlichen Einfluss
ttbte und was sie erfanden den Charakter der gewohnten ritual-
mlssigen Intonation an «ich trug. Die Entstehung der Sequensen
und sogenannten Prosen ist übrigens eigenthündich genug. Vom
9. .Jaltrhundert au hatte man den Responsnrialpsalm des Graduals
auf einen einzigen Vers redncirt, dafür alier das zur Osterzeit ange-
hängte AUeliiJa zu langen N ucali^en ausgeschnörkclt und (vorzüglich
im Introitus und im (inidnal selbst) bei festlichem (iottesdienste
ganze Phrasen bald aus den Psalmen, bald sonst aus der heil. Schrift
eingeschaltet, welche omaturae, fareihurae (Fllllungen), versus tti-
tereaiares (Einschubverse), 2Vo/n (Kehrverse von vfinta und Tffonoe)
oder festwae Umdes, oder auch, wenn sie in ungebundener Rede
verfasst waren, Prosen (Prosae) genannt wurden. Der Fortsctzer
des Lebens der Päpste von Anastasius crzfihlt, wie Papst Adrian II.
(HCT — ?^72) anordnete, dass an llanptfesten nicht allein im Gloria
Einschalthymnen (hiptini ihfasfiftiti), die man Landes nennt, ge-
sungen werden s<dlen, soudern auch bei den DavidiscluMi Psalmen
des Introitus solle mau eingeschobene Lobgesänge i^ini>erta cUHttca)
absingen, welche die Rdmer fesiivas laudes, dieFnuiken aber Tropen
nennen. An Heiligenfesten schien es gans angemessen auf solche
Weise das Lob des Heiligen einsuschalten, s. B. Egidh psallat eodm
iste laetus AUeluia; daher die Benennungen: prosn de Mana Mag'
dalejia, de uativitate ß. Viryinis u. s.w. Man fing aber 'auch an den
Vocalisen des Allelnia Texte nnterzidegen, eben derlei Prosen, die
aber oft genug keim» Prosa waren, siMulern aus reimlosen oder aus
girreiujten Versen bestanden, oder zwischen frt'ier und gel)un(Iener
Rede standen, indem auf die einzelnen Absätze eine bestimmte An-
sahl von Sylben kam, die aber nach keinem nach Kürze und Länge
geordneten Metrum geregelt waren. Solche GesSnge nannte man
auch Seqnensen, entweder weil sie anf die dem Alleluja angehängten
Neumen (seqnenfes neumas) gesetzt waren, oder weil iliuen das
Evangelium folgte (seqiubatiir). Man suchte auf solche Weise in
1) Schubiger hat ganz liecht, wenn er Dichtung und Musik dieser ehr-
wfirdigen Denkmale alter Kunst und rdner Frömmigkeit sehfttst; doch, wQl
mir scheinen, überschätzt er sie etwas. Er schreibt ja auch die Aeusse-
runpen der BewunJeiiniff d. r ZeitGfonosscii über Tuotilo's Bildwerke, bei
dc'ucu man sogar au \\'un«leriiiüc dachte, als vollgütigc Zcuguisäc ab.
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104
Die Anfänge der europäisch -abendländischen Musik.
die WOltlog gewesenen Melismen wieder Bilm und Verstand so
bringen. Bei der Tcxtlegung solcher Gesänge galt die Regel, dass
auf jede einzelne Note eine Textsylbe kommen müsse. Notker
Halbulus erzählt, dass er von seinem Li'hrer Iso getadelt wurde,
weil er bei der Dichtung einiger S(M|nenzen gegen diese Kegel Ver-
stössen 1). Die Dichtung und Musik kamen jetzt zu einander in ein
ganz neues VerhiÜtiuBs. Die Colorirangen des Allelaia wmn rein
miisikalische, von keinen Textessylben bedingte Ei&idnngen. Ihnen
mnssten sich die hernach untergelegten Worte anbequenien, das
frühere Yerhältniss der beiden Künste wurde völlig Terkehit} denn
sonst hatte sich die MusiL durchaus der Wortdichtung anbequemen
mttssen. Im Ganzen nahm die Musik auf, was sie bei der Poesie
gelernt, Mass, Ordnung, geregelte Bewegung. So geschah es,
da^s die Sequenzen, welche sich den livmnen entgegenstellten
wie freie Naturpucsie der gebundenen Kunst[)ocsie, doch auch
einen regelmässigen an den Torbandenen Denkmalen bestimmt er-
kennbaren Zuschnitt erhielten. Es kam sogar Tor, dass man die
Arbeit des Musikers und Dichters so trennte, dass ersterer suweilen
eigene Melodien zu Sequenzen als Gefliss für künftige mannigfache,
darein einzutulb inle Worte erfand. In St. Gallen findet sich noch ein
Codex, welcher die lOntwürfe zii '11 Melodien des Notker Balbulus
in Xeunn'U ohne Text enthält, und es wird erzahlt, das Knarr» n
des Mühlrades in der Klosttirmülile haht* ihn einmal zu einer Melodie
{Saudi SjjÜ iliui adi>U nobis gratia) angeregt*), bei welcher der zum
Schlüsse eines jeden Verses wiederkehrende Tonfall
dem gehörten Geräusch nachgebildet wurde. Glarean drückt sich über
diese Sequenz fast bewundernd aus*), und alsinnocenz III. sie 1215
zu Horn hörte, fragte er den anwesenden Abt Ulrich von St. Gallen:
wer denn jener Notker sei und ob man si'inen dalirestag leiere;
und als der Abt es mit dem BeifUgen verneinte, es sei eben nur ein
einfacher Httnch gewesen, wurde Innocena unwillig: Ein solcher
Mann, yoU des heiligen GeisteSi sagte er, sei durchaus einer Oe-
dichtnissfeier werth, und die VemachlJtssigung werde dem Kloster
nicht aum Besten gereichen. Ein andermal sah Notker in einer .
1) Notker citirt Iso*s Wort: Singolae notae caatilenae singulas qrllabas
debent babure.
2) Er tagt im Dodecachoi^on: Habet haecproBamiram modeiti«m,innari»
rabilem gravitatcm, in qu:i <•] • i a« pretium est videre autoris ingeniom, quam
varins in uno modo invcnit tonnulap, qunru liniitibus modi coercitum exhi-
bucrit, quam eleganter verba uumcris accommodarit. Die Melodie sehe mau
bei Schubiger No. 33.
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Seit der KwoliDger. S&ngenchuleznMetiiu St. Gallen. Organom. 105
gnmeaTollen FelBenBcUaelit Arbiter an geflthrlielier Stelle mit dem
Bmen einer Brücke iMBchXfiigt; sogleich gestaltete sich ihm die
Sitnalion sa dem ergrdfendeo, naclnnals in Gefahren vom Volke so
oft angestimmten Qesang Tom Tode, dem wir mitten im Leben
angehören^);
Codes Si Oftll. Ko. 646.
Me-di - a
in mor - te
g j ^ I _p ^ ^^^^
mos, qnaem qoaa-ri - mm
ad • jn • • to-
3
m - - n
Do - mi-
1) Der Choral „Mitten wir im Leben sind" itl im Texte eine nem*
lieb treue Nadbbfldnng jener Sequenz ; in der dan gehörigen Choralweiso
klingt die Sequenzmelodie nur noch wie von f<mo an. Jacob Gallus hat die
Worte Notker's zu einer schönen Compusition iür zwei Chöre zu vier Stimmen
beantst, in welcher auch noch dieoriprllnglicheMelodiettellenweisedetttUdi
henrortritt Z. B. 1. Chor:
8ano-te
Bfan findet diese Motette in der von Hocblits herausgegebenen „Sammlong
vorzüglicher Gesangstücke*' 1. Bd. S. 54.
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106
Die Alling« der europäiich-abendländiaclien Musik.
I , I l ^^-J L I I J — F=j
te
te
spe-ra • ve
runt pa - tres
itrat pa - trat
tf> €h
QO
no
- stri 8ue - - ra - ve - runt et Ii -
• stri ela - • ma-ve • - > mutet
I iL"w>
be
non muit
Banote — — — —
— _ _ — — De -
8i
Sancte for^tis
•
ue
de ■
spi -
ci -
as
nos in
o
C <V <5» ■
tem
po -
re so-nec-ta
tu
-J^— , — --i — -i 1 \ — -l J - — J_jJ — 4St — 1
- — & — €* — lim
'* ^ ^ ä-^.—.
cum de - fe • ce - rit vir - tus no <■ • • stra,
3=1-
:g < g
ne de - re - liu
• • quas
nos
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Zcitdfir&arolingw. 8lagerMhiilesaM6tsa.St.6aUeii. Organum. 107
Ii:
— rj • —
Sancte
et mi - se • ri - con Sal-va-
tor
«•marae morti
ne
tra
das
Von den Molndien, welche Tuotil <» erfand, bemerkt Ekkehard,
ßie seien eigenthümlieh und sehr kenntlich; ,,denn", fii^t er bei,
,,Neumen, die nach Psalter und Rotte, worauf er besonders stark
war, erfunden sind, haben eine besondere Süssigkeit". Die An-
regung zum Compouiren durch das Spielen jener Instramente erwies
■idi uiTerkeDiibar deswegen nütilicli, weil die iaitmmental Torge-
tngene Melodie in sich einen mnsikalisehen Zusemmenhang haben
musste, wenn sie nieht als willkUrlicbes, sinnloses Spiel enoheinen
sollte. Tnotllo wendete sich nicht, wie Notker, vorzugsweise
den Sequenzen, sondern den Tropen sQ. Der Anfang eines solchen
Tropus ad Kjrie eleison ist folgender:
1, Kyrie.
\% J J J J r r
Tnotilo (Codex v. St Gallen Nr. 646.)
Om-ni • po-tensge- ni -tor De-os om*ni-imi cr»-a*tor.
B
8.
t
i J J ,
J J r ^ ^
-ri
1 — 4 — — ^ — j
Fons et o-ri-gobo-ni pi-e lox-qne per-en-nis.
lei-8(m.
i
f.
J J J
□
-ZI
CiL
8al > vi - fi • cet pi - e • tas tu • a noa bo - ne rec-tor.
•JDigitized by Google
108 Anßlage der earopä isch-abendländischen Musik.
B lei-M».
4. Christe.
pfit-j-J J J J ^ J J J j J J
Chriate De • i fw-ma vir-tna p« • tm- qne So - phi • a.
Diese Afelodie bef^laubifjt auffallend die Angabe Ekkehnrd's. Sie ist
in sich geschlussener, lebter als die andereu öt. Galler Singweisen,
insbesondere als die ilteieiiTonBomaiii» herrührenden; das Decla-
matorische derselben liegt weniger im eigentlichen Gange der
Melodie als in den bei jeder Strophe nteh der Deelamation der
Textesworte modificirten Aeeenten. Ihr Charakter ist bei alterthüm-
licher Einfalt feierlich.
Ein in den Seqnenzenmelodien öfter vorlcommender Melodie-
schritt ist, dass bei diatonisch aufsteipenden (i;inin'n der Ton, von
dem der llalbtonKcliritt aufwärts gebt, ausgelassen, folglich ein
Terzeusprung gemacht wird, z. 13.
Metenris minor von Fetms. Romana von Romanns.
Laude dig-uum canat Sanctum Jo^hannes Jo-ra. Chhsfeo.,. .
Letania ad bapt. in Sabb. S. v. Ratpert. Cignea von Notkor Talb.
Bex Saao-to • mm. Oaa • de Ma-ri • a.
Der ähnliche Schritt kommt aber atich im Oreporianischen Kirchen-
jrrs.uiji:«' nicht eben Kelten vor'), im üanzeu ist die Aehnlichkrit
der äei^ueu^mulüdie mit dem oflßciellen Ritualgesaug der Kirche
sehr gross. Sie sollten neben dem Ceremoniengesange der Kirche
eine Art Liedergesang ▼orstellen. Die eigene Weise der Gregoria-
nischen Intonationen suchen ne nun dem LiedmXssigen dadurch su
1) Z. B. im Gloria in excelsis für fest, dnpl., im IMnirinfirat des drilton
Kircheiituiieci, im Asperges nie, mi zweiten und dritten i'buiinentou u. ». w
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Zeit der Karolinger. SäDgerBcbulc zu Metz u. 8t. Gallen. Organum. 109
▼«rndtteln, dass, nieht durchgiDgig aber sehr hSafig, die einzelnen
Phrasen (Strophen, yeiBartigen Abschnitte) je zwei oder auch noch
mehr, nach derselben Melodie gesangen werdiMi. Die erste Strophe,
die letzte, auch wohl einzelne in Mitten haben insgemein eine
ei^rfiie, nicbt wiederholto ^lelodie. Das Motiv der ersten Strophe
klin^ zuweilen in den Mittclsfroplien an; die Öchltissstroplie liejüct
gegen die erste öfter in einer liöhern, helleren, froher klinj^enden
Tonlage. Da wir nun wissen, dass die Strophen von zwei Chören
im Wechseigesange vorgetragen wurden, so muss diese antwortende
Wiederholnng von gnter Wirkung gewesen sein, besonders aber
wenn der sweite Chor ans den hellen, hohen Stimmen der Kloster-
Schüler bestand, während das Zusainmensii^^^cn bei den nicht wieder-
holten u. 8. w. Strophen im Vollklange aller Stimmen gewiss eine
doppelt feierliche Wirkunp: hervorbrachte. Mitunter ist die Anord-
nung^ vollst.'indifr licdniässip, wie in dem Othmaruslied des Notker
Physicus. Die Worte der Dichtung sind hier metrisch in einer dem
Sappbischen Metrum nachgebildeten Weise geordnet:
Rector aetemi
Metnende Sedi
Autor et sommae
Bonitatis ipae
Qoas tibi laades
Ferimus Canentcs
Accipc Clemens.
Hier wird nun jede der sieben geschlossenen Strophen (niclit der
sieben V<-rsc des Metrums) nach einer stetö wiederkehrenden Me-
lodie gesungen:
(BT
2. Fe - sta qnae sano*tis
ib/<|iii' pa-trom nor-mas
00 - Ii - muB tro
1 - mi-tan-do
phae - is
sa • craa
no - meu Üth
vic - tor in
- ma - ri re - so - naiit be - a - ti
dn - ro Ta • Ii - dus du - d - lo
I
X
J7
ca-jos op - tan
hO'Stls a • - tro
dia me- ri
eis ra • bi
tis cro-
em 8ub*
-X
tor il - la
git bei -Ii
de - di - ca
ger an
- - ati.
- - dax.
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110
Die Aniatige der europäisch-abendländischen Musik.
Ein Sciteiutllck dazu ist das berttlimte, cur Zeit Onido's von
in Italien populäre hied nt Ehren St. Johannes des TÄufers „»4
qnennt laxis". Die Sequenzen von St. Gallen sind in den ältesten
Zeiten in Neumen notirt, und da sie nachmals zum Theil auch in
Buchstaben und noch später in Choralnoten umgeschrieben wurden,
so sind sie zugleich wesentliche Behelfe zur Deutung der Neumen-
schrift. Die Prosa in summa misaa nalivitalis Domini ist in jener
dreifiushen Notirungs weise erhalten:
Nach dem Wiener Oodex A. N. 47 E 7 mit dem Schlassel |D' zu lesen.
„ „ fcit. üalleuer „ ^o. 54Ü „ „ „ -[Hr »
ti
Notker Balbalus.
49 jn — yw ' — -jn Ä» 6» ^
„—^ n 49 <g
1. Na - tus an - te se - cu - la De - i ü - Ii - us, in - vi - si-
bi-lis in - ter-mi-niu. 2. Perquemfit ma-dii-na coe-li
— := —
et ter-rae ma-iis et in hia de-gea-ti>vm. 8.per qnemdi-es
4. qnemaa - ge* Ii
et ho - rae la - baut et se i - te-rum re - ci - pro-cant
in ar-ce po-U TO-oe eon-eo-na aem-per ca - noni
5. hic cor • pus as - tmnpse • rat fra - gi - le ti • ne la • be o*
6. hoc prae-sene di • e • cn-la lo - qni-tor pre4n - d • da ad-
— » «5»
ri-gi-na-lis cri - mi - nis de car-ne Ma-ri- ar> vir-gi-
aao-to lou-gi - tu • di - ne quodsol ve - rus ra - di - o sa*
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i
Zeit der Karolingsr. Slngenolinlesa Mets a. St Gallen. Organam. III
HL
alt quo pri - mi pa • rcn - tis ool-inun £ - vac-cjuc la • sei* vi»
i In • mi • nie ve-to * sias mundi de-pa-le - rit ge-ni*
am ter- ge-n-t. 7. Haeonox Ta-cat no - vi - de - ris
tua te - ne - braa 8. Neo gre - gamma • gi • Stria de - fu • it
3Z Z- - .g
In - 06 qnodma - go • Tum o* ob -loa ter*ra-it ad • o«.
In manquoapra- ciii-xit ds-ri - taa mi-li - tnmDe-i
9. Gaa-de De - i ge • ni-trixquamcir-cumsiautob-ste-tri-cum
IOl (M*ate pa • triiu - ni-ce qni bn-aia-Bam no-itri caa-aa
%1
vi - ce con-ci - nen-tes an - gc - Ii glo - ri - am De - o.
for-mam as - sump-si - ati re - fo - ve sup • pli -ces tu - oa.
1
1
11. £t quorum par - ti - ci - pem te fo • re dig-na-ioa es Je>
lS.Ut^-aoa «•vi*m«te-tb tu-ae par-ti - d - pea De»
an dig-uan-ter e - o - rum bus - ci - pe pre - ces.
na fa*ce-re dig-ne-ria n-ai-oe i>e-i
Knm in einer solchen Sequenz das Alleluja (oft dnrcli AEYIA
bezeichnet, 'v^ic hei den Antipbonpaalmen das Soeculimm Anten
durch EVOVAE *)) refrainartig vor, so v nrdc es inppemein nickt
wieder anfgeschnörkelt, sondern einfach ayllabisch gesungen:
1) Die Aehulichkeit dieses Evovuc mit Evoe hat MiUin verleitet ea £9r
eine voix bachique et profane zu halten.
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112
Die Antange der europftisch-abendltodischen Muaik.
& — <V - -'Si—
■ " r " H
1 lud
Ca&-te-miu omioti me-lo-dam mmo Al*le-ta • Uu
Uta - di - bw M-tw-ai re-gu haeo plebt
Ol - tet
AI - le - Im • 1a. boo de - ni • i|iie
- 9 0# ^
00« • le • atea eho • ri oah - te&t in
al - tum
i
Al-le-lv-ia. Hoo be*a*to«nim per pra-ta
r^M yj — "
o Ä>
-1
_ßL„ J ITT
pa-ra*di*ii*
a - ca
psallat
oon •
-<WÄ»
oen-tni
Al-le* la* ia.
Docb findet sich auch wohl ein endloBes langaühmiges Alleliga, wie
im Schlnsse des Gesanges aur Proaeasion der Aoferstelinngsfeier
,fiHm rex Ohriael" von Notker Balbnlns» welches fast wie eine
ReminiBccnz an die regellos schweifenden Melodien der Alpen-
hömer^} klingt:
— t — —
1) Die Aelmlichkeil ist unverkennbar. Ob aber schon die uralten Be-
wohner der Sehweis solche Bsigmelodiea sangen, ist mshr als sweiftlhaft.
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Zeit der Xarulinger. S&ngenchale zu Metz n. St. Galleu. 113
j jl^ J J J J «.J J
In
Notker Balbuluö unterzog die sogenanuteu „Jubilos" einer Art Re-
daction, indem er fUntzig davon mit eigenen besonderen Namen be-
seichnete, die in ihier Besieliiiiig sur Melodie zum Theile rXÜMeU
baft sind : 3amma, Am/fmiki MeUmuia major und minor, Gf^nea, Oraeca,
Sit^onia, FHffäola^) Oeeidetitana, Virgo jAoratis, FUUada, Hypodio'
eottiwa n. B. w. Von diesen Melodien rührt die 12aifuiiia und Amoena
vom Sänger Romanus, die beiden Mettenses rühren von Petrus von
Metz her; die andern sind Notker s eigene ( 'oiiiposition : j<Min
44 Ent würfe dnzii sind aueh x iion mit den Namen der .Mrludicu
bezeichnet, sie sind vielleieht von Notker'« eigener Hund niedi-r-
gescbrieben^). Wie die antiken Nomen und spütcr die Weisen der
Heistenfinger dienten diese Melodien dasu a^erlei Texte ao&n-
nehmen. So dichtete der Decan Ekkehard I. sa der Notker^schen
Melodie CapHva die Seqnena ,,iStotiiiiiMt praeconem Christi**, va der
Melodie Justus germinavit die Seqnens ,,91» benedicti eupüi^*, anr
Melodie heatusvir die Sequenz „a solts orra.s'u"^).
Diese Melodien und (lesänge wurden aiid(*nvärts «als muster-
giltig anerkannt und naehgt'uhnit, alle aber wurzelten im (Jregoria-
nischen (iesange. Neben diesen, den PHegestätten des Kirchen-
gesanges, den Klöstern entstammenden Sequenzen wurden aber auch
noch, and iwar vom Volke, Xhnliche GesXnge anm Gottesdienste,
bei BittgXngen oder Tor dem Kampfe angestimmt, welehe eine eigen«
thilmliehe Mittelstellung swucben dem Volksliede nnd der Seqnena
einnehmen, ob^ol sie stets cor letsteren Klasse gerechnet werden,
1) iSo und uicUt Fri^'dtira, wie Veit Goldast schreibt, und folglich
aoeh nicht ao yiel wie i)hrvgi8ch-dori8chc Melodie, d. h. griechische
Ritualiuulodie im (fegfiisatze zur römisch -gregorianischen Occidentana.
2) i'mlex No. 484. Ein Facsimile der Melodie Gouoordia (S. 2&9
des Codex) bei Schabiger fMouumeuta No. 2G).
8) Schabiger a. a. 0. 8. 74.
Aabrot, Owohlehf d«r MMlk. II. 8
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114 Die AnDUige der europ&isch- abendländischen Musik.
aneli manclies dAvon wirklich die «udrllckliebe Gntheistnag der
Kirche gefunden hat. Selbst Frm Jacopones' da Todi lateinische
OesXnge, welche wh'hreiul der miftent das Volk crschreckendon
Ereignisse des 14. Jalirlmnderts ^esunpren wmden, jrehören hierher.
Das „Stabat niater" nnd das ,,Dies irae", diese Iji'ideu wundervollen
DiehtiMipen. an weh lieu naclnnals die ;rrÖsst<Mj Tonsetzer ihre Kunst
versucht haben, «ind als wahre Volksgesänjje in's Leben getreten.
Vielleicht das älteste Denkmal dieser Volkssequenzen ist das uralte
in Böhmen heimische Adalhertuslied, dessen Entstehung sogar anf
die Zeiten Cyriirs nnd Methud*s, der Slavenapostel, surttdcdatirt
wird. Gewiss ist es, dass das Lied in der FonDi welche ihm der heiL
Adalbert gab, schon 992 vom Papste Johann XV. gutgeheissen
wurde Seit 1039 sanp es das Volk am AdaUieiiusfnabe neben
dem Präger Dom, wenn Hegen mangelte; vor der Schlacht bei
Kroissenbrunn au) 13. Juli 1260, woOtakarll. den König Hida IV.
von Ungarn schhig, war es das Schlachtlied der Böhmen. Vom
14. Jahrhundert an wurde es sowohl bei Processionen als vor der
Predigt und selbst bei der Messe, seit 1654 sn Ende des Hochamtes,
und noch heute wird es in Böhmen bei vielen Gelegenheiten ange-
stimmt. Die älteste vorhandene Notimng desselben rtthrt allerdinge
erst aus dem Jahre 1397 von einem Mönche des Klosters St. Mar-
garetha (Brewnow) bei Prag her. Er gibt dazu einen philosophi-
schen Coinmentar (er citirt sogar den Aristoteles!) und subtile
grammatikalische Untersuchungen und £rläutemngea:
0 Domine nu - se - re • re Jesu Ohristi mi - se • re - re
Sa -las SS totins mundi Salva nos et percipe
o Do-mi-ae vooes noitrss da oonotis o Do-mi-ne
pa • nem pa - c<*m ter - rae Ky - ri • e e • lei • son.
1) Der Papst gestattet e« zu singen „singulis diebus ad missarum
•olemnia."
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t
Zeit der Karolinger. SAngenohiüe sn MeU a. Si. GaUen. 1 15
Die Fovm des Liedes, welche schon in Bolelucky's „Rosa bohemica**
▼oikommt und in der es noch heute gesungen wird, ist folgende:
1^
-l-
-49
0 Do - mi • ue
Je - «n (SiriHte
nu
mi
- «e - re -
- se - re -
6os-po - di - ne*
Je • lo Cbri-ite
po - mi - - liq - - ny
sr l ^ g — gi-
-9
Sa - lu8 es to - ti - U8 mun-di Sal - va nos ot
tyt spft - n nie - ho mi - ra Spa - sii - u&s i
- ttnw da
fsr • d o pe Do - mi • ne vo - ces no
«6»' —
— - — ^
NA'
u - - ali-Sli
cuno-üB o
^
Do • • mi-ne pa - ncm pa • cem no-
SS
i
r"7
i
strae
tcr - rae Kv - ri - e e - loi - son
□SC
i
iü-leS, Krles, Xrlei.
8*
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116 Die Anilüige der eiinipli«di ■ibendländiachen Musik.
Das scblieeflendd ,^ErM* bebst so viel als A>-/e deison, „qfiod
Bohemi mmis syneopanf*' bemeilct der lfdneh yon Brewnow. — Ein
etwas neaeres SeitenstOck dazu ist das Wenzellied, welches aber
auch sdion Benesch von Weitmülil im Jahre 1368 eine von Alters
her gesungene Weise {cautionem ab olim cantari consnefnm) nennt,
und das also nicht, wie lialbin anj^ibt, erst 1343 von Arnest von
Pra^ <j:cMli( ht( t wr>rdon ist. Für das Volk iu Böhmen ist es noch
heute ein LieblLugsgeaang.
Die Xussere Foim dieser beiden Lieder seigt eine bemerkenswertbe
Uebereinstimmiing. Erst die Anrede, dann im Mittelsitsehen die
Bitten (es wird ho oft wiederholt, als der Text erheisclit) , zum
Schlüsse als Epilog das Kyrie Mton. Beide GesKnge sind Melo*
dien voll Urkraft.
Wie nun die Sequenzen wesentlich dein kirchlichen Volkspesanp^c
angehörten, so suchten die Männer der Kirche t'iir das Volk statt
seiner hiaha&liGder {vulnileode^), Lob-, Spott- und Zauberlieder, gcp^en
welche die kirebliehen Synoden (wie es scheint ofl genug vcrgobcus)
doich Verbote kSmpften, fromme GesKnge in der Muttersprache an
dichten, welche wieder, wie begreiflich, wesentlich die gewohnte
Form der kirchlichen Seqnens annahmen. So verfasste Otfried von
Weissenburg sein Keimevangelium, damit es, wie er in seiner Zu-
schrift an König Ludwig sagt, gesunp'eu werde: die Franken ,,?n
Frenkisgon beginnen si Gotes lob singfu." Ratp^Tt von St. Gallen
dichtete die CaittUeua de St. Gallo, das Leben <ies heil. Oallns in
deutscher Spruche : nach je filuf Zeilen kehrt ätetü dicticlbe Melodi^
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Zeit der Karolinger. Sliiganolnila sn Metz u. St. Gallen. 117
wieder^). So wirkte alao der Chregorianisehe G^eMuig bis in die Volks-
geeioge kineiil and strebte nach der unbedingtesten Herrschaft.
IVomme Personen des Laienstandes bewiesen im Singen und Psalmo»
diren eine Ausdauer, welche in ihrer Art auch als eine Aeussemng
joner spezitiscli mittelalterlichen Keligiositiit freiten kann, kraft wel-
cher man jede AiulachtsUbung, jedes Tugendmittel, jede Kasteiung
in's Uebennenschliche zu treiben liebte^).
Dardi die «oMerordentlielie Energie und anhaltende Bemllliiing
der Oberhlnpter der Kirehe, durch die entgegenkommende Mitwir-
kung der weltlichen Forsten, dnreh den in der Oeistliehkeit ge-
weckten Geist der Gemeinsamkeit und durch die von der Kirche
völlig beherrschte Kunst und Wissenschaft hatte sich endlich der
Gregorianische Kirchengesang in gleichmlissiger Weise in Italien,
Frankreich, Deutschland und England verbreitet. Der Gregoria-
nische Gesang hat Uberall den Boden bereitet, dass die
europäisch-abendländische Musik sich in allen diesen
LXndern gleichartig entwickeln konnte, wie die Kirche
denn überhaupt die Solidarität der europftischen Cnltnr
auch aonct begründet hat. Ee ruhte auf dem Ghregorianieehen
Gesänge ein eigener Segen : die Länder, welche ihn annahmen und
die wir eben genannt, waren alle berufen Pflege stätten der Musik su
werden, wo sie wie im Wetteifer gefördert wurde und wunderbar
gedieh. Die spanische Halbinsel, wo der römische Gesang erst s])}it,
unter Alphons V. und Gregor VIT., Eingang fand, hat sich in der
Tonkunst bis heute stets an Fremdes gelehnt, an die Weise der
NiederlKnder, der Italiener; es gibt eine spesifiseh spanische Malern
1) Ekkehard IV, der dieses U-alluslied in's Lateinische übersetzte, sagt:
Ra^^ertosmonachaSjNotkeri, quem inSequentiismiramar, condiscipnlns fnit,
earmeabori»arieam(d.Lind8rv Olkssprache) populo inlaudem StiGallicanen-
dura, qnod nos, multo impares homini, ut tarn duicis melodia latine luderot,
uuam proxime potuimus, in latinom traustulimus (Cod. St. Galli 393). In der
Originalhandsolirift sind über die fHiif ersten Strophen die Noten ndtabwech-
selnd schwarzer und rother Tinte gesetzt. Die Melodie ist nicht mehr sylla-
bisch. Ob das Lied auf die Schlacht bei Fo ntenay in Boi^nd (25. Juni o41),
das F^tis nach einem Manuscript der Pariser Bibliothek mittheilt, die
Dichtung eines Soldaten Angilbert oder, wie Kiesewetter vermuthet, das
Machwerk irgend eines MAnchcg sei, bleibe unentschiedtMi. Der Text ist
ein barbarisches Latein voll eben so arg barbarisirter klassischer Kemi-
niscenxen. Die Melodie ist Rcgcn die Ghregoriani sehe gans fremdartig,
aber freilich so, liass von ilir zur uouaeeläindischen Kunst nur noch ein
Schritt ist. Bei aller Achtung für FtStis' Gelehrsamkeit muss ich gestehen,
dass mir seine Entziffertmg nach den Nenmen des Originals mehr als
problematisch Miieint. Von einem andern Lied auf den Sieg Ludwigs m.
über die Normannen (832). das. in der Volkssprache verfasst, sich kömig
und kräftig aul&sst „Elinan kuuing weiz ih, Heissit her Hludwie, Ther
gerao Gode tiuonot, Ih weil her imo-e lonot* n. ■. w., iit die Melodie
nicht erhalten.
2) lieber „das katholische üarchenlied" seit den ältesten Zeiten ist
neaeriioh ein selir grOudUohet Werk von Severin Meister erschienen
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118
Die Anfänge d«r eiiropHich-dbwtdländiaoben Münk.
flcbule, eine spezifisch spanische Poesie, aher keine spesifiiich spanische
KnnstniQBik. Ebensowenig hat daa hyiantiniach-griediische Beich
und was seine Bildung von dorüher beiog (wie Basaland) ftr die
Förderung der Musik geleistet. Auch das durch die Kixclientrennan|p
aus der äolidarität der christlich-abendländischen Völlcer geschiedene
Byzanz schritt nicht mit fort, bis es 1453 völlif^ unter das Joch der
Osmanen gerieth xind einen fortan stark barbaristischen Zug erhielt,
so dass die Neu;xri»'i hen von den Ländern ,,draussen in Kuropa**
reden und sich also (und gar nicht mit Unrecht) zum Orient
rechnen. Die byzantinisirten Länder blieben in einer Halb- oder
VierCelsknltiur stecken, und wie der rusaisciie Heiligenmaler seine
Tafeln gedankenlos mit sklaTiseher Treue Jahrbundeite lang bis auf
den kleinsten Zug so malte und noch malt, wie M sein Urältervater
schon gethan und die byzantinischen Muster in wo möglich noch ab-
schreckenderen Nachbildungen festhielt; wie sich der byzantinische
Baustyl in Russland höchstens nur zu den abenteuerlichsten Kuin)el-
bauten, jenem ,,Hauf«*n goldglitxernder Riesenpilze", deforniiren
konnte : so ist auch der Ritualgesang ungefähr auf dem Standpunkte
geblieben, den er zur Zeit der Christianisimng Rnssland's einnahm.
So ernst und würdig es sich, mmal Ton den prKcbtigen Stimmen in
der kaiserlieken Kapelle (deren Chor vom Osar Alexis Ifikailowitaeb
gestiftet wurde) ausnimmt: zu etwas Neuem zu fUhren war er nicht
im Stande, und die genialen Versuche eines Demetrius Bortniansky
(1751 1815: Psalmen zu 4 und H Stimmen, eine dreistimmige grie-
chischf Messe u. s. w.) auf seiner (Grundlage etwas Eigenes zu schaffen
sind niclit nur ver«'i!r/.»*lt gel)lieben, sondern auch unverkennbar unter
dem EinliusHc und nach dem Muster des abendländischen stile da
Cappella entstanden i). Die russische Kirche hielt, wie sich Thibaut
ausdruckt, „fast «sem, so weit es m einer bewegten Welt mSglieh ist,
am Alten**. Die Bildung, welche Peter I. au Anfang des achtaehn-
ten Jahrhunderts seinen Russen octroyirte, war nicht frei aus dem
Stamm und Kern der Nation hervorgesprosst, sie blieb fremd auf
der Oberfläche sitzen, und fast möchte uns das abenteuerlich male-
rische Durcheinander des Wassily Blagennoi, das wirklich volks-
thiinilich ist, melir anniiithen als die akademisch klassischen Säulen-
hallen der Isaakskirclie. Die einzig originelle Kuustmusik, die Ruüs-
land eigen angehört, ist jene berufene Hommusik, und auch diese
ist die Erfindung eines Böhmen Namens Johann Anton Haresch
(1751). Sie ist ein cnrioses Kunststück: cur kleinsten Melodie be-
darf es eines Heeres von Musikanten, denn mit sklaWschem Mecha-
nismus ist jeder Spieler an einen einzigen Ton gefesselt, recht SOm
Gegensatz der im Abendlaude ausgebildeten Orgel, wo ein einziger
1) Wir harten in Prag Terschiedene Compositionen Bortniausky's
mit hohem lateresee.
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I)ie orientaliwh-griecliiBche £irohe.
119
Spieler etne Well toh Tönen nnd Klangwirkungen Vehenneht und
der freie mnsikaliielie QedenlLe frei and nnmittelbar in ToUer Oe-
walt aus ihm auszngtrOmen vermag, wfihrend jener andere fingstlich
seine Pausen zfihlt, um nach Vorschrift gerade im rechten Moment
mit seinem Toiu* laut zu werden und dann zu verstummen, bis sein
Notenblatt den Hann wieder für einen Moment löst. Das« die
russischen Volksmelodien viel Schönes enthalten, ist bekannt,
eben so die glückliche Anlage des Volkes für Gesang u. s. w. Diese
etlinographischen Zttge können uns hier nicht weiter beMhMftigen^).
Ebenso wenig wird uns ane wirkliehe Anebüdong der Hnsik bei
den Armeniern und andern von byiantinischer Knnstweise ab-
hängigen Völkern begegnen. Für die orientalische Kirche wurde
St. Johannes Damascenus (st. 766) als Sammler und Reformator
der KirchengesKngo und als anprcblicher Erfinder einer Tonschrift*)
etwas Aohnliches, was (Jrcgor für die abendländische. Viele Weisen,
deren sich die griechische von der lateinischen getrennt gebliebene
Kirche bedient, sollen von ihm herrühren. Im 13. Jahrhundert u. s.w.
kamen sahlreiehe Weiaen von Mannel Cluysaphos, Joannes Lam-
parins, Joasaph nnd Joannes Knknsele nnd Andern hinan*). Die
bysantinisehen Sehriftsteller sind nut Lob nnd den Ehrentiteln
fjionigfliessender Sirenen** nnd „nener Harfen** fUr diese Meister
bysantinisehen Kirchengesanges nicht sparsam.
Während nun aber im by zantinischen Reiche die Musik auf dem
Standpunkte einer sich geistlos forterbenden Praxis verblieb und
trotz aller neuen Sirenen und honigfliessenden Harfen nicht ge-
deihen wollte, an eine wissenschaftliche Begründung aber vollends
• nicht gedacht wurde, fUhrte man sie im Abendlande fiüerlieh in den
Kreu der Wissenschaften ein. Nach der Darlegung Aleuin*s, des
Freundes Karls des Grossen, theilt sich die Philosophie in die Zweige
der Ethik, Physik und Logik, davon sich die Physik wieder in die
Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie scheidet*). Hier steht
also (wie bei Boetliius) die Musik mitten zwischen Arithmetik und
Geometrie, sie ist ein Theil der Mathematik geworden. Auch der
beriihinte Mathematiker und Musiker, der von seinen Zeitgenossen
um seiner Gelehrsamkeit willen für einen Zauberer gehaltene Lehrer
1) Man ▼erffleiohe die 1806 tn 2 Bftnden tu Petersbm^ enohienene, von
Ivan F^atsch veninstaltt te Sammlung russischer Volkslieder in Text und
Musik. Einige sind auch in Deutschland populär, so das Lied vom „Kosaken,
der über die Donau schwinnut", wozu Tiedge ganz unerlaubt den wässerigen
Text ,.der schönen Minka" (beiläufig gesagt kein slaTiScher Fk«aenname)
gedichtet hat, und cIx'iim» die }i«'\eh8t reizende Melodie vorn rothen Sarafan.
lieber die russische Hummusik ist das Buch von Uinrichs zu vergleichen.
8) Vergl. oben 8. 87.
8) Ausführliches darüber in Gerbert's De cantu.
4) Die nähere Darlegung dieser Untertheilung der Pliysik »<t l)on bei
Aicuin selber, noch deutlicher bei Aureliauus Keumuubia Oaj^. V ILL.
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120
Die Anfänge der eoropäisoh- abendländischen Musik.
Otto des Dritten, Gerbert (der nMUier als Sylvester IL 999 — 1003
auf dem pXpstUchen Stuhle sass), wnsste der Mnedk keinen bessern
Ort anzuweisen als dass er ihr den Hang gleich nach der Arithmetik
zugestand. Alcnin selbst definirt: Musik ist die Lehre, die von den
Zahlen spricht, die in den Tönen gefunden werden"*). Als (mit dem
12. Jalirluuidert) an die Stelle der KlosterHchulen die mächtigen
Körpcrschailcu der Universitäten traten, wurde auch die Musik in
das Prograaun der zünftigen Qelelvnamkeit mii%enommen, war tie
ja doch eine strenge Wissenschaftl
IMe sieben freien Kflnste (ortet UberäU»), die Zweige der
Geistesbildung, wie ne dem Edeln und Freigeborenen ziemte, grup-
pirten sich in dem sogenannten Quadrivinm (Musik, Arithmetik,
Geometrie und Astronomie) zusammen, während die Grammatik,
Rhetorik und Dialektik mit einander das Trivium bildeten*). Dieses
tnvium atque qudtlrivium war der Inbegriff aller höheren Geistes-
bildung, und da hier die Musik nicht als Kunst, zu welcher Talent
nltthig ist, sondern als Wissenschaft oder viehnehr als eine Somme
von LehrsXtien betrachtet wurde, welche dnzeh flMssiges Studium
so gut dem Gedtchtnisse eingeprigt an werden veimoehten als etw«
die FnndamentalsStze der Geometrie, so konnte der aller Hnnk-
anläge Baarste doch Meister der Musik sein und heissen, insofern er
Magister d. i. Meister der sieben freien Künste war. Wer znr
artistisciien (philosophischen) Facultät gehörte, sollte auch einiger
Gelehrsamkeit in der am libcralis der Musik nicht entbehren^). In
düstere Hörsäle und einengende Mauern gebannt, wurde die mit
aller unbeholfenen Gründlichkeit nnd ehrenweKAen BehwerfifUig-
keit in mflhsamer Arbeit nnd in grfibelndem Fofsehen betriebene •
specnlative Musik selbst dunkel, dflster und tiefiiinnig, ToUrnyslischef
Beziehungen, an Himmel und Erde anknüpfend und doch in einem
im Gninde gans engen Kreise sich bewegend. Verstand sich der
Gelehrte neben den mathematischen Tonuntersnchungen auch auf
1) Muaica est disciplina, quae de numeris loqnitur, oui inveniontnr in
sonis. Der Traotat ist Itbgedraokt in Gerberi, Script. 1. Bd. S. 36 nnd 27.
Vincentias BeUoracensia (Speculum doctrinale XXX.Vn. 10) definirt da-
gegen: Musica est planum dissimilium in nnum rcdactomm concordia.
2) Petrus Pictaviensis lobt Peter den Ehrwürdigen von Clugn^ in
dem Distichon:
Mosicos, astrologun, arithmeticus et geometra
Orammaticns, rhetor et dialectioos est
8) Bei der Froolamirong eines Ueo-Magisters schloss die Formel
„Fjroclamo te in magistrum" etc. mit den Worten: ut dexterrimnm mtt>
sicum (Buttstet's ut, re, mi. fa S. 11). Die Statuten der Prager Univer-
sität, welche bekanntlich 134Ä gegründet und nach dem Muster der
Fsrieer üni^ersitai eingerichtet worde, ichreiben dem Magister vor, er
müsse gehört haben: omncs libros majores physicae, logicam Aristotelia,
Ethicorum, Politicomm, Oeoonomicorum, sex libros Euolidis, Sphaeram
tiieoretioam, aliguid in Jfiisiea d AMmetiM u. s. w.
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Die Musik als ars liberalis der Üniversitätett.
121
Saitenspiel und GeBang, so wurde es aUeidtngs als gut und löblicli
erkannt Der berühmte Miisiklehrer Johann de ^luris (für seine
Zeit die grösste musikaligche Autorität) gehörte der Pariser Univer-
Bität an. Zu Oxford gab es angeblich schon zu End(! des H. Jahrh.
eine eigene L«>hrkanzcl der Musik, von welclier zuerst ein Mönch
Namens Johannes diese Wissenschatt und neben ihr die Arithmetik
und Dialektik lehrte (die dortige Universität ist übrigens erst 1200
gegründet worden*). Die UnlTetsitit von Salamanca erhielt einen
Lehrstahl der Musik dnrchK9nig Alfons (1253—1284). Die eigen-
thfimliehe Doppelstellnng der Musik als einer sieh frei aar Schönheit
emporschwingenden Kunst and als einer sich tiefsinnigTersenkenden
Wissenschaft ist noch beute kenntlich. Wir können von einem Musik-
gclohrten sprechen, nicht aber z. B. von einem Sculpturirelohrten oder
Poesiegelehrten, ungeachtet amh an diese Künste du' Itcdeutend-
Bten kunstphilosophischen und kuiisthistorischen Arbeiten geknüpft
worden sind (die Untersuchungen über Homer, die Abhandlungen
über die Gruppe des Laokoon u. e. m.). Wie die gelehrte Theorie
in Boethius eine gegebene Grundlage der theoretischen Musik, so
fand die Praxis im Gregorianischen Gesänge einen gegebenen Stoff
ma mnnkaliseher U»0)ung: er wurde der cantiis firmus, der feste
Gesang" oder der Tenor, die feste Bestimmung", welche durch
schmückendes Ui'berbanen mit dem harmonischen GeHlge einer
zweiten, dritten oder noch mehrerer Stimmen zu kunstvollen reichen
Musikstücken Anlass bot, ohne dass an sie selbst getastet werden
durfte. Das Mittelalter hatte ein tiefes Bedürfniss nach Glauben,
nach einer AutoritSt, nach einem gegebenen Gesetse, nach dem
Dogma. So nahm es seinen Boethius, seinen Giegorianisehen Ge-
sang eben wie Dogmen hin, glHubig darin höhere Autoritttten ver-
ehrend. Die Gregorianische Melodie war der Kern, nm den alles
1) In einem lateinischen Gedichte aus dem 13. .lahrhumlert (^Iscpt.-
Codex der Präger Universitätsbibliothek I. U. 11.), das Lob Erfui't's und
bescmders der dortigen Gtolehnamkeit enthaltend, heiast es:
Qnidam Orammatioi, quidam probitatit amid,
Quidani lef^istae, quidam vel in arte sophistao,
Quidam steliamm cursus et tempus earum
Explorare sdnni «t cor bona Tel mala fiont,
Quidam mstronan praeiiilgent dogmate, qnornm
Lans non est minima, scd erit, me judicc prima,
(Quidam cordarum tactu cor mulccnt amtrum,
(Quidam cantore wwermU Oamma.,ut, A-rt
Hier ist also auch Musik und zwar Instrumental- und Vocalmusik
als ebenbürtig in den Kreis drr Wissenschaften eingeführt. Uebcr ib'n
Werth der Musik und ihre gemütbauregende Macht finden sich bei Hrabau
Manms (De uniTerao III. 4 und XvUI. 4) bemerkentwerthe Stellen:
Sine tnusica nulla disciplina j)i)test esse perfecta, nihil enim sine illa;
und: Muaica movet affectus, provocat in diversum habitum sensu».
2) Bnlaei bist Acad. Paris. I. Bd. S. 224.
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122 Die Anfänge der europäisch -abendländischen Moiik.
Andere krystallisirend «iBchoM, sie selbst aber durfte kein Frodact
menschlichen (it istes sein, sie war insjiirirt und damit von einer
keiner Avcitereii Kritik uiilorliejrenden iieglaubij^np. Man wies
daraufhin, dass ja seihst Pythaf^uras die Grundsätze der Musik nur
durch gottliche Eingehung gefunden^). Im Gregorianischeu Go&ange
lug alle Ordnung der Musik.
Abt Letaldne von Bt. Menin bei Orleans (der selbst einen Lob-
Gesang auf den heil. Julian gedichtet hat) beklagt sich schon zu
Knde des 10. Jahrhunderts ttber die anmassliehen Nenmngen
einiger Musiker, welche so grosse Abweichungen hören lassen,
dass sie es durchaus verschmähen sich den alten Autoren anzu-
schliessen 2), Der Kirchengesang war eine geheiligte Sache, und
so hatte denn die Melodie gleiche Wichtigkeit, wie der Text, la
einem von Ilartker von St. Gallen, einem Keclusus (einem from-
men Bttsser, der sich freiwillig in eine Eiuzelzelle zurückgezogen
hat) geschriebenen Codex stehen die Verse:
Carmina diversaa sunt hacc celubranda per horas:
äollicitam rcctis meutern adhibctc sonis.
Discite vcrborum legales ^ergere Calles
Duloiaque egregüs juagite diete modis,
VerhoniTn iw cura fioiioB, ne cura sononun
Vcrborum uormas nullilicare queafe.
Huebald ▼ob Bt. Amand and das Otgaaum.
Die eigentbUmlichste Erscheinung dieser Epoche, zu welcher
theoretisirende Specnlatton und praktisches Ezperimentiren gleich-
viel beigetragen an haben scheinen, ist das sogenannte Organum.
Der Mttnch von Angonlime erwldint, dass die filläcischen
Sftnger KarVs des Grossen in Kom unter anderem auch die Kunst des
Organisirens erlernten. Wflre die Nachricht snverltfssig, was sie
1) Aurelianus Reomentis sagt: Pnto enim, quia «ton msi divino mtiu
jani siicpf «lictus Pythagoras proportionum varictatrs ut sonoriun junge-
reutur coucordiae inveuire potuit. Von einem Blindgeborenen Namens
Victor enihlt Aurelian, derselbe habe, naehdeni «r die fiblichen Melodien
auswendig gelernt, eines Tages vor dem Altare in St. Maria Rofuiula d. i. im
Taiitlioon zti Rom sitzend durch göttliclie Eiii^jflduifr (divino luvente mitu)
das Hesponsorium „(iaude Maria" erdacht und dun l» ein zweites Wunder
sogleich ilas Augenlicht erhalten. Aurelian entähltzum Schlüsse seinesBaohes
(Ciip XX ), wie ein Mönch aus dem Klosti-r St. A'ictor «nf dem TiergOarpanus
von Engeln das Kesponsohum „Cives apostolorum" singen hörte und nach
Rom rarfickgekehrt es dort lehrte, wie er es vernommen. Ein anderer Manch
hörte von Bngeln ein Alh luja mit angehttagtem 148. tmlm singen u. s. w.
2) Non enim mihi plaeet (luonmdam musiconim noN-itas. qui tanta
dissimilitudine utuntur, ut veteres sequi ouuii modo dedigneutur auctores.
(Citirt bei MabiUon, Annal. Bened. IV. S. 110.)
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&Qeb«ld von St. Amand und du Organum.
123
aber bei den vielen offenbar nor halb wahren oder aach ganz un-
richtigen Angaben jener ganzen Erzählung gewiss nicht ist , so
würde sie das Vorhandensein einer Art des Gesanges in den letzten
Zeiten des achten Jahrhunderts beweisen, die man insgemein ihrer
£ntstehung nach ura ein Jahrhundert später dutirt und als grübleri-
sche Erfindung eines flandrischen Mönchs fUr gar nie in Wahrheit zur
üebnng gekommen ansnsehen gewillt ist; nXmlich jenesOrganum,
das im Wesentlichen darin bestand, dass eine Stimme, welche tint
gewisse Melodie als Hauptmotiv sang, von einer andern zumeist in
parallel mitgeheuden Quinten oder Quarten begleitet wurde. Wie
eine solche Sing^i-eise, gegen welche sich das Ohr empört, aufkom-
men, zumal wie sie sich in der Praxis der Sänger einbürgern konnte,
ist allerdinfjs räthselhafl genug; indessen wirft der Name Organum
einiges Liciit darauf, mag man dieses Woil als Musikinstrument im
Allgemeinen oder als Orgel verstehen. Die Geigen der nordischen
YöUEer, welche, mit flachem Btege und mehreren Saiten versehen, den
Spieler nöthigten mit dem Bogen sMmmtliche Saiten sugleich ertttnen
9EU machen, mochten, zumal wenn die tiefem Saiten Grundton und
Quinte angaben, während die Oberstimme eine Melodie ausftihrte,
das Ohr an den Zusammenklang dieser Inten'alle gewöhnt haben.
Das Organihtrum lief seinem Wesen nach auf denselben Klangeffekt
hinaus. Wo der Organist mit seinen zwei Fäusten die Orgel schlug,
mochte er, in Erinnerung an die Geigeuiustrumeute, äliuliche Wir-
kungen auf seiner Orgel erzielen, sodass er zu einem mit der linken
Hand gleich einem Orgeipnnkt constant festgehaltenen Ton in der
rechten einige oder vielleiGht eine ganze Reihe Noten hören Hess,
oder zuweilen einen Ton dadurch besonders fitrbte, dass er ihm
seine Quinte angeseilte. Wenn nun der Vorsänger im Chore irgend
eine Vcr/ierung ausführte, während die andern den Ton anshielten,
so geschah es in ganz älmliclier Art, dass zu oinom orjrcljninktartig
fortklingenden i'one eine ganze Keihe Nuten ;zi'li"Ht wurde. End-
lich konnte der von der Orgel her gewohnte EtVekt, zu einem Tone
gleichzeitig seine Quinte anzugeben, von der zweiten Stimme leicht
ausgeführt werden. Die Quinte war ja ohnehin nächst der Octave
die vollkommenste Consonans. Da man das Gesets, welches nach-
her die gerade Fortschreitung reiner Quinten verbot, noch nicht
kannte, so trug man kein Bedenken den als schön erprobten und,
einzeln hingestellt, das Ohr auch wirklich befriedigenden Zusammen-
klang bei mehreren einander folgenden Tönen anzubringen. Sangen
Männer- und Knabenstimmen in Oclaven und liess der Sänger,
welcher tien (Jesang durch sein Organisiren auszierte, seine Stimme
mit dem Gesang der Männer in Quinten fortgehen, so bildete sie
gegen die hohen Stimmen eine Quarte. Das Diatessaion war aber
nebst dem Diapente und Diapason anerkannte Consonans; es war
nicht absnsehen, warum man nicht eben so gnt QnartparaUelen
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124
Die AnfUnge der earopäUoh-abeudländischen Madk.
wie Qiimtparalleleii hStte anwenden sollen: so konnten also zmA
Stimmen in (^>itai'ten fortschreiteiii und wenn die tiefere Stinime
üheiMÜcs durch die höliere Octave verdopjielt wnrde, bildete die orga-
nisirende Stimme geilen letztere wieder die Quinte. Der Parallel-
gang der drei von der damaligen anf Boethios fussenden Muüik-
lebre anerkannten Consonanzen: Diapason, Diapente, Diatessaron —
Oetave, Quinte, Quarte, wurde als eine neue Art, als Temeinte
VerachSnening des Gesanges eingeführt nnd mit Hinblick anf Xhn-
liehe in der Instnunentalmasik bereits bekannte Effekte Organum be-
nannt: eine Bezeichnung, die flir den Gelang von Menschen-
Stimmen angewendet, nur dadurch erklärlich ist, dass man mit
dieser Singmanier ganz bestimmt eine Xachalimnng der Instrumente
(Organa) bcabsiebtigte. Auf solcbe Art tönte das ( )tf::;vnistrnm. auf
solcbe Art wurde die Orgel gespielt und so wurde der ähulicbe
Name für Cbüre gewäblt, die in völlig äbnlicher Art klangen. Die
Ten nnd die Sexte galt für dissonirend, eine Reihe von Dissonansen
konnte man nicht gutheissen, sie blieben von der den Quarten und
Quinten unbedenklich eriheilten Erlanbniss gmndsXti^eh ausge-
schlossen. Nur im Durchgänge auf einen liegenden Gnmdton, wie
man es Ton den Verzierungen ber gewohnt war, durfte man sie an-
bringen, ditcb so, dass Quart- und Quintparallelen zwiscbcndurch
auttraten und d«'m (Jesange seine eigenthümliclie Färbung gaben.
Wirkiicli finden sich alle diese Arten des Organums bei dem zuerst
von diesem robesten Versuche der Mehrstimmigkeit handelnden
Theoretiker, dem Benedictinermönch Uucbald, der in dem Kloster
St. Amand snr VElnen in Flandern lebte (daher er auch wohl der
Mönch Ton Einen, monachua WnoimriB, genannt wird), als tief-
gelehrter Mann, ganz besonders aber als gründlicher Musikkenner
berühmt war nnd im Jabre 930 in hohem Alter starb Hucbald
war mit der antiken Literatur wobl vertraut, sehr oft aber beruft
er sich auf Boethius, für «len er von Bewunderung durchdrungen
ist, den er kaum je ohne ein lobendes Beiwort nennt. Öeino
eigenen Tractate sind voll aus seinem Vorbilde heriibergenommener
Anschauungen und Ideen, er legt ihnen durchaus die musikalische
Theorie des Boethius (d. i. die antike) sn Ghrunde und sucht diese
mit allem, was mittlerweile im Kirchengesange an musikalischer
Bildung neu gewonnen worden, bestens in Uebereinstimmung an
setzen und sie durch dem Ritualgesange entnommene Beispiele an
erläutern. Selbst was er in seinem Boethius nicht findet, das Orga-
num nnd seine eigenen Reformideen filr eine zweckmässige Ton-
schrift, sucht er wenigstens in möglichst Boethianiscber Form vor-
zutragen. In der Kunstübung des Kirchengesanges war das be-
schränkte antike Wesen endlich wirklich Uberwunden und neue
Kritfte waren geweckt, aber im besten Glanben bemttht sieh Hucbald
1; Auttluhrlichus libur ibu in Cousaomaker's Traitö sur Hucbald.
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Bnelnld ron St. Amand and daa Orgauum.
125
die seniBsenea Fiden wieder luaamiiieiiBiikiittpfeii und danulegen,
den tteh alle Musik noch vtfUig auf antiken Qrnndli^n bewege.
Daher denn wieder das System <I( i rünfitelin und ac}itz(>lin Töne,
die langathmigen antiken Namen der Töne n. 8. w. ausführlich er-
läutert werden, auch trotz des mittlens'eile eingebürgerten natür-
lichen riclitigen Octavensystems, das übrigens llucbald auch gelten
lässt, die für das bereits Gewonnene völlig ninnlose und unjtrakti-
Bcho Tetracliurdeintlieilung wieder zu Ehreu gebracht wird. Viol-
Mdit noch weniger die mannigfach eingerissene Entartung des
Kirebengesanges, der man doreh das Eingehen auf antike Theoreme
abhelfen wollte i), gab die Veranlassung an dnem sorgsamen 8tadium
dmr antiken Musiklehre, als der Umstand, dass man jetzt die Musik
wissenschaftlich zu behandeln anfing, eine Wissenschaft aber ohne
ein Anlehnen an die Weisheit der Alten /u denken gar nicht ver-
mochte. Aurelianus Keoniensis sa^t so<;ar ;:anz allgemein: ,,wie
die Musik überhaupt, so strömen auch alle ihre ( 'onibinationen aus
griechischer (Quelle*).*' llucbald will die überkununenen Lehrcu in
ihrer Tiefe erfasseUf er möchte in ihnen und durch sie Neues und
Eigenes gewinnen, Bahnen Öfihen, neue Ziele seigen. Er fühlt sehr
wohl, mt viel neue Erscheinungen sieh im Laufe der Zeiten her-
angedrängt haben ; diese möchte er mit der alten Lehre bewältigen,
sie durch diese Lehre begreifen lernen und begründen und umge>
kehrt in ihnen die alten T^ohren zur vollen Lebenskrafl aufVrwecken.
Was aus der untehlbareu Kirche hervorgegangen, kann mit dem un-
fehlbaren Bocthius nicht im Widerspruche stehen, eines luuss sich
durch das andere erklären und beweisen lassen. So deutet llucbald
auf den dritten authentischen und seinen Plagalton als auf jene hin,
wo das „verbundene** und „getrennte Tetraehord meist veniuaeht
werden, d. h. wo man naeh Lage der Sache bald das fr quadnm,
bald das fr roiundum anwendet'). Die Eigenheit b r Kirchentöne
basirt sieh (Ur Uucbald auf das antike System der achtzehn Töne:
der erste authentische Ton mit seinem Flagalton wird durch Lichanos
1) In dem Tractatus corrcctorius multomm crrorum, qui fiunt in cantu
grs|[oriano in multia locit, erwähnt der Autor, dass die Sfttiger den Orego-
rianisdhen Gesiui«: au virlen Oitt n aus-^crordcnflich verdorben liaboii fcnor-
miterdepravarunt). Zm* Abhilfe greift er aber nicht nach griechischen Theo»
remen; im GegenUieil, er sagt, er wolle alle Speoulation über die Zahlcnpro-
portionender Töne und N ana ti wie Froslambanomenos u. s. w. bei Seite lassen.
»Statt desficn gilit er Aiulcntuiigon über die wahren ITinaltOne und wss er
sonst für seiucn Zweck uülzlich fiüdet.
8) Seiat a Graeoorom derivari fönte una cum munca lieoDtia omnes va-
rietates ibi contexta». (Cap. 18. bei C5( rl>crt, Script. 1. ]id. S. 53.)
8) Cujus tetrachordi exenijda cum per omnes modos vcl tonos 86 fre-
quentiuB offerant, tarnen praecipue in autento triti vel plagis ejus ita ubique
perQ>ici poBsunt, ni vix aliqnod melum in eis absqne homm pennixtione
tetrachordorum, synommenon icUicet et disengmenou, reperiatür Qaei Gcr>
bort, Script. Bd. X. S. 114).
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126 Die Anftnge der eoropÜMih-Abendlftiidiwheii Unsik,
hypaton regiert, der zweite durch Hjpate meson, der dritte durch
Parypate meson, der vierte durch Lichanos meson. Diese vier sind
die SchlnsstlSne aller Musiki). x>aB Tetrachord auf Lichanos hypaton
gibt, in höherer Lage wiederholt, mit jenem zusammen den ersten
Kirclientüu {d e f g a h c (/); tlas Tetraebord von llypatc meson, in
gleicher Art vordoppelt, die zweite ( e f g a h c d e) n. w. Mit
dem ersten Ton <les liiilieren Tetrncliords liat daher der erste des
tiefem einen inncru Zut^annnenhang, Liehanos hypaton mit Mese
{D mit A), Hypate meson mit Paramese {E mit H) u. s. w.*). T>et
tiefste disponible Ton ist Pxoslambanomenos At er liegt eine Quarte
unterhalb des Finaltons des ersten Kirchentones; folglich kann sich
dieser Ton nicht eigentlich tiefer als ehen eine Quarte bewegen,
er soll sich aher auch nicht höher als eine Quinte steigern, zu jenem
verwandten höheren Ton, was gerade den Umfang einer Octave
ausmacht. Dies hezeichnet die (iränze eines regelmSssigen
Gesanges. Kine Parallelisiruiig der Kirchentöne mit den antiken
Tonarten kommt in den echten Schriften liucbahr» noch nicht vor 3).
Das richtige VerstiCndniss der nähren antiken Tonarten war ver-
loren, die Schriftsteller begnttgten sich mitunter, wie Aurelianvs
Reomensis, die alten Vorlagen einfach absuschreiben, ohne in das
Wesen der Sache auch nur die geringste Einsicht zu haben. So
yiel wusste man, dass der hypodorisehe oder äolische Ton der tiefirte
von allen sei, man nannte rlnher den ersten Plap:altnn von A~n
äoHsch und traf hier mit der antiken T^ehre /nsamtnen, denn wirk-
lich hatte bei den (Jriechen die MoUsc ala denselben Namen gefiihrt.
Aber indem man die übrigen antiken Benennungen der Ton-
arten den Eirchentönen anpasste, unterlief ein eigenthUmlichesMiss-
yerstindtüis, dessen Folge war, dass die Namen in einer dm
richtigen antiken Nomenelatnr gerade entgegengeselsten Reihen-
folge auftraten:
Antik. Kirchlich.
Hypophrygisch g a h c d e f g . . . Mixolydisch (7. Ton)
loniMm fgahcdef. . . Lydisch (5. Ton)
"Pnrisrh e f g a h <■ d r . TMirygif>cli (.'J. Ton)
Phrvgiscb d t f g a h c d . . . Dorisch (1. 8. Ton)
Lymsch edefgake,.. Ionisch (6. Ton)
Mixolydisdi hcdefgah... Hypophrygisch (4. Ton)
Aeolisch ahedtfga... Aeolisch (2. Ton).
1) A. a. 0. 8. IIU. Was üben im Texte folgt ist eine ZusammenfassuDg
vieler serttretiter Stellen ans der oft nicht eben deutlichen Bai^teneng
Hncbald's.
2) Dass Hucbald wirklich mit Lichanos hypaton den Ton D meint u. s. w.,
ergibt sich aus der Zusammenhaltung dieser Stellen mit den Principien seiner
Tonschrift in der musica enchiriadis.
d) ]>ie nAlia murica" bei Oerbert rührt wohl nicht von Hucbald her.
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Eubald TOB 81 Att«iid md dai Ofguram. 137
Die Griechen nannten, wie gesagt, ihre tiefste Tonart, die Moll-
skaU, s. B. Ä,H,cdefga, die Xoliscbe Tonart. Die Bwdihöhere Skala
liieBs hypophrygtseh, also Hdsdefitga; diese in dem Umfange der
Unkala von A — a mit ihren eharakteristiselien Tönen m nnd fis dar-
gestellt ergab die Tonreihe A, H, eis de ßa g a, was die gleiche Inter-
vallfolge enthält wie die Tonreihe y ahc de fg. Die dritthöhere Skala
hiess ionisch, nämlich cdesf'goiibc^ oder inncili.ilh der erst er-
wähnten Tonreihe Asbcdeafgaa, was die gleiche Intervallfolge
hat wie f g ak c d e f; diW vierte nttchsthöhere Skala d 9 f g ah cd
tiien dorisch, in der Reihe von A — a dargestellt ABedefga,
was ideutitich ist mit e f g a h c d e. Aehnlich bei der l'iuit'teu,
sechsten und siebenten Tonreihe, deren Tonfolgon das voranstehende
Diagramm seigt. Die Griechen liebten es diese verschiedenen Ton-
arten innerhalb derselben Oetave danustellen» was fUr das Stimmen
der Lyren wie für den Gesang bequem befanden wurde, z. B. äolisch
cdeafgasbc, hypophiygisch cdefgahc, ionisch c d e fis g
a hm. s. w. Insofern man nun aber dics^e Reihen nicht innerhalb der-
selben Hctavc, sondern mit Beibehaltung der sie charakterisirenden
Stellung der beiden TTalbtöne aus den Tönen der diatonischen Skala
cdefgahc con.struirtc, hicss, wie wir eben sahen, diese Reihe
von C — c lydisch, die Reihe von Ä — a äolisch, von H — h mixo-
lydisch u. s. w.
Von diesen verwickelten und eigenthttmliehen Tonmetastasen,
von der zweideutigen Art, wie jede Tonart einmal als höhere Trans-
position der (Solischen) Mollskala und ein andermal als Oetaven-
gattnng mit veränderter Stellung der zwei Halbtöne verstanden wird,
hatten nnn freilich die mittelalterlichen Theoretiker keine Ahnung').
Sie nannten die Tonroihc A — (i ganz richtig äolisch, und da
sie bei ihren antiken Lehren die Weisung fanden, die nächsthidiere
Tonart heisse hypophrvgisch, so nannten sie die Tonreihe H — h
unbedenklich hypophrygisch, die folgend höhere, welche nach der
1) Mattheson sagt (VoUk. KapoUm.S.63§23): Obgleich der dreunalige
Römische Bürgermeister Boethius welcher im 71. Jalire seines Alters A.Ö24
od. 2H 7.n Pavia aus Staatsuraachen enthauptet win<h . der Erste und An-
sehnUchste unter den Lateinern, so von der Musik gLsi lin> ))tMi, nachdem er
18 Jahr zu Athen studiert hatte, mit keiner Sylbe der eiugudruugeueu Lage
des halben Tones in seinen flinf Bflohem gedenket, snm anwidersprechliohen
ZfUfTiii'^'^. ilass weder vor ihm noch zu seiner Zeit, etwa ums Jahr Cfirisf i r>()0,
kein Mensch den l^nterschied der Tonarten in etwas anders als in der Höhe
nnd Tiefe des Klanges gesucht hatte: so that sieh doch gantzer tausend Jahr
nach ihm, nämlich A. 1514 ein gewisser Mailander und bestallter Professor
der Musik zu Breoeia im Vencziuiiisrhfii, Xainen'! Franchintis riaforus her-
vor, und wollte durehaus in den Bucthischen Musikhücbcrn, die etwa 2U Jahre
vomer gedradrt worden, Dinge suohea, die doclrgar nicht darin stehen noch
stehen sollten.
188
Die Anfänge der europäiach-abendlftndiachen Musik.
antikeiiLelire ioniscli heiBten lollto, yenetetemiegaiiB eoBtequenter
Weise auf den näcbsthdlieren Ton C u. t. w. Und so ergab sicli
jene sonderbare VertauBchnng der Namen, dass das antike Hixo*
lydisch bei ihnen HypophrypriHch, und umgekehrt das antike Hypo-
phry^iscli bei ihnen Mixolydisch hiess, und so bei allen anderen
Tonarten. Üiese mittelalterliche Nonienclatur hat sich fiir die be-
trefl'enden Octavcngattungen bis auf den heutigen Tag erhalten: man
spricht von phrygischen äieralen, welehe die Griechen aber dorisch
genannt haben wlliden n. s. w. Die Ilteie Zeit machte aber wenig-
stens swischen den Kirchentonarten nnd den griechischen Tonarten
die allerdings etwas Fj itz ^^e^rifTme Unterscheidung, dass die antiken
Tonarten nicht gerade die Kirchentöne sind, wohl aber von ihnen
ropiert werd en. Denn es musste doch auffallen, dass fiir zweierlei
im Wesen jranz verschiedene Tropen, den ersten authentischen und
vierten plaj^alen, nur einerlei antike Benennung, vwdus Dorius, vor-
liege. Ferner gingen die Kirchengesünge des ersten, zweiten oder
welchen Tones sonst mannigfach über die Grenzen der antiken Ton-
arten oder Octavenreihen ^nans nnd seigten sonst UnregebnÜssig-
keiten, daher man sogar „unechte" (nattuu) Antiphonen unterschied,
welehe in irgend einem Tone anfangen, in ihrer Mitte aber einem
anderen angehören nnd in einem dritten schliessen 1). In der
Schrift eines Unbekannten (rujimlam), welche im Strassburger und
St. Emmeraner Codex den liucbahliKchen Tractaten beige^<'ben
ist, heisst es daher: man wisse denn auch, dass die dorische 'l onart
zumeist vom ersten authentischen '1 One regiert wird {quod Dotius
nuixime proto regiiur)<, in gleicher Art die phr^ gische vom zweiten,
die lydische vom dritten, die mixolydische vom vierten'). Aber
derselbe Tractat sagt auch ohne Weiteres: „der fllnfte Kirchenton,
den wir auch den lydischen nennen, der siebente Ton, der
auch der mixolydische heisst" n. s. w. Der tiefgelehrte
llermannus Contractus spricht von der Identität der Kirchentöne
und der antiken Tonarten mit der grössten Bestimmtheit. ,,Es gribt,
sagt er, vier authentische und vier Plagaltönc (plagae, laterales
vel suhjugnhfi). Nach der Sprache der Alten heissen die ersteren
Dorisch, rhrygisch, Lydisch und Mixolydisch, die Subjugaleu
(Plagaltöne) aber Hypodorisch, llypophiygisch, Hypolydisch, Hypo-
mixoljdisch.** Doch gesteht Herm annns dem anthentiBchen und dem
1) Scire autem oportet peritum cantorcm, quod non omuis tonorum con-
Honantia in quibustlam antij>honis facilc co^'noscatur. Sunt namquc quacdam
antipbonac, quas nothas id cbt degeiuTHtHH et non logitiinas appellamus,
qnae abono tono iucipiunt, altcrius sunt in uu-dio ctlntertio tiniuntur: qu0>
vum dit^sonantiam et ambignitatem etc. (Begino von Prüm, de harmon. in-
BtituÜone.)
8) Bei Gerbert, Script. Bd. 1. 8. Id9.
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Hucbald von St. Amand und das Organum.
129
PlagaltoB noch denselben Bchlasiton su. Das mittlere D endet den
eraten Plagalton, wie seinen autliontischen ii. s. av." ^).
Gans auBcIriirklich und rückhaltlos 8ielit auch Abt Wilhelm von
llirst liau lind Al»t En^^elbcrt von Admont (um 1280) di«' Tonarten der
(iiiechen und die Kii chcntöiie als eines und dasselbe an. Hoetliin.s
hahe ja von gar nichtH anilercin gehandelt als eben nur von den
Kirchentöuen ; weil er aber, wie er selbst sagt, au dcu hergebrach-
ten Benennungen nicfats indem wollte nnd die alten griechischen
Benennungen beibehielt, sei sein Buch gar zu schwer sn verstehen.
Denn, fthrt Engelbert fort, „der erste anthentäsche Ton wird nach
Boethius der dorische genannt, entweder n.u h der Provinz Dorien
oder nach irgend einem alten griechischen Musiker Dorius^). Sein
Plagalton, das ist in der Ordnniifr der zweite Ton, hcisst der hypo-
dorisfhe, das ist der dem dorischen untergestellte, nämlich als
zweiter gegen den ersten Principalton" u. s. w. Der bei
Boethius vorkommende hypermixolydische Tou macht dem gelehrten
Abt keine Skrupel, er ersetst ihn durch einen hypomixolydischeu,
der zugleich der achte Kirchen' oder vierte Plagalton ist. Dieselbe
Anordnung erscheint auch bei Johannes Cotton, auch ihm bt der
achte Kiichenton dm hupomixalydicus'^).
Die Bpeculation wagte es auch, und zwar schon durch Hucbald,
ganz neue l'f'ade zu betreten. Dahin gehören die Versuche Ilucbald's
eine neue Tonschrift, welche wirklich dem Bediirt'niss genügen
könnte, zu erfinden, und seine Untersiu lmngen über das Orgaiium.
In jenen Versuchen ist es ein merkwürdiges Schauspiel, wie Huc-
bald sieh allmfilig von seinem verehrten Boethius losmacht, und so
schwerlkllig seine Anstalten inr Bezeichnung der Töne auch sind,
er hat eine Ahnung von dem was Koth ihut und wie es erreicht
werden könnte, wie denn Hucbald, in dem man meist nur den tief-
gelehrten Theoretiker erblickt, unverkennbar einen gewissen prakti»
sehen Schick und Takt hatte. Er gerät!» auf den Pfaden seines
Forschens endlich dahin, dass er mit seiner neuen Notenschrift auch
ein ganz neues Tonsystem findet, neue Namen der Töne eintlilirt,
die freilich kaum bequemer und mundgerechter sind als die griechi-
schen. Hucbald tritt gegen die Neumenschrift scharf polemisirend
auf: sie leitet, sagt er, nur auf unsicherem Pfade. Es kommt dar-
anf an für die Tonhöhe ein sicher andeutendes Zeichen sn finden.
Die Stelle des Boethius, wo von den an die Stelle der langen Ton-
benennnngen abkürzend zu sct/cnden Biiclistabenzeichen die Rede
ist, regte Uucbald zu einem ähnlichen Versuche und zwar mit Anwen-
1) A. a. O. Bd. 2 S. 132 u. ff.
8) A. a. O. Bd. 3 8. 844. Es wird kanm nOthig sein su erinnern:
dass es keine Provinz Dorien, sondern nur ein Bergländohen Doris gab,
und dass kein Tonkünstler ^lameus Dorius existirt hat.
3) Bei Gerbert Script. IL 8. 243.
Anbr«!, GMcbtehte 4« Mnilk. n. 9
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130 Die Anfänge der eoropäisch-abendl&ndiBcheii Musik.
dnng der lateinlBeheii Baohatftben an: Tsoll die Meie (il), m Lieba-
OOS meson (G), P die Paiypate meson (F^ bedeaten, 0 die Hypate
meson (fi), ^liehanos hypafton (D), i. B.
TM M p im pe f . . -
No-ne-uo e a ne, d. i. ^
ne <• no • e
Dieser Tonachrift bedient sicli Tlucbald selbst nur gelegentlich ia
demselben Tractate de harmonica iHdiMoiii»^ um damit einige
AntiphoiieiianüKiige an notiren:
I. M IM pm i PC f ^ ff ^ V ^ » ^ ^
£ruut pnmi novissiiui ZZZ
mb ff
Ave Maria
fb f b p p e
Emnt primi no - vi-si • mi
A-ve ma-ria.
veni et osiende r:^' ^
▼e • ai et o-stea-de.
und andere mehr. Diese Nutirmip:fiart gcnti^o ihrem Erfinder nicht.
Kr prrüholto ( ine andere aus, mit deren Auseinandersotznnp^ er seine
inusica Enchirindis eröffnet. Er legt ihr den Buchstaben F zu
Grunde, und weil es für die Kirchentonarten vier Schlusstöne
{f^tKÜes) gibt, so erdmdtt er vier Varianten jenes Bachstabens.
Wird an die Stelle des oberen Querstriches einlic ^eades 8 gesetzt,
reprSaentirt diese Bildong den Ton D, ein abwirti gekehrtea 0
dahin an^robracht soll den Ton E bedeuten, das 0 anfwlrts gekehrt
den Ton G, der einfache, eiiiein / gleichende, etwas geneigte Hanpt-
stridi (T simpler et inrHnnm) dvn Ton F. Kehrt man diese Formen
nach links, so erhält mau die Zeichen fiir die vier tiefsten Töne
(fjvares), nur muss das seine Form in rler Umwendung nicht ver-
ändernde / in ein N vervvamieit werden. Gcstiir/t und links ge-
wendet (das S umgekehrt) bedeuten die Zeichen die vier den Final-
tttnen nKchsthöheren (superiort8)\ xur Beaeichnnng der folgenden
vier noch höheren fexcdUidea) wendet mau die gestttnten Zeichen
nach rechts: an die Stelle des I kommen zwei einander kreosende
(itda perfixim)^ das ist X FUr die sswei letzten und höchsten Töno
werden die zwei ersten Zeichen niedergelegt. Auf diese Art erhält
Hucbald vier Tctrachorde : graves, finales, superiores, exreUeniea
(mehr zwei T("mei. l inc Eintheilung der Töne, die auch bei den
weit späteren Autoren .Johaunes Cotton und Engelbert von Adinont
beibehalten wird. Im Tetrachord erhält je<les Zjeichen nach seiner
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Hucbaid von St. Amand und das Organum. 131
Stellung die nXhefe Beielehiiiuig: das erste, swette, dritte, vierte
{archooSf deuterus, trilus, tetrardus, also s. B. Archoos gratfis, Den-,
terus finalis, Tritus fiMoUs, Triiku MjMridr, Ardtoos exceUew,
T^rardus excellens^).
Die panze Anordnung ist den antiken Benennungen analog,
und es hat dieses Schrift- und zugleich Tonsystem folgende Gestalt:
•nbOM dcQt. trlt. totr. d. tr. t. •. d. tr. 1 •> i. «r. t.
Till ITTin JVA il l,L^'~l^$-^
Graves Fin:iKs Superiores ExoeUentes
Q, A, B. C D.E,F.Q, a. b. c d, e. f, g. aa. bb, ee.
FOr die swei höchsten Tdne bestimmt Huebald keinen Namen, Abt
Oddo (im Schema seines Monoebofds) nennt sie die „Übrigbleiben-
den" (remanentes).
Diese Tonschrift ist fireilich einfaehcr als die antike, sie hat den
Vortheil jeden Ton genau nach seiner llühe anztigehen, und Huc-
baid bedient sich ihrer oft, indem er die Zeiciien entweder über die
Textessylben oder auch zwischen die- Textessylben setzt. Aber sie
hat den sehr wesentlichen Mangel mit der antiken gemein, d ass sie
das Steigen und Fallen der Stimme nicht versinnlicht. Uucbald
dacbte an Abbilfe: er sog Linien und schichtete swisehen sie die
Teztessylben, wobei die Zeichen 2* und S am Rande links a ndeuten,
ob von t&aet Linie snr andern der Schritt eines ganzen oder eines
halben Tones gemeint sei, and kniae Diagonalstriohe das Auge von
einet Linie aar andern leiten.
< ta
K "~ K / \ bis \ ~
9 ~ £o \ Isra \ / in qno \ o / no\
8 ce\ II / he do / on\
9 vere 7 est
f
Hier ist nun allerdings das Auf- nnä Absteigen der Stimme bis
1) Die EtntheUang der Töne sa je Tier, als graves, finales, aontae, 8ui>er^
acuta • und excellentes, findet sich auch bei Johannes Cotton (bei Gerbert,
Scrript. Bd. 2 S. 235), der diese Eintheibmg doch wohl nur mittelhar oder
unmittelbar aus Hucbaid genoiuineu haben kann, ob er ihn gleich nicht
nennt. Die Anspielung: datur eis ad hoc et alia a quibusdam per graeca
vocabula discretio, geht zweifellos auf Hucbald's Archoos gravis u. s. w.
Auch Engelbert von Admont nimmt diese Eintheilung an (Tract. III. Gap. 14).
2) u Gerbert*t Script. Bd. 1. S. 109 ist diesea Exempel auf nur fDnfLinisa
gesetzt und geht nur bis zu den Worten in quo, obschon sich der erklärende
Text Hucbald's auch auf das dolus non est ausilrücklich beruft. Ich gebe es
hier nach dem mir vorliegenden Codex aus dem Ii. Jahrhundert, wo aber
9*
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132 Die AnfUnge der europäisch-abendländischen Musik.
zur Handfjrciflichkeit vcrsinnlicht. Dape*ijen lassen sich die Töne
nur a\is der Anordnung von Ton und Ilalhton errathen. Hucbald
verband daher seine J>inien mit seiner Zeichenschrift, indem er
seinen Archoos p^ravis, Deuteros gravis und so weiter als Schlüssel
links an den Rand setzte:
lu/ i\
das ist
fi_Ai\
le\ u\
JF
ff
a
32:
t9
32:
AI - le
lu
Diese Schreibart wendet Hucbald auch und vorzüglich an, wo er
das Zusanuuensingen mehrerer Stimmen versinnlichen will; wobei
die leitenden Diagonallinien besonders dazu nützen, zu verhüten,
dass der Sänger aus Veroehon in eine fremde Stimme gerathc:
tx / roini\ pe \ ru \
»it \ oria/ iM\ cida bitur D<uninu8 in o / ri \ ; ia
sat'/ \ ta /
/ mini \ lae /
k]o/ Do \
u _
tl/^Uitt oria/
Sj glo/
bU8
pc\ SU \
cula bitur Dominus in o / ri \ / is
bus
sae/ \ ta /
lae/~
pe\
BU \
bua
/ mini \
t \ sit \ oria/ i n\ rnla bitur Dominus in o / ri \ / ia
SP^ glo/ Do \ eae/ \ ta /
sit \ oria /
glo / ~
/ ntini \
lac/
pe \
in\ cula bitur Dominus in o / ri \ / is
SN
siio/ \ ta/_
fae/"
bus
wieder die sonst vorkommenden Diagonalstrichc fehlen, die ich hier bei-
gefügt habe. In unsere Noten übersetzt, sähe jenes Beispiel so aus:
*5»-
IE:
Ec-ce ve-re Is - ra - e - Ii - ta in quo do - lus non est.
oder, nach den Andeutungen der alten Schriftsteller declaiuirt:
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Hnobald von St. Amand und das Organum.
133
*v 6t —
Sit glo - ri a
6» O
Do - nii - ni in sae - cu - la iac-
-« (9 —
«» g> €^ €^ ^ ^ &
1
ta - bi - tor Do
Till
nns in o - pe - ri - bus su - ig.
DiPsc f^clireibart hat etwas ungemein Viibeliilfliches und Schwer-
falliges; Augje und Sinn, so unaufhörlich über die Linienstufon anf-
und abgeführt, fehlen sehr bald eine Ermüdun«:. jener Shnlich, die
man empfindet, wenn mau in einer alten KittiTburg oder einem
alten Kloster Uber fussbohe Treppenstufen steigen mass^). Aber
darin, das« Hnebald die Tonhölie dwelt ein linien^item und dureh
ein Tonngestelltes ScUllBselseichen sweifelloB andeutet, hat er nicht
nur möglich gemacht was bei den Nennten unmöglich blieb, sondern
es beruht, wie man sieht, seine Erfindung auf derselben Grundidee
\*ie unsere Notenschrift, denn auch wir wenden Liniensystem und
Schlüssel nn. Da in der Neumenschrift der Punkt einen einzelnen
Ton bedeutet, so liJitte es sehr nahi' ^ele<ren statt des ungeschickten
Einscliachtelns derTextessylben die Stelle des Tones auf den Linien
durch eiueu Punkt zu bezeichnen, was wie von selbst weiter darauf
£c-ce ve - re Is-ra - e - Ii - ta in quo do • lue non est
1) Ein in Huc})akrs institutio Laniionica vorkommendes Schema fol-
gender Gestalt (Siehe Gerbert. Script. 1 Band S. 110):
(in dem von mir l)enützten Codex also:
TbTTSTTT — 8 fi t 1)
halte ich nicht, wie P ^fartini thut und auel» Forkd annimmt, für eine
ei}?entliche Notenschrift, als u eiche Hucbald diese Striche nnd Punkte gar nie
benutzt, sondern eben nur, wie der erklärende Text seifft, für ein Schema
nur BrlAutemng der Folge von Tdnen and HalbtOnsn in dw Skala, nämlich:
AUCD EF Ga .hld ff g
134
Die Anf^lnge der europ&isoh-abendl&ndischen MusiL
geflUirt haben wttrde, nicht blos die Zwitehenribinie, ■oncleni eneh
die Linien selbst in solcher Weise zu benutzen. Dass Hucbald auf
diese naheliegenden EinflÜle nicht ham, hat ihn um den Rohm
gebracht der Erfinder unserer Notinmg zu heissen. Seine Noten-
sdirift blieb vorläufig unbenutzt; die Singmeister zogen die ge-
wohnten Neumen der unbe([ueiiHMj Hucbald'schen Liniennotirung
vor und mochten lieber in den MUckentanz ihrer Virgä, Podati und
Cephalici schauen, als sich auf jenem plumpen Treppenbau auf- und
abschleppen lassen. Eine entschiedene Verwandtschaft mit Hncbald's
Linien hat die Notiningsweise, Ton welcher schon Vineenso Galilei
durch einen befrenndeten Florentiner Edelmann ans einem sehr alten
Codex (antichissimo Jihro) Proben erhielt, wie dergleichen auch
P. Athanas Kircher in einem aus dem zelmten Jahrhundert, also aus
einer nucliuld fast gleichzeitigen Epoche hemihrenden Manuscripte
in der Bibliotliek des Klosters St. Salvator bei .Messina fand. ,,Es
waren," sagt Kircher, ,,acht Linien gezogen, denen aniKande ebenso
viele Buchstabeu entsprachen, auf den Linien aber war dan Auf-
nnd Absteigen der Stimme in Fonkten oder vielmehr in kldnen
Kreisen angedentet^)." Durch diese Pnnktirang war die Behreibart
etwas bequemer als die Hoebald'sehe, ob sie schon eine Ihnliehe
Un Vollkommenheit an sich hat, dass nicht die Zwischenräume der
Linien, sondern nur die Linien selbst beuulat sind. Die griechischen
Burlistaben am Kaude kilunen füglich keinen andern Sinn haben als
Schlüssel zu sein, aber sie accommodiren sich keinem System und
keiner Nomenclatur jener Zeiten. Hätte der ,,gute Kopf^* ( wie ihn
Kiesewetter uenntj, der auf den Kinfuli kam zur Bezeichnung der
TSne Funkle auf Linien sn setzen, statt der Beseichnnng a — B
1) Mosorgia 1. Theü 8. SIS. Xirdier gibt fölgendes Beispiel:
An der »Sache selbst zweifle ich nicht. Xircher's Gelehrsamkeit hat freilich
etwas MoiutrOses und seine Leichtgläubigkeit ist ohne Grenzen: er hateioh
aufbinden lassen, dass die Faulthiere das utre mi fasol la sehr trefB ich singen.
Aber Kircher ist ein elirlicherMann ; ii-li xwt'ifle nicht, (Ih^h er jenen Codex in
Händen gehabt und das» ergetreu Ix richtet. So heisst es auch in Galilei'sdia»
logo : si servirono i musici prattici che furono pooo avanti ai tempi gl Guido
Aretino per si^nificare Ic corde delle cantilene loco degli istessi caratteri che
uaa vana gia gli antichi Greci e di quelli ancora de Latiui gegtiandoli sopra
idte Hnee in questa maniera ad imitaiione forse delle sette oorde deU* «utica
oithara. Galilei gibt S. 37 (erste Auflage von 1581) Proben gaius ähnlicher
oder vielmehr derselben Notiningsweise, jedoch auf einfni System von zehn
Linien und ohne Schlüsselzeicheu. Der Codex, in dem diese Notinmg
Hucbald von St. Amand und du Organiini.
135
vielmehr die Gregorianischen Bncligtaben oder «llenfkUf die alt-
^iechiächen Namen beigeBchrieben, sowire seine Erfindung schwer-
lich ,,in die Mauorn soines Klosters vergraben*' und kein „ohne
Natsen abgelaui'eiier Versuch geblieben"^).
Diese Versuclio einer zweckmässif^eren Notiriuij; vcnnoehten
nieht »ich Geltung zu verschaiTuu; dajj^egeu kam der zweite von
Hucbald behandelte Haujjtgegenstandi das Organum, zu grosser Be-
rühmtheit. Die Chronisten reden von der am wgeuumäi, wenn sie
kunstreichen Gesang andeuten wollen *); auch in den Minneregeln
des Eberhard Cersne von Minden (1404) hnsst es:
der meyster selfysereti
nicht waz vor irem Sange
noch organiterm u. a w.
und noch die Kirch enversaimnlnng von Toledo 1566 redet von
„oiganischer Musik" (mu^'ca quae organica dicitur). Hucbald ist
der erste, der von dieser Art zu singen umständlich handelt, und so
erschrecklich dieses Orpranuni sein map^, Uucbald's theoretische Aus-
einandersetzungen darüber bleiben ein bedeutsames Beispiel, wie
Probleme, für welche sich in Boethius kein Anhaltspunkt fand,
speculativ behandelt wurden. Der Ernst dieser Forschung verdient
Achtung. Mit dem Worte Organum bes^ehnete man jeden Gesang
mehrerer nicht im iSnklange oder der Octave mit einander singender
Stimmen. Johann Cottonius erklltrt: es sei jene ttbereinstimmende
Entzweiung mindestens zweier Sftnger, wobei einer die rechte Me-
lodie hält, der andere mit fremden aber passenden Tönen beiher^
geht, bei den einzelnen Schlüssen aber beide in Einklang oder der
Octave zusaunnentretiVu '). Der P^inklang (Unison) ist, wi«- Hucbald
bemerkt, kein Intervall, keine wahre Consonanz, sondern Identität.
Die Consonanz beruht auf dem Zusammenklingen zweier Töne, die
nicht denelben Tonstufe angehSren, die also Jeder fUr sich ein Be-
sonderes sind^). Die Diaphonie, auch Organum geheissen, besteht
stand, gehörte jenem Florentiner Freimd»». Aus der Luft pregriffen hat
Galilei die Sache also nicht, aber sein Zeuguiss ist doch nichts werth; er
redet von dieser Notirang als von einer gans allgemein flblichen
Sache, und das war sie nicht, sonst müsste sie h&ufiger vorkonunen
als in panz vereinzelten Beispielen. Dit- Itci^'csi-tzten pnochisclu'ii Buch-
staben bei Kircher unterstützen Galilei s Angabe in Etwas, aber sie sind
doch keineswegs l'istessi caratteri wie die antike Notenschrift.
1) So beurtheilt ihn Kiesewetter: Gesoh. d. abeodLMosik. 8. Aufl. 8.87.
2) So der Monachus Engolismensis.
8) 8. Gerbert» Script. 8. Bd. 8. 268.
4) Et de aeqnahbns quidem vocibus, quoniam ipsae per se patent, nihil
aliud dicendum, nisi quod communis vocis impetu profenmtur in modum
solutae orationis legentis et quod una tantuni vux est, quotiescunque repe-
tantor; veluti si unicam qnamlibet literam saepius scribas aut proferas ot
n, n, a et quod nulla inter eas est consoiiniitia, sunt enim aequisonae non
cousonae. Nam in conaonautia duae voces a se omnintodo disiautes simui
Gonoorditer sonant (De harm. inst bei Qerbert, Script. Bd. 1 8. 101)
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136 Die Aniknge der earop&isch- abendländischen MusUc.
nicht ans gleichartigem, sondern ans einem „emtrlehtig
spSltigen Gesänge"*). Es gibt einfache and zusammengesetzte
Consonanznn (Syrnj^lionien): die oitifaclion sind Diatessaron, Dia-
pente und Diapast)!!: aus diesen drei werden die anderen combinirt-).
Die Octave uuler.->( Ii<'idet sieli V(nn Kinklaa^e nur wenig, denn jed»'r
Tou wird an der acUtcu Stelle gleichsam neu geboren und leitet
neue Ovdnnug, d. h. eine neue Octavenskala, eia^. Man kann
einen Gfresang in swei bis drei Octaven verdoppeln, das ist der ein-
fachste nnd fiuslichste (faeßior d aperücr), aaeli der erste Zu-
sammenklangt).
I
I I I I
Ttt pa - tris sem-pi • ter -naa e« fi • Ii • os. ' ''^
Der Name Organum oder Diaphonie kommt nun zwar allen Con-
sonansen sn, aber ganz besonders den Quarten und Quinten Die
Quinte entspricht ihrem Gmndton; sie seigt nimlich in den Fort-
schreitnngen der Melodie gans dieselben Schritte von Tönen und
Halbtönen.
1
^ Ä ja 3 ^"^^ 4^,
R -r- T — r I I I i ' I 1^ ff^ P
Tu pa - tris sem - pi • ter - nna «s fi • Ii • W
Dieser gleichartige Gesang wiederholt sich erst bei der Quinte, wie
der leidbt su machende Veisuoh augenfKlHg zeigt :
G occcdi|AQ
FABBBBB'^AGF
EG A AAA A tl G lOs
B F G G G GGAE^ D
1) Dicta antem diaphonia, quod non uniformi canore constet, sed
oonoenta concorditer dissono (Mus. enchiriadis Cap. 13 a. a. O. S. 165).
2) Nämlich die Undecime, Duodecime, Doppeloctave u. 8. w. Auf-
fallend ist es, das» die Oetave filr Hiicbald eine einfache Oonsonanz ist,
du sii> iloeh aus der Zusuinmeusetzung von Quinte und Quarte besteht,
was ilucbald auch ausdrucklich erwähnt: Fitque ut Semper diapasoa
•patiom diateasaron ac diapente compleatur (a. a. O. 8. lo8).
3) Ab unoqaoque sono locis ootavis renoto ut ita dioam Toce noras
ordo emergat (a. a. O. S. 163).
4> A. a. ü. S. 180.
6) 8. 166.
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Hucbald von St. Amand and du Ol^anum.
137
Hier trifit der Halbton immer avf eine andere Stelle, nnd nur ent
mit der erreicbtMi Quinte bat man deoaelben Tropus wieder ge-
funden; der Gesang ist dann wiedw genau derselbe, ohschon er um
filnf Töne höher liejrt. l<nraiis folgerten einige Lehrer, der fünfte
Ton, die Quinte, f^ei mit dt ni Gruiultone so gut wie identisch, dalier
Bie beim Nutiien für den tiinften Tun dasselbe Zeichen setzten wie
flir den ersten i). Verschiedene Tropen (zweierlei Tonarten) dttrfen
nun, wieHncbald weiter lehrt, nicht gleichseitig mit einander gehen;
daher iat das Organum mit der Quinte oder der Octave nnd Qninte
maammen ganz nnbedenklicb ; das Organnm mit der Qnaite ist da-
gegen nicht immer anwendbar, sondern muss kunstgerecht mit der
nfUhifren Vorsiilit behandelt werden 2\ Es gibt daher auch mehre
Gattungen des Organunis, je nachdem es aus Quarten, aus Quinten
oder aucli aus deren Verbindung mit > erdoppelten Octaven besteht,
Uabei ist die eine Stimme der llauptgesang (vox pnncipalis), im
Sinne des gegebenen Themas, des cantiis firnims; die andere bt die
Organalstimme (vooc organalia)^ welche den Hanptgesang in der
Qnarte oder Quinte begleitet Singen die Stimmen alle in Octaven,
so ist eigentlich gar kein Organum da, weil beide die voxjwjnc^poZw,
nnr in zwei Tonlagen, Ubereinstimmend ausAihren.
Der Oesnng in Quinten oder Quarten ist nun die eine Haupt-
gattung des Organums : das Parallel-Organum könnte man es nennen.
Eb gibt noch eine andere Gattung, welche man als das schweiiende
Organum bezeichnen kann. Diese lasst allerdings auch noch Quart-
parallelen vorwalten, mischt aber im Durchgänge Secunden und
Tenen ein, letstere jedoch so, dass nie zwei Terzen auf einander
folgen. Hucbald sieht es als ein Quartenoiganum an (daher das
Yorhemchen der Quarte), bei dem wegen der gerügten Unvoll-
kommenheit dieses Intervalls anderweitige IntervdUe surHUfe her-
beigeholt werden.
Jl mari8 \
t J mine/ un\
t / do/ .
»r U/ maris\ \ ni
coe/ mine/ vn\ %o f
T 1 -Rex / coe Ii do/ di/
S M
1) Diesen seltsamen Irrtbum erfahren wir gelegentlich durch Guido
von Aresso, der sich mit Recht darflber ereifert, weil „einige Quinten,
wie B (Sl|) zu F dissonircn, überhaupt keine Quinte mit ihrem Grundtone
vollkommen übereinstimmt (perfectc concordet) und kein Ton ausser der
Octave mit einem andern völlig übereinkommt." Daher denn einige
Neuere (modemi quidam) sehr unklagerweise : quatuor tantum signa po-
Buerunt, quintum videlicet sonum eodem ubique oharaotere figorantes
(Micrologus V. bei Gerbert, Script. 2. Bd. S. 7).
8) ikscipulua. Quars in diatMsaron symphonia vox orgsnaUs sie sibso-
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13d Die Anfitaige der enropftisoh-abendlftndiichen Moaik.
1 t • 4 4 4 ^ 4 4 11
^ Q. O.
4a:
Rex coe - Ii Do - mi - ne ma •ris uu-di-so-ni.
Ti-to*iiiiiii>ti*di •qiift»]i • di - que to • Ii
nu m - Q • Ol tqna-u - oi - que to • iL
Te hQ-mi-lM &-1D11-U mo^dn-Iis ▼e-ne-nn-do pi - is.
m
•7g~-g
^ ^ 4^ ^
4
t
Tu |M-trit Mm-pi-ter-iM» et fl • Ii • oi.
Dieses schweifende Orgennm ist, trota seines regellosen Aussehens,
wie man sieht, kein Produkt der ^"illkthr, «her kaum sehr viel hesser
als das andere und eigentlich ebenso roh. Es bleibt aber doch
merkwflrdig, weil hier anm erstenniale Noten im iJurcbgange, ins-
l)Psnnflor(» fnicli Dispornnzen, nnftroten. Es hat sclir lanpre geilnnert,
ehe man mit dissoniienden Tonen anders fertig zu Merdt-n vuBbte,
als si(^ im stufenweisen Durcl)gango anzubringen. Dieses Organum
wird von Hucbald nur zweihtimmig angewendet, ist auch, wie er
bemerkt, nicht flir jedes Thema gut anwendbar*
Das parallele O^annm dagegen kann man, wie Hncbald ver-
richert, auch in reicherer Stimmensahl Terdoppeln. Entweder die
Principalstimme wird in der Octave mitgesungen — eine mittlere
Stimme kann, da es zwischen eins und acht keine wahre Mittelaahl
gibt, dann nur so mitgeben, dass sie gegen die obere Knabenstimme
um eine Quinte tiefer, gegen die untere Männerstimme um eine
Quarte liiiber mitgebt — oder umgekehrt \): eine soUlie Anordnung
der Stimmen bringt also das Quinten- oder Quartenorganum zugleich
xnr Anwendung. Oder es liegt die Principalstimme in der Mitte,
und das Organum wird yerdop pelt, wo dann wieder die ^e
Inte convenire cum voce principali non potest, sicut in symphoniis aliis?
Magister. Quoniam, ut dictum est, per quartanns regioues non Odern
tropi repernrntuTf aiveriarumgm tmponm modi per tohm HwmU ire
nequeunt. Ideo in diatessaron qfmphonia non per totum vox principalis
TOxque organalis quartana regione consentiuut (a. a. O. S. 192).
1) Ubi attendendum est, nt vox media inter duas ne aequo spaiio ae
ad utrasque habeat, quippe cum in octavo numero unitatis medietas non
•Ü, verum si ab inferiori latere ad eantum diatopsarou spatio responde-
tttnr a supcriore vero spaiio diapente (bei (ierbert, Script. Bd. 1 S. 166).
HaclNtld von Si. Anuuid und das Orguunn.
139
gegen die Hauptstimme in Quarteo, die andttre in Quinten mitgeht
Oder es können Mde Bliaimen in Oetaven verdoppelt werden:
Tu pa - tris sem-pi - tor-nus es fi - Ii • us.
. I I ! I 1 I J I , ,
g ^UTfl^ fi> fl^ fi> fiT^ » p 3 g H
Yaler Hacbald sweifelt meht an der herrlichen Wirkung: „Singen
ihrer,** sagt er, tiS^^i o^^i* niehr mit bedächtiger Ghravität zusammen,
wie es diese Singwmse erheischt, so wirst du ans der Vermischung
der Stimmen einen angenehmen Zusammenklang entstehen sehn**
Das ver(lu|ij}t'lte Ori^anuni ist nacli Hucbald's Idee ein besonders
schöner reicher KhmgeflVkt, denn ,, diese Symphonien werden ver-
schiedene und süsse Cantilenen in einander mischen" (Qu;irt»'n,
Quinten und Octaven); mit massigem Zügeru gesungen, ^enau aus»
geführt, wird die Annehmlielikeit dieses Gesanges ausgezeichnet
heissen dürfen"^.
Sehr hemerkenswerth ist an beiden Gattungen des Organums,
das» die Harmonie gleich in ihrer Entstehung nicht als accord>
mfissiges Zusamnienklinp^en von zwei oder mehr Tönen in diesem
Zusammenklange betrachtet, sondern als paralleles Nebeneinander-
gehen zweier Stimmen verstanden worden ist. Die vox prinripalis
tritt als cantus firmus auf, sie ist den überkommenen Kirchen-
gesängen entnommen. Dazu lässt der andere Sänger sein Organum
httren, das entweder der ersten Stimme Schritt fdr Schritt, aber in
der Distans einer Quart oder Quinte folgt, oder eine Art barbari-
sehen Gontrapnnkts, Ton gegen Ton, in yerschiedenen Intervallen
mit Torwaltenden Quarten versucht. Diese zweite Gattung Or-
ganum konnte der Sänger wohl auch nach Einsicht, Geschmack und
Kegel improvisiren; sollte aber ein bestimmter Tongang ein- für
allemal beibehalten werden, so musste man ihn natürlich notireu.
1) Sic enim duobua aut pluribus in uuum canendo modesta duntaxat
et ooncordi morotitate, qnod suum est hujus meli, videhU naaei tuavem
ex hac sonorutn commixtiove coneenhnw (a. n. ().), Dieses Dictum ist
für den ehrwürdigen Hucbald fast SO som Wahrzeichen geworden, wie
für Cäsar sein Veni, vidi, vici.
2) Vemmtamen modesta morositate edita, quod suum est maxime pro-
prium et concordi diligentia procurata, lioitcstissinia erit rantinnis suavitas
(im Dialog S. IbÖ). Unter morusitas ist uilera Auscheine nach nicht blos
ZAgem (von Mora), sondern auch nach seiner eigentlichen Bedeutung
eine gewisse ernste Yerdriesslichkeit, Pedanterie („nimia morositas" bei
Sneton), am besten gesagt: eine gemessene Gravit&t zu ventehen.
Frine.
140
Die Anfiknge der earop&i8oh>abendUndiaohen Moiik
Beim PanUel-Organiim war dagegen die besondere Notirung dea-
selben überflüssig, jeder konnte es nacb der aufbotiiten Prindpal<>
stimme allein aasfUhren. Diese Unterscheidung wurde spfiter, bei
bereits namhafi: ansgebildeter Kunst, wichtig. Wurde eine sweite,
dritte u. s. w. Stimme nnch dem bl<»Rsen Einblicke in das den cantus
firmus enthaltende Btu li improvisirt, so nannte man es ,.über dem
Buche singen" (sujnd lihnoii (ayto'e). Die ordentlich ausgearbeitete,
niedergeschriebene mehrstimmige Composition hiess „die fertige
Saehe" (res facta)
Erfinder des Organums ist Huebald auf keinen Fall. Ans
seinen Worten „wir nennen es gewobntermassen Organum" (not
assuete Organum vocamus) ist freilich nicht viel zu folgern, „weil
(wie Kiesewetter bemerkt) Autoren, besonders die Didaktiker, von
sich gerne, wie die fürstlichen Häupter, in der %-ielfacben Zahl
sprechen." Aber an einer anderen Stt He sagt Huebald sehr be-
stimmt: ,,I)ie Consonanz ist die \\ olin)egrUndete und zubammeu-
klingüude Vermischung zweier Töne, welche nur dann vorhanden
ist, wenn sw« yerschieden angegebene Töne in einer und derselben
Modulation ausammentreffen, wie wenn Knaben» und Männerstimmen
xusammen dasselbe singen, oder auck in dem was sie ge-
wobntermassen die Organisation nennen" (quod assude
organizeUumem vocant). Diese wenigen Worte dürften entschei-
dend sein. Unter den SJingeni hatte hieb also jene Manier gebildet,
die sie organisiren, das heisst nach Art der Orgel zusaiiiniensingen^),
nannten. Guido von Arezzo weiss kein Wort von Huebald, al)er
das Organum in C^uarteu und Quinten kennt er sehr wohl und redet
davon wie von einer allbekannten Sache. Der schlagendste Beweis,
dass das Organum sebon su Anfimg des 9. Jabrbunderts, also Tor
Huebald, etwas allgemein Bekanntes war, liegt darin, dass Scotna
Erigena davon redet und es mr Erliuterung eines pkQosopkiscben
1) Res facta idem est quod cantus compositus (Tinctorii Diffinit.).
Noch deutlicher und ansfDlirlicher erklärt Tinctoris den Unterschied
zwischen supra libnim canere und res facta in seinem Lilier de arte con-
trapuucü 2. Buch, Cap. 20. Auch Franchinus Gafor unterscheidet die
„Organiiirenden" von den „Gomponiatmi*': Qua re sane dozimiii oondnden-
(lum, foiif r;ipuii(tum divcrsis figuris et speciebus scu elementis, legalium
tameu mandaturum observatione, posse constitui, quod organizantium atque
comporitorum novimus arbitrio esse committendum (Mus. pract. HI. 10.).
2) Bei Johann Cottonius: Ett ergo diajihonia congrua vocum disso-
nantia, quae ad minus per duos cautantes agitur, ita sicilicet, ut altere
rectam modulationem teneute alter per alieuos sonos apte circueai et in
tingolis rmpintionibiu ambo in eadem vooe Tel per diapason eonveniant.
Qui caneiHii modus vulfrariter oniayium dicitur: eo quod vox Liniuiria
apte dissonans simxlitvulinem expiitnat instrummtif ^od Organum roca-
tur. (Gerbert, Script. 2. Bd. S. 263). So erklärt auch du Gange organi-
ssre „oanere in modum orgsm". Auch de Muris (Speculum VU. 4)
nagt: quia vox homini» apte concorda&s et dttstmans Boavitatem'e^primit
instrumenti, ^uod vocant Organum.
Hucbald von St. Amaud and das Organum.
141
Satzes benatst^). Die Entstehung des Organums als Nachahnmng
der Instrumentalmusik deutet Uucbald selbst in einigen Worten
flüchtig an, oder wenigstens dass man (is auf Instrumenten anzu-
wenden pticgo. Das Uiir wird tVoilicli von dem Geheul dieser
Quinten uikI Quarten zerrissen. ,,Das Or^annin", meint Kiesewetter,
„müsste schon Uucbald aufgegeben ha heu, wenn er es jemals selbst
mit eigenen leiblichen Ohren zu hören bekommen hätte, was aber
(fithvt Kiesewetter sohaUchftft genug fort) der Obere seines Klosters
bei der Probe*) schon nach dem ersten Versett Teihindert bitte, da
unter den Pönitenssen nnd Kastei ungen eine so empfindliche In den
Ordensregeln nicht geoMniU sein konnte/' Dass das Organum je in
HO strenger Conseqnenz ausgeführt worden, wie es Hucbald theore-
tisch erläutert , will uns freilich kaum glaublich erschi inen ; aber
Kemi von Auxerre, Aurelianus Reomensis, Uegino von Prüm rcflen
davon so bestimmt als von einer täglich geübten Singweise, dass man
diesen unverwerflichen Zeugnissen die grösste Qewalt anthun muss,
um im Ofgannm nichts als einen yereinselten barbarischen Mönchs»
einfall sn erblicken, der niigends ezistirte als im Kopfe seines Er-
finders. Dass wirklich und wahrhaftig in solcher Weise gesungen
worden, ist wohl zweifellos. Der eindringliche Quintenklang tönte
damals den Zuhörern kräftig anregend; sie mochten gerade in dem
was uns heutzutage unerträLrlich scheint einen eigenen Reiz finden.
Man könnte fast auf den Gedanken kommen, <lass das Organum
wirklich eine Pönitenz, eine Ascese für «las Ohr sein sollte, dass
man dem Reize weltlicher Musik im Kirchengesange etwas Herbes,
der Sinnlichkeit absolut Widerstreitendes entgegensetsen wollte, so
wie die damalige bildende Kunst ihre Heiligen „bald mürrisch, bald
1) . . . ut enim organicum aelos sot diversis qualitatibns et quan-
titatibns conficitiir dum viritiiii separatimqne eentiuntur, lonjje a se dis-
crepautibus, intciisiouis et remissionis pruportionibus segrcgutae, dum
vero sibi invicem coaptantnr secundum certaa rationabilesque artis muiioae
regnlas per sinyiilos tropos naturalem quamdam dulcctlincm rcddcntibus
n. s. w. (äcotua Kriffeua, De diviua natura). Das Verdienst auf diese
hOdist wichtige Stelle suent anfinwfcsam gemacht m haben gebflhrt
Coussemaker, Hist. de Tharm. du moyen ftge (S. 11). Mau hat das Ol^
ganum bis auf Tsidorus Hispalensis zurückdatiren wollen, weil er sagte
„bannouia est modulatio vucis et coucordautia plurimorum sonurum et
Goaptatio.** Das ist nichts alt der alte wohlbekannte Begriff von Harmonie.
2) Kicsewetter's Behanjttiuijr, das Orjraiium fei „uiiin");rli<:li" und dalier
nie wirklich ausgeführt worden, ist eiue jeuer Liebliugspräsumtionen, die
zuweilen sich ein Gelehrter in den Kopf setzt nnd sie dann um jeden
Preis verficht. Seine Autorität hat mich lange bewogen seine Ansicht
zu theilen; jetzt nach reifster Durch forschtmg der Oriffiiial«|utdl('ii denke
ich andtT''. Kit'SfWf'tter beruft sich darauf, dass geübte »Sänger an einem
Versuche das Organum zu singen sclieiterten. Das ist unbegreiflich,
denn mit festem Vorsätze, (der allci iliiitr'^ dn/u nöthig ist) wird wohl
Sier Musiker im Stande sein eine gesungene oder gespielte laugsame
elodie in der Oberquinte mitzusingen.
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142
Die AniUnge der eoropftiscb-abendländisohen Maük.
tiickiflch, immer aber hlMlieh** 1>ildete; aber die Scbriftsteller wiMen,
wie wir bSrten, nicbt genug von der „SUmigkeit" des Or^anutus /.n
roden. Das sogenannte „Qiiintiren" galt sogar als allgemeine Be*
leiehnnng jeder kanstrollen Musik überhaupt:
sie wissen als viel vom Kirchen regieren,
als rnftUers esd vom guinUrm
sagt Sebastian Brant in aeinem Karrenschiff i). In Frankrdch
brauchte man dasselbe Wort «ijniiifoyir'*. Für den Gesang in
Quarten wendete man den Ausdruck „diatessaronare" an^.
Endlich milSStd es denn aber doch einmal geschehen, dnss man
das H(»rrible einer naturwidrig und hartnäckig fortgesetzten Quarten-
ridcr (^Miiutentolge cuii>t;ind; unbcgreiiiit h, dass es niclit .sclion früher
dvv Fall war. Das C^uintiren wurde dann jedenfalls nicbt so ab-
strakt, wie es die Theorie des Organums lehrte, nicht iu ununter-
brochenen Parallel gängen angewendet, sondern auf tSai gewisses
Mass beschrKnkt Der oiganisirende Sänger beruhigte nach swei,
drei bis vier Quinten das Ohr wieder durch eine daswiscbentretende
Octavc oder einen Kinklang, auch wohl eine Sexte u. dergl. Diese
Manier bildete den Uebcrgang zu dem sogenannten Discantus oder
l)('chant, wie er in Frankreich in Aufnahme kam und der von den
Schriftstellern sogar als mit dem Organtnn iranz gleichbedeuten«!
g«'nonunen wird. Pater Martini fand iu eiucui .Missale des 13. .lahr-
hunderts ein in rotbcu und schwarzen Noten geschriebenes Agnus
Ddf welches von diesem gemässigten odw modifiairfeen Organum
eine deutliche Vorstellung gibt^).
mimdi mi-se - re-re no • bis
Die Quintenfolgen mochten in solcher Anordnung den harten Ohren
nicht so übel klingen. So wie m:\u das Ohr gegen jede Quinten-
folge» auch die berechtigte, zu krankhafter Keizbarkeit verbilden
kann, so kann man es um kehrt gegen den Missklang ungerecht»
fertigter Quintparallelen abhärten.
1) Fol. 206.
2) Vcr^rl. BumcY 2. Bd. S. Ifif) und ICl.
3) S. auch Buniey 2. Bd. S. IGö und Forkcl 2. Bd. S. 451.
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Hucbald von St. Amand und das Oi'ganimi.
143
Da Haebald der Kunst des Orgsnisirens snerst enHOint, dürfen
irir flue Heimat yielleiclit in jenem Nordwestwinkel Enropa's snehen,
welcher dasn prfiriostinirt war, der Welt eine Reihe berühmter
Musiker und masikalisclier Theoretiker zu schenken, ja welcher,
ehe im sechzehnten Jalirlunulort dns Sceptcr an Italien ühorj^inp^,
fiir die wahre Ueimat aller kunstreichen, insbesondere aller hanno-
nisch reichen Musik galt. Aber, muss man entgegenhalten, wie
hätten denn dann die Säuger Karl's des Grossen nöthig gehabt diese
»,neiie Kunst" erst in Rom su lernen, die sie daheim in nächster
Naehbaiaehaft gefunden haben wttrden? Was Goido, mehr als ein
Jahibnndert nach Hnebald, darttber sagt, IXsst wenigstens ericennen,
dass sie inItalien durchaus bekannt war, ohne dass auf eine flandrische
Abstammung derselben irgendwie hingedeutet würde. Es kann höchst
seltsam scheinen, dass die harmonische Kunst, aus der sich später
das WundcnvUrdigste entwickeln sollte, mit Combinationen anfinj^,
welche die spätere reifere Einsicht als durchaus f'elilorhafl und widri<^
verwerfen musste. Sehr wahr sagt Jul. Braun irgendwo, dass an
dem, was heutzutage jeder Schulkuabe weiss, Deukerqualen hängen.
Wir haben nieht Ursache ttber Huebald und seine Zeit an spotten,
weil wir schon als Lehrlinge yon unsem Heistern hSrten, dass swei
reine Quinten in gerader Bewegung eine durchaus verbotene Fort-
schreitung bilden. Huebald bleibt eine ehrwürdige Erscheinung;
liest man seine Schriften, so macht er durchaus den Eindruck eines
milden, liclx vollen Greues: „eine Taube ohne Galle" nennt ihn
seine nialtsdirift.
Ilucbald's Tractate und Ideen fanden mannigfach in den
Klöstern Eingang und Nachahmung, besonders, wie es scheint, in
dem Kloster Reichenau {manastenum Augiente)^ weil die Schriften
des dortigen Abtes Berne (gest. 1048) sich selbst in einseinen Wen*
düngen an ihn lehnen. Berne wurde selbst wieder eine Autorität.
Johannes Cotton erwähnt, dessen Schriften neben jenen des Boe-
thius und Guido, studirt zu haben. Der dem Kloster Keichcnau
angehörige Herrn annus Contractus bedient sich sogar neben seiner
vorhin beschriebenen Notiriincr auch der lliubald'schen Scliliissel-
schrift (ohne Linien). Dass Hucbald's Schriften doch auch nach
Italien drangen (wenigstens im Laufe der Zeiten), beweist der Um-
stand, dass nch Marehettus von Padua auf ihn beruft Die ganse
grosse Hasse der Traktate musikalischer Mönche, wie fast in jedem
bedeutenden Kloster gelegentlich einer oder der andere die Biblio-
thek mit einer tiefgelchrten Schrift dieser Art bereicherte, dreht sich
ewig in demselben Kreise: Mensur des Monochords, Bationen der
1) In seinem Lucfdarium nm^icno planae, Tractatus V, Cap. 4: Hanno-
nia, «t {/&a(d!u« (al.Hugbaldus) refert, est diversarum vocum apta coadunatio.
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144
Die Aufiinge der earoplitoh-abendUndischen Musik.
TonverhlÜtiiiaM, antlieiilische und plagale Modi, «itike Tonaiten,
Intervalle.
Mit dem 10. Jahrhunderte endet die von altchristlicher, noch
antikisiroTiflor Kniist .'il)liHngig gewesene Periode. In <\er Baukunst
beginnt die Ilcrrsdiatt des rnnifinischen Styls, mu\ wie dieser, wenig-
Blens in Deutschland, rs licht im |tliautastischen Heiclitlunnc 'riiunn
gegen Tlairin, Chor gegen ('hör zu stellen, Kirche über Kirche (iu
der Kiyptenanlago) aufzuführen, wie er im rfaythmischeu Wechsel
von Sibile nnd Pfeiler eine gans nene Belebung sn gewinnen Ter-
stand nnd bei festgehaltener Anlage der altchristliclienBasilike diese
Anlage neu, reich und vielfach gegliedert an rcprodndren wnsete:
so war fiir die Musik die Zeit gekommen, dass sie bei fes^ehaltener
Disposition des altehristlithen Gregorianischen Gesanges Stimme
gegen ^^itiinine, Chor gegen Chor zu stellen, Motiv Uber Motiv zu
bauen anfing. Es ist kein luUss^iges Parallelisireu, wenn man solche
analoge Aeusserungen eines tiiul desselben eine Zeit durchdringenden
Geistes in den Entwickelungsphasen der verschiedenen Künste auf-
sucht Im ersten Jahrtausend hatte die Musik durch den christlichen
Kirchengesang eine gans bestimmte Richtung und Firbnng ethalten,
sie hatte sich allgemach von jeder Verbindung mit antiker Kunst
thatsficlilich losgelöst und Keime einer zum höchsten Lichte empor-
drängenden Entwickelnngsfahigkcit gezeigt, üie Keime trieben nnd
sprosstou, und jetzt kam der Augenblick, dass eine neue, früher gar
nicht gekannte Macht, die Vi e 1 s t i ni ni i gk e i t , das Zusammenklingen
tncdirerer Stimmen in jener ,,eintrii(iitigen Entzweiung", welche man
Harmonie nennt, in das Leben der Musik eingeführt werden sollte.
Zn den bereits bekannten swm Elementen der Tonkunst, der Melodie
nttmlieh und dem Rhythmus, gesellte sich jetst vollendend und ab-
schliessend jenes dritte Element. Damit war der Trennung von der
antiken Musik das Siegel fUr alle Zeiten aufgedruckt, und wie ftir
die Welt, so beginnt auch für die Musik mit dem swttten Jahrtausend
unserer Zeitrechnung eine neue Epoche.
Guido von Aresso und die Bolmisation*
Es bt bekannt, dass mit der Erfüllung des ersten Jahrtausends
der Untergang der Welt en^'artet wurde. Als aber nun das ge-
fiirclitete Jahr vorüberging und Tage nndNÄchte und Jahreszeiten
nach wie vor in regelniSssigem AVccbsel einander ablösten, athmete
die Welt auf; mit der neu gt'>i( li< rti ii Fnitdauer war frische Lebens-
lust geweckt, die ^icli ganz besundci^ auch in der Pflege der das
Leben ausschmückenden Künste äus.surte. Prächtige Bauten des
jetzt seiner reichsten Entwickelnng entgegeneilenden romanischen
Guido von Aru2zu und die Sohuisation.
145
Styles stiegen empor, TielgethUrmte Dome, weiüinfige Kloster-
anlajren, stolze Kitterburf^en. An der Architektur erstarkte die bil-
dentle Kunst, sie hob sich von fratzenhaften Zwergen und phan-
tastischen Unfreheucrn allfremacli in Deutschland bis zu den edcln
Gestalten der goKIt Tien Pforte zu Freiberg, in Italien bis zu den die
antike Form und ISchünheit lanj^e vor der Kenaissance in das Leben
zorückrafenden Arbeiten eines Nicola Pisano. Das ganze Leben
war ein bewegtes, kritftigeg, anfetrebendeB. In der Beihe der tali-
Bchen wie der hohenstattfiBchen Kuaer erschienen grossartige ge-
sehichtlicbe Charaktere; den pipstlichen Thron bestiegen gewaltige
Kibmer, wie Gregor Yll. nnd Innocena III. Das Auflreten dieser
grossen KrSftc im Zusammenwirken und Gegeneinanderkampfen er-
schütterte die Welt. Mit dem 12. Jahrhunderte kam die romantische,
wunder>auie Zeit der Blüte des Kitterthuraes mit ihren bewegenden
Mächten, der Tapferkeit, der Liebe und der Religion: eine jener
Epochen, wo die Poesie lebendig und das Leben poetisch war.
Religion, Thatendrang nnd ein Hinansstreben in den Wundem
femer Lllnder verbanden die christlich^abendlXndisehen Völker au
der grossen Unternehmung der KreuzzUge; hier lernten sie einander
erst kennen, dag GefUbl graMinsamen Glaubens, gemeinsamer, wenn
auch im Einzelnen noch so verschiedener Sitte durchdrang sie hier
zum crstenmale mit voller LeluMidigkeit. Der Horizont der Welt-
anschauung erwi'iterte sich niiichtig: fremde Länder und Meere,
die Bilder fremder Völker und Sitten rollten sich vor den kämpfenden
und pilgernden Abenteurern auf; die KreuzzUge sind zugleich die
Uiaa nnd die Odyssee der chrisdichen Welt. Mit den reichen Gtttemi
insbesondere jenen des Ostens, die man kennen gelernt und welehe
der Handel der Pisaner, Genuesen und Venezianer herbeiziischafTon
sich angelegen sein Hess, gestaltete sich das Leben reich, bunt und
freudig. Der Kunstsinn der Zeit bewahrte sich selbst in Weberei,
Stickerei und Schmnckwerk jeder Art, in köstlichem Hausrathe;
malerische reiche Kleidung erhöhte die Würde und den Keiz der
persönlichen Erscheinung. Kitterzüge, Feste, prächtige Aui^züge
entfalteten erst recht all diesen Glanz und Reichthum. In so poeti-
•eher Zeit waren Dichter und Silnger wie natürlich Hauittpersonen,
und wenn sie flir edle geistige Unterhaltung thitig waren, so dienten
8pielleute, Gaukler, TKnser und Possenreiiser der Ergötzung und
Zerstreuung. Alles aber, was da auftauchte, trug die volle Farbe
des Lebens. Wie sehr wäre nicht eine voll ausgebildete, aller Kunst-
mittel niadititre Musik willkommen gewesen! Wenn gerade damals
die Architektur, deren Werke gleich jenen der Musik nicht vor-
stellen, sondern sind, einen Indien Formen- und Schönheitssiun
entwickelte: so lag auf der Musik einstwrilen die Last der Arbeit,
sich aus rohen Anfitngen herauszubilden, noch viel zu schwer, als
dass sie mit den anderen Künsten bitte Schritt halten und sich lur
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146
Die Anfänge der europäiscli-abendl&ndischen Musik.
freien Schönheit erheben können. Den harten, fassbaren Stein ver-
stand diese kra ft ige Zeit dnrdi kräftifre SchlSge mit Hammer und
Meissel in linnnniiischer Form zu gestalten, aus ihm Bchwungv«>llc8
Laubwerk aufblühen zti lassen und den ursprünglich so derben,
schwer lastenden romanischen Bau zu so prächtigen, als fein durch-
gebildeten Foimen su veredeln; aber das Lnftgespinnst der rer^
webenden Töne vemiocbte sie nicbt sn erfassen, nm es som banne*
niscben Wecbselspiele, zum reinen Zusammenklange zu verbinden.
Der poetische Drang der Zeit, der ScbSnbeitssinn, das Verlangen
nach wirklichem (lenusse konnte von dem hier Gebotenen nicht
befriedigt werden. Da mit der Kunstmusik einstweilen nichts anzu-
fangen war, so machte sich der Dichtersinn der Zeit als lyrisclier
Gesang Luft, wu AVt>rt und Melodie vereint erklangen, wo nicht
die Schulrcgel des Tonlehrcrs, nicht die profunde Wissenschaft des
Höncbes dareinanreden batten, sondern wo nnr der Drang des Ge-
mtttbes das Wort des Liebes- oder Frttblingsliedes gleicb mit dem
recbten dasn gebörigen Tone fand.
£be wir aber auf den bunt blttbenden Garten dieser Dicht-
und Gesangeskunst, des Troubadour- und Minnegesanges, einen
Blick werfen, müssen wir uns noch einmal in das Düster von Kloster-
gängeu und Mönchszellen verlieren ; denn von ihnen ging mit dem
Beginne des neuen Jahrtausends einer der grossen Ei)uchenmäuncr
der Tonkunst aus, der Bcnedictiuermöuch Guido von Arezzo
(Quido Aretmu) ans dem Kloster Pomposa bei Bavenna. Sein Anf*
treten wurde dt die Entwiekelnng der Münk folgenroicber als je
das Auftreten eines Lehrers oder Meisters vor ihm; mit Recbt nannte
man seinen Namen neben dem des Boetbins^) und der Iftfnebswitn
pries ibn in den Versen:
Hacc fiiixU Guido, distinxit et ordine diffuo
INIiisica (jiK) vixit vivo, morieiito refrixit/*)
Die ganze Mühe, welche das Mittelalter an die Bearbeitung des
Tonstoffes wendete, wird insgemein auf seinen Namen zurück-
geflibrt: Guido von Areao ist gleichsam ein Abstractum, ein mythi-
sches Wesen geworden. Man hat auf diesen „EbrensebKdel" alle
möglichen Kronen gehXnft. Guido hat naeh den stets nachgesagten
Ueberliefemngen Alles erfunden: die Notenschrift, das Monochord,
dasOlavicr, die Holmisation, den Contrapunkt und endlich die Musik
in Pnusch und Bogen : Beatus Guido inventor mufdcae" steht unter
einem (aii^'cbliclicn i lüldnisse Guido's, das zu Arezzo gezeigt wird.
Guido, wie er uns in seiueu ISchrifteu entgegentritt, war ein Manu
1) Johannes Cotton sagt: Dominus Guido, qnem postBoetium nos in
hsc arteplurimum valuiss»« fattniur (bei Gcrbort S(riptorcs2. Bd. S. 235),
2) ^ngt das nicht wiu die berühmte Grabschnft Kaphaers?
. . . timoit quo sospite vinoi
remm magna psrena, et moriente mori.
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Guido von Arezzo oud die Solmisation. 147
▼on TOTwiefend prakti«clieiii Sinn nnd angeborenem entBchiedenen
Lehrtalent; er nahm Aergemiss an der Unbüliolfenlieit der Sing-
lehrer und SSnger, welche bei unendlicher Mühe sehr wenig lei-
steten, und er Hess sie solches tiihlen. Diese nahmen es ihm ihrerseits*
sehr übel, dass er der Klii«x('rc war und es oftVn zeigte. So hatte
er nicht wenig Verdrutis und Verfolgung auszustehen. In seinen
Werken ist daher auch jene Gereiztheit zu spüren, die unter solchen
Umetltnden Charaktere seiner Art an bekerriehen pflegt; seine
Schriften stehen bestindiff in Fechterposition nnd wimmeln von
AnsfiÜlen nnd Seitenblicken oder nehmen geradezu einen Ton der Po-
lemik an, der ^e^en denmllden Lohroi-ton llucbald's sehr COtttrastirt.
Zur Zeit Guido's war musikalische Ausbildung schon -weit ver-
breitet; Musikk'hrer aus Italien, Griechenland, Frankreich und
Deutschland waren gcsch.'itzt und gesucht^). Von der Unwissenheit
vieler davon gibt Guido starke Proben, wie z. B. dass sie Grundton
und C^uin^e für gleichbedeutend nahmeu. Dazu waren die Sänger
in hohem Grade von ihrer eigenen VortrefHichkeit eingenommen,
obsdion ihr Unterricht gana nnd gar nngentlgend an heissen ver-
diente. ,,Wenn die kleinen Knaben," sagt Guido, „es einmal dahin
gebracht haben das Psalter an lesen, so vermögen sie es auch
mit allen andern Büchern, und Landleute verstehen sich auf ihre
Arbeit ein- ftir allemal; wer nur einen einzigen Weinstock be-
schnitten, einmal ein Bä'umchen gepfliinzt oder einen Esel beladen
hat, wird es ein andemuil \\ieder so oder audi wohl noch besser
machen; diese bewundernswürdigen Singemeister aber und ihre
SehlQer mögen hundert Jahre lang Tag ftlr Tag singen, sie
werden dennoch ohne Unterweisung auch nicht die kleinsten Anti-
phone herausbringen, wobei sie eine Zeit mit ihrer Singerei verderben,
welche hinreichen wttrde alle heiligen und weltlidiou Schriften voll-
ständig kminen tu lernen" ^ ; wer es aber nidit dahin gebracht hat,
dass er ,, einen neuen Gesang fiisclnvpg und riclitig singt, mit welcher
Stirn kann er sich einen MuBikus oder Sänger au nennen wagen' '?^)
1) Vidi enim xnultos aGutissimos pliilosophos, qui pro studio hujus artis
nOD tolnm Italos, sed etiam Gallos nt(|iie (icnnaiios, ijisosquc ctiam (iraecos
qnaesivore magistros (Epist. ml Mich. Mon., Itci GerbertSGriptore«ILS.46)^
2) Hegulae de iguuto cautu a. a. U. S. 34.
^ HicrologuB (Proloffns) a. a. O. S. 8. Guido ftngt seine venifiBirbe
musikalische Theorie mit den AVintcn an:
Musicorum et cautorum magua est distantia:
Isti diennt, iUi ■dunt, qaae oomponit ma«!ea|
Kam qui ueit, qnod non s i |>it , diffinitur besba.
Ceterum tonnnti« vneis si laudent acinnina,
Superahit uhilouieluni vel vocalis asina u. s. w.
Diese Stelle, welche in ihrer naiven I'nliöflichkeit einen ungemein gemüth«
liehen Eiiulnick macht, wiid v(in diu Xadifdlgcni Guido's ^vhr oft citirt.
£in offenbar damit in Zueammeuhaug stehendes Adagium sind zwei Verse,
die ich io dem Traktat des S. de jSeelsndia und fiberetastimraend in einer
10*
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Die Aufilnge der «i^rupilisch-abeiidländiseliGn Musik.
Bm lolehein Stande der t)inge konnte natürlich der Kirchenge*
sang nicht gut gedeihen: ,,wenn der Gottesdienst gefeiert wird,
klingt OS oft, nicht als oh wir Gott lobten, sondem als seien
wir untereiiiiiüder in Zank geratheu" 1).
Ein besbcrer, rascher und sicher zum Ziele führender l'ntcr-
richt that Noth. Guido machte ihn zu Bciner Lebensaufgabe: „^er
Weg der Philosophen ist nicht der meine**, sagte er> „ich kümmere
mich nur nm dasjenige, was der Kirche ntttst und unsere Kleinen
(die Schttler) vorwärts bringt"^). Er begann den Knaben Musik
BU lehren 3) und hatte die Genugthnung sie durch seine Lehr-
methode dahin zu bringen, dans sie nach Monatsfrist ihnen unbe-
kannt gewesene Gesänpre sicher vom Blatte santren zur trrösstcn Ver-
wuudening aller Hörer*), aber auch zum Nciili' und Aerger der
Meister und Klostergcnosscn, welche Guido mündlich so wenig
schonen mochte, als er es schriftlich thut. Zwar erklärte er, dass er
lieh um Neider wenig kümmere'^), aher die Kdnche von Pompos*
wnetten es, und iwar schwerlich durch ehrliche Mittel, dahin in
bringen, dass er, wenn nicht förmlich aus dem Kloster gejagt, so doch
hinatis gedrängt wurde. Er vergleicht sich selbst mit dem Künstler,
der für seine Erfindung eines nicht zerbrechlichen', hämmerbaren
Glases statt der verdienten Belohnunp: den Tod durch IIenkcr>hand
zu finden das Unglück hatte ^). Guido liess sicli nicht irre machen,
und wahrend er sich als Verbannter an fernen Grenzen') herum-
trieb, aher auch an Bischof Theodald von Arezzo einen Schtttaer
und GSnner fand, verfolgte er rastlos sein Ziel. Man äeht, der
mythische Guido bekommt bei nitherer Bekanntschaft sehr mensch-
liche Züge, aber tüchtige und ehrenwerthe. Eine Taube ohne Galle,
wie der alte Hucbald, war er freilich nicht; er war ein tüchtiger
Streiter, der für das als gut Erkannte mannhaft und rückhaltslos
einstand. Guido tröstete sich, er werde mit dem Apostel sagen
andern Handschrift des 14. Jahrhundcrs (wo ^'w quer ühcr eine Zeichnung
der Guidouischen Hand geschrieben waren) gt luudcii liabe:
Hcstia, non eaator, qui non canit arte, sed nsn,
Kt non vox cantorem facit, sed litis docomentum.
¥| . . . id Bolnm proonrans, qnod eoolesiasticae prosit ntilitatt, nostris-
que sobveniat parvnUs (Epist. ad Tcdaldnm Episcopum a. a. O. S.
9) . . . nairu]uc postquam hoc argumentum ooepi pueris tradero etc.
(ad Midi. MuQ. a. a. 0. S. 45).
4) Tandem adftut mihi divina gratia, et qnidam eornrn imitatiouo chor-
dae, nostrarum notarum usu excrcitati, ante uniun mensis spatio invisos
et inauditos oantus ita primo intuitu indubitanter oautabaut, ut maximum
speetaeolum pturimis praeheretor (Microlog. in Prologo 8. 8)
5) . . . non curans de his, si quorundam animus livescat invidia, dum
quonmdam proficiat disciplina. (Micrologus in Frologo.)
ö) S. 43 de ign. cantu ad Mich. mou.
7) Inda est qnod me vides prolixis finihus enulatum (a. a. 0.).
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Quido TOD Areuo and die Solmisation.
149
dfirfen: t^eh habe einen guten Kampf gekämpft, meine Laufbebn
durehmesMi, den Glanben bewaliTt, nnd so ist mir die Krone der
(•erechtigkeit aufbewahli.*' Doch endlich kamen ihm „wie dem
Schiffer nach vielen Stürmen die ersehnten heiteren 'l'age und glttek-
liehe Fnliii" ^). Der Ruf von den glänzenden Resultaten seiner
Sinfrschule drang zu Papst .Johann XIX. ( \ 024 — 1 ().S.S\ der den noch
immer Exilirton durch drei liuten nach Horn einladen liess, wohin
dieser auch in Gesellschafl eines Abtes (irunwald und des Dom-
propstes Peter von Arezzo reiste. Der Papst liess sich von ihm
umBtXndlieh Uber alles beiiehten, blStterte in dem ihm ttbeneiehten
Antiphonar ,fWie in einem Wanderweike" hin und her, „las wieder-
holt die vorangestellten Regeln und stand nicht eher von seinem
Sitae auf, bis er einen ihm anbekannt gewesenen Vern richtig sang
lind so an sich seihst erfuhr, was er den Andern kaum hatte glauben
wollen." So hatte sich Guido's Verdienst unter Umstünden be-
währt, die gar nicht gUnstiger sein konnten. Unglücklicherweise
vertmg er das römische Klima nicht: es war eben ein heisser Sommer,
er erkrankte bedenklich und musste Rom verlassen, doch nicht ohne
dem Papste an Teirsprechen, dass er sich anr Winteneit wieder in
Rom mnfinden nnd der Geistlichkeit gründlichen Unterricht erthetlen
werde. Vom Oberhanpte der Kirche so äusserst ehrenvoll anf-
genonmien, hielt es Guido an der Zieit sich dem Abte Guido v« n
Pomposa vorzustellen. Was zu em-arten war, geschah: der Abt
besah das Antiphonar ebenfalls und Mar, wie (!ni<lo mit naiver
Treuherzigkeit erzählt, diesmal sogleicli von dessen \'ortrefflichkeit
überzeugt und bereute es, je den (Jegneru (iuido's (iehor gegeben
zu haben. Aus diesen seinen Andeutungen ist leicht zu errathen
was man aar Handhabe genommen hatte, um ihn zu beseitigen; die
Handle hatten ohne Zweifbi sein Antiphonar als eine höchst geftthr-
UcheNenemng verketaert. Einen Mann, den der Papst so ans-
gezeichnet, musste man nothwendig wieder in's Kloster bekommen;
der Abt forderte ihn dringend dazu auf: er (Guido) habe zwar Aus-
sicht auf ein Bisthum, aber für ihn, den Mönch, sei das Kloster
passender, zumal Pomposa, wo er ganz den dort durch des Abtes
Bemühung florirenden Studien leben könne u. s. w. Hei dem gnt-
mUthigen Guido, der alles dieses an seinen Freund Michael im Kloster
Pomposa schreibt nnd seines ehemaligen Verfolgers ohne eine Spur
von Bitterkeit gedenkt, brauchte es keiner grossen Uebenrednng;
er erinnerte sieh, „das die meisten Bischöfe sich von Simonie nicht
rein zu halten wissen," und aus gewissenhafter Hesorgniss wie aus
Gehorsam gegen seinen Abt beschlos.s er ,,als Mönch mit Mönchen
zu leben und «las Kloster durch seine BemühuiiL'^en in Kliren zu
bringen.'^ Zugleich erfahren wir, dass er im Kloster doch auch
\) Post muhuH temi^estutes n diit diu optata M-reidtas (a. a. S. 44)
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Die Anfüge d«r europftiick-abflBdlftiidUchen Mnsik.
seine Prosdyten hatte, aiiBser Bruder Michael auch den Prior
Martin, seinen „besten Mitarbeiter,** und den Bruder Petrus, den er
„mit seiner Milch genKhrt" und der jetzt „statt Weines ans goldenen
Bechern ein aVischeulicIioH EBsiggemisch trinken mttsse/* Dieses
naive Selb stgetuhl drückt Giiitlo so trou]ipr/i«2^ ans wie alles andere.
Vermuthlich ist er tlanu nach Poinposa zuriickgckt'hrt und nia;^ dort
der treffliche Mann seine Tage in nngetriibtem Frieden liescidosseu
haben. Sein Exil hatte wenigstens die guten Erfolge, dass Giuido'a
Geschicklichkeit als Lehrer nicht auf sein heimisches Klostw be*
schrSnkt btieb i). Er wurde ein Mann des Volkes, und weil er es
wurde, hat ihm die Volksstimme alle mtf^lichen Ehren bis auf den
heutigen Tag zngedacht; er ist der einzige popnlär gewordene 3Iu-
siker des frühen Mittelalters. Die gelehrten Mönchstraktate, in
fremdem Tdiom,.voll dunkh^r, Tiefsinnigkeit, voll fremder Theorien,
wanderten entweder ans der Klosterzelle des Verfassers in die
Klostcrbildiothck oder luichstens anch noch in die Bibliotheken
einiger anderer Klöster, wo sie noch jetzt die Jland des nachsnchen-
deu Sammlers zuweilen aufzustöbern und gleich irgend einem ver>
wunderlichen vorweltlichen GesehOpf an*s Lieht heraussuholen das
Glnck hat. Meist dedicirte der Verfasser seine gelehrten Werke
irgend einem vorgesetzten Abte oder Bischof, der gleich in der Vor-
rede mit eben so viel Demuth als frommer Salbung angeredet und be-
grUsst wurde *^). Guido ist in seinen Traktaten freilich auch ein Mann
der prauen Theorie, wie alle Musikgelehrten seiner Zeit: aber er lehrte
seine Knaben in der \'olkss])vachc was ihnen fassHch und was für sie
brauchliar sein konnte, er übte ihr (ieliör, er lehrte sie nach sicheren
Kennzeichen unterscheiden, wo der Schritt eines halben und wohin
jener eines ganzen Tones gehöre; er schrieb die Gesänge mit einer
Notirung, die an das GedXchtniss des Lehrlings keine masslosen
Anforderungen stellte, wie die bisherige Notirungsweise, und die
1) Die Ersfthlang, als soi (ruido auch nach Deutschland gekommen
imd pf'i insl)r>sondere vom Hrzbisdiof Hermann nach Bremen biTufcn
worden, um doi*t den Gesang zu regehi, hat Augeloni als Miirchen nach-
gewiesen. Näheres darflber, so wie über Verwechselang Guido's von Aresso
mit jenem Guido Au^ensis s. in Kiesewetter*8 Monographie nGuido von
Arezzo, sein Leben und Wirken" S. 9.
2) AnrelianuB Keompnsis wiilniet sein Bucli dem Archicaiitor und künf-
tigen BrsbiMdlofe Benihartl unh r iiljeraus demüthig-cn Bitten um Ver-
zeihuncr, welche so sehr den Ausdrm k mifii-luMichelter Bekünimerniss und
Seelenangst au sich tragen, dass mau sich noch jetzt einer mitleidigen
Theilnahme nicht erwehren kann. Regino von PrOm beehrt mit seinem
Buche den Erzbischof Rathbo l von Trier, Berno von Reichenau den Erz-
biscliof Perejjrin(PdigrinuH) voii Iv«')ln, Arilx) den Erzbiachof EUenhard von
Freisiug, Oottou einen englischen Al)t Fulgentius, Guido von Auge (in der
Normandie) den Abt Wilhelm von Kinval in England. Auch Guido von
Arezzo macht von dieser fast allgenieinoji Sitte keine Ausnahme und widmet
seinen Microlog seinem Wohlthiiter, dem Bischof Thcudaidus von Arezzo
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Guido ¥0& Arezzo und die Solmisation.
151
sieh mit weniger Uebting leieht wegleien liesa. Die Unterriehts-
weiie Guido's iSsst deh aas seinen allerdings ma andeutenden
Worten einigermassen errathen. »«Wer unsere Lehre begehrt,"
fiingt Guido seinen Microlog an, „lerne einige mit unseren Noten
nieder«^escliriebene Gesänfj^e, llljo die Hand am Monochord und
iilM-rdenke Heissig die Kegeln." »,L)a der Gesang aus wenigen Inter-
vallen (claiisitUs) besteht, so ist es höclist nützlich sie dem Ge-
dächtnisse genau einzuprägen, bis man sie im Singen vollständig
erkennt und nnterseheidet." Guido lehrte seine Sehttler die Ttfne
und Intervalle nach dem Monochord kennen, dessen Elrfinder er
allerdings nicht ist, da es nicht allein bei Boethius, sondern auch
bei den musikalischen Mönchen vor Ghiido (Hucbald, Oddo u. s. w.)
eine so grosse Holle spielt, dass man wohl sagen darf, dass das
Gebot, das einst Pytha'joras seinen antiken Ordensbrüdern gegeben,
auch noch von di-n christlichen Ordensbrüdern respectirt wurde.
Guido's iSkala umt'aaste einundzwanzig Töne:
„Dieses sind die Noten des Monochords," sagt er. Vorerst wird
das r ((lamma) gesetzt, welches die Neuern beigefügt haben."
Dieser Zusatzton war mehr als ein Jahrhundert vor Guido bekannt
und gebrXnchlich (wenn auch nicht allgemein), da schon Hucbald
ein eigenes Tonseichen fUr ihn bestimmt und ihn Arehoos ffravis
nennt Man hat dieses Gamma lange auf Rechnung Guido^s gesetst
(trots seiner ausdrücklichen Gegenversicherung), ja Mattheson findet
darin eine Anspielung, ,,weil des Aretini Vorname (iuido gewesen
nndhiemit sidchesNaniensGedächtnusshat j^estifTtet werden sollen"*),
wogegen Marchcttns de Padua und nach ihm Glarean und Printz
von Waldthun» meint, es sei diest^s Gamma den Griechen zur Ehre
gesetst worden als den wahren und ersten Lehrern der Kunst und
Wissenschaft*). Aber der wahre Grund ist, dass man in den höheren
Octaven bereits ein Q und g hatte und dabei; Ar den gleichlautenden
tiefsten Ton den griechischen analogen Buchstaben nehmen musste').
1) Neueröffnetes Orchester S. 290. Am bequemsten macht < p su li Elias
Salomunis (Ende 13. Jahrb.), er sagt: quia ita placuit primis inveutoribuB,
majoribas nostris (Musica cap. III).
2) Sed (}ttare Gamma et non Alpha, quae est prima litera Alphabeti Grse-
corum? Dicimus: eo quod Gamma est jiriiiia litera, qua descril>itur oonim
nomen(Marchettide Padua, Lucidarium musicacplauac,Tractatus IX. Ca]).!.)
. . . nempe ut band immemores essemns, hanc diseiplinam, ut alias omnes
aGraecise-!se(fTlaroanus,Dodecachordon I.l). „Dem ersten, nftmlich dem .-1,
hat er das griechische /' vorgesetzt, damit er andeutete, dass die Griechen die
Erfinder der Musik gewesen." . . . „Zwar scyn etliche die da wollen, dass er
mit dem r ut, gleichsam als hiesse es Gut oder Guido, seinen Namen hebe
wollen ausdrücken" (Printz, Edle Sing- und Klinfjknnst S. lOG).
3) Daher singt ein alter Tractat Ars nmsica, der (s. Buruey 2. Bd. S. 129)
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152 Die Anfänge der enropäisch- abendländischen Musik.
Unser Ausdruck ,,Gamine" für „Tonleiter** sdireibt sich davon her.
Die Töne, zu deren Bezeichnung die grossen latcinischtMi Buch-
Btalx'ii (li<'n«'n, nennt Guido tiefe (gfaves)^ die mit den kleinen
latt'inisi hen Butlistaben bezeiclinettMi hohe (arutat'), die fünf mit
Doppelbuchstaben bezeichneten hei>üen überhoch {superacut ae).
„Manche schelten sie überflüssig, wir wollen aber lieber Ueberfluss
haben als Mangel leiden,'* meint Guido. In der Oetave der hohen
nnd unter den ttberhohen wird das B in das runde und das quadrate
unterschieden: „das runde fr« ^ aussergewöhnliche ist,
nennen sie auch das hinzugefügte (adjtinctum) oder weiche fmoüe)\
man liat es deswegen beigetVigt, weil F mit der von ihm um einen
Tritonus entforntcn Quarte Jj übereinzustimmen nicht vermochte;
beide aber, b und J, dürfen in derselben musikalischen
Phrase {nemna) nicht vorkommen", „so wenig als am Hinnnel
zugleich die Zeichen des Widders und der Wage funkejn können,"
bemerkt dasu der stets bilder- und gleichnissrriche Aribo^). Also
strenge Biatonik; im ungehörigen Gebrauche dieser zwei TOne, im
widrigen Zusammenstossen derselben erblicken die späteren Lehrer
den „Teufel der Musik", vor dem ll.irmonie und Wohlklang flieht.
„Dieses weiche 6," fahrt Guido fort, ,, benutzen wir zumeist in den
GesHugen, die von F oder / ihren Ausgang nelnnon; G gehört (als
Qarte) zum ersten (authentischen) Ton, a zum zweiten, h aber zum
ilritteu; daher es viele «rar nicht erwähnen. Willst du das weiche b
vermeiden, so stimme die Neume, in der es vorkommt, so {neumas
iia tempera)t dass dn statt F, 0, a 6 Tielmehr Gal^e habest** Ein
bemerkenswerlhes Seitenstttck au dieser Tran^rition erwtthnt Guido
an einer anderen Stelle. Es sei ütr im Gesänge Geübte sehr nUts-
lieh denselben Gesang nach den vier (Kirchen-) Tonarten zu ver^
findem {variare) und Töne und Ilalbtöne jedesmal dort zu singen,
wo sie nach der Tonart hingehören. Er erläutert es durch jenes
schon aus Hucbald bekannte Tu patris sempitenius es fiUus:
LTonJ) FQQQQOaF'ED
2. Q a a a a a \ 0 ^
3. „ F aj^^ ^ ti aG F
4. „ O jj^eceeed^^aG
den Gerbertus Scholasticus zum Verfasser liat und sich in der Bawlin-
sou'schcu Manuscriptensammluug zu Oxford betindet:
Oamma in primia jKMita
Quibusdam est incognita,
Nam /' graecum nomine
Non invenitur iu A B C.
Auch Abt Oddo (im Dialog) meint: qnae (Utters) quoniam raro est in
ustt a multus non hulM-fur.
1). . . et inter b at^ uulla ait consuuantia patet profccto, quod illae duao
Uterseiint pro nno disorimine. niamm Hterarum neomse nnnqnam in uaum
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Quido von Areno und die SoUniMtioB. 153
(Von a aus wUrde der Gesuiig wieder dem ersten, um eine Quinte
tieferen gleichkliuf^end a c d d d d d e c 5 «•) Uiese starr diatonische
Umsetzung ist eine wirkliclic Veränderung des Mutivs, wKhrend
jene andere (zur Vermeidung des runden b) keine ist^ sondern
nur eine genaue Wiederholung des Gesangs um eine Tonstufe höher.
Beide aber nebmen auf die Zwischenstafen der normaleii Tonreihe
von bis ^ (nämlich gis, eis, dis u. s. w.) auf die llalbtöne, welche
möglich sind, aber ausserljalb des Systems liegiMi, keine
KUcksicht. ,, Es gibt Manche/* sagt Guido, welche stritt der kleinen
Terz nur einen Ton nehmen: c. B. im Gesänge diffusa est gratia
steigen Viele, da in F ansufangen ist, um einen gansen Ton herab
(statt nach der kleinen Tem D naeh Es), wo doch vor F ein
Ganston nicht zu finden ist (cum ante F (onus non sit) — und so
kommt auch das £ndc dahin, wo kein Ton existirt (ubi nulla
VCX est).^^ Dagegen konnte kein Bedenken entgegenstehen, dass
man, eben so gut wie der Gesang von a aus mit jenem von D aus
identisch wurde, auch von einer andern Stufe aus anfangen mochte,
aber die Halbtöne genau an die rechte Stelle zu setzen bedacht war.
Man verständigte sich Uber den Ton, in dem man singen wollte ; es
kam nicht auf die absolute TonhQhe, sondern auf die genaue Ein-
haltung derselben Intenrallsehritte auf beliebiger Grundlage, ins-
besondere auch darauf an die zwei Halbtöne der allein angelassenen
diatonischen Skala an ihre gehörigen Stellen zn setzen, worin ja das
charakteristische UnterscheidungsiMchen der Kirchentonarten lag.
Indessen blieb die Skala P — ^, wie man sie sich auf dem
Honochord, als dem Fundament aller Musik, durch die vorge-
schricbcue Theilung der Saite versinnlichte, doch die eigentliche
Grundskala, und man empfand die Transposition sehr wohl als
solche. ,,Wenn du," sagt Franchinus (iafor, ,,das tiefe H [Cvii gran )
um einen Halbton tiefer nimmst, so nuisst du die Tonreihe auf
einem hinzugefügten F, einem unter das Gamma nieder-
gedruckten Ganzton anfangen, daher man solche Musik füglich
die hinzugefügte (acguisita) nennen sollte'*^). Erhöht man dagegen
im Systeme der Qraves das F um einen halben Ton (in Fia), so nimmt
die Sechstonreihe (das Hexachord) mit Ä statt mit C ihren Anfang*).
conveniunt, sicut libra et aries pnriter non videntur . . . consurgens aries
Ubram, libra vellera mergit (bei Gerbert Script. 2. Bd. S. 209).
1) Diese tieferen TOne unterhalb des Gamm« soll (nach der Annbe
Adams von Fulda) zuerst der berühmte Wilhclni Dufu N . zu Ende des 14.^Mir-
hundcrta, angewendet haben. »S. hei Gerbert Script. Bd. 3 S. 350.
2) Indo, si in E-la-tni gravcn» i)erniutuvenswuiu /'a, deponetur /(»majore
lemitonio in grave (das E4affa oder gensaut fa fiehm)^ eajoM eiacht ruum
in t| mi giavem squiret exordinm (BCß^F O). Qqod si in Cfa ut grarem
at re ml fft $ol I»
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154 Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik.
Pietro Aron warnt die Yonteher der SingchSre, me. sollen nicbt
dtireli unvorsichtiges Transpomren der OesXnge dem begleiten-
den Orgelspieler außzuruhren zumuthen, woftir seiner Orgel die
entsprechenden Töne fehlen*). Das Alles fallt freilich in weit spätere
Zeit. Durch die finp^irtfii Skalen lernten allinnlit^ die Sän<rer die
Zw ihrlifiitöiu; nacli dem (itdiör wohl untersclieid»'!i und sie rait
der Stimme riilitifji; hervorbringen. Die dritte authentische Tonart
musste ihnen die Ueberzeugung verschaffen, dass das Ohr von einem
unterhalben Tone des Gmndtones (dem Subsemitoninm Modi oder
Leiteton) bei weitem mehr befriedigt werde als durch einen Gans-
ZV» ppnnntaveris in wi (f. in fis) per tntnutuni innjoris semitonii in ncntum,
exachordum hujusmodi in A re initium aisuuiet. ^uum autem in 0^ mi gra-
vem permutaveris fiii in /a (t| in B) per trantitnm mqoris semitoiiii m grave,
«cachorduni ipsuni inoipies in actjuisita Ffaut, tono sub r depressa, tpiare
non incongruun» est, vocmii liujusmodi considerationeni Afufficam acquisitam
vocitarc (Francliinus Gafur, I\lus. pract. Iii. i'M). Das sogenannte natür-
l icfee Hexachor d, wie es die Sofankation mumte, mniaist £e grosse Sexte
CDEFil A. Wird nun HiaB emiedrigti so mois das analoge Heaca^
ttl M ai fm »Ol i»
' vi ^
F '*
cbord sein: p r A B C D. Bei Erhöhung des F in Fi» wird als SUmmton
ut re mi fa ao i«
natürlidi A genommen werden müssen, weil letsteres eine grosae Sexte tiefer
li^ als Ft9\ flbe rdies wird aber (was Franohinus fibergiAt) anch C eihöht
VI.
werden müssen: A II Cis D E Fis, Aron gibt in seinem Lnoidario (VI. Bach
nt re mi fa lol 1«
Cap. 6 dcl modo di procedere con sei siUabc accidentali nel stromento dd
organo) die Transpositionen dieses Hexachords in Notenschrift
A H 1)
ut re nii i'a sol la
und so weiter. Solche Weitläufigkeiten hingen sich an Sachen, die uns heut-
zutage selbstverständlich scheinen. Das Niili«>n' ül)er die Bedeatnng der
Sylben ut re mi fa Bol la weiterhin bei Darstellung der Lehre von der
bolmisatiou.
1) Maestri di Cappella: . . . che quando aleana volta aviene, die ne
loro cori ritrovano qualche conconto coniposto regidariiumto sopra Tsssto
overo sopra Tottavo tono, il quäle lor parva, che loro sia iucommodo fl
8UO ascenderc, essi non deono per accomodarse discomodare il loro suo-
natore delT organo con l'argli a sapere, che per Inro commodita a voglio
rimovere dal sesto tuono la corda di ^ et colloearlo un tuono piu ba^so,
il quäle tuono nascera in E ma col segno dcl B inolle . . . questi tali musict
solo attendono alla loro commodita sensa considerar quelle che l'organista
puo Operare. — Die Orgeln hatten nilmlich die Tasten />(.s r^is, aber nicht
Es und As. Wenn also die Sänger den Accord Es (r B angaben, musste
der Orgler begleiten Dis Q S, wo\m das Dts nicht rein stimmte. Die
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Chiido von Arauo nnd die Sobnintioo. 155
ton, ja ihn bei TouBchlUssen dringend begehre. Es setzt sich daher
im Laufe der Zeit die Uebung fest, auch s. B. im eisten Kireben-
tone bei Scblttssen itatt des in*der Skala befindlichen C das fremde,
nur ans einer ün^patm Skala herüberzuholende Ois ansngeben.
Dieses und Khnliclics Einmischen fromdor Töne in die T'nnc, ,,der
Hand'* hiess, da sie aus fingirton ,,Hnndeu*' oder Skalen herrühr-
ten, fingirte Musik {mimra firfa), welche, wie II«^rmann Finck
(lf)f>(Vi saL't, um der Consonaitz willen auf jeder beliebigen Ton-
stute jt'den beliebigen Ton lingirt').
Diese sugcnannte fiugirte Musik, vun der nuch die Theo-
retiker des 16. Jahrhnnderts, s.B. Hermann Finek und Nieolans
Listenins, wie Ton einer wichtigen Sache reden*), war, wie
Tinctoris definirt, ,Jeder ausserhalb der regelmitssigen Hand (d. i,
des Systems F bis dd) vorgetragene Gesang"*), ein Gesang also,
der auch die chromatischen ZwischentSne berührte, wie denn
Franchinus Gafor geradezu erklärt, dass chromatist he CtesSnge so
viel bedeuten wie fiugirte-*). Dieses Kinniisehen der Zwischeiitöne
in die strenge diatonische Skala des Systems geschah aber, wenig-
stens in den älteren Zeiten, keinc'swegs im Sinne der wirklichen
Chromatik (z. B. c^cdef^fg, mit weh In r man erst zu Knde des
16- Säculums, angeregt von den antiken .Miisikschriftsfellen, eiu
zelnc wunderliclie Experimente zu machen anling), sondern um durch
gewisse Wendungen, wie die Anwendung des Subsemitoniums, die
Härte der ungebrochenen Diatonik sn mildem und den unabweis-
baren Forderungen des Ohres gerecht su werden. So lange man
den Gregorianischen Gesang, den „pur lautem Choral", im Einklänge
ausführte, ging es sehr wohl an, keine anderen als die jedem Kirchen-
tone nach strengster Diatonik zugewiesenen Töne anztiwenden; so-
bald man aber mehrstimmig zu singen anfing, musste sich das Miss-
liclie eines starr diatonischen Gesanges fiiblbar machen, und es
mussten die fingirten Töne auhhelteu. Div> war die eine Üedeu-
tung der Mwsica fida. Sie hatte aber noch eine sweite: sie bedeutete
auch so viel wie transponirte Musik. Die Solmisation, wie wir
bald h5ren werden, erkannte drei Haupt- und Ausgangstöne an:
Ct g und welche simmtlich vt genannt wurden; der nächste Ton
Sänger dnrflcn aber nicht in Dis singen, sonst hfttte in der Orgel wieder
das B (statt Ais) nicht gestimmt.
1) Muaica ficta fingit in clave «luacunque voccm qualemcanque, oon-
sonantiae causa (Mii«'. pract. Regula IX mutationumV
2) Selbst uocb Büttstedt in seinem 1719 erschienenen Buche ut re
Mi u. 8. w. redet S. 125 vom „tono ficto: a—eis'* im Glegensatie zum
»tonns natmwlis c"!
3) Ficta musicn est cantus praeter regulärem manus traditionem
editus (Tinctoris DitTinitorium).
4) . . . quae chromatica dimensione ducuiitur coloratas demonttrant
csntüenas, qua« et fietaa dicunt (Franchinus Qafor, Fract mos.).
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»
156 Die Anfänge der europäisch -abendländiadien Musik.
(d, a und fj) hiess re, und so weiter: mt, /a, m2, la. Wurde nnn
ein anderer Ton als einer jener drei zum irt genommen, s. B.:
at re ni f» lol !•
das heisst: sanj? man transponirt, so war das ebenfalls yinsica
fivla , weil sie freimle ZwiHchentöiie , die nicht im Stammsystem
waren, anwendete. „Cuiäus fictus", snjrt Hermann Finck, „heisst
bei den Musikern deijeuige, bei welcljcui ein Ton aiü" einer an-
deren Stufe gesungen wird, auf der er seinem Wesen naeh nicht
ist**!); und Nicolaus Listenius in seiner Jlkmca (1547) erkllrt:
„er sei ein solcher, wo die Tüne nicht an ihre herkömmlichen
Stellen 'gesetzt werden" 2),
In einer Han<lschrift der Bibliothek von Gent^) wird erklärt:
die „finfrirte Musik" bestehe darin, dass ein Halbton oreuommen
wird, wo ein Ton btelien s(dlte, und umgekehrt*). Das Krböhungs-
kreus {Diesia) kommt in der Fonn ^ ^ schon bei den ftltesten fran-
sösischen Contrapunktisten an Ende des 18. Jahrhunderts (in dem
1) AUditur et cantus, quem musici fidum vocant, quando vox (es ist
eine der Sythen der Solmiration pemeint, wovon später) canitur in clave
aliqua, in qua esseutialiter non est, neque in ejusdem OCtava, videlirct
fw» in f-fa-ut, fn in n-la-miro et e-lii-nii. (^uo utiniur i>ropter euplioniam
cantus, ac ad vitanda prohibita intervalla ^llenn. Finck, Tract. nius.).
2) E«t igitur mwsiea /feto cantus contra scalae titom editus, hoc est
talis, in (]un vfM'cs dchitos suos Inco-^ nnn sortiuntur. veluti cum ut in E,
re in J^', mt in Cr etc. aiit sccus canitur. ITiugit enim hacc in quacunque
clave qnamcunqne vult peregrinam vocem contra clavis naturam et proprie»
taten). Cujus mutatio et evitatio in plerisqne cantilenis est transpogitio. Li
«|uil>us(laiii «^ino discrepautia omnino niMt:iri ncipiit. Exoni])hi sunt ubique
ubviu, quure tautum hie cxemplum uiuus vocis pro ejus declaratioae ac
immutatione ponam:
Exemplum cantus fictL
8) M. S. No. 171.
4) CoiisRcmakcrfHist. de rharm. dumoyenaf?eS.39u. 10) srhroil)t dieses
Manuscript dem Kailhiiuscr Dionysius Lewis aus Kuremonde zu, wogegen
es F^tis (Rev. mus., Jahrg. 1834 S. 19 fg.) ftlr ein Werk des Karthänsers
von Mantua h<. Die betreffende Stelle lautet im Ori^^ri»»!«-: Ficta musica
nihil aliud est. (|iiain popitio toni pro scTnitoiiio et eontra. Et si inter duos
gradus nmsicaU's imniediatossemitouiujnponeretur, ubi regulariter puuendus
esset tonus, vel e contra, filcta musica est, quam fictam mosicam appellant
plerique „cantare per conjuiictas". ünde scicnduin. iiuod conjuncta dicitur
alicujus deductionis vel proprietatis musicalis de loco proprio adlocum alienum
secunJuni sub et supra transpusitiu. L'nde sequitur quod tunc cadit semito-
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Guido von Arezzo und die SolmUation. ^ 157
Bondellns „finea amotträte^ Ton Adam de la Haie aasdrücklicli
der BU erh&henden Note beigesetst) Tor. Fra Angelieo Ottobi
wollte dann in seiner „Calliopea lighM' dieses Zeichen auch in
die Familie der h eingereiht wissen: er nannte es das liegende h
(Jb giacente _a), als Seitenstttck in dem b rciundum (|?) nnd b
qua>hum (!s)^1.
kSowolil der alte einfache Gregorianische Gesang, als die
spätere kunstvolle Mensuralmusik konnte auf fingirten Stufen
ausgeführt werden^.
Die strenge Diatonik erlaubte nisprOnglicb nlcbt diese fingirten
Töne ansdrücklieh sn schreiben oder sn nennoi; die Singlehrer
nmschriebeu die Sache, indem sie den Schüler anwiesen in he»
stimmten Fällen den Ton unter der Finalis „scharf in singen"^,
niam abi regniariter deheret cadere tonns et contra. Quae tamen conjunctae
dicuntnr proptcrea inventae nt si qnis canius irregnlaris foret pereasnd rc^'u-
larcm caiitum dpMte rt-diK^i posspt. Undo fcicndiiTn ept. quod apud veteres
ticta musica solum in tribus gradibus ^onebatur, scilicet:
1. «H per Bj durum in f fo «< in Iraea cujus vox «t cadebat in D §ol
f§ cum COnreppondcrifia cf (crnnim vociiTn ad ippani rf'jiKr(|tieTit i; ni.
2. Ponehaut fa pro b molle inJL-la-tni iu linea cujus vo^ ut cadebat in \f fa
^mi in Rpacio cum correspondentia caeterammvoeumadeameonsequentiam.
3. £t ponebant mt per ^ durum in ffaviia qMioio. a^u« tox i^ cadebat
m d In sol re vwm correspondentia oaeterarmn Tocum ad eam consequentiam.
Unde tales exstant vcr»us:
Ut D sol re tenet |? fa p simul et d )a tol re,
Qiiundo ficta puinii dci rinit niu^ica cantuin.
Bei 1 und 3 ikt fi» {d e ]^ f g a h u. b. w.)i bei 2 ist e« (6 c d e«/'y)zttver-
stehen.
1) Durch E. Coussemaker (Hist. de l'haim. du moycu flge) besitzen wir
jetst den ToUftändigen Text der Calliopea leghale. Auch Pietro Aron rc dct
davon in der Aggionta al TotcaneUo: . . . „il quäle legno presente^.; \ e
stato chiamato 6m Bartolom eo Rami musico dignissimo, vcramente d'ogni
dotto vent rato, scpruo ^'\h rfuti/lrn e da träte Giorainii O/^oft/ r st ato chiamato
legno di b «luadrato iacente, e i^ucsto ^ da lui e «lato chiamato scgno di b
gnodroto retto." Weiterhin bemerkt Aren : „dico che qnesto bcguo sara
Ei&rai^onavolinento chiamato & giiodfo ehe dieiris — ^lo effettoetünomenon
anno insieme corriepondenza."
2) Possunt autem ambae, simplex et mensurabilis, esse vera aut ficta.
(Adam von Fulda.)
3) Iii cinemManuscript aus dem 14. .Tahili. inderLaurentianisolioii Pil>li<>-
thek zu Flurenz hoisst es : Non debet falsa musica signari. Büttstedt (a. a. O.
8. 144) sagt: „In dem grossen Veni sind die limites gleich anfangs um eine
c d d
Second überschritten do re re, allein weilen das do (ut) scharff ge*
▼«bI
sangen wird, als wenn das Signum dicsrns darbcy stunde, so
macht es nur eine halbe üccnndc aue.'^ Also cü-d ti. Das 6 molle
sollte aber ansdrficklioh angesetzt werden. Johannes Cotton (bei Gerbert
8<vhpt.9.Bd.S.S8S)8agtdartbKr: Qu<>d in iiua neuma b molle sonat, super
eandem a scriptore ponwkdnm est. Es fehlt indessen nicht an Beispielen, wo
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158 Die Auftixtge der europäisch-abeodländiscbcu Musik.
das heisst nm einen halben Ton zu erhöhen. Solidie Töne durfte
man als zuIäsKige Ausnahmen hören laateili imd •§ war eine Uanpt>
nnfjrabc fiir den Bnnfrer die Stellen, wo sie anzubrinfren waren,
riclitig zu trefiVn. ,31 nn dürfe nach Bediirt'iiiss des Tons und nach
Nötliifjnng (rogcnte tono et neccssitatr) der<rleichen anlningen,*' meint
Adam von Fulda; „denn wie eine richtige Anordnung (coaptatio)
der Modnlationen ^e ganze Seele erfreut, eo wirkt es Terletsend,
wenn man etwas Falscbklingendes (depranftimi^ an httren bekommt".
Die fingirte Mnsik nnterhöhlte allmKlig den Gkund, auf dem die
starre, unbeugsame Diatonik stand, und bereitete die Befreiung der
Musik aus den einengenden Banden der authentischen und plagalen
Töne vor. Guido kennt diese sogenannten Fictionen noch nicht,
er würde sonst irgend eine Erwähnung davon machen, und sieht in
dem b rotiot/lion keineswegs eine Fiction, was es doch in der That
ist^). Zu Ciuido's Zeit war die Gesaugkunst und die musikalische
Grammatik noch nicht ausgebildet genug; es kam vorläufig darauf
an die Töne der rein und streng diatonischen Skala richtig unter-
scheiden und angeben su lernen. Selbst das Snbsemitonium kielt
die strenge, starre Diatonik jener Epoche ftlr unzullssig, das beim
dritten authentischen Tone aber im Systeme lagi. Guido findet
es durchaus nur supponirt wird, z. B. in einem spRtcr zu erwähnenden drei-
stimmigen Hegina coeli laetare aus der Strassburger BibUothek, welches aus
dem 15. Jahrhundert herrührt, u. i. w.
1) Fraiuhinus a. a. 0. f^^laubt in Guido an dem h rotundum eine Andeu-
tung der iin^irten Musik zu erkennen : in diatonico autem Guidonis introduc-
torio musica ficta unico toni mon&tratur intervallo, ubi videUcet b mollis ex-
achordum quartam disponit chordam /a, quae tonicam scindit distantiam in-
ttr A-la-mire etijwi, seu inter Mcsrn et Parameten instar tetrachordi con-
junctai-um. Franchiuus hält, wie man sieht, das b rotundum speciell deswegen
für fingirt, weil in dem ihm idt Autorität geltenden antiken System der 18Töne
zwischen ÄIcse (a) und Paraninse (h) dicstT Zvviachenton b nicht, sondern
erst im höheren Tetrachord synenimenon vorkommt. Aber er hat in der
Hauptsache vOUig Redit Denn legt man die diatonische Skala von C zu
Ghnmde, so ist das b rotundum nur im Sinne der musica ficta (für die gleicho
Tonreilio von F) zu deuten. Adam von Fukla (I. 1) safft: Regulata ficta
est, quando in clavibua voceJi tramponuntur ut puto iu omnibus, in quibua
fa loeaUier tum ponitur, potestponi b motte, simfliter in omnibus davibus,
in quibns fa localitcr ponitur, /jofe^sf ;;o»i ^ durinn cogcnte tono et neoessi-
tate. Üraitoparchus gibt folgendes Musicae hctae exercltium:
g j t i 1 ht9 1
L— — SL_ \y^j2J9_:si:
L- ^ U
Hier ist iiii'ier J'^x-Dur mit seinen drei "B so vollkommen da, wie man es
nur wünschen mag. f igulus (mus. elem. brev.) lehrt: (transponitor) tribus
media: ex \ duro in b moUe, ex d rnoBi in || durom, w b mM wi /Scfum.
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Ottido von Aresso und die Solmisation.
159
gerade deswegen im dritten Kirchentone eine Unvollkommenbeit:
tmUmtui Mius . . . propter nUbjedam semüomi imperfedumem.
Uebereuislunmend erwXhnt es das (fUschlich) dem heil. Bernhard
angeschriebene Tonale als besondere Ei|;cnbeit des fiinften und
sechsten Kirchentones, dass sie unter dem Finaltone ein Scmitoniam
haben Kepno von Prüm bemerkt gana ausdrücklich, dass in den
aclit Kircbentönen „nicht allein alle Harmonie der geistlichen Me-
lodie, sondern auch alle natürliche Cantilena enthalten sei, und ilass
sie kein i^emitonium, keine Diesis, keine Ajiotome annclmu n."
Die ältesten Orgeln besassen nur die diatouiscbo Ökala, böcbstuns
mit Unteneheidung des runden und quadraten (. Was uns bei
solchem Yerfohren hart oder geradem unleidlich klingt, erregte da^
mala keinen Anstoss; die Musik war ein Produkt des rechnenden,
combinirenden Verstandes, nicht der Phantade, rie brauchte nicht
schön zu sein, wenn sie nur den Anturderungen einer imaginären
Regelrichtigkeit entsj)rach. Höchst bemerkenswerth ist in dieser
Hinsicht das rein nicclianische Verfahren, welches Guido zvir Er-
findung neuer Melodien vorschreibt. Zum Gesänge, zum Angeben
der Töne sind die Vocale dienlich, welche ja in keiner Sylbe fehlen.
Man selm denn ^e Vocale unter die Koten des Monochords:
^ a b'^ c d
r A BCDEFQab^cdefgah\cd
a«ie«aefo«aeio«ae io
Jetzt nehme man irgend einen Redesatz, der gesungen werden soll,
und ordne die Töne nach den Vocalen, die darin vorkmiinuMi,
z. B. den Satz: Sande Joannes met Horum tuorum copias tiequco
digne canere.
Ton.Vocal.
g — tt rum-tu — rum
f — o Jo to — o CO 0
e — t n ■ pi — dl
d — e te nes— me ncque — gne — nere
C — a Sanc- au aa ■ ca- •
Hiemach gestaltet sich in Noten folgende Melodie:
=f:
Sano-te Jo» an-nes me-ri - to - mm tn - o-mm co - pi - aa
ue - que - o dig • ne ca • ne • re.
1) Similiter omnes cantns quinii toni debent habere sub finali vcl sab
160
Die An^nge der europäisch-abendltodischen Musik.
Das ist niclit etwa eine blosse Spielerei, wie jene Invention des
Übrigens obskuren Malers Labruzzi zu Rom (um 1800), der die Ge-
schicklichkeit besass aas je fünf Punkten f\ir Kopf, Arme und Beine
eine Mcnscliengrestalt horfiuszufinden, und nach fünfzehn ihm von
einem doutsclion Prinzon {reprehenen Punkten einen Hercules am
Scheidewege zwiselien Tuf^end und Laster componirte ; kein Messer
Scherz, wie man nach zufalligen Worten und Heiniklängen Gedichte
improvisirt, sondern es ist wirklich der „Kern melodischer Wissen-
schaften^S die Art „alles mögliche Geschriebene in Gesang an setsen**
(quod aä eanfbm redtgitur omne qwd sarüniur)* Johannes Cottonins,
der Commentator Gnido's, findet diesen Weg der Melodieerfindung
durch Vocalc (qualiter j n- vnrales rniifus possunt eompom) wahrljaft
schün; doch sei er vor Guido nicht gebräuchlich gewesen {modulavdi
viam j)}drrayn sniic, sed atde Gnidonem intmtatam). — Es bedürfte
kaum dieser letzten Versicherung, um uns vor der Besorgniss zu
bewahren, daüs die alten Hchwungvollen Gregorianischen Melodien
etwa auch Bolche in der Retorte der fünf Vocale erzeugte Homunculi
seien. Wir werden übrigens noch an Ende des 15. Jahrhunderts
dem Cnriosnm begegnen, dass Josquin des Pr^s das Thema einer
grossen Messe auf diese Art nadi den Vocalen des Namens Hercules
Jhix Ferrariae construirte. Aribo Scholasticusi), der ganz kurz nach
Guido's Zeit lebte und schrieb, erfasste mit vielem Interesse dieses
Hlcigiessen von Melodien, wie man es nennen könnte, Meil bei der
erwähnten harmlosen Belustigung auch zuweilen etwas herauskunmit,
was beinahe wie eine menschliche oder thierische Gestalt aussieht,
so gut wie bei dieser Compositionsart zuweilen etwas, das beinahe
wie eine Melodie klingt. Nicht allein nach dem, was der „ehr-
wflrdige Guido" {penerobilia Owdo) gelehrt, ordnete unser Scho-
lasticus seine Vocale, sondern er trieb die Sache noch weiter und
setzte unter die erste Vocalreihe nun eine zweite ▼erändertOf wo-
durch dann jeder Vocal zwei Töne aur Verftigung erhtflt:
a^i^e d
Töne: rABCDEFOabilei0fga}^i\e4
Vocale: a e i o u a r i o n a e i o n a e io
0 u a e i 0 u a e i o u a e i o ti a e
Er erweitert femer den Umfang auf sieben Stufen und erhält so-
fort folgenden Melodiehomunculus:
qointa semitonium, vcl supra sextum ionum, omnos vero cantus soxti
toni rxiLMmt Hub finali vel auh quinta semitonium' (Tonale S. Bemardi,
bei üerbert, Script. 2. Bd. S. 268.)
1) Aribo Seholftsticoi Aarelianeutis (von Orleans) nennt ihn Engel-
bert von Admont (l)ei G er! M it. Script. IT. S. Aber Aribo dedizirt
sein Buch Domno suo Klleuhardo ; dieser war Bischof von Freisiug und
starb 1078.
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Ghiido yoD Areaoto und die Solmisation. 161
o.* • - — ll
9 d- Bai— mn Ten
9 e c ^ tor— «o fo do o—
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V c A Are— tMopaw* ne bor - tm — n» tM
C,^ U LingUMB BHM tii g^i im liat
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Linguam i« - fre-nuis tem>pe - ni ne U • tU hor-ror in-ao-
£t. ^ A ^ A ^ ^ ^ ^
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net vi - ram fo • ven-do oon-te^t ne va • ni - U - tee lura-ri • at.
Durch die grössere Zalil dor verwendeten Töne wird d.is Ziisninmen-
hanprlosc und "Willkürliche, wie bep:reinich, nur noch fnlill)arer.
W«'iiii irp;end et\\as der liariiionie des Orfjanunis ebenbürtig
lieissen darf, bo ist es ohne Zweifel diese Art Mel<»dio, und in der
an Sonderbarkeiten nicht eben armen Geschichte der Musik gehören
diese swei coXven Erscheinungen gewiss sa dem Allersonderbarsten.
Glttcklicherweiso aber liess man es doch nicht bei dieser Art Me-
lopöic bewenden; Guido verlangt, dass die Wirkung des Gesanges
dem Wechsel der Dinge, von denen er handelt, angepaHst werde:
fiir traurige Sachen traurige Tonverbindungen (yienmas), Tür heiter
ruhige Badion aiijreiiehuie , für den Ausdruck des Glilcks jubel-
volie*); und (NtHonius (nii;u^t s(!in ('a|iitel von der Melodiebihlung
sogar mit einem ästhetischen Machtspruche au: ,,da8 erste tJcsctz
der Melodik {praeceptum modulandi) ist, dass der Gesang nach dem
Sinn der Worte ein verschiedener sei. Gleichwie der Dichter, wenn
er Lob ernten will, darauf bedacht sein mnss seine Darstellnngs-
weise nach dem behandelten Gegenstände einzuricliten {tU facta
üdU exaequet) und nichts den behandelten Begebenheiten Unan>
gcmesseneB sage: so mnss auch der Musiker seine Gesänge so ein-
richten, dass sein Gesang ausztidrUckeii scheine was die Worte
au8S])rechen. Soll er einen Gesang für einen Jüngling coniponiren,
80 sei dieser (iesang eben auch jugeudfrisch und ülierniütliig {juve-
nilis et lascivwi)] gilt es einem Greise, so muss der Gesang ver-
driessliciie Ernsthaftigkeit ausdrucken (morosus sU H Mvmtaiem
exprimms)* Ein Comddiensehreiber, welcher einem Jflngling die
Sprache eines Greises zutheilen oder einen Geisigen gleichwie
einen Verschwender reden lassen wollte, würde ausgelacht, wie
1) Item ut rerum eventus, sie cautiuuis imitetur uH'cctus, ut in trist ibus
rebus gnves sint nenmae, in tnuMmfllis rebus jucundae, iu prosperis exul-
tantes et reliqnae. (Miorologns Xv.)
Ambrot, OtMblehto der Mnrik. IL 11
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163
Die AnHüige der enropftiioh • abendlftndiaolien Münk.
bei Iloraz Plautus und Possenns eingerührt werden ho ver-
dient ein Mubiker {modulator) Tadel, wenn er bei einem trau-
rigen Gegenstande eine hüpfende oder bei einem firöhlicbcn eine
tranenrolle Weise {fnodum) anbringt Der Mosiker denke also
daran, dau tein Gesang bei Trauennusiken herabgedrackt, bei
fröhlichen AnlSssen hoch klinge. Dieses wollen wir nicht also
einschärfen, als müsse es stets so sein; aber wenn es so
isti so wird es für einen Vorzug gelten kfinnen (ornatui
esse dicimxs). "Wir haboii dafür einige Beispiele. Die Antipbonc
am Aufersti'huiigsfeste hat selbst in ihrem Klange eine Art freiuliger
Erhebung. Die Antiphone vom König David aber scheint nicht
blos in den Worten, sondern auch in den Klfingen von Trauer za
tVnen. Klagelieder werden meist im hypoljdischen Tone gesungen,
weil er klüglich klingt**^. Gotton will Ausdmck, sogar Charakte-
ristik, freilich aber nur nach der grossen primitiven nnd allge-
meinsten Unterscheidung, die selbst das Volk in seinen Liedern
macht und deutlich empfiiidot, ob nämlich etwas lustig oder ob es
traurig klinge ; ferner ist der Ausdruck doch nur Zier, entbehrliche
Beigabe; und endlich sucht ('otton, ganz im Sinne seiner Zeit, den
entscheidenden Punkt in den eigentlich unwesentlichen Aeusserlich-
keiten des Modus: will man ein Klagelied, so singe man hypolydisch,
nnd damit ist alles geleistet. So laufen andi die Regeln, die Cotton
für (nicht an die Vocale des Textes gekettete) Melodiehildung
gibt, darauf hinans, wie weit jede Tonart in ihrem Umfange gehen
könne und dürfe; man solle die unangenehme Wiederholung gleicher
Töne vermeiden, die Melodieabsfitze möglichst nach den Abschnitten
der Kedesätae ordnen u. s. w. Sehr schön sei es, wenn der (paarte
mweOen die grosse oder kleine Ten Torangehe (also s. B. |j « • J «
oder e d f t d e\ wir finden diesen Schritt Sfter in den Sequena-
melodien angewendet); sehr schön sei es auch dnreh drei T5ne ab-
steigen und gleich wieder durch dieselben aufsteigen (wie ag f, f g a).
Man sieht, dass es der Musik auf der mathematischen Schul-
bank zuweilen unheimlich wurde, und dass sie sich wie im Traume
erinnerte, sie habe ja irgend einmal mit der Schönheit etwas zu
thun gehabt und ihre ganze Bestinimnng bestehe denn duch nicht
darin nachweisen zu müssen, dass die halbirte iSaite gerade um eine
Octave höher klingt als die ganze. Der gelehrte Abt Begino Ton
1) Cotton meint die Stelle im Bhefe ad Angustum Lib. II Epist. L
170.
— — — adsiiicc. Plautus
quo ]incto partes tutetur amantis cphebi
ut patris attcnti, Iciionis ut iusidiosi;
quantus sit DosBcnus edaoibtts in parasitis n. a w.
8) Oerbert^ Script. 2. Bd. S. 253.
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Guido von Arezxo und die Solmisation.
163
Prüm gibt ihr das Zeugniss: rie offenbare die Sitten der Henflchen,
harte und kilftige VSlker Heben krSftig harte Weisen, friedfertige
und sanfto Völkorschaften eben auch sanftere Lieder; sie wecke
Isriegerischcn Muth, beruhige «nm Schlummer u. s.w. Dann kommen
wieder die alten Geschichten von dem durch l^ytliapriras b<*schwich-
tigtcn Zornipren u. s. w. >Mit den aus den Textvocalen heraus-
bachstabirten Melodien wenigstens konnte man sicher keine "Wunder
wirken. Im Grunde Hess sich auch diu Schönheit der .Melodik bo
wenig Im 11. Jabihnndert als noeh heote auf feste Regeln surlleh-
Dlhren oder lehren. Melodie ist die Blttte der Mosik, welehe frei
spriessen nnd sieh entüslten mnss, deren Schönheit sich empfinden
aber nicht erklären lässt, so wenig als man (nach Justus Möser's
treffendem Ausdruck) das Unendliche durch die vier Speeles be-
rechnen kann. In den Zeiten Guido's und Cotton's aber lief Musik
wirklich auf die vier Speeles hinaus und harrte, in den Kasten des
Monochords einpesarfit , einer fröhlichen Auferstehung:. Die von
Guido (dem angeblichen Erfinder der ,,i)iaphonie** oder gar des
Gontfmpnnktes) gelehrte Mehrstimmigkeit ist eben das alte Hnebal«
dische Organum in seinen beiden Gattungen. Das Parallelorganum
in Qointen ist aber, wie Guido meint, doch gar au hart; das von
ihm angenommene, in Quarten, sei weicher. Das Org:anum bestehe
ans Tönen, die in Eintracht verschieden und in der Verschiedenheit
einträchtig^ sind: ein Antitliesenspiel , das so sehr an den p-anz
gleichen Einfall llucbald's mahnt, dass num versucht wei-den könnte
zu glauben, Guido habe die Hucbaldischen Tractate doch gekannt.
Aber dann hätte sie der redliche Guido sicherlich so gut citirt, wie
er des Oddonischen Dialoges mit grossem Lob gede^t Auch die
mne Art Organums mit der „scharfen Quinte", eben jene, die er
hart nennt, ist TVllig das wohlbekannte, wo die Mittelstimme nicht
die „wahre Mediation" einhalten kann:
Diapason c d e c d e d r rcbagcded d c
Diapente FGaF Ga QFFFEDCFOaQGF
DiatssMuron CDECDEDCCCBÄQCDEDD 0
Statt dessen lehrt Guido ein Organum in lauter Quarten: „diene
unsere Diaphonie Ist weicher" {nottra vero moUiar) verüchert er:
— <5>
/3
o
1^
a
~f» —
— —
8er -
TO
dem —
Indessen dürfen die Stimmen sich zum Schlüsse einander nahern
und im Einklänge austöueui diebü Manier nennt Guido den Zu-
eammenlauf {Occursus) :
n*
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164 I^ie Anfänge der enropäischoabendländisohen Mank.
A
4
~4
9
-4-
De • vo • ti * o - ne com - mit • to
1 — r
i
o - ne com - mit - to — — —
Das schweifende Organum Guido's lässt, f^leich jenem Iluchald's,
d\v <^iiarte vnrwnlten und mischt die atiih-rcn als zuh'issip; erkannten
Intervalle (er nennt als solche den (Janz-toii, die Quarte, die grosso
und kleine Tera mit Beseitigung der Quinte und des Halbtous) im
Durchgatigu ein, auch, and voi-zUglich, die Secunde. Alles ohne
eine Spur eines geregelten Gebrauches dieser Intenralle, s. B. :
4
4
. .. -t
Ho - ino e - rat
Je - ru
sa - lern.
Sonderbar schlingt sich in folgendem Beispiel die eine Stunne um
die andere:
<9 f9-
fJ
^ G
49
Sexta ho - ra se-dit snper pn-team
<g ^ <S» -49 ^ 49
Und wie nun (luido's Organum weniger beweglich ist als das linc-
hahl'sche, so urstan*t es auch wohl ganz und gar zum ausgchaltenen
Tone {susyeiisum tendur)^ während die Hauptstimmc sich darum
gleichsam taumelnd bewegt:
Sexta ho - ra se-dit taper pu-te-mn — — — —
O
I T r~r — p
1
An dem Occursus in die grosse Tera hat Guido sein Wohlgefallen
(dttoni wxwrsm vü simplex vel inUmUssus placel):
1 2 1 « > :i a 2 1 1
Kl
o
Ho-
mo
e -
rat
in
- e -
ru -
sa - lern.
— «
— «» —
— <9
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Guido von Arezzo und diu iSoliuisatioo. 165
oder
Ve-ni ad do-oen-dnm nos vi -am pra-den-ti • ae.
Zum Schlnsse aber biin^ er gar ein Organum, in welchem die
Ters vorwaltet :
m
r
I I
Ysoui-ta ad-*
0 - re » in Ol.
So weit aoch noch dieses letzte Beispiel von Schönheit entfernt ist,
es macht neben dem heulenden Quartenor^aniim und den andern
verworren anmmenden Beispielen, wo die Töne im Finstern auf-
einanderstossen wie es kommen mnjr, doch den Eindriuk wie ein
CJesicht mit aniiHliernd menschlichen Zü;ren unter gi>r^onei.schen
Fratzen. Dass (4uido die reine Qnintenfol<;e weni^rstens allzuhart
findet, iht gegen Hucbald jedenfalls ein Fortschritt; auch das gün-
stige Zengniss, das hier snm erstenmale der Ten ertheilt wird,
mag bemerkt werden.
Guido bediente sich anch noch der einfachen Buchstaben' .
notirung, die sich, wie er selbst in einem Verse sagt, als die beste
bewährte nnd bei fleissiger Uebung binnen drei Monaten zu voll-
ständiger Erlernung des Gesanges genügte. Aber sein wesentliches
nnd Hauptverdienst besteht darin, dass er die Neumen, statt die
Beurtlieilnng ihrer richtigen Stellung dem blossen Augenmasse des
Abschreibers oder Lesers zu überlassen, auf ein Sy stem von vier
Linien setzte. Es war angeblich lange vor smner Zeit, vielleicht
aber erst durch ihn selbst in Uebung gekommen durch die Neumen
jene Chorda zu ziehen, d. i. die rothe Linie, welche die Tonhöhe von
i** andeutete; die gelbe Linie des r, welche man oberhalb der rothen
Linie des F xog^), erleichterte das Lesen sehr wesentlich nnd ob
l^i T'iiter ilic sftfreiiaTiutcn Daves signatas rechnete man neben dem F, C
aucli noch /', y umi ihl zur Jit zt u hnuiig der bei der Solmisationslehre wi itcr-
hin 7M erwähnenden Tonst ut'en des OonnM'Ut^ des G^sol re ut und des dd-la-
ftol, sfi (lass also fünf (Mavcs Signatar ;iii;j< ijf miMirii wann f' F-C-g-dd. ])r»ch
wurden in der Folge nur die mittlem drei beibehalten ^uuser -,6-«äcblä88el)
und selbst ursprünglich das r und dä meist nur in Verbindung mit einem an-
deren Schlllssel angewendet s. B. dd Alle swansig Töne des Sy-
9
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1G6 Die Aufknge der europäisch-abendländischen Musik.
man gleich durch die Farben der Linien genügend belehrt wurde,
welche Töne geraeint seien, pflegte man doch auch wohl das f und
e als Sc})lüssclzeic]ien {CAaves signatae) an den Rand zn schreiben,
zumal aber wenn dor Abschreiber die nöthigen Farben nicht zur
Hand hatte und daher einfarbige Linien zog. Unser J'-Schlüssel
und r* Scliliissel sind noch heute eine Erinnerung an diese alten
Uundbuc-hhtabeu^). Schreiber, welche die Neumuu recht genau
{airiose, wie Guido sagt) in der rechten Höhe und Stellung gegen
einander anbringen wollten, ritaten nun auch wohl In das Peigameni-
blatt aiemlich jÜcht Querlinien. Diese dienten sowohl den Text
gerade zu schreiben, als die ruthe und gelbe Linie in stets gleicher
Entfernung zu ziehen und die dazwisclien stehenden Neumen ge-
Ijöritr anzubringen. Von dieser Gewohnheit war nur noch ein Schritt
seil »b'r Erlindung ( iuido's, der zu der rothen und gelbiMi Linie noch
zwei aiubMO, einfache Linien zog und so ein ge8chb)ss(*nc's System von
vier Linien i ihirlt, welches neun Tonstufen (den zu Guido^s Zeit
giltigen Umfang eines Kirchentones) reprXsentirte, da Ouido auch
die ZwtschenrSume der Linien an benutaen lehrte. An den linken
Band gesetzte Buchstaben aeigten die Bedeutung der Linien und
Zwischenspatien. ,,So genau die Neuraen angesetzt sein mögen,"
sagt Guido, ,,uhue Beifügung der Farben und Buchstaben bleiben
sie unverständlich"-). Letztere dienen also als Schlüssel. Guido, statt
wielfueliald iilxirall das Sidililsselzeichen hinzuschreiben, deutete und
/"durch Farben an, die zwei andern Linien entweder durch Buch-
staben, oder er lässt sie ganz unbezeichnet, ebenso auch die Zwi-
* schenrSume, deren Bedeutung rieh von selbst ergab:
stcms biesaen überhaupt Claves (Schb'lssel), jene aber, die auf dem Linien-
system eigens bezeichuut wurden, hiesaen eben deswegen bezeichnete Claves,
OL signatae (quia hae solum tu oantoa exordio exprene ponuntnr. Et po-
nuntor mniicH in linea, distanttnio inter sr» per quintara: praeter J'* ab I*
per septiinain. H*-inrioh Faber Compeudiolum Musicae).
1) Uuido Hugt:
Quisque Bonns quo sit loco lacüe colligitur,
Etiamsi nna tautam litera praefigitor.
Ut proprietas sonomra discematur cIhHiis,
Quasdam hneas signamos variis colohbua.
Üt quo loco quis »it sonns mox diaoemat oculus,
Ordino tertiae vncis Rplendens crocus radiat,
Sexta ejus sed aftinis flavo rubel minio.
At ri litera vel color neumis non iutererit,
Tsle erit, qaaai fnnem dorn non habet puteus
Cujus aqnae, quamTis multae, nU prosunt videntibus.
V) Ideo quamvis perfecta sit positnra neumamm, oaeoa omnino est et
Tiiliil valot sine adjunctione litterarum vel colorum. Duos enim colores
puuimus, crocum scilicet et rubeum, per qaos colores valde utilem tibi
regulam tndo u. s. w. (Eegulae de ignoto oantu, in prooemio.)
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Onido roa Areiso and die dolmiaatioiL 167
(XM* 4. LiBte dnk* wn iMt grfln, dl« tothO*)
Die Neumen behiclteu, wie man sieht, ihre Formen: wir erblicken
die alten wohlbekannten Charaktere, welche Guido umsomehr bei-
■nbehalten fitnd, als sie nicht bloB Töne sondern anch Yortrags-
manieren bedenteten. Aber statt dass sonst diese Pnncta, Virgae,
Podati, Cephaliei n. s. w. wie Infusorien im Wasseitropfen durch*
einander fuhren, wnrde jetzt ein jedes nn eiiu in festen, iniTerrQck-
baren Platz fixirt. Guido's vom Papste als Wunderwerk angestauntes
Antiphunar war zuverlSssig auf diese Weise tiotirt, und es ist be-
greiflich, dass der Papst nach einiger Unterweisung einen Vers
darauM vom Blatte weg zu hingen vermochte. Von jetzt an stand
M nicht mehr im Belieben des Mmsters IVndo, Albinus oder Salome,
ans eigener Machtvollkommenheit so oder anders singen an lassen;
ein jedes Zeichen konnte an seinem Piatee nur eine einnge Bedeu-
tang nnd keine andere haben, und die Zahl der Tonstnfen, um
welche die Stimme zu steigen oder zu fallen habe, konnte kein
Gegenstand des Streites mehr sein. Die Verwendung der Zwischen-
räume niaclite die Unzahl der llucbald'schen Linien überHüssig und
das System äusserst Uberschaulich. Das Alles lag freilich, nachdetn
der Anfang mit der rothen und gelben Linie gemacht worden, sehr
nahe, so nahe wie die Lösung des Problems vom Ei des Golombns.
Eben dämm ist fttr Guido, der nicht allein das Wahre traf, sondern
es auch gleich praktisch anf das Beste su yerwerthen wusste, der
Kuhm der Erfindung nicht geringer, weil ein Anderer, ebenso gut
wie er, den glücklichen Einfall hätte haben können. Mit dieser
Notirungsart wurde auch die Notirung in blossen Buchstaben über-
flüssig, obschon sie sich bis in's 15. Jahrhundert und in der soge-
nannten deutschen Tabulatur noch sehr viel länger erhielt. Noch
das Manuscript der altdeutschen „Minneregeln" des Eberhardus
Cersne von Minden vom Jahre 1404 in der Wiener Hof bibliothek
enthält in Bachstaben notirte Liederweisen. Notker Labeo erwühnt
^nttr Notirung mit den 15 ersten lateinischen Buchstaben, welche
die 15 Saiten der Zither (Plarfe) bedenteten und bei den fränkischen
Musiklehrern gebräuchlich gewesen sein mögen. Ein Tonarius in
Montpellier ist mit diesen 15 Buchstaben und überdies noch in
Neuuien notirt; auch ein Ditectorium Chori zu Engelberg zeigt diese
eigeuthUmliche Notiruugswcise'^). Die gewöhnliche Notirungsart in
1) Aus dem Antiphonar von St. Bvroolt XU. Jahrh. (Gnidonis (^pera).
Jetzt in der Biblioth^que nat. zu Paris.
2) Schäbiger, die S&ngeraohale von St. Gallen 8. 15.
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168
Die An&nge der enrop&iick-alMndliadiMheii Mouk.
Bnchstaben bestand gans ein&ch darin, daaa man die Buchstaben,
welche die TSne andenten sollten, neben einander setste, meist in.
lateinischer, selten in gothischcr Schrift (so in den Minneregeln),
zuweilen olnio die Unterscheidung der grossen, kleinen und Doppel-
buchstaben; Wdbei denn oft problematisch blieb und mir nach dem
natürlichen Oaug der Melodie errathen werden musste, ob z. B. mit
C G ein C^iiartenschritt aat'wärtb oder ein (^uartenschritt abwärts
gemeint sei.
Zuweilen suchte mau das Steigen und Fallen der Stimmen
durch die Stellung der Buchstaben su versinnlichen, wie in jenem
ans dem Zeitalter Guido*8 herrührenden, tou dem Camaldulenser
Anselmo Costadoni aufgefiindenen Codex, aus dem P. Martini eine
Probe mittheilt:
je:
jQvi
toi
US peo
Meist wurden aber die Buchstaben einfach neben einander Uber
die Äupehöriiren Textessylben gesetzt, wie das bcige}:^ebene, einem
(J(»de.\ der Wiener Hof bibliothek (Nr. 182 1) entnommene Beispiel
der Notker'schen Öcqueuz de nativitate Domini zeigt:
Es bedarf keines Beweises, dass die auf Linien gesetzten Neu«
men Guido*s vor der blossen Buchstabennotuning erhebliche Votzfige
hatten. Noch besser wXre es gewesen, wenn man statt der Neumen
blosse einfache Punkte genommen hStte. „Töne, die auf derselben
Linie oder in demselben Zwischenraum stehen, klingen völlig gleich,"
lehrte (Juido, ,,inid was im Aiiti|»lir»nar oder sonst in einem Gesänge
die {gleiche Linie oder dasselbe i^patiuni, welche denselben Buch-
staben oder dieselbe i'urbe zeigen, behauptet, tüut jedesmal ganz
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Ghsddo TOB Aresio und die SolmiMtimi.
169
fleich, völlig als üb es iu einer Keihe stünde; Neumeu aber, die
auf Terschiedenen Linien oder Zwigehdnriiimeii «ngebmelit sind,
tönen Tenehieden, anch wenn sie sonst gana dieselbe Ge>
stalt hXtten". Hau sieht, dass man die Neumen noch immer als
etwas Eigenherechtigtes gelten liess; man hatte sich an den Cepha-
licus, Bcandicus und Salicus und wie sie alle hiessen, einmal ge-
wöhnt und als rJuido den (iebrauch der ^^e^ Linien einführte, hatte
man nicht den Muth einfach nach den Urformen des Punktes und
der Virga zurückzuirreifen und den Gebraurh der Notiruug auf sie
zu beschiänken. iSehr bald entwickelte sich aus der Guidonischen
Kotirung eine Tonschrift, welche, wie wir gelegentlich von Tinc-
toris erfahren, JMes miuearum, die Fliegenflisse, genannt wnrde,
weil die häufigst vorkommenden Züge *^ »nid wirklich
einigennassen an den Fuss einer Fliege oder Mücke erinnern.
Die Aehnliclikeit war besonders gross, wenn, wie sehr oft geschah,
diese Noten in feinen, kleinen Charakteren zierlich und winunelhaft
geschrieben wurden. Es waren die Zttge der Neumen, die durch
die Unterlage der Liniimng eigenthttmlidie festere, gleichmlssigere
Grandformen angenommen hatten.
Aus diesen FliegenfUssen oder gleichzeitig mit ihnen au« den
Neumen bildete sich eine sehr eigenthUnilich stylisirte Tonschrift
heraus, die man die Na^^'l- und Hufeiseiisclirift nennen k?hinte, und
die sich in der Handschrift und spNter sogar in der Buchdrucker-
type bis zu Ende des IG. Jahrhunderts behauptete und sich, wie ihr
hSufiger Gebrauch zeigt, grosser Beliebtheit erfreute, wie sie sich
denn in der That rasch und leicht hinschreibt und mit ihren Liga-
turen (Grappen verbundener Noten) gana dem Geschmacke jener
Epoche ansagte, welche auch in der Buchstabenschrift mit AbkUr>
Zungen und Zusammenziehungen des Guten gar nicht genng thun
konnte. Die ältesten Denkmale dieser Notining pehiiren dem
12. Jahrhunderte an: sie kommen aus dieser Zeit in einem Codex
zu i^nghien vor^j mid die Universiliil^bildiothek zu Prag besitzt v\\\
Fragment eines derselben Zeit angehörigen Antiphonars, wo diese
Schrift auf einem System von fünf Linien (mit rother und gelber
Chorda nnd ohne sonstige 8chlttssel) in derlichen, schwungvollen
Zflgen auftritt Die Formen des Clinis, des Torculus u. s. w. sind
leicht wiedenuerkennen. Die Grundform bleibt auch hier der
Punkt, der znweilen verdoiijielt oder gar verdreifacht wird. Die
Virga wird zu einem derben Stift, der I'es fiexiis resiijtivus zum zer-
brochenen Hufeisen. Diese beiden l'nniu'n bilden v(»rzuj;>wrise den
Charakter dieser Schrift, die oft in tiUchtigen, liederlichen, oft iu
1) Tm Besitse de« Decfasnten Hnari, Dss Facsfanile sehe man bei
Lsmbillotte.
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170 Die Anübige dw enropftlsdi-abciidlAiidisoheii Madk.
höchst ungeschlaclitenZUgeii yorkommt und im Druck eigenthUmlich
unbeholfen und abenteueilich «uwieht: es ist die wahre Fractornote.
ikm Henman Finok*t Fhict mnt. 1686. Brack.)
Do-mi - ne Rex
Cali - cem salutaria ac - ci - pi - am
(Ans den Flor. Otnt. Qreg. des Hngo Benilingen.)
Diapason. Ferfectae Septituae.
Noch verwunderlicher wird sie und sieht last gespensterhaft aus,
wenn sie weiss auf schwarzem G^nde angebracht ist, wie in den
Bttchem von Omituparchus, Figulns n. a.
Guido hat also unsere Notenschrift keineswegs erdacht, erst in
den Zeiten nach ihm kam man auf die Idee, mit Beseitigung der
▼ieliachen Chiffern der Neumenschrift, jeden einzelnen Ton durch
einen einzebicn Punkt (dieX(»te) zn hezeichnen, welche quadratische
oder rautenlV)rmi^e Fif^nr sich dann den vicrLiuieu des Guidonischen
Systems n(»ch besser anbequemte als die Häkchen und Circumflexe
der Neumeuselirit't. Wcnu Guido hier nicht als Eriinder, aber als
wegbahnender Begründer anansehen ist, so gilt Adinliches aneh
von der sogenannten Bolmisation (auch wohl Solfisatton^) oder
ars golfanäi*) genannt), welche mit Onido*s Namen in Vnrbindnng
zu setzen man sich so sehr gewölmt hat, dass sie überall die „gui-
donischc^' heisst, gleich als habe er diese yielverwickette fichro so
vollständig zusammengestellt wie etwa einer der alten Meister der
l*liil()S(ij)hie sein System. Guido selbst schreibt an Bruder Michael
blos ganz kurz: um seinen Knaben das Toumerken beizubringen.
1) Bei Tinctoris und Oafnr,
2) Bei Engelbert von Admout (s. Gerbert Script. 2. Bd. S. 322).
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Qnido von Areiso und die SolmiMtai». 171
pfll^ er sich beim Uuterrichte nachsteheader Meludio (symjjhonia)
m bedienen:
C DF DBDIDDOD SBIEF GB DEODI
Ut queaat lud« | rawMMn fibrii i Mi - r» gertomm |
FGa aFEDDIGaGBE FGDlaOa FGaal
/barali tamnun | iolve poUnti | labü reatom |
G P D OED
Sancte Johaimea.
In Noten 1):
(Der Text hier Tollständig nach A. Banchieh's L'organo Buonariiiü.)
-Jl — ^ — (9 — y ■ m — » — * —
— «9 — ^ — — ^ » »
n( quc - ant la - - zis re - so - na - re fi - bris
U - le pro - mi - fi du - bi - ua su - per - ni
glo-ri-e pa--tri ge-ni-tae - qne pro - IL
mi - - - ra ge - eto - rum fa-rau-li tu - o-ruin
per - - - di -ntt proniptae mo-da-la lo - quelae
Et ' ti • bi Gompar n - tri« na -qne lemper
80l • - ve i)ol-ltt • ti la - bi - i re • a • - tum
•ed re • for • ma • ati ge - ni • tus per - em - tae
q»i - • ri>tiiaal - mae De-na u - nns om - - ni
Sanc • - te Jo - hau - ucs.
or-ga-na vo eis.
tem - po - re te - - - olL
Der Text dioscs Tiiedehcns ist sn prosaisch als die Melodie holprig.
Die Sänger bitten den heiligen .Iidifinnes, sio von Heiserkeit zu be-
freien, damit sie (wird mit diplouuitischer Schlauheit hinicu gesetzt)
die Wunderthateu des Heiligen »ingou küiiuen. Die zweite Textes-
stropbe spielt anf das Ventommen des Vater Zaebarias an und er-
1) Hermann Finck bemerkt sa diesem Hymnus: (^ucm Paulum Dia-
conum composaiBAo fcnint; at si credimua Alberto Magno, in liBOam
aertbeuti, divus Uieruuymua eum cumpoauit.
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173
Die Anfonge der europftuoh^abendl&ndisGbea Musik.
klirt 80, warum gerade 8t Jobaniies als Patron gegen Heiserkeit
aagemfen wird. Das Liedchen schien dem lehrenden Guido he-
sonders deswegen zwockuiässig^, weil seine sechs Verse nacheinander
mit den sech» Tönen der Skala von Cbis a in regelmässiger Folge
anfanpron, auch die Melodie recht gut von einem dieser Töne zum
jnidcni liiuiihcrleitet. ,. Diese Svnijdionie," schreibt Guido, ..Hingt,
w ie <lu A\ ulil siehst, in ihren sechs 'I heilen mit sechs verschiedenen
Tönen an. W\'r es nun durch L'ebun^ dahin bringt, dass er sieb den
Anfang dieser sechs AhsStie gut merkt, nm jeden Absats, welchen
er eben will, mit Sicherheit angeben sn können, wird im Stande
sein dieselben sechs Töne, wo rie ihm sonst yorkommen mögen,
leicht ansnschlagen". — Das ist nun freüich Torlünfig noch sehr
weit davon entfernt irgend ein Syste m vorstellen sn sollen; es ist
weiter nichts als ein praktischer Handgriff beim Singnnterricht:
sechs Verse und sechs Töne. Die Sechstonreihe, das H ex ac h ord ,
ist die Grundlaj^e der Sohnisation, In dem Hexachord nannte man
nach der in der Johanneshymne darauf treffenden Anfangssylbe
eines jeden Verses jeden ersten Ton tU, den «weiten re, den dritten
fiit, den vierten fa, den ittnften 8ol, den sechsten nnd lotsten la.
Zwischen denSylben und Tönen mi'fa ist der Schritt einesHalbtones,
Bwischen den übrigen der Schritt eines ganzen Tons. Aus diesen
wenigen GrundaUgen ent^vickelte sich die ganse Solmisation, dieses
Kreuz der armen Singknaben" (rrux teneUoynm pueronim), diese
Qual der Lernenden (tmtura discentium), wie man sie nachher zu
nennen pflegte l). Hat Guido selbst an diesem Kreuze mitgezinunert,
Bö muss er es im mündlichen Unterrichte gethan haben; denn in
seinen Schriften findet sich ausser der kurzen ErwlÜinung der Jo*
hanneshymne keine Spur davon; selbst seine CommentatorenCotton,
Aribo n. A. wissen nodi wenig dartther zu sagen, nnd erst bei dem
späteren Engelbert von Admont (um 1280) findet man das
schon ausgebildete System, wobei m bemerken ist, dass er, der sehr
oft Guido's Autnritiit flJr dieses nnd jenes citirt und genau bemerkt,
welche Tone (iuido eingeführt hnhe, mit keiner Sylbe seiner als des
Ertindi'rs der Solmisation und der harmonisclien Hand gedenkt.
Dagegen schreibt Sigebertus Gemblaceusis (st. 1113) in seiner
1) Buttstett (a. a. O. S. 129) sagt: „Ob nun wohl dieses eine Kunst
und schöne AVisHenschafl ist. welche keinem auf cineixi Bntterfladen oder
mit dem Brei kann eingestriehen werden, so ist es docli auch keine Tor-
tura, sondern ist durch einiges Nachdenken und Exercitium zu erlan^eu^'
u. 8. w. Dagegen äussert sich hundert Jahre vor Buttstett der Magister
Abraham Bartolusin seiner !Musi<n mntliematira (Altonburg 1614) sehr
drastisch über die Schwierigkeit und den geringen Nutzen der Sohnisation:
„Dieweil solche Art singen zu lernen nicht allem ausi der Maatsen schwer,
solidem auch gar sehr verwirret ist, darüber denn mancher wie ein elender
Hund sidi m\\»n bläwen nnd schlagen lassen, und kömmet dooh wohl nicht
zum gcwüntzschteu Ende der singe Kunst." (S. 102.)
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Guido von Arezzo und die Solmisatiuu.
173
Chronik zum Jahn* 1028: „er (Guido) war seinen Vorgängern darum
Tor/u/iohcn, weil KiialuMi utkI jnii^'<> Mädoben naeh seinen Kegeln
nnhckamif (' ( H'sän«rt' Icu litcr crlonitcu, als wenn sie ilinon der Lohrrr
vorsHup; oder wenn dazu ein I nstruincnt aii<:<MV('nd('t wurde, sohald
sie nur zu sechs Tönen jresanfrwcise seclis Sylhen setzten, welche
regelmässigerweisu die Musik allein auninunt, und, indem sie diese
T8ne auf den Fingergliedern der linken Hand nnterschoidcn, durch
eine volle Oetaye mit Auge nnd Olir dem Steigen und Fallen der-
selben Töne folgen.** Also keine hundert Jahre nach Guido wurde
ihm die Erfindun^r der Solmisntion und der harmonischen Hand all-
gemein zti;rcs( lui( l)en, und das ))eacht6n8Werthe Zeujrniss Sifrebert's
wird durt Ii den l instand nicht ^'era<lezn entkräftet, dass (iuido in
Beinen Schlitten der Sach«' kaum «relej^entlich und jjanz all^'eniein
erwähnt. Wn er seinein ( )rdejishruder Michael von dem Kunstirrift'e
des ut re mi ja schrcihl, setzt er hinzu: ,,daH alles sei schwer zu
schreiben, im Gesprtfche dagegen leicht zu erklären." Folglich ist
jene Briefstelte weit entfernt eine yolIstMndige ErklXrung der Sol-
misation Torstellen su sollen; vielmehr ist sie nur eine vorbereitende
Andedtnng dessen, was Guido dem Freunde späterhin miindlich
erküren will.
Marehettus von l'adua uml .lohann de Muris in «ler
ersten Hälfte des 14. .lalirhniiderts heseliät'ti^rcn sich schon viel mit
dem System und der Hand, Mn<l .1 o h ;\ n ti e s Tinctoris, <ler um
1470 einen i lactat üher die Sidmisatiun unt»'r dem Titel Ejrpositin
maims geschrieben hat, in welchem bereite» alle Feinheiten dieser
Lehre vollständig dargelegt werden, definirt: „die Solfisation Ist die
Auseinandersetzung der Töne beim Singen nach ihren verschiedenen
Namen*' Die Sohnisation theilt die Töne in Gruppen von je
sechs Tönen (eben jene Hexachorde) ein, die in einander ein^rreifen.
Von jedem in der Skala ersclieinenden G aus bilden sechs Töne
(nach uheii) (Ins harte Hexachord (licrarhorihim (Inrnui), also rtQ.
nannt, weil unter diesen sechs Tünen das harte och'r viereckige 6,
das ist der Ton A, vorkommt. Von jedem i^'aus bilden sechs Töne
das weiche llexachurd {hexachordum moUe)^ in welchem das weiche
runde h cur Vermeidung der HXrte des Tritonus angewendet wird.
Von jedem c aus bilden endlich sechs Töne das natürliche Hexachord
{hexachoräxm naiwae oder naturale)^ denn die natttrliehe Ton-
1) Süllisatio est csneado vocum per sua nomina expressio. (Tinctoris,
expositio maniu.) Oanz Ähnlich Franohinns Gafor (Mus. pract. L d): Sol-
tizando, id est syllabas ac uoniina vocum expriniondo. Und Engelbert von
Admoiit: . . . eircn ip'<am arteni et usiirn solfandi, id est per voces adscriptas
litteris eautuin invcniendi et caniandi ui vucilius illis ut in verbis ipsius
cantas (Tract. HI. cap. 4). Hermann Finde de Ii nirt: Solmisatio ettdebita
exprewio cqjuslibet cantus per sex vores niusii-alcs.
2) Tinctoris eaprt in dem Capitel de projirietatibus: Tres autem sunt
proprietatea: [| dwrum, per quam in omni looo caiiitur, cigus olavis est g ut, no-
174
Die Anfange der europäisch-abendländischen Mnsik.
leiter nimmt eben vom Tone c ihren Ausgang. „Das Kexachordwoi
moiU^', tagt Hermann Finck, i^pht einen >^( ichen, das naturale^)
einen mittlem, das durum einen harten Klanp;**. In der Skala
knmnion zwei TIaIhtönc V(ir; bei »Ut o})i;i;on Aiinrdnunpr posrliiolit
OS nun, (lass jt'dcsinal aut" den lialbtonscin'itt, in jedem licxacliord
von der dritten zur vierten Stufe, die Sylbeu mi fa treffen. Das
Schema der 2U Tone oder Schlüssel {Claves), welche alles Ver-
■Ubidniss des Gesanges dfinen^ ist folg^endes:
ee
dd
cc
bb
r
e
d
e
b
a
Q
F
E
D
C
B
A
r
la
f.
• •
• •
In
. • .In \
sol
» •
.80l\
• •
.fa\
mi
. lal
* re
. 80l\
ut
. fa\
' •
mi
1='
re
re
Hcxachordum dnnnn
lioxachordum molle acutum
Uexachordum naturale acutum
Hcxachordum durum acutum
Hexachordum molle grave
Hcxachordum naturale grave
Hexachordum durum grave
Hier sehen wir sieLen jedesmal mit der Syllie id bepimeude An-
fänge^). Nach dieser Anordnung wird jeder Tou bei der Benennung
tura per quam in omni loco canitur, ci^us clavis est 6 molle per quam
in omni loco canitur, cujus davia est f, Dicta natwa^ eo qnod omnes
ejus proprietatis voccs repdariicr fixae manent et Htubiles inÄar nstora-
lium, undü quidam: „quod natura dedit et toUit (tollere?) nemo potest.
B molle dicitur quare per eam iu eo loco cujus clavis est b rotunduin
canitur, (|uod quidem fa MOUe, id est (IhIcc est... respectu mi in ipso
intenium loco per ||| duro ranendi." üeljcr diese drei hexachorda prin-
cipaUa (wie bIc Buttstett a. a. O. S. 121 nennt) »ehe man auch i*Vauchinus
Gafor m. Cap. 4.
1) Naturalis enim oh hoc dicitur, oo quod vox humana iu omni quarta
voce, sive iuter quatuor voces Semper proferre semitoniom delectatur, sagt
Marchettus a. a. O. S. 91.
2) Quid est davis? Est vods fbrmandae index. Qaot sunt claves?
Viginti, atqne ex »equenti fipura, quae vtdcro scala dicitur, patent (folgt
das Schema). Heuric. i^'aber, compcudiolum Musicae. V'^ou den Glaven sind
die „Vooes^^sn nntersdiddeii, deren es sedis f^ibt, nämlieh irf rem« fnaoiia,
3) Hacc vox uf, quae est prima in ordiue, occurrit . . . in VII locis
in manu musicali (Engelbert von Admout HL 11} bei Qerbert, Script
2. Bd. S. 326).
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Guido von Arezzo und die Solmisatiou.
175
mebt allein mit dem Gregorianischen Buchstaben, sondern auch mit
den auf ihn augfallenden Sylben bezeichnet; z. B. Gamma ut, 0
fa iit, G sol re ut, Ä la mi re, c sol fa ut. Da das natürliclic Hoxa-
chord seinen Ausgangsjmnkt von c ninimt, und die Sylbon ut, re,
mi, fa, sol, la (ui'spriiii'rlifli in der Jolianneshynine) die Töne C,
Dl E, F, ü, A bedeuteten, die andern zwei llexac iioide aber ihren
Ausgang von Q und jPd. i. von der Ober- nnd Unterdorainante jenes
ursprünglichen C nehmen, so treffen in den dreisilbig benannten
Tönen immer neben der Orginalbenennnng auch die Andentnngen
der Ober- und der Unterdominante sneammen, also der drei Töne,
deren innige Wechselbeziehung auch unsere Musiklehre anerkennt,
z. B. A-la-mi-re d. i. A, E, D; C sol-fa-ut d. i. Gr, F, C u. s. w.
Nur das B ist immer nur entweder B mi oder B fa, je iiadidem
es als b quadium oder b rotundum zu gelten hat} es kann uie zu-
gleich B fa-mi sein.
Dieses Tableau von Tönen versinnliehte man sich in den Sing-
sehttlen durch die sogenannte harmonisdie oder Gmdonische Hand,
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176
Die Auiknge der europäisch - abendländischen Musik.
von der iwar Guido selbst nicht die leiseste Andeutung macht, deren
aber schon Cotton unzweifelhaft erwähnt und Uber welche Engel-
bert von Admont wie über eine wohlbekannte Sache 'öHm und aus-
flibrliclicr i fMlot. Schon in dem Tractat des Elias Salomonis (1274)
wird die KinthcMlunj; «Icr Hand durch eini^ Zciclunin'^ versinnlicht,
und in der E ij'oslf io manits d<^s Tinctoris kcuiinit sie in den 'I'ext
zierlich ein^^j^cichuet vor, in gleicher Weine auch »chou iu liugo's
▼on Reutlingen Floreacantus GVe^mom (angeblich 1332 geschrieben,
gedruckt 1488 xu Strassburg) und sonst öfter, sogar schon in einem
angeblieh dem 12. Jahrhundert angehSrigen Codex, der den Tractat
des heil. Wilhclmiis Hirsaugiensis de Mimra et Tonis enthält und sich
in der Sammlung des Herrn von Murr in Nürnberg befand'). „Die
Hand," saj^t Tinctoris, „ist eine kurze und nützliche Unterweisung,
welche cumpendiös die t^iiantitäten iler nnisikalischen Töne z<'i^t".
Diese Hand war im grössten Ansehen, oluu' si(^ durfte niemand liotVen
den Gesang je richtig zu erlernen, wogegen ihre Kenntnis» allein,
wie man meinte, hinreichend war die volle Einsicht in das Wesen
des Gesanges zu verschaffen. Sie allein schuf den kunstgebildeten
SKnger; wer ohne sie sang, war ein Naturalist, ein Kunstvagabund,
ein Jongleur. Man fand an der nienschliclien Hand, die Finger-
spitzen mitgerechnet, 19 Glieder'^), alMf gerade so viel als die Skala
Ouido's TJnie zwischen 7^- r/»/ hatte iwenn nämlich das b nicht als
h und !! zweimal angerechnet wurde i. Man liiig an <ler Spitze des
Uauiaeub der linken Hand au, dort fand das JT tU seineu l'latz und
1) Tu vt'iiio^ iliani nrficidis iiKululari sedulus assiicscaf , ut ea pnst
quoliuus voluerit w o monochordo utatur et in ea cautum probet, corri^at
et componat. (Joannes Cottonius bei Gerbert Script. 2. Bd. S. 2.S2.)
Wenn also Kiesewettcr (Guido von Arezzo S. 'M) sapt, dass von der Hand
auch in den Traktaten der zunächst naeli Guido folpriKien Srlniftstcller
nicht die mindeste Spur zu finden ist, so muas Cottou jodeutails aus-
genommen werden.
J) Kit! Fnesimile sehe man in Oerber*s „Neuem Tonkflnstleriezion"
4. Bd. S. 575.
3) Unde dicit Remigius in libro expositioniB et abbreviattonis Macrobü:
quo«! manns musicalia XXI voees ut AVUll littcras habens per tpoHa
et lineas in XVIII artirnliH digitorum inscriptas, ideo tali vocum et
literarum numcro est coutenta etc. (Engelbert von Admont bei Gerbert,
Script 2. Bd. S. 290). Nach dar Erkl&rung, die Tinctoris in seiner Expo>
sitio manus fribt. wcclisfln an der musikaliscliini Hand linca und s]iatiuni:
80 ist z. B. i ut liuea, Ä re spatium^ JB tni linea, C fa ui spatium u. s. w.
bis ee-la spatium, „hinc dtcitarAit m linea, ^ rein spatio esse.** Diese
1 Unterscheidung nulun Beziehung auf die Notenschrift,, welche auf solche
Art beim Erlernen dt r irajid tbu Kiuiltcn {geläufig wurde: Posito igitur
prius ordiue et distinctiunc vocum in manu musicaU, qui ordo et distiuctio
pneris primo addisoentibus muricam est notistimus et per atpeotum ipsias
manus patet. quae litterae et voccs seril»antur in spatio et in linea m
manu, ut per consequens in libria voces codem modo spatiis et lineis proptur
artem et nsom cantandi per musioam adBeribantor (Engelbert m. 4).
Digiti-iCG 1 y C AK^gle
Guido Yon Areno und die Sohnisation.
177
verfolgte die Glieder sofort in einer Art Spirallinie, wonach das
dd la sol zwischen das erste und zweite (ilied des Miltelfiiifrers zu
stehen kam Das hoehste ee la, das i lmehin nur lu i-^etufit war,
um dag oberste Hexaehord (dumm i>u}tti ixadum) zu verv'olltitäudi«ren,
musste sich gefallen lassen ttber dem Mittelfinger in der Luit zu
schweben. Die gleiehbenannten Tdne kamen an den Spitien und
Wnneln der Finger in eine Art regelmSinger dftfilpurang, nXmlich
in Opposition gegeneinander, zu deren eymmetriseher Vollstftndig-
keit nur das tiefe F unterhalb des Gamma, oberhalb der Spitae des
Daumens fehlt Die Hexachorde hiessen auch Dednctiones, man
sa^e: prima, secunda u. s. w. dedurfio; ihre Eifrenschaft, je nach-
dem sie hart, weich oder natürlieh waren, hiess praprid as'^).
Das Wichtigste und Schwerste in der Solmisation war al)er die
Mutation. Wurde nSmlich im Gesänge ein Uexachord überschritten,
fo munte dannf Rtteksieht genommen werden, dasa man das Gebiet
eines anderen Hezaekords betreten habe. Im Singen nannte man die
Töne nicht mit den langen mehrsylbigen Namen, sondern mit der
Sylbe, die ihm nach dem Hexachorde ankam, in dem man sieh
bewegte, a. B.
^ * , *^
naturale
Mt rs m» fa fol la
Wurde nun ein Hexachord auf- oder abwh'rts überschritten, so
musste mau die dem neu betretenen Hexaclionl zujrebi»rigen Töne
gehörig benennen, und zwar so, dass das »i/ fa \vi«'(ler auf den
gehörigen lialbtonsclu-itt zu stehen kam. Um solches zu können,
1) De Huris ^umma mns. ViU) unterscheidet bei der Besdureibnng
der harmonischen Hand am Finger die Funkte radix, gremium, sinus oad
frone (oder pulpa).
2) e la mi d »ol re c sol fa ut
b mi C fa ut d »ol re e In mi F fnnt
Räumen) (Zeigefinger) (Mittel- (Gold- (kleiner i*'ingcr)
finger) finger)
Anffidlend mag es heissen, dass keiner der alten Solmisationslchrcr in
seinen Schriften diese merkwflrdige Begelmässigkeit der Erwähnung
Werth hält
10 Tiofltofis a. a. 0.: Bropriotas est Toomn dooeodarmn quaedam
ringuens qnsütas.
▲■bT»s, «MShSAto te MMik. n. 12
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178 iJic Anfänge der europäisch-abendländischen MubUc
mnsste aber der Ueberleitangston scbon im Sinne deg neu zu be-
tretenden Hexaehords benannt werden: also im obigen Beispiel,
wenn z. B. nach h c gesungen wurde, das a la mi re, welches ohne
Uebrrscbroitung dos natürlichen TToxachords la goheissen lintto,
mnssto statt dessen re, im Sinne des harten Uexachords, heissen,
nantlieh :
ut re mi fa bul re mi ta»
Oder wenn h rotandnm in singen war:
nat. molle
<9 i ? < g
nt re mi fa re mi fa soL
Analog beim Abstei;r<'n: fa. mi, la sul und sol, fa, mi, sol fa n. s. w,
Datt war nun eben das Mutireii Man zählte solcher Muta-
tionen auf der Hand aweiundfünftig; das F vi, A re, B mi nnd ee la
konnten gar nieht mutirt werden, weil sie inkdn anderes Hexaebord
binttberAlbren. Bei den anderen Tönen deuten die Sjlben sogleleb
die mQglieben Mutationen an. Daber sagte man: .
si vox est simpla, fiet mutatio nuUa
ii vox est dnpla, fiet matatio dapla
si Toz est tri^a, fiet mutatio sena*).
So hat also z. B. A-la-uii-i e dweu soclis: auü la oder rs in mi, aus
mi in la oder r«, aus re in la oder mi:
aua la in mi beim AafiAeigen ans dem dämm in*i molle
„ mi „ la „ Alisteigeii „ „ iimllo ,, durum
la
n II Aufateigcn „ „ uaiurale,, durum
„ re ,1 la „ Absteigen „ „ durum „ naturale
„ mi „ re ^ Aufsteigen „ ti molle n dnnun
„ re „ mi „ Absteigen „ « dnmm „ molle
\y Marchettns von Padua dofinirt : Mutatio est variatio nominis vocis
seu iHitae in codem spHtio: fit numque mutatio vel tieri potest in quoiibct
loco, ubi duae vel trci« vooes sive notae nomine sunt diversae (Oerbert,
Script. H. B;.'i.l S. W)
2) Diese Verse konmieu schou bei Adam von Fulda vor ^Uerbert|
Script. 3. Bd. S. 848). Andi Hermann Fiuqk citirt sie.
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Guido von Arezzo und die Solmisation. 179
Aus gleichem Grunde hat auch G'Sol-re-ut sechs Mutationen, da-
gegen z. B. D-sol-re nur zwei:
aus 8ol in re beim Aufsteigen aus dem durum in's naturale
„ re „ 8ol „ „ „ „ naturale „ durum*).
Das natürliche Hexachord war stets entweder mit dem harton
oder mit dem weichen verbunden, es hiess daher auch hexachordum
1) Sehr umständlich , aber auch deutlich sind alle möglichen Fälle
der Mutation in dem Tractate des Tiuctoris aufgezählt. Er bringt die
Sache auch noch insbesondere in die holprigen Gedächtnissverse:
12*
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1 80 Di« Anfilnge der europäisch - abcndlftndischea Musik.
servutHy das dienende Hezachord^. Man durfte nielit eher mntiren,
als bis es die NoUiwendigkeit erheischte^. Immer masste das mt-/a
auf den Halbton treffen. Tinctoris stellt die sämmtlichen Mutationen
in einem eigenthllmlichcn Aufrisse dar (s. vorhergehende Seite).
Ueberrascht von der Kot::('liii!issi<;kcit dieser Figur ruft Tinctoris
ans: ,,Es ist wahrlich in (h^r Disposition dieser Mutationen eine
Art göttlicher Ordnung zu bemerken" 3). Die Mutation war in
der Solmisation das Wichtigste, wie selbst schon ihr Name an-
leigt; denn ml luum «of «o2 nnr folgen, wenn man ans dem
natnrUchen in das weiche Hezaehord flheigeht:
nat ' molle
g \ a b c
Ml mi fa nt
Durch die genaue Anwendung der Mutation und die dadurch be-
wirkte Erscheinung des mi fa an der rechten Stolle wurde, zumal
im mehrstimmigen Gesänge, das berufene mi contra fa vermieden,
von dem mau in den Singschuien sagte:
mi oontra &
est diaboloi in musioa
mi fa
est coelestis harmonia.
Ut re, re ut, re mi cum mi re
Fa, ntqne sol utque^
Sei reque, la re, la mi
Scandere to faciunt —
Ut fa, ut sol re, sol cum
Re la mi laqae fi» sol
Sol faque, sol sol, la la sol
Dum canis ima petuut.
1) Buttstett a. a. O. S. 124: „Erstlich stehet das hexachordum naturale
unten in der Tiefe, zweitens stehet es eine Üctav höher, dazwischen setzt sich
b quadratum mit seiner Gemalin dem b rotundo als Priuc ops clavium mitten
inne; jedes will seine Aufwartung haben ^eide erfordern em anderes ut, con-
seqnenter auoh ein anderes toi and 2a). iHt masa das hexachordum naturale
herhalten, deswegen es auch Exachordum servum ponrnnct wird . . . Das Ex-
achordum naturale ist allemal eutweder mit dem duro oder moUi verbunden,
es stehe nun unter oder über einem von beiden, und dieses ist die ürsaohe,
dass es servum genenne t wird, weil es jenen beiden dienen muss." Dtmmi soU
feggiric man bei der Tonrcihe g ahc nicht im Sinne des hexach. durum ut re
mi fUf sondern sah das erste als dem hexach. naturae angehörig an und sagte
n *
g a h c
8ol ro mi Cs
8) Nee praetereondnm est, quod mntatumei inrentae sunt propter
disgressum mitus proprietatis in aliam, unde postquam aliam proprietatem
ingressi ftumtis, anto tinah-m ejus vocem mutaro nun(iuam dcbemus. Et
sie intelligitur, quod rarim ac tardius ut fieri polest mutandum est. (Tino
toris a. a. O.) Hermaim Finde begannt seine Mutationsregeln liut im Tone
des Decalogs, Heg. I: Nunquam mutabis, nisi sit mutare neossse: ein Hexa-
meter, der schon in den ¥ioT. cant. (ireg. vorkommt.
fl) Finaliter notaadmn est^ in dispositione islannn matationam
divinus quidam ordo habetur, qm per fignram sequentem &ailliune intelli-
gitur (folgt die Zeiohnun^.
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Guido von Arezzo und die SolmiMtion. 181
Dieses mt contra fa konnte in der einzelnen Stimme m der nnge-
hörigen Anwendung der ttberrnttMigan Quarte erscheinen, wenn
man im hcjcachordum moUe statt des mnden b das b quadnm hören
liess; der Ton sollte als fa «:^onommo.n worden und wurde statt
dessen als mi angegeben, das mi fa traf uu^^eliUrig zusammen *) :
es war der so selir gefurchtot»; Tritonus. Im mehrstimmigen Ge-
sauge hatte es dieselbe Bedeutung:
Tritonus. Semidiapente (vermind. Quinte, ümkebrung des
fa m\\ 8ol fa Tritonus).
oder jene eines Qaerstandes:
(hexachord.
Tni re ut donun)
mi ük soI (moUe)
den mau auch im Querstehen des Tritonns fand^:
fit mi mi fii (dnmm)
& sei fis re fis (naturale)
wobei zweierlei Hcxachorde gleichzeitig zur Oeltung koromen,
oder es trat als Folge von zwei grossen Terzen auf:
(lioxftchord.
re mi fa durum)
H iol la (natarsle)
wobei ebenfalls zwei verscliiedenartige Hexachorde zugleich ge-
hört werden^
1) Praetcrca \n h fa^ mi acuto et superacuto nulla fit mntatio {h fa
kann nicht in h tni mutirt werden und umgekehrt), qnia mutatio dcbet
fteri necessario per duaa voces unisono convenientes, id est, quod vox illa
qnae mntatnr, et alia quae per mutationem assumitur, sint in uno et eodom
««ono, immo ab invirem ili«tpnt majori somitonio ost impossibile, quod
uuum in alterum sit mutabile. (Tinctoris a. a. ü.)
8) Daas die Alten solobe Fortschreitnngen wegen der entstehenden
Qnerstände untersagten, erwähnt auch Dehn, Lt lire vom Contrapunkt S. 7
3) Daniber zu vergleichen in Piotro Aron's: Libri tret de institatioue
harmonica III. 15: mi contra fa cur vitari debeat.
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182 Anfönge der enropftisch-abendl&nditchen Mutik.
Wurde nur ein Ton Über la gesungen, so mnsste fa ge-
sungen worden, wieder um jenem iliah(Aus auszuweichen; es galt
in den öchuU-n der Cnundsatz: tota uota aficemh'iite sitper la, scmper
est catiendum fa. Die>es fa galt für keine eigentliche ]SIutation;
CS musste stets gesungen werden, wenn nicht ein ausdrücklich
▼QigeieichiieteB ll| oder 1 es anders vorsehrieb i):
nat.
molle
-<» — ?s— j
— 0 a —
ut re mi fit re mi fit mi fe vt
sol la
nicht aber:
m
Triton.
I
la mi
nt ve mi ft sol re
Stieg man mehrere Noten Uber das \a, so blieb es bei dem Ge-
wöhnlichen, wie Vorhin in dem erstgegebenen Heispiel einer Mu-
tation. Wurde, statt wie im vorstehenden Exempel vom hexachor-
dutn naturcUef der Ausgang vum hexachordum malle genommen, so
mosate bei gleicher Tonfolge gemltss der Begel una iwta ascendetUe
wper la smper est cameiidiim fa statt « Tielmebr es geäungen werden,
es hiess diese Note fa fiätm^
— "
[la-
— Ö»—
■ ff-
-B ^
nt le
mi fit sol
la fit
mi
Daiiiit war thatsächlich eine Modulation nach b-dur bewirkt, und
somit das Gebiet der musira ficta berührt. Dieses fa fictum wird
von den strengen Thcnretikcrn der älteren Zeit nicht erwähnt; noch
Tinctoris kennt es nicht und ob er gleich alle möglichen Mutationen
1) Propter unam notam ascendentem super la non fit mutatio, sed
sempur fa iu ea est cnntandum, nisi hoc ^ vel hoc j(f assignatmn Bit. (Hermann
Finck, Pract. mus. Reg. VIII mutationum.)
S) Buttstett ^ut rc mi fa etc. 8. 311) erwähnt, dass die Alten, welche
alle ihre Melodien in genwe diatonico ufesettt haben, das fa fictum,
welches sie rait dem b bezeiehnet, fast zu viel }Tel)raucht, indem das fa
naturale mit dem oben liegenden mi oder b quadrato sich gar nicht ver-
tragen kann, sondern allezeit das fa ^cttun erfordert, so haben die Alten
lohier einen Ezoess in speoie in tertio et qnarto tono darinne begaagen.
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Guido Ton Atmo and die Solmiaation.
183
an&fthlt, lo weiss «r doch nichts von der YerXndening des E 2a mt
in B la fa. Dieses fa fiäum ist jedenfalls in den Kngsehulen bei
Anwendung ätac musica fida aufgegriffen worden und hat sich all-
mäW^ ciii^-^t-lnirg ort. Noch bis in die neuere Zeit hiess in Italien der
Ton Es „E la fa". Sang man nun nach einer fingirten Skala, so
nnissten die Syllicii den entsjiroclu'iulcn Timen zu^ctlicilt werden,
und es ist begrtMliit li, dass die; Zöglinge der Siiigsclmlen die Ilex-
achorde und insbesondere die Mutirungen zu den ärgsten Qualen
rechn eten, mit denen sie in diesem irdischen Leben heimgesucht
worden. Aber auch Theoretiker, welche an die unantastbare Anto-
litkt der antiken Tetradiorde fest glaubten, wurden durch die Hez-
adiorde nicht wenig in Verlegenheit gesetzt; schon Engelbert von
Admont deducirte die Verwandtschaft beider in der spitsfindigsten
Weise, bis endlich der Spanier Salinas zu dem Auswege griff zu
behaupten, die Ilexacliorde seien ja gar nichts anderes als wahre
Tetrachorde, denen mau aber in der Tiefe je zwei Töne zuge-
setzt Franchinus G afor hat darüber eben so wenig einen Zweifel,
nnd nach einer Kechenkunst im Sinne des Hexeneinmaleins kommt
er SU dem Besultat: sechs sei vier und vier sei sechs. Das erste
Hezachord (iunm grave) F Ä B C D E hat freilich sechs TQne,
ist aber doch ein wahres Tetrachord, denn auf dem vierten Tone
' C föngt ja schon wieder ein neues Hexachord {nahtrah grave) an,
welches wieder nur ein Tetrachord ist, obschon es sechs Töne
C D E F G a umfasst, denn auf dem fünften Tone G beginnt wieder
ein neues Hexachord {durtm acutum) u. s. w. Boethius und (iuido
durften einander nicht widersprechen und mussten um jeden Preis
in Uebereinsdmmung gebracht werden^.
Die Solmisation war unverkennbar ein sehr weitllufiges aber
1) Sciendum autem est, haec hexucborda recentiorum eadem esse cum
tebradiordiB, additis infeme vodbns dnabui, ex qnibns et quatnci* fllomm
sex vnces, quas musicaics vocsnt, originem traxemnt (FnuDMnsd Sslinss
Lib. IV. de mus. S. 1Ü3).
2) Namquc (G uido) uninscujusque exachordi principium vel primo prae-
cedentis exachordi tetrachordo conjunxit, vel ipsum ab eo toni diqnnctmn
instituit intcrvallo (Mus. pract. T. 2). Erstcres int bei dorn h. durum prave in
Beziehung uut dua h. nat.gr. der Fall, das Zweite beim h. uat. gr. inBe/iehut)g
anf das h. dumm acutum. Soharftinnig ist, was Zarlino (Instit. bann. III.
cap. 2) über diesen Gcpenstnnd sap^t : la ondc bisuffna sapcre che Guiduno
conginnse ogni deduttione con uuo delli Tetrai Imrdi grcci, agguingendo a
dsscnn tetrachordo dae ootde di piü dalla parte grave, oomfe e qiidla dell*
Ut etquella delRe : perciocche ornii tretachordo hh principio nellaohorda del
Jli; come nella seconda ]>artf fu rommemorato, di inaniera: che ogni Esm-
chordo contiene ciaacuna sptcie dello diatesseron, che souo Ire. Hiernach
besteht also jede« Hexachoid aus drei in einander geschobenen Tetrachorden:
cdefga^g ahedBlfgabcd
uiyiii^Cü by GoOgle
184
Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik.
auch schaifnnniges System, erdacht um g^cwisse Schwierigkeiten m
beseitigen; was ihr frtjilich nur um den Preis gelang, dass sie weit
grössere, nämlich sich selbst an deren Stolle setzte. Die in der
Natur solbst be^rründeten Octaven werden durch die Ilexnchorde in
Htüeke gerissen, und die V^i'rl)indung durch die Aufl'assung des
natürlichen Hcxacliurds als licxarhordum servum nur nothdürtYig
horgestelit. Derselbe Name, ut oder re oder wie sonst, bezeichnet
gans verBcliiedene Töne; derselbe Ton nimmt verschiedene Namen
an nnd heisst bald lU, bald re, bald «o{ n. s. v. Die Zeit, in welcher
die Solmisation entstand, besass noch keine Harmonielehre, sie hatte
keine Kenntniss yon der Verwandtschaft der Harmonien und Ton-
arten, von Modulation u. s. w. Für alles dieses mnsste die Solmi-
sation Ersatz leisten. Darin lieji^t bei allen Mängeln ihr Werth.
Der Zweck der Solmisation war keineswegs den l\>nen neue
Namen zu geben. Die Töne behielten vielmehr die alte Gre-
gorianische Buchstabenbezeichnung; dazu kamen durch die Sol-
misadon dann noch die Sylben, durch welche die Stellung jedes
Tones im System und seine Bestehung su den nlehstverwandten
Tönen ausgedrAckt wurde. Die schon in der Verbindung der
Plagaltöne zu den authentischen anerkannte Verwandtschaft zMrischen
Grundton und Quinte, als Tonica nnd Dominante, wird hier noch
«•ntsclnedener hervorgehoben, indem auch die Unterdominante mit
hereinge/.o<;en wird, d. h. jene drei Ton-ituten znr (leltniifr kninmen,
deren drcif^eeinte Verbimlnn«^ den Bt'ji;riff des abp^esclilossenen
Systems einer Tunart gibt. Das h. naturale (C) steht gegen das
h, ämrwm (O) und moUe {F) im VerhlQtniss der Tonica sur
Ober- und der Unterdominante und ist seinerseits die Oberdominante
des weichen und die Unterdominante des harten Hexachords.
Das Nxciche Hexachord gewinnt durch das fa fictum auch die ihm
nach dem strengen System felilondo Unterdominante {b c <1_ es
f (ß. Sollte nun aber das harte llexachord in gleicher Art durch
die ilun t'elilende Oberdominante eine den beiden .indem Hexa-
cliDiden analoge Stellung erhaltiMi, so miisste man zu einem mi
fictum durch Erhöhung des f um einen kleinen Halb ton greifen,
das die fingirte Musik, wie ivir durch Gafor*s ausdr flckliche Er-
wähnung wissen, kannte, aber nicht benannte und als höchsten Ton
eines fingirten (transponirten) mit Ä beginnenden Hexachords ansa h i),
wShrend seine eigentliche Stellung im Zusammenhange wXre:
c d e f g a . . . hcxach. naturale
g a h c d c hexaoh. duruta
d e jj} g a h f
1) Doni (Sopra i tuoni S. 125) meint: non ardivano nel rpooIo a
dictro serviräi di tal speziu, h jjf fj quasi che non sapessero con ajuta
<ran corda pellegriaa formarvi la quinta.
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Guido von Areszo und die Solmisation.
185
Dm erbttliende Krens fttr dieses in seiner Wichti^eit nnbeachtet
gebliebene, nicht eigens hervorgehobene mt fidum wkre für die ganse
Musik das Zttchen der Erlösun^r geworden. Denn auf demselben
Wege wäre man dann durch das Hexaohord jenes mi fidum zu dem
ilini nSchstanj^rKnzenden n h ^ r d e ^ f und so weiter durch den
ganzen Kreis der Tonarten «geleitet worden, die man auf diesem
Wege in iiiron Wecliselbeziehungeu verstehen gelernt hStte. Dass
man aber aus Respekt für ttberkommene Traditionen und der Con-
seqaens der Diatonik sn Liebe diesen entscheidenden Schritt nicht
wagte, obglmcb man an den Beziehungen desnatQrlichennnd weichen
Tetrachordes Vorbilder hatte nnd da« fis durch die miisira ficta selir
wohl kannte, ja obschon man durch das fa fidum diesen Schritt
nach einer andern Seite hin bereits wirklicli pethan: darin liegt das
Gebundene und Unvollkommene dieses öystems Die der strengen
1) Elias Salomonis (1271) sn<;t ganz bestinmit und deutlieh: CFG qassi
eandem naturam habent et in utraque istarum triam possumu» dicere, (|no«
niam est de natura artis ut et fa et sol et re . . . tn ^ non dicUar fa, scd re-
compensatur rc (Cap. III). Wenn also g niemals fa sein kann, so kann SS
nie lieisfen jj/— .7, fr — mi — fa. Da^'efjen Huttstett (a. a. O. S. ,'{!>): ^,01) nun
wohl dicAiteu die Noten /oder /'anicht murkiret, so haben sie solche dennoch
elevatione vods exprimirei, als wenn das Signum diaeseot oder das doppelte
OreuT wörklich darbei stünde. "Wovon sowohl die heutige als die für etlieben
100 Jahren übliche praxi» Zeugniss gibt: nach unserer heutigen Art aber wird
das Signum diaeseos expresse beigesetzt " Stehlin in seiner Chorallehre S. 8
gibt folgendes Beispiel einer „hinten Uebenehreitnng** des H«iachords, wo
er yiehnehrvoneinerTransponinmg im Sinne der musiea fictaspreohen sollte:
( y a h c d e fis g
\ ut ro mi fa roI la mi fa
„Es wird aus diesen Beispielen klar", sagt er„da8s durcli «Ifti BogrilTvon hart
und weich bei der unvermeidlichen Ucberschreitung des llexachords das Ton-
TerhKltniss bei den Buchstaben b ef sich verftndem muss'* (sich yerftndem
sollte und sich ])v'im h gleich ursjjrünglieh, hei e durch ilas fa fidutH ver-
änderte, wogegen für die Veränderung des f kein Zeugniss vorliegt). „Die
siebenten Stufen .... erweisen demnach unbestreitbar die Töne, die in der
modernen Tonschrift als h es fis bekannt, im Ohoral aber im System des
Hexachords enthaUen sind." Für dif l^-h.iuptung, welche Stehlin anderwärts
ausspricht, dass die zwei i'uukte den -äclilussels die zwei Hulbtöne f — fis nach
der Neumensohrifl (?!) bedeuten, ist er den Nachweis schaldig geblieben.
Tinctoris (Expositio manus) redet über die Hi'dcutunLT der Schlüssel anders:
man habe ff pro ff fa ut gravi gesetzt, qua quidum clavi voteres usi sunt, jpro-
priam ipnim Iwrae atmtmetUes /brmam,'ut patet in vetnstas codidbns; sed
nescio, quo motu moderat a m^j<Mram vestigüs deoUnantes, davem istam for-
matam vel ^ . . . etiam in cantn piano aooeperint, vel sie , maadme
in re fiicta, quamqnam frequentins vacna sit nt hie 'jj n. s. w. — Also die
Zeitgenossen des Tinctoris, die moderni, führten um 148U jene swei Puncto
eiu, wo von Neumen lange keine Rede mehr war.
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18G
Die Anfänge der europäisch- abendländischen Musik.
Diatonik auch widorstreiteade Inconsequenz der Untersclicidung des
h mi und b fa rcciitfertigte man eben durcli das Ansehen der iiber-
koinnieiien Tradition, besonders durch lllnweisung auf das \ er-
bundene, uiul das jrefri'unte 'l'etracliord der antiken Musik, welche
eben um jener Unterscheidung willen da waren; das fa f'utum war
eine Nachbildung des h fa. Man hätte nun ebenBogut den Ton f
eigens in ein Fmivi and F favt nnterscheiden kOnnen, wie das •
in ein e la fa (es) and elami (e)^ man hiftte erwXgen sollen, dass
das ela fa nardem auch nicht aasdrflcklich anerkannten Hexachord
h e des f angehören könne. Aher man wagte m nicht.
Dass die Solmisation sich, statt aus Octaven, vielmehr ans
Gruppen von je sechs Tdnen zusammenbaut, ist von ihrem Stan«I-
punkte aus so wenip fiue Willkürlichkeit oder Uuvollkoninienheit,
als es in unserer Ilnnnouielehre willkürlich und uuv<»llkouiinen ist,
wenn wir die ihr erstes Element hildiMuleu Dreiklänge aus einem
Pcntachord, einer FUnftunreiiie, in ihren drei weseutlicheu Tönen,
Grandton, Terz, Quinte, und ohne die verdoppelnde htthere Octave
des Grandtones bilden. Die Uebersehreitung des sechsten Tones
ist allerdings ein wichtiger Schritt Geschieht sie um einen ganaen
Ton, so drSngt der Gang nach aufwibrts zur abschliessenden Octave;
geschieht sie um einen halben Ton, so wird sie ein Punkt der Rück-
kehr, der Gang drSngt abwSrts zur Unterquarte {cdefga h-c oder
r (1 f f g a b-a g f). Im Ductus der Melodie drückt sich hier die
harmonische Modulation aus, und wie nun auf solche Art die Me-
hnlie in ilireni (Jaufre die ihr zu Grunde liegenden harmonischen Be-
ziehungen erkennen lässt, so liegt eben deswegen in der iSolmisatiun
der Keim d«r Harmonie, und swar jener homophonen Harmonie,
welche nicht neben der melodischen Hauptstimme als einem cantus
fmnuB andere gleichberechtigte Stimmen parallel einhergehen iSsst
(der Keim dieser Harmonie, der P(dyphonie, liep;t im Organum),
sondern durch accordmässi^en begleitenden Unterbau, den man tnt
Ende des 16. Jahrhunderts durch den allgemeinen Bass (bas!tus ge-
mrali.s) und beigeschriebene Zifleru andeutete, die harmonischen
Bezieliun/.'en in der melodischen Führung hervorhebt uiul eigens
hinstellt. Das Uexachord hat hier beinahe die Bedeutung wie der
Dreiklang, das natOrliehe die Bedentang des Dreiklangs der Tonica,
das harte die des Dreiklanges derOberdominante, das weiche jene der
Uuterdominante, letsteres mit gleichseitiger Andeutung jener Mo-
dulation, wodurch es seinerseits Tonica, das natürliche aber dessen
Oberdominante wird. Der secliste Ton wird mit in Anschlag ge-
bracht, weil beim melodischen zeitli< lien E<trts< lirriten, im Gegen-
sätze zu d«'in lianuonisclien gleichzeiti^^en Anschlagen des Accords,
jene ilircui Wrsen nach liannonischen Hezielmngen erst bei Ueber-
schreiiung der sechsten Stufe sich geltend machen. Mit der siebeuten
Stufe wird der Punkt erreichti wo sieh der ftir die Solmisation so
Digilizoa by LdOk
Guido von Areszo und die SolmiBation.
187
wichtige Halbtoniehritt wiederholt und den aie also, ohne ihm eine
eigene Bylbe sosnweisen, wieder mit dem den Halbton bezeichnen-
den mi'fa benennt. Hat doch, meint do ^furis, die Seehszahl (die
BechB Tage der Schöpfung) zur Krsciiafliung der Welt genügt;
warum sollte sie nicht aiich ttir die Musik zureichen ^)?
Die \'ermeidung des mi contra fa lir^riff lür jene Zeit die
ganze Sunnne der Reinheit des Satzes in sit li; diese Solmisations-
regel lief wesentlich auf die Beseitigung der (.^uerstände hinaus, und
es lag somit die Anerkennung des wichtigen Gesetzes darin, dass-
sich zwei Terschiedene Tonarten gleichzeitig nicht geltend machen
dürfen. Ein solches Oesetz konnte ans dem was man damals Ton-
arten nannte, aus den Kirchentönen, nicht klar werden, trotzdem
das» es Hucbald anch fttr diese gelten lassen wollte. Da sie keine
wahrhaft von einander verschiedene Tonarten, sondern bhts Octaven-
umläufe einer und derselben Tonart waren, so konnte gar wohl th-r
Tenor im ersten, der Alt im dritten authentischen Toue u. s. w.
singen, da sie thatsfichlich beide in d-moll standen.
Auch die sogenannte hamonische Hand verdient nicht den
Vorwurf einer völlig nnntttsen Spielerei^. Sie war ein mnemo-
technisches Hilfsmittel, welches dem Schüler die Nothwendigkeit
ersparte stets eine geschriebene Tabelle der Solmisation bei sich an
* tragen, nnd war bei der Seltenheit der Schreibekunst und der Kost-
1) üt re, mi, fa, sei, fa — notulamm uonina sena
SufHciunt notulae, per quas fit musina plena.
Nec mirum, numerus idem perfectus habetur:
Machina mundana per eunaem facta doceUtr.
Quod sex sufficiunt, potes hac raüone, probare,
l'ltiinn hl, iiolulam si totitas continuare;
Aam nmgxs ascendem quod erat po»Uum rtpltcabis
Sive quod est minimiira, qnod ahundat in arte 1ocabiS|
Semitonus quoniam praccessit et hoc eequeretur.
Est ergo mdius, quod pratcedem ite^ etur u. s. w.
(Summa Musicae Cap. VII.)
Hiermflgen gelegentlich auch die vonFigalascitirten Verse ihre Stelle finden:
üt re 8ol ut a /avis wHo'ntur dulcia melto
Sic miscet ^actis blauduia verba Venus
ü^m dum «fNtiB favor est, dum sola fohonun
Est requies: constaiis nulla in ain(»ro fides.
Ex hoc exemplo discent studiosi syllabannn et clavium usum u. s. w. Zu so
wunderlicbenJIditteln griffman ! — DieS} Iben gabenzu zahllosen rebusart igen
Spielereien Anläse. Selbst ein Papst musste »ich gefiülen lassen, die Noten
»edeutpf zu sehen: io\ re mi fa; man schrieb nämlich seine AVahl dem
£infiusse des Köniffs von Spanien zu. Wo in ileni Numen eines Musikers
ein Ut oder fa vonicam, ersetzte man es wohl beim Schreiben durdi die
entsprechende Note, z. B. l'ierre de Ui Kne, Guilelmus Du/hy.
2) den ihr Forkcl macht, GescU. der Musik 2. Band, iftbeoso Kiese-
wetter, Guido von Arezzo S. 37.
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188
Die Anftnge der «iropftiMli^abendlliidiMlien Musik.
spi eligkeit des Sclireibmaterials ein ganz gatea Surrogat Der Schüler
hatte das Schema der Sohnisation in «einer linken Hand gfeets ro
Bciiier Verfügung, sobald er die Namen and die Stellen derselben
an den Fi n «zergliedern ein- für allemal seinem Gedächtnisse ein-
{^cpräf^t. Bios aus dem Kopfe zu solmisiren war schwierig, jeden-
falls (liT Blick auf eine Tabelle oder die ihre Stelle vertretende
Hand cino sehr wcsontliclie Erleichtemng, zumal wenn ans einom
fingirten Tone, z. B. aus ^'.s oder ais gosungen wurde*). Der Schüler
mit dem Zeigefinger der rechtenllaud auf die linke oder auf dieNoteu
selbst deutend^ und die gewohnten Intervalle angebend, konnte
nicht fehlgehen, sein mi fa sagte ihm, wo er anch bei veränderter
Tonhöhe des Gesanges die Halbtttne ansageben habe, und so konnte
er denn leicht und sicher jeden Gesang in jeder beliebigen Tonhöhe
transponirend vortragen. Daher wies man auch in den Singschnlen
gern auf den Vers des Hugo von Reatlingen hin:
Disco manum tantum, si vis beue diacere cautum.
Absque mann finutra difoes per plorima histra.*)
Die Mutationen konnte der Schüler mit Hilfe der Hand gleichfalls
leichter ausrtlhren, weil sie ihm die Ueberf^^angspunkto aus einem
llexachord in das andere dcnitlich machte; besonders war es bei dem-
jenigen Mutiren in mmte fast unentbehrlich das Schema vor Augen
zu haben, wo in einer Melodie mehrere Tonstufen übersprungen
worden nnd der Singende beim Solfeggiren sie mit in Anschlag
bringen mnsste, natllriich ohne ne hören sa lassen, nnd die Hntirang
danaieh einsoriehten hatte, s. B. (aus Bnttstett)
fa mi fa (mi la) sol mi sol ni sol re mi fa (la sol)
dumm
fa mi fa ut fa
1) „Uebrigens mag man es transponiren, in wolrhrn Ton oder Clavcm
man nur wilL so heisst imd bleibt es vi re mi fa 80l la" ^Buttstett a. a. 0.
S. 121).
2) Nam cum deztra facimus pausat, ostendimns pvnctos com digito
et stylo (Elias Snlomo a. a. O. 8. 24).
3) Fiurea cantus (iregoriani
Guido von Arezzo und die Solnüsation. 189
i 9 C
^ r —
1 1 1 L 1 1
la Bol U mi Ml re mi ft sol
fk mi fa Qtk sol) f» sol la re
Hier bedeutet mm s. B. die unmittelbar wiederholte Bylbe fa (fa-fa)
in Folge des dazwiadien fallenden Mutireni tn nmte jedesmal einen
andern Ton, einmal f-fa im natürlichen, das andcremal c-fa im harten
Hexacbord^)- Finck beceicbnet diese Mutationen de fa m fß, ex sol
in sol u. 8. w. als saltvs sive mniaiione de nota ad uoiam und fiijrt
an einer anderen Stelle bei: in quartis, quintis et actafis fit mltus
de nii in mi, dv fa i)t fa. Die oben vurkoniineiide Sylbe ui ist eine
Modification, die der ä|iätzeit der Solmisation angehört, wo man
ber^ nngeMhent Bemitonien eimnieebte. Buttstett, der letzte Bitter
der Solnüsation, sagt darttber: „dieSemitonien eis, iis, fi», ffis werden
iievaium voeis gemacht, ftllt das doppelte Ereus in's fa, so nimmt
man statt fa ni, das ist instar mi, weil es wider die Natur ist, dass
man fa scharf singet". Durch diese „Erhöhungen der Stimme" oder,
es mit dem wahren Namen zn nennen, durch den Gebrauch der
Halbtöne gerieth die alle Magnetnadel des mi-fa, die nonst unver-
rtickt nach den zwei Stellen der Hnlbtonsehritte in der Skala (dem
Kord- und Südpol) hingewiesen hatte, in s Schwanken und zeigte
bedenkliehe Dedinadonen; es traten luftllige Halbtonschritte auf,
ohne dass sie durch das mi'fa bemerkbar gemacht wurden, man griff
XU dem m, oder su do (statt ei», wiewohl do meist für itt, als im
Singen leichter ansprechend, angewendet wurdet Selbst die an-
scheinend untrennbare Nachbarschaft von tnt-/*a war keine gesicherte,
man trennte sie z. B. der Kegel „una nota super la sempa- est ca-
nendum fa" an Liebe und solfeggirte a b a * man mutirte beim
U üb 1*
Absteigen vom fa im hexachordum naturale bis unter das ut, gleich
nach dem fa mit la, f,weal das Exoehordwm diinm sich da anftuget"
erkUrt Buttstett:
1
la la lol & mi re ut
1) Die Mtttatio in mente wird der Sache nach schon bei Engelbert
von AdmonI JJL 10 erwihnt
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190 Anflknge der earop&isch- abendländischen Masik.
und diese Matarungsark wird aneh wlioii yon Tinctoris auBdrUcklieli
gebilligt, ob sie gleich der Regel so spXt als mttgUch sn matireii
widerstreitet, nach welcher et hebsen sollte:
f e d e a g
ja mt re fa mi re ut
übrigens eine Mtitirung, welclie Tinctoris filr denselben Casus, nHm-
lich filr (las Al).sl('ij;«'n aus <l«'m natürlichen iu's harte Hexachord,
gleichfalls ausdriicklidi j^utheisst Zu soIcIkmi feinsten üuter-
schcidungcn inussten die Schlüssel aushelfen: der F-Schliisscl im
Batiä, wie der C-SchlUssel im Tenor, deuteten beide den Ton fa
•a, aber ersterer fa im natflriieben Hexaebord
letsterer fa im harten Hexachord
aUo zwei um eine C^uinte aaaeinauderätcheudc Töne. Stieg man
nun im letiteren Falle unter das in das Hexachordnm natnrae,
so durfte man nicht wie beim F-Schlüssel nach fa gleich la, sondern
man musste mi singen, „weil das h qitadratim hier seine natürliche
Stelle bekleidet«* (Bnttstett), und es musste heissen
durum nat.
(re ut)
fii mi la sol & mi re ut
Für diese Aenderang des re in !a fand sich in dem Namen des Tones
ÄlanU re die erforderliche Andeutung, wie auch Tinctoris lehrt:
re la sei die Mutation in beiden Alamirc, um aus dem harten in's
natürliche Hexachord Jibzustcij^en. Die Schüler, denen es ohne
Zweifel von alle dem wurde ,,als ging ihnen ein Mühlrad iui Kopfe
hcrum'^: mussten nothwondig Töne und Mutirungen, wie man
sprichwörtlich sagt, was hier aber gäns buehstlCbUeh an nehmen ist,
an den Fingern abaVhlen ktfnnen.
1) üt fa est mutatio quae fit in C fa ut et 0 sol fa ut ad dp-^condendum
de natura in k durum et in utroque f fa ut ad desoendeudum de b-molU in
naturam. . . . la est mutatio quae fit in ntro<iae Bland ad detcenden-
dum de natura in ^ durum et in utroque Alamire ad desoendendum de
l)-mrdli in naturam. Die ^Ir-j^üt hk.'it dieser Mutirungen deuten allerdings
auch schon die Namen (J fa ut und £ la mi an.
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Gaido TOD Arezzo und die Solmisation.
191
Der Spott, mit welehem Mattheson la Anfang des 18. Jahr-
handerts „des Aretini Fibel*' verfolgte, hat seine Bereehtig^g den
Lehrern gegenüber, die zu einer Zeit, wo die Musik längst über
viel andere Mittel gebot, zähe an ihrer Solmisation festhielten.
Sie selbst war ein nothweiidiger Durchgangs- und SntwickeliingS-
pnnkt in der Gcscliichto der Musik.
Ohne nun die ganze Sohnisation mit allen ihren Feinheiten auf
Guido*» Recluuiug setzen zu wollen, muss man ihu^ doch und zwar
anf sein eigenes Zeugiüss hin meht allein die Einfilhrung des prdt*
tischen Hilfiimittels des ut re nU fa aol la ia den Singschnlen, son-
dern auch die Begründung des Systems der Hexachorde
snsehreiben, weil es eben nicht mehr nnd nicht weniger als sechs
Sjlben sind, die er in solcher Weise anwendete. Es ist kein Gegen-
beweis, dass weder er noch Cottonius diesen Kunstausdruck an-
wendet; die 8ache selbst war ihm au^'enscheinlich nicht fremd.
Aribo Scholasticus und Engelbert von A<hn'int, die sehr viel von
den antiken Totrachorden, ja von Dichorden, Trieliorden und Pen-
tachorden reden, hranehen gerade nnr den Kunstaasdruck „Hexa-
chord" nirgends, nnd doch wendet insbesondere Engelbert nicht
allein schon die Namen E lanU, D solre, (? «ol rs itt n. s. w. an,
sondern erklXrt auch, warum denn anf der Hand sechs Noten (8ylln'iii
und sieben mosikalische Buchstaben, und nicht inehre zu finden sind.
,,Dic Mndomen sclireilien," Hfi'^t «t, ,.den ein/.elnen (musikalischen"/
Buchstaben auf tler Mui>ikalist'Iien Hand und auf den Musikinstru-
menten statt deren eigener N amen die seclis Noten (la sol fa mi re ut)
bei; den tiefsten Tönen wird nun blos eine einzige Sy Ibo beigeschrieben
(r ut, Ä re u. 8. w.), den hiSchsten dagegen zwei Sylben (f fa ut, d
aUretLB, w.), den mittleren endlich drei Sjlben (A 2a mt re, sol
rs ut n. s. w.). Die tiefsten bedttrfen nnr einer Sjrlbe, weil man au
keinen noch tiefem TOnen mehr hinabsteigt; den höchsten geniigen
cum Absteigen zu tiefem nur zwei Sylben. Die mittleren aber
brauchen drei Sylbon wegen der dreifachen Veränderung des Auf-
und Absteij^ens, die in ihnen anfangt und endet (propter tripUrem
mutationem asrensiis et (Irscnisus , qiii incipit et tenninat in ipsis).
Iiier ist bereits das Wesen der llexachorde mit ihrer Abgrenzung
und auch schon die Mutirung ausdrücklich, aber doch nur so an-
dentnngsweise besprochen, dass man sieht, wie alles dieses we>
senüich auf ttberlieferter Lehre und anf Uebung in den Singe-
sehnlen beruhte^). Doch gibt t^ngelbert an einer andern Stelle
eine deutlichere Anweisung, wie man au mutiren habe^.
1) Engell)crt beriifi sicli wo iieriün darauf ganz aasdrfioklich ; sein Work
soll daher auch kein Lrlulmt h der ars solfandi «»ein: Cetera de bis v'>< il)us
et earum mutationibu.s, quia apud pritnos addiscentes numicam sunt coni-
mnmia et mUga^t, ad praesens ommittantur (JJL 11).
2) II.Tract. ( 'ap. 2!) sagft Engelbert : Facta in C sol fa nt mntationeut in sol.
»icdioendoFfa, mi reut sol fami, und ausführlicher in Cap. 8 dos Tractatus LH.
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Die Au&nge der europäisch -abendlftncLischeii Musik.
Wie man aUerdings in Gnido etwas Nenea und Eigenes anni-
erkennen fand, beweist der Umstand, dass sich Ausleger um ilin zu
scbaaren begannen, wShrend frülier die Commentatoren ihre Arbeit
nur auf ihrm Hoethius und Martinnnn rnjiella zu verwenden ge-
funden hatten und selbst Iliicljald, der iiiniulios Neue braclite, ver-
cins.nnit blieb. Freilich «iber hatte hicli liiu bald selbst in das Gefolge
düüBoctbiuB gemischt, währcud Guidu die Neuheit heiner Auffassung
und Methode nidit ohne Selbstgefühl oft genug betont. Als die
ersten Jünger Ouido's können Johannes Cotton^) nnd Aribo
Seholastiens gelten: eisterer folgte den Schlitten des Meiatera
erklSrend, andeutend, fortsetzend; der andere griff eigens „dunkle
BStse Guido's'' (obscuras Guidonis senfeiiiias) hervor, um darüber
eine ,, nützliche Auseinandersetzung" (utilis exposifio) zti geben.
Aribo lebte im Bisthum Freisiiig, also in l)eutschlniid, Johannes
Cotton war allem Anschein nach ein Engländer: ein Beweis, wie
rasch sich Guido's Name und Anseheu weit genug zu verbreiten
Termocbte. Cotton erztthlt, dass die Sylben vi re n. s. w., welche
der Hymne vi gtieamt laxis n. s. w. entnommen seien, in England,
Frankreich nnd Deutschland allgemein angenommen worden; „die
Italiener aber," sagt er, ,, haben andere: wer sie wissen will, hole
sich darüber bei ihnen Auskunft**. Es ist unbegreiflich, wie gerade
1) Der Anonymus von Rlölk macht den Johannes Cotton zu einem Eng-
llader: Joannes Aliisicue, uatione Anglus, vir admodum subtilis ingenii, qui
et praestantiBsimum libi lluin de musica ai-te ooniiiosuit. (Vergl. die Vom do
Gerbert's zum 2. Bde. der Script.) Das ist ganz glaublich, denn nicht allein
dass der Name gsns englischen Klang hat, so hat Ootton «ein Werk dem
englischen Abte oder Bischof (Anglorum antistiti)Fulgentius. seintra , .Herrn
und Vater" (Domino et patri suo venerabili), gewidmet. Älan hat Cotton,
weil er sich in der Dtdication sci-vus scrv orum Dei nennt, für einen Papst
(im Leipzi^'er Manuscript: Joannis j)u])ae musica ad Fnlgentinm Anglorum
antistitem) und zwar für Johann XXJl. gehalteT», und noch neuestens glaubt
Neumeier dem Fapst Johann XJiLil. über sein „gelehrtes Werk" ein Compli-
meni machen >a foUm. Wie man glauben mag, dast bei dsm Stande nnd
Entwickclung^grade, den die Musik zur Zeit Johanns XXIL'bereits fjewnn-
nen hatte, noch ein Buch wie jenes Cotton's möglich wäre, wo z. B. von Mensur
und Notenquautität nicht die Spur ist, wo noch von den Neumen als etwa-
idltäglich im Oebranche Befindncliem gwedet wird u. s. w^ kann man nnr
unter der Voraussptzung verzeihen, dass man Cotton eben nur vom Hören-
sagen kennt. Gerbert hat übrigens bemerkbar gemacht, dass jene Demuths-
pluase auch bei Kicht-Fftpsten sieht ungewöhnlich war (titnu» olim neqaa>
quam solis poiitificibus Romanis consueto); und wie kftme ein Php^t dazu
einen englischen Abt „seinen Herrn und Vater" zu nennen ? Eine Hypothese
Gerbert's, als sei Cotton ein Mönch Johann ans St. Matthias bei Trier ge-
wesen, der von Trithemius belobt wird, „qui ad honorem omnipotentis Dei
et Sauctorum ejus multos eantus et prosas composuit ac regulari melodia
dulciter omavit", steht völlig in der Lnft. Es hat noch mehr musikalisch-
Hönohe gegeben, die Johann hietsen. Der Käme Gottonius kommt im
Pariser und Antweq>ncr Manuseri]>t vor, sonst heisst das Buch kurz „Joannis
musica" (zwei Mauoscripte in Wien, ein nicht mehr vorhandenes in
St. Blasien).
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Guido vou Are/.zo uud die Solmit>ation.
193
in Italien, y>o Guido persönlich lehrte und wo sich die ungefügen
Namen der ßolmisation noch bis in^8 vorige Jahibnndert hinein er-
halten haben*), andere Sylben in Aufnahme gewesen sein sollten.
Cotton, der weit genug von Italien lebte, ning vielleiebt durch einen
auf Guido's Ixuhni ueidisclien italienischen »Sänger, der t>ich seine
eigene Solmisation zurecht gemacht hatte, in-egelührt worden seiu.
Auf keinen Fall kann seine Angabc richtig sein, und sein Zeuguibs
venchwindet gegen das gewichtigere Gnido's, der seihst enShlt, wie
er seine Sdifller nach dem von ihm ersonnenen iä remi fa lehrte.
Man kann daher als gewiss annehmen, dass die Gnidonische 8ol-
xnisation sich ho gut in dem ganzen mnsikalisch cnltivirten Europa
verbreitete, wie einst die Kirchentonarten, und swar nicht durch
die Autorität der Kirche oder durcli Sendboten, sondern durch
die Zweckmässigkeit, mit welcher bie den Bedürfnissen der Zeit
Genüge that.
Unter den angeblichen Erfindungen, womit G uido von Arczzo die
Tonknnsiansserordentlichgeförderthahen soll, wird aneh dasGlavier
genannt Kiesewetter meint dagegen: es kSnne gar keinen schlagen-
deren Beweis gehen, dass Guido das Ciavier, Clavichord, Spinett
oder Clavicymbcl nicht erfunden haben könne, als die Beispiele von
Diaphonie im Microlog. Das Ciavier wUrde ihm n^^'i S^^^iible einer
solchen Diaphonie gezeigt und ihn wohl andere, Ton ihm noch gar
• If* • \ r Dinge gelehrt haben" 2).
' • laer solchen experimentirenden Probe konnte mau ja
I- 'iie ebensogut auf jeder Orgel unterziehen, auf welcher
'.'ui.i •..( '.^en noch weit Srger klingen als auf dem Ciavier mit
6Muxcu V . . abbrechenden Tönen. Als gewichtigeres Argument
dürfte anxnerkennen sein, dass nch Guido snm Singunterricht ge-
wiss lieber des bequemen Claviers als des unbehilflichen ^1 ikk hords
bedient hätte, wÄre es ihm bekannt gewesen. ,,AVie der Lehrer",
sagt der Oddonische Dialog, ,,dem Schüler die Buchstaben erst auf
der Tafel ^veigt, so bringt der Musiker ihm alle Tone der Cantilena
mit Hille des Monochords bei". AlK-rdings aber hat das Monochord
unverkennbar zur Erfindung des Claviers die Anregung gegeben.
Das praktische Bedürfniss, auf der Monochordsaite nicht bloss die
mathematisch-akustischeny erhaltnisse der Intervalle ezperimentirend
uachsuweisen, sondern auch den 8chttler die verschiedenen einseinen
Tonstuto der acht KIrchentOne deutlich hören au lassen^, hatte
1) Jetst werden in Italien die Sylben do re mi fa ta H wie in
Frankreich angewendet.
2) Oescb. der abcndl. Musik. 2. Aufl. S. 25.
8) I>nm pneria per ipsas literas aliqua notatar antiphona ÜMsflint etmdius
a chorda (monochnrdi) disciiiit (juiim si ul> lidniine illam atidirent — hcisstes
im Dialog des Abtes Oddo. Der Schüler fragt verwundert: qua ratiune fieri
potest nt melius quam homo doceat chorda? worauf der Lehrer ganz gut er-
Amhf, OMcbicIrti dw UwSk. JL 13
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194 Die Anfänge der earopäi8ch-abendläudisch«n Musik»
kun nfteb Gkiido's Zeit^) die sogeimniite viert heilige Fig^r des
Äfonochords {quadripartita fiffura monocliordi) in Aufnahme ge-
bracht. Diese bestand darin, dass in ä Ii nlicher Art, wie auf manchen
Thcrmometerskulen «lic (Irade nach Keauninr und nach Celsius %wt
Vcijrloicliuiifj n(d>en «'inander pcstidlt sind, auf dein Hrct dos Mono-
chortls auf vier mit der Saite ])arall('l laufcinh ii Linien dir (irade
angegeben waren, nach denen man die Tonstufen des ersten, des
zweiten u. s. w. Kirchentones nach einander hören lassen konnte^
wenn man den beweglichen Steg auf diese Grade hinführte; jede
Linie enthielt die Intervalle von cwei Kirchentönen, des authenti-
schen mit Keinem Plagalton ^: mit Hilfe der ersten konnte man
daher die Skale von A bis d, auf der zweiten von H (B-mi) bis
e u. s. w. zu (iehör bringen. Diese Kinriehtung fajid den grössten
Beifall: man fand, wie Aribo bemerkt, sehr wen i<r Monochorde, auf
denen sie nielit angebraelit war^). IlKtte man das ('lavier gekannt,
8«» würde mau gewiss nicht zu einem so dürftigen Nothbehelf ge-
griffen haben, gegen dessen Unbehilflichkeit und Confusion Aribo
sehr energisch an Felde sieht, weshalb er aneh „dtureh die Gnade
Gottes eine Honochordmensnr erdacht habe, die er wegen der
Schnelligkeit der Sprttnge, welche man mit ihrer Hilfe machen
kSnne, das Zicklein {caj/rea) nenne". Sehr zweckraäsrig und he<)nem
musstc es aber scheinen fiir jede der vier Skalen eine 'eigene Saite
anzubringen. Schon di<; antike Kanonik hatte sich zur Messung und
Vergleichimg der Tonverhiiltnisse eines Monochords bedient, das
aus vier auf einen viereckigen Öcliallkasten gespannten Saiten be-
standf und dessen Ptolcmäus unter dem Namen llelikon gedenkt.
Jean de Maris, nachdem er in seiner 1323 geschriebenen musiea
speciUatwa gelehrt, wie man auf einem Monochord mit einer ein«
sigen Saite die Tonverhfiltnissc aufzusuchen habe, räth an, sich eines
viersaitigen zu bedienen und beim Ezperimentiren bald zwei, bald
drei, bald alle vier Saiten anzuschlagen, ,,wenn man durch das Ohr
den Sinneneiudnick früher unbekannter Intervalle prUfen und sich
widert: Homo prout voluorit vel potucritcantat, chorda autem persnpradictas
Uteras a sapieutissimis homioibus tali est arte dis^tincta, ut meutiri uou possit.
1) Kurz nach 6uido*8 Zeit; denn er selbst, der die Monoehordein-
theilung nac^h zwei Manieren auRftihrlich bespricht, weiss von einer vier-
theiligen Bezeichnung der MonochordBkala noch gar nichts, während der
keine iunfziir Jährte spÄtere Aribo diese Erlindung der „Modemen" weit-
Iftufig bespricht. Dem Dialog des Abtes Oddo ist fnnlich ein Aufriss bei-
gegeben ; eiti Monoi-luirdum (inidouis, dn« diese vierrrctlieilte Skala hat,
aber danubou ein einfacheres Mouochorduui Enchiriadis Odd(/7iiii, so dass
jenes angeblich Omdonisohe Monochord wahrscheinlich der Zosats eines
spfttern Al)selireiber8 ist.
2) Quao ita constniitur, ut uua series prinii insinud et s»'eundi toni
mensuram coutiueat, sccunda tertii et quarti, tertia quinti et se.\ti, quarta
septinu et octavi (a. a. O.).
'{) Ut paaciBsima sine ea sint monochorda (bei Gerbert, Script. 2. Bd,
8. rj7>.
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Guido Ton Arezso nnd die SoUniattttoii.
195
deien YentHndiuBB aneignen wolle", wobei de MnriB an die alte
▼ienaitige Lyra det Mercnr erinnert*). Hatte man nun für jeden
der yier authentischen TSne nebst Plagalton eine eigene Saite, 8o
musste es niijr^'mein bequem scheinen, statt des Hin- und Her-
Kchiebens des Steges, vielmehr an gewissen Theilunf^sjunikten ein-
fiir allemal einen eigenen Steg anzubringen. Dieser durfte, wiv
natürlich, die Saite nur dann berühren, wenn sie mit seiner Hille
gerade abgotheilt werden sollte; dazu war das Zweckuiässigste ihn
durch einen Apparat in die Höhe heben nnd an die Satte aadrficken
zu lassen, welcher den Tasten der Orgel nachgebildet wurde ^.
Bekaanilieh findet sich diese Einrichtung, dass eine einsige Saite
mehrere Töne dadurch angibt, dass die zu^m hr<rigen Tasten die Saite
nicht nur anschlagen, sondern auch gleich gehörig abtheilen, auf
Ältem noch hin und her in einzelnen Exemplaren erhaltenen ('la-
vieren, die man eben deswegen nicht-bandfreie nennt, im Gegen-
satze zu den bandfreien, wr» jeder Tun seine eigiMio Saite hat.
Ebenso ist es bekannt, dass mau die Tasten noch jetzt Claven oder
Claves d. i. Schlüssel nennt, nnd Sebastian IHrdung in seiner l&ll
erschienenen „Mnslca getatscht" braucht daftlr geradem das deutsche
Wort „Sehlilssel". Diese Beseichnung rührt yon den Tönen im
1) Sit A B data linea tanquam proportionis fundameutum, quae sit
secta qer medium in puncto C, diapason dalciBsiine monabtt, nam A B
dupla v^t ad A C. Scindatur iteruni .1 B in trcs partes, quae sint Ä D \
DK E B — ; A E vorn Rii])cr A B dulecm diapcnte sonabit, quoniam
A Ü ad D B ißt C B nd E B) Besquialteram facict proportionem. Sique
il B in qnatnor partes dividatar in puuctis A F \ F C\CO\ 0 B ; —
A G comparatum A B dint» ssaron adimplebit, idemqoe fuoie^ 3 ad
JB A, sive EG ad CA, tuncque inventus £ O tonus.
rnj 3 2—5 'B
Sed quoniam eadein chorda nunc ad 8ui partes rclata rst, fiant plurosBCCun-
dnm divisioncm dictam et erunt ([uatmr chordae sie dispusitae sicut sunt
hic, et debent percuti, nt lonent anno dnae, nunc tres, nunc quataor. Si
tu ▼eUs nt aures habcant oonsonantiss judicarc, quas prius ignorabas, et
informatione iutolloctu» et sonsus mirabilos tuix^ sonomra consonantias
apprehendes et instrumcutum Mcrcurii teti'achurdum. (Musica speculativa
Cap.: primas harmoniaa in piano acribere ▼ere, bei Oertiert, Scri]>t. 3. Bd.
S. 274j Ob (lif vier Linien der Zeichnuiipr. welche mit der IJeischrift
„moQOcbordum üuidouis'' dorn Dialog des Abtes Oddo beigegeben und
deren Skala nach den yier KirdientAnen geordnet ist, wirklioii vier Saaten
vorstellen sollen, oder ob sie nur um der Deutlichkeit willen gezogen sind,
ist nicht wohl zu unterscheiden. l)m daneben gezeichnete mouochorduiii
euchiriadis üddonis hat nur eine einzige Linie. Ueber die beste Art ein
Monochord mit zwei Saiten (welches also streng genornnicu Dichord
heiisoTi sollte) zu rrebrauchen, sehe man Mattheson's „Vollkommenen
Capollmcister" S. 45—50.
S) Darumb hat man nach derselben Mensur uff ein jeglichen Punkt
(des Monochords) ein Schlüssel machen lassen, der die Saitte gar genau
auf denselben Ziel oder Punkten ansehlügt und die rechte Stimm, so ihr
die Mensur von Natur geben, herfürbringet (Prätorius, Organogr. S. GO).
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Die AniUnge der eQro2)äi8cb-abeiulländittchen Musik.
Systeme selbst her, die, wie wir hörten, Schlüssel {(Zaves) genannt
wnrden. In solchem Sinno hiessen auch die Eiutheilun^spunkte des
Monochords Schlüssel oder Claves, und es ist begreiflich, dass dieser
Name auf die Tasten übciirnfren wurde, durch deren Anschlagen
jene Kiiitltcilungspunkte sich dem (Jchör l)emeikbar machten, lieber
die Entstehung des Cla>ner8 aus dem Monochord sagt Virdung:
,,Clavicordium glaube ich daz zu sein, welch» Gwidu aretauus mono-
cordom hatgeneimet**. Er folgert dieses ans der Aehnliehkttt heider
und fthrt nnn fort: „wer aber darnach der sey gewesen, der das er-
funden oder erdaeht hah, das man nach derselben Mensur auf yet-
lichen Punkten ain schlflssel gemacht der die Sait eben auf den-
selben zile oder punkten anschlagen tut vnd alsdann eben diese
Stimm und kain andere ))ringt, dann die yr die mensur von natur
gebent zu dürfen auf denselben punkten, das mocht ich nyc erfaren,
wer auch tlaz Instrument nach denselben Sclilüsseln also Clavi-
cordium hab getauffet oder genennet waiss ich nif. Auch Prätorius
nimmt an, dass „das ClaTichordium ans dem Monoch<ndo erftmden
und aussgetheflet worden" 1). Wollte man Harmonien anschlagen,
so mussten mehre Saiten tn Gebote stehen, weil man auf einer nn-
zigen Saite, mit Virdung in sprechen, „simul und eemel oder gleich
mit ainander kein Consonanz machen mag klingen". Das älteste
Inatninient, dessen Saiten (chnrfhie) mit Schlüsseln (claves) ange-
schlagen wurden, und das man also Clavichord nannte, oder nach
dem plockenähnliclien Ton Clavicymbalum, mag vicdleiclit nach Art
des viergethciltcn Monochords wenige Saiten gehabt haben. Aliein
es war noch ein anderes saitenreicheres Musikinstrument zur Hand,
welches um so mehr als Vorbild des Clavichords dienen konnte,
als es mit dem Monochord die grtfsste Aehnlichkeit halte, ja cur
Alexandrinischen Zeit wirklich Monochorddienste leistete, das Psalter.
Es war wohl erst durch den Verkehr mit dem Orient in das christliche
Europa gekommen. Auf dem TJelief von St. Georg in Bocher-
ville, das als eine ziemlich vollbtandi<:e Darstellung der Instru-
mente des 12. Jahrhunderts dienen kann, ktannit es bereits vor,
doch in kleinerem Format. In einem prachtvollen Psalmenbuche
aus dem 13. Jahrhundert in der Bibliothek su Douai findet sich
eine Figur, die eine Abart dieses Instrumentes spielt; der ur-
sprünglich viereckige Kasten hat hier an den Seiten £inbn^>
tnngen, so dass das Instrument die Form hat, die unsere Flügel-
pianos gleichsam halbirt vorstellen. Genau dasselbe Instrument
bildet Prätorius in seinem Theatnm visfrmnnifontm (oder Sriagra-
phia) als ein ,,gar alt italieniseh Instrument'* ab, mit 30 Saiten,
also genau so viel als nach \'irdung's Bericht die ältesten Clavichorde
hatten (von jT bis e mit fr / a), wiewohl Prätoriufi bchauj»tet, dass sie
1) Organographia S. 60,
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Guido von Aretso und die Solmisudim.
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anfiuigs 20 Clayen, nieh der Skala Gmdo's» gehabt Die Balten
jenes alt-italienischen Instrmnents sind an Wirbel gespannt, die
beiderseits dem Sehwnnge der Seitenwinde folgen. Im Texte sagt
Prfitorius: „es verde von dem gemeinen Mann in Italien genennet
htromenio di porco, zu Teutscb ein Saw- oder Schweinekopff, von
Ludovico de Victoria Istrometäo di Laurento, von Josephe Zurlino
(•lodiensi, Music(»rum principi, Tsiromento di alto hassn, aiiff der ei-
nen Seiten sind die Wirbel von weissen Knot hen etwas länger als
die eiserne auf Clavicimbeln zu seyn pflegen, haben in der Mitte ein
Löchlein, dadurch die Saiten gezogen werden: uff der andern Seiten
sind die Wirbel ans Hols geschnitien. Die Saiten sind an der Zahl
drdisag und eine immer länger als die andere.** Im Psa men buche
von Douai spielt der Musikus dieses Instrument mit bloss^en Hfinden.
Prätorius bildet zwei kleine Plectra ab, mit denen die Sai ten geklopft
oder gerissen werden. Auf dem Relief von Luca della Koljbia, wel-
ches sonst den Orgellettner im Dom zu Florenz zierte und jetzt
in den Uffizien aut bewahrt wird, spielen neben andern Instrumen-
ten auch fUnf solche Istromenti di porco zusammen und begleiten
die Stimmen der Sfinger. Fiesole (st 1455) iMsst anf der Darstel-
lung einer Engelsmniik das IsirmMiito da poreo von einem so nn*
sXglich schönen Engel spielen^), dass man an den unfeinen Namen
gar nicht denken mag.
Auch in Deutschland kannte man dieses Instrument. In der
Kathhauscapelle zu C()ln befindet sich ein aus St. ITrsula herrühren-
des metallenes, mit emaillirten dem 14. Jahrhundi-rt angehörigen
Malereien geziertes Antipendium, eine Art pala d' oro, auf welchem
man einen musizirendeu Engel sieht, der ein den italienischen völlig
gleiches j&lromsnto ibi püre» spielt^. Gans dem arabischen Kanun
Xhnlich findet sich das Psalter anf Malereien des 14. Jahrhunderts.
Eine der ältesten davon istOrcagna's berühmter „Triumph des Todes**
{trionfo della morte) im Campo santo zu Pisa. Auf diesem riesen-
haften Wandgemälde sieht man eine Dame, welche ein solches In-
strument spielt. Die Abstanmiung^ desselben aus dem Oriente steht
zweifellos fest, wenn mau sieb erinnert, dass die fransdsischen Könige
1) Dieser wunder\'olle liebliche Enpel mit mächtigen Flfigeln, ein
FlflmTTiohon im Haare, in langem goldverzierten bräunlichen Talar, das
himmlischschöne Haupt lieblich gesenkt uud atin Instrument anmuthig
mit einem Fleotrum rührend, gehört einem sehr reich besetzten Engels-
orchester an, womit Ficsole ein Madonnenbild (in der Florentiner Aoa-
demie) umgeben hat. Ein seltsames riesenhaftes, der Theorbe ähnelndes
Pnlterinstmment in nsturs wolle der Besadier der Ambrsser jSsmmlung
in Wien nicht übersehen. Es ist recht interessant einer Abbildung un-
verkennbar (lefisel!)en Instrumentes auf den Wandbildern der phantastisch-
prÄchtigen Kreuzkapelle in der Burg Karlstein (14. Jahrh.) zu begegnen.
1)08 Gemälde stellt eine YershruBg des TAimw«« vor und findet sich in
der linken Fensternische.
2) Die Abbildung in „Das heilige Cöln" vonDomcuBto8BockTaf.XVIII.
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198
Die Anfänge der enrop&isch-abendlftndiflohen Musik
Bilm Spielen Verfremden orientaliselienlnslnuDente Psalterion,
Canon und Demi-Canun eigene Musiker im Sokle hatten^). Im
14. Jahrhunderte war das Instrument in die liüude mu»iklieben-
dcr Dilettanten lUier{?('<rangen. Die Dame auf Oreagna's Bild (nach
ihrem ])r!ic'liti;::('n Anz>i^ und dem Platze neben dem vornehmsten
Herrn der Cfehcllsolinlt ktMu»'. bezahlte Musikantin, s<jndern vornelinu*
Dilettautiu) spielt sitzend ihr lustrument, indem sie es, die Saih n
naeli auswärts, mit seiner scBmalsten Seite (es ist trapeaförmig-),
wie das arabische Kannn) anf die Kniee sttttst und es oben mit der
linken Hand gnudiJs festhält und sugleich mit ausgestrecktem sweiten
Finger die tiefste Saite am breiten Ende des Instruments als Basston
anzuschlagen scheint^), während die rechte mit dem zweiten und
dritten Finpfer die höheren Saiten in Vibration setzt, welche in Grup-
pen von je drei horizontal und über einen schmalen an der Diagonal-
seite, der Spielerin links, hinlautenden Steg gespannt und an jener
Diagonale mit Wirbeln befestigt sind. Die Saiten sind vielleicht
immer au dreien in demselben Ton gestimmt, um dureb ihre Drei-
sabl die Scballstldrke au yermehren*), wie audi bei den alten Clavi-
chorden der Fall war: „gemeiniklich," sagt Virdung, „macht man
drei Saiten auf unen kor (Chor), darumb dass ob ain Saiten ab-
springe, alsdann etwann geschieht, das er dann darumb nitauff muss
hören zu sj)ielen." Auf dem Instrument der Sängerin Orcagn.Vs
sind grade 24 Saiten oder acht Töne: eine Octsxve. Doch sclireibt
(wie wir sehen Merden) de Muris dem Instrumente einen w»'it
grösseren Umfang zu. Das obere 13ret des Schallkahtens unter den
Saiten zeigt eine grosse runde, mit durchbrochenem Arabeskenwerk
gezierte Schallöffnnng, daneben vier kleinere^), auch hierin dem
1) Vergl. düu Icseuswertbeu Aufsatz von Felis j^ecberches sur la
musique des rois de France au moyeu ägc'^ in der Ker. mus. Jahrgang
1832. No. 25 und folgende.
2) Trapezförmig ist es auch schon auf dem Relief von Bocherville,
hier wird es aber vom Spieler so gehalten, dass dio Saiten senkrecht ZU
stehen kommen.
Bei Ln»inio ungenau wiedergegeben, auf dem Onginslgemalde ist
es aufikllend markirt.
4) In Iisnnlo** Kupferwerk sind die je drei Seiten deutlich angegeben^
auf dem Originale bei genauer Besichtigung auch noch zu crketuien. Deut-
lich sind sie auf jenem vorhin erwähnten Wandgemälde derselben Zeit in
der Burg Karlsteiu, welches durch seine Stelle vor Verstauben und Ueber-
mulen bewahrt blieb, kenntlich. Mersenne, Harmon. I. S. 71 beschreibt
das l'salter als mit 13 Tönen inistrcstattet, aber für jeden Ton zwei Saiten
von Metall (aenea vel ferrea), welche ganz nahe neben einander liegen,
im Oaosen also 36 Saiten. Die Stimmung ist: rODEFQahedefg,
Er bemerkt aber: neque ita certo fidium numero deHnitur, i|uiii pluribus
lut paucioribns instrui queat. Die beigegebene Abbildung zeigt das In-
atrumrat gleichfalls in Trapezform, oder in Form eines abgestalzten gleich-
schenkligen Dreiecks; dazu kommt ein zieriich gesohnitstes an der Spitse
seicht gebogenes Plectmm.
6^ Auf demOrigiualbilde kaum uuch kenntlich. Mersenne sagt: Dupli-
Dlgitlzed bv Goo<?le
C^oido von A roMiO and die äolmiiation.
109
ArabiBchea Kamm IniMnt Khnlicb; em TOii^eiehender Blick «nf die
AbbildangdMletstefen im franzÖsisch^SgyptiBchen Expeditiouswerke
zei^, dassmaaein und dasselbe Instruraent vor Aogen hat Gleich-
falls im Ciiinpo Santo ist es in den Darstellungen ans dorn Leben des
heil. Kanieri abgebildet. Einmal in den obern, fölsciilidi dein f^inione
Memnii zugeschriebenen Bildern trägt es der Heilige, wo er no( h
im heiteren Weltleben sein Glück findet, an einer Schnur um den
Hals gehängt und spielt es ganz so wio jene Sängerin, aber mit
beiden HHnden. Das Instmmeat entspricbt auf das Genaueste dem
Instrumente auf dem Bilde Oieagna*s, nur dass es 88 Saiten hat
Mne kleinere Gattong desselben Instrumentes spielt bei dem yon
Antonio Veneziano gemalten Begrttbniss des heil. Kanieri ein sitzen-
der Miiiuli; diesmal ist es im Format bedeutend kleiner und hat
24 Saiten, je vier zusammengeordnet. Jean de Muris kennt und
beschreibt es ebenfalls, reihet es aber unter die Monochorde ein,
unter die wisnenschaftlichen Apparate der Musik: ein Itenierkens-
verther Rückblick auf die ursprüngliche Bestimmung des Instru-
menta n den Zeiten des Ptolemltas, nnd eine Bfligschaft mehr, dass
es eben auch mit dem ptolemXisehen Helikon nnd arabisehen Kanun
eines und dasselbe ist. „Dieses Instrument," sagt de Huris, „hat
19 Suten und nmfasst eine Doppeloctave und noch eine Quinte
darüber (also gerade so viel Töne, wie auf der harmonischen Hand
bezeichnet sind); an zweien seiner Seitentheile bildet es einen rechten
Winkel, der Umfang des dritten geht durch drei Punkte (das heisst,
bildet einen stumpfen Winkel, so dass der Umriss des ganzen In-
strumentes die Trapezfomi erhält) ; doch kann es auch einen andern
Unuiss annehmen, als nmd geschwungen oder concar. Dieses In-
stroment fasst in seinem Vennögen gleichsam alle anderen in
sieh n. s. w.*)/' Dieses letztere Zengniss würde de Muris dem In-
strumente sehwerlich geben, hätte er schon das Ciavier gekannt.
Aber er kannte es sicher nicht, er ziihlt die Saiteninstrumente wieder-
holt auf, ohne es zu nennen*): ein sclilngender Beweis, dass es an
bciuer Zeit (um 13*20 — 1330) noch nicht existirte.
oem rosant, ein Ausdruck, der von den Fensterrosen der gothischen Dome,
mit denen jene Schulloirnungen allerdings grosse Aehnlicbkeit haben, ent-
lehnt scheint.
1) A. a. O. S 2Hli. — Die italienischen Künstler, welche die alle-
gorischen Figuren der freien Künste zu malen oder zu mcisseln hatten,
gaben «nweflen das I^slter (sIs AU-Instmment) der Figur in die ffibade,
welche die Tonkunst repräscntirt. Im Hortus dcliciarum der Herrad von
Landapcrg spielt die allegorische Figur der Musik eine Zither wid hat
neben sich ein Orgunistrum.
S) Ghordalia sunt ca, quae per chordas metallinas, intestiimles vel seri-
ceas exerceri videntur. (|unlifi sunt citharae, viellne et jihinlne (Violen), psal-
teria^ chori, uionochorduni. symphonia seu oivanistrum et bis similia (Summa
If Qsicae Iv. bei €terbert, Script. 8. Bd. 8. 199). Allerdings nannte nsit, wie
man ausPrütoriusCOrgtinographiaS 02) sieht, dasriavicliord auch wohlSym-
phonia ; auch Uerrmsou F i n c k (f ract. mua. foL 8) sagt: Jin viiginaUbos sea
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200 Die Anfänge der europäisch-abendländischen Musik.
Man braucht nur die Abschilderung jenes Psalters in Bild und
Ton mit den Abbildun<;en der ältesten Clavichorde im Virduug, im
Prätorius (besonders das sogenannte „Octavinatrunientlein" und das
„Virginale") im Mersenne oder mit dem Instrument zusammen-
zuhalten, welches auf dem unter dem Namen des ,,Coucertes" be-
kannten Gemälde Giorgione's (1477 — 1511) in der Galerie Pitti za
Fl<Hmiider GMstfiehe spielt, um nch sn Ubeneugen, daai das Gkm-
diord, Virginal n. s. w. in seiner Kltesten Foim nielito ist ab eine
Yerrollkommnnng jenes Psalters^: statt die Saiten mit den Fingern
SU rtthren, w(<rden sie durch eine Tastenmechanik mittels anschla-
gender schmaler Tangenten von Messingblech oder Federkiele in
Vibration versetzt. Das Instrument zeigt in dem Ste^r, über den die
sich mehr und mehr verkürzenden Saiten gespannt sind, die Triangel-
oder vielmehr Trapezgestalt jenes Psalters, wit wolil die ältesten
Clavichorde auch wohl mit gleich laugen Saiten eine völlig recht-
eckige Form annahmen. Diese Instrumente waren ohne Ftlsse» leleht
tragbar beim Spielen, die entweder wie das Psalter auf die Kniee,
oder, so spielt Gioigtone's Geistlieher, anf einen Tiseh gelegt werden
konnten^. Bei dem Virginal wurden die 19 oder 20 Saiten dorch
ebenso viele Tasten gerührt, fUr das kleinere Clavichord aber ent-
nahm man dem Monochord jene Einrichtung, dass mehr als nur eine
Taste auf dieselbe Saite schlug. Um die Hebelarme zwischen der
cigentlictien Taste und dem die Saite ansclilagenden Kiel nicht gar
zu unbehiltiich lang macheu zu mUssen, drängte man die Saiten
Bgher Bosammen, als de «a£ dem Psalter gespannt geweseq, was
wieder auf die Süssere Form des Instrumentes ^nigermassen nnfick-
wirkte und es der Qestalt eines litngliehen Yieredu annltherte.
synphoniis, ut Tocant". Da rieh aber de Horb ansdrflckt: „symphonia ten
organistrum", so siolit man, dass hier kein Cla\'icr, sondern jenes uralte Instru-
meutgemeint ist, welches, wie wir wissen, auch Symphonie oder Chifoniehiess.
1) ÜL-ide im Theatrum Inst rumentorumTaf. XIV Fig. 2 und 3 abgebildet.
2) Virdung ist derselbonMi iTiuiiLr ; „das Psalter, so noch jetzt im brauoh
ist, halK' icli niemals anders gcst-luMi als drcyt-cket, uIxt idi In'ii der Meinung,
dass das Virginal, welches man mit den Clavibus oder Fedderkielen scbl&fft
und tractiret, erstlioh von dem FSalterio sn machen erdsdit seif und obwohl
das Virginal gleich einem ('lavichnrtlio in ein langen Laden gefasset wird,
10 hat es doch viell andere Eigenschaften, so sich mehr mit dem Psalterio
als mit dem Clavichordio vergleichen, sintemal man zu eim jechlichen Clave
eine sonderliche Saitke liaben mnss und ein jegliche Saitte langer auch höher
dann andere mnss gezogen seien, daher dann aus dem verkürzen und ab-
brechen der Saiten fast ein Triangel uQ' dem Instrument oder Virginal-
kästen erscheint. Ckdilei (Dialogo 8. 144) sagt vom Harpichord: che dall
haqia dmctte vrrisiniilTnciite (per la convenienza del nome, della forma et
dcUe quantita, dispositioue et materia delle corde, sc bene in Italia i pro-
fessori di essa dicono haverla loro inventata) havere origine l'harpicordo, U
quäle strumento altro non che una harpa giaccnte.
3) Prätorius (Organogr. S. 72) moint : „Clavicymbcl sind in voller
Music gar zu stille und können die Saitten ihren Klang und Kesonantz
tfber einan halben Taot nicht viel continuireu".
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Guido von Arezzo und die SoIiuisati<m.
201
Die Erfindung des Clavichords ist mit allw Bestimmtheit in
das Jahr fUnfzig zwisclicu 1360 und 1400 sn setzen. De Muris
schrieb sein Buch 1323, Orcagna malte sein Bild als Godüchtniss
an die schreckliche fltokanntlich von Boccaccio in der Einleitung
seines Decamerone geschilderte) Pest von l.'MH, Antonio Veneziano
malte die Legende des heil. Ranieri um 1386. De Muris hat
noch keine Ahnung vom Clavichord, nnd za den Zeiten jener Maler
war jenes alte Psalter noch allgemein im Gehranche. Aber in der
altdeutschen Handschrift der Hinneregeln vom Jahre 1404 ist
davon bereits die Rede und zwar wwden bereits die Ahaiten
„Clauicordiuni" und „Clani<^mbolum" unterschieden.
Das neuf Instmmentmnss gleich nach sein or Erfindung sehr popu-
lär geworden sein. Ucl»er den ( )rt dieses glUcklit-hen l'undes lässt sich
nur negativ sagen, es sei Deutschland nicht oder wenigstens schwer-
lich gewesen. Virdung hat tiir alle diese Instrumente nur fremde
Namen „Clavicordium, Clavicymbalum, Claviziterium, Virginal (.1 ung-
femelavier, und da es schon 1511 bei Virdung mit Namen und Abbil-
dung vorkommt, nicht an Ehren der Königin Elisabeth von Eng>
land also benannt) ; erbarbarisirtdasClavicymbalum sogar zum „Clavi-
taimel". Und ebenso gehört der Name Spinett nicht dem deutschen
Idiom an, er kommt schon in Galilei's Dialog vor (IHHl una stridule
spinetta) und wird vom deutschen Prätorius in sein Syntngma her-
übergenommen 1). Da jenes Psalter ganz vorzüglich in Italien be-
liebt und verbreitet war, so möchte wohl dort die Entstehung des
Glavicords zu suchen sein; aber freilich muss es, man sieht es aus
_ •
1) Prfttorius erwfihnt (Organographia S. 62) bei Gelef^enheit des Spinettea
(ifalicc Spinpttt>): .,Tn Enj^land werden alle Instrumente, sie Beion klein
oder gross, Virgmall genannt, in Jb'iankreich Espiuette, in den Nieder-
landen Clavioymbel mid anoh Yirginall, in Dentaehland Imtrament üi
specie vel peculiariter sie dictum", welclie letztere Allgemeinheit perado
wieder auf fremden Ursprung schlieaseu lässt; für das was man duhcim
erfindet, findet man anon in der heimischen Sprache einen bezeichnenden
Namen. Üeher alle diflie Instrumente »ehe man am li Mcrsenue (Harmonie,
libri XII). Bei (h'u auRgehildeteren Fln<reliiist ninirnteu (Mersenne S. 61)
erinnert die Auordnung der Saiten schon mehr au die Harfe als an das
Psalter. Das Spinett ist eine spfttere Brflndang oder weni^fstens ein
späterer Name als das Clavicymbalum ; es bekam seini-n Xameti von den
domenartigen Tangenten. S(»Uger (lib. 1. Poet. cap. 4b> sagt: Me puero
Clavicymbuom et Harpiehordnm, nunc ab illii mucronibiis Spinetam
nominant. Den Unterschied zwischen Symphonie un l ( I i vi li nd hebt
Cocleus in seinem Tetrachordum Musieae hervor: si duh'U)ris t'uerit re»
Bonantiae dicitur sympbonia, si vero magis sonorum dicitur elavicymba-
hnn. Das Spinett war entweder ein kleines Instrument für sich, oder
es wurde mit dem Clavicymbalum verbunden (wie eine nn (hu Dom an-
gebaute JELapeUe oder ein JBrkerthürmcheu am grossen Burgthurm) ^ dem
Spieler stand dann em swdtes Hannsl so Gebote. Diese Verbindung
des Spinettes mit dem Clavichord hatte wohl auch, insofeme das Spinett
ein „Octavinstrumentlein'* war, den Zweck, den Tonumfanpr des ganasn
Apparates zu vergrössem. Abbildungen sehe mau bei Pnitorius.
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202 tAe Anfänge der eiiröpäifo1i-at)eiicltftndi8cli«n Musik.
den Minnerogeln, sehr schnell auch in Dentschland Eingang ge>
fanden haben. In It.ilioii unterschiod man: Clavicordo, Harpi>
cordo, Clavicinjhalu, Spinetta, Buonaccordo, Uarcliicimbalo M.
Aber tnttz des neuen zweckmÜHsigeren Instrumentes, des Cla-
viers, kau» da» rsalter doch keineswegs ausser Gebrauch. Noch
AÜlttiiM Kixcher bildet ea in seiner Muiorgie (1650) ab und redet
davon wie von einer allbekannten Saebe: uinrd es von einer ge-
flcbickten Hand gespielt*', sagt er, „so stebet es keinem anderen In-
strumente nach"^. Er erwähnt auch, dass das Spielen grosso
Fertigkeit erheische, weil der Musiker, während er die Saiten mit
zwei Federkielen rührte, seine Finp^or zuo^leich auch als Dämpfer
bi'Hiitzen niussti*. nni deren Nachklinf^en und die daraus entstehende
Verwirrung zu ])es(Mtigen Das Anschlagen der Saiten mittels
Federkielen (penneia niq/uHs) deutet abermals sehr bestimmt auf die
Verwandtsehaft des Psalters nüt den befiederten davierett. Das
Psalter sebeint sogar noeb namhafte Verbesseningen erfiüiren an
haben: an Kircher's Zeit hatte es drei Reihen yon Sidten*) und einen
Umfan<^ von A — cee, dazu pflegte man die Saiten an verdoppeln, an
verdreifachen oder, nach der Grösse des Instmmentes, auch wohl an
ver\'ierfa( li('n. DerTonkünstlerGiovanuiMariaCanari inRom besass
ein Psalter mit 148 Saiten. Zur Notinniir bediente man sich dafür
»'incr der Lautentabulatur ähnlichen Sclncibwoise : auf drei liinien,
welche die drei Saiteureihcu bedeuteten, wurden die anzuschlagen-
den einzelnen Pa'ten durch Buchstaben beaeichnet, die rhythnkdie
Bewegung aber durch darttbeigesetate eigene Zeichen angedeutet.
In Dentschland war das Psalter, nach Virdnng*s Zengniss, an
Anfang des 16. Jahrhundei-ts und auch wohl noch später bekannt.
Auch Mersenne '"dessen Buch 1648 zu Paris erschien) nennt es ein
„gebräuchliches Instrument" 5) und rühmt seinen Silberklang, den
kein anderes Instrument besitze 6). Dieser Vorzug fristete dem
Psalter noch eine Zeit lang neben dem weit bequemeren Clavaere
das Lelicn, bis allmälig der anfangs durch das Anschlag- en, Thcilen
1) GaUlei Dial. 8. Gl. „Solo per la diversa ouantitä e qualitä dcUe cordo
et de reiiifistri e della grandezsa et forma dello «tramento, e pur nella
•ua essentia 6 l'iBtessa cosa Tano che Taltro.
2) Psalterium, instmmentum fidicinum, »i peritnm rnnrium sortiatiir,
tale estj ut uulli alteri, sive harmonicarum varietatem ]»roporlionum sive
harmomon warn, insignitatem speotes, cedcre videatur (Musurgia S. 495).
3) . . . ut, siinul ac chordae stipulis pennaccis sollicitcntur, mox
reliqui digiti tactu leni chordarum solhcitatarum tremorem ad Bonorum
evitandam confutionem tistant (a. a. O.).
4) . . . ut instrumentum reddatur sonorius, periti artifices singulonim
pyfstomornm chordas duplicare vel triplicare vel etiam qoadraplioare pro
iuatrumenti niaj»^nitudinc Hulent (a. a. 0.).
6) Pfealterium usualc (a. a. 0. S. 71)
6) . , . rjuiul et peculiarom habet pjratiam, quac miTiimp notatur in
ftliis instrumentis, liinc illius nonuB aplerisque ob singularcm praeatantiam
argentew appellatur (a. a. O.).
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Guido von Arezzo und die Solmisaiion.
203
und das dadurch bewirkte DSmpfen der Saite gegen den silbernen
Psalterton ohne Zweifel noch etwas dUnne, schwache und stumpfe
Klang des Claviers durch Vcrliesseninpon in der Mechanik gewann
und das schwer zu bcliandeliule ältere Instrument entbehrlich
machte. Gute C'la\ ichordc scheinen schon frühzeitig in Italien
verfertigt worden zu sein^).
Wenn das Clavier der Gaidonlsolieii Epoche ^e noch unbe-
kannte Sache irar, so kamen dagegen die Oigeln um diese Zeit mehr
und mehr in Aolbahme und im Laufe des sehnten und elften Jahr-
honderts fanden diese Instrumente in ganz Europa Verbreitung,
ohne doch für ein unentbehrliches Bestandbtück der Kirchenmusik
zu gelten, wie Concilienscliliisse ansdriUklich zu bemerken finden
und wie auch der Bischof lialdrik von l)ol meinte: Orgeln dürfe
man nach kirchlichem Gebrauclic benutzen, wo nie aber fehlen, könne
man sie ohne Sacrilegium entbtdireu'^). Es gab schon im zehnten
1) Alspiner der vorzügflichsten italienischen V('rf(>rti<rer von Clavichorden
undClavicynibelu zu Aulaug des 16. Jahrhunderte wird ein Lorenzo Gusuasuhi
▼<m Vtifi» (LaarentiiiBGiinuMehmPainenns) gerfihmt; er wurde, ala er ttarb,
in iMuTittia durch ein Grabmal jjeolirt. Der erste oder doch einer der ersten,
der Ciaviere zu bekielen unternahm, war der Cauonicus Paul Belisonius von
Pavia. Diese Notizen stehen in einem Boche, wo man ne nicht tuehen sollte :
ItUroduetio in C%aldaicam Hnguam, Syriacam atqu» Ärmenicam et decem
alias linguas, Characterum diftVrentinm Alpliabeta cireiter quadraginta et
eorum invicem formatio Mystica et cabhuhütica quampluriraa scitu digua. Et
dneriptio ac simulaehrum PhagoH Afranii. — Thesco And>rosio ex oomi-
tibui AIho}iemii. .T. U. Doct. Papiensi (•ononico rc^ulari Lateranensi ac
Sancti Petri in Coelo aureo Papiae praepoaito, authore. MDXXXIX. Der
(^onicuB von Ferrara Afranio, der Erfinder des Pagets, war der väterliche
Oheim des Verfassers : das Buch ist ihm dedicirt. (Theseus Ambrosius ex Comi-
tibus All)onensii et Palatinis Lomellen. . . . Reverend. Domino Afranio, Cano-
nico Ferrariüusi, patruo suo S. P. D). Die im Texte bezogenen Stellen stehen
fol. 188 n. i. w. Tanti praeterea Laarentii Papiensis ittius instrumenta fuere,
ut, si quando in prapciinii** Ttniiac civitatibns venalia forent, cum Laureutii
Papieusis fucientis inscriptiouem habereut, quamquam pretium ingens esse
videretur, non pigeret tarnen «uptorenif ob autoris famigerati autoritatem
ezodlantiamque pecunias effimdwe. De eo Muntua, apudquam in honorato
sepulcro qniescit. potiua quam praesens nnsfcr liher loquatur. Verum quia
parum omnino fuissct Clavicymbala, Glavicorda ut diversa aliac Musicae fap
enltatis organa esse, nisi foret etiamf qai calamoram et cordarum urdines in
cortam liannotiiam pi rfVctiimque conccntum revocaret. Hoc in loco non
t'raudandum laude sua Paulum BeUsonium, Concivem et Canonicum meum
censnerim. Qui praeterid qnod Lutina (Laute) perfecta utitur et Organomm
calamos in concordem vocum coucentum, cum opus est, optimc reducit,
plectri lingunm. quam, ut inquit Cicero, nostri dixere cordarum dentes, iUi
ex avium, vuUHrm scilicet aut corvi pcnnis in Clai'icymbalis aptat, ut nuUi
omniBO quautumvis exeeUenti musico herbam dare vt lit. Tantum enim et
aurium et difritornm apta promptitudino j^iiiLndaritor vah-t . ut saci)c ot
saepius cum Clavicymbalum,quodjgemino8 cordarum ordines habet, iuveram
liamoniam rednxeht, angelos ilhns hannoniae optat adesse testes.
2) Forkel, Gesch. d. Mus. 2. Bd. S. 374. Die Wnrio siiul: Si igitur
onrana lial.cmtis. eis uti eccleaiastica consuetudine permittimus, sin autejn
siue sacniegiü eis carere possumus (zitirt bei Mabillon Annal. Ben. V. S. 505).
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204 Anf^Uige der europäisch -aben^ändiscben Musik.
.fahrhundorte mitunter grosse oder doch starke OrgelwQlke: im JalurO
951 liess Uiscbof Elfcg fUr die Kirche Ton Winchester ciue Riesen-
orgfl l»juu'n, welche Wolstan, ein Benedictinermöncli und Sänger
der dortigen Abtei, in den» lieben des heil, öwithiin voll Bewun-
derung j)oetiscb beschreibt und ])reist. Aber eben diese Beschreibung
gibt einen Begriff von der bei ungeheuerlicher Unbehilfiichkeit doch
grossen Armnth dieses Apparates Die Orgel hatte zu 400 Pfeifen
26 BlubKlge (zwölf oben, Tienehn naten), sn deren liegierung Hie-
bensig starke MXnner nSthi^ waren* die, wie Wolstan naiv bemerkt,
ungemein schwitsten nnd einander hei der Arbeit zu Muth und Aus-
dauer crmunterteni wShrend sie rastlos die Armertthrten. DasOrgel-
s])iel wurde von zwei Organisten besorgt, deren jeder sein eigenes
Alphabet (seine Octave) regierte. Man begnügte sich also nicht mit
ZAveistiramigem Spiele, wie es ein einziger Spieler auf dem breiten,
plumpen Orgelkasten herausbringen konnte, sondern man zog einen
zweiten Spieler herbei, um auch drei- nnd vierstimmig spielen zu kön-
nen, etwa wie jetst das Piaaoforte hXufig zu vier Hunden gespielt wird. '
Natflrlich konnten aber die beiden ni vier HSnden, oder eigentlich
KU vier Ffiusten oder vier Ellenbogen, Orgel schlagenden Si)ielernie
mehr als höchstens vier Töne zugleich hören lassen. Nach Wolstan's
Beschreibung besass diese Orgel nur die „sieben Unterschiede der
Stimmen, eingemiscbet des lialben Tones lyrischen Klang", d. h.
die diatonische Skala unserer Untertasten mit der Unterscheidung
des nunlen und eckigen 6 -j. Das ganze Riesenwerk hatte angeblich
nur zehn Töuo, so dass vierzig Pfeifen auf einen Ton kamen;
dafttr tOnte es mehr stark denn angenehm:
Als wie des Donners Gebrüll erachüttert die eherne Stimme
Bings die Lfifte, nnd nichts, was es sei, hörest da sonst:
Also mftchtipr crtf^nt der Klanpr. dass jeder die Ohren
Sich mit den Jb'lächeu der Hand zuhält nnd nicht. es erträgt,
Wenn erklingt das Oebran« der vielvermischeten TOne ~
Ja in der gansen Stadt hört man den singenden Ton o. s. w.
Eine andere Orgel, deren kupferne Pfeifen dreissig Pfbnd Sterling
gekostet und deren Klang, im Oegensats gegen den Donnerspektakel
der Elfeg^schen Orgel, als „wundersQsse Melodie*' (praedulvis me-
lodia) gepriesen wird, besass das Kloster zu Ramsej. Dass übrigens
nicht die ungewöhnliche GrJisse der Orgel zu Winchester die Ursache
wiir, zwei Organisten dabei zu verwenden, zeigt eine merkwürdige
1) Talia audstis et Uo organa, qualia nosqnam
Conontur, gemino constabilita sono.
Bis seni snpra ordinnntur in ordine folles
luferiusque jaceut quatuor atque decem
Blatibas altemis spiraoola maarima reddnnt,
Quos agitant validi septunginta viri u. s. w.
2) Auffallend ist es, wie dann doch jeder der beiden Orgler ein
eigenes „Alphabet" aar Verfügung haben kmmte.
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Guido ▼€« Armo oud die Solmiratifm.
205
alte Miniatunnalerei des 12. Jahrhunderte (auB dem Psalter Kdwiu'g
BQ Cambridge) Die danmf abgebfldete Oigel ist klein, hi ( ^ 1 ( icht
einem ansehe, ans dem in etwa handbreiten AbstXnden nur sehn
Oigelpfirifen (also auch Ahr nur zehn Töne) hervorragen; nichts desto
weniger sind zwei Orgler und vier Calcanten beschäftigt, letstere
arbeiten mit sichtlicher Anstreiiprunf;', während die Organisten, paa-
sirend, ihnen irjj^end eine Weisuuj:^ zuzunifen scheinen. Diese Diener
treten nicht die Blasbälf^e, können also nnr nneigentlich Caltuntcn
heissen, sondern handhaben sie wie Schiuiedebäl^e an Hebelarmen,
nnd man sieht deutlich, dass sie diese Hebel auf- und abwärts
regieren, dais nimlieh der aufgezogene Balg sich nicht Ton selbst
mittels eines Gewichtes senkt (bd weldier Einrichtung ihm eine
weit grössere Menge von Wind gegeben werden konnte), sondern
anch wieder durch die Kraft des Calcanten niedergedrückt werden
mnss; man crräth denn anch, wie anstrengend diese Arbeit war,
wenn sie längere Zeit fortgesetzt wurde.
Den Umstand, dass die ( )rpeln antan^^lit li keine reicliere Rkala
gehabt als die oben erwähnte, bestätigt Prätorius au.sdriicklich ; er
erzShlt dass an den ältesten Clavichorden „nur zwanzig Claves allein
im genere diatomeo, damnter nnr snnreene schwartze Claves, das 6
nnd If gewesen, denn sie haben in euier Octav nicht mehr als dreierlei
Semitonia gehabt, als übt |( vad ff, wie dasselbe in den noch
gar alten Orgeln an ersehen''^). Insgemein waren die Orgeln
weit entfernt unsern grossen Werken oder auch der für ihre Zeit
riesenhaften Org^el des Bischofs Elfeg zu gleichen ; es waren, mit
Prätorius zu sprechen, ,, solcher Inventi«)n und Erl»awungen keine
grosse, sondern gar kleine Werke, so stracks an einem Pfeiler oder
in die Höhe bei die Chor als Schwalbennester gesetzt, und mit engen
ranm nnd vmbfknge gemacht worden, haben seharff und stark ge-
klungen nnd geschrieen, ihre Claviere sind aber ohne Semitonia
gewesen, wie folget: ^edefgatiedef, etliche aber also : cdefg
ah c d e f g a"^). Der sogenannte Orgelfuss im Wiener Steidiansdom
würde in der That nur eben hinreichen ein ganz kleines ( )rgelwerk
wie ein Schwalbennest Rufzunehmen ; etwas Aehnliches sah Pr.'itorius
in St. Jak(d) zu Ma^debtirj;. Deutschland zeichnete sich früh dureh
geschickte Orgelbauer aus. Noch Ludwig der Fromme niusstc 82fi
einen venetianischen Priester Georg mit dem Sacellau Thancolf nach
Aachen schicken, dass er dort eine Orgel baue; aber schon Papst
Johann VIIL (872—880) erbat sich brieflich vom Bischof Anno
von Freising „eine Orgel besler Art nebst dem Kttnstler, der sie
nach allen Bedflrfiussen des Spielens in Tcrfertigen und einsuriehten
1) Abgebildet in Otie*8 K.uuBtarchiiologic 3. Aufl. S. 40, auoh in den
Anhftngpen zu GoQSftemaker's Hucbsld.
2) Organographia 8. 60.
Ii) A. a. 0. S. 03.
Digitizoa Ly Li(.)0^le
206
Die Anf^lnge der europäisch-abeudlaudischeii Musik.
im Stande wXre'S einen Mönch; denn auch die Kunst des Oi^el-
baues, wie jede andere, befand sich in MönchsbA'nden. Gerbertoa
Latro, nachher Papst Sylvester II. (st. 1003), das Wander seiner
Zeit, waranoli Orp^elliauer; als er nocli A)»t von liobbio in der Lom-
bardei war, erbat sieb Gerald, Abt von Aurillae, Vf»n ibm eine Or^el,
die ibni Gerbert aueli aus Italien zu verhehatVen zusajjte, sobaltl nur
Friede im Lande werde; ermusste »ich jedoch bei Gerald's Nachfolger
Kaymund entschuldigen: weil «(^die Kaiserin Theophano (Otto*sIII.
Gemahlin) nach Sachsen begleiten müsse, so könne er tther die in
Italien aufgestellten Oi^eln und den daau gehörigen Mönch,
der damit umzugehen wisse, vorläufig nichts sehreiben. UeV>er-
haupt scheinen in Frankreich die Orgeln noch bis in das 12. Jahr-
hundert hinein keine ganz gcwöbnlielie Saehe gewesen zu sein,
wenigstens sebreibt noeh Baldrik, Erzbisebof von Dol (st. 1131):
,,er habe zu Feeninp ein niusikalisebes Instrument gesellen, das aus
ehernen Köhren zusammougeuetzt und mit Schmiedcbalgeu ange-
blasen eine angenehme Melodie hören Hess; sie nennen es Orgel und
spielen es zu gewissen Zeiten". An ordentlich ausgeführte Orgelstttcke
darf man dabei freilieh nieht denken. Die Orgeln dienten anfangs
eben nur dazu, die Intonation des Priestergesanges zu unterstützen
und dafür den rechten Ton anzugeben. Da man aber die barbarische
Quinteniiarmonie fllr etwas Schönes gelten zu lassen anfing, schien
es wüiiHehenswerth diese sogenannte Verschönerung so anzubringen,
Hass der Organist nielit nötbig liatte beständig je zwei oder (wenn
die obere ( )ctave mitgehen sollte) gar drei Tasten (was gar niclit
möglich gewesen wäre) niederzudrücken. Sehr früh, scheint es,
erfand man jene sc^ge nannte Mixtur, bei welcher sum angeschlagenen
Tone dessen Oberqninte und höhere Octave mittönt. Mit sehr rieh-
tiger Ahnung des Wahrm Kussei*t sich darüber Calvisius in einem
an M. Priitnrius gerichteten Briefe, dem. dieser in seinem Syntagma
nnttheilt: ,,Nun ist die Frage, ob man nicht noch Vestigin der alten
Ifnt vioiiiae finden könne? Dieselbe ist ohne Zweifel erhalten worden
in den Kirc hen, Wir haben noch zu unser Zeit zwei Ittstrnmenta
von der alten }fimca, welche in stetem Brauch sind, als die Sack-
pfeiffe und die Leyre; in denselbigen klingen besonders fttr und fUr
eine Gonsonantia, auff der SackpUsüffe nur eine Quinta, aaf der Leyre
aber wohl drey oder vier Saiten, als nemblich eine Quinta und Octava
zugleich durch drey Saiten, und wird darnach uff andern Ciaviren,
welche die vierde 8aitc treffen und anrühren, etwas anders im fUgp-
lichen Choral darin moduliret.'" PrKtoriiis bemerkt dazu: Solches
ist ohne zweiffei stets in den Kirchen bliel)en . . . Dieselben Claves
haben sie stets gehen und thönen lassen und darnach einen Choral,
der aus dem c, d oder e gegangen und sein Fundament darinnen hat,
darein geschlagen, wie man auf dem Instrument einen SchXffertants
Bchlegt Und dieses ist anff allen Instmmenten von anbeginn der
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Chrido von Arezzo und die SolnuMtion.
207
Welt die Mksiea gewesen/* Und damit habe man ansgereicht, meint
PrtttorinB, „sintemal keine Composition mit vielen Stimmen, sondem
nur der schlechte (schliclitc) Choral einfaltig (einfach) darauff ge-
macht worden", d. h. der Orjr-uilst scliltij:!^ mit soinon Fäiistcn eben
nur die simple Chor;ilmelodic, wozu t^uiutc und Octave, kraft des
Apparates der Mixtur, von selbst mittönten. Wie menschliche Ohren
das aushaltou mochten, bleibt freilich ein Geheinmiss!
Da die Oigel ursprünglich allein wegen des I^estergesanges
in der Kifohe Eingang fand, so wurde sie in der Nihe des Chores,
besonders anf dem Lettner (Odeum) aa%e8tel It, und erst als man
{grosse Werke in banen anfing, fand sie gewöhnlich auf einer hohen
Emporbtthne am Westende der Kirche ihre Stolle Die Tausend-
künstler jener Zeit (natürlich wieder Mönche) erfanden aiicli wolil
zur Verwunderunf; der Welt, und wolil gar nicht ohne Verdacht der
Zauberei, Wunderwerke wie; Jene Or^el von Gorbert- Sylvester, der
durch „Hülff seiner Malhemaiica eino Orgel gebawet, wclclio durch
die vngestflhme Gewalt dess heisren Wassers jhren klang be-
kommen** Veirnnthlich brachten einströmende heisse Wasser-
dXmpfe den Ton in ttmlicher Weise henror, wie es an den Signal-
pfeifen nnserer Locomotiven der Fall ist 3). Damit waren die
Calcanten, deren Stelle eben der Wasserdampf vertrat, ihrer Hercules-
arbeit überhoben; eine andere Fra«je ist, wie es dabei mit der
Stimmuiif? der ( )rgel und mit dem Wohlklaufre aussah. Vom 12. Jahr-
hundert an machte man ganz kleine tragbare Orgeln, man nannte sie
Portative: der Spieler trug sie an einem Kiemen umgehängt, regierte
mit der einen Hand den Blasebalg nnd mit der andern die Tasten^).
Diese Dnodesorgeln konnten natürlich nnr einen kleinen Umfang,
nnd mnssten bei der KOne der Pfeifen einen hellen hohen Klang
haben; auf einer Abbildung aus dem Anfange des 13. .lalirliunderts
hat ein solches Portativ acht Pfeifen, also wohl den Umfang einer
1) Otte a. a. 0. 8. 89.
2) So erzählt Prätorius anf die Angaben dos Erfordicnsis (Joannes de
Erfordia) und GencbranduH (Organographia S. i)2) hin, und zwar sei dieses
Werk im Jahre 997 „gebawet" worden. Das» Qcrbert's Orgelwerke Waascr-
orgeln gewesen Bind, gibt Wilhelm von Mahnesbury an (a Ferkel, Gteach.
4 Musik 2. Bd. S. 'MM).
3) Ein Amerikauer Arthur Denny hat in neuester Zeit eine Dampf-
orgel erflmden, die er „Calliope'* nennt, nnd von welcher die Leipziger
illustrirte Zeitunpr .Jahrpantr 1^<>0 S. 33 eine Abbildunpf und Beschreibunpr
gebracht hat. Diese Dampforgel war im Krystallpalast ru London ausge-
■tellt, wo rie vielei Aufsehen ezregte. Der Klang soll also verstärkt werden
köimeu, dass man ihn selbst anf 19 enfflisclio Meilen Entfernung hört,
weshalb auf einem Tjeuchtthurm in Nensehottland ein snU Iit^-^ ri>sirunn'nt
zum Si^nalgebeu aufgestellt worden ist, während es auf den Tiiiirmeu von
8t. Lonu nnd Nen-Orleans die Stelle eines Glockenspieles vertritt. Doch
wird berichtet, dass „die Harmonie in folge Anwendung des Danpfias
nicht immer vollkommen ist.''
4) Abgebildet bei Couesemaker a. a. 0.
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2UÖ i^i e Anfinge der euro|)&i8ch-abcudläudibchen Musik.
Octave. Orcagna Lässt in seiner herrlichen Dantellung dos Para*
dieses (in S. Maria NoTella, Capelle Strozsd, m Florenz) ein ähn-
liches Portativ von einem Knpcl spielen; in pnnz gleicher Form
kommt es auch bei andern Maleni des 14. .TaliihundertB äusserst
häufig vor, wie auf den ricmälden des \'onczianer8 Nicolo Senii-
tccolo auf einem Waudbildc ^die Vcmiählung Maria s) von Taddeo
Gaddi in S. Croce (Capelle Baroncelli). In nnverfinderter Gestalt
geht es auf das 15. Jahrhundert Uber; ein GemSlde ans der IVOhaeit
dieses BSculnnis, eine Verlobung St. Katharina's, von einem unbe-
kannten NiederlKnder in der Akademie zu Venedig^ seigt es in
der wohlbekannten Gestalt; auch in dem Oniament eines 8ch(>ncn
liisclinfstahes aus dieser Zeit kommt es vor*^). Dass so viele Künstler
an weit voneinander gelegenen Urten das Portativ in ganz gleicher
Weise darstellen, beweist, dass es nicht etwa ein Phantasieinstrument
ist, was wir auf ihren Tafeln erblicken, Bondem ein damals weit
verbreitetes und popnlires Instrument (auch die Minneregeln von
1404 nennen das ^iBoriatiff**) und es ist dieses nieht ohne Wiehlig-
keit, veil bei Martin Agrieola (15dS) nnd Ottomar Lnseinins (1586)
unter dem Namen Portativum ein ganz anders gestalteter Apparat
abgebildet istj ein länglich viereckiges, flaches Kästchen mit Tasten,
auf dessen oberem Deckel sidi an der einen Seite ein Conglomerat
gehrauhen- oder weudeltreppenartig aufsteigender Pfeifen wie ein
hahylonisclies Thürmchen erhebt; ein l^lasbalg zum Regieren mit
der einen Hand ist iihulich wie auf jenem ältem in der Anordnung
seiner Pfeifen unseren Orgeln Ihnliehen Portativ angebracht. Das
Xltere Portativ eraeheint bei Agrieola und Lusoinius cum „Positiv**
ausgebildet nut mwel BlasbiQgen, folglich schon einen eigenen
Oalcanten erheischend.
Sehr beliebte Instrumente waren auch die Glockenspiele ^Im-
Hnnabula oder n/mbala). Sie bestanden ganz einfach aus einer
Reihe aufgehängter gestimmter (ibickcn. denen man durch An-
schlagen mit einem Hammer eine ^Mt ludie abgewann. Die alten
Glockenspiele auf Kirchthünuen, die sich hin und her erhalten
haben, bei denen abw ein mechanischer Apparat oder mitunter
plumpe Claven, die ein Spiel w mfihsam mit der Faust niederdrllckt,
die Stelle des unmittelbaren Anschlagens mit Hand und Hammer
vertreten, geben noch jetst einen Begriff von diesem Tintitmabulum
oder Otfmbaihm*)y wie man es nannte. Auf der Miniatur eines Codex
1) Acad. 2U Venedig.
2) Dort als Luca d'Olanda beaeichnet.
3) AbfTobildet bei Hcidolofl:
4) Die sehr anschauhchc Abbildung eines solchen (ilockeuspieles mit
Manual und Pedal, wie es eben von einem Spieler ndt Fftusten und
Füssen pf"<])ielt wird, findet sich in Mcrsenne's Iiarmoiiicorum libri XU.
und in s»einer Harm, universelle V. Virdung rangirt „Zymbeln und Glocken"
zu;>Rramen. DeMurissagt: „tyisu/ia (instrumenta) sunt, quae foraminibus
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Guido von Aiezzo and die Solmisation.
209
ans dem IS. Jahrhundert im Stifte Bt. Blasien deht man ein junges
Frauenzimmer, w^leheadiefesiEDttnunent spielt; auch auf demKelief
' von Bocherville kommt es vor. Seine Seelenlosigkeit und Unbehilf-
lichkeit ^Ijt ihm etwas Barbarisches, man wird unmittelbar an ahn-
liche Apparate der Chinesen und Javanesen gemahnt. Jener Zeit
geuüj^te es, wenn man Klän^rc von bestimmter Tonhöhe liervorzu-
bringen vermochte, durch welche Mittel galt dann gleich aber da^s
der Ton aneser leiner mathematisch bestimmbaxen HSbe auch noch
die Flrbnng der ans dem Innersten strOmenden Empfindung, dass
er Ausdruck nnd Seele annehmen kVane, davon hatte man Torllnfig
gar keinen Begriff.
Die Zeit von Uucbald bis auf Guido und selbst auch nach
Guido's Zeit ist in der Musikgeschichte die Periode der aller-
ticfsten Dunkelheit. Es wiederholt sich hier dasselbe Schauspiel,
wie in der Geschichte der bildenden Kunst der christlichen Zeit.
So lange diese letztere noch antike, wenn auch schüchtern oder un-
geschickt behandelte Motive mit ihrem neuen Gebte zu durchdringen
strebte, errang sie bei oft ungenügender Technik doch bedeutende
Erfolge. Als endlieb das am^e Eibe venehrt war, ging die Kunst, *
jetzt auf Eigenes angewiesen in dunkler Grabcsnaoht scheinbar
völlig unter, aber nur um neubelebt aus dieser Nacht hervomgehen.
Eine Epoche, die in der Musik Dinge wie das Organum oder wie
die nach den Vocalen geformten Melodien als schön preisen konnte
(und beides ist, wie wir hörten, geschehen), tappte einstweilen mit
ihrer Öehusucht nach Licht, aber ohne den kleinsten Schimmer eines
solchen, im Finstem, ob man gleich gerade dieser Zeit und zwar in
der Person Guido's eine Reihe der allerwichtigsten Entdeckungen
carent et chordis per modum vdsorum concavorum formata, qimlia sunt
cyn^bala. pelves, campanae, oUae et similia, quae secondum materiae et
formte oivorritatem mversos sonos emittunt . . .
Blusira fit nobis etiam per vascula nota
Pniiilere quae distant et forti vrrbere mota
Cymbala, campauae, pelves, ollaequo videntur
Talia quae retonant, qnando pnlsatae moventur.
Das find mm die „cymbeln mit ir* flauere , wie die ^liniu rpcrdn sagen.
Cotlon (Cap. iV) bezeichnet die cymbala als Inatrumente mit (»estimmter
Tonhöhe. Aribo (8. 219) stellt cymbala et chordas ni lieneinandcr und
lehrt^ wie man Cyml)algl()( kL'n durch eingegossenes Wachs messen könne
(8. 2!?1) Eii<iclbert von Adniont (S. ']01) spricht vom Cymbalum horologü,
ührglockc /.uui Auschlagen der Stunden.
1) Ein Xachhall dieser Auffassung ist ni)ch im Virdung zu spüren,
der freilich ganz verständig dagegen j olemisirt: „pfeiflein aus den feder-
kielen, lockpf'eiffcn der f?>gk'r, wacli(< ll»aijdciti . plVirtWu vnii «Icii saftigen
Rinden der Büm, von den hietem <lcr Üoui, das hülzig Gclcehter, schwegula"
(pfeifen) „mit dem Mund oder den Leflken, dornohe Listnimenie, die
man aucli für Musicaliu athtet oder haltet . . . die acht ieh alle
für giickelspiel, darumb verdreusnt e» mich die su nennen, vil mehr zu
malen, und allermeist zu beschreiben.'*
Ambrot, OMChMrt* der Mmlk. H. 14
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210
Die AnfiLage der ettropftiBch*abeDcUttndi8chcn MusUc.
und Erfindungen inschrieb. Aber Guido hat weder, wie ihm die
glXubige Ueberliefeninp nacliriilimt»', das Monochord, noch viel
weniger das Cla>'ier erfunden, <lic Tropen oder Kin-lientonarten
nicht festgestellt, das Gamma nicht beigefü'rt, die lateinischen Buch-
staben zur Bezeichnung der Töne nicht eingeführt, die Notenschrift
nicht erdac lit ; er hat die Diaplioiiie nicht als der Erste angewendet,
vuni Cuutrapunkt, Bclbbt von einer vernünftigen llamiuuie halte er
kaum eine Ahnung. Guido mag den Ruhm aller angeblichen Er-
findungen ohne Weiteres entbehren, Bein wahrer Ruhm bleibt unge*
schmlAert: er hat der Münk, die Tor ihm aus einem unsicher und
ungenau vom Lehrer auf den Schüler traditionell überlieferten Musik-
machen bestand, eine sichere, nicht su verrückende Norm in Schrift
und Uebung gegeben; und so gut wie jener Unbekannte, der zuerst
den gehöhlten Baumklotz in's Wasser schob und zeigte, wie man
durdi Hanilhabung einer Schaufel ihn beliebig leiten und mit seiner
Ililfe Strümu Ubersetzen könne, der Begründer der Schififahit zu
heissen verdient, wie armselig sein Canot auch neben dem das Meer
stols durchschneidenden Linienschiffs heissen mwa, ebenso hat
Guido durch die Anwendung der Sylben ut n mi fa 9oi la und
durch Fixirung der Ncomen auf ein System von vier Linien der
bisher haltlos und unsicher ausgeübten Tonkunst einen festen Weg
gezeigt, der alle I-iehrer und Schüler t'in tan auf ■.-^leii lieni und sieherem
IM'ade erhielt: und in diesem Sinne darf er iiestaurator, ja BegrUuder
der Musik heissen.
Wo man Musik trieb, wurde Guido'» Name mit Ehrfurcht ge-
nannt, das utremifa aol la wurde der Grundstein der ganzen Musik.
„Ifit diesen Namen (trf re m» u. s. w.) werden die Noten," sagt Johann
de Muris, „von den Fransosen, Englilndem, Deutschen, Ungarn,
Slaven und Daciem und den ttbrigen cisalpinischen Völkern be-
zeichnet" VeriiXltnissmllssig spXt fanden die Guidonischen Lehren
1) Bis nomitiibns notae, ut dictum est, appellantur a GaUicia, AnKtids,
Theutonifis, Hutitraris. Shnis ol Dacis vt ccteris Cisalpinis. Ifali (tufmi
alias notas et uomina dicnntur habi re, quod qui scire volucrit quaei<it
ab ipsia (de Muris, Summa Musieae Cup. VII; bei Gerbert Script, «i. Bd.
S. Der Schluss, weit < utiVi nt l in bekräflif^eudes Zengniss f&r Cotton*8
Anjiahe zu Bein, ist vielmehr ein selir j^ewirlififres Argument gopren deren
Richtigkeit. Sie bekräftigt nicht; denu die buchstäblich übercinstimmcn<lc
Schlnsswendung, steh bei den Italienern Bdehmng sn holen, beweist,
dass de Muris den Passus aus Cotton {rerude/.u absehrieb. Wie nun aber?
Seit Cotton's Zeiten, seit der zweiten iiultte des 11. Jahrhunderts Insauf
die Zeiten das de Moria d. i. auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts,
also durch dritthslb Jahrhunderte sollten in Italien ganz andere Sylben
in Gebrauob powesen sein, olme tlass wir auch »mr wüsstcn was es für
Sylben waren, ohne dass sie ein italienischer Schriftsteller der Erwäh-
nuni? Werth hftlt? Ein Blick in die Schriften des Marcbettua von Padua
(des Zeitgenossen des de ^luris), z. B. pleich in das erste Capitel im
9. Tractat seines Lucidarium musieae planae, reicht übrigens hin zu be-
weisen, dais man in ItsUen wie ttberau das re mt sm la anwendete.
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Guido von Anno mid die SolmintScm.
211
in den Niederlanden Eingang: in der DiScese von Lttttieh wurden
sie erat 1108 dorch einen Geiatliclien Namena Rodnlpb ^geflilirti).
Die Sfinger der Provence, inabesondere jene von Toulouse, brauchten
statt der Solmisationssylben zur Bezeichnung der Töne blosae Bttcli-
Stäben, worüber sich der gelehrte Klias oder Helyas Salomnnis von
St. Astor in der Diöcese Perigord {<{c Sf. Asferio Ftt rigor icen.sis
dioect sis) sehr aufliält^). In der Provence blühte eben damals jener
vorzugsweise naturalistische melodische Liedorgesaug , der seine
anmndiigen Weiaen ftOhlieh Mnatrümen lieM, ohne t&ush einatweilen
ttber die reehte SteHe dea mt fa oder Uber die Ifyaterien der Mutation
aonderliehe Scmpel an machen. Oerade an dieaer ÜBinen Caaniatik
und subtilen Distinction fanden aber die Gelehrten ein willkommMiea
Feld sich in ebenso weitläufigen als tiefsinnigen Tractaten zu er«
gehen. Ein Hauptgegenstnnd in den Schrifton eines Engelbert von
Admont (um 1290), Elias Salomonis (der sein 1274 geschriebenes
Bucli Papst Gregor X. widmete), de Muris u. s. w. ist die (iuido-
nische Hand. Auch hier fehlte es nicht an wunderbai*enZcichuuugeu.
EUaa Salömoiüa reihet die Gnidoniadien Sjlben an föimUehmi Zauber-
kreiaen, wüiar$mfa$olla und laaci famreut „anf- und nieder-
atdgen und sich die goldenen Eimer reichen** ; er aeigt ihre Ver-
bindung in den Kiichentönen und entwickelt die Verwandtaehaft
der letzteren in einen wunderlichen (natürlich wieder gezeichneten)
Stammbaum, Der Ahn ist der mystische allgemeine Tonus," hier
so abstraft gefasst wie bei einem menschlichen Stammbaum (Um- all-
gemeine üegrifiF Mensch ; der Sohn dieses Tonus ist der erste Kin heu-
toD, welcher seinerseits der Vater des zweiten, der Bruder des dritten
KiieheDtonea iat; der aweite Ton iat Enkel dea Tonua, Sohn des
eraten» Genoaae dea Tierten Kirehentonea und ao weiter fort Daas
der myatfaeh-aeholaatisehe Geist dieser Epoche durch den eigen ge-
heimnissvollen Reiz der musikalischen Töne angeregt wurde, ist
vollständig begreiflich. Das Alterthum hatte in den Tönen Götter,
Himmelskreise, Planeten erblickt; das Mittelalter behielt diese An
Behauungen, so weit sie seinem religiösen Glauben angepasst werden
konnten, bei; es schlug aber auch die Bibel auf und fand auch hier
geheimnissvolle Beziehungen, weil es Beziehungen finden wollte.
Ea ▼ersinnBefate sieh die Tonyorhiltaisae dnreh Figuren und Auf*
riaae, die auf ein Haar magiachen Zeichen oder Regenbogen, Blumen,
Contignalionen u. s. w. glichen, deren phantasmagorischerKeia dann
durch bunte Farben, auch wohl durch beigezeichnele Engel, Heilige
oder allerlei Phantasiegeschöpfe noch erhöhet wird, welche Figuren
dann insgemein wunderlich durch einander gckren/te Bfinder mit
Inschriften halb-orakelhaften Tones in Händen lialten. Ks genügt
z. B. dem Scholastiker Aribo nicht die >im|»lo W ahrhuit einfach
1) Vergl. Forkel, Gesch. der Musik 2. Bd. 8. 244.
2) Bei Gerbcrt iScript. a. Bd. S. 23.
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212
Die A.Dfibige der earopftiach-abendlAndiMhen Mosik.
anfsusprechen, daat jeder antbeutiscbe Ton einige seiner Töne mit
seinem Piagaltone gemein babe, andere aber nicht, nnd swar daaa
in dem Umfang dieser beiden Töne die fünf mittlem gemeinsam
seien, drei obenvfirts dem Authentus, drei nnterwXits dem Plagius
gebUren. Er bringt die Sache in eine seltsam anznscbanende Zeich-
nung: zwei RKder, deren Peripherien einander durchschneiden, die
ftlnf gemeinsamen Töne sind in diesen DurchschiiittiHum gusetzt,
die sechs nicht gemeinsamen zu dreien rechts und links in jedes der
beiden Räder. Das mahnt ihn nun sogleich an die Vision Esechiers
von den ineinandergreifenden BXdem und an die dadnieh bildlich
angedeuteten Evangelien mit ihrer Concordans und Verschiedenheit.
Seine geschSflige Phantasie findet sofort zwischen den Tetrachorden
nnd dem Leben Christi eine geheimnissvolle Verwandtschaft: das
Tetrachord der Tief'töue (gravium) entspricht vorbildlich {tyj'irc) der
vom Evangelisten Matthäus beschriebenen Menschheit Christi, wie
er arm war, dass er nicht hatte wo er sein Haupt hinlege ^ das Te-
trachord der Endtöne {finalium) bedeutet seinen Tod, wo er nicht
aliein das Ende seines Lebens erreichte, sondern auch der Tempel-
vorhang, die Festigkeit der Felsen, die Klarheit der Sonne nnd Un-
beweglichkeit der Erde ein Ende nahmf das Tetrachord der obem
Töne {auperiorum) verainnlicht Christi Anferstehung, da er uns die
Erbschaft Des im Himmel oben sicherte; das Tetrachord der aller-
höchsten Töne (excellentium) bedeutet die glorreiche Himmelfahrt,
so dass von der Tiefe gegen die Höhe die \ner Tetrachorde dem
Verlaufe der evangelischen Er/ählun;^ folgen und, wie Aribo eigens
bemerkbar macht, zwei Tetrachorde auf Christi Erniedrigung, zwei
auf seine Erhöhung deuten. Die authentischen und Flagaltöne sind
dann wieder vier Brautpaare, die ans ihrer Brautfcammer (ihaXamm)
hervorgehend dnen Choireigen schlingen, die Brantkammer ist aber
eben jene Durchschneidung der zwei Räder und so weiter. Man
fühlt sich dab^ an die Schilderung der mittelalterlichen Alchymie
gemahnt, oder an die alte Astrologie mit ihren Plauetenhäusem,
(Jcgenschciiicn u. s. w. Wie sich jene Alchymie der Chemie, die
Astrologie der Astronomie hindernd in den Weg stellte und die
Weisen statt einfach die Natur der Sache zu befragen sich in Myste-
rien verloren, die an alles und an nichts mahnten, die um su tief-
sinniger schienen, je nnverstindHcher und inhalüoser sie waren:
so siäilte, wie wir sehen, auch die Musik diesen Tribut der Zeit
nnd konnte zuweilen vor lauter Visionen den einfachen geraden
Weg nicht sehen. ,,Wie bewundemswerth ist nicht dieser Baum
der Musik", ruft Marchettus von Padua aus: seine Zweige sind
schön nach Zahlenverhältnissen geordnet, seine Blüten sind Wohl-
klänge, seine Früchte süsse Harmonien, welche ans den Blüten
reifen." Sagt ja Bernardus: ,,es sei die Musik des Universums ein
grosses Ganze, das auf den Wink der Gottheit alles in^ Umschwünge
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Guido vou Arezzu und die tSulmiäutiun. 2l3
erhttlt, was sich im Himmel, auf Erden und im Meere bewegt, was
in der Stimme der Menschen und Thiere tönt, was in den Kör]iern
lebt, woraus Tage und Jahre und Zelten }>estehen!" Die r){ tave
ist nach Bernhard's Ausspruch ein »Sinnbild der Gerechti)i:k( it,
denn die Acht hiess bei den Alten Justitia^). Die Quarte malmt,
wie Marchettus bemerkt, au die vier Jahreszeiten, die vier Welt-
gegenden, die vier Elemente, die vier ÜTaiigelieii und die Tier Tem-
peramente; die YienaU, deren Snmme 10 ift, &88t alle anderen
Zahlen in nch, eie drttckt in üiren P^portionen die Oesetxe aller
Consonanz aus (2 : 1 die Octave, 3 : 2 die Quinte, 4 : 3 die Quarte,
3 : 1 die Duodezime, 4 : 1 die Doppeloctave) 3). Nicht umsonst (be-
lehrt uns de Muri») haben die ersten Lehrer der ilusik die TJine
durch die Vierzahl gethoilt, nämlich den ersten, zweiten, dritten
und vierten Ton {D E F G) zum Fundament aller Tonkunst gemacht.
Denn wie die Musik auf der grössten und bewondemswerthesten
Znaamaieiiitimimmg {coneoriia) der Klinge beruht, go wirken aneh
in der Harmonie dea Macroeosmoa, des WeltaUs, vier Elemente m-
sammen: das wanne Fener, die fenehte Luft, die trockene Eide,
das kalte Wasser; im Microcosmus aber, das ist im Menschen,
mischen sich diese Elemente in den Temperamenten des Cholerischen,
Sanguinischen, Phle^atischen und Meliineholischen, welche an
den elementaren Qualitäten des Macrocosmus Antheil nehmen. ?]le-
mentare Ordnung findet sich auch in den vier Jahreszeiten, den
vier Wochen des Monats, den vier Zeiten des Tages. Wie die
vier UnaltSne der vier Anliieiiten D, F, Q sieh ilbereinaDder «nf-
banen, so aneh die Elemente: antie&t die Erde, dann das Wasser,
Uber beiden die Luft, suhSchst, im Empyream, das Fener. Anf
jedem der vier Finaltttne trift ein andientUicher nnd ein Plagalton in
ihren Schlüssen zusammen, deswegen gibt es aber doch nicht acht
T3ne, 90 weni^ als es acht Elemente gibt. Es ist hier zwischen dem
Authentus und Plagius dasselbe VerhSltniss wie in den elementa-
rischen Qualitäten, kraft deren jedes Element neben seiner Haupt-
eigeuschafl auch noch die Eigenheit eines andern Elementes als
Nebeneigensehaft herttbemimmt: das Fener i. B. Ist «inlehst warm,
aber es ist beiher gleieh der Erde trocken; die Erde ist mnSehst
trocken, abor beiher gleieh dem Wasser kalt; die Luft ist feQeht,aber
beiher wann wie das Feuer; das Wasser ist kalt, aber beiher feucht
wie die Luft. Dieselbe ebenso geheimnissvolle als innige Wechsel-
beziehung findet ihr Ge^enbild in dem Zusammenhang jedes authen-
tischen Tones mit seinem Plagalton Die Uebereinstimmung^ in
der Zusammenstellong der Eigenschaften der Elemente und Tem-
1) Luddarium II (Gerbert, Soript 8. Bd. S. 6Q.
2) A. a. 0. S. 85.
8) A. a. O. S. 84.
4) Somma munoae a. a. 0. 8. 217 fj^.
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214 IMtt Anflbig« der eoropiiBeli-abendlftndiBohen Musik.
peramente und der äymbolisirang beider durch vier Haiipttöne mit
den phantastischen Lehren der arabischen Philosophen ist hier so
gross, daas der rTcdanko nicht abzuweisen ist, es habe dabei ara-
bische Philosophie aus dem Maureustaatc in Spanien, wo sie v\n'n
damals in voller Blüte stand, nach Frankreich herübergewirkt.
Kennt doch der firansOriflche Mönch Vincentias BelloTacensb den
Alfiurabi nnd insbesondere dessen gelehrte mosikslisch-theoretische
Schriften sehr wohl, wie er ihn denn auch fleissxg citirt
Aber in eigenst christlich-mittelalterlichem Geiste ist die grosse
Symbülisining des de Muris gedacht, kraft welcher er in dem System
der Musik ein Bild der Kirche erblickt. Die Musik ist ihm, gleich
der Kirche, ein grosses Ganze, aber in mnnnigfachste Theile getheilt.
Die Zweizalil der Weltmusik und menschlichen Musik cutspricht den
beiden Testamenten, in welchen die Kirche vergleichend liest und
die geheimnissraiehe Znsammenstimmnng heider nachweist 0ie
Kirche theilt das Lehen in ein heschanlidies nnd thidges {vüa eon-
Umplativa ei adiva), welche ihr Vorbild in den Schwestern Maria
nnd Martha finden: so ist die Musik contemplativ bei dem, der sie
im Herzen und Ged.ächtiiiss hat, dass er zu ihrer Ausübung eines
Buches nicht bedarf; thütig bei dem Säuger, der zu Acusserlichem,
als Büchern und dergleichen, greifen muss. Auch hier hat Maria
den bessern Thcil erwühlt, denn was sie besitzt, kann ihr nicht ge-
nommen werden; „wer aber im Gesauge nicht Maria sein kann, sei
wenigstens Martha." Der anthentische and Plagalton sind Sinn-
bilder des Gebotes der Liebe, jener h5here: Sinnbild der Liebe sn
Gott, dieser, als der mehr in der Tiefe weilende: Sinnbild der Liebe
zum Nächsten. Die drei Octaven der Musik sind gleich den drei
Stufen der Busse: der Tief klang der Graves gleicht der Herzens-
Berkuirschung des Bereuenden, die Acuton sind das Bckoiintniss des
Beiclitenden, die Superacuteu sind die Thiitigkeit des Genugthuung
Leistenden. Dreierlei Instrumente wendet die Musik an: Schlag-,
Blas- und Suteninstrumente (vascUeSf foraminales, choräfiXes); dreier-
lei Tngend ttbt die Kirche in dem Znsammenklange Ton Glaube,
Hoffiiung, Liebe. Kehn Tonsati kann ohne Anüsng, ICtte, Ende
sein; davon kann keines des andern entbehren und alle drei sind
eins, ein Bild des göttlichen Geheimnisses der Trinitüt. Vier
Kirchentöne gibt es, gleich den vier Cardinaltugenden der Klugheit,
Mässigung, Tapfei'keit und Gerechtigkeit, deren Vorbilder eitjst
auch schon Moses an dem Zelt der Stiftshütte anbrachte. Auf vier
Linien schreibt die Musik ihre Noten, ohne sie wäre keine Erkennt-
nis» des Gesanges; so ruht die Erkenntniss in der Kirche anf den
vier geschriebenen Evangelien. Wie neben Sacramente die Pforten
des ewigen Lebens öffnen, ttffhen sieben ScUtlssel (die Claven A, B,
C,D, E, F, G)) die Pforten der Musik ; und wie die acht Seligkeiten der
Beigpredigt den vier Cardinaltugenden entsprechen, so dass je swei
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Guido Tou Aieno und die Solmisation. 215
Seligkeiten als Frucht einor jeden dieser vier Tugenden verheissen
sind: HO tlieilt sich die Musik in acht Kirchentöne, die alle acht auf
den vier authentischen heruhen. Neunzehn Töne bilden den Um-
fang der Musik, acht in den Tiefen, sieben in den Acuten, vier in
den Superacuten: so hat die Kirche ihre Stufen, auf der ersten
stehen die Laien, die fromm und gläubig leben, auf der zweiten die
Pilger n. 8. w., nacb der Höhe sn stehen die Orden, auf der Tlerten
8tnfe die Templer, anf der ftnften die Hospitaliitter n. ■. w. Die
nahen Stufen der Acuten umfassen die geistliehen Peiaonen, eie
stehen höher als die Graves, aber tiefer als die Snperacuten, das
sind die Eremiten, die von den Heiden in Gefangenschaft gehalte-
nen Christen u. s. w,, die um des Glaubens und der Liebe willen
mehr leiden. Wie der Finalton den authentischen vom plagalen
scheidet, so wird einst Christus die Schafe von den Böcken tren-
nen, und wie dos Ende jedes Gesangs mit Noth wendigkeit durch
dessen Anfimg und lütte bestimmt wird, so bestimmen Anfimg
nnd Mitte des Menschenlebens mit Nothwendigkeit dessen Aus-
gang in einem seligen oder unseligen Tode.
Das Buch, zu dessen Schlüsse de Muris dieses merkwürdige
GemKlde aufrollt, ist mutliniasslich noch zu Lebzeiten des Dichters
der Divina commedia oder doch nur wenige Jahre nach seinem
Tode (Dante starb bekanntlich 1321) geschrieben. Erinnert man
sich nun, wie auch in dem bewundernswürdigen Gedichte des
grossen Florentiners jede anscheinend zufällige und unbedeutende
Erseheinong eine tiefe Symbolik birgt, wie Jede auftretende Person
neben ihrem historisehen Charakter sum Sinnbflde irgend eines
religiös- philosophischen Gedankens wird, wie der Dichter in die
höchste Höhe und in die tiefste 'J'icfe greift, um ein gewaltiges Bild
der alles umfassenden, alles (Uirclulringenden, alles beherrschenden,
alles richtenden Kirche hinzustellen; hält man, um auf Einzelnes
einzugehen, die Scene im Purgatorium, wo der schwertbewaffnete
Engel dem Dichter sieben P {peccaio) auf die Stirne schreibt, deren
eines nach dem andern schwindet, wie er Stufen (es siudt die Stufen
der Busse) hinansteigt, mit dem EinfUljs des de Muris susammen,
die drei Octaven ebenfalls den Btaffaln der Busse su vergleichen;
oder erinnert man sich bei der BUerarchie der neunzehn Tonstufen
an die AbsKtze des Fegfeuerberges und die Blätterkreise der Para-
diesesrose im Dante: so fiiblt man lebhaft, wie diese Symbolisimng
der Musik so ganz im (J eiste der Zeit laj;, und wie sie mehr ist als
ein vereiTizelter pjinfall eines mittelalterlichen Gelehrten, der in
seiner faustischen Zelle mit Geistern wunderbare Zwiesprache hält.
Anders sah es freilich aus, wo sich der Musiker im Olanze des Königs-
hofes, im frohen Saale oder firtthünghellen Oarten der Bitterbnrg,
in der lebensfreudigen Gesellschaft edler Kitter nnd schOner Frauen
mit seiner Kunst beschäftigte, ffier wurde der Musik nicht die
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216 Die Anfiknge der eorqpliicli- abendl&nduchen Musik.
Fariw der Reflexion, der tiefsinnigen Speculation angekränkelt: hier
trn? auch sio die frohe Farbe deeXiebeiUk Aber die bunten Blüten,
welche liier der helle warme Ta^ rasch hen-orlockte, welkten auch
über Nacht. Von Guido von Arezzo lülirt ein direkter Pfad bis iu
unsere Musik hinein, von den Gehängen der Troubadours, der
Minnesinger aus nicht. Allenfalls die InstrunientalniuHik der Jong-
leurs mag auf die Tanzweisen, denen wir im 16. Jahrhundert be-
gegnen werden, nachgewirkt haben. Wie wichtig die Tansmnsik
geworden, das werden wir an gehöriger Stelle seigen. Wir mfltsen
aber die Tronbadonrs und ihre Verwandten schon als historische Er>
scheinung von hoher Wichtigkeit in's Auge fassen, denn in ihre
Gesiinge flüchtete sich der Wohlklang der Melodie zu einer Zeit,
wo die übrige Musik in den Händen der Scholastik ein abschrecken-
des Aussehen erhielt, und sie hegten und pflegten die Freude an
tiesang und Wohlklang bis die Zeiten kamen, wo auch die höhere
Kunstmusik die Mönchskutte auszuziehen anfing.
Die nronbadenn \uiid Mlnetrale.
Unter dem lieblichen TTimmel Sildfranki cich's, in dem garten-
gleichen Lande, wo Krln-, Oel und Mandelbaum in reizendem
Gemische die Fluren bedecken, wo weibliche Schönheit und ritter-
licher Muth dem Leben Glanz verliehen, mussteu nothweudig Dicht-
kunst und Gesang mit ihrer idealen Sprache dem Leben die letzte
und höchste Weibe des Poedschen leiben. Die HOfe der Grafen
yon Tonlonse, der Provence nnd Ton Barcelona waren Pflegstttkten
der Dichtkunst (art de trohar, spftter gay saher oder gaya eiemeia,
die firöblicbe Wissenscliaft). Nach dem Erfinden {trohar, trouver)
nannte man im südlichen Frankreich die Dichter „Trobadors"»
Als erster von ihnen wird Graf Wilhelm von Poitiers (1087 —
1127) genannt. In Frankreich sang der Troubadour nur selten,
wie es in Deutschland bei dem ihm verwandten Minnesänger der
Fall war, seine Lieder selbst; dazu hatte er kunstfertige, im Gesang
nnd im Spielen mnsikalischer Instmmente woblerfabrene Diener inr
Seite, denen er seine GesXnge ttbergab. Sie bieasen «fJonglenrs"
d. i. Spieler oder vielmehr, da sie ancb durch allerlei Possen fttr die
Erheiterung der Gesellschaft zu sorgen hatten, geradezu Spass-
macher (joculatores , proven^alisch Joglar, nach jetzigem Idiom
Joucurs) als SSnger „Chanfeors" , und insofern sie Instnnneutnli^ten
waren und in dieser Eigcnschatt zum Tanze aufzuspielen hatten,
„Eatrumanleors"
1) Wace (um HIT)) sagt im Brut:
Mult ot k la cor! JugleorSf
Chantiort, €strumanUar$f
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Die Troubadours und Ifünatreli.
217
Gtogen die eigentlichen IVobadon ittiideB ile Immer nur in
anem aehr «ntergeordneten YerhSltnlBi: jene waren die eigen^
Uchen edeln, freien Dichter und SSnger, welche nicht um Luhii
Bangen, diese die bezahlten Diener. Sordel nahm es sehr übel, als ihn
ein anderer Troubadour einen Jongleur genannt hatte: ,,cr gebe
ohne zu nelnnen", sa^^te er, „und er wolle ftlrseineKunst keinen Lohn
als Liebeslohn" (e uou voiU gniei dournas sol (Vamor)^). "Wer aus Poesie
und Mujiik ein Lohngewerbe machte, der „Hofdichter*' (wie sich
Biete ansdHIckt) oder der Trenbadovir für baare BesaUnng, wie wir
ihn auch nennen kSnnten, mnsste lach gefallen lasaen, Jongleur an
heiaaen, so |^ wie der bleue fahrende Mnnkant aach Jonglenr
genannt wurde. So wenig aber nun der tapfere Bitter die hilf-
rmehen Dienste des Knappen entbehren konnte, so wenig mochten
die edeln Troubadours die Dienstleistung der Jongleurs entbehren.
Wo der Troubadour nicht in IVrson erscheinen konnte, dahin
brachte der Jongleur d. i. der LolintrnuLadour die ihm unvertrauten
Gedichte und Weisen, und wenn der Troubadour Marcabruu sagte,
er wolle „VerM nnd Ten ttber*» Heer aenden"*), ae lal eher, alt an
Mut ponssiös Dir changons,
Rotruengoa et noiritx toni,
Vieläures, lais et notes,
Lai de vieles, lais de rotes,
Lais de harpe et de fretiax,
Lyre, tympres et chaleinia»,
STmphonies, psalt^rions,
Monacordes, cymbes, chorons.
Eine Stolle in Hngon'a de Mery „Toumoiement de l'antichrist" sagt:
Ogoand les tablcs osti^c« fureni
^1 jou^i^our eu piäs s'estureut
S*ont Tieles et harpes prises
Canrons et sons, vcrn et rcprises.
Von dem Spielen cum Tanze n-dct der Kornau de Jaofire:
ETls juglar, i^ue son el palaas
Violons descorta e aons e lais
R dansas et cansonr. de pesta.
Dass die Jongleurs auch i»ei religiösen Aufzügen ihre Instrumente spielten,
beweist eine Stolle aus Guillaum^s deSt.Plur Chroniqne de l'abbaye miMont
St. Michel, wo von den di( Ort Itosnrhnnilen ProMssionen die Bede ist:
Cil jougleor la oü il vunt
Tottt lor vieles traites unt
Lais et eonnez vunt viollant.
Die in diesen Stellen penanntcn Instrumente sind meist die lit kaTinlen;
sweifclhaft ist, was unter Choron zu verstehen sei: die Sackpfeife (Chorus)
schwerlich, eher ein Haiteniustrument. Der Lebensbeschreiber des Henogs
Ludwig III. von Biirbnn (sl. 1419) erwäliiit: ..qn'nn lui trouva Ic corps
oeint par peuitence d'une curde a fouet et d'une cordt de cAoron." (De
1b Borde, Bssai 1. Bd. S. 998.)
1) Dietz, Leben und Werke der Tnmbedooia &
2) Lo vers e'l son vulh enviar
A'n Jaufife Rudel oltra mar.
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218 AnftlDge der europäisch* abendländischen Masik.
eine Notimng, an die Abscliiokiiiig eines anderen, dienenden
Sängers zn denken. Poire von Auvergne (1155 — 1215) bittet
die Spieler dringend seine Dichtun^on nnd Melodien doch ja
iiic lit zn entstellen Den Troubadours lag bepn"eiflicher Weise
daran, ihrer Kunst sichere Jongleurs zur Seite zu haben. Guirault
de Cabreira und Guiraat de Calanson haben fUr sie aoaführliche
Unterwebungen (Emenkamma) hinterlassen^.
Im nitrdliehen Frankreich nnd in England hatte dieses 8lnger>
Wesen einen etwas ernsteren, gehalteneren Ton als bei den feurigen,
leichtblütigmi stidfranzösisehen Troubadours. Die edeln Dichter-
Sünger hiessen hier Trouvotirs. Selbst unter den musikalischen
Dienstmannen gab es wieder talentvolle Dichter, welche als Me-
netriers, Menöstrels oder Troveors hastarts, anglo-nonnannisch als
Minstreis, Menstrelles oder Mynstrellis, aber auch als Jestours
oder G^atours, Juglers, Jonglers oder Gleemen bezeichnet wurden.
8o hatte endlich das Wort Men^strel doch auch die Nebenbe-
dentnng eines Musikanten, wie Jongleur im Sttden^.
Die Mittelpunkte feiner Bildung, ritterlicher Sitte und geläuter-
ten Geschmackes wurden auch Mittelpunkte dieser ganzen Dicht- und
Singekunst. Die Kihiigshöfe von Frankreich und England, der Uof
des Herzogs von Brabant, des Grafen von Flandern, des Grafen von
Champagne waren in dieser Beziehung berühmt. Unter den Grossen
gab es gepriesene Troubadours; selbst Richard Löwenherz versuchte
sieh mit Olflek auf diesem Oebiete; Thibaut von Champagne, König
▼on Navarra (1201 — 1354), Robert Delphin von Anrergne (meist
der Dalfin genannt), Johann von Brienne und andere Vornehme
aeichncten sich als Troubadours aus. 0 raf Heinrich von Burgund
brachte die edle Kunst nach Portugal ; das im Collegio dos nobres
zu Lissabon aufbewahrte Liederbuch enthfilt, obschon nicht mehr
ganz vollständig, noch 2GU Lieder in proven<;alischen Versmassen
und bildet das älteste Denkmal portugiesischer Poesie. König
1) Mas no m'es bon, que l'apreigna
Tals, que mos chans non conveigna.
Qui'ou non voill avoll chsntaire
Crl, que tot chant dessazona,
Mon dons sonet tom en bram.
2) Dietz, Poesie der Treubadonrt 8. 391.
S) Bs genfige auf Parnllclstcllen biuzuwcipcn. wie:
£ cantent e vieleut e rotent eil juylar.
(Gharlemagne, ein Poem des 12. Jahrh.)
VieUent menestrels, rotnenges et scms.
(Cliarpontior, suppl^m zu du Gange.)
Sehr be/.eichnend ist eine Stelle aus dem Hegistr. Prioratus St. Swithuni
Winten, (ad umum 1374). Hier wird erzählt, wie lioh beim Feste des
Bischofs Alwynus KfcliH Miir^tn-ls mit vier Harfenschlftpem hf\ren Hessen
(in aula conventus sex miniatraUi cum quatuor citbarisatoribua faciebant
minittralcias suas). Und einige Zeilen weiter wird von ihnen gesagt:
Yeniebant antem dioti joeiUatore» a eastello domini regis n. a. w.
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Die Troubadours und üklinstrels.
219
Pinniz (reg. 1279 — 1325) war ein grosger Freund proven^isclier
Poesie und umgab sieb an seinem LieblingHsitzc Santarem gerne mit
sangcskuudigeu Troubadours. Auch sein Naclifolji^er, der strenge
Afl'onso IV. (reg. 1325 — 1357), lirbte die l'otsie. Die heitere
Kunst blühte auch in dem benachl)arten Spanien, wo die Abenteuer
der Haurenkämpfe den romantischen ritterlichen Sinn ohnehin
nlhrfcen. Die Könige von Aragon und CaslOien wendeten ücfa der
Poerie besonders an: Alfons X., Peter III. nnd IV. waren selbst'
Troubadours Die Poesien Alfons X. nebst Singweisen (mehr
als 400) befinden sich in zwei kostbaren Pergamentbänden in der
Bibliothek des Kskorial und in einem ähnliehen der Kathedralkirche
von Toledo gehörigen Codex 2). Neben den „Trobadnres" standen
auch hier .Joglarea oder Juglares, und es gab sogar weibliche Jog-
laresas^). Dieser ganzen Bewegung blieb auchltalim nicht f'renid.
Der König von Neapel, Carl von Anjou, der iinstere, mit dem
Blute des e^'^'^n Gonradin von Scbwaben befleckte Despot, dichtete
Lieder der Liebe nnd Terpflanste die in Frankreich blühende Kunst
nach Süditalien; im ni'irdlichen Italien wurde Markgraf Asso von
Este als Gesangesfreund gerühmt. Doch konnte die ganze Richtung
in Italien nicht zu der Bedeutung gelangen wie in Frankreich.
Der grosse Kainjif zwischen l^apst und Kaiser, dessen Schauplatz
Italien war, der bis in die Städte hinein den Zwiesjialt der (Juclfcii
und Ghibellinen warf, die ewigen Befehdungen dieser Parteien,
die Kämpfe der Städte unter einander liessen das ruhige Behagen
des Genusses der Dicht- nnd Tonkunst nicht wohl aufkommen. Die
edeln Geschlechter, die entweder in der Stadt in ihren burgartigen
Palästen stets kampfbereit sein mussten oder von der Gegenpartei
aus der Stadt gedrängt als Extrinseci vor den Thoren lagen, bis sich
das Blatt wendete und sie ihrerseits ihre Gegner verdrängten, fanden
bei den unaufliörlichen Fluctuationcn de- Paiteikanijifos keine AIiisKe
für die Gesänge der Liebe und des Leu/.es. Zudem war die italie-
nische Sprache vorläufig noch nicht als Dichtersprache anerkannt,
die Gebildeten schreiben ihre Briefe oder was es sonst war latei-
niscb^); noch Dante (1265 — 1821) ringt gewaltig mit der Sprache.
1) Der mmiksliflche Hofstaat der spsnischen EOnipre war aeltsum genug
«nsammengestellt. Terrerns erzählt davon in seiner Paloopi-aphia Espafiola
S. 82: En los lihros de ciu iitiis de eiitmda y gasto de! liey Don Saiicho IV.,
Nieto de San Fernando de la era 1331 (jniiio r2i»3) liay mueliav partidaa
del vettuario y nuriones que ae daba Ii quince Tamborera» o Omes de
lo8 Atambores, h quatro Tromperos. h dos Siiltadores y h los Joglares
öMusiooi del Tamboret, del Äyabeba, del Ahafil, du la kota^ al Maeiitre
de lot Orgtma»,
2) Vgl. Christian Bellermann, DieiiltestenLiedorbürli. i d. rrortngiesen.
3) P. Estevan de Terreros, Pnlenjrmtia Kspanoln S. 82. Kr erklärt :
„Joglare*, Musicos y Cantores; und weiterhin: .Jogiares <> Musicoa antiguus.'*
4) So besang ein Dichter den Kriegszag der Piaaner nach Afrika 1088
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^20 Die Anfilnge der europftisch-abcndländiRcben Musik.
Als dieser grosse Geist den Grundstein italienischer Poesie legte,
war andcnvfirts die Poesie der Troubadours bereits über ihren
Höhepunkt hinüber, und er selbst, voll classischer Kcminiscenzen,
voll bittern Scljineraes um sein Vaterland, lümmel und Hölle mit
Seherblick durchdringend, hatte nicht die Stimmung die Nachtigallen
dea IVQbliiigs und die schönen Augen der Frauen zu besingen, seine
Bealriee winde Qim als veiidibrCer Gebt Fabieiiii dvidi hOliefe
Spihireii; er seUiiif endef«, tief ernste T5ne an, und selbst wo er
als lyrischer Dichter auftritt bleibt er grossartig und bedeutend.
Als im 13. Jahrhundert Italien sich von der Oberhoheit der
deutschen Kaiser für immer befreit jrlanbte, erfolgte allerdings eine
Art Invasion von Troubadours, Jongleurs und was dahin gehörto ^).
Die glänzenden Feste, welche Florenz, Venedig, Genua, Padua
und andere Städte damals feierten, lockten Schaaren dieser bunten
Singvögel herbei: der Sagenkreis von Karl dem Grossen, die Aben-
teuer der Bitter yom Hofe des Königs Aitas wurden populür und fllr
die spftteren Dichter die QaeUe, ans der sie Ihre Stoffe schöpften*).
Auch Friedrich II. von Ilohenstaofen, der selbst so wie sein
Kansler Peter de Vineis Dichter war (von Letzterem soll das erste
Sonett herrühren), versammelte an seinem glänzenden lebensfrohen
Uofe Sänger, Musikanten, Tänzer, Gaukler: alles dieses zn stark
mit fremden, maurischen Elementen gemischt und zu sehr den
rauschenden Vergnügungen des flüchtigen Augenblicks dienend, um
ein wirklich anregendes Bildungselement zu werden. König Maufred
war von einer 8«äaar dentseher Geiger nnd Fiedler mngeben^. Ea
kamen wieder sehwere» blntige Zeiten nnd macbten der Lost ein
Ende. Wirklick ans dem Volke erklangen damals nur die GesXnge
des heil. Franz von Assisi und seiner GonoBsen, des Giacopone von
Todi, Bonaventora, Giacomino von Verona nnd anderer, GesXnge
in lateinischen Venen «nd bekaantliob diflüitete sdbit noch Petnurca ein
lateinisches Hildengedicht.
1} Benvenuto Alipraudi erzählt in der Schilderung eines Festes, welches
1840 am Feste der Gonzaga gefeiert wird:
Quatfro Cents sonnt or si dicia
(Jon butibni alia curte si trovoe.
9) VergL Les poetes firanciscaiiis voll Ozansm. DerVerfiMter erwlhnt|
dass nach Älbertinu ]\fuB<üit(i's Zeugniss um das Jahr 1320 Schauspieler
auf den Biilincn die Thaten Koiand's und Hol^er's des Dänen sangen.
'd) Ottukar von Uomeck sagt in seiner Reimchronik:
Daz er (Manfred) tidi sO Uez vermaerea
Mit stnrn jrtpacrcn —
Und daz ich siu nu h&n gedÄlit,
Das maobet wen der grftse brlkti
Des der küni^ Prin/.e pflak
Bei, nalit undc tak
Mit sinen videlaeren.
Ich sag in, wer si waeren:
Einer der was nicht zc junk,
JDer hiez meister Wildunk u. s. w.
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Die Troubadours und Miustrels.
221
voH hiiiniiaeiider Liebesglnt: „0 ommr, Hvkio amore, pertsh» m*hai
autäjßX»? £• foeo amor mi mise und andere, snm TheQ nooh
W^^f1f^, wie jenes reisende Frtthlingalied Bonaventara's:
Phflomela praevia temporis amoeni
Quae rpcpssiifl nuntiat iinliris atque cocni
Dum demulces animus cautu tue leni
Ave pudentinima, quaeeo ad me yeni!
Es ist kein Zweifel, dass alles dieses in frischem Gesauge liin-
strihnte, ja man kaiui aieh den dueh und diureh diefatensehea stete
begeisterten Frani yon Assisi, dessen poetieelier 8inn sieh In dem
ritterlichen Olanie seiner Jugendtage so gut aasspricht wie in der
Ascese seiner spflteren Jahre, in der reizenden Bergeseinsamkeit von
Umbricn umherirrend nicht anders denken als laut singend und
wie ihm mitten in einer seiner feurif^on Hymnen die stralilende Er-
scheinung des Seraphs die Wundemuiile aufprägt. Wie reizend ist
die Erzählung, wie dieser kindliche Dichter, der in allen Ge-
schöpfen seine Brüder und Schwestern erblickte, mit der Schwalbe
ahweehselnd GK>ttes Lob sang! — Aber Ton sillen den Melodien
■a den Liedern der Fraosiskanerdichter, welche oft die Begeiste-
rung des Augenblickes schaffen mochte, ist, wie natürlich, nichts
erhalten 1). Eine Menge anderer Melodien jener Epoche aber liegt
glücklicherweise in Notirung vor. Die Notirung war die schwarse
Nota quadriquarta , so dass die g(?schriebenen Melodien für den
ersten Anblick völlig den rituellen Cantionalen mit der dreifatlien
Abstufung derNotenwerthe (Longa, Brevia und Semibrevis) gleichen,
zu denen sich zuweilen noch die sogenannte Plica gesellt. Bei nähe-
rem Einblick neigt sich jedoch eine Ton der rituellen Qregorianischen
völlig ▼erschiedene, gans liedmissige Melodik. An dem durch das
Band der Beime aierlich insammengehaltenen Bau der, nicht nach
dem yerwickelton Schema eines künstlichen, auf Sylbenquantit^ten
gebauten Metrums, sondern nach dem natürlichen Rhythmus in Uo-
bung und Senkung gebildeten Verse bildete sicli, angeschmiegt und
dem musikalischen Wurt^^cfiigc folgend, die Melodie zu einem in
sich gerundeten, auf Wechselseitigkeit seiner Theile und symmetri-
scher Gliederung beruhenden Organismus aus. Während die Weisen
der lUteren Meister, Gmcem Faldits*), Blondel des Nesle, Baoul*s
1) Eine Composition der Philomela praevia findet sich in Kircher's
Mnsurgi« S. 5^«?, und Claadin Sarmi^ hat eine Missa super philomela
praevia cunipouirt.
2) UebwGuioem Faidit (1100— 12-40), einen zinnlidi al» utriu rlichen
Gesellfn. vergL man Friedrich Dietz, Leben und Wprko der Troubadours
S. 361. Blondd und der Ghatelain von Coucy sind zu halbmythischeu Fi-
guren gewcNfden. Die Sage, wie Blondel den gefangenen König Riohard sucht
und findet, und Coucy's Liebe aar Dame von Faiel, so wie sein trafrischcs
Ende (das unter anderen» Uhland in einer schönen Ballade besungen) sind all-
bekamite, aber historisch nicht beglaubigte Erzählungen. Wirklich Histori-
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222
Die Aniltnge der enropäisoh-abendländischen Musik.
▼on Coucy u. s> w. noch etwas Starres tmd wenig Bewegliches babea,
findet mcb kaum ein Jahrhundert spXter bei Thibaut von Navarra
II. A. bereits eine fni in leichter Anmuth hinschreitende Melodie,
die kaum noch etwas zu wünschen übrig lässt. Aber die Harmonie
war ihrersrits nocli nicht nuspjebildet p'nnp, um diese scliönen
Bluten zum Kranze versclilin^en und sich ihnen, ihre volle Bedeu-
tung erst recht und g.inz Imm n orhebend und ihnen dienend, unter-
ordnen zu können. Daher verging dieser Melodienfriihling rasch
und spurlos, und was sieb etwa die kanstroUe Harmonik davon
aneignete, wurde in deniGedrttnge ihrer Vielstimniigkeit aerquelaeht
und bis cur Unkenntlichkeit entstellt. Manche dieser Melodien
haben einen eigenthümlich edfl-sentimentalen Zug, wie die Weise
quant Ii UnueiffnoU (Qttant U Massignol) vom Chatelain von Concy.
sfhps über Bloiidrl scIic man in Raumrr's Holieiistaiifi'ii III. 33, über den
Castellan von Cuucy iu de la Bordes Essai, femer: Bellay's Mcmuires histoh-
ques sur la maiaon de Goncy and Crapelet's Histoire du ch&telain deConcy.
1) Bnmey hat (BkL of mus. 2. Bd. S. 284) eineEnt/ifroruag in geradem
Takte ven^ucht, wogegen jedenfalls Einwendungen zu erhöhen sein mftchten,
da auf solche Weise die Melodie holpri^^ und unsangbar herauskommt,
wahrmdmaa nur ganz einfech den Numerus temarius sn beobachten brandit,
um eine natürliche und sn^rar <:rf:illijrc IMelodie zu finden. Auch scheinen
von den Textworten „conhns amis'' an indeul<ioteu i'^ehler des Abschreibers
untergelaufen zu sein, denn der sehr verlftsilit^e Perne bringt theilweise
andere Noten, welche sicherlich die richtigen sind, da jemand, der einen
80 glückliehen Aiifaiipr einer Melodie zu finden vennochte, schwerlich mit
80 ganz unsinnigen Wendungen geendet hätte, wie die Melodie bei Burney
scUirast. Perne bat einen andeni und wie es scheint richtiger gescbrie-
1)t ririi C'ndi'x bcnutzt. Gegen seine Ent/ifTerung sind aber aUe mOglioben
Emweudungcn zu macheu. Man urthciie selbst:
Quant Ii
lou - sei - gnolz jo • • Iis
mm
chaute
seur la
flor d'e - stö u. s. w.
So kann kein ISIensch pesungcn haben, weder zur Zeit der Troubadours noeh
8onst jemah! Perne i\»hm »lie Noten streng nach dem Sehulprinzip der Men-
suraltlieorie, er Huj,'n»enlirtejTehörifr die scmibrevis altera uiidlii*achtc so jene
Triolen (tripolas) heraus, welche (h in Satze ein so hflohet absonderliches A us-
pch<Mi «jehen. <ierade so ticftreU'lu'ten Leuten peht es zuweilen wie dem klei-
nen Karichen im Götz von Berlickingen, das „vor lauter Ueiehrsamkcit seiuen
eignenVaternicdit kannte.** DeredleChatolain von Concy war kein gelehrter
Wensuralist, sondern eben nur sin ritterlicher Foet und Sänger, der sieh um
die Alteratinn undlVnlation derSchulpolehrtheit und üherkünstlichen Praxis
der tSiugchörc vermuthlich sehr wenig kümmerte. Sein Lied ist der Gesang
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Die Troubadours und Minstrela.
223
Quant Ii Bo - ri - guol jolis chante aeor 1»
flor
d'esiö que naisi la
Rose et
le Ida et la nrase
♦ ♦ » —
et vert prt:
:£fa:
Ua
qne
j*ai ai trto haut pen a<
qu'a painea ext ac-oom - plis
^ ♦ .4, ♦ -
u
-■ — » ^ ^ >
doat fai • e grft.
eines poetisch angeregten Improvisators oder Naturalisten, ein Vulk.sliid, wie
dergleichen so allen Zeiten völlig ohne alle Rücksicht auf das eben (güt ige
Olaubeiisbokenntniss der Mnaikgelehrtheit entstanden. Auch Kieaewetter
moitjt über IVnic's Etitziffprung: .,8oiiioTrii)Mlac, cino Art Prolatio prrftM ta,
w areu in seinem Original gewiss nicht angezeigt ; sie sind nur imConlmpunkte
d. i. im mehrstimmigen Satse denklMir, in der simpeln Melodie ein Undinnf.*^
(Leipzifr«'!- allfTfin. Muf. Z. Jahrg. 18.'W Nr. lö ) lr]\ liabt- ««ine ik-uc Ktit-
zilTerung verbucht: es liegt ihr die Abschrift zu Grunde, die Burney vor
Augen hatte; gegen den ScUnia hin habe i«;h aber die Leseart Peme^s
vorgezogen. Die Pansen (Suspirieu) sind im Original nicht angezeigt, aber
rie sind sicher angewendet worden; der »Schreiber verliess sich anf tlir
ohnehin aus dem Texte sichtbaren Versscblüsse. Wollte man z. B. nach
dem Wort est^ ohne Pause gleich weitergehen, so würde die ganze muai*
kaliscbe Periode ans den Kucfen genickt: eine Periode, dw iti synimet-
riacher Wiederholung der Melodiewendongen nach dem natürlichen tie-
fthle ao richtig angelegt ist, wie daa Volk dei|^eiohen in eeineD Liedern
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224
Die Aofhiige der earopaaM]i-abendlftndiMlie& HnsOt.
Qve&t Ii lon-tei * - gnob Jo - Ha obeiito tue la flor
d*e - rt^
quentitila ro - ee ei
lys et la re
•fte et vert prft
plains de
Pern«.
ben • ne vo - len-tft ohante-rai eoadbw e - nli
(fUil«AM
Perne.
male di tant tai8es*ba*liii
qae
j*ai si
trte haut pen - 96 qu'a pain ea iert acoom-plia U •
(fehlt b<ti Perne ]
m
•er • - Tirs dont jai - • 6
gr^
ohne Kunstanleitung richtig tiiilt. Eine ähuhohe Symmetrie der maaika-
liflchen Periode sei^ sich in dem Oesange „Cknumenoement de doace saison
Itelle'", wenn man ihn im un'jrrrailiii Takte recitirt ; im poraden Takt geht
wieder alles haltlos durcii eiuauder. Hier lind die länger anzuhaltenden
Noten der einzelnen Abschnitte sogar in dem alten Original markirt.
Dia hier beigeaetsten Sternchen denten die Sintheilung nach TalÄea
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Die Troubadoon ttnd Minstreli,
225
Solche Melodien sind nicbt, wie die leblosen Vocalonmclodieii
6tiido*B, dem radinendeii Ventande oder vielmehr oiechaiuBchgeist-
an. Nimmt man den Takt von '/a und «soiaisSjö'^rs^ so erstaunt
man über die regelmAaaige BUdimg der Melodie, waa Takt and BhyÜuaua
betrifil.
ComneDoenent
de dou • ce ae •
bei
le (^ue je vois re • - •
ve
m m m tUT.
■m —
Remembraace
d'amora qoi me r^pe
le dont ja
1
ne
qmera
par
dr&o.
De la Borde t'ntziflV'rt folgendcrmasscn und, wie ich glaube, n c'it fjut,
wobei dem in der Melodie selbst klar genug ausgeBprochenen Khytlmiua
Gewalt angethia wird:
— 1 1
r 1
•7 *
- - •
iß
II. «. w.
Bei , .parftV* hat das alte Original (folglich auch de la Borde und Perne
in ihren Entzifferungen) auf die zweite Sylbe g, was offenbar nur ein Ver-
liehen des alten AbBchreibers ist und /' heiswn soll. Mit Vergnügen Iüih!
ich an dieser Stelle von Kiesewetter ein /' mit einem Fragezeiehen \<vi-
geaetatf was mich in meiner ^h-ic)) xut drn «>rst(>n Blick ^t■^aH^t('ll Ver>
mutbuiipr bestärkte. Ferkel ((teM-h. il Mus. 2. Hd. 8. 757) luinixt das
Xiied quand U rotmignol in geradem Takt und meint: „ein saugbarer und
natürnch flicaaender BaM iat an aolehen Melodien nudit m aetacn.**
15
uiyiu^uu Ly Google
226
Die Anfänge der europäisch -abendländischen Musik.
und gedankenloser ZusammenBelsiing, sondern dem GefiihlRdrangc
d6r schaffenden PhantaHie entt^rongen, und wvW sie es sin^, dürfen
sie wirklich Knnstgrbildo heissen. Faidit's Klagelied auf Kichard
Löwenherz ist roher, aber doch auch nicht olnie Ausdruck w ahrer
Empfindung. (Im Original lauter Longac, nur die Ligaturen Breves.)
Klagelied auf König Richard'« Tod von Gaacelm 1 aidit.
(Vaticana BibL Ko. 1669 Fol. 89.)
Fori duHiHW es que tot lo — — — ma-jor
i
dan el ma-jor dol-ias <^eu ouc mais a - gues. ^
«I I J ^ ^ I * " "I I
ao dou Bei tos iors plai-gner plo
wia.
-BtL
=4:
dir
ohantar
retralre
oel q'e - ra di va - loiir öUef et paire Ii
2
2
Beiava-lena Bi • - liid BeiadesBn • giea. Se
mon ai De • ns cals perte et cals daiis
Goa
I
^ ' g * ^ '" j» " » # - -
eelraing moa et eaa greupei au-«r bcn a dur cortoa
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Die Troubadours und MinstrelB.
227
Uom qi po tof
frir ben a dnr oor
ioi
bom
qui po lof - - - frir.
Noch weit ausgehildeter und wirklich in ihrer p^aziöscn Munterkeit
liebenswürdig ist folgende Melodie des Königs Thibaut von Navarra.
Lieder des Königs Thibant.
Nr 1.
rantri - er par U matinte «to.
Rop.
Ko. 2.
Je me quidoie eta
Rep.
1 1 • i-r
I i
3:
1) In der Origina'notirung bei Bumey 2. Bd. S. 242.
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228
Die Anfluge der eoropäisch- abendländischen Musik.
L'autrier per la ma-ti-n^e eut'r un bos et uu vur-gier
One pa-ito-xe «i tro-T^e ohantantpouraon qq • Toi^sier
ei di - rait nn aon pre-inier chi mi tieot Ii mais d*ft • mor
JL
t
Taatost eel • le per entor
keje loi
de
3
ri Ii diisana de -lei-er: Belle, dies Tona doint bon jonr.
Einon eigenthiimlichen, kühnen nnd phantastischen Wecliscl
zwei- und (h-eithciliger Rhythmen, wohfi aber das anscheinend Kegel-
h>se in streng symmetrische Bildungen gebracht ist, zeigt folgende
Melodie, welche ehnntalls dem KfJnige von N u airi nn;r(^}iört:
Je mc qai »do - ie
Ii doos meiia moi £ait
{>ar • tir d'a • mour muie
an - gair qni nnit et
C a
nen
jonr
ne im
ne nii
vaat
faut.
le jonr ni fiüt
c
14:
maint as - saut et la uuit
ne
puis
dor-
1) Dieser anmaihTollen Melodie sehr verwandt Ist die Weise eine«
/u dem sogenanntMl Iiai d'AcIis (aus doni 13. Jahrhundert) geliöripren
Gedichtes „Docc amie fjenticx"* (Hibl. nat. zu l'aris Suppl. franr;. Nn. 1H4).
Diese Ohgmaluotiruug und eine Kutzitiurung wolle mau in i?'erdinand
Wolfs Bmüne „lieber die Leit" nachsehen.
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Die TroabacUran und Minstreli. 229
mir aini plnr et pldiit et M • • pir dieastaatfiHrtquuit
la rc - mir mais bien sais que ne len • ohaut.
DiM6 beiden Lieder Tliibaut's gehen entschieden in G-dnr, jenes
Faidit'i in I>-iboU. Dms die Bubieinitoiiidii wirkUeh jjif und jf^c ge-
rongen wniden (ßievaiimie voci»)» ist wohl eicher; wer so viel rich-
tigee Gefithl lllr Melodiehildang hatte, wird kanm einer eingebil-
deten Consequenz zu Liebe anders gesungen haben.
Die gemeinschaftliche Physiognomie aller dieser Melodien ist
unverkennbar. Ihr Gang ist im Ganzen ruhig, gemessen, gewisse
Wendungen und Schlussfomudn treten mit geringen Abweichungen
Uberall charakteristisch hervor.
Eine eigene Classe bildeten die Lieder zum Tanze, die Keiheu-
tlnie, wobei die Tarnenden einander im Kreise an den HXnden an-
faaeten (ömoU, naeh dem lateiniachen Gftoreoto, spSter Sondä de
CamiU, belgieeh Soitdeau, dentech ,jmme ffmde Mf'O* und die
IlUpftänze ( Esjmngale oder Etpringerie, deutsch „sprinjrende teiäz")^
die beiden Hauptgattungen der zu jeuer Zeit gebräuchlichen TKnze^).
Ein solches Tanzlied trug eine Person Solo vor, otlt eine Dame 2);
die Tanzenden fielen dann mit dem Ketiain im Chore ein^). Auch
die Ballade war, wie ihr Name andeutet, ursprünglich ein Tanzlio«!,
sie wird zuweilen ursprünglich geradezu „Ballet'' genannt, wie denn
8. B. Jaeob Bertant, ein TrouTenr ans Flandern (Ende des 13. Jahrb.),
nnter seinen Poemen ,/eHl guaire vinf/t kirii haHUUa ou hoBade^*
hinteilassen hat Ein Ided tmn Tarne in missiger anmnthiger
Bewegung von Guillanme Machaud ist folgendesi in welchem der
Tansrhydbmns nicht an verkennen ist:
1) Ferd. Wolf a. a. O. S. 185. In Boman de la Violetla v. €687—6688
werden sie neben einander genamit; Ni finent pae mis ea defois, les ooroles,
les espringales.
2) (Koman de la Rom v. 746—748.)
Geste gens dont je vons parolle
S'estaient prins ii la carolle
£t une dame leur chaatait.
8) So ersihlt Bocoaooio (Deoamenme Oiom. IL Nov. 10): Mensndo
Emilia la carola, la segaente oansone da Pampinea ri^ndendo Taltre
in oantata a. s. w.
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230 ^ Aa&Mge der enropAifloh-ftbeDdlftnditQhen Maulu
(Nach Bottte de Toulmon.)
^w» II •
Dunea vowaaiif re-tol • Ur dongmir penitfe d»«ir oorpi
et «mour oonune a tonte U inil-loiirqii'oii poift
m ne Tirre ne minurir poiit a oe jonr.
£me andere sebr annrntbige Melodie Haehand'e iit ein Lay:
CNadi der Origiuilnotimiig.)
J'aim la flonr de va • lonr mos fo • • loor
est raoar nuit et jour par ea voor
oor d*«t(Nir de oo-
lonr de dou • - - lovr
et d*odoar ne roimoor
ne mil • - • toor ii'est du Ii pour c*en-lau
gour
^^^^^^
Teil bieu mo • rir
pour 8 a - jnour.
Ungleich schöner als alles, was uns von diesen Sing^wcisen er-
halten worden, verdient ein Marienlied {Shx'ente) von Adam de
la Haie (um 1270) zu heisseu, desseu Melodie von grosser Zart-
heit und Innigkeit ist:
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Die Troubadours und Minatrels. 231
Adan de la Häle.
^O'ri • en - ae vi
er-ge
• • • ri ■ •
jSZ_
-Jl ! ^
puia-que tos ter - vi - • • • che« m'est biaus £t je
Toussi en - CO - - r« -
gl . e
puis en
ae
ra
uuoUant nou-viaus De moi qui
ohant oon-ohieaz qui pri
De ses fiws er-
4=j
re
mens a • i - e Car chier oomper • rai-mes a-
▼iaoa quantpomr ja - gierae • ra Csia Ii ap-piaua ae d'axya-
■ 'ff
-4:=
t
mensu'e -
stu» puur
gar •
•
- ni •
■ e.
Adam de la Haie oder Adan d'Arras war überhaupt ein
Genie mit all' den guten nnd schlimmen Seiten, die in Lesern
Worte liegen. Man nannte ihn auch Ib baüeux d^Amu oder U
bouu d'Arras', er will es aber nicht Wort haben in dieaer Aeaopa-
gcstalt vor der Nachwelt zu figuriren: „on m'apelle hochu, mais je
nele sui mie", sagt er. Um 1240 zu Arras als Sohn eines Bürgers
mattre Henri geboren, wurde er in der Abtei von Vauxeellos nächst
Cambray uuhgebildet und ;?ollte, als Kojif von eminenten Fällig-
keiten, nach der Zeit Weise in den geistlichen Stand eintreten, war
auch damit eiuver»taudeu, bin er eiues Tage» durch ein Paar »chüucr
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232
Die Anfüge der europäisch- abeadländiflclien Mosik.
Au<^on plötzlich anderen Sinnes ^urde und ein junges hübscliM
Müdchtni 1h ir:itliote. Die Ehe mit Marie (so hiese die Schöne) war
nicht j;;lücklicli , wornn vielleicht wcnig^er Adam's Ilinkefnss und
Höcker als sein uiihtites Wesen die Schuld trug. Genug, er lioss
seine Frau sitzen und soll wieder in den geiHtliehen Stand einge-
treten sein, was freilich nur bei der Ungenirtheit möglich war, mit
der man damals solche Dinge behandelte. Bürgerliche Unruhen
▼ertrieben ihn um 1263 von Aitm nach Douai. Robert II. von
Artoia zog ihn in fl«ne Dienste, er fdgte ihm 1382 nach Neapel,
wo er, wie es scheint, um 1287 starb. Die französische Literatui^
geschichte bezeichnet ihn als einen der Begründet der dramatischen
Kunst in Frankreich. Die Musikgeschichte nennt ihn unter den
ersten, denen wir Versuche in mehrstinuniger contrapunktischer
Cnuiposition danken. Er und Macliaud bilden den verbindenden
Uebergaug von den Trouvcurs zu deu eigentlichen geschulten Mu-
sikern. Gleich jenen erfanden de Worte und Singweisen ihrer
Gedichte frischweg, wie sie der innere Drang dasa a&tiieh, und hier
glückten ihnen r^ende Prodnetionen. Als gelehrte Mnsiker setzten
ne mehrstimmige SingstQcke, die wir s})Ster kennen lernen werden
and die uns freilich nur als höchst ruhe, heinahe barbarische Ver-
suche erscheinen. Wie Adam de la Haie den Herzog von Artois
nach Neapel, so hegleitete Machaud den böhmischen König Johann
von Luxemburg als Secrctär nach Prag'). Zahlreiche Gedichte
beider Meister finden sich noch in alten Handschriften, von Adam
auch heitere Liederspiele.
Die Melodien der spanischen IVohadores haben eine entschie»
dene Aehnlichkeit mit den proven^ alischen. Estevan de Terrecos
hemerkt, dass diese Art von Gesang g^ans denselben Geschmack
zeigt f wie er in den galicisehen und portugiesischen Lftndereien
nodi jetst herrscht^):
1) Machaud war keineswegs derZuname Wilhelms, sondern der Heimat-
name ; er war aus Machaut (Mascandium), daher er auch Giiillielmus de Mft*
scandio genannt wird (F<5tis. Biogr. univ. ad v. (JuillamnedeMachaud). Der
Marques de •Sautillaua sagt vonMachaad: „Michaute escribiö asi miamo un
nt Kbro de baladas, canciones, rondoles, lays, vhtilais e aionö m ndfco t. "
ie grossem Ansehen er stand, beweist eine von Emil Deschamps Oebte
unter Karl VI. 1380—1422) auf seinen Tod ^rcdichtete Ballade:
Bubebe<i leuthsi vielles, syphonie,
FSatteriooB trastoos iastnimeiu eoys
Rothes, guiteme, flaostres, ehaleime
Traversaiues — ei vous ujmphes de bois «
Tympane aussi, mcttcz en oeurre dois.
Et le choro: n'y ait nnl qni replique
Faictes devoir, plourds gentils galnis
La mort Machau, le nohle rltttoriqur.
2) For ellas se v^, que el ayre y gustu de aqucUas tonadas y canciones es
el auamogne dura hsstaoy (das Buch eradiien 1788) enloiPlijMnos de Ckk-
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Die Troubadours und Minstreis. 233
(Prologo der railagroa y loores de S. Maria von dem Kdnig Alfonso el
Sabio, Xni. Jahrh.)
A
iv ti— 1 3
6* p 3
Por que
B
A^Ä^—
tro - - bar
i cou -
sa en
mt'u-to
quo iaz
en
ten - - -
di
po - ren quen- ö faz u. a. w.
Die Notinin^^sweise, welche die spanischen Trobadoics un-
vendeten, stimmt ebenfalls mit der Notirung^weise der franzögi-
schen Trouveura vüllig zusammen, selbst bis auf den Charakter
der ISchrifl und den Geschmack der Initialbuchstaben:
Alfonso el Sabio XUI. Jahrh.
licia y Portugal (Paleografia Espanola S. 81). Obige Notirung steht im
Originale im C-Schlüasel, wie in der Uebertragung, das b ist vorgczeiclmet.
1) Die mit J ^ J gegebenen Stellen sind im Originale, wie man
aas dem Facsimile entnehmen wird, mit einer Plica notirt.
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234 Die . Anlange der enroplMcb-»bendlftadiioiien Musik.
Wiener Hofbibliotlielc Codex Kr. 9549 Boman TriiUii.
In der Notinmg gelbst wird die quadratische Note bald mit, bald
ohne Beitenstrich, die rautenförmige Note nnd die Bindung ange-
wendet, dazwisclieu öfter eine Plica eingeschaltet und es werden
die Abslitze durch senkrechte taktstrichühnliche Linien bezeichnet.
Das System zeigt oft vier, oft fiinf Linien; als Schlüssel wird C und
F vorgesetzt, letzteres mit den bei unserem ^-Schlüssel charakte-
ristischen zwei Punkten. Wo das h rotundum au gelten hat, wird
es ausdrücklich beigesetzt; soll es seine Oeltnng dnvdi ein ganaes
Stttck bekaupten, so wird es nach Art einer Voneickniing liiÜLs an
den Kand einer jeden Zeile geschrieben. Das Liniensystem wird
snweilen durch rothe Farbe ausgezeichnet. Die Noten sind immer
schwarz; die weisse Note war damals noch gar nicht erftinden.
Die Rhytliinik wird durch die anpjewendeten dreierlei Notenfornien
(die Longa, Brevis nnd Seniibrevis im Sinn der Ohoralnotei an-
gedeutet, aber auch nur angedeutet) der eigentliche taktische und
rhythmische Gesang der Melodie muss nehstdem aneh theils nach den
BedeabsXtaen des Textes, theils nach der natürlichen Bedebetonnng,
theils nach dem uelodlsehen Sinn nnd Znsanunenhang der Noten
selbst enrathen werden. Der Sfin^rer musste das nöthige Feingefühl
haben, um ans den Andeutungen der Notinmg den rechten Sinn der
Mt'lodie, wie es der Componist pomeint, herauszufinden und die in
den Noten aufgelöste fluctuin lulc Melodie inusste erst wieder in der
Auslnhrniig durch den SSnger zu fcbten regelmässigen Krystalleu
zusammenschiessen. Die Person des ausfilhrendcu Sängers trat
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Die Troubadoun und Miutrek.
235
dabei sehr bedentnngsvoU iu den Vordergrund, er mamto die Sache
aus seinem Innern herana nen Bebaifen. Knsikaliadie Bildung war
allgemein, «e war ein wesentUehes Stttck einer guten Eni^nng.
Jaeob Falke in seinem Bnehe „Die ritterliehe Gtoeellschaft im Zeitp
alter des Frauencultas** sagt: „Fast ein grÖBseres Ei-fordemiss fiir
die Bildung des jungen Ritters als Schreiben und Lesen scheint
Musik gewesen zu sein: Gesang und Saitenspiel. In einer Zeit,
wo das gesellige Lehen einen so raschen und geistigen Atit'schwmig
nahm, musste die Weckung und Uebung der geselligen Talenti', die
übrigens geschätzt wurden, von besonderem Werthe seiu. Musik
war ein gewöhnliches nnd das eiste Unteihaltangsmittel, und wo
sieh junge Leute ausammenfanden, wurde alsbald cum Reigen ge-
sungen und gespielt. Ohne allgemein verbreitete Kenntniss der
Musik» wie wKre diese Unzahl der lyrischen Dichter möglich ge-
wesen, deren uns bekannte Namen allein zu Hunderten zühleu, und
die ebensowohl singen wie sagen mussten? Wie den Vögeln im
Walde scheinen der Kitterwelt Gesang und Dichtkunst angeboren
und natürlich zu sein, dass sie mehr als Sache des Standes und der
Standesbildung erscheinen, denn des Talentes^'. Die gleichzeitigen
Gedichte sehildem nun die Erscheinung der ritterlichen Sttnger als
glSnsend und anmudiig. In Gottfined's von Strassburg „Tristan
und Isolde" reitet der rittterlidie Gandin von Irenland schönge-
kleidct, eine kleine gold- und edelsteingezierte Rotte auf dem
Kiii ken^), zu König Marke's Hof ein. Tristan selbst, der herrliche
Uari'uer and Sltnger,
hsrpfete tn der stunde,
sA rchtr süi xi n einen leich
der IsOte in ir herze sleich.
Und er rühmt sich gelernt su heben „Fidel, Symphonie, Harfe,
Rotte und auch Leier nnd Sambjut." „Was ist das?" fragt der
König. Tristan preist es als das beste Saitenspiel, das er kann. Auch
die Damen wurden musikalisch gebildet. Jacob Falke sagt: „Die
Ijistrumente, welche die jungen Damen zu lernen hatten, waren
Saiteninstrumente, sowohl solclic, die geschlagen oder gegrifl'eu
wurden wie die Leier, die Harfe, als auch solcher Art, die man
mit dem Bogen streicht. Die Fidel oder Geige wird httufig als das
Instrument der Damen erwVhnt So heisst es unter andern beim
Reimehronisten Ottokar von der 3vUe* Ktinig WensePs II. von
1) König Marke und sein Hof finden es freilich unschicklich, dass
Herr Gandin seine Rotte selbst trftgt. ISne bei du Gange citirte Stelle
bildet dazu eine Art Commentar:
Et e'avoit chascnn d'eux iiprt's Inl nu Sergantg
une clUfonie va ü höh col jtortant.
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236
Die Anfiüige der earopftisch-abendUndischen MuBik.
Böhmen, der sehOnen Agnes, dast sie ,fideln nnd Bingen* konnte.
Gesang war die gerölinliche Begleitang zor Instnunentalmusik,
nnd die Damen mnssten ebenfalls darin geübt sein. Ihre miuikali'
Bclie Ausbildung war fUr sie ein Gegenstand der Eitelkeit gewor-
den, und sie licssen Bich ebenso nöthigen und bitten wie heutziitage,
was aber keineswcj^s von den höfischen Anstandslehren gebilligt
wurde: sie st)llteu nicht zu viel singen, weil das den Gesang ent-
weilhe ; sie sollten aber auch nicht bofiKhrtig damit thun, denn es
mache de nnbelieht Nene Musikalien, Lieder wie Melodien, brach-
ten ihnen die fahrenden SXnger an, sowohl eigene Compositionen
wie fremde** 1).
Unter Leycr (hjra) und Sambjnt (sambuca)^ welche spielen an
können sich Tristan rühmt, dürften wohl, da das „Fidelspiel*' nnd
«lie »Syuiphuuie {chifoiiic, Drehleier) schon früher genannt worden,
jene Lauten- und Guitarreinstrumento zu verstehen sein, die durch
die spanischen Mauren oder auch durch die Kreuzfahrer aus dem
Orient nach Europa kamen und denen man erst auf Malereien aus
dem 12. nnd 13. Jahrhundert begegnet, daher denn auch die Frage
KQnig Marke's, welcher diese nen in Gebranch gekommenen In-
strumente noch nicht kennt, motivirt ist Eine Malerei des 13. Jahr-
hunderts zeigt einen Engel, der eine Guitarre nach alt-Kg}*ptischer
oder auch arabischer Weise mit einem Plectmm spielt. Die Manier
Saiteninstrumente entweder mit blossen Fingern oder mit einem
Plectrum, nämlich einer Feder, oder endlich mit einem Bogen [ile
dois, de penne et de rarrhet)'^) zu spielen erwähnt aiidi (h-r König
von Navarra in einer seiner Poesien. Auch Juan Buiz unterscheidet
vihvela de arco und vUmda iepMa^.
1) A. a. O. S. 55.
2) . . . ohsMun de aus selont Faocort
De 8on Instrument »ans descort
Viole, Guiteme, Cytole,
De din», de penne et de Vardtet.
3) Neben der Viole, Iliirfe und Cither nennt Gairaut de Calanaon als
Instrumente der Jongleurs „Trommel, Castaj^netten, Symphonie, Mandore,
Monochord, Rotte mit 17 Saiten, Geige, Psalter, Sackpfeife, Ltier und
Pauke.** Damit wolle man nun das in den Nachtrügen mitgetheilte In-
»tmmentenverzeic'hniss der doutsfhen Minneregeln von 1404 und das zur
Vergleiühung dauebengestellte Köuig Thibaut's und des spanischen Dichten
Juan Ruis (Ardpreste de Hlta, um i8G<l) summmwihalten. Bine Parallel»
stelle enthalt auch der Roman de Flamenoa:
Apres si levon Ii juglar
Cascus se volc faire auzir
L'us menot arpa, l'autre viuia
L'os fiautdla, l'autre sitUa
L'ot mena giga, rantre rota n. s. w. ^
Bemerkenswert h ist eine Vorschrift der Ordenanzas de SeriUaCfrsilioh erst von
1502), wo es heisst: Item, que el Oficial Violero para saber bien su ofieio, y
ser Singular del, ha de saber facer instrumentos de muchas artes, (^ue sepa facer
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Die Troubadours und Miusti'els.
237
Die mmdkkaiidigen Diener, welche in der vomelimen Gresell-
Schaft die Stelle der eigentlichen Murikanten vertraten und denen
das eigentliche Musikmachen zufiel, mussten freilich als TaaBend-
kiinstler mit allen möglichen Instnimenten fertip zn worden wissen.
Ein Jongleur müsse mindestens neun Instrumente spielen können,
meint Guiraut de Calanson. So zahlt ein Menetrior seine Künste
auf und nennt, wie es Giraut von Calauson verlangt, gerade neun
Initmmente:
Gc sai joglere de viele,
Si sai de muse de frestele
£t de Jiarpe et de chiphonie
De la giguff de Varmome
Et el salteire et en la rote^).
Die Viole (viele)y Drehleier (chifanie), die Rote, das Psalter (salteire)
sind die uns bereits wohlbekannten Instrumente, die rnnsc ist uichtä
anderes als die Sackj)feife, welche .lohann C'otton für das Instru-
ment aller Instrumente erklärt, weil sie ja die Eigenheiten aller in
sich vereine, muthmasslich habe sogar die Masik davon den Namen^.
Die Fiestele war ▼emrathlich ein ISndliches Instrament, etwa eine
Ari Schalmei oder Abart der Backpfeife, mit der sie in dem-
selben Terae genannt ist, nach Anderen eine Pansflöte^. Die
spiteren lustigen ländlichen Lieder, welche man Frottole nannte,
mögen wohl davon den Namen haben, fiifrne ist vielleicht das
Stammwort unserer (leif^e (giga), etwa l»euannt nach ihrer Form,
welclie an Sclu-nkel und Hein einer Ziege oder eines Hammels
{gigue, gigot) mahnte^). Diese hell und durchdringend tönenden
Geigen mochten oft bei der Tanzmusik dienen^), daher Gigue
an Claviorgano 6 uu Clavecimbano ö un Mouocordio 6 un Laad ö una
Vihuela de arco € una Uarpa, 6 una Yihuela graude de piezas con sus
atarcees ^ otras Vihuclas, que son menos qne todo esto. Man sieht, welche
Instrumente zumeist b('not!iif,'t wurden.
1) Citirt in Jjorkel's (jesch. d. Musik 2. Bd. S. 744. Forkcl meiut,
vielle bedeutet die Drehleier, nicht die Yiole. Seit Coossemaker die Be-
weisstellen in seinem Traitö Rur Hncbald susammengestellt hat, kann kein
Sweifel mehr sein, dass ForkePs Ansicht irrig ist.
2) Musa, ut diiximus, instrumentum quoddam est, omnia ut diximus
ezcellons instrumenta, quippe quae omnium vim atque modum in se con-
tinet, hnmano siquidcm inflatur apiritu ut tibia, matm tomperatur ut phiala
(Viole), foUe excitatur ut orgaua, uude et a graeco, quod est /<^oa id est
media, mnia didtnr o. s. w. (Joh. Cotton, Hnrica m ende dicta sit mnsica).
3) Bei du ranfje: Fretella, fistulae Hpi-cies. nostris Fretel et Aretiauz,
wobei er sich auf das Manuscript de» iiumau d'Athis beruft.
4) Nach Wigand (TVörterb. der deutschen Synon. 1. Bd. 8. 684) wftre
Geige abzuleiten von dem altmurdischeu „geiga" d. i. zittern, oder von
„pipr'"!'' da«! Hin- und Herzucken — mit AuHpiebing auf die zuekende Be-
wegung des Geigenbogens. Das Wort „gige" kommt im Mittelboch-
deutichen «rat nm ISOO vor.
5j Auch Juan Ruiz satrt: I.a vihuela de areo fase dulzes bayladas.
Auf Giotto'8 Deckengemaldeu iu der iucoronata zu Neapel spielt zum
Tapzc der Ritter und Damen ein Geiger nebst einem Schalnieibliser auf.
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238 Die AnfKnge der europäisch -abendländischen Mnsik.
oder jig auch der Name eüiM muntern Tanzes wurde, dessen
Rhythmen bei den spltteren Componisten bekanntlich su Instmmen*
talsätzen in der "Weise capricciiiser Scherzi verwendet wurden. Die
älteren Dichter nennen Gipe und Ki)tte als verwandte Instrumente
irerne zusan)nien Die ,,Harnuinie" war vennuthlich ein Klinpel-
oder Klapperapparat zur Bezeichnung des Rhythmus ''^j, denn sogar
ein blosser Reifen mit Glöckcfaen besetzt {eirnUus tinütmabulü t»-
struekts) war sehr beliebt^.
Die Begleitung des Gesanges^) darcb die Instrumente kann
füglich nur im Mitspielen der gegebenen Melodie im Einklänge,
im Angeben einzelner Haupttöne u. s. w. bestanden haben; war
der .Tonfrlenr oder Menetrier hinlänglich gebildet, so mochte er
vielleicht auf seinem Instrument etwas dem Organum oder dem
Discantus Aehnliches versuchen^).
Die Stimmung der zur Begleitung des Gesanges dienenden
Bogeninstrumente war (nach einem Tractat^) des Hieronymus de
Moravia) eine solche, dasa sie rieh Jenem Zwecke vollkommen anbe*
quemte. Die Rnbebe hatte den Tiefklang unserer l^ole und ging
bis c hinab, ihre swei Saiten waren im Intervall einer Quinte ge*
1) Ferd. Wolf (über die Lais S. 247) citirt drei charakteristische Stellen?
Gottfried von Strassburg: Ir gige ande ir rotte (Tristan v. 113BÖ); Wolfram
von Escheobach: Ern ist gIge noch din rotte (Fflordval. 143, 26) ; Beroeo: To-
cmdo instninientos cedras, rotm e gigas (duelo de la Virgen, copla 176).
2) Hhxn kins (bist nf nnis Band 2 S. 284) sapt, zu dieser Harmonie diene
Tabour and Tynibre, Harpn and Sawtrj', and Nakirs and also Sistrum. Vergl.
auch Forkel a. a. 0. S. 744.
8)Forkel<GeMsh.d.Mus II Bd S 745) erinnert an das alte Kirchenlied:
Ubi sunt gaudia
Kei^n mer denn dar
Dar de Engel singen
Nova cantica
Und de Schellen klingen
In regia curia.
4) Die Schildenmg eines begleiteten Qcsangl im Tristan des Thomas
(Mauuscr. des 12. Jahrhunderts):
La reine chante dnlcemcnt
La voiz acorih al cstrnment,
Las mainz ^unt bels, Ii lais bncnSi
Dolce la voiz, bas Ii tons.
Und b« Gottfried von Strassbnrg wird Tristan gerflhmt, «r habe musirirt:
daz nie man wizzen künde
wederez süezer waere
oder bas lobebaere
HIV linrpfen oder sin singen.
6) Im Roman Du roi Horn wird Goram's Harfenf«piel gepriesen:
Dcu! ki dune l'esgardast cum il la sot manier,
Cum ses cordes tuchot, cum les feseit tramler,
A quante faire les chanz, k kantes organer
Del armonie del eiel Ii pureit remembrer.
6) Hannseript dar Pariser Bibliothek, Fonds Sorbonne No. 1817.
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Die Troubadoun und Minttreli.
239
ttimnit^ und ea konnte danuif nnr das eingestrichene d erreicht
werden:
Da« Instrument bcwcf^e sich also in rlen Tönen einer mSssig um-
fangreichen mittleren Männerstimme, und war folp;lich ganz dazu
gemacht den Gesang einer Bolchen im Einklänge zu hegleiten,
das heisst die Melodie einfach mitzuspielen. Eine Erinnerung dieses
Instnunent«» scheint nns in Jenen noch snweilen in BaritXten-
kammem ▼orkommenden schmaleni bdnahe keidenförmigen Zwerg-
gttgen erhalten, die man im 17. Jahrhundert in Frankreich „Peches",
in Deutschland Poschen nannte und in Italien, wie es scheint, mit
den Namen Ribecchino und Violino picciola a la franresc hpzeich-
nete, welchem Namen wir noch 1604 im Orchester Claudio Mon-
teverde's begegnen werden. Das Instrument war damals schon
vierbesaitet, allein sein äusserst schmales Corpus war augenschein-
lich auf ursprünglich nur eine oder zwei Suiten berechnet, wodurch
es an die schon erwähnte sogenannte tthyrt,** ans dem Codex von
8t. Blasien erinnert Die altrenesianischen Maler, welche sehr
gme unter den Thron der Madonna oder eines Heiligen rnnsisirende
Engel setzen, haben dieses Instrument oft gemalt und, was sehr he-
merkenswerth ist, sehr oft mit einer sehr breiten Geige zusammcn-
spielend. Eine der schönsten und deutlichsfei» Vorstellungen dieser
Art sieht man auf einem (temälde von einem derVivarini im linken
Querschiff der Frari zu Venedig: es ist ein S. Marro i)i trono mit
männlichen Heiligen zur Seite und, nach gewohnter Art, Engeln, die
Musik machen. Ein Vhnliches Ensemble hat der Florentiner Fra
Fiesole aufsein« KrOnung Maria*s (Galerie Fesch) angebracht. Da
nun auf jenen Gemilden und vielen Shnlichen die breite Geige
ganz genau der von Hieronymus de Moravia gegebenen Be-
schreibung der Yielle entspricht; da femer dieser Schriftsteller nur
die zwei Gattungen Rubebe und Vielle unterscheidet und sie neben
einander stellt 2): so bleibt kaum noch ein Zweifel Übrig, dass mit
jener schmalen langen Geige die Rubebe gemeint sei 3),
Die Vielle hatte i\inf Saiten, mau konnte sie auf dreierlei Art
itnnnen:
1) Est antem rubeba musicum instrumentum, habens solnm duas
chordas, sono a se distante per diapeutc, quod quidem et sicut viella arcu
tangitur (Seron, de Monma).
2) Quoniam autem secundum philosophum in paucioribns via magna,
ideo primo de rubeba, postea de viellis dicemus (Hieron. de Mor. eap. 18).
3) Ich halte die Abbildungen auf alten Gemälden, Bildwerken n. s. w.
für so wichtige Zeugnisse und Behelfe als irgend einen «;«lehrten alten
Tractat, ja unter Umständen für noch wichtijrer. Der i^eser wird oft
Gelegenheit haben zu bemerken, wie viel Gewicht ich darauf lege. £s
240
Di« Anftnge der eiiropliMdi<ab«idlliidkQhen Mntik
Erste Art.
1. Saite (leer neben
dem Griffbret). 2. Satte. 8. 4. S.
Zweite Art
(auf dem GrifTI»r. t).
Dritte Art.
Die cigeuthiiiuliche Auorduuug der tiefäten Saiten bei dw ersten und
sweiten Stimmnng eiklibrt sid^ doreh den Zweck des Imtnunentes
vOTwiegend hannomseh d. i. mit der Quinte sn begleiten. Spielte
der Geiger auf den hSbeien Saiten eine Melodie im Bauid^ordim na'
UanUe oder, mit anderen Worten, in dem einfiushen natürlichen C^dur,
80 nahm er die dritte Saite leer, auf der zweiten aber das kleine c
und erhielt so den Do|tpelnr{^elpunkt oder Bourdon c — g. Spielte
er im Hexarhordum durum oder in G-dur, so konnte er zur Beglei-
tung G — d auf der leeren ersten und zweiten Saite hören lassen,
liier ist also wieder die ätürkäte Erinnerung an das Klangensemble
des Organistmms oder des Dndelsaekes. Die dritte Art «i stimmen
war geeigneter melodiscbe SStse xu spielen. Die lÜtesten Viellen
hatten noch jenen ganz ovalen Schallkasten ohne alle Seitenein»
buchtungen, die auch bei dem Umstände, dass die eine Saite Uber
das Cf riflfbret hinauslag, unnütz gewesen wären. Später, im 15. Jahr-
hundert, näherte man die Form des SchallkastenR unserer Viola, auch
noch olme jene Seitencinbicj^ungen : die dem llalse nähere Hälfte
des Schallkastens wurde schmäler, es war eine Ucbergangsform.
In dieser Gestalt ist die Vielle auf dem Titelholzschnitt der Veue-
▼enteht rieh aber, dass der Foracher anch hier atrenffe Kritik (Iben rnttn.
Auf einem der (auch von Kugler erwähnten) mythologiKhcu Breit bilder
von Picro di Cosimo im Palaste Pitt! zu Florenz hat z. B. der Maler
die Befreiuii},' Aiidromeda's von Porseus dargestellt , nicht als antik
klassische (i<)tt('r- und Heldengeschichte, sondern als romantisch -phan»
tastisches Märchen, etwa in Ariostischem (teschniacke. Hier sieht man
rechts Neger und andere seltsame Meuschcutigurt ii . die auf den ver-
wnnderliohsten Instrumenten Masik machen: es spit lt einer a. B. eine
Art Psalter oder Giiitarreinstruraent, dessen Hain in eine Pfeife vei^
längert ist, die er zugleich blftst u. s. vv. Ofl'enbar hat der Künstler seine
Phantasie walten lassen, um auch hier den Eindruck des Fremdartigen,
Abentenerliehen henronnbriiigeii.
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Die Tronbadoo» «nd Ufautrcli.
341
zianiscLen Ausgabe des ToBcanello von Aron 1529 abgebildet, noch
deutlicher etwa in Dreiviertel der natürlichen Grosse auf dem Wand-
bilde eines Grabmales in der Eremitanerkirche zu Padua (dem durch
Haupt pfozte Eintretenden gleich links an der Frontwand). Oder
aber man gab der l^eUe die Form unserer Ghiitanre. Der Hals lief
in einen förmlichen flaebliegenden herz- oder bimföimigen Wirbel-
kasten aus, die Spitze nach oben (nicht mehr wie bei unseren Guitarren
blo8 in ein flaches Holzt.'ifcklion, durch welches die Wirbel gesteckt
sind). Natürlich erhielt die Stimmung durch die doppelt, im obern
und untern Boden des Stliallkastens, festgehaltenen Wirbel mehr
Bestand und Sicherheit. Auf jenem Gemälde bei den Eremitanem
sieht man die Einrichtung Xusserst deutlich, ebenso bei der Violai
welehe auf Perag^no*s Assunta (in der Aeademie sn Florenz) der
eine Engel spielt, und auf RaphaePs Pamass im Vatiean, wo Apoll
selbst zum Geiger gemacht ist.
Die Vielle musste wegen der tiefen Saite (des Bonrdons) etwas
tiefer als unsere Geigen und ungefKhr so gehalten werden wie jetzt
die Viole. Vom Auf- und Niederstriche des Bogens macht Johannes
Gerson, der berühmte Kanzler der Pariser Universität, gelegentlich
Erwähnung^). Der Tannhäuser rühmt sich, „er geige bis die Saite
springt und der Bogen zerbricht^'. Die dreifache Stimmung der
Vielle seigt, nach Pernes Ansicht^, dass man auf solchen Instru-
menten im Sinne der harmonisdien Kunst des 18. tuid 14. Jahr-
hunderts förmliche Trios ausführte, wobei die eine Viole den Tenor
der Hauptstimme, die andere den sogenannten Motetus (die mit
einem Gegenmotiv contrapunctirende Stimme), die dritte das l^ri-
plum (die Oberstimme) zu spielen hatte.
Von den Tanzmelodien, welche die Instrumentalisten zur Er-
götzung der edeln Herren und Damen aufspielten, kann nebst der
Tanzmelodie Machaud's auch eine noch filtere aus dem 13. Jahr-
hundert (muthmasslich sttdfransösischen Ursprunges) eine Vorstel-
lung geben, welche in einem Manuscript der Bibiiotiiek an Lille *)
erhalten ist und auch einem Tansliede angehört (die Ueberschrift
lautet: Caniilena de ehorea super illam quae incipit: Qui grieve
ma comtise xe cm lai ce me font amonrcfes rnv ater ni), aber jeden-
falls denselben Charakter hat wie die von Instrumenten ausgcftibr-
ten Tänze jener Zeit. Als Tanzlied hat die Melodie folgende (ie-
Btalt, wobei sich der lateinische moralprodigende Text zum Tanze
sehr erbaulich ausgenommen haben muss:
1) Aut tractu et retrnctu sicut in viclln et rubeba fOorsoti, Op. toni.
III. S. 628). Man bemerke, dass auch hier die beiden Instrumente mit
einander genannt sind.
2) Rev. mus. Jahrg. 1827 8. 488.
3) Manuscript 25.
AMbtos, G«Mlii«hl« dw Moalk. IL 18
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242 Die Anfibige der europliMh-abaidllaidiidieu Mn^
No - bi • li • tas or -
na
U mo - ri
bus nul-
lam pa - rem h» -bei in ae - oa - • lo as • per - n»>
tor peo-ea - ta no-bi-li-tuor-iia • to noii
an - per -bite*!» « taenl-ti - bns ni - oe re>
gens in mo-mm ^^--00-10 no-bi-li-tasor-
na
mo * n
bus nul - lam pa - rem ha-
)
beb in se - ou - - • lo.
Zun Tanze der Ritter und Damen apielten aber nicht allein
wie auf jener Malerei Qiotto'a in der Ineoronata su Neapel ao edle
1) Diese Melodie erinnert anffidlend an das noch Jetzt in der Bro-
venee geningene Yolkdied Magali (Margarethe).
Magali-melüdio proyen^ale populaire.
O Ma-ga - Ii, ma • tan a - nta - do me-te la töst au fe - ne-
atma £s-ooatun pon a q^oestaa • l^a - do de tam-bon-
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Die TroabadoniB mid Minatrek.
243
Instrumente auf, wie Geige und Schalmei. Bocaccio's feine Ge-
eellsehaft venchmXht es nicht, einmal nach einer von Tindaro
gespielten Sackpfeife (CSumotiNMa) sn tarnen i). Die TXnse nnd
GankelkUnste der Jongleurs wurden dagegen oft vom Spiel einer
Doppelflöte begleitet^. Gleich den antiken mKnnlichon und weib-
lichen Flöten liattp sie zwei Röhren von nnji^h'icht'r Länge; der
Spieler blies aber n'w beide zugleich, sondern naeli Hediirfniss der
gewünschten Töne tapste er das Mundstück bald der eiuea bald der
andern mit den Lippen.
Das Orchester (wenn wir es so nennen dürfen) hatte sich all-
mKlig namhaft vermehrt, auch durch sanienische Instrumente,
welche durch die Kreussttge nach Europa kamen* Die Zamr^Oboen,
welche der orientalische Sprachgebranch in den Trimipeten und
Kriegsinstrumenten sttblt, hnben zuverlässig Hir die Pommer als
Muster gedient und mögen zugleich mit den wirklichen Trompeten
in Aufnahme gekommen sein; zweifellos ist es Jibcr von den Lantrn**)
und Rebecs oder Riibebon, dass sie niehts sind als die orieutaliselien
Instrumente l'Eud und Kebab. Auch die Truuuneln und Paukern
wurden der sarazenischen Kriegsmusik entlehnt. Noch Wolfram
Willehalm spricht von dem „Tambüre" als einer spezifisch saraseni-
sehen Sache Das Behmettem der Trompeten, das Dröhnen der
riuüt de violoun £i piuu d'estel-lo a-peramounL'aoroes toum-
ba - do mai-lis es-tel-lo pali-ran qoea te vei-ran.
1) Giorn. VI in fine. Nachdem Elisa ein Tanzlied gesungen, heisst et:
„II re, che in buona tempra era, fatto chiamar Tindaro, gli comando^ che fuor
traesse la aua comamusa, al suono della quäle esso fece fare motte dauze.
2) S. Le moyen et la Renaissance von Paul Laeroix und Ferdinand
Ser£ Abth. Musik. Die DoppelflÖte, die einer der reizenden liron/.eenfjel
Donatello's im Santo zu Padua in HAnden hiüt , ist eine antikisin>iule
Reminisccnz. Die Doppeltiöte war nicht eine reichere, sondern eine
Innere Ghattaltung der Flöte. Man wendete zwei Rohren von ungleicher
Lange an, weil man auf einer (Mii/i<^tMi nicht alle {gewünschten Töne
hervorzubringen vorstandt Die DoppulÜöte ist der Uebergaug von der
Panapfeife, wo jeder Ton sein eigenes FlStenrohr hat, rar einfachen FlOte.
3) CTaUlei (Dial. S. l iG) sa^t: „fu portale k noi questo nobiliinnio
strumenfo da FannonV\ Aus Ungarn! also wenigstens eine tluukle Remi-
niscenz an den Weg der Kreuzfahrer. Den Namen leitet Galilei
von den Solmiaationssyiix ii {o-^l ab „volendo oon easo dinotare essere
degli estreini suoni nni.sicali eapacc".
4) Pott, in Höfer's ZeiUchrUt IL S. 356.
16»
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244
Die AnfilngB der eoropftiaob-abendltodiBohen Musik.
Trommeln behagte den Rittern, et bfldele fortan «ach im Abend*
Isnde die kriegeriscbe Mneik. Selion Lendgref Lndwig kündigte
dem Heere der Kreuzfahrer seine Ankunft durch Tamburen imd
H9mer an^). Die franaMaehen Chronisten und Poeten reden von
„Tr<mpettes, tubes, tromps, darons, daronceavx, cors, romets" und
Buisines (Buccinae, Posaunen). Die italienischen Städte Hessen
ihren grossen Fahneuwageu {Caroccio) von Trompetern begleiten*-}.
Balduin wurde 1204 zu Coustautinopel unter Trompetenfanfaren
auf den Schild gehoben. Die Trommeln und Pauken nannte man
Taboma, Tabnrina oder Tamborina und Naqoaires, letaterea Wort
mit Beibebaltong der arabiaehen Benennung Nakarieb.
Ein merkwürdiges Denkmal, welches nickt allein die im 11.
und 12. Jalirhundert gewöknliehen Instrumente, sondern auch ihre
Zusammenstellung zu einem ganzen Orchester darstellt, ist jenes
schon mehrmal erwähnte Relief oder eigentlich mit einem Relief
verzierte CapitÄl der Kirche St. Georg zu Bochervillc bei Reuen.
Es scheint ein Himmelreich vorstellen zu sollen, in dem die Seligen
Musik machen, denn die Musikanten sind gekrönte königliche Ge-
stalten, die anf prKcbtigen Tbronaesseln sitaen. Erst än K9nig,
der eine dreisaitige Gambe spielt, die er gerade mwiachen den Knieen
festhSlt, wie unsere Violoncellisten ihr Instrument an kalten pflegen.
Das Corpus gleicht bereits völlig dem unserer Geigen, hat aber vier
halbmondförmige in'» Quadrat gestellte Schalllöchcr. Sofort sieht
man eine königliche Dame, welche die Tasten einer Drehleier (dii-
fonie, orgn)tiütrum) handhabt, die Arbeit des Drehens ilbcrlässt sie
(bezeichnend genug) einer Dienerin; dann kommt ein Mann mit einer
Art Frestele, einer Panspfeife, dann einer mit einer halbrunden
Harfe und einer mit einer Art kleinen Orgelwerkes (PortatiQ^
dann der schon erwShnte Psalterschllger und neben ikm ein aehr
würdig aussehender alter König, der mit grösster Ernsthaftigkeit
eine Rotte streicht. Diese Rotte oder Vielle hat ein ovales Corpua
mit zwei halbmondfcirmigen Schalllöchem und ist mit vier Saiten
bespannt, die f:;ew(ihnliche Form des Instrumentes in jener Zeit.
Ein anderer, wie David anzusehender König rührt eine dreieckige
mit Schallkasten und geschwungenem Vorderholz ausgestattete
Uarfe, und zwar mit einem Plectrum in der rechten und mit
der blossen linken Hand. Ein edlea Paar, Herr und Dame,
schlügt auf eine Garnitur auff^hSngter Glocken los. Es muss ein
Tana sein, was dieses gekrönte Orchester au&pielt, denn mitten
unter den Herrechaftcn stellt sich, wie weiland Hippokleidcs, der
Freiwerber der schönen Agariste, ein Mensch auf den Kopf und
gestikulirt mit den Beinen: ein fttr das Himmelreich allerdinga
1) Landjjraf Ludwi|^'s Kreuzfahrt. Aupqt. v. d. ITapcn S. 50.
2) Beschrvibuugeu uud (zopfige) Abbiidungou bei ^uratori Bd. XXX.
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I)ie Troubadours und MinBtrels/
etwas yenrnnäeriieher Gfoteiktans Ein timliehei Orehester von
Königen zeigt ein Breviar dei 15. Jahrhunderts in der k. Bibliothek
zu Brüssel. Es ist eine sogenannte Wurzel Jesse, ein Stanunbaam
Christi: auf jedem Aste sitzt ein miisicirender König, die Instm-
mente sind Harfe, Laute, Hackbret, Drehleicr, DoppelHöte, Pommer,
Dudelsack, eine lange S-fdnnig gebogene Posaune, eine Portativ-
orgel, ein Triangel und eine sogenannte Stamentiupfeife, deren
Bliser ngleidi eine Trommel schlSgL Einer der Könige spielt
kein Instrument, londem taktirt al« CapeUmeiiter^. ESne Yer-
l^eichnng beider Dantellnngen ist sehr interessant: sie aeigt die
Verlnderungen, die swischen dem 12. und 15. Jahrhundert einge-
treten. Die Laute, die Posaune, der Pommer, Triangel, die
Stamentinpfcife mit dem zugehörigen Trommolchon sind neue Er-
werbungen. Die Weise, durch Blasen einer Pfeife, die mit einer
Hand bedient wurde und durch Schlagen mit einem von der andern
Hand geführten am Gürtel des Spielers hängenden Trommelcben
eine Art Ensemble pfindtiriter Art hervorzubringen, war in der
Zwisehemeit anfgekommen. Eine Senlptor an der sogenannten
iÜNSOii des iiitMietsiis an Eheims nnd das GapitlQ des Minstreleapitils
in der Marienkirche zu Beverley in Yorkshire zeigt Spieler dieser
Art. FUr sonderlich kunstvoll galt diese Manier bei den distinguir*
teren Musikern aber schon damals nicht, es war eigentlich nur
Bauernniusik , die gegen die edle Kunst der Vielleurs nicht in
Vergleich kam, {:;li'icli\s ol aber sehr beliebt und verbreitet war ^). Auf
den berühmten Wandgemälden Domenico Ghirlandajo's im Chor von
1) Das Prämonstratenserstift Tcpel in Böhmen besitzt eine sehr schöne
emaillirte Kupfcrschüssel, franz<^sische Arbeit aus dem 13 .Talirhundert,
traditionell einst Eigeuthum des Kiosterstifts Urosnata. Hier sieht man
wm Bande FlMve von Musikaiiten und Tinzerinnen, von letsteren taust
eine gleichfalls auf den Armen mit emporgestreckten Beinen. Die Musi-
kanten spielen alterthflmliche Oeigen, Psalter n. s. w. In einem ManUp
scnpt der Harl. Samml. No. 1527 tanzt sogar Herodias häu^tUngs.
2) Eine selir R(;höno Abbildung des Capitäls von Bochervdle nnd des
Brüsseler Brevit'rbildes siehe in Le moycti ftyo et l;i roTiaissanre von Lacroix
und Ser^. Das Capitäl von Bochervülo auch (genügend, aber weniger
gut als im vorgenannten Werke) in Oonssemaker*« Trait^ sur Huobald.
8) Bei Jubinal finden »ich die Verse anf^cfülirt :
Quar »'ans berg^ier de chans tabor et chalemelt
Plus tost est apelö, (|ue c'il que bien viele.
An einer anderen Stelle vrird heftig' ?egen die Trommel geeifert:
Qui primes fist tabor, Diex Ii envoit contraire,
Que c'estrument i est qu'a nului ne doit plaire.
Mus ridhes hom ne doit son de tabonr amer,
Quant il est bien tondn et on le vent harter
De demie grant lieue le peut on escouter
Ci a trop mauv(5s son pour son chief conforter.
Der Anfang erinnert an das „(juis fuit hoiTendus primus qui protulit enses?*'
Dass der clirliclie St lüistiaii Vinluiit( die Trommel für eine Erfindung des
Teufels hielt, wird dem Leser aus dum ersten Baude S. 117 in Erinnerung sein.
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246
Die An&nge der earopäiach-abendlAndiacheQ Münk.
8t. Maria NoTell» sn Florens wird' nr Vennllhliiii^ ]ffaria*8 in
Boleher Art Musik gcmnclit. Bis in das 17. Jahrhandeit hinein
erhielt sich diese Manier; Virdung (1511) sagt an einer auch von
PrStorius in sein Syntagma (1619) hiniiberg'onommpnon Stolle: ,,son-
sten ist noch ein klein Päuklein, so von den Frantzosen und Nieder-
ländern gar sehr gebraucht wird, also dass man mit der linken
Iland das Päuklein und darbei ein Schwegel oder StamentinpfeifT,
welche ohen 2 nnd nnten ein Loch hat, mit dreyen Fingern hilt nnd
allerlei Tftntse nnd Lieder daranfT pfeiffen und in der rechten Hand
mit dem ElOpffel nff dem PXnklin sngleich mit einatimmen kann."
Nicht überall waren die Ensemblfs von Instrumenten so reich,
wie es das Capitäl von Bochervillc zeigt. In einem Manuscript
der Cottoniana M sieht man ein Bild, eine Darstellung angelsächsi-
scher musizireiider Minstreis, in deren Mitte König David tliront
und eine angelsächsische Harfe rührt. Das ihn umgebende Or-
chester ist armselig und barbarisch genug: ein Violinist, der eine
mandolinenförmige Schnltergeige streicht, ein Trompeter mit einer
langen kegelförmig ragespitsten Trompete und ein Homitt mit
einem Rolandshom. Daan kommt noch ein Kogel- und Mesaer-
werfer, als Zeichen, in wie bedenklicher Gesellschaft sich damala
noch die Instrumentalmusik herumtrieb, und wie iie aelbat nur als
eine Art Posaen- und Gankelwerk galt.
XMe Mlmwaingag nnd die MeisterBinger.— Daa Bnnltweaen dab
Muaikantenthumi»
Derselbe Geial, der hei den romaniachen V8lkem in Frank»
reich, Spanien und Italien die Troubadours herrorgemfen hatte,
fand hei den germanischen Stibnmen Deutschlands seinen Ausdruck
im Minnegesang. Was aber in seinem letzten Grunde durch den
gleichen Geist angeregt war, gestaltete sich in seinen Aensserungen
nach den Starameseigenheiten der romanischen und der germani-
schen Völker wesentlich verschieden. Das NaturgefUhl der deut-
schen Minnesänger für Frühling, Blunien, Vogelsang gestaltet sich
weit inniger und zarter. Der Fraueudicust der Troubadours nimmt
auch wohl dieFXrbung leidenschaftlicher Eiregung oder auch blosser
Galanterie an. DieMinne dagegen ut der reine Nachklang desUarien»
cnltes, oh es gleich an Beispielen einer mehr irdisch sinnlichen.
Richtung auch hier nicht fehlt. Wi(; in Frankreich war es auch in
Deutschland der mildere Sttden, wo die Bittte dieser Poesie suerst
1) MS. Tiberius 0. VL Treffliche Abbildung in Wnght's History
of domestio mannsrs and Sentiments in Bngland 8. 87.
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Hiimeiiiiger und Mttlstersinger.
S47
sich zeigte, als deren glKnzendste Zeit die Epoche der Ilolicnstanfi-
sclien Kaiser anfrosclKMi werden kann. Die beiden Friedriche w.iren
Dichterfreunde und sellist Dicliter; mich Conradin, König Wenzeslav
(Wenzel) von Böhmen, Kaiser Heinrich VI., Ilerzog Ileinr. von Bres-
lau und andere Fürsten dichteten Minnelieder, während andere Grosse
wie die Babenberger Herzoge mOeeterr^eh und unter dendentseben
Fttntenl^mdgnf HermeimvonTbllringeii alsSXogerfireiinde berObmt
waren. Bei dem Landgrafen Hermann fand auf der Wartburg 1207
jener berühmte Wettstreit statt, der mit dem Namen des Sttngerkriegs
bezeichnet und selbst wieder öfter Gegenstand dichterischer Dar-
stellung geworden ist^). Der deutsche Minnesinger, der auf Ritter-
burgen und an Köjjigshöfen ersdiien, um als geelirter Gast die gute
Aufnahme mit (iesang zu lolinen (ein in's Romantische übersetzter
antiker Aüde), hatte nicht den zweideutigen Jongleur, den „Gaukler^',
mm Gefkbrton; er mocbte, wie Volker im mbelungenUede oder
wie Trittau, seinem Instrument am liebsten selbst die Begldtung
seines Gesanges entlocken. Die hierher gehörigen Scbildemngen
in Gottfried's Tristan nnd Isoide sind eben so unverkennbar wirk-
lichen Verhältnissen entnommen, als sie andererseits allerdings diese
Wirklichkeit in poetischer Verklärung aus dem Spiegel der Dich-
tung widerstrahlen las-sen^). Keineswegs aber gehörten die SJinger
durchaus dem ritterlichen Stande an, so wie unter den französischen
Trouv^ren z. B. Adam de la Haie und Guillaume Machaud keines-
wegs Ton adeliger Gebnrt waren. Unter den Slngem aof der Wart-
burg waren Wolfram von Esebinbach, Weither von der Yogelwdde,
Heinrich Bchreiber und Heinrich von Zwetsschin, wie sich der
Thüringer Chronist Johann Rohte, Canoniens sn Eisenaoh, aas-
drückt ,,rittennes8ige Mann unde gestrenge Weppener", wogegen
Bitterrolflf ,,eine von dez lantgravin hofgesinde" und Heinrich von
Atlirdingin (Ofterdingen) ,,eyn borger uz der stad Ysenache" war.
Die nicht ritterlichen Sänger hiessen Meister.
Es ist hier nicht die Stelle auf die reiche Fülle von Poesie und
8ch9nhät einngehen, die uns in den Dichtungen der Minnesinger
entgegenblllht; uns beschSitigen hier nur ihre freilich mit der
Dichtung in genauem Zusammenbange stehenden Singweisen, deren
uns in mittelalterliehen Handschriften eine ttberans grosse Menge
erhalten ist^).
1) üeber den Sängerkrieg s. man ▼. d. Hagen's „Minnesinger" 4. Bd.
8. 745 u. fg.
2) Es sei hier lit ilaufig bemerkt, dass in der berühmten, der ersten
H&lite des 13. Jalirhuuderts angehörigen Handschrift „Tristan'' der
Mfinchener Bibliothek (Oodd. germ. No. öl) auf den mit der Feder ge-
zeichneten Illustrationen dem ritterlichen Sftnger der KOnigin IsoUe
kleine leichte dreieckige Harfen in die Hände gelegt sind.
8) Friedrich Heinnohs t. d. Hagen reichhaltiges weilt iJtfinnesinger'*
(4 Bde. in ^uart) Ueibt sine Haiq^tquelle der Belehrung. Der Tierte Baad
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248 t)ie Anfänge der europäisoli-abeiiidliiiditelien Ifarik.
Die Notirung dieser Gesfinge ist jene der übrigen Gesänge
derselben Zoit: die Choralnote, wie wir sie in den kirchlichen Can-
tionalen jener Epoche finden, bald in krüftig quadratischer Form,
wie in der Jenaer Handschritl, und dann blos in den zwei Werth-
abstufungen der Longa und Brevis des Choralgesanges und mit
Anwendang der in der Gharalnotinuig gebrSaehliehen einfaehen
Ligatorformeii, bald in jener melur fluchtigen kritaeligen Sehrift
der Haken und Nagelköpfe oder der FliegentHsBe. Vorangesetxt
ist, wie beim Choralgesange, der C- oder der J'-Schlüssel. Die
gleiclie Notirungsweise I8s8t sogleich erkennen, dass auch die Vor-
tragsweise eine älmliche gewesen, wie wir sie im Gregorianischen
(losange noch heut zu hören gewohnt sind. Während die Weisen
der französischen Trouvtres das Wort der liedmässig hiufliessenden
Melodie angemessen beiordneten, ihre Gesänge wie wir an denen
des Königs Thibant sahen, wahre Lieder hmssen dürfen, hat die
Singweite des deutschen Minnesanges etwas jener auch melodischen,
aber nicht liederartig geschlossenen, sondern rezitirenden Form des
Gregorianischen Gesanges Analoges. Bei manchen dieser Qe-
sSnge ist diese Analogie schlagend, wie bei folgendem vom be-
rithmten Wartburgkrieg handelnden Gesänge der Jenaer Hand-
schrift, welcher auf da» stärkste an die ^ngweise der Präfation
u. dgl. erinnert:
1) (Jenaer Handschrift 8. 988.)
o
Das erste syngen hie no tat Heynrioh ▼on
enthält, uebst einem gediegenen Aufsatz „über die Musik der Minne-
singer", eine grosse Anzahl von Singweisen, theils genau focsimilirt, theili
wenigstens in der Originalnotirun«^ , einige auch in neuere Tonschrift
übertragen, immer mit genauer Angabe der Quellen. Es möge hier ge-
nügen auf dieses leicht zugängliche Werk hingewiesen zu haben, da eine
mehr eingehende Würdigung des Einzelnen von dem Hauptwege des
gegenwärtigen Buches zu weit ablenken würde.
1) Bei Ligaturen dieser Art, welche in der alteren Notirung des
Chorals sehr hinfig angewendet wurden (audi in der Mensorslnote
kommen sir- bei Schlüssen vor), ist die tiefere Koto Buerst au singen,
also obige Weise ungefähr so:
(frei reciUrend)
Daz er - ste Syn-ffen hie no tut HenüiehTOn
er - ste Syn-gen hie no tut Hsgpuiich von
Of - ter - din • gen in des. e - dein tut - stsn
Im Texte muas es, wie die sogehorigen Noten «eigen, heisssn „edeb?'
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iGimeungttr und Meiateninger.
249
1
3
öfter • dyngen in des
edelen
Tanten
dhon
m
1 r
von dvryogen lant der teilt vns
d syn gut
Ser muMte die Tortragweise ganz der Singweise des Gregürlani-
sehen Gesanges ans Priesters Mundo gleichen, nicht dem (Janhu
plamts, wo Jodo Note gleiche Dauer hat, sondern jener freien,
feierlichfMi Kozitation, wo auf den natUrlicliou Acccnt Rih'ksicht
genommen wh J und, ohne die Fessel einer rt';^uliiren Taktbewt'iiung,
bald in leichter Beschleunigung, bald iu massigem Zurückhalten
durch das Ganze ein lebendiger, schwungvoller Rhythmus geht,
welcher solche GesSnge au wirklich organischen Bildungen, nicht
SU blossem ungebunden regellosen Ergehen in wUlklIrlichen Ton-
fnlgen macht und auf dem ein grosser Tlieil der mfichtigen Wir-
kung des Gregorianischen Gesanges beruht. Während in den
franzÖ8ischen Gos?(ngon der Trouvore« die ganz liedmKssige Melodie
das Wort überbliiht uufi einhüllt, tritt hier das Wort, die Dichtung
mit ihrem Vers und Metrum mHchtig in den V'ordergrund, sie ist
die Hauptsache und der Gesaug gibt ihr nur Halt und Färbung.
Es ist ein «adi sogar der antiken Singweise sehr analoges Verhfilt-
niss. Die TrouTeurmelodien kann man in der neuem Notirungs*
weise ab föimliche Uedweisen aufteichnen, sie lassen eine moderne
Harmonisirung zu, and es tritt ihre Schönheit dabei erst recht zu
Tage; auf jene Klasse dentscher Mionesingerweisen (es gibt wirk-
lich andere mehr liedmässige) lässt sich mit dem modernen Takt-
stocke so wenig losschlagen, wie auf den Gregoriauischon CJesang.
Ebenso konnte das begleitende Instrument (Fidel, Harfe u. s. w.)
hier keinen grösseren Spielraum haben als beim Gregurianischen
Gesänge die Orgel: dem SSnger den rechten Ton anzugeben und
statt, wie der Schreiber der Handschrift setzte, „cJelcn". Ich hnMo es
für unnöting dieses und die folgenden Beispiele anders als in der Original*
notirung horsasetzen, weil sie jedem, der Gregorianischen (iesaug zn
•ingen weiss, ganz Tefwtttnillich sein nüisHcu, und die ümschreibong in
die moderne Note immer ihr Missliches hat.
» Bei V. d. Hagen 4. Bd. S. 766 im Facsimilo als Fragment, S. ö43
Ko. txni ▼ollstindig in der Originslnotimng.
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250
Die Anftng« der etirop&isoh-abendllidiiolMii Miuik.
ihn, bescheiden eingreifend, darin zu erhalten. In v. d. Hagen*8
Werke heisst es über diesen Gegrenstand: ,,Wir können zwei Arten
der CompoBition eines Gedichtes, vurziij^licli eines »trophischen,
unterscheiden. Die Musik könnte unmittelbar die metrischen Ver-
hältuisse des Gedichtes wiedergeben, so dass metrische Länge und
Kttne der Noten Im Gesänge ensgedraekt würden, nnd der ganie
Bhythnras, wie wir ihn beim Sprechen wahrnehmen, neh nnr mit
grttuerer Bestimmtheit in der Musik wieder zeigte. Eine solche
Art der Compositinn wird natttrlieh nur in denjenigen Sprachen,
welche eine wirkliche Sylbenmessung haben, also in den beiden
alten Sprachen wesentlich und unentbelirlich sein. Denn da schon
durch das Sprechen einer solchen Bpracbo das Geftihl der Zeitbe-
stimmung in weit höherem Masse als bei uns angeregt wird, so
erscheint hernach eine künstliche rhythmische Periode in der Musik
dnreh den eisten Ansdmek des Gedankens, durch das Wort Tor-
bereitet nnd bedingt In dieser Art mtlssen wir nns denken, das«
B. B. die Chöre der alten Tragödien componirt waren, wo dann
Sj^aehe, Mnsik nnd Tanz sich verelnir^ten, dem Ohr und selbst
dem Auge einen verwickelten Rhythmus in Zeit und Raum danra-
stelb'u. Wenn man den Rhythmus also hierbei als etwas durch
Worte Gegebenes sich vorstellt, so blieb der Musik nur noch
Uhrig durch Melodie und Modulation ein neues Element in das
Kunstwerk zu bringen. Auch ist klar, dass in Compositionen dieser
Art die Mnsik nidit selbststSndig gedacht werden kann (im mo>
dornen Sinn), weil eben erst die Worte die Nothwendigkeit des
Rhythmus bedingen nnd erklXren. Jn Spraken, die nnr eine
Sylbenzählung haben nnd durch regelmSssig vertheilte
Accente den Vers binden, kann eine solche Art der Composition
zum wenigsten nie als nothwendig erscheinen, weil überhaupt die
Zeitmessung, gesetzt sie Hesse sich anwenden, nie nothwendig ist.
Ks tritt nun bei solchen Spr«ichen auf das Natürlichste die zweite
Art der Composition ein, indem nlimlich durch die Musik erst eine
bestimmte rhythmische Periode eingeführt wird, welche swar den
durch das Versmass gegebenen Accenten nicht widersprechen darf,
sonst aber nicht lange und knne Sylben durch festgesetste LXnge
und Kurse der Noten wiederzugeben braucht. Hievon wird man
sicli überzeugen, wenn man sieht, mit welcher Freiheit auch ein
das Wort achtender Componist ein daktyliscbes Vermass in */g, 2^^,
u. 8. w, Takt, oder ein tiochäisches und jambisches in jeder nur er-
denkbaren Taktart componirt, nnd dies selbst im Deutschen, welches
doch den Vers nicht blos durch den Accent bildet" — Weiterhin
sagt unser Autor: „ffieraus folgt für eine Sprache, die einer Selben-
messung im strengen Binne des Wortee nidit IXhig ist, ein eben so
1) A. a. O. & 86a.
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Minnetinger and Meitteninger.
251
itrenges Ansebliessen der Musik; in einer Sprache hingegen, welche
wie die nnsere (die deutsche) einen Mittelweggeht, wird auch
die Musik, wenn sie die eigenthiimlichen Bewegungen des Verses
wiedergehen will, nicht so streng hlos der Zeit folgen können; daher
auch ein solches Stück unmöglich genau durch Noten vorge-
stellt wt rden kann, welchen wir nun einmal, ausst r im l^ecitativ,
ganz betitimmte Zeitverhältuisse beilegen. In einer Sprache aher,
die blosse Accente und SylbensShlung hat, s. B. im Fransttsischeii,
wflrde diese Art der Oomposition ih ein blosses Recitiren
erscheinen"
In diesen Bemerkungen ist auch der tiefliegende Grund des
Unterschiedes zwischen den Melodien der französischen Trouv^res
und den Gesäugen der deutschen Minnesinger klar ausgesprochen.
Der Trouveur war im Wesentlichen Liedersänger, der Minnesänger
war Rhapsode. Mit Recht bemerkt v. d. Hagen, duss nmn unter
den sogenannten „Töuen** der Minne^inge^ und der späteren
Mebtersinger (welehe gleichsam als neue, plebejische Wohlfeil-
aasgabe der Minnesinger gelten können) nicht blos die eigentlichen
Liedweisen, sondern auch die metrischen Schemata, die also vor-
zugsweise die Dichtung angehen, zu verstehen habe. Der Vors des
Trouvfere wiegte sich auf der melodischen Woge der Liedweise leise
in ununterbrochenem Flusse hin; für den Minnesinger war er so
wichtig, dass der Ver.sschluss durch gehaltenere Nnton, din-ch Ver-
zierungen, durch kurze Pauseuabsätze, wie wir es noch im vulks-
mttssigen Choral sehen ^, deutlich hervorgehoben wurde. lu den
Nflnberger Heistersingerbllehein scbliesst jede Seimaeile mit einer
Fennate, die aber keine eigendiehe Tondebnnng, sondern eine
knne Pause nach der RehnaeUe aadentet Zuweilen wird beige-
schrieben „pansir nit"; der Sänger hatte also sonst die Pausen zu
beobachten, ob sie gleich nicht ausdrücklich beigesetzt wurden 3).
Ja es war ein Fehler, auf den gemerkt wurde, wenn der Meister-
singer nicht nach jedem Reim gehörig pausirtO) sondern zwei bis
drei ungebührlich herausschrie."
Jener „Mittelweg** der deutschen Prosodie und Verskunst
war es aber eben andi, der da bewirkte, dass die Singweise doch
nieht so gans in ein antikes oder antikisirendes Metrisiren aufging.
Jene t. d. Hagen bemerkte sweite, den neuem Sprachen eigene
Alt macht sich vielfach geltend; neben Singweisen, die jenen an-
tikisirenden oder gregorianisirenden Zug haben, gibt es zahlreiche
andere, auf welche unverkennbar und sehr stark das deutsche Volks-
lied eingewirkt hat, das deutsche Volkslied, wie es bei allen Aeude-
1) A. a. O. S. 860.
2) Wo der begleitende Organist die Ihaumk durch kane Zwischen-
spiele noch mehr markirt.
9 T. d. Hagen a. a. 0. A 86a
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25d Di6 Anfonge der eoropäisch-abendländiachen Mnrik.
rangen im Einzelnen und bei allem Einflüsse, den die Kanstmusik
der versoliicdenen Epochen darauf f^ewonnen, seinen Gnindcharakter
durch alle Jahrhunderte behalten hat. Folgende Weise des Meister
Poppe in der Jonaer Handschrift erinnert auf das stärkste au die
noch heute gesungenen deutschen Volkschorale, deren Melodien
ja vielfiwh auch welüiehen Yolksliedeni entnommen sind:
(Jenaer Handschrift S. 214.)
0 hoer vnds tiaricer al - medh-tiger
gol.
Durch dyn al - m« cht ich - keit durch dich durch
5
dyn gebot
▼Ol
komea fir an
r
myisa
wen
die n. s. w. ^)
Nocb andere Weisen gehen gans ▼oUständig in TolkstbUm*
liehe Liedmelodie tther, lassen daher, gleieh den Tolkschotalartigeii,
die Umschreibung in moderne Notiiinig nnd die Beigabe der nns
gewohnten Hannonisimng n:
mm
Loy - be - re
Bio - men sich
n
wt - seoi
von den boy-men \ün tzu
dax se »int vur- tor-bon
1 (
1
tal
al
des stan blot ir e • ste.
Bco - ne was ir
l^e • ste Sos
1) In neneren Noten;
0 Herr un - de star-ker al -mech - ti - ger Ghott.
n.a.w.
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MniMwmgw und Meutenmgw.
253
ä
twing-het de ri • phe na-ni • gher hande-wor-tzel sal des
bin ich ghar se-re be-irft-bet
ich tsa
gri • ph«
■isi der «in -der itt lo
kal dee
h
wirt nu - we
Q • bot.
▼roy - de ghe
Diesem Zuschnitte der Alelodie mit der Wiederholung des ersten
Thelles, eine Anordnung, die sich auf die Dreitbeiligkcit der Dich-
tun«];^ mit erster und zweiter Strophe, die beide gleiche Form haben,
und den schliesseiulen „Abgeaang" gründet, werden wir in den
nachmals von Heinrich Fink, Isaak u. A. kunstvoll verarlx'lteten
deutschen Volksweisen zu hunderten, man darf sagen als stereotypen
begegnen. Dieselbe Form hat folgendes Lied^), wo des edeln
Rudolph Ton Habsbnrg mit seinen Helden- nnd Herrschertugenden
in Ehren gedacht nnd ihm nur der halb schenhafte, halb ernst
gemeinte Vorwarf gemacht wird, dass er „der Heister Singen, Geigen
nnd Sagen sehr gerne hört, aber ihnen nichts gibt." Das Lied ge-
hört somit in die zweite Hfilfte des 13. Jahrhunderts. Es ist mit
dem Namen des „Unversagten" beseichnet, dessen Zeit um 1287
föUt^.
(Jenaer Handschrift S. 61).)
f=rrr r r fjrrrr
mrrni
Der ka • nino Bo-dolp mya-net Oot vud ist an tru-wcn
Der kn • nino Ro-dolp riöh-tet wol Tüd has-set Tsl-sohe
ste - te
re - te
der kn - nino Ro - ddp hat sich nia - nigen
der ku - uiuc Ko - dolp ist eyn helt au
1) V. d Hagen bringt (su S. 860) diese und die folgende Weise vom
Konipr Kiuiolpli mit einer entsprechenden, von Prof. Fisclier beigefügten
Uarmumsiruug. Ich lasse sie hier we^, da jeder mutsikkundigc Leser
diese einftdien Melodien «ehr leicht mit einer angemessenen 6e|^eitnng
amsustatten im Stande sein wird.
2) Ueber ihn s. Hagen JOI. 31 und IV. 718.
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254
Die AnfAnge der europftiscb-abendlftadischen MaBÜc
8i';in-(lfii wol vur sa - pet
tu • gen • den uuvurt • za - get
Der ku-uinc Ro-dulji
3:
m
X
ret Got Wide «l - le wer - de woo-wen, der
ko - ntno Bo • dotp le( eloh di kein ho • en 6 • cen
•oonwen ioh gau ym wol des ym neoh ty-ner mfl-te heil ge-
ecioht
dar mey-eter syn - gen gi - gen saugendes
hört her gerne ande git yn der - amiiie nicht
Die Melodien mQgen im Singen öfter raoh mit mancherlei
dem Geschmaeke des AnsfUlirenden anheimgeitellten Venierungen
ausgeschmückt worden H* in. Bei Gottfried von Strassburg schlägt
Tristan auf der Harfe „Grund- und rasche Wecbselnoten". Unter
erstem dürf cu wohl die gewichtigen Hauptnoten der Liedweise,
unter den andern die cinjreinisehtcn raschen Verzierungen und
Passaj^en der Ausführung zu verstehen sein.
In der Spätzeit des Minnegesauges, im 15. Jahrhundert, haben
bei einem der letaten MinneeSnger, bei Oswald von Wolkenstein,
die Melodien kaum noch etwas von dem recitirenden Ton, es sind
förmliche Liederweuen, die oft eine zarte Innigkeit und dabei ein
gewisses ritterlicli vornehmes Wesen haben*). Ja manche dayon
sind im Codex der Wiener Hofhibliothek sogar sehen zu mehr>
stimmigen contrajmnktischcn Compnsitionen verwebt: eine Form, die
mit der Singweise der früheren Meister gar nichts mehr gemein hat.
1) Bfai sehr sohOaes Zied von ihm bei Forkel, aesoh. d. Mus. Bd. 3
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Minnesmger und Meisieninger.
255
Bemeikenswerth ist eine Sammlnng yon Melodien Nithard*i
in Hagen't Handschzift. Jede dieser Melodien luit ihien Namen,
der wohl noch dem ursprünglichen Texte beigesetzt ist, wenigstens
blicken die bekannten Nithard'schen Schwünkc selbst schon durch
manche dieser Ueber.scluif'ten : ,,die zerreyssen haub, der wild stier,
Neithart im vas, die kruia Nudell'' u. s. w. Vielleicht ist hier die
£rklärung für die ähnlich wunderlich klingenden Namen derMeister-
eingennelodien zu finden. Man nannte sie anfangs nach dem ersten
Texte; dadorch gewSbate man eich jeder Melodie sn bequemer Be-
seidurang einen eigenen Namen ma geben, welcher dann anch frei
erdacht und gewählt werden konnte. Dass der „grüne Ton** und
y,blane Ton** und andere ähnliche nicht nach dem unterlegten Texte
80 heissen konnte, ist wohl zweifellos. Dagegen konnten jene
Kithardnielodien recht gut die Namen „wilde BtierweiS} krumme
Nadelweis" u. s. w. erhalten.
Was nun Werth und Gehalt der Minnesingerweisen betrifft,
80 meint v. d. Hagen, dass darunter „nicht viele sind, welche selbst
durch einepaasende Begleitung ausgeachmflckt und gut vorgetragen
dem jetsigen Ohre und (Jeachmacke susagen.*** Man darf aber nicht
ausser Acht lassen, dass sehr viele von diesen Melodien (um einen
bei anderer Gelegenheit angewendeten, hier aber gans passenden
Ausdruck Göthe's zu entlehnen) „nicht Speise, sondern Gefäss
sind"; ein Gotass bestimmt die Speise d. h, die Wortdichtuug auf-
zunclnnen. »Sicht man nun diese Weisen vom abstrakt musikalischen
Standpunkt an, so werden sie kaum anders als gering und bedeu-
tungslos erscheinen können. Aber selbst von diesem Standpunkte
nuB haben de das Verdienst gegen die achwerftUige Psalmodie der
Meisteningernoch immer völlig schwung- und lebensvoll aunusehen.
Diese Melodik entstand unter gani besonderen Bedingungen au
ganz bestimmtem Zwecke und sie entspricht diesem Zwecke. Je
musikalisch-selbstständiger die Minnesingermelodie auftritt, je mehr
sie sich also dem eigentlichen Lied«- nälicrt, desto mehr gewinnt sie
freilich an Bedeutung und oft auch an Schönheit. Manche religiöse
Lieder der Minnesinger sti lii ti dem Schwünge und der Krall der
alten Sequeuzmelodieu, mit denen sie auch nach Form und Inhalt
grosse Aehnltehkeit haben, keineswegs nach, wie Heinrich*«
von Laufenberg deutsche Bearbeitung und Paraphrasirung des
Salve regina. Seine Melodie ist von hoher, emster Wttrde, schlicht,
treuherzig — es ist :iii/.i( lH'iid sie mit Adam de la Hale's Marienliedo
zu vergleichen. Deutlich klingt auch hier die eigenthUmliche Weise
des deutschen Kirchenliedes heraus.
1) Die ganze Sammlung von Singweisen sehe man bei v. d. Hagen
4. Bd. S. 845—853.
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256 Die Anfänge der eorop&isoh-abendliiidiidien MaaiL
Sslye Ngiiia^) tob Heinrich Tom Lanfuiberg«
Sal
ve re
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3r
22:
Bis }.n ust nia - fjet rci - 110 kuiipriTin bist al - lei - ne
Lc - beu kau si bhu-geu, biiä - kuil us ir trin-geil|
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al - 1er weit ge - mei - ne er - bäraid hat sie nüt clei-
derioh hie wü dn • gen nndhoff - nungiui-aer din-
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1) Das Original in der Strassburger Bibliothek Cod. Job. B. 121 fil. 96 b.
by G()(iQlr
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MiimesiDger aod MeiBteninger.
val - - - - le Ei - a
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257
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Aabrot, GttcbichU der Hulk. LL
17
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258
Die Anfänge der europiÜtoh-abeBdUadiscbou Musik.
0
gib uns dich ze Ion
wol go - b«i wennschon
dal - ob
sei -den
wunn
Ma-ii
4-JO. «►-Ji-i
dich bkieit der sunu o süsser bruun, Mari-a
Der Blütenzeit des Minnnegesangcs war, wie jeder andern
BlUtenzcit, ein Ziel gesetzt, das sie bald genug erreichte. Von den
HitttTii und ritterlichen Sängern ging die Kunst auf die Bürger und
cbrHamen Iliiiidwerker über: der ritterliche Minnesang wurde zum
zunftmässigen kleinbürgerlichen Meistergesänge; aus der blühenden
Kose entwickelte sich die magere, dürre Frucht der Hagebutte.
Das Einbaimen der Kunit, welehe der ron Burg zu Burg, von
Abentener zu Abenteuer neheade ritterliebe Sitnger frei und ftob
getrieben hatte, in die Mauern der StKdto, in die Bande der Zunft,
in die Kreise des BUrgerthums und Pfahlbttrgerthums drückt das
wechselseitige Verhältniss des Ritterthums und der Städte in seiner
Weise sehr bezi ichiu ud aus. Die bürgerlichen Meistersinger selbst
erblickten in den ritterlichen Meistern des Gesanfres ihre Vorfahren,
sich selbst als deren legitime Nachkommen. Sie rühmten sich, dass
„schon in Gegenwart Kaiser Otto's des Ersten und Papst Leo^s des
Achten swölf Heister nnd Dichter ans Tentascbland in Pavia mit
Prob und Comporition berttbmt bestanden, damff ihnen Kaiser
Otto und Bapst Leo Brieff uud Siegel geben nnd sie mit einer
gUldin Cron verehrt, darumb sie singen sollten und solche Kunst
im gantzen römischen Keich Teutscher Nation ausbreiten sollten'*.
Durch soloiie mythische Traditionen suchten die Meistersinger
die Antange ihrer Kunst bis in das 10. .Jahrhundert hinaufzu*
rücken. Jene zwölf Meister sollten die Kunst erfunden haben;
als der Miteste wurde Klinsor oder Klingsohr genannt Urkundlich
erscheinen die Mostersinger im 14. Jahrhundert. Kaiser Karl IV.
gab ihnen 1867 Wappenrecht und Freibrief. Der Hanptsits des
Mebtcrgcsangs war damals Mains, aucli in Frankfurt, Colmar,
AVürzburg, Zwickau und Prag wurde er eifrig betrieben; im nächsten
Jahrhundert erreiclite er in den freien Keichstädten Strassburg, Augs-
bnri; und Nümberg, etwas spater auch in Kegensburg, Ulm und
München H(!iiio Blüte und verbreitete sich im 16. Jahrh. bis an die
1) Diese Weise selieint eine volksthümliche Und>ilduiif/ der kireliliehcn
Melodie des Salve regina, zu der sie sich verhält, \%ie etwa der deut«(;he
Test sam lateinisohem OriginaL
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Mflistanmgor.
359
tmsente Ostgrense Dentachlancb, nach lUhitn, Btoiemuuli, BcUe-
rien und liU nach Danzig hinanf. Nahen Maina wurden Nfimherg,
AngpBburg, Ulm und Strassburg die Städte, deren Meistergesang
im grössten Ansehen stand. In Nürnberg fanden Wettsingen drr
Meistprsinp^or noch nach dem drcissigj übrigen Kriege statt. Christoph
Ilarsdiirfler , der Mitbegründer der Pegnitzschäferei, der es noch
zu hören bekam, vergleicht ihre Art zu singen ,,dem Clioral oder
der Ebräermuäik" ; ja die Zunil erhielt Bich bis iu a Ib. Jahrhundert,
in Strasshnig wnide die Gesellschaft am 34. Novemher 1780 in foier-
Ueher Yenammlnng der letsten sechs Mitgliederi)i die dabei com
letsten Male Gesangvorträge hielten, freiwillig aa%el8st Ein
völliges Ende fand der deutsche Meistergesang Uberhaupt erst 1839,
als die letzten vior Mitglieder der Ulmer Singschule ihre Innungs-
zeichcn, ilire Bücher und ihre Fahne dem dortigen Liederkranze mit
einer förmlichen Urkunde überjjahen. Die Kunstgesetze, hier zugleich
Zunftgesetze, waren in der sogenannten Tabulatur verzeichnet, wo für
j eden genau bezeichneten Fehlerauch eine bestimmte Strafe festgesetzt
war; n ttherwachen, dass die Gesetae von den Singenden aneh ge-
hilrig beobachtet würden, war Bache der unter dem „Merckmeister**
stehenden „Mereker". Der Obermeister, Kronenmeister, der Herck-
meistcr mit seinen Merkem, der Bttchsenmeister (Kassirer) und
Schlüsselineister (Verwalter) bildeten zusammen den Znnftvorstand ;
die Zunftangchfirigen theilten sich in Meister, Dichter, Singer und
bcliultVeunde. Der Meister legitimirte sich durch Eriindung neuer
Gedichte und neuer Melodien, der Dichter sang eigene Gedichte
nach fremden Melodien, der Singer wusste die gangbaren Melodien
auswendig, ohne seihst in etwas als Erfinder anfiratreten, der Schnl-
frennd besass ^ne genügende Kenntniss der Tabnlatm^esetae. Wer
in einem Hanptsingen den Preis davongetragen hatte, durfte Lehr-
linge bilden, welche bei genflgsamer Ausbildung „gefreit**, d. L
1) Ihre Xanien mö^'cn hier eine Stelle finden: Johanii David Gütel,
Schuhmacher, zugleich Obermeister, Joh. Geoi^Bngel, Job, Daniel Fe ye 11 ,
Johann Schenck, Joh.Dan. KressnndLoonardKinck. Charakteristisch
ist ihre Eingabe an den Magistrat, worin sie die Auflösung der Gesellschaft
notificiren: „Die Ursache, w elche Ixelegenheit zur Verordnung und Anwachs
bcmelter (iesellschaft der deutschen Meistei sftnger vor einigen Jahrhunderten
gegeben haben, ist längst erlosohen, und kann sie noch heute
weder der deutsehen Sprach - noch der Dicht - und der T onkunst
einen Zuwachs mehr geben. Die Mei8ter8äu|;er sind in diesem
Stück so weit hersbgesetst, dass man sieh ihrer nur spottet;
auch kann man's nicht eigentlich eine gottesdienstliehe Handlung nemien,
daher sothancGcscllschaft, die in sechstiliedern hestelit, mit Ausnahme eines
einigen, sich entschlosseu aulihrCoustitut Wr/icht /m ihun und ihi-e wenigen
Gefille und Einkünfte Bw. Gnaden Disjiosition anheim zu 8t> llen, mit der
Bitte, düHs soh'he dem neuem und nützlichen Institut der Phüauthropen im
eiesigen Waisenhuus einverleibt werden mOge''. Der eine Meister, der von
hiner Auflösung nichts wissen woUte, war der Glaser Leonard Rinok
17*
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260
Die Anfüge der europäigcb-abendländischen Musik
unter die Meister aufgenommen wurden. Wer die Tabulaturgesetze
noch nicht völlig innehatte, hiess Schüler". Die Mitglieder ins-
gesammt nannten sich „Liebhaber des teutschen Meistergesanges".
Sie betrachteten ihre Verbindung wesentlich als Bewahrung der
Lehre rechten Gesanges. Jede Zusammenkunft hiess Schule und sie
unterschieden gemeine Singüchulen und Festschulcn. Die Abhal-
tang einer loleheii Sehnle oder Zusunmenknnft worde dnreh Offenft-
liehen Ansehlag heksnnt gemeefat: man wolle „eine itffen^ehe chilsi-
Uehe Singschnl*' abhalten, „Gott dem AUinSchtigen sn Lob, Ehr nnd
Preisa, auch su Ausbreitang seines heil, göttlichen Wortea**; daher
wurde erinnert, „es solle auf gemelter Schul nichts gesungen werden,
denn was heyliger göttlicher Schrift gemäss ist, auch verbotten seyn
zu singen alle StraflFer und Reitzer, daraus Uneinigkeit entspringet,
desgleichen alle schandbahre Lieder.*' Dann wurde aucli wohl Zeit
und Ort des abzuhaltenden «Singeus näher bestimmt. Die Schulen
wurden insgemein in den NadiouttagMtnnden einea Sonn- oder
Feiertages gehalten. In Straasburg TerBammelte man sieh in der
sogenannten „Zunftstube mir Lusem" oder ,^eimstube". Ausser
der schriftlichen Ankündigung wurden auch die mit religiösen und
allegorischen Emblemen, Bildnissen berühmter Meistersinger u. s. w.
buntbemalten Schultateln^) ausgehängt als Zeichen des bevorstehen-
den Wettsingeos^}. Im Saale oder der Kirche nahm bei Beginn der
1) Die Strassburger Skshultafeln wurden früher auf der dortigen Bibliothek
gezeigt. Die eine Tafel stellt im Mittelbilde den Pam&ss vor mit Apollo
den Musen und dem Quell Hippokrene, umgeben von den Bildern zwölt be*
nihmter nicht-strassburgischer Meistersinger: „Heinrich von Efi'tenlinjren,
der alt-StoU, ein Panzermacher, der starke Bopp, der Heiner von Zwicken,
Kantzier Aufhngcr von Steyermerok, Herr Wolff ▼on Baehenbach, Herr
Frauenlob von Maynz, Refrcnbogen ein Schmidt, Miglin ein Doctor, Walter
von der Yogelweid, Mamer, ein Edelmann, Cunrad von Wflrtzburg, ein
Geiger**. Neben diesem MittelbOde zeigt der eine Flügel Adam und Bva,
der andere ein Bild des Erlösers oberbub des Erdballs. Die andere Taftl
zeigt im MittelbiUle in wunderlicher Zusanimctistelliing den Orpheus, wie er
die Thiere bezaubert, darüber üott Vater mit dem Lamm der Offenbarung,
den sieben Leuchtern, den vier Thieren Ezeohiel*fl u. s. w. Diese DanteUung
ist im Halbkreise von den Bildern zwOlfStrassburger Meistersinger umgeben :
Peter Pfort (aas Mechterstädt, trat 1591 in die Gesellschaft.), Martin Gimpel,
Friedrich Frommer, Melchior Christophe! (ein Bäcker ans dem Wfirtem*
bergißchen), Älartin Hosch (Schriftgiesser aus Basel), Saulus Fischer, Johann
Beichter (Buchhalter), Veit Fischer (aus Nereslieira, Sclilosser in Strassbur^r),
Hans Müller (gleichfalls Schlosser), Joseph Schnyter, Haus Scliellinger (aus
Durlaeh), Georg Burckhard (Schneider aus Strassborg).
2) Ausfiihrliclieg über den Strassburger Meister^-osan}? in einem unge»
druckten ehemals in Strassburg BorgT<ig auibewaiirten Buche „von der
edlen nnd hoehberilhmten Emst der Mnsika nnd deren Abkunft, Lob, Note
nnd AVirkung, auch wie die Meistersänger auffkhommen, vollkommener
Bericht, zu Dienst und Ehren der löblichen und ehrsamen Gesellschaft der
Heisters&nger in der löblichen freien Reichsstadt Strassburg, bestellt durch
11 Oyriacnm Spangenberg im Jahr Christa 1696^. Sonst sind die
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Mebteninger.
Schule das „Qemeick** die Sitse an der Obentelle em, war es in der
SLirche, vor dem Hochaltar. Aach wer im letzten Singen des eisten
Preis gewonnen, durfte sich in's ( •omerck setsen nnd seine Meinung
Uber die Leistungen abgeben. Wurde ein sogenanntes „Freisingen'*
gohalten, so konnten auch Personen, die nicht zur Sänperzunft ge-
hörten, auftreten; die Wahl der zu behandelnden Stofl'e stand frei,
aher es wurden die Leistun«;en keiner l^enrtlieilung unterzogen und
GS fand keine Preisvertheilung btutt. Beides geschah im ,,liaupt-
singen", wo nur Angehörige dch httren liesaen, ^e Stoffs der Bihel
entlehnt seinmnssten nnd auf jeden Fehler mit nnerhitdicher Strenge
„gemerckt** wurde. Die Vorträge mussten frei, ohne Zuhilfenahme
eines Buches oder sonst etwas S( liriftlichen gehalten werden. I)ie
vier Mercker thcilten sich in ihr Wttchteramt : einer achtete auf die
Reime, der andere auf das Versniass, der dritte auf die Mehtdie,
der vierte hatte die aufgeschlagene Bibel vor sich, damit kein Ver-
stoss gegen die ,,Gesclirifft" vorkomme. Die Mercker schrieben jeden
bemerkten Fehler auf, der dann mit den in der Tabulatur darauf
gesetzten Strafen gehtlsst wurde. Hau konnte 32 Hauptfehler be-
gehen : als „mnndiren" d. h. an hoch oder su tief singen, „falsche
Blumen", Verzierungen, welche eine Melodie unkenntlich machten,
„Vorklang", Ansetzen zum Tone ohne noch ein Texteswort hören
zu lassen, Veränderung der Töne, eigenmftcbtige Aendemngen in
einer fremden Melodie u. s w. Wer ganz aus dem ( Jeleise kam,
von dein sagte nmn: ,,er habe sich versunken'*; wer ,,irre wurde*',
musste aufhüren. Zuletzt wurden die Preise vertheilt, wie es auch
schon die Ankündigung zu versprechen pflegte: ,,wer aus rechter
Kunst das Be^ thut, soll mit dem David- oder Schulkleinod ver-
ehrt werden, nnd der nach ihm mit einem schönen BjrSntzlein.'* Der
Hanptpreis ftlr den, der „am glattesten d. i. ohne Fehler gesungen,
bestand aus dem ,,(ilehenke*' d. i. einer Schnur oder Halskette mit
Medaillen. In Nürnberg hatte Hans Sachs dafJIr ein Medaillon mit
dem Hilde König David's iresjjendet, das war eben jener Davidspreis
oder die Davidskrone. Das ,, schöne Kräntzlein" bestand aus künst-
lichen Blumen; wer es gewann, nahm beim näcbsten Singen die
Gaben und Geschenke der Besuchenden in Empiang. Die Gedichte
hatten ihre bestimmte Form: sie war dreitheilig. Nach dem ersten
und zweiten „Stell** (Strophe), die zusammen ein „GesXtz** bildeten,
folgte mit geXndertem Versmass und anderer Melodie der „Ah-
gesang." Ein ganzes Lied hiess ein „Bar**. Die GesUnge waren
oft sehr umfangreicli, bei Wagenseil werden Strophen von 34 ge-
reimten Zeilen uamhatt gemacht, ja es konnte deren Zahl bis auf
Hauptwerke über den Heittergesangr Joh. Christoph Wagenseirs De
Oermaniae Phonasrorum, von der INfei^^dTsiiifZi r origine, pracfltantia, utili-
tate et institutis lüU7 und ,.(irüadlicher Bericht des deutschen Meister-
geaangeS** von Adam Pnsohmann von Gflriits 1674.
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262
Die Anftnge der eorop&iidi-abendl&iidifloliai Musik.
122 steigen. Breit ansgesponnene Oectichte dieser Art machten eine
eigene Melodik nOthig, sie bequemt sicli dem reeitirenden Ton der
langen Verae nnd RedcsKtzc an und schwankt nnter dieser Fessel
ungeschickt , unschön nnd haltlos auf und ab* UnTOrkennbar ist ihre
Verwandtschaft mit joner Weise dos Minnosnnp'ef;, welche sich mehr
in recitirender als in liodmüssig sin^'ltarer Form bewejjt^); aber es ist
Alles weit schworflilliger, roher, man kann sagen plobojischer ge-
wurden. Wo im Miunesange bei aller Einialt der Meiudieluhrung
eine gewisse Noblesse und ein poetischer Zug dnrehkHngt, ist hier
Alles so nttchtem nnd geisüos wie mOglich. Aueh ein gewisser An-
klang an den Gregorianischen Qesang, an die Psalmodie der Kirehoi
wie die Meister gewohnt waren Sonn- und Feiertags zu hören, tönt
heraus, doch ohne eine Spur der Würde und Kraft, welche dem
Oroj!;orianischen Gesänge eigen sind. Die Meistersinger hatten ihren
Znnltschatz bestimmter Mi'lodien oder Weisen", denen Jeder nach
rJutdilnken sein Toem unterle^M'u konnte, obglcicb dem Meister die
Erfindung eines neuen „Tones" keineswegs verwehrt war. Wurde
die neue Melodie von den Herkem gebilligt, so setzte der Meister,
der sie erdacht, seine Phantasie in Bewegung und gab ihr in Gegen-
wart zweier Ifitmeister als Gevattera einen „ehrlichen nicht Ter>
äcliflichen Namen", welcher insgemein höchst verwunderlich lautete:
da gab es einen rothen Ton, einen blauen Ton, einen Blutton, eine
fr«'scliwänzte Affenweis, eine kurze Affenweis, eine Rosmarinweis,
eine blutglänzende Drahtweis, eine rothe Nussbliitweis, traurige
Semmelweis, spitzige Pfeilweis, Brundelweis, gelbe Lilienweis, gelbe
Veigleiuweis, gestreifte SaffranblUinleinwcis, Fettdachsweis, warme
Winterweis, yerschalkte Fuehsweis, englische Zinnweis, Blarii Lnft-
weis, Beerweis, Adlerweis, hohe goldene Weis, Schidbpapierweis,
spitzige Palmweis, einen gläsernen Halbkrilgeltoh nnd wie diese vom
baroclutenUngeschmack eingegebenen Benennungen sonst lauteten,
zuweilen sogar mit mythologischen Anspielungen: ,,Orphei sehnliche
Klagweis", „Cupidinis Handbogenweis" u. s. w. Die vier Haupt-
melodien hiessen die vier ,, gekrönten Töne" : es waren der lange
Ton Ileinnc-li Miigliu's, Heinrich Frauenlob's, Marner's^ und Barthei
Regenbogen's^).
1) Man Bebe z. B. bei F. H. v. d. Hagen 4. Bd. die erste Melodie der
Jenaer Handschrift und hidte sie mit irgend einem beliebigen Meister-
singerton zusammen.
2) Als sein Vorname wird bald JaLonrad, bald Ludwig angegeben.
8. 1^ d. Hagen 4. Bd. S. 524.
8) Der lange Ton Regenbo^rcn's hatte drei und zwanzig Reime, der
kurze dagepon nur «ielien. Eine Äfeistersinfrerdichtung von 1630 (v, d.
liugen, Minuesiugcr 4. Bd. S. bU4) gedenkt dieser Meister in Ehren:
Anch Doetor Heinrich Franenlob
That seiner Kunst recht freie Prob,
Barthei Regenbogen ein Schmied
Hat auch gedichtet manches Lied
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Meütersinger.
263
Wie die Meistersinger rieh als die legitimen Nachfolger der
Minnesinger» je den MeittogeBang als die unmittelbare Fortsetzung
(los Minnopfpsanges ansahen, so hatten sio ihiUt ilircn AVoisen auch
eine Auswahl, welche sie nach berühmten Minnebingern benannten,
wie die „Hönweis" Wolfram'», den ,,ab*:i's]iity,ten Ton" Conrad's von
"Würtzburg, den „grünen Ton", den ,, Kitterton", den ,, zarten 'i'on",
den „übenarten Ton", die „Zugweis", den „vergessenen Ton",
den „Spicgelton", die „Hagenbltttweise", slbnmtlich nach Hdnrich
Fnmenlob benannt^ WaUher's ,,Kreuston*S Hamer'B „Propheten-
tanz", H. V. Efferding's „überkurzen Ton" und dessen „lange fröh-
liche Morgenweise", Wikram's ,, frischen Ton" und andere mehr^
Haben nun die deutschen Minnesinfrerweiscn auch nicht den an
das Volkslied malmenden leielit-melodisclien Ziip: der französischen
Trouveurnudodien, so sind sie doch unvergleiclilich edler, belebter,
melodiöser als diese von den Meistersingern nach berühmten Minne-
aingem benannten Töne, welehe man vielmehr als echte Handwerk-
prodncte desMeiateisingerthnniB ansnaehen haben wird. Sie machen
ohne Ausnahme dnrchana den Eindmck der achwerlldligBten Pedan-
terie, einer schwnnglosen, geistlosen Recitation, monoton und aller
Schönheit bar.
Im grünen Ton Franenlob'g.
(Berl. Hsndschr. UI. U bei v. d. Hagen 4. Bd. S- 927.
AI • le Bo hie be-trüglich gegen den AUniechtigen Goi
Dann als Qottiendct ti^ch ei-nen Propheten lo-be
vng-hor-sam fun-den wer - den vnd vorachten sei-ne p^e - bot
zu weis-sa-gen be-sun - der wider Xüuig Je-ro-be - am
ha • ben ein scliri^cklichs Exompel
vnd auch den al-tar sn Bethel
— — Und Liidwifr Marner wohlbekannt
Düctor Heinrich Möglin gross Gunst
Erlanget hat durch Singekunst.
1) Der Leser findet diese und andere SanfTweison nach Berliner
Handschriflen der Nürnberger Meistersinger in Friedheb Uciurich von
Hagen's Werke „IBnneiinger^ 4. Thea & 991—986.
8) A.a.O. a "
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264 Die An&nge der enropftiBoh-abendl&ndi&clicn Musik.
-& — <9 — <9-
im er • tten Kfl •nigbnch am drei-se • henden
▼ndge-bot jm erastUdiTorMimlim-wiideii:
(Der Abgeteng.) ■
'das
—
er gar kein Brut vs-seu
vnd auch kein
WaMertrinkea
•olt vnd
auch den rer-meiMD
/Ts
nUdit wieder kmneii
e - ben den er gangen war aber da
^ . ^
er aitih v - ber-re - den liess Ja
» & &
"g — g
vnd Gottes ge - bot tbe-te wi*der^itreben.
Im Spiegelton Fnuienlob's.
(Handachr. HI. 84 v. d. Hagen 4. Baad & 931.)
Weil dieCliristen verfolget hart GaM> ri-a-nnstchnC^er Art
Welchersu Komregieren thet vnd solche weiss stndBGat veratet
& f>j ^
^^r g— J Tin
mit al - 1er -let mar-ter wie man thut le - sen
die*sen eiiri-ftenfeindiimbseinbO»set We-sm
A b g i! s a n g.
/TS
der al-lor-höchste auf solche weiss jn ein bO-se krankhei • te.
Eine Anzahl von Weiten rObite anerkannt von ehnuunen Bfirgeiw
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MeiBteniiiger. S66
Keistenmgem her und wurde neeh ihnen benannt: die Preitweis
Melchior GhristofPe, Borgers nnd Beckers an Stranbnrg, die sarte
Buchstabon weis Martin Hfischer's, SchriftgicBHers in Strassburg, die
hohe fröhliche Lobeweis Uemi Hanss Berchler's, Gastgebers zum
Geist in Strassburg, der Froschton, also benannt nach dem McistiT
Frosch n, h. w. Es hat etwas Rührendes, «lie ehrliche, ungeschickte,
schwerlaustige Bemühung zu sehen, mit welcher diese Handwerker
in ihr hinter dem Ambos, dem Webstuhle oder auf dem •Schuster-
Bchemel in steter Prosa glelehfBrmig hingehendes Leben etwas Poesie
an bringen suchten. Unwiderstehlich komisch wirkt es aber auch,
wenn wir uns den Meister vorstellen, wie er, mit «nem Seitenblick
auf des Merkers aufgeschlagene Bibel, etwa im ,,langen Tone"
Heinrich MUglin's anflKngt:
(W agenseil, De civ. Norimb. commont. S. 554.)
1
Mib 1 i 1 6* * Or» ^
rU-/ d — ; r:, fj <^
^ - ^ ^ — 1-1 — r — — ß — r -r
Qe - ne - aii am neun mtd.zwan-rigBteny uns /«beriebt:
,wie Ja-kob iloh For sein Brn-d^r E-taa entwicht etc.
Dieses pedantisch-vorsichtige Citiren der Bibel zu Anfang des Ge-
sanges war durchaus gewöhnlich: „Matheus schreibt am achten:
ChristiiB drat in dn siäiff"; „im hdligen Matheo klar I am fünf-
lebenden man | lesen kann: wie lOr Christo dar | die schrin^lehrten
dratten fortan"; „am swei nnd Tienigsten beschreibet Esaias fein**;
„in der Oflbnbarung Johannis haben wir [ da leset Ir | an dem
SEwelfilen gar mechtig . ein schönes Bild fürtrechtig** n* s. w. Selbst
bei weltlichen Geschichten nannte der Sänger gern seine Quelle:
(Im „newen thon" Frauenlob's Hdschr. III. 5 v. d. Hagen S. 929.)
Klar that Vinoenoiiu be-rieh - ten,
TOnn BeltEftmett Ge schichten etc.
Es ist natürlich, dass diese breitspurige Prosa jeden Funken von
Poesie, wo ja einer glimmen wollte, erbarmungslos austrat. Im Gänsen
1) Dieser endlose Gesang, die Liebes- und Heiratl^eschichte Jacob's
enthaltend, spinnt sich in den einzelnen „Oes&tsen** nach den vier gc-
IcröntL'ii Tönen ab. Man findet ihn auch bei v. d. Hapfen a. a. O. S.
u. fg., und Forkel theilt in seiner Gesch. d. M. 2. fid. S. 770 daraus den
gekrönten Tou Barihel Begenbogen's mit.
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266
Die Anftnge der etiropftisoh-abendlftndischen Moiik.
war die Kanst der Meistersiiiger ▼on grenzenloser NfichtenüiA
Trotzdem fand sie doch den allgemeinsten ^theil. Znr Genossen-
schaft der Strassburger Meistersinn^er, die vom GrUndungsjahre 1490
Itis 1780, dem Jahre ihrer Autiösung, 780 Mitglieder zählte, gehörten
neben Schustern, Kürschnern u. s. w. auch Professoren, Doctoren,
Pröpste Beamte, Magistratspersonen; Fremde meldeten sich um
die Stellen von Ehrenmitgliedern. Die Strassborger Akten melden:
„am 3. Juni 1597 lietBen sich swSlff Kaoffherm warn Nttmberg,
Mflncben, Ulm und Aagabarg, welcbe sieh in die ehrsame Gesell-
schaft der Meistersängcr allhie begeben, einschreiben." Wohlhabende
Personen setzten Vermächtnisse nnd Legate ans, wie 1646 Gabriel
Brannstein, Mitglied des grossen Raths zu Strasslbnrg, und deesen
(iattin Aurelia \'oltz: ,,l)ieweilon v ir beide testirende Eheleute das
gottHclige Wer( k undUibung des löblichen teutschen Meistergesangs
jederzeit liochgeliebt, dasselbe gleichsam von Jugend auf und
nun Uber 40 Jahre fleissig besucht, so uns als eine schöne
Uibnng Gottes seeligen Worts, Lehre, Trost nnd Ver-
mahnnng an aller Gottseeligkeit, christliehen Tugenden,
Glanben nnd Liebe so reichlich erfüllt, als legiren wir beide
insgemein ermeltem löblichen teutschen Meisteigesang jährlichen ufif
ihre Singselinlen zehn Keiehsthaler" ii. s. w. Jedenfalls bat der
Meistergesang das Verdienst der Musik im deutschen Bürgerliunse
eine Blatte bereitet zu haben. Aus den schönheitslosen Melodien
der Meistersinger war iVcilich nichts zu gewinnen, aber wo man
sich selbst eines so dUrftigen Besitzthums freute, konnte sich unter
gttnstagen UmstXnden auch Besseres einfinden nnd bleibend ein-
bürgern. Die Hausmusik hat wirklich in Devtsehland dne Pflege
gefunden, wie sonst nirgends.
In Frankreich ging die Kunst der Troubadours zu derselben
Zeit wie in Deutschland auch in RiJrgerhlinde Uber. In Toulouse
vereinigten sich 1323 sieben Biir^n r als sept Trobaäors de Tolosa
und veranstalteten durch öflentliclio Ausschreibung 1324 einen
poetischen Wettkampf, wobei ein goldenes Veilchen der Preis war.
Daan kam i^itter aneh eine silberae Bose als Pteis Mt das beste
Sirventes, eine silberne Bingelblume n. s. w. Im 15. Jahrhundert
wurden diese in VerfUl gekommenen WettkKmpfe unter dem Namen
der jeMor/^oraMo: durch Clemence Isanrc, einedichtwngsfronndliche
reiche Bürgerin (die ,,Sappho" von Toulouse), erneuert. Ludwig XIV«
petzte 1G95 der Stiftung die klassische Perrücke auf, indem er sie
zur Aradtmie de jeur floranx unigestaltete. Die Toulouser Blumeu-
spiele haben weder die iVan/.ilsische Poesie noch die französische
Musik wesentlich gefördert. Noch weniger Bedeutung hatte eine
Xhnliche Verbindung von Tonlonser Dichtem, die 1388 unter den
AuBpicien des KiSnigs Johann I. von Aragon an Barcellona entstand.
1) Z. B. Moritz Uberherr, Propst za St. Peter in Strassburg 1597.
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Mcifteniagtf.
267
Im nSidlidieilFnakreieh and den belgischen Landen gestaltete
dcfa die Kunst der Tronbadonn ellmllig so der, wie man sagte, usebr
edeln Kuust und Wissenschaft der Rhetorik" (tres noble aH dteienee
de rhitori^im) nro. Die Vereine der ,,Rh^toriciens*S die sogenannten
„Kammern", s^ denen sie sich in Belgien einigten, sind das Gegen-
bild der deutschen Meistorsäiigerei: auch sie hatten ilire Prciskämpfe,
in Belgien Landjuvcelen iiiul llaagspelen genannt, wobei ihr« Lei-
stungen unter der Controle von Merkern {jli bon entendeour) standen,
wobei aber die belgische SoliditKt auch solidere Preise an Silber^
bechern, DenkmUnaen n. s. w. spendete; anch sie hatten ihre Hierar^
ehie (die HXupter), wo aber yomehmere mtel als In der deutschen
Zunftmeisterschaft tönten (Prince, Kciser, Deken, Hooftman en Fac-
teur); anch sie hatten eine „Oberkammer*', die 1498 zu Mecheln
Philipp der Schöne unter dem Namen „Jesus mit der Biilsam-
hluine'' cmchtete, deren Vorsteher man den ,,s()u\ eraiuen l'rinse''
nannte; und auch hier schlössen sich zahlreiche , Jviiiiiinerltriider" dem
Bunde an, wie denn bei dem Laudjuveele 1561 zu Antwerpen nicht
weniger als 139S Khetoiiker snsammenkamen. Aber wShrend die
dentaehen Meistersinger jenen Zonftschati an Melodien besessen und
Mch nach der SIngeknnst benannten, wendeten sich die franzSrisehen
und belgischen Hhetoriker (wie schon ihr Name, die „Redner**, an-
deutet) entschieden von der Musik, von der Singekunst zur blossen
Kunstpoesie fllr welche aus ihrer Mitte eigene Lehrbücher ent-
standen, wie Matthias Casteleyn's von Antwerpen 1548 gesdiriebene
„Const von rhetoriken'*, oder die ältere „Art de iliHter" (Dichtkunst,
Dictirkunst) des Eubtache Deschanips, Theorien, deren Lehren frei-
lich anmeist auf bigstliche Sylbenaldilerei und Reimhorcherei hinaus-
liefen. Wihrend die deutsche MeistersSngerei gewissermassen die
Uebersetsung der freien ritterlichen Singekunst in das S|Nieasbtli^^
liehe war, hatten die Gesellschaften der Rhetoriker etwas von dem
Exclufiiven specifischer Literatenvereine, etwas das an die späteren
Arcadier in Rom erinnern könnte, hätten nicht die belgischen Kammern
durch öffentliche Auiluhrung von Schauspielen und durch die lustige
Person, den Bot, der bei keiner Kammer fehlen durfte und bei fest-
lichen Aufzügen zu Esel mittrabte, einen dennoch volksthfimlicheren
Zug behalten. Die Rhetoriker verdienen aber trotsdem anch ihre
Stelle in der Gksohichte der Musik, denn gerade dadurch, dass sie
sich so entschieden und ausschliessend der Dichtkunst zuwendeten
und die Musik ungepflegt Hessen, wurde diese in den Niederlanden
in gana mgenthümlicher Weise gefördert und rasch au mner Ausbil-
1) . . . „Die nordlranzösischen Rhetoriker", sagt Ferd. Wolf a. a. O.
S. 137, „bestoebten rieh die Dichtkunst immer mehr von der Sangeskunst
loscntrennen and zur blossen Redekunst zu inacln ii."
2) £ine sehr anziehende Darstellung der belgischen Khetorikerkammem
findsi sich in Leopold von Sscher-Msaoch's Anfitand in Oent S. 28 u. fg.
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268
Die Aafitaige der earopftiBch-abendl&ndischen Mnaik.
dang gebracht, die sie unter Zunftswang ond in einem Zwangsbttnd-
niflse mit der Wortdicbtang nicht oder doch nicht so bald zu errei-
chen ▼eimocht hätte, und durch welche sie rasch die ObeiheciBchaft
Uber die anderen europKischen Länder errang.
Dir Melodien dor doutschen Minne- und Meistersinger hatten
auf die Entwiekehuij; tUn* Kunst gar keinen Einfluss. Die deutschen
Tonmeister des 15. und 16. Jahrhunderts, Heinrich Fink, Thomas
Stoltzer, Görg BlankenmüUer, Heinrich Isaak, Sixt Dietrich, Gregor
Peschin, Stephan Mahn, Laarens Lemblin n. A. griffen ni knnst«
mSssiger Yerarbeitang nicht nach der monotonen Psalmodie der
Meistersitngerweisen, answelchergar nichts zu machen war, sondern
holten die Melodieen aus demnnenchttpflichen Schatze des deutschen
VolksIicde.H*). Der Mcisterg^esanp; war nicht eigentlieli Yolks^esang,
er war vielmehr eine unter dem Ii ärt tasten Zwange stehende Kunst-
])oesi<' und gehörte wesentlicli mit zu dem ehrenwerthen Zopfe, der
den »Städten des heil, römischen Keiches hinten hing. Der Bauers-
mann mit Weib und Kind wollte nun seine ganz eigene nngenirte,
natorwttdisige Mnsik haben, er wollte an der ELirmesse nnd sonst
eins tanzen nnd sieh mit seinen eigenen Liedern die Zeit kttrzen.
F(ir diese Bedürfnisse sorgten zahlreiche Schwfirme fahrender Ma>
sikanten, Pfeifer und ähnliche Leute, welche im Sachsenspiegel als
unehrlich und rechtlos erklärt'^), deren Kinder man als unehrlich ge-
boren ansah nnd daher in keine Zunft aufnahm^), die aber wo sie sich
1) Bemerkenswerth ist es aber doch, dass ausnahmsweise zuweilen
Meistersingerpoemen die Bhre widernhren ist einem konttgerechtea
contrapunktischcn Satzt> Text unterlegt zu werden. Ein solches Stfick
findet sich in den Caiitioues ultra ceutum (Augsburg bei Kriesstein 1540
Ho. LXXIllI), ist von Johannes Frosch componirt und es lautet dessen
erste Strophe sehr erbaulich also:
Wilt du mit gmach ein sach
nach nutz, on schmutz angreiffen, reiflen:
halt rat znvor mit fug
dann wer zur that on rath tmd weyl
mit oyl will tringen — gUngen
muss ihm spat genug.
Dnun langksam schleyas, ncyss, schejSB
nit ab, liab vor gut acht, tracht
wie du fort zum ort wöUest trukeo, ruken,
mit gwaldt baldt wftr ambsnnst gonst, kiinst
nnd sterk, merk ob du nicht mögst weiden
viel zu schwach, uyl gmach
das dn nit kriegest uug(;mach.
Diese bei den Mei.stersangem für eine besondere Kunst geltende Keimspielerei
geht durch alle Strophen. Zum Schlüsse steht, witzig genug, das Bild einer
Schnecke in Holzsclniitt. Die Mehjdie int keine Meisttjrsingerweise, sondern
entweder einem Volksliede entnommen, oder vfui Frosch frei erfonden.
2) Buch I Art. 37. Kilmpfer und deren Kinder, Spielten t nnd alle
die unehrlich geboren seyn, die seyn all rechtlos.
3) Andler, Corpns 252. Con8t.Imperialium. Dagegen veifodht Thomas
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Zonftwesen des Masikantentbuma.
269
idgleii willkommen waren. Diese Knnatvagabimden ^) sorgten dafür,
dass die snr Zeit wenig beachtete Instromentalmasik nicht ausser
Uebuiig kam, sie mussten in der Baiiernschcnke, unter der Linde,
wohl auch auf der Bür^'crhüohzeit oder im Rathhaussaale fiir die
gesammte Bürj^erschaft zum Tanze herzhaft darauf losspielen. Hier
waren es ganz besonders die sc liallNtarkenPfeifen, Pommer, Schwege!,
Zinken u. s. w., welche zur Anw endunp; kamen, und so haben diese
wackem Leute für Technik und Ausbildung insbesondere der Blas-
instrumente redlieh das Ihrige gethan. Für den Banerntana war die
Saekpfeife belieU*). In den StXdten waren es die Btadtpfeifer oder
Knnstpfeifer und Thttrmer, welche, vom Zunftgeiste des Mittelalters
snr Innung verbunden, von dem auf den fahrenden Spielleuten haften-
den Makel frei wurden. Sie liiessen Pfeifernach ihren Instrumenten.
Im älteren Bash'r Todtentauz (nicht dem Holbcin'schen) holt der Tod
auch den Kilbeiipt'eifer, den er liöhuisch fräjjt, was es filr ein ,,Tänzel"
setzen solle. Die Th ärmer, welche kraft ihres hohen Aussichtspunktes
in den unruhigen und kriegeriselienZeiten das Anrücken eines Feindes
dureh Horn- oder Posaanent5ne au signalisizen hatten^, mochten
allmXUg in mttssigen Stunden auf ihrem weittttnenden ^stniment
ganze Liedennelodien blasen Ionen; an Festtagen oder wohl anch
Abends vom Thurm ein frommes Lied über die Stadt hintönen an
lassen srhinn erbaulich, ohnehin diente das ,,Hornplascn" auf einem
Orgelwerk an vielen Orten statt des Glockengeläutes^). Um den kunst-
von Aquino (Summa IL quaeit. 168 art. 3) die Meinung, der Stand der
Histrimien sei, wenn sie ein ehrbares Leben ftthrea, an rieh nmht sflndhaft.
1) Ermenrik von Reichenau (850) sagt: „Tu psaltcrimn arripo, pato
non alicujus mimi ante januam stantis, sea neque Sclavi saltautis.
2) Im Jeu de Kobiu et Marion (um 1270) sagt Bobin, er werde die
Musik sor Hochaeit besorgen: g*irai poor le tabonr et pour la mme am
gratU hmrdon; und Perette, ein Hau< rmsdohen, sohllgt einen Taas Tor:
. . . par amours faisons
la tresque e Robins la menra
a'il veut et Huars imuera
et chil doi autre comeront.
3) Dass dtr Thurm Wärter der Ritterburg vom Thunne herab durch
ein gesungeacä Tuglicd den Morgen ankündigte, zeigt eine Stelle bei
Hermann Ton Fritslar 4178:
der wechter uf der Zinne sas,
siue tageHet er sano,
das im die stimme enisne
von grozem done,
er sanc also schone:
„der tf^^ der schinet in den Sal
wol uf ritter über al,
wnl uf, ez ist tag."
4) Ein solches Homwerk findet sich noch im Kioater Ileiligenkreuz
In UnterOsterreich. Es gibt den C-dnr-Aocord an and ist auf weite
Strecken au hOren.
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270
Die Aufaoge der europftiioh-abendländiBcbeii Musik.
fertigen ThUrmer, der schon kxaft teiner Wohnnng im Domtlmfin
80 SQ segen ein Mann der Kirche und folglich eine Art Respectspenjon
war, Behaarten sich andere Horn- und Pfoifenbläser, Gesellen, die
ihm jene Cliorale an besonders festlichen Tagen vollstiromig^ blasen
halfen, die er bei Tanzmusiken als Meister leitete. So mirden also
die ,,Thiirmer" Hauptrepräsentanten dieser Art von Musik. Die
Kunstmusik hatte in diese naturwüchsige Musikantenpraxis nichts
hineinzureden; dafür nannten die Gelehrten die natürliche Dnr-
skala von 0, deren sieh jene gern bedienten, modw Uueimu^), ob-
gleich Harchettos von Padua teinerseits gans bestimmt eiklirt, et
sei die einzige wirklich natürliche Fortschreitung. Glareaa erwIChnt,
dass ,,die gemeinen Geiger und Pfeifer sechs Tonarten und zwar
Ionisch, Hypoionisch, Lydisch, Hypolydiscli, Mixnlydisch, Hypo-
mixolydisch in v.t moduliren, vier dagejren, nämlich Dorisch, Hypo-
dorisch, Aeolisch und Ilypoäolisch, in iVc" ''^). Engelbert von Admont
bemerkt: „Metrisch ist die Art der Kistrionen, die mau in unserer
Ztii Gantoren (Säuger) nennt nnd die Yor Alten Poeten hiessen,
welche allein nach dem Gebrauche metrische oder rhythmische Ge-
sXnge erfinden, um damit die Sitten an rügen oder sn bilden und
das Gemiith zur Ergötzung oder Trauer zu etilwmeHt Der melodische
Modus gehört den Ljranten und Pfeifern, welche gleichermassen
aus dem blossen Gebrauche tonricbtiire {to)iaIrs) Melodien auf ihren
Leyern, Pfeifen und anderen Instru iiicnti'n c-nmponiren und sich
durch Natiiranlagc und Uebung (j er naturciin et ubutit) der Kunst so
viel als möglich nähern, wie ja auch Aristoteles «agt, dass Viele ohno
Kunst machen was zur Kunst gehört, nnd umgekehrt Viele, was sie
durch Kunst wissen tiiatsXehlich hervonubringen nicht yermSgen*).'*
In Frankreich gab es zahllose Jongleurs, einzeln und in gansen
Banden, welche, ohne im Dienste eines Troubadours oder eines
Vornehmen zu stehen, das Land musicirend und allerlei Gaukeleien,
auch wohl Öcheimenkünste treibend ^)durchaogen. Als in den Städten
1) „Primo«6 per natura atto ad esprimere dsase, bsIU e percib da slooni
e detto modo lascivo (At tmi, Tin tL' del Contrapunto, 1598, S. 74 (bei diesen
späteren Thenrotikoin war der Modus iouicus der erste, d. h. C-dur). Aber
Marchettus von Padua sagt: Est namquü naturalis cantus iUe, qtti in omni
quarta conjtinctione Bonorum semper aiatcssnron habet, nec umquam poteat
nliter naturnlitt r rcperiri. Naturalis euiin ah hoc dicitur oo, quod nattira-
liter vox Immana %n omni quarta voce sive inter quatuor voces Semper
proferrt wmitomum ddeetaSur (Lncid. Tract. VIII cap. 4).
2) Dodccachordon II. 15.
3) De Mus. 1. 3 bei ücrbert, Scriptorcs Bd. 2. S. 289.^
4) Es war nicht immer Garantie g< o^on lose Streiche, wenn die
Musikanten selbst auch in königlichen DieIl^tcIl standen. So heisst es
in der Dichtung Ottackors, wo voti Könip Miinfiid (drin Holienstaufen,
Friedrichs II. iSohu) uud vuu dessen ,,gigaereu'' und „vidleru'' die Rede
ist (Ton d. Hsgea a. a. 0. S. 874):
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Zu nft iieien det Muailnuitonkbmiii. 271.
bessere, dem Landstreichen und L.indstörzen eben nicht geiieij^'te
Leute mit Musik ihr Brot zu verdienen Huchteu, thateu sie sich iu
Dantachland, England vnd Frankreich zu Innungen siiBaminen^dtBren
Üteata in Dentsehlaad die 128B sa Wien gegrttndete Stlfieolai-
bmderachaft war. In der Folge aali sieh dieser Verein der Nieolai-
hrttder, als er in allerlei BedrUngnias gerieth, nach einem mächtigen
weltlichen Schirmherm nm und Mälilte dazu den Erbknnimerer
Herrn Peter von Eberstorff, der das Amt 1354 bis 1376 be-
kleidete und als Vogt der Musikanten" das „oberste Spielprrafenamt"
errichtete, welche eigenthiimlichc Behiirde durcli vier Jahrhunderte
in Wien bestand. Da sich allerlei Missbräuche einschlichen, über-
missig gesteigerte Abgaben gefordert wurden und JnrisdictionB-
aomaaningen nnterliefen, wurde 1777 das Spielgrafenamt auf Befehl
der Kaiterin Maria Theresia ▼öllig tefimnirt und endlieh 1782 von
Kaiser Joseph II. ganz aufgehoben. Eine ähnliche Gerichtsbarkeit
übten in Deutschland in Folge kaiserlicher Belebnung einzelne Stfidto
oder Geschlechter, welche dann zur Beaufsichti^nnc^ und Leitung
der ganzen Pfeiferzuntl eigene ,,Vicario8" oder ,,L()cumtcnente8" be-
stellten, die man insgemein „Pfeifferkönige" nannte So ist ur-
kundlich Uberliefert, dass Bruno Herr von Kappoltzstein(Kappoltsteiu)
„daa kunigreieh rarender Lfite awischen hagenawer ▼orsto und der
Byrse, dem Ryne nnd der Virst Heintsmann Gerwer dem Piiffer**
yerlieh. Als Heintzmann in Alter nnd Krankheit seine kSnigliehe
Würde nicht länger behalten mochte, verliehen Schmassmann und
Ulrich,Herren zuRappoltstein, kraft des denselben Herren zuRappolt-
stein, ,,al8 lange das, was nieinant verdenket, zu einem rechten erbe
leben" gegebenen Rechtes die Stelle d<'s Pfeiferkönigs dem ,,Pfirti'r
und varenden manne" Henselin. Die darüber ausgestellte Urkunde
ist vom Jahre 1400 datirt. Der Pfeiferkönig war Meister der Zunft,
ihm lag ob an sorgen, „dass kein spielmaun, der sei ein pfiffer,
tmmmenaehlllger, geiger, «nekhenblXser oder was der oder was die
aonaten für spiel und khurliweil treiben Idiennen, weder in StStten,
. . . Bold ich ir namen vAreo,
Die noch vidier hiezen
Das möht inch wol v«rdriesen
Ir was öt m6r dun genuok
Uni triben solbeu uuvuok
Das im die stete worden gram,
Dft von er grozen Schaden num "
1) Gottfried von Vipfnois erzählt, dass zu Beaucaire 1175, als Heinrich II.
von England eine Vorpanimluugdahinberufen hatte, umdeu Frieden /.wischen
Aragon und Toulouse zu vermitteki, neben andern Gunstbezeigun^ren gegen
die anwepotidt ii Trniibiidours und . Jongleurs auch ein gewisser Wilhelm
Mita zum iv.unig huper histriouea ttuivereoB gekrönt wurden sollte, wozu die
Orftfin von ürgel eine Krone im Wertibe von 40000 Sols spendete (Dietz,
Leben und Werke der Troubadours S. 397). Das hatte aber nur die Bedeu-
tung einer persönlichen Auueichnuug für den Gekrönten.
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^72 Anlange der europäisch -abendländischen Miuik.
Dörfern oder Fleckchen, auch gonst ta offenen DeniMn, geeell-
sclVafilen, gemdnscheflften, schiessen oder anderen khnrliweUen nit
soll «zugelassen oder ^dnltet werden, er seye dann zuvor in die
bruderscliaft uff- und angenommen." Die Statuten der Pfeifer im
Ober- und UnterelsasH (die eben unter den Grafen von Rappoltstcin
standen) wetzten fest, dass zum Ausüben der Musik in Dörfern ein
Jahr, iu ötädien zwei Jahre Lehrzeit nöthig waren. Unbefugtes
Mnsieiren wurde mit einer Oeldbnsse und Confieeation dee Initrn«
mentes gestraft. Am 16. MSrs 1606 erneuerte Graf Eberhard yon
Bappoltstein, der als „Geigerkönig" (wie der Titel lautete) belebnt
war, die Statuten. Der ,, Pfeiferkönig" war nur der Stellvertreter
des Geigenkönigs and folglich eine untergeordnete Person. Die
Könige hielten sogar jährlich einen sogenannten „Pfeiffertag", an
dem sie nebst einem Schultheiss, vier Meistern, zwölf Beisitzern
(Zwölfern) und einem ,,Weybel" Über Streitigkeiten, Unbill und Un-
gebühr nach Recht Urtheil sprachen. Im untern Elsass versammelte
üeli das Pfeifergerieht jSLrlicli am 15. Augaat zu Blsekweller: oft
an 300 Zonftgenossen kamen, ein Jeder mit einer silbernen Medaille
geeiert, im Zunfthause „zum Löwen" zusammen. Man haidigte dort
dem Geigerkönig, doch nur in die Hände des ,,mit dem Ambacht
des Kunigreichs varender Leute" betrauten Pfeiferkönigs und zahlte
den jährlichen Beitrag in die Zunftladc ein, nahm neue Mitglieder
auf u. 8. w. Daun wurden Händel geschlichtet, das Pfeifergericht
verllängte unter Umständen Geldstrafen bis zu 100 Gulden. Wer
sich beschwert erachtete, konnte an den Oberherm appelliren. Die
aShe Lebenskraft alles Zunftwesens, die den Meistersingern ihre
Ezistena bis auf unsere Tage fristete, bewihrte sieh aneh bei der
Pfiuferzanft, noch 1838 lebte zu Strassburg hochbetagt das letite
Zunftmitglied, der Violinist und Orchesterdirektor Frans Lorena
Ghappuy^).
In England gab es, wie wir aus einem von Johann von Gaunt
im Schlosse zu Tutbury am 22. Augiist 1381 ausgestellten Freibriefe
erfahren, ebenfalls Musikantenkuuige. In dieser Urkunde wird dem
Könige der Minstrels das Recht ertheilt, alle Minstreis greifen und Tet<-
haften su lassen, „welche sich weigern sollten die ihnen zu Tutbury
alle Jahre am Tage der ffimmelfidirt IbriX zukommenden Diensie
(Service and mimtrdsy) zu leisten." An diesem Tage (16. August)
wurde nämlich in Tutbuiy über die Musikanten Gericht gehalten
und dabei der König mit seinen ihm beigegebenen Beamten gewählt,
denn diese Würden dauerten immer nur ein Jahr. Die Musiker ver-
sammelten sich im Hause des ,,Bailiff of the manor" und zogen dann
feierlich in die Kirche, wobei der König, dessen Würde mit dem
Tage endete, zwischen dem „BailifP* und „Steward** ging. Naeh
1) Yeigi allgem. Leipz. Mos. Zsitong, Jshigang 1S88 8. 753. 768.
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Zanliwe8€n des Musikanienihums.
273
dem Gottesdienste wurde im Saale des Schlosses der Gerichtstag mit
Geschworenen pohalteu, welche letzteren aus ihrer Mitte den König
für das nächste Jahr wählten. Scifort hielt <ler Steward eine An-
sprache, deren Inhalt im Wesentlichen an Würde und Voi trcftiichkeit
der lustrumentalmusik eriuuerte, au ihr ehrwürdiges Alter, ihre Macht
Uber die Gemilther, ihren Bentf Gottes Lob ra yerkttnden, und
welche mit der Ermahnung schloM, Ehrbarkeit und guten Ruf su
bewahren. Dann wurden Streitigkeiten geschlichtet, Geldstrafen
vwrhän^'^t n. s. w.^) Zu Beverley in Yorkshire bildeten die Miiistrels
von Altcrsher eine eigene Brüderschaft^). Bei so strenger Zucht
wurden die Musikanten und IMVifer meistens auch ganz ehrhare
Leute, die sich auch durch Kunstierti;:keit auszuzeichnen suchten.
Die Limburger Chronik berichtet zun» .Jahre 1360: ,,auch liat es sich
also verwandelt mit dem pfeyfienspicl und hatten aufgestigen in der
Muüea, das die nicht also gut war bishero, als nun angangen ist,
dann wer yor fünf oder sechs Jahren ein guter pfeyiTer war im Lande,
der dauchte jhn jtxund ein slichten." Aber der Familienzag, dass
die Instrumentalmusiker von Jongleurs und Landstreichern ab-
stammten, verlor sich doch nicht so ganz und blieb noch tief in's
16. Jahrhundert hinein keiiiitlirh, Virgil Hang sagt in der Vorrede
seiner Erotemata ( 1545) oliiic Weiteres: Instrumentalist und Parasit
und Öchalksnarr sei so ziemlich ein und dasselbe^)-
In Frankreich bildete sich 1330 die Confrerie de S. Julien des
menestrien. Bekanntlich hatte jede Brflderschaft ihren König, sogar
die Bettler ihren roi Fäaud, an dessen Hofe, nach dem Spriehworte,
Jedermann den Herrn qiielte. Die Minstreis unterwarfen sich denn
auch ihrem Roy des menesfriers (rex mimsteUrum bei du Gange),
spÄter roi de Violonft genannt. S('lif)ii 1295 war unter lMiili]»j> dem
Schönen ein gewisser Jean ("liarmillon durch einen königlichen
Brief zum Vorsteher der ^rnnzen Musikantenzunft ernannt. Ein snldior
Geigerköuig dug ijüiuc .Mandate hochtönend genug au, wie z. B. iiu
1) Hawkins, SBst. of M. 8. Bd. 8. 64 u. fjor.
2) History ofdomestio mannen and Sentiracnt s in England. By Thomas
"Wriixlit E«<|. 8. 192. Diese BrOdersehaft ..was of eome conpidoration and
wealth lu thc reig^ of Henry VI; when the church ä. Marj n in tliat Iowa was
built, fbr the minsirels gave a pillar to it on the capital of w liich a band of
minstrelswoTCSCulptured." Siestt-lu inhrerfüuf, gut gekleidet, nt heneinander
und musizireu auf einer Lan^tiötu, Laute, einer rieseuhafteu BassÜöte, Geige
und (der letzte) auf einer Pfeife und Trommel. Ihre Beamten waren ean Alder-
man und zwei Stewards oder Soers (d. i. Searchers). In ihren Gesetzen (a
copy of laws of the time of Philip and Mary) heisst es unter anderm: „no
mvlner, shepherd, or of other instrument, shall sue (follow) auy weddiuK, or
otlier ihing that pertaineth to the seid scienoe, eaoq>t in hie own panth."
3) . . . ineptaloB quoadam cantores, magna vero ex parte WM^ri^mptN
tario» saepe stipis unius causa, sese non hiigus artis tantum soiolos, sed
et narasitos potiua ac ludiones et, qnod toipius est, etism morionss quasi
ezmbsm (Virg. Hang, Erotem. mna.)
Ambret, «tMhMils dM MtNllL II. 18
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374 Die Anfibig» der europaiech-abeadUndiichen Musik.
.Jjiliro 1338: „Je, Robert Caveron, Roy des menestreuls du royaunie
de France." Von der weiteren Reihenfolge dieser Regenten wissen
wir nur, dass 1630 die Krone an dnen gewissen Dnmanoir I. kam,
welchem ein Dnmanoir II. folgte, dessen Regierung eine Epoche
heftiger Unrulicn wurde^). Endlich machte ein königliches Dekret
vom 31. März dem ganzen Kniiiirthum der Geiger ein Ende, da es
damit noch weniger su bedeuten hatte als mit dem Reiche des Königs
1) Dieser Wilhelm Damanoir II. hatte den Einfall eino vom 1<>. Juni
1693 datirie Sentence de Police zu erwirkeu^ wonach alle Orj^elniei^teri Cla-
viermeister n. s. w. gehalten sem tollten sich m die ConfMrie einzukaufen. In
Folge dessen entstand zwischen dem freien Künstlerthume und dem frezünfte»
ten Knnsthandwerkr f'rt'ilich ein Ix'ftijjer ConHikt, btn welchem Könij^Duma-
noir iL, der Selbstherrscher aller Musiker werden wollte, sehr energisch auf
die Wahrheit aufmerksam gemacht wurde, das« sich Zeiten, Sitten und An-
gichten seit dem 14. Säculum etwas gciliidcrt. Franz Couperin, der treffliche
Orgel- und Clavierspieler, anpellirte mit mehren Kunstgenoasen, Nivera,
le B^gfue n. «. w., firefi^en den PoliseibefeU. Dumanoir replidrte, „dass
selbst der grosse Lully „ayant (5t<5 violon de la prande bände du roy" sich
habe fügen müssen. Mit uichten, duplizirtcn die Künstler, der grosse Lully
habe vielmehr die Confri-res für „maistres aliborons" und „maistres ignu-
rants" erkl&rt, er hshe seine Kunst bei den Sieurs Metru und Roberdet und
Ciiga'ilt, Organisten von Si. Nicolas des Champs. erlernt u. s. w. Ein Sj)rui-h
des i'ariameuta, vom 7. Mai 1695 entschied endlich den Streit in einer
Weise, die, wie es soheint^ Dumanoir II. bewog, der Krone noch in dem-
selben Jahre zu entsagen und vom Throne zu steigen, der jetzt bis zum
Jahre 1741 erledigt blieb. Die Coufrerie gab aber ihre einmal angeregten
Interessen nicht so leicht auf Ludwig XlV. brauchte Geld zur Fflhrong
des spanischen SuccesHionskrieges. Die Confn-rie von St. Julien erbot sich
2"2()<)(> Fnvncs für das Recht zu zahlen, alle Musikmei.ster ihrer Jurisdiction
uuLerweilen zu dürfen (de soumettre ä sa Jurisdiction les maltres de clave-
ein, de dessus et hasse de viele, de theorbe, de luth, de guitarc et de flftte
allemande). Die angebotene Summe war nuid, durch ein Patent (lettres-
patentes) vum ö. April 1707 wurde allen Musikern bei Strai'e von vier-
hundert layrec untersagt Muriklektionen sn Hause oder in der Stadt su
geben, che sie sich nicht als Tanziii rister (maitres Ä danser) in die Con-
trerie eingekauft. Natürlich protestirteu die Künstler auf dos energischeste,
80 dass das Patent zurückgenommen und mit einem anderen Patent vom
25. Juni den Musiklehrem und Musikern das Recht der freien Ausübung
ihrer Kunst gesichert wurde. Von einer Zurückstellung der 22000 Franc
war weiter keine Rede, man bestätigte dafür der Confrörie ihre bisherigen
Beohte, die ohnehin kein Mensch angefochten halle. Trots all* dieser unan-
genehmen Erfahrungen Hess es sich der letzte Gcigerk^^nig, der den orainf^sen
Kamen Guignon führte und wenigstens das Verdienst hatte wirklich ein
ausgezeichneter Geiger zu sein, nachdem er durch ein Dekret Ludwigs XV.
vom 15. Juni 1741 in seiner Würde bestätigt worden war, einfallen, die
Musiker Frankreichs als Unterthanen behandeln zu wollen, und liess 1747
in diesem Sinne ein neues Reglement ausgehen. Die Pariser Organisten
Daquin, Calviöres, ArmandJiOuis Couperin, beide Forqueray, beide Cleram-
b;\iilt und Marchand empörten sich gegen diese Anniassung und Guignon
wurde durch einen Parlamentaspmch vom 30. Mai 1750 in die gebührenden
Grenzen gewiesen. Die erlittene Niederiage benahm dem KOmga Guignon
alle Lust zu weiteren ähnlichen Versuchen, indessen führte er das Regiment
bis zum 3. Februar 1773, wo auch er wie sein königlioher Vorgänger Duma-
noir II. resiguirte.
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DttVolkdiid.
275
Pötaud. Die MitgHc 1er der Pariser 0'>nfr(^rie hiesscii anfangs Coin-
paguona Jongleurs, Meaostrierd, spStor nach einer von Karl VI. im
Jahre 1401 bettfttigtea Neugestaltung der Gesellschaft memiMs,
jmmm d^imtf%mM$ taut koMi p^t bas. Die Gesellschaft bewohnte
die nie de St Julien des menestriers, ganz nach Art der Innungen,
die ganie Gassen einnahmen, wie die Tuch machorgas gen, Tischler-
gassen, Eisensassen u. 8, w. unserer altcu Städte bis heut in Erin-
nerung^ haltpii. Wer Eisenwaareii benothigto, f^in^ in die nie de la
forronorie, und wer zu einer Hocli/eit oder sonst Mu^ik nötliij^ hatte,
machte seine Bestellungen in der rue Öt. Julien. Das Portal der dort
befindliehen Kirche St. Julian der Minstreis {St JiUieu des menetriers)
Uess ein gewisser Colin Mnset, der sich vom Anfachen Jongleur in
einem Hanne von Ansehen and Vermögen emporgearbe itet hatte, mit
Statuen aussehmUcken. Eine davon, eine geigenspielen de Figur in
Talar und Barett, gilt für sein eigenes Bild^).
Bas VolksUsd und die Mualk der gelatUohen Bohanspiel«.
Das Volk san^ seine eij^enen Lieder. Die kunstlosen Worte
der Dichtung, oft naiv uiul licr/lich, oft schalkhaft, znw»'ilen derb,
wurden wohl einer gangbj^ren Kuubtpt'eiiermelodie untergelegt, oder
es wurde umgekehrt eine neue beUehte Melodie von den Kunst-
pfeifem in ihr Kepertoir au^nommen, wie die Limburger Chronik
snm Jahre 1351 berichtet, wo man in Deutsehland ein Lied sang:
„das war gemein zu pfeiffen und in trommeten und zu allen Freuden."
Dieselbe Limhurger Chronik erzShlt zum Jahre 1374 von einem mit
dem Aussatze behafteten Barrdssennönch, der vi<'le Lieder eidadito
„und was er sang, das sungen die Leute alle gern, und alle Meister
pfiffen und andere Spielleut fürten den Gesang und das CM-dicht."
Es klingt rührend, wenn wir die Worte des Unglücklichen hüreu:
Mai, Mai, Mai,
Du wonnigliche Zeit
Menniglieher Freu.lf ^reit
Ohne mir, wer meinte das?
oder:
Mau weist mich Armen vor die Thflr
Untreu ich spflr
Zu allen Zeiten.
1) Bei Jubinal sind Verse oitirt, in denen sich Colin Mußtet über
einen Vornehmen beklagt:
Sire quens, j'ai vielö
Devant yos en vostre ostel
Si ne m'avez riens ddim^
Ufe me gages acquiter.
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276
Di« AnfiUige der eim)pÜSGh>ab6ndli]idiiobeii Muik.
Die Limburger Chronik meint : „und was das alles lustiglich zu hören.**
Vom VolksUede weiss man nicht immer, wie hier, sn sagen, woher
es gekommen sd. Es gleicht der Feldblome, die am Morgen in stiller
Lieblichkeit, in anmuthiger Einfalt aufgeblüht dasteht, und niemand
webs zu sapon, wer sie gepflanzt hat. Zuweilen ist es wohl irgend ein
fahrender Geiger oder Pfeifer, ein Ilanrlwerksbursch, ein Soldat u. s.w.,
der eine neue Weise erdenkt; was er erdacht hat wird nachgesungen,
dabei aber macht sich das Volk einzelne Wendungen des Textes der
Melodie mundgerecht nach seiner Art uud seinem Geschmacke, das
game Volk eomponirt daran, bis sich endlich ^e bestimmte Grestalt
des neuen Oesanges feststellt, die dann freilich auch Jahrhunderte lang
eine unyerwUstliche Lebenskraft zeigen kann. Der Charakter eines
Volkes drückt sich daher auch kaom irgendwo so deuUich (uud meist
so anspreoliend) aus als in seinen Liedern^). Aus manchen Liedern
dagegen, wie aus dem „Praesulem sanctissimum veneremur", guckt
echter Mönchshumor heraus; wir dürfen sie als Klosterproducto
gelten lassen, tolle Seq^ueozen bacchischer Art^). Das Volk lachte
und sang sie nach.
In der Geschichte der earopEisch-abendlXndisehen
Masik ist das Volkslied ▼on hSchster Wichtigkeit, es
bildet neben dem Gregorianischen Gesänge die iweite
Hauptmacht'). Es war der unersehttpfUche Hort, dem
1) Sehr Wahres sagt über diesen Punkt August Reisnnann in seinem
Bache: Das dentaohe Lied in seiner histohMhen Entwidnlnng 8. 87.
9) Aach sogar die Melodie:
(Ans Forster'B „das andern theyls vilor kurtzweiliii^cr frisoher Teatscber
Liedlein o. a. w. Nürnberg MDLXV.)
Prae • sn - lern sano-tis • si - mum Te-no*re • •> - mar
Dieser solennen Intonation schliesst sich an: „Gaadeamus, wöUen wir
nach Gras f^nn, Hollcrey o, so singen yns die TÖgelein o. s. w.^ Dagegen
hftiifrt Ii' ^tcistff im Quodlibet (No. 90 der geistl. und weltl. teutschen
Gesäuge ir)»U)) das Lied an: „so trinken wir alle diesen wein mit sthalle".
Eine kecku Parodie des Ritual j,'esanges ist das „vitrum nostrum gloriosum''
bei Forster a. a. 0. No. LV
3) Viel zu wenipr ist dii-s«« Wahrheit bisher benlrksichtigt worden. Die
Geschichte der Musik war bisher zu sehr eiue ,Xle8chichte der coutrapuncti-
eohen Polyphonie**. Mnm nicht, wer s. B. bei Kieseweiter Belehmng sacht,
des Glaubens werden, als habe vor IGOO gar keine Melodie existirt? Daas
italienische Geschmäckler, wie Arteaga, den Volksgesanf? tief verachteten,
ist ganz natürlich; auch in Frankreich hat die officielle mit Boileau's
Perrücke gekrönte Aesthetik nie viel Sinn für dergleichen gehabt. Andere
ist es (jetzt wenigstens) in Deutschland, wo Herder mit seinen ^Stimmeu
der Völker", wo des „Knaben Wunderhoru" u. s. w. bewiesen hat, dass
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I)aa Volkslied.
277
die grOsMBten Meister des Tonsatzes die Melodien ent-
nahmen, welche sie nicht blos weltlich zu kunstvollen
mehrstimmigen Liedern umbildeten, sondern auf wflche
sie selbst geistliche Tonstücke der grossesten und
ernstesten Art, ganze Messen u. s. w. aufbaneten. Es ist be-
kannt, dass vom letzten Viertel des 14. Jahrhunderts anfangend bis
in dai 17. Jalirlinndert hinein jede Hesse (die wenigen ^fMiesae tine
wmM* als seltene Ansnahmen abgereclinet) einen eigenen Namen
nach dem sn Grande gelegten Motiv hatte, wobei die writlichen
Liedern entnommenen Titel ebenso häufig sind alB die von Anti-
pkonen oder Hymnen herrührenden. Was die grossen Meister dazu
bewog, war nicht Armuth an Erfindunj^skraft. Der Umstand, dass
siel» in den Anlangen der Harmonie (dem Organum, dem späteren
D^^chant) die zweite Stimme immer einem gegebenen Gesänge, einer
ritualmässigen Melodie der ersten Stimme gesellte, hatte daran ge-
wOhntdaaGnindmotiv, den „Tenor", dnes mehrstimmigen Tonsaties
immer als einen dem Componisten gegebenen An8gang»>nnd Anhalts-
punkt ansusehen, welchen er bald einem Yolksliede, bald einer Anti-
phone n. 8. w. entnahm. Für die Tonsetzer war, wenn sie ein
Lied u. 8. w. unverändert als Tenor verwendeten und es in ein kunst-
reiches Stimmengeflecht einwoben, dieses fremde Motiv nicht Mehr,
als was für das Gyps- oder Thonmodell des Bildhauers das innere,
den Kern bildende Holzgerüstc Lbt, welches hinter der darüber ge-
formten Götter- oder Heldengestalt versteekt bleibt, ob es gleich das
Ganse nisammenhlQt. Wo aber das HotiT anch in den anderen
Stimmen sn Tage trat, den Tonsats in thematischer Arbeit beherrsdite,
da nahmen es die Heuter so unbefangen, wie der Prediger den Text,
über den er predigen will, der Bibel entnimmt, wie der Künstler sich
das freistehende Naturprodukt zueignet, um durch sein Zuthnn dar^
aus etwas ganz Neues, Eigenes zu schaffen.
Das Volkslied geht von Mund zu Mund und strömt im Gesänge
hin ; das Volk selbst denkt nicht daran seine Lieblingsweisen in Noten-
seichen sn fiziren. Aber sn allen Zeiten haben sieh Sammler nnd
Anfiieichner daftlr gefunden. Zu den tttesten Anfeeichnungen dieser
Art gehttren deutsche Volksliederweisen, welche dem munkalischen
Lehrcompendium doi H. de Zeelandia (erste Hälfte des 15. Jahr>
hunderte) in der Prager UniTersitätsbibliotheki^) beigegeben sind:
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4tr iagtnt mm p^ken m
Poesie Poesie bleibt, auch wenn sie nicht von einem von Pfalzgrafenband
ereirten und gekrönten .kaiseriioben Poeten** herrnfart.
1) Sign. XL B. 9.
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278 Di« Anfänge der europ&iBch-abeodUndischen Musik.
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Bas Volkslied.
Her Connl lasseBt vweni gagken Bln.
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Scheidea wie yorwisitn ntoli so gar.
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ddO iMe Anflbige dar eoropAiMh-ftbendlindifclMii I^Mik
Tor aller Welt.
ü
Aus derselben Zeit stammt ein Liod in einem Codex aus dem
Stirt(> St. BlMien, der sich jetzt in der Bibliothek su Oarlsruhe
bedudet:
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ün*liift det diob grüsaen, din Hb und ooh diu gnL
Wü-tii mir ge -&l-lea ker mir den m-kea hl
Kunweil kuist mir bil - mh, Ter-tret-ben frOd and mnt, mit dem
i
glimpf den dn «ol «eiii dn frentt miek de • kb-ten el - ler^
r r r
meist die Zn • knnft bringt mir lib nnd le • ben.
Alle diese Melodien sind altdeutsch treuherzig und dnhei etwas
ungeschlacht; die Züge aber, welche das deutsche Volks lied bis auf
die neueste Zeit behalten hat, sind darin nicht zu verkenn en, wie
man im Bttdniss des IXngst begrabenen Abnkwm den FamiUensng
seiner noeh lebenden Umrenkel heransfinden mag. Verwandte
Melodien nun derselben Zeit enthält der Codex No. 2856, und die
Liederhaudschrift aus Lambach CSod« No. 4696, beide in der Wiener
Üof bibliothek n. a.
1) Im Original sind die Noten alle ohne Unterschied rautenfö rmigeSemi-
breren. Aber die Zu8ammcnhultiui<jr mit der natürlichen Decla matten des
Textes (bei Volksliedern entsclieidi-ml ! i lehrt zweifellos, dass die Noten un-
möglicbaUegleichlanggesttugeu werden konnten, und dass sich der Schreiberi
d«r die Melodie anftebite. danraf Terliess, der Sftnger werde die reditai
Quantitäten nach jener uniehlbarenRidhtsdinur zu finden wissen, üeber den
Codex N. 285<) sehe man Hoffmaun's von FalI<'rsle)H'n ..Verzoichniss der alt-
deutschen Huudächiiiieu der k. k. Xlofüiühothck m Wien", S. 243 u. 8. w.
I
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Bm VdUnUed.
S81
Eine grosse Zahl deatseher, körnigeri aber schon weit feiner
belebter, winaeror, herdicher Volkslieder, welehe in der Zeit
Bwischen etwa 1480 und 1550 eben beliebt waven, ist in den tlleh-
tigen, konstieiehen Bearbotongen derselben dnrdi die Meister der
damiülgen Schule deutscher Tonsetzer erhalten, zu welcher MKnner
zählten wie Heinrich Finck, Stephan Malm, Lorenz Lomlin, Hein-
rich Isaak und andere. Neben solchen Meistern waren auch die
LantenisttMi bedacht tür ihr Publicum beliebte Volksweisen in
Lautentabulatur zu bringen, und die Organisten dergleichen auf
ihrem grussartigen Instrumente zu allgemeiner Belustigung uud Er-
bauung hören au lassen. Wir haben das Volkslied Torhin eine
Wiesen- und Waldblume genannt, hier wurde nun die Wiesenblume
in den Kunstgarteu der höheren Musik verpflanzt : sie entfaltete sich
hier zu Bifiten Ton oft wunderbarer Pracht und Fülle, aber oft
entartete sie auch zu einem wunderlich gefüllten und iiberrdllten
Gewächse. Zuweilen gesellte sicli der beibehaltenen Melodie eben nur
eine zweite Stimme, wie in der zweistimmigen Bearbeitung des be-
liebten Volksliedes ,,ach Elslein, liebes Elslein*' von einem ungenann-
ten Meister j ener Schule, wo der in geradem Takte gesetiten sentimen-
talen Volksweise eine bewegtere in ungeradem Takt (welehe selbst
wieder nichts als die rhythmische Umgestaltung der andern, und, nach
einer Composition L. Benfl's zu schlicssen, die eigentliche Urmelodie
ist), mit wirklich grosser Oeschicklichkeit entgegengestellt wird:
(Bicbia gallica, Istlna et germanica et quaedam fugae. Tomi dno. Vite-
bergae, apnd Oemg. Bhaw. 1546. IL Tbl. No. XdX.)
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Ach Els-lein lie-bes Eis -lein — wie gern wlre ich
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beidir,sosein swei tie > fe was
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-ehr
^ lein liebstes £1 • se • lein wie gern wir
wohl swi • sehen dirund
mir
ich bei
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hie Anfänge der europäisch -abendländischen Musik.
zwei
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tie - fe was
ser
wohl
sem swei Ue
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WM
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cwiadhen dir
und Bur
1
I
ser iralü iwi • «ihm dir nnd mir
Gerade diese in ihrer Einfachheit ioaiiBpreeheiide Melodie^) ^bt »bor
ein Beispiel, wie die Volksweisen wohl auch ganz willkürlich umge-
modelt wurden. Der Lautenist TTans Judenkunig von Schwäbisch-
Gmüud hat in sein 1523 zu Wien gedrucktes Lantenbuch auch das
„liebe Elslein" aufgenommen, man sehe selbst, in welcher Gestalt:
Elslein, liebes Elslein. (Hans Judenkunig, Lautenstack.)
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1) Auch bei Becker (Lieder und Weisen vergangener Jahrhunderte
2. Abth. S. 8, nacli Hans Ncwsiedlcr Ijautcnbuch). Eine schöne Bearbeitung
(nAeb der Fassung im ungeraden Takt), von Ludwig Senfl in „Der erst
teil: Hundert vnd ainiindsweinzig newe iieder, Ton bertmkten dMaer knut
geaetst, lut^ ga Bingen, vnd anfF ailerkj Xnatromeni dienrtlich, Twmals
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Bm Volkslied.
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ffier ift die ursprüngliche Melodie kaum noch herauszuhören. In
Khnliek blnkelBSngerhaft fSlpiseher Weise macht der ehrliche Hans
noch ▼enehiedeiie andere (auch anderweitig ▼orkommende) Volks-
lieder zurecht: f^nag ich Unglück nit widerstehn", „wo sol ich mich
hinkeren (ich tammes BrUderlein)" f,wo! kuTnbtder mai*', „ich bin ihr
lang zeit hold gewesen", ,,nerri8ch sein ist mein manier" u. s. w. Wenn
der Lautenist bedacht war das Volkslied für seine Laute handgerecht
zuzustutzen, so war der Organist bemüht ihm etwas Gelehrsamkeit
und einigen Contrapunkt beizubringen, es zu figurimi, /u fugiren
und sonst ma niisshandehi. Wer möchte i. B. in folgendem Orgel-
sata ans Ammeibach*s Tahnlatiirbneh noch eine Volksweise, das Lied
„ich armes Megdlein klag mieh sehr**i), wieder erkennen?
Ich armes Megdlein klag mich sehr. Orgelst flck von S. Ammerbaeh.
dergleichen im Bmck nye aussgangen**. Nflmberg 1684 bei H. Form»
Schneider. Das Lied ist die 37. Nummer dieser kostbaren Sammlung.
1) Ei ne gute vierstimmige Bearbeitung vuu Seufl bei Forster 3. Theil
No. UXI and Othmayr Ko. ZXXn.
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884 Die Anfibage der europäisoh^abendUndisohen Musik.
6 fß a ^ i — I * —
(Druckfehler im OrijfinalV)
II. ^ w.
— _ p — — 9
Besser als bei den Lauteuisten und Organisten befand sieh die
Volksmelodie bei den Meistern des Vocalsatses, welche nicht auf
die Technik eines Instrumentes Rtteksicht su nehmen hstlen. Doch
entging sie aneh hier nieht immer dem Lose, umgemodelt, ausge-
dehnt, yerktbst zu werden, wenn es der Tonsatz erheischte, beson-
ders wenn canonische Nachahmungen u. dergl. eingewebt werden
Hüllten, z. B. die VolkHweise „entlaubet ist der walde"^) erseheint
in ursprünglicher Form also:
(Nach demTenorder Bearbeitung von G.Othmnyr. beiFontflv8.Theil Xo V.)
Ent-lau-bet ist der wal-de gen die-seuwin
Be-rsa-betwerdidi bal-demeinsKebsdasmaoht
ter kalt
miehalt
i
len
dass ich cUe schön mnasmei - den diemirge-fal
tatbriogtmirmangial-tigleidenmaGhtmireiuschwe • • renmut.^)
1) Mm sehe wuh Beoker a. a. 0. S. Ahtfa. a 9, wo die Mtlodie nach
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Daa Volkslied.
285
Diese Weibe benützt nun ein ebenfalls nicht genannter Coiii|iotiiht
in 6. Bhaa't Bieuiien (1545) zu einem Duo, welchei dcb bald in
strengeren, bald in freieren Nacbabmnngen bewegt; wie natürlicb
muM dcb die Melodie diesem Zwecke mannigfacb anbequemen:
BIcInIa 9. Iliea No. XdlL
Eiit-lan - ))('t ist tlrr wul - tlc,
Be - rau- liut werdich bal - de,
gen
mein
3£
il
Ent-lan-bct ist der wal
Be - ran-bet o. s. w.
< 9 g -i
f
die - &em
beb das
win - ter
maehi
kalt
mioK alt
3z:
de
gen die •
sen
win- ter
i
musrnoi ..... den^
:!|: dss idi die sdiOnmns md
kalt
das ich die schön n. s. w.
.Q-
1
die mir
ge-lU
ge • fd - len
Ibtns Ncwsicdlcr's Lautenbuch (im Kinzelucu mit abwcicheuden Wen-
düngen) aufgcnommeD ist Bine yierstinunige Bearbeitung von Thomas
Stoltzer (N. LXI in G. Förster'» ,,Aussbiiiid schöner tentsdiler Idsdlein"
\» Theil) werden wir weiterhin kennen lernen.
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286 Die Anflliig« der eoropäiMh-alMBdliDdiaolieii Münk
I
thut II
1
(9
bringtmir mangfU
ÜB
2:
bringtmir —
lei - den macht mir ein
^ ^
schweren mui.
Andere Liederinelodien aber kann man im Tenor des daraus
gebildeten mehrstiniuiigen batzes so wohlerhalten tinden und so rein
herauslösen wie den Kern aus dem umgebenden Fleische eiuer
Fmcbt In minder glücklichen FXllen kannten freilich die elao con-
servirten Volksweisen an jXmmerlieh umgekommene, in stiie Bern-
steinmasse eingebackene Insekten erinnern. Wie die Weisen «Ue
Beachtung des Musikers, so verdienen die Texte die Beachtung des
Literarhistorikers in linlicin Grade. Man Bndet einzelne davon auch
ohne Musik in alten Liedersammlungen, z. B. in dem merkwürdigen
ambraser LiederbuchcM ; ein Beweis ihrer Popularität. Der deut-
sche Volksgeist blickt mit treueUi blauen Augen heraus; wer das
deutsche Volk lieb gewinnen, wer alle Poesie und Herzenstiefe
kennen lernen will, idlen guten Humor, alle Liebe und Treue, die
in ihm leben, der bescbXftige sich mit diesen Blttten seiner eigen*
Sten Dichtung!
Es ist kein Zweifel, dass das Herüberholen der frischen, leben-
digen VolkswfMson in die künstliche Contrapunktik auf diese auBser-
ordentlich wohltliiitig eingewirkt hat. Ks brachte ein volksthiimliches
Element von unverwüstlicher Lebenskraft, ein Stück Volksleben in
diese Sätze, die ausserdem nur gar zu leicht todte Ilecheuexcmj>el
1) Es bildet den 12. Band der Pnblioationen der Stuttgarter Oesellsohafi.
Das Volkslied.
287
geblieben wXren. So sprosMt selbst ^e Oontrapuuktik jeuer Zeit
aus krXftigem Boden auf: sie war gleich der Dichtkunst, Ifalerd,
Baukunst jener Zeiten wesentlieh national, sie kam aas dem Volke
und war Ahr das Volk bestimmt. Die contrapunktirenden Gegen-
stimmen, hinströmende Melodien, waren, wie begreiflich, eben auch
im Sinne der ( Jriindinolodio crrnndon, oft doron Naclialiinting'.
Hätten die Mri>ti'r ;,''l(MC'h vun Hause aus auch ihre Thenicu frei er-
funden, so würden sie dem Vülkejedeufalls fremd gegenübergcHtauden
haben; so aber erkannte das Volk in diesen Bietzen sein eigeuätes
Gat, das die Kunst entlehnt hatte, um es ihm bereichert, veredelt, zu
höherem geistigen Lehen geweckt wiedenngeben. Der Gregoria»
nische Gesang und das Volkslied waren sichere Führer und bewahrten
die Kunst vor der Gefahr sich in's Ziel- und Bodenlose zu verlieren
Nicht minder wichtig ftlr die Kutis( als das deutsche Volks-
lied wurde das n i e d o r 1 ä u d 1 s ch e und französische, ja in jre
wisseui Sinne noch wichtiger, denn weit früher als in Deutschland
übte sich in den Niederlanden die coutrapuuktische Satzkunst an
diesen Melodien. Ein geübter Blick, eine geschickte Hand kann
auch hier die Urgcstalt des YolksUedes oft genug aus den Ver-
schlingungen der contrapunktiBch yerwebten Stimmen herausfinden,
besonders bei den ilteren Meistern (Busnois u. A.), wo es unver-
ändert oder nur wenig ▼erttndert als Tenor dient. In anderen Fallen
bleiben dagegen eben nur noch die thematischen Grund züge kennt-
lich, und da manche Lieder, wie gewisse Volkslieder, wie forsca-
lerne ni , petite Camiuseite, nialheiir me bat, le ServUeur u. a., von
▼ortretBichen und von guten, wie von mittleren und geringen 'I'on-
selzem wiederholt bearbeitet worden sind, so ist es sehr interessant
in den verschiedenen Compositionen die übereinstimmenden ZQge
aufzusuchen und daraus die Volksweise zu reconstmiren. Eines
der allerbcrUhmtesten und «ältesten Lieder (denn schon im 14. Jahr-
hundert dient es als beliebtes .Motiv) ist das Lied vom ,, Bewaffneten
>rann" [ramme arme), über welches eine Messe geschrieben zu
hal)eu hernach fast als das niclit zu umgehende. Prtdiestiick eines *
Meisters galt. Der berühmte Lciuer und Schriftsteller J o h a n n es
Tinctoris, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lebte,
hat es uns in seinem PtoportionaU betitelten Bnehe in seiner Ur-
gestalt nebst Text erhalten:
1) Sehr wahr sagt Otto Kadc (Matth, le Maistre S. 74): „lu der un«
vertilgbaren und nnTerwfiRfcliohen Macht dieses weltlichen, wesenÜich melo-
dischen Schatzes liegt nicht minder als in seinem (legcnstücke, dem Orego»
rianischen Kirchenpfefancre, ein Feld der For-^clmriff vor, das bei pfründlicli^M*
Aupilanzung ganz aus^crordeuthcliu Resultat«' liotVrn dürfte." Einen Scliatz
von Liedermelodien aus dem 16., 17. und IS. Jahrh (nach den besten
Quellen redigirt) entliiilt d iR scImii mehrfach rrwahnte Werk ,, Lieder und
Weisen vergangener Jahrhunderte" von G. F. Becker (Lepzig 1853).
l^reilifih isl es nur ein sehr kleiner Theil des Vorhandenen t
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288
Die Anftnge der europäisch-abendländischen Musik.
l ouime, . Tomme, Tomm' armö et Kobinet
i
m t
1
ta m'ae 1« mort domtA quad ta t*eiiTM
4-
lax
Eine anden idir bekannte Weise dee 15. Jalidrandeiti ifir
des Lied „Le Ser\'itenx*S dessen aucb schon Tinctoris erwümt;
femer die Lieder ,Je nay deul, comme femme, de tons biens, en
l'ombre d'un buissonet," und viele andere, die in allerlei Bearbei-
tungen und insbesondere in den im Jahre 1503 von Petnicci her-
aupgcgoluMien Canti cento cinquanta anzutreffen sind. Die nieder-
läudisclicu Lieder sind leichter, belebter als die gleichzeitigeu
deatsehen. H. de Zeelandia, einer der frOliesten lüederlSndisdien
Gontrapnnetisten, hat mehrere niederlXn^Usehe Volkslieder theOs mit
ylaemischem, Ihdls mit fransOsisehem Texte bearbeitet, eines
1) T. Martini (Saggio di Ooatrap. S. 129) hielt es für ein prorenga-
lisohes Lied: „ona oetta esnnme firoraunle. detta Vhommt armi, il quäle
servl di soggetto per comporvi sopra una Messa etc." Burney (liist. of
mus. 2. Bd. 8. 493) bemerkt dazu: „but though I have t&ken great pains,
both by enquiry and reading, to find the words to whioh tbi» old melody
lued to be'sung, yet I have never bct-ii successful. Nothing, howewer,
has appeared to me more probable, than that this is the faraous Cantilena
ßolandi, or air to the song whioh the French armed Champion used to
sing at the head of the amyi in honour of their Hero Roland, in advan-
cing to attack an oncmy." Bumey's Vermuthung war. wie mau sieht,
unbegründet: der Ommo arm6 ist nichts weniger als das Kulanditlied oder
ein SflUachtgesang, vielmehr ein Liebedied, die alte Geschichte der Didone
abbandonata in iioucr Fassung. Kiesewetter ])riiiprt die I\Iel(ulie in seiner
Geschidite des weltlichen Gesanges in etwas anderer Gestalt, mit welcher
der Tenor der ymehiedenen Uber dieses Lied oomponirten Messen von
Jotqnin, Paugues, Dufay, Carontis u. s. w. so völlig übereinstimmend zn-
sammcntrifilt , dass diese Redaction der Melodie jedenfalls verbreiteter
war als die von Tinctoris mitgetheilte:
^^^^^^^
7BZM.
2
Tomme l'onune Tomm' armö
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Bm Volkalied.
289
davon ,fim Mtf/akt dai tte werbe gael^ (als Dao gesetst) IXsst in der
Obentimme den wohlgemuthen Gang der Volkamelodie deutlich
erkennen«
Noch leichtfüsHiger und leiclitblütigcr sind die französischen
Lieder, welche den Zug, den die iranzÖHiBche Ournsan hin auf
den heutigen Tag bewahrt hat, lo deutlich erkennen laasen, wie
die deutidien Lieder den deutschen. ELiesewetter^) hat swei der
Slteaten Lieder ans dem Tenor sweier Compodtionen von Anton
Bumois (um 1467 — 1480) reeonatmirt:
Dieuqml ma-ii - a - ge —
4^ rf-frrg^^-r^^^^
Mainies femmet — -
Aus der zweiten Melodie klingt eine atarke Beminiaeens an den
4mfne arme heraus.
Wie das liederreiche Wesen die Kunst gefördert habe, das hat
schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts Johann de Muris mit wohl-
gefälliger Verwunderung bemerkt, and Johann de Muris war doch,
waa SU bemerken ist, ein grosser Theoretiker, ein profonder Gelehrter
der Sorbonne. ,3>öe gar feine Sache,** sagt er, ,4Bt die Musik ge-
worden durch die Uebung der Neueren und zwar nicht allein der
Gelehrten, welche sie durch allerlei Hilfsmittel und eigene Erfahrung
etndieren, sondern selbst auch des gemeinen Volkes; insbesondere
1) Schicksale and Beschaffenheit des weltlichen Oesauget.
Asibfot, OMBkUMs ist Mnik. IL 19
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290
Die Anftnge der eoroplieoli-abendläpditehea Miuik.
ftlblen sich junge Leute und Weiber dazu ang:otneben, ich weiss
nicht durch was anderes, als natürliche Anlage ^).**
In Italien bat das Volkslied niemals die Bedeutung gebabt, wie
in den Niederlanden, in Frankreidi nnd in Dentscbland. Dennoeb
werden wir sehen, wie die sogenannten Vilancllc, Strambotti und
Frottolo, sobald diu Kunstinusik sie in ihr Gebiet herüberzuziehen
aniintr, aiit die allmälifjeUmj^estaltung des schweren feierlichen Styles
der letztem eingewirkt und den Uebergang von der Motette zum
Madrigal vermittelt hat. Spuren celit italit'nischen Volksgesangcs
sind in solchen Compositioneu der grossen Meister deutlich zu er-
kennen, wie in Adrian Willaert*8 „Camon di Ruzante"^ aber mdst
andi nnr Sparen, einselne GesSnge und Helodiewendnngen: eine
gans nnverJtnderte Melodie ist nur selten beraussufinden, wie in
der im Bcrgnniaskerdialekt gedichteten, von Bossini von Mantua
(Bossinus ManAuanus), einem Componisten, der nm 1500 lebte 3),
nach einer unverkennbaren Pifferaromelodie gesetzton Frott«>la
„Lit um biliram," die in d(;r Ueberschrift ab „m sonar de piva in
fachinesco" bezeichnet wird.
KoMini von Mantua, Frottola (2. Buch der bei Petrucci 1504 — 1508 ge-
druckten Frottole, Fol. 31).
r r rir r r r r pir
lirum
bilimm
lirom
limm
Idmm biliram
ly "
Lirum
biliruin
c^.
fi
Li • rum
bi
U
rum Ii •
1) Subtilis itaque multuui est musica per exercitium etiam moder-
norum, non solum literatonun hominnm in hac parte stadentiam anxilio
et invention«;, sed etiam vulfjus commuiu'; sjn-cialiter juvenes ac mulieres
ad hoc moventur, nescio qua sortc, nisi industha naturali (Mus. speculat.
bei Gerbert, Scriptores III. Bd. 8. S82).
'2) Gedruckt in den Caii/on viUanesche alla Napolitana di messer
Adriane, a quatro voci, con la canzon di Ruzante Libro 1. in Vinopj^ia
apprcsso Girolamo Scotto MDXLVIII. Das Lietl „Di Kii/.aiile ' niuss,
nach Willaert's Coinposition zu schliessen, recht friscii (gewesen sein.
3) Joachim Rossini von Pcsaro, unper hmilirntt-r ZeitgenoS80| lieae
sich von diesem Mumensvetter schwerlich etwas träumen.
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Bas Volkslied.
291
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U-nam biliram n.B.. w.^)
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L-^«
1) üm dem Leser eine Yorstellmig vom Klange des Textes (lustige
Liebetdesperation) zu geben, setze ich die zwei leisten Strophen her:
Quant ampcsi al top passat
£ che to scrvita iudaren
Am doni desperat
19*
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292 Aiifiknge der europäisch •abendUadisohen Mouk.
Sehr bald im 16. Jahilmiidert fanden fransönsehe Lieder unter
demNamen ,,Canzoni alla francese'* in Italien Beifall und Aufnahme
und ttbten bald einen bedeutenden Einfluss. Zum italieniMclion
Volkspesanpe des Mittelalters gehören auch die Lohliedcr (^Law/f»^
jener Florentiner Landcsi oder Laudisti, frommer Vereine von Hand-
werkern und Bür^er«leuttMi, deren erste ririindung in das.Iahr 1310
gesetzt wird. Diene LaudUti kamen, wie SauBovino in seinem
Commeutar zu Boccaccio (1546) eisXhlt, jeden Sonnabend nach nenn
Ubr in OrHuuniccbele und Santa Maria Novella sosammen und
Dangen flinf bb aeebs Laaidi, wa denen nnter Andern Lorenso de
MedicijPulci und Giambellari die "Worte lieferten. Sie standen unter
einem Vorsänger oder heiter{CapÜano). Mit unübertrefflicher Spötter-
laune hat Boccaccio die Figur einer solchen Respectsperson in dem
Stamaiulo aus der Strasse die San Brancazio nnd Capitano delaudesi
di Sancta Maria novella, Herrn Gianni Lotteringiii, gezeichnet^). In
der Magliabccchiana zu Flurenz tiudcn sich die Documente über die
am 11. KoTember 1336 dnieh F\raU QuStUimo, mautro gmerak dd
oräkie degli wniUaH, Teranlasste Stiftung einer solchen GesellBcbaft
Landen dir die Kiicbe OgniaantiS) koHore e a rüfermria dd
nostro Sigmr Idio e de la virgine gloriosa Matria sua tnadre, e Ji
Missere Sancto Benedecto et di Missere Sando veneratido et di Madonna
Sancta Lucia Virgine et di tudi Sandi e le Sancte di Paradiso, et a
fructo di gratia in questa vita a tudi rolnro cho sonno e saranno
de la deda compagnia, e dopo la loro mode a beata gloria divina
eterna" Die Laudisti erhielten sich bis auf die Neuzeit. Wie
Gieseimbeni enihlt, kamen 1770 wiUirend des grossen JubilltnniB
die Landes! von 8. Benedetto ans Florens nach Born, dofebsogen
in Prozession die Strassen nnd sangen Laudi, deren Worte der be-
rühmte Filicaja gedichtet hatte. In demselben Jahre hörte sie
Bumey in Floieni oft in den Kirchen mit Ofgelbegleitong
singen^.
Gleich der erste Gesang in jenen Laudi der Gesellschaft der
AI demoni da l*inferen
Masno mai di quest inversn
£m Toi da te ])artirum
Lirum etc.
Con pot ma sofi&i, traditora
Che ehsi vivi de8])orat
Dam audenza uimac un hura
Che lero altit pagat
Fara un scrit e sii^^ilat
Del mio bon fidul scrvirum
Linnn —
Die Schlusswendnng ist äusserst possierlich.
1) DiH'amerono Giom. VII nov. T.
2) Burney, Eist, of M. 2. Bd. ö. 321,
8) A. a. 0. S. 826-327.
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Das ToUnliAd.
d9d
Laudesi von Ognisanti zeigt den echtesten Volkston im Sinne ita-
lienischer Volksweise und ist ein fiusserst schätzbares Denkmal des
VolkigMangeB ans dem 14. Jahrhnndeft Es ist eine Art Bequem,
aber sehr ▼enebieden Ton den Seqnensen Ton St Gallen (die frei-
lieh eiiiige Jahrhunderte Ilter sind): während diese weit entsehie-
dener als eine Abzweigung des Gregorianischen Gesanges er-
scheinen, tritt hier mehr eine liedartige Melodie in den Voider-
grund.
(Qesang der Laadesi von Ognisanti in Florenz 1336. Mscr. der Ms|^Ua^
becchiana. S. Burney, H. of M. 2. Bd. S. 328.)
-C-
Alle Trini - ta
beata da noi
I ^ ■ ■
ad - o - rata, Tri- ni - ta
glo-ri-o-sa a*
m • ta me-ra-Ti - guosa,
■ ■— ■
1 - fflioaa, ta
sei msima sa -
po - ro • sa
Wir werden unter den Gesängen der geistlichen Schauspiele
eine ähnliche, ebenfalls eine Mittelstellang iwieehen kirchlidiem
und Volksgesang einnehmende Melodie kennen lernen.
Die spanischen Volkslieder, so schön sie mitunter heissen
dürfen, blieben so gut wie unberücksichtigt; es ist eine Ausnahme,
wenn Josquin eine Messe „una musque de Buscaya", Pierre de la
Rae eine Messe „nunquam fue pena mayor" Uber spanische Weisen
aetaten. Inwiefern sich bei Ghzistofano Mondes, Henero und an-
deren aus Spanien stammenden Componisten Bendniscenaen an
die Gesh'nge ihrer Heimat aeigen, mDgen Kenner des spanischen
Volksliedes untersuchen, oder ob der ganz einem uuTerSndert bei-
behaltenen Liede gloicliendo Tenor in jener Messe Josquin's in
einer noch existirenden Volksweise wiederzuerkennen ist:
Tenor des ersten Kyrie und des Aprnus anti Josquin dePrte* Meise:
musque de Buscaya.
294
Die Anfänge der europäisch- abendl&ndiichen Münk.
Kirchlicher (lesaiip und Volks^resanp fanden eine At1 neutrah'U
Bodens, wo Bie einander iu Frieden die liand reichten, an den
geistlichen Schauspielen, die bekanntlich ebenso »ehr goUesdienst-
Uche AndMhtittbnng als Yolktbeliiftigung und ebenso sehr Volks-
belnstigang als AndachtsUbmig wazen. Die Geslbige dieser Scban-
spiele haben, wie natürlich, auch mcht die entfernteste Aehnlichkcit
mit dem Style der seit 1600 entstandenen und auKgebildeten dramati-
schen odrr ( )i)erninnsik. Eine desti» überraschendere Erneheinung^sind
die uns sehr Ijekannt anheimehuleu weltlidieii frnnzösisehen Lie-
derspiel e ,we 1 1 Ii e A dam d e 1 ;i Haie zum I )i elitär und ( 'oniponisten
haben, und von di-nen zwei erhalten sind: „le jus Adau ou de Is
fenillie" und „Ii giens de Bobin et de Marion". Ein drittes Spiel
„Ii jus da pelerin" von einem unbekannten Verfasser^ ist eine Art
Prolog in dem Spiel von Robin and Marion: ein Pilger beriebtet
den Tod Adam*s de la Haie, wovon Anlass genommen wird seiner
lobend zu gedenken^). In die Handlung des jus d'Adan (welches
filr die Literarhistoriker das Älteste französische Lustspiel ist und
in welchem Meister Adam seine Liebes- und Heirats^t schichte mit
naiver Ungenirtheit zum besten gibt) mischen sich drei Feen ein,
Morgue, Maglione und Arsile, denen ein kurzer Gesang iu den
Mund gelegt ist:
lies foes cantent.
X
m
par chi va la mi - gno-U - se par ehi ou je vois.
Interessanter und ein ecbtee Liederspiel ist „Robin nnd Marion**,
eine jener Dorfidyllen, wie rie dem fransOrisehen Geschmacke noch
im Torigen Jabriinnderte so sehr ansagten; die einfache Handlung
1) Fdtifl (Biogr. univ. 2. Band S. 4791 sapt: ,.tlunio d'une chanson
espagnole' . In den Canti cento cinuuanta (1ÖU3 lul. liM) heisti et ,,uua
musque de bntcgaya" in der Ueberscnrift einer Meise ▼on Heinrich Isaak
(OpUH deccm niissaruni, "Wittonljcrp IS-ll) .,uiia nii.s'que de Bifray,"
2) Der Verfasser dieses Stückes soll Jean Bodel von Arras sein
8) Le Pdefin:
Par Qrouille m'en reving, ou on tint maint condlle
D'un clerc net et soustieu, grasrieas et nobile
Et Ic noniper du mont, n^s fu de ceste ville
Haistres Adam Ii Bochm estsit ehi apeUs
Et la: Adana d' Arras.
An Oea&ngeu kommen darin nur zwei unbedeutende Melodiefragmente
vor. Das «nte erscheint mit Absieht so t(ttpisdi| das anders hat den
frsasOrisohen TandeviUeohsnkktsr:
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1>M Volkslied.
29r>
und die H^l^nng des Ganzen erinnert auffallend an Roussean's Devin
de village, an Rose et Colas. Anette et Lubin und Aehnliches. Adam
soll sein Liederspiel zur Unterhaltung des Hofes iu Neapel gesclirieben
haben, wohin er, wie wir schon erzählten, im Jahre 1282 (dem Jahre
der siciliauischen Vesper) im Gefolge Kobert'sII. von Artois gckunuueu
war. In Frankreich, wo man ea anch spielte, war der Erfolg ausser-
ordentlich. Noch um 1893 wurde au Angers das Spiel von Bobin
und Marion alle Jahre an Pfingsten aufgeftihrt; ja die Erinnerung
ist bis heute ni^ht erloschen, das Liedchen ,,JBo6t» m'aime" wird bei
Bavai im Hennegan vom Volke noch jetzt gesungen*). Das Spiel,
in dem elf Personen auftreten^), besteht aus gereimten Dialof^en,
in welche, fj-mz wie im Vaudeville, kleine artifre Liederchen ein<rc-
üuchten sind. Die Handlung; ist höchst einfach und eigentlich ohne
alle Verwickelung und folglich ohne Lösung; es ist nichts als ein
munteres 'Bild Iftndlichen Lebens. Marion introdudrt rieh mit Jenem
Tolksthtlmlich gewoidenen Liedchen:
ZX7
Ro - bins
iD*sime
Bo-bins m*a
Bo- bins
Fine.
" ■ •
; i
m*a
de • man
e
ri m*a
- ra
i
Rojanf.
5
32:
U u'est si
hon
ne
VI
an - de quo ma - toiis
£»t c'este bomie, Wamier frörei
Dir
Wamier, EU est Testront de vostre mere
Doit on tele canohon prisier?
Jiogaut.
Se
n I
r1
Ol
je
n i - roi
e
mi - e
1) So berichtet Herr Arthur Diuaux.
S) DiePersonen sind : Robint, Marions on Marote, U Ohevalien. Gantiers,
Baudoni, Peronelle ou P« rt tte, Huars, H Bois, Warniers, GKiios, B^ns.
8) Die Notimng des Originals ist:
■ r ■ 1
Ro - bins m'aime Robins
m'a, Robins
n.s. w.
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29G
Die Anfllngfe der enropäisch- abendländischen Mnaik
Bo- bins m*ft Oft • ta-oo • to-U d'
- U • te boiuM
TnP . „ ■ ; . . ' . ' ■ . An] SV
•ibdlesookA- ni-e «tdiamta • rel«al'ewi
ifrt/ Sri/ »Ii §
Jetzt prHBentirt sid) Junker Aubert in dem ganzen Pomp einei
^ttdigen Herrn, den Falken Mif der FmuL £r frent nch Marion
•Uein m finden:
je me reparoie du tournoiement
si trouvai Marote seulete au oors gent.
£r macht ihr seine Liebeserklttnuig, lie weist ihn ab:
vous perdez vo paine, Sir Aubert,
je n'aimerai autrui que Robert.
Der Junker wird dringend, will verzweifeln u. s. w. Marion ver-
spottet ihn mit einem Trallerliedehen ,,TrAiri, deluriau, deliriau,
deluriele" u. s. w., worauf er abzieht. An seiner Statt erscheint
Robert, der eine bessere Aufnahme üudet. Die liochzeit wird ver-
abredet, Bobin geht um da« N9thige an besorgen. Indessen ist dem
Junker der Falk ansgekonunen; er benntst es als Vonrand, nm an
Marion snrtleksnkehren, „ob sie den Falken nicht gesehen?** Glttek-
licher odernnglttcklieherWeise hat ihn Robin eingefangen und bringt
ihn; dass er mit dem ritterlichen Vogel nicht ganz nach Sitte und
Art umzugehen weiss, ist dem Junker ein willkommener Grand Streit
anaufangen;
ha, mauvais vUains, man fai
ponroüi tnes ta mon firaoon?
Vergebens sucht Maxion ihn an beschwichtigen, der Jnnker Ohr*
feigt den armen Bobin:
Üen de loier eetfee sonspape,
?uant ti le manie« si gent —
i n'en set mie la maniere
pour Dieu, Sire, or Ii pardones?
Cht». vol<mtier8, a'aTeno morTsnes.
Marion. Je ne fanii
Die Melodie iat echt firansOsisch. Man sehe nur den Anfang des berühmten
j'si perdn nun territeor ent Boniieaa't IXerin de rilUge:
■i r ^ -N— I — i ^ r z ?^
j'si per «da tont mon bonhenr, j'ai per-dn monser- vi • tenr
Sind diese durch ein halbes Jahrtsosend getrennten Melodien nicht
Sohwestem?
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Dm Yolkdied.
997
Der Junker braucht Gewalt und sehleppt Marion fort Robin yer*
er hat Haiion verloren und eine Ohrfeige bekommen:
Je perc Marot, j'ai nn tatia
~ dm
tMxpiti oote et teroot ~
Vetter Gkmtier, der ihn in £esem Znitande findet, trOstet vergebens,
bb der Bitter, von dem entschlossenen Widentande Ifarion's evmttdet,
diese snrttckbiingt und resignhrt:
OerteSf vdremeot ini Je beste,
Quant a ceste beste m'amste —
Adiea bergierel
Marion. Adieiif bian Sirel
Jetzt versammelu sich die Gäste, Robin specificirt, was er an Vic*
taalien vorrttthig habe:
±
_» 1_. - -
J'ai eu-co-re t«l pa-st^, qui n'est mi • e de Ta-atö
Quejoa ai nn tel oa-pon qoi a gros et grsscre-pon
-<5»
#
4
m
qne nons mange - rons Ma*ro • te beo a beo et moi et toos
qae nous etc.
obi mi ra-ten-des Ma*ro • te, «hi ven-mi per -1er a voos
Sie spielen lustige Spiele, Bandon wird zum K(5nio:e gewfihlt, pribt
possierliche Audienzen u. s. w. Zuletzt fordert Kubiu alle auf, ilim
in den Wald zu folgen:
n 1.
ye-nes a
prto moi TO - nes, le sen • te • le,
le sen-te
l'ta
le bos
Das Eigene dieser r^nnzen altfranzösiscben Melodik liegt in dem-
selben leichten, wenige Töne zu einfachen aber recht hübschen Coni-
binationen ungezwungen und ungenirt verbindenden Wesen, in der-
selben Manier eine melodische Figur nach Bedürfniss zwei-, dreimal
oder auch öfter zu wiederholen, welche das echt französische Lied
charakterisiren, wie man es z. B. in den Yaudevilles oft mit ebenso
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298 Die AnAlnge der earopfliach-Bbendländischen Musik.
viel pikanter Feinlieit als sohl echter Stimme vorgetragen so hOreil
bekummt. Doch ist der in den alten Melodien oft vorkommende
jambische llhythinus ii. b. w. in der neuen Sinpweise durch den
Trochäus völlig ver<liänp;t worden, und für jene allordiufr'^ bezeich-
nend. Neben (h'in meist antjewendeten dreilheiligen Hhytliinus findet
sich auch bcliuu der dopjpel-dreitheilige (^j^ oder ^/g), besonders für
die duttUMbaXUuUef und der gerade. In den Slteften, dem 12. Jalur-
hundert angehOrigen Liedern wird anireilen anf eine pauende Sylbe
eine ganse yeizierte Gruppe von Noten gesungen. Im 13. Jahrhundert
verliert sich diese Manier und ist bei de la Haie, Ifachand u. s. w.
durchauH nicht mehr zu finden, wo der Gesang sich nirgends mehr
auf Kosten des '^I'extes ausbreitet, vielmehr dem raschen Sylbengaii;?e
der Worte i-benso leichtfiissig folgt. Die Liebliugstonarteu sind
J'^-dur, (jr-dur, C-dur und Z> -moil, seltener G-m<dl.
Der Gesang zu den geistlichen Schauspielen, den Passiona-
apielen, Ottenpielen, HaiienUagen n. s. w., welcher bei dieaen
DanteÜnngen einen sehr weaentliehen Bestandtheil der Aufführung
bildete, war theils wirklicher ritualgerechter Kirehengesang — denn
in den Osterspielen insbesondere löste sich kaum erst die dramatische
Darstellung von der kirchlichen Ceremonie ab') und es wurden dabei
nicht allein die von der Kirche recipirte Sequenz des Wipo „Vidimae
pasrhali /t/M^/' v"^, sondern auch das ,,7> Deum landamus" {r<»tte8-
dieubtlich intuuirtund abgesungen; theils wuijden die nach dem Bibel-
worte zusammengestellten oder auch firei erfundenen, einen Theil des
dnunatbehen Dialogei bildenden Gesinge nach dasn erfundenen Me-
lodien voigetragen'^, welche, besonders in den lyrischen und contem-
plativen Momenten, den Charakter der Se({aenzmelodien zeigen, doch
mit einem gewissen Zuge in's Kecitativische und pathetisch Decla-
mirende, wie folgender (Jesang der drei Marien in einem aus dem
14. Jahrhunderte herrührenden Osterspiel der Prager UniversitJtta-
bibliothek:
A • mi - si- mos e • nim so - la - tl - um Je - som Chrigtmn
\\ Duo sacerdotes se cappis induunt, sumentes dao thuribala, et hume-
__ria m capita ponent, intrantes chorum, paulnthn enntes verras sepulclurom«
voce mediocri cautantes: „quis revolvet imbis lapidem" — quo» Diaconus,
qui debet esse retro «cpulchruni, interrogat jt«-nlli;iido ,.quera quaeritis" —
deiiide illi ,,.}esum Nazaremiin^' — quibus i'iHConus respondet „iion C8t
hic*'. Mox inceasent tepolchrnm, et dicentc Diacono „ite, nnntiate'^ ver-
tent 80 ad clionim, rcmaiu ntos pupor pradum et cantpjit: „Surrexit Do-
minus de sepulchro'' Ui>que in tiuem. Finita autiphona dominus Abbas
incipiat „te Denm laudamas^ in medio ante altare, rooxque oampanae
souentur in angularibus ((leibfrt. Vet. lif Ali-tn II. 237).
2) Die Melodie in Schubiger's Stiugerbchule von St. Gallen (No. 60
S. 59 der Masikbeilagen).
Ith kann hier den Leser nur auf swei Bfloher varweisea: auf
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Die Musik der geutUohen SohaiMpiele.
299
M»-ri-me fi-li - «m ip-ee e-nt no • iterredemptor
LH 1 ■ —A 1 1 TT — ' — ! — 1
\
Wl ^ y g <6< y
— y;» — — -«^ —
hm
qaantos est noster do
lor
Diese ArtMelo{lien niclit allein, sondern sogar dieselben Weisen
BU denselben Worten kehren an verschiedenen Orten wieder, so das»
man wohl sagen kann, ea habe rieh endlich dnreh Wechselvefkehr
der KlSster, StXdte u. s. w. so riemlich eine ritaeile Oesangwrise für
diese Spiele festgeHtellt, welche, durch allgemeine Zustimmung ge-
nehmigt, Uberall gleichartig vorkoninit. Dem oben nutgeth eilten,
einem altböhmischcn Osterspiele angehörigen Klaggesange entspricht
in Text nnd Melodie derCJes.ing der drei Marien ans einem ehemals
der Abtei von Origny Saint Benoitc hörigen, jetzt in der Bibliothek
zu St. Quentiii ^ befindlichen Osters^iele in einer Uandsclirilt aus
dem 14. Jahrhundert:
Les trois Maries.
Nons avona perdn nostre ooafort Jhesmn Chri-
itnm tree tont piain de doooonr. B estoit
bians
5^
et piain de bonne
amour
he - las moat
■
nons amoit
U • vrais
F. J. Mone's ,, Schauspiele des Mit trlalters nus Handschriften heraus-
gegeben und erklärt'' 2 Bde. und auf E. Coussemaker^s „Drames litur-
giques du moyen ftge** (Rennes 1860), letsteres Weric dnräi den ausser-
ordentlichen Reichthum an beigegt bcncn. nach den alten Originalen
entzifferten Singweisen ausgeseichnet , welche das Buch besonders iör
den Musiker Äusserst werthvoU machen.
1) Die Xotirung in Pedibus muscarum. Inh ersetze sie durcli dir
uns geläufige Note. Wo die Ghoralnote gnt beisubehalten war, liabe ich
sie auch wirklich beibehalten.
1^ Ko. 7fi.
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300
Die Anfitaige der enropAiaoh-abeiidUadiaQheii Moaik
Diese Melodie idiieik bequem, danuMsh, wie nach einer Paalmodie,
den Dialog absmiiigeii. Der Salbenhlndler, welcher den Marien
leine Waare anbietet, nngt naeh derselben Weise:
JA nsrohsiis
^ a • proobei voas qni taut fort a • o^est
gemeni t'el to • las a - ea • ter da qpiel
nofkre Seigneor porres loa taiDct ooipe qni
taat pa • rait la • orfa.
Die Frage der drei Marien, wer denn wohl den schweren Stein des
Grabes wegwälzen werde, wird naeh anderer, aber aneh an vor-
schiedenen Orten und Zeiten ganz analoger Melodie gesungen: so
in einem Osterspiel des 13. Jahrhunderts aus der Bibliothek Bigot,
jetzt in der Bibliothek zu Paris^):
Qois ra • wd
vet
no - bis la • pi
den
i i 1 ^
ab
üf
Aehnlich in dem Osterspiel von Orignj:
"-f ■ 1 1
Qois
re - Tol
Tai ergo no • bis n. a* w*
Völlig abweichend dagegen im Prager Osterspiele:
1) üo. m
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Dto Mnaik der g«ttUich«B Sohaminel«.
(Ostenpiel der Prager UniTersitatsbibliothek.)
301
re - vol • vet so - bis ab
BÜ - o
la • pi • dem qaem te
ge • I»
Sanota
oer • ni - mne ae - pol • ora?
Die gerangenea Dialoge erinnern in ihrem psalmodirenden Tone
durchaus an die Weise, wie nocli jetzt am Palmsonntage in der
icatholischen Kirche die Passionsgeschichte in einer an dramatische
DarKtelhinp: maliiionden Weise (mit Vertheilnng der Stimmen an die
einzelnen Xnterlocutoren) gesungen wird:
(ManoMT. des 1& Jahrh. BiU. Bigot, jetst in Pteis No. 901)
.Tesiu. Magdalena. Jesus.
— ■— -
Ma
»-
• ri
• a
Babbu
-n — T
ni
a— !-
-■ :
No - U
— 1
me
tan
•
1
• «»1
non - dun
enim
=^=^
a - soe
n • di
ad
=5=
trem me • um*
Mit dieser einfachen Singweise b^[nttgte man sich aber nicht überall.
Wo der glonreich Auferstandene mit Magdalena redet, sollte es fest-
licher und freudiger klingen; man wusste aber das Feierliche und
Bedeutende des Momentes (wie bei dem Eli, Eli der Passion) blos
durch langathmige Coloratiiren auszudrücken, wie man eben gewohnt
war ein festliches Alleluja oder Ite »ii.v.va est aus Priesters Munde au
hSren. Christiis trat im geistliclien, bisclii)fli< lien Talar auf; es schien
angemessen ihn wie einen Geistlichen singen zu lassen:
309
Die Anfänge der enropftitch-abendlftndiichen Musik.
(Mannteripi. des 14. Jnbik in der UnivenitiUbibliothek so Prag.)
Jem cantet. Maria cantet
Ma
ri
Hab
biqaoddi-d-tor
mm
gister
Jesnü cantant.
qtd
dem luf
fira
so
la tu
lifc car • na
ex-hi-bendo oommoni-a lem - per na-ta>rae ma
Maprdalena oantana.
X
San - ote
Jen» flantai».
De
Haeo prio
mi-lia
9*
neoeat
- o
O
^-—-^
"^—k;»— A t5>-^\ b
jam cor-ru - pti - bi
lis
qui
dum luit pHS-si-
bi - Ua jam non e - rit
Magdalena« cadens ad pedea.
In-bi
p f f f> J J J J
4:
San
cta
for
tifl
Nachdem Jesus crniahnt hat „tkgo mli me tangere, nec ultra velis
Imjpgertf* q. w., zieht er rieh mit dem Gesänge iwttefc:
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Die Mufik der geistlichen SetMuipiele.
803
XL.
(Im Original
olme SehraBsel) ^
ft-aoen - do ad pa
Magdalena verkündigt die frohe Botschaft den Aposteln, and der
Gesang desTe Deum besehliesst die feierliche Darstellung. In einem
anderen Osterspiel der Praj^cr UniversitIt8bil>liothck •) frcstaltcn sich
die Schiassworte Christi noch reicher und tönen in das festliche
Alleluja ans:
▲ - scen-do ad pa - trem menm
pa - trem yestrum
Denm
Deum
"Wenn alles dieses vorznpsweise den Charakter den Festlichen,
Gottesdicnbtliclicn au sich hatlu, m waren dagegen die Marienklagen
{^lwi\cim Mariae) Toniiglieh dem Elegisdien oder Tielmehr dem
Ansdraeke des tragischen Pathos des Sehmenes gewidmet; man ftthlt
sich bmnahe an in ihren Grandsilgen Ihnliche Monologe der antiken
Tragödie gemahnt. Hier nimmt selbst die Melodie des Gesangos
meist einen wärmeren Ton an. Mone, der verdienstvolle Sammler
solcher alt«'rfliiiinlicher Dichtun<!^en, bemerkt zu einer Marienklapro
aus dem Kloster l^ichtenthal bei Baden: ,, schon das Versinass der
Strophen beweise, dass sie keine kirchliche, sondern die Melodie eines
Meistergesanges hatten, und dass die Singweise der Meistersänger
wohl etwa die Mitte hielt awischen der Leichtigkeit des Volksliedes
und dem Emst des Chorals." Diese Vermathong wird vollstSndig
bestätigt durch das Manascript einer Marienklage aus dem 14. Jahr-
hundert in der Pra«:er Universitfitsbibliothek. Nachdem Maria in
recitirten Versen die Töchter Jerusalems" beschworen, ihr zu sagen,
ob die schreckliehe Neuigkeit, die sie eben Temommeny wahr seiy
bricht sie in folgenden Klagegesang aus:
/TS
X
Pro Buoch ra5te
posta • paty raSte my tarn pomaha •
%
3
ty bych mohla sy - ua vi - de - ty.
(Hört am Gott mein banges Flebenl Lasst uns hin aar Stelle gaben,
dasB ich meinen 8ohn mag sehen.)
1) Codex XVU. JB. t
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304
Die Anfänge der europ&i8ch>abeiidUadiBcheii Musik.
Dieser Gesang wird in rieben dreigereimten Strophen vorgetragen i),
worauf Johannes mit einigen tröstenden Worten antwortet. Darauf
folgt ein Plancius secumdua» Die Melodie steht hier zwisehen Kirch-
lichem und Volksmässigem mitten Inno; os liegt in diesem recitiren-
den (iesango mit seinen clioralurtifien Wendunj^en ein gewisses
feierlich kla^^endes Pathos, wie manche uralte I'assionshilder aus
der Zeit romanischer Kunst den Schmerz in wenigen Zügen herb
und* ergreifend ausdrlldcen.
Zuweilen liess man auf die Klage Hanaus tittitende imd be-
sdiwiehtigende Stimmen wie mit einer Antistrophe antworten nnd
gewann so einen wirksamen Gegensatz, wie ein ähnliches Spiel in
einem Procesßionale des 14. .Taiirhunderts aus dem Archiv des Ca-
pitels von Cividnie in Friaul zcij^t. Hier antworten der klagenden
Gottesmutter Maria die beiden andern Marien:
(hio ambae
erigaat sc cum manibos
Christum.)
flTitwwit ad
et ad
r—T— T
"1 T I
Cur moerore
deficis
mater oru - ei - fi - m?
5
i
Onr dolore
ootttomens
dolois
Boror
nostra?
(hio se inclinant cum saluto.)
' 1 ^ T ^ 1-1
hoo oportet ne
Wie Maria, die Mutter Jesu, den tragischen Schmerz in seiner
höchsten Wtirde und sein edelstea Padies ansdrilekt: so war Maria
Magdalena die BeprSsentantin des Ittdensehaftliehen, nngesflgelten
SchmeraeB. In diesem Sinne tritt rie in jenem Friaaler F'rocesäonale
anf; in jeder gesun<renen, keineswegs ausdruckslosen Phrase wird
ihr sogar eine leidensohaftUchst bewegte Aetion ansdrttcldich vor-
geschrieben:
1) Aeuneni merkwOrdig ist es« dais in einem Oiterspiel, in einem Codex
des 15. Jahrhunderts in der "Pnger Universitätsbibliothek (XVII B. 1)
dieselbe IM»lodie für den Gesang der drei zum Grab eilenden Frauen
verwendet wird. Auch sogar die Worte smd mit einigen Abänderungen,
wie rie dnrdi die dramatis personas nOtfaig worden, belbriialten.
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Mtgdalena
i»=s=
Die Musik der geistlichen Schauspiele. 305
(hic TerUt se «d homines bndiÜB eartentii,
O fra - trw efc m - - ro-res,
hio peroBtit pectnt,
nbi
•pet mea?
oon • M - ]ft
hic maDiis elcvet, hic inclinato c^pite siernat m ftd pedes Christi.)
M - Ins? o mft-gi • iter mi!
Man liebte es überhaupt irgend eine biblische Protag:on istin sich in
Klagen dieser Art ergehen zu laäsen. Eines der ältesten Beispiele
ist eine Lameniatio Rahd aas dem 11. Jahrhundert (Pariser Bibl.
Hser. Nro. 1139), wo der Gesang trota der lebhaften Heiismen völlig
Blair und seelenlos ist:
qnot nnno pro
nn
1
Je weiter sich diese Spiele von der eigentlichen kirchlichen Cere-
monie entfernten, je mehr sie wirkliches Drama wurden, desto popu-
IXrereFSrbnng nahm die Mnsik an. Der derbe Humor jener Zeiten
vertrug nicht nur, er verlangte die Einmischung komischer Epboden,
M'ie wenn Judas um diu Silbcriinge schachert, wenn der Salben-
krämer den zum Grabe eilend »mi Frauon seine Waare unter allerlei
Scherzen anbietet u. s. w. Wurde hier ^^ sun^en, so war es das
derbe, ganz nahe an den Gassenhauer grenzende Volkslied, was zu
Gehör kam. Das Präger Museum besitzt ein Manuscripl aus dem
ünde des 13. Jahrhunderts, wo die £^aode mit dem Salbenkrimer
lu einer selbstindigen Posse erwettert ist Hier macht sich nun eine
ungeschlachte echte Volks- und BSnkelsXngerweue bemerkenswerthi
Ambro«, QM«hlahls 4«t Maslk. II.
90
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306
Die Anfänge der earopfti8ch>abendläudiscbcu Musik.
w<miit rieh Herr Severin Ipoknu (ffippokrates), der Quacksalber,
im herkömmlichen MariEtaclureiertime dem Volke ankündigt und
empfiehlt. Er ringt, nachdem er sein GerOsI unter allerlei vor-
Iniifi^en Spässen angeschlagen, mit seinem Knechte Georg
Fusterpalk
QDemde cantet cantionem cum Pmteri^nlko.)
Sed wem przyfel my^tr y - po-kraade gia-ti - a
Hcrkommeu ist Meister Hippocras
di-
p r r Trr^m-
u— j 1 1 ■ '
rina ne - nycth horzfyho
kein ärgern gibt es
vtento czas in
heute fast
arte me - di-
dna, ko
mu ktera ne-mocz fco'- dy a clityol by rad zyv
bö • le Krankhwt fibel plagt and wer sie will Ter-
byty - Oll pt>hncli( ziMif-dr:i-vi-ty zct musy dufTye zbyty,
treiben, den wird er heilen allsubald, wird ihm die Seel' austreiben.
Eine allbekannte derbe Volks- oder Pdbelmelodie aus derselben
Epoche ist die zur sogenannten Pfosa de Äsino, bei dem in Frank-
reich florirenden EselsfoHtc {festum Äsinorum) gesungene. Bio ist
ansp'bildctcr als das Lied des Herrn Severin Hippokras, übrigens
vtdlkoimnen pasnend zu der ßcandalös<'n Profanation, gegen welche
diu Kirche mit Hecht, aber vergebene Einsprache erhob
1) Hier worde ohne ZwriÜBl ein Suspiriom angebracht und gesongea:
J J ][ J und 80 auch bei den folgenden analogen Stellen.
2) Die Noten sind im Originale die bekannten auf vier Linien ge-
seteten Fcdes muscanun.
8) De la Brnde hat rie nach einer Handschrift der Btbl. zu Fsris,
welche oine Boschrcilmnp des Eselsfestcs enthält, in soinoin Essai mitfrc-
theilt. Man Endet sie in l^^orkers Gesch. d. M. 2. Bd. S. 720, im zweiten
Bande von Onlibicheff'B Mozart und, nebst einer nmstftndlichen Beschrei-
bung des Eselsfestes, in Friedrich W. Ebeling's neuer Bearbeitung der
FlAf>'(>l'8chfn (Ti'schiclitc des (tr. it r-kkomischen S. 230. Ich halte es also
für völlig üburdüssig uiu hiur uüchmuls mitzutheilen.
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ZWEITES BUCH.
Die Entwickeluug
des
geregelten mehrstimmigen Gesanges.
30*
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Der Discaotus und Faux])ourdon.
Sobald man einmal angefangen hatte mehntimmig in singen,
wnrde es eine nnabweisbare Notbwendigkeit die einielnen Stimmen
gegeneinander nach einem strengen Maaie anszugleiehen und zu-
gleich in der Tonsclirift, statt der Neumen, welche nur sehr nebenbei
und kaum andeutungsweise über das Zeitmass der einzelnen 'J'öne
zuweilen eine Art Wink geben, Zeichen t inzundiren, welclie die
bestimmte Zeitdauer eines jeden Tuues mit aller Genauigkeit er-
kennen lieaaen nnd das wohlgeregelte VerblQteiss der grösseren und
kleineren Daueneiten gegeneinander ansandrUcken geeignet waren.
Die grossen Ermngenseliaften der Zeit awisehen 1100 nnd 1299,
welche an ihrer Stelle als ein neuer Beweis ihres michtig strebenden
Dranges gelten müssen, sind also auch die sogenannte Mensural -
musik {muMca metisurata) und die dazu gehörige Notenschrift
mit ihren neben der Tonhöhe aiu li die Dauer oder Quantität eines
jeden Tones andeutenden Zeichen. Die Rhythmik und Metrik, womit
einst die antike Musik den Gang der Töne in wohlgeordnetem Wechsel
langer und kurzer Zeiten geleitet hatte, war lingst ausser aller An>
Wendung, litngst bis fast anf die Namen vergessen. Der Geist der
Sprache, auch der lateinischen, war ein ganz anderer geworden; der
Dichter suchte den Reis seiner Sede nicht in der plastischen Ge-
staltung der antiken Versmasse, sondern in dem musikalischen Klang-
spiel des Reimes, der sich sogar in den antiken Hexameter eindrängte
und diesen entzweischnitt, da er Cäsur und Schluss eines jeden Verses
mit seinem Gleichklange markirte und so den antiken Ueldenvers
zum mittelalterlichen leoninischen Verse nmschnf. Im Kirchen-
gesange war man dem natttrliehen Aecent der Worte, Sylben nnd
RedesXtse unbefangen und als etwas SelbstrerstSndlichem ge-
folgt, wie auch das Volk in seinen Liedern durchgehmids gana
instinktmässig richtige Declamatioa beobachtet. So konnte es also
bleiben, so lange man im Einklänge sang, und selbst das strenge
Parallel-Organum mochte damit auskommen, zumal wenn es nur
zweistimmig vorgetra^ren wurde. Mohr Vorsicht war schon uöthig,
wenn ihrer drei oder vier zusammensangen, äie mnssten sich so
Stellen, dass sie einander nicht allein singen hörten, sondern auch
singen sahen; und selbst wenn es vier gleich gute Singer waien,
mnssten sich nach einem von ihnen die drei fibrigen richten. IKeser
Leiter des Gesanges durfte den Ton nicht eher wechseln, als bis
seine drei Genossen g(>1i''»rl^ ihre Noten eingesetzt und angegeben;
er musste aber auch jedesmal mit seinen Noten zuerst einsetzen, das
richtige Einhalten der Pausen überwachen und n;ich den Pausen
wieder den Anfang machen^): das sicherste Mittel eines gleich-
1) Eliae Salomonii Scientia artis Musicae y^f^ mbrica de aotitia
cantandi (bei (Herbert, Scriptores, S. Band 8. 67).
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310
Die Entwiokdnng des nelinitiininigeii OeMngfe«.
mSssigen ZusAmmensingens, dass deijeni^e, der den Caiäus firmus
ausführte und dadurch zugleich den Gesanp^ leitete, joden einzelnen
Ton, ohne ihn zu üheroilen, gleich lang aushielt, wie etwa heutzutage
beim Gesänge von Choriilen geschieht. Die anderen Sänger gewannen
dann Zeit ihre Noten gehörig anzugeben und wussten genau, wann
sie die folgende Note des Canhts firmm sn erwarten luitten. Nocb
genaner mimte im Canhts farmnu die Daner einer jeden seiner mn-
seinen Noten eingehalten werden, wenn der Sänger, welcher die
verzierende Gegenstimme vortrug, dagegen je zwei oder drei Noten
hören lassen wollte. So näherte sich" (nach dem Ausdrucke eines
mittelalterlichen Schriftstellers) ,,die ursprünglich nicht raensurirte
Musik alhnälig der Mensur bis auf die Zeiten Franco's, welcher als
der erste Forderer der Mensuralmusik anerkannt wurde das ist,
wie eben Franco definirt, des nach langen und kurzen Zeiten ge-
messenen Gesanges, welcher im Gegensatse sn der ganz gleich-
mVssig fortgehenden oder wenigstens nicht strenge gemessenen
musica plana^ ehen deswegen viu.si( a tnmturabüia hiess. Die Ton-
lelirwr der spStem Zeit fangen ihre ErklXrungen gerne mit dem Satze
an: die praktische Musik theilte sich in zwei Hauptgattiingen, in die
plane und die ligurirte^). Die allmälige Annäherung der planen an
die mensurirte Musik muss zwischen 1050 — 1200 erfolgt sein; denn
Franco, der dem Anfang des 13. Jahrhunderts angehört, bemerkt,
dass „Alte nnd Neuere tther Mensnralmnsik viel Ghites an sagen
gewnsst, aher in manchen dahin absielenden Dingen anch in Fehler
und Inrthftmer verfallen seien/* Die Manier nicht Note gegen Note,
wie im Parallel-Organum, sondern auf eine Note der Hauptstimme
mehrere Noten und ganze Tongänge zu singen, war in robester Weise
im schweifenden Orp^anum vorgebildet. Je genauer nun bei der
bestfindigen Uebunj; die Sänger solche figurirtc GesSnge ausfvihrten,
desto klarere Einsicht musste man über gar Vieles gewinnen, was der
mit ängstlichem Fleisse an ihrem Monochord herummessenden, in
BoBtlüsch-pythagorläsehe Rechnereien ycrtieften Theorie ein Bnch
mit siehen Siegeln geblieben war. Je mehr sich die Orgeln ans ihrer
ersten plumpen Bohheit herausbildeten, desto besser konnte man
1) Die Stelle gehört einem Anonymus an, dessen Tractat Bumey
unter den Manuscripten der bibliotheca Gottoniana fand: Non enim erat
tnnc muaioa meniorata, aed paulatim cresoebat ad mensnram, usque ad
teinpiiH Fmnconis, qui erat musicae msufluratae prunnt auotor approbatus
(History of Mus. Bd. 2, S. 182).
9) Canttu nmplejc planus est, qui simplicibai not!» ineerti valoris sim-
plieitWP ort constitutus, cujusmodi est Greporianua. (Tiiictoris Diftinitorium.)
3) Z.B. inderMusica NicolaiListenii (1547)hei8jit es : „Practica (musica)
vero rurhus bifariam dividitur, in Choralem et Figurakin. Choralis est, quae
nnifonniter Buas notulas profert et mensurat, sine incremenio et decremento
prolationis, etvocatur alio nomiiu' Greporiaua, plana variat — ; fifrurali«, quae
mensuram et notarumquantitatem variat pro signorumac tigurarum inaeqaa-
litate cum incremento et decremento prolationia. BbeiMO die Broiemata
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Der DiscantoB und Fauxboordon.
311
«ndi auf ihnen praktisehe Verauehe Uber den thataXeliliehen Effekt
der cinzolneu Intcn'alle machen. „Man musstc," sagt Kicsewetter,
„aut'demWege praktischerVereuche zunächst gleich dahinterkommen,
dass die von den Griechen als Dissonanzen verHchricenen f^rossen und
kleinen Terzen, f^rossen und kleinen St'xtcn dnrchaus nichts Widriges
mit sich brachten. Man ninsste ferner nunmehr walirut-linien, dass
sogar die grosse und kleine Secuude, die grobse und kleine Septime,
endlicli jener vermfene Tritonna, die ttbermlBsige Quarte, wenn xwar
niebt frei nnd einseln angegeben, doeh Im stnfenweisen Dnrcbgange
luebt nur branchbar seien, sondern sogar den Ekel einer beitändig
fortgesetzten Reihe von Tcnsen, Quarten, Quinten nndOctaven auf eine
sehr angenehm überraschende Weise beseitigten. — Wenn man nun,
nm durch^elifudo Dissonanzen anzuwenden, nothwendig zwei Noten,
auch wohl drei und vier gegen eine haben niusste, so entstand liierdurch
schon jene Art von Contrapuuiit, die man nachmals den gemischten,
im Gegensätze des einfachen nota contra mtam, unter den späteren
Theoretikern am öftesten tmirapimtiut fianäm benannt hat^).**
Eine genauere Einsicht in das Wesen der Gonsonans nnd
Dissonanz muss wirklich im Laufe des für die Musikgeschichte so
wichtigen 12. Jahrhunderts und swar nicht auf dem Wege der Be-
rechnung oder Speculation, sondern auf jenem des Experiments ge-
wonnen worden sein, wie eine Stelle des Franco von Cöln deutlich
erkennen lässt: ,,Weil nun jeder Discant durch (Jonsonanzen geregelt
wird, so wollen wir jetzt wegen der Consonanzen und Dissonanzen
sehen, die in derselben Zeit aber in verschiedenen Stimmen
gemacht werden. Eine Concovdanz, sagt man, sei es, wenn swei
oder mehr Töne, welche man zu gleicher Zeit anschlKgt, sich nach
dem Gehöre {seemdum audUumjr mit einander vertragen. Discor-
dans nennt man umgekehrt, wenn zwei Töne mit einander verbunden
werden, die dem Gehöre nach nicht zusammenstimmen 2). Es
gibt drei Arten von Concordanzen: nämlich vollkommene, unvoll-
kommene und mittlere. Eine vollkommene Coucordans ist vorhanden,
uiusiuae practicae ad usum scholae Lüneburgensis von Lucas Lossius (1670):
Quoioplez est masica praoticaf Duplex: onoraKs et figmralis u. %. w.
1) A. a. 0. S. 28. Tinctoris in seinem um 1490 lxikI ruckten Terminorum
MusicoruraDiflfinitorium »Hfr\ : ContrapHnchis est eantusperpositionemunius
vocis contra aliuni punctatita eti'ectus. Et hic duplex 8. simplex et diroinaias.
OaiUnigmnctua simplex est : dam nota vocis quae contra aliam ponitor est
ejusdem valoris cum illa. Contrapunctns »liininntas est dum plures notae
contra unam per proportionem aequalitatis aut iuauqualitatis ponuntur . . .
qui a qnibusdam fUmdut nominatur.
2) Auch Johannes de Garlandia legt in der Dcßnition der Consonanz
und der Dissoninz den ffrf^ssten Nachilmck auf die durch das Gehör ver-
mittelte Wirkung: Cuuüonuutia dicitur esse, quam duae voces junguntur in
eodem tempore, ita quod una potect oompati com alia secundum auditum . . .
Disoordaiitia dicitur e^s*-. (|inim duae voces jnnguiitur in eodem tempore,
ita quod $ecundum andttM» una vox non possit compati cum alia.
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312 Die Entwiokelnn? dee mehrstimmigen Gesanges.
wenn man mehrere Töne mit einander verbindet, von draen dner
vom andern wopen ihres übereinstimmenden Zusnmmenklinfrens
kaum nntersc'hiedt'n zu wj'iden venii;t;r; dergleichen gibt es zwei:
den Einklang und die Oi tax e {^uhi.'^oiiu.s et diajtasoti). tlnvollkoninien
nennt man sie, wenn die Töne sehr merklich von einander unter-
schieden tind, für das Gehör aber doch keine Discordana bilden;
deren sind swei: die grosse und die kleine Ten {dUomu €t Bemidi'
ionus)' Mittlere Concordanzen nennt man jene, bei denen iwei T5ne
verbunden werden, die eine grössere Uebereinsdmmung haben als
die vorgenannten unvollkommenen, doch keine so grt)sse wie die
vollkommenen; das sind zwei: (Quinte und Quarte {dinpeute et dia'
iessaran) . . . Der l)i^t•ur(lall/^Ml gibt es zwei Arten: v(dlkommene
und unvollkommene. Vollkommen sind sie, wenn zwei Töne so
verbunden werden, das» sie sich nach dem Gehöre durchaus nicht
vertragen; deren sind vier: kleine ßecande, ttberroXssige Quarte,
grosse nnd kleine Septime (srnniUmua, tntmuu, ditonus cum diapeiäe,
ti tmiditomta cum diapente). Unvollkommene Dissonanzen nennt
man jene, deren Znsammenklang das Gehör erträgt, ob sie gleich
dissoniren*); das sind zwei: die grosso nnd kleine Sexte (to)iH.<i mm
diajieide, st mitonus cinn diapeute) . . . .Man lunss aber wissen, da^<?
jede nn\ cdlkomnienc Dissonanz nnniitlt'Il)ar vor einer Consonanz sehr
wohl klingt-)." In den Schlussworten ist eines der wichtigsten Kunst-
gesetze der Musik gleichsam wie beiher aufgegrifien: die Auflösung
der Dissonans in Consonans.
Die Sexte galt also einstweilen noch fttr dissontrend. Auffallend
ist es, dass in obiger AsfziChlung die grosse Secunde (iomis) über-
gangen ist. Johann de Muris nimmt Unison, Quinte nnd Octave
als vollkommene, die grosse und kleine Terz und die grosse Sexte
als unvollkommene Consonanzen an^). lici Philipp von Vitry
(V}iiU})jiu.s deVitrinrn)^ Bischof von Meaux, der dem Hude desselben,
des dreizehnten, Jahrhunderts augehört, und der dreizehn Iutei'\'alle
annimmt (1, gr. und kl. 8, gr. und Id. 3, 4, Tritouus, 5, gr. nnd kl.
6, gr. nnd kl. 7, 8), wird dagegen nicht allein die grosse, sondern
auch die kleine Sexte bereits unter die unvollkommenen Consonanaen
zusammen mit der grossen und kleinen Ten tingereihet^). Dagegen
1) Aehnlieh bei Johann von Garlandia: Imperfectae dicuntnr, com
duae voces junguutur, ita quod secundum auditum possunt aliciuo modo
coropati — tarnen uou concordant. Sehr schön ist die Erklärung des
Mordiettas von Padas: „Dtasonantia fit, com dno soni similiter pnlsi
sibimet ju-rniisccre nolunt, sed Bcorsum quisque gliscit ire." Wie lie-
zeichucnd ist hier nicht der Ausdruck : dass ieder der Töne tmvermischt
für sich gegen den andern die Oberhand behalten will!
3) Jmneonis Musica et cantns mensorabilis Cap. XI bei Gerbert,
Seriptores 3. Bd. kS. 11 und 12 „Item scicndnm est, quod omnis impei^
iucta diacordantia ante concordautiam bene concordat.
10 S. in Gerbert, Scriptores III. Bd. 8. 806 .de discsata et eonsonantüs."
i) Quatnor autem sunt imperfectae, scuioet: ditonns, alio nomine
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Der DiflcantiM und Fauxbourdon. 313
wurde die Qnvto durch die FransoBeii, insbesondere durch de Mnns
und Philipp von Vitrj, dadurch dass sie unter den Gonsonansen mit
Stillschweigen üb(>r^an«:cn ist, unter die Dissonanzen verwiesen. Die
mathematischen Verhältnisse der Quarte konnten unmöglich diose
veränderte Ansicht veranlasst haben, denn sie sind leicht fasslieli,
sondern wietU-r nur die sinnliche Wahrnehmung des Flauen, Schwan-
kenden und Hohlen der nackten C^uarte^). Der Paduaner Pros-
docimuä von Beldomaudo schliesst sich hierin den französischen
Lehrern an: die Sexten (gross und klein) sind ihm consonirend, die
Quarte dissonirt (wie er ausdrücklich erklSrt), doch weniger als die
Septime und die Secunde, sie bildet den Uebergang von den Disso-
nansen an den Consonanzen. March et tus von Padua verfocht
dagegen die consonirende Eigenschaft der Quarte und erklärte ins-
besondere Franco's Lehren darüber filr irrig. Eine neue Bedeutung
erhielt die (Quarte in den sogenannten Faux-Bourdons^), einer eigenen
Art Organums, bei welchem die orgauisireuden Stimmen über dem
Tenor statt der bei dem älteren Organum angewendeten vollkommenen
Gonsonansen (Qainte und Octave, oder auch Quarte und Octave) die
unvollkommenen, Ters und Sexte, sangen, wobei snm Schlüsse die
Oberstimme mit dem Tenor in die Oetave trat. Hier bildeten die
beiden bourdonnirenden Stimmen unter sich Quartengänge, deren
Härte jedoch durch den g»'g<^n die Oberstimme in der Untersexte mit-
gehenden Tenor beseitigt \vur<le und die mit dem alten Quarten-
organum nichts mehr gemein hatten. ,,Die Quarte," sagt Tinctoris,
„wird durch den ganzen Verlauf desjenigen Gesanges zugelassen,
den man Faox-Bourdon nennt, oft iHrd ihr aber die Qainte, und
noch ttfter die Ten beigefügt Die unterstellte tiefe Quinte klingt
besser als die Ten." Er giebt folgendes Beispiel eines iweistim-
migen ans Sexten und Octaven gemischten Fanx-Bourdons :
Fanxbourdon.
Teror.
I
-9-
I
86686668
<m Sal - va - to - rem
ferfia perfeeto, tonns cum diaponte, alio nomhie wxto perfecta f aemidi-
tonus, alio nomine fertia imperfecta, et aomitoniuia cum diapentc, alio
nomine sexta imperfecta. £t dlcuntur imperfectae, quia uou tarn perfcc-
tom sonam important, ut species perfectae, (^uia intcrponnator speciebui
perfectis in compositioue. (Philipp von Vitry, Am contra uuncti.)
1) Pliilipp von Vit rynenntals vollkommene t'on'^onanzen Üiiison, Quinte,
Oetave; als uuvuUkommenu grosse und kleiau Terz, grosse und kleine Sexte;
dann riihrterfort:AliaeverotpeoiesBantdisoordante9, folglich aachdie Qaart.
2) Porro per totum discur'dnn ciintus ({uem fauxbour lon vocant quarta
sola admittitur ei saepe quiuta ac »aupius tertia. Uravis quiuta ipsi quartae
subjuncia snaviorsm ooncentum quam tertia effidat. (IMnotoris Oontrap. I. 6.)
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314 Die Entwickelung des mehrstimmigen Gesänge«.
Aehnlich Äussert sich FranchiuusGafor: „Weuii," sagt er, „derTenor
und dvr Cantus in einer oder mehreren Sexten fortschreiten, dann
wird die Mittolstiinme, nKmlich der Contratenor, immer unter dem
Cantus die Quarte einhalten und gegen den Tenor die höhere Terz;
diese Gattung Contrapunkt nennen die Musiker Faux-Bourdon."
^- (Fraocliiuus Gafor.)
1^
C. T.
-- — r=F -^ ^ I ^
Ten.
Der Faux-Bourdou in blossen Sextarcorden war also im Orande
doch nur ein veredeltes, auhörbar gewordenes Organum und ebenso
mechanisch ynQ dieses.
Eine wesentlich andere, kunstvollere Gattung wareu jene spä-
teren Falsi-bordoni, bei denen der Cantus finnus im Tenor von zwei
höheren und einer tieferen Stinmie, Note gegen Note, in lauter Con-
sonanzen begleitet wurde: eigentlich schon eine Art Contrapunkt,
welche einer beträchtlich entwickelteren Kunstepoche angehört, und
die nicht immer der blossen Improvisation der Sänger anheimgestellt,
sondorn zuweilen selbst von bedeutenden Componisten ausgearbeitet
wurde, wie z. B. nach 1600 Lodovico Viadana seinen sogenannten
Concerti einen Anhang solcher Falsi-Bordoni beifügt. Die Faux-
Bourdons und Falsi-Bordoni kamen allem Anschein nach durch die
Sänger, welche die PÄpste von Avignon nach liom mitbrachten, in
die päpstliche Capelle und halfen den Grund jener nachmals dort
so hoch ausgebildeten Singemusik legen.
Ein solcher ausgeschriebener Falso-Bordone, der sich in Gio-
vanni Battista Rossi's von Genua 1618 bei Gardano in Venedig ge-
drucktem Organa de cantori findet, hat folgende Gestalt:
> g <g <g <g-
I
g>
i rf 1^
/TS
^1
Domine me festina ad adjuvandum. Gloria patri et filio, et
spiritui sancto.
-<5»
-r
)ogle
Der Bitcantw und faaxbourdon. 815
— ^
5r-
— UtfH^ ^
j^M-
1^^^^
=^
TV
1 ^
4-p-! II
" 'II
M
. .
— 6f —
'TV
Bicoi erat in prmcipio et nunc et
Mmpw et in «aecula Mecnlorum.
^ — mm 1
AMe
Amen.
In • - ia').
_ ,..-461.,^
Diese Singweise, die unstreitig etwas Feierliches und einfacli Wür-
diges lint, ist l)is auf den heutigen Tag nicht vfdlig ausser Uel)uug:
z. B. das Et cum sj^iritu tuo und Amen des dem rriester antwurtenden
Gliordt iit ein wahrer Falso-Biurdoiie. Welelien Einflnss die Falsi-
Bordoni auf die Knnsteompontionen selbat der grüssten Heister ge-
habt, werden wir wdterhin sehen; noch in AUegri's berObmtem
Miserere werden vdr ihnen begegnen. Sie galten ftr ein Mittel-
ding Ton Catäo fermo nnd (kuUo figurato*)»
1) 8. 79. Die laugen Koten werden nach der ZaU der daranf ent-
faOenden Sylben, mit gehöriger Dedamation, in Ueinere sertheüt:
J. J J J 1 J J. 0^ J l 0
Olo-n - a pa - tri et fi - Ii - o et u. s. w.
2) Giov. Batt. Ronsi (a. a. ().) sapft danilior: ,,Ma porchc nMtiaino fatto
menzione di falso bordone, mi potrebbe dimaudar alcuno, che cosa, ö
qnetto Mso bordone^ ovrero: ehe vnol dire faho bordone f veramente io
non ho trovato alcuno che faccia questo qucsito nulla dimeno daromo tal
risposta, che restera il cantore appagato e quii to. E donque da notarc, che
questa h nna m^tafora. Burdo in latino siguifica in italiano quelle chä b
nato di eavallo et di aaina come notano qaeati reni :
Burdonem producit eqans coniunctus asellae;
Procreat et mulum iunctas asellu» cquae.
B ti come U nato di eavallo et aaina non h ne aaino, ne eavallo, ooii fl fUao
bordone, qual c composto ordiuariamcnte di caiito fermo e figurato non c
ne l'uno ne Taltero — ö fermo per Taudar col canto funno po^atumente,
eome osservano gli antichi Tachet , Palestina (so!) ed altri, ö ft*;urato in
parte per la conaonamta, che non 6 ncl catito fermo, cantando tutti con nna
voce e misnra stessa, come r manifcsto. ünde perche falsitica il canto fermo
etil figuratu, uou esseudu ne l'uno ue l'altro vieu dettu falso bordoyie.^ Pr&-
torina (Syntagma 8. Thl. S. 9) ^bt folgende ErklBmng: „FOrs erute werden
die Psalmen, so im Anfang der Vespc^r, aln Nota conf rsi Xotam in einer Reige
nach einander in Uniaono gesetzt sein, Jk^salmi falai bordouigenenuet, wiewohl
in denselben nnamehrder Baas In der Quinta unterdem Tenor allseitgefimden
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316 Di6 Entwickelang des mehrstimmigen G^estngM.
Neben den parallelen Fanx-Bonidona hatte deh bei den fran-
sttsischen Kirehensängem noch eine andere, nicht so mechaniBche
Axt mehrstimmigen, in allen seinen Noten nach deren Dauer genau
bemessenen Gesanges, der D^chant odi^r Discantus, eingebürgert').
Ks gab davon zwei Arten: die einfache, und die mit Zierwerk
( /'VpujT^/e'.v) ausgcstntt«'te. Hei crsterer beschränkte sich der D«^chan-
tirende darauf, dass er mit dem Tenor im Einklänge saug und weil-
weise, wenn der Tenor um eine Stute fiel, um eine Stufe stieg und
wird, so die RiirTnoninm fftif und comph-t machen. Bei den Italis aber ist
Falso bordone, welches diu i<V&uzo8en Faulx Bourdon ueouen, wenn ein Ge>
sang mit eitel Smcteu nadi «nander genrngen wird, also dass der AH vom
Diacant eine Quarta and der Tenor uid Alt eine Tertia niedriger und also
oben eine Quart und unten eine Tertia respectu mediae vocis ist. Erat autem
veteribus receptuni, ut jueundisüimaeharmoniarumcxcursionea interdum hac
ratione instituert-ntur. Sed cum ▼eram basin non habeant et Bordone Italis
ehnrdam, quae vnnTr^v rou maximam in testudine sijriiificet, falso Bordono
appellatur. Denn die Tertia hat ihren natürlichen Sitz nicht in Souis gravibus
et mferioribas besonders in sonis acntis et saperioribar. Und wie ran dritte
Bordone eine grosse Hummel, welche daherrauschet, summet und brummet,
interpretirt wij cl. also gibt diese Art keine liebliclu-, si »ndem rauschende, sum-
mende HaniKuiiain u. 8. w. — Su werden auch die t'lausulac finales cujuslibet
toni fabiBordiiiii g< lu iniet. Dann Bordoni projir ic seynd Säume und Ge-
briihme an Kleidern als Ende und gewisse Weise eines Dinges; wie aus den
Autiphonis (ubi Clausulae finales cum ClausuUs finalibus tonorum et basibus
videntur ex parte esse incertae et fiilsae) sn sehen. Wobey damt an erinnern,
dass etliche vermeynen, der Tenor habe und führe seinen Namen auch a
Hordon, quod est Latine Tenor, Germauice ein Stender, der unter einem Ast
am Baume, so voll Gewächs beuget, als ein Stütze gesetzet wird, darauff
der gantze Baum ruhet, oder als ein Jacobs- und Bilgerstab (Bordone e
rhasta che porta il ]>eregTino per viaggio), den ein Peregrinator oder
Wallersmann in der Uaud hat und sich daran halten muss — Item ein
Barnn mit Bisen beschlagen, da man ein Hanss mit stfitset nnd die ganae Last
uflFruhot, die Zimmorleute iieimen es Burdonale, einen Träger : also solle ilcr
Tenor bei den Lateinern den Namen übericommen haben, gleichwie ein Bor-
don, der den gantzen Gesaug unterhalten sol." Adrian Petit-CocUcus meint,
der Name faux-))ourdon rühre von den au sich falsditti Quartengftngen her,
die aber durch die darunter gesetzte FTitersf imme verbessert werden, „et
dicitur gallice Faubourdon, id est, quod malae species, quae sunt contra
partem superiorem, excosantur, per vocem inferiorem, sextis sea octavis."
Adam von Fulda sagt: die Quarte gelte bei einigen für eine perfecte, bei
andern für eine imperfecte Cousonaiu, „nos vero eam semidissonantiam esse
dioimiM, id est, com nulla pw ae solam eoncordantem. Quam ettam (Johannes)
de Maris oonsonantiam rare negat, nisi eam perfecta praecesserit consonan-
tia, cum perfectis vero aut imperfectis moderatur concordantiis et ipsa
consonuniium facit non ex se, sed respcctu aliarum; quod musici gentium
vocabulo faulxbourdon vocare coeperunt, quia Mnm reddit mmum.*^
(Mus. 11. 10, bei Gerbert 3. Bd. S 3')1 )
1) De Muris sagt: Est enim discantus simpUciter, oui in omni sua
parte onnoto tempore mensurator (Spccultim Yll. 10). Bemerkenswerth
ist folgende Aeusserung Franco's (im Texte bei Ilieronymus de Moravia):
Secundum quod purum Organum haben non potest nisi super teuerem,
ubi sola noia est unisono; ita quod quaudo tenor accipit plure» notaa si>
tmii, atatim est discantus.
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Der Disoantas and Fanxboardon.
817
umgekohrt, und im Einklänge schloss. Ein überaus wichtiges, sehr
bald mit grossem Interesse aufgcgri£fene8 und verwerthetes Kunst-
gesets, das Gesets der Gegenbewegung, kündigt rieh hier in den
ersten, wie mflQIig aiiBgestreiieten Keimen an. Femer mossten die
dorehdas Aoseinandertreten der Stimmen entatelienden Tenen dorch
ihren auffallenden Wohlklang wesentlich mit dasu beitragen, das
Vururtheil gegen die Terz g^ndlich beseitigen an helfen. Der ver-
zierte D^chant bestand in verschiedenen Molismen und bunten Fi-
guren, die über dem Tenor nach Einsicht und üeschmack ausg^efiihrt
wurden, und bei denen oft höchst bizarre Tongäuge vorgekommen
Bein mögen 1).
Bin Beispiel, wie die Ters dueh das Anseinandortreten der
Stimmen ans dem Unison mn^fUhrt warde, giebt ein swelstun-
miger Gesang des 12. Jalulinnderts (ans der Bibl. Ton Donal,
Mser. No. 184):
Tenor.
: a*
LA».
■^^
Ver
- bam
bo -
num
et
flu
1
- a •
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^ \-JBa- 1 1 1 w — p - «>i- --»'4 ö'-^i
4818 1S8648 1 1
1) Kiesewetter, Gesch. der Mus. 2. Aufl S. 36 safrt: „Wurde vollends
einsolcher üxtemporirterodercouvtiutiuucllurDcchaut in melireren Stimmen
und in verschiedenen Intervallen gewagt, so ma? oft ein wunderliches Cha-
rivari zum Vorschein gekommen sein, und es ist schwor 7.\\ bnirreifou. dass
man irgendwo an solcher Musik sich ergötzt oder erbaut haben könne."
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318
Die Entwiokelung des mehntimiiJgBa OeMi^ei.
Das Discantinren wurde jetet m einer föimlieheii Kuiitt («nv diMSMi«
tandi), deren Grundsfttze sich bei fortdauernder praktischer üebuag
nach den öfter wiederkehrenden Combinationen an bestimmten Ke-
ppeln and Audeutuugen zusammenstellen liessen und daher auch den
Gegenstand ganzer Tractate zu bilden anfingen, in denen die Vor-
stufen der eigentlicluMi Lehre vom Contra|)nnkt zu erkennen sind.
Als VcrtastierbuichcrTractateBindzuneunen im 12. Jahrhundert:
Guido, Abt von Ghalis im Kloster Qteanz in Burgund^}, Johann
de Garlandia (nicht zu Tenrechseln mit dem gleichnamigen eng-
lisehen Dichter und Grammatiker ans dem 18. Jahrhundert), anch
Gerland genannt, ans Lothringen gebürtig, Canoniens der Abt«
von St. Paul in Besan^on^; im 13. Jahrhundert Hieronymus de
M oravia, der wer weiss durch welches Lebensschicksal ans Mähren
in das Doniinicanerkloster von St. Jacob in Paris versclilnfrcn wurde^),
anch France (von (!öln) und im 14. Jahrhundert J oliann de Muris
und Philipp von Yiiry^) beschäftigten sich angelegentlich mit dem
Discantus, obwohl die beiden Letateren schon unter die Begrttnder
der Lehre vom eigentlichen Contrapnnkt gerechnet werden müssen.
Sehr bemerkenswerth ist, dass eine Abhandlung (fond Sl. Victor in
der Pariser Bibliothek, Mscr. Nr. 813) zwar die lateiirische LTeber-
schrift trägt „de arte dist avtnndi" , übrigens aber, für jene Zeiten
etwas höchst Seltenes, in der vulgären Sprache, nämlich in alt-
französisclier, verfasst und offenbar für den praktischen Unterricht
der Knalicn und uugelehrten Sänger berechnet ist. Der Discantus,
wie er sich in diesen Schriften darstellt, ist der Uebeigang vom Or-
ganum sum Oentrup unkt und die Vorstufe des letstem. Seine ^geoste
Heimat war Frankreich; in Italien blieb man bei dem Organum mit
seinen Quarten und Quinten, und der Versuch, den eine in der
Ambrosiana zu Mailand befindliclie, aus dem Ende des 11. oder dem
Anfanirc des 12. Jahrhunderts herrülircnde HaTulsclirift macht, das
Organuni als Organum theoretisch tiefer zu begründen und praktisch
reicher zu gestalten, lässt eben nur erst zweifellos erkennen, dass in
dieser Uugcstalt keine audere Bildungstahigkeit lag, als sie völlig
au&ugeben und ftr die Gleichseitigkeit mehrerer Stimmen richtigere
1) Das ManuBcript seines Werket in der Bibl. St. Oenevt^ve eu Paris
No.1611. Abgedruckt in Coussemaker's Histoire de rharmonie du moyen Sge.
2) Seine Sdirift findet sich in Caj). XXVI dos Manusn ij^tes des Hiero-
nymus de Moravia wörtlich aufgenommen. S. auch Coussemakcr a. a. O.
et Huiifjariam Äto ortus. . . . medio scculi XIII circa S. Thomae Aquini
tenipora claruiste videtur et saltem annis quibusdam in domo 8aiyacobea
Parisiensi egisse**. P. P. Quettf und Bchard: Scriptoret ordinis prae-
uQcti magistri Philippi ex Vitriaco^' JNlanuscript Ho. 5321, und in der
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Per DaewitM und FMubonrdon.
919
I'hncipieu zu Sachen. Fünf Gattungen vom Organum gebe et» nach
Yen^fldeiib^der Anoidiiiuig der Intemlle, sagt der nnbeluuiiite
Autor; ieiii Wesen bestehe darin, dass die Btinunen in Eintracht
swietiffehtig nnd in Zwietracht eintrfichtig sind {caneordiitr dissonant
et dissonanter concoräant)\ Anfang und Endo müsse im Einklänge
oder der Octave Stehen, daawischen aber sollen Quarten nnd Quinten
wechseln^).
. 8514446614 5 8
Bi der ttber Anfimg nnd Sdiinss gegebenen Bogel, in dem nicht
mehr mit eiserner Conseqnens festgäialtenen Intenrall der Quinte
oder Quarte allein, in der Einmischung von Oegenbewcgungen
zwischen die parallelen liegt eine Art Annäherung gegen den fran-
zösischen Discantus hin. Das alte Guidonische Organum ist hior offen-
bar ein bereits überwundener Standpunkt. Nur ist auf dem neu
gewonnenen eben nichts gewonnen.
Der Discantus der französischen Theoretiker uud Praktiker galt,
wie Hniis ansdrtteklich erinnert, ursprünglich flir eben auch nidits
weiter als Ar das Organum^; er bestand nrsprttngUeb aus nur swei
Stimmen, dem Tenor nnd einer höheren Stimme, welche eben Dis-
eantns biess^: Benennungen, deren Andenken und Gebrauch noch
in unserer houtitjen Musik erhalten ist, obwohl ihre jetzige Bedeutung
gegen die urspriinglicho etwas modificirt ist*). Doch schritt man
bald zu zwei- und dreistimmiger Begleitung des Tenors, wo dann
die audercu Stimmen Moteius, THpluM und (^uadruplum genannt
1) „Organum est vox sequens praecedcntem sub cclcritate diapente
et diatessaron quamm videUcetpraeoedeutis et aubsequeutis fit copula
aUmm deoentt oonsonaatia.'* — Weiterhin wird der Werth des Organums
in Versen gepriesen:
Organum ncqtiirit tot um, sursum et inferius
Currit valde delectaudo, ut miles fortissiinus
Franf^it vooes velut prinoeps, senior et dominus
Qua de cnmn npplicandn sonat multo dtilcius — u. 8 w.
2) Discantare erat orgauizare vei diaphonizare, quia diaphouia dia-
oaatos est (de Maris, Speculum raus. VII. 8).
8) In principio in discantu nou erant nisi duo cantus, nt ille qui
tenor dicitur, et alius qui supra tonorcm decsataturi qui Tocator discsn-
tu8 (de Muris, Speculum luua. VII. 3).
4) Die }k^eichiiuti<; des Discantus als Frauen- oder Knabenstimme
kommt schon hu Microlog de» Ornitoparchus (1517) vor: „Di'jfantus oni
ciyasUbetoantileaaeparBBuprema. Velestharmonia^eiiari voce modulanda.
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320
Die Eniwickelung des mehntimmigen GeMmgw.
wniden^). Der Tenor wurde auch wohl Caniu» oder Fbmm eanhiB
genannt. Die Dsuer der Noten in den «nselnen Stunmen maaete»
sollte es nicht in Unordnung durcheinander klingen, unter sieh genau
bemessen sein^), so dass derDiscant unmittelbar zur mensnrirtenoder
gemessenen Musik und zur Ausbildung einer für letztere angemes-
senen Notenselirift leitete. Das Wichtipste dabei war, dass der Werth
und die Wicliti^keit der Gcgenbewefjunp (des moius contrarius) die
gebührende Anerkennung fanden. Stieg der Tenor, so sollte der
DiBcant fallen, und umgekehrt^; parallele Bewegung war zur Ab-
wechslung, jedoch nur als Ausnahme, gestattet^). Johannes Gotton
gibt für die Oegenbewegung dieselbe festbestinimte Bogel: „dasa
der Discant (organica modulatio) fallen solle wenn die Hauptstimme
(recta modulatio) steigt, und steigen wenn diese fttUt; bei angehal-
tenen TonsehlUssen der Haiiptstimme in der Tiefe soll der Discant
dazu die höhere Octave angeben, und wenn die Hauptstimme in der
Höhe Bchliesst, umgekehrt die tiefere Octave; erfolgt der Schluss
aber in der Mittellage, so ist in den Einklang überzugehen'^)/' Die
Qnaxte war nun r<m dien framSiisGhen Lehrern aus der Reihe der
Consonansen weggewiesen worden, es blieben also nur drei vorsag-
liehe Consonansen, die „besser sind als die andern", wie es bei
Hieronymus de Moravia heisst*), ttbiig: Unison, Quinte und
Octave. Diese drei vorzüglichen Consonanzen sollten den Kern und
das Wesen des Znsanunenklanges von Cantos und Discantns bilden;
1) Discantus uuo modo dicitur a dia, quod est duo, et cantua, qoia
duplex est, vel duo eaatui teu duorum cantni. Quia etsi pofdt esse plnriun,
magis proprio tarnen est duorum (a. a. 0«). Quamfis proprio nai tsoori unns
respondeat cantus, ut sint duo cantns, possunt tamen aupra tenorem unum
multi tieri discautas, ut motetus, triplum, quadruplum (a. a. 0.) Sonach be-
deutete Discantus soviel wie Gegenstimme, begleitende Stimme ftbet^
haupt: jeder G( frpjifrp>^nri(r gegen einen gegebenen Tenor hiess Discantus.
2) Item ai firtnm cantua aacendat u. s. w. £t e converso discantus
ssoMiast li etmhu per tommi BmoaM (aus der „Ditoantus vulgaris po-
sitio" bei Hieronymus de Moravia).
3) Discantus est aliquorum diversorum cantuum consonantia, in qua
illi diversi cantus per voce» lonfjaa, hreves et semibreves proportionaliter
adaequantur et in scripto per dt liitan figuras proportionari sd tavioem
designantur (Franco. im Texto bei Hieronymus de Moravia).
4) £t sciendum est, quod tenor et discantntpropter pulchritodinem
cantus quandoque simol aseendit et deaoendit Qmai90 a. a. O.). Sonst
ist in den Tractaten die Vorschrifl der Gegenbewegung überall fSr alle
einseinen Fälle consequcnt durchgeführt.
5) ut ttbi in recta modulatione est elevatio ibi in organica fit
depositio et e converso. FroTidmdum quoque est organizanti, ut si
recta modulatio in gravibus mornm fecerit, ipse in acutis canendo per
diapason ocourrat, si vero in acutis ipse in gravibus concordiam faciat,
oaatui antem in meae vel eiroa mese pansationis üfMnente in eadem vooe
respondeat (Joann. Cotton, bei Gerbert Scrij tnrrs TT. S. 104).
6) Inter concordautias autem tres sunt cetens meliores, scilicet uni-
Sonns, diapeute et diapason (Discant. vulg. positio, bei Hier, de Mor.).
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Der Difloaiiiaa and Fauxboardom. 821
die uiiTollkommenen GonBonansen, Tenen nad Sexteiii nur swiMhen
die yoUkommenen nebensflchlieh eingelegten Dissonanxen sind der
Abwechslnng wegen an „gehöriger Stelle"^) im Durchlange einsn-
mischen; wo Note gegen Note geeeint wird, oder zwei Noten gegen
eine, soll ea durchaus consoniren: im letztern Fall darf die eine
Note ausnahmsweise ilissnniion, um der Musik Färbung'' zu fTfluMi*).
In diesen Grundsätzen kün(lij;eii sich schon die Kr;.'-t'Iii au, d'iv licr-
uach iu reicherer Durchtlihruug in die Lelirc vom Cuntrapuukt über-
gingen. Die Seliritte, welche der Discantirende an madien hat, sollen
mit dem Tenor im Wesentlichen in den vollkommenen Consonansen
der Oetave oder Quinte susanunentreffen. Das Unangenehme der
Octav- und Quintparallelen wurde durch die rSegenbewegung be-
seitigt. Das Verbot wurde etwas später wirklidi ganz ausdrücklich
ausgeHprochrn, einstweilen wich man solchen Parallelen in den meisten
Fällen mit unverkennbarer Alisiclitlichkcit aus, doch nicht ganz, wie
z. B. in dem vorhin mitgetheilten Verhum hoiniui ft snave drei Octaven
nach einander auftreten. Die Discantirregelu sind darauf berechnet,
dass durch geschicktes Einsetsen des Discantus solche Fortschrei-
tnngen vermieden weiden können; jene altfransSsische Jbn diacanr
tondi sehreibt gleich fUr den Anfang vor: il (der Tenor) monte
nous devans prendre la double note (die Octave); «i «2 avaU lum
devinu preiidre la quinU note":
Diso. 8 5
Tenor. ^
offenbar nur, damit fUr den Discant genug Raum da sei, um durch
die Gegenhewegung im ersteren Falle ans der Octave in dir t^uinte
fallen, im zweiten aus der Quinte in die (>ctave stcitreu »ind «o
Octave auf Octave, Quinte auf Quinte vernM'idcn zu kilnncn. Die
Abhandlung „Diacantua vulgaritf jfositio" bei Hieronymus de Mo-
ravia lehrt gans Aehnliches, und insbesondere wie hei drei Noten
gegen eine die unvollkommenen Consonansen und die Dissonansen
als Zwischenstufen einsnschalten seien. Es werden alle Intervall-
schritte des Tenors einseln mit ausführlichen Erkllrungen durch-
1) Franco sagt : „Deinde prosequeudo per concorüantias, commisccndo
aliquando discordantias in locis debitis" u. s. w. (bei Oerbert III. S.
S> Johann de Qarlandia sagt: „Omne qnod sti in pari, debet concn -
dare cum omni illo qiiod sit in impnri, si f»it in primo vel pcnindo vel
tertio modo." Doch lässt er Ausnahmen zu: „Üed duo puncti sunientur
bio pro nno et aliquando enm eomm ponitur in ditcordantiam propter
colorem musicae. £t hie primus sive «^ccundus et hic bene permittitur
ab anetorihna primis et lioeutialiter, hoc autem iuvenitur in Orgauo di-
versis loci« et praecipne in motetis.*'
Aaibret, «Mobiclite dw Mwik. n. 21
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322
Dio Eiitwidk«loBg äm mehntimmigeii GenngM^
gcQommen, sogar der Schritt in die Septime ; nur die Quarte ist völlig
ttbergangen. Wenn man sieh erinnert, was sie den Griechen war,
80 macht rie hier fast den Eindruck eines in Ungnade gefallenen
GUnstlings. Die anlSssigen Schritte sind nach den gegebenen Er-
klärungen folgende:
6 B 7 5 8 7 8
Tenor aof dernlben Stnfa
87S 57 H, 8TS SS8 8B»t
f — TT — r""f — 7 * 'j
2. vnn eineu Halbton stei- 3. um einen Ganztou stei- 4. um eine
gend oder fallend. geud oder fallend. kleine Terz.
6. mn eine Qniata.
'ff
6. mn tia» Ueine Sesi
7. um eine grosse Sext & vm eine Septime.
»Jlast du dieses gesehen und deinem Gedächtnisse wohl eingeprägt*',
sehliesst die Abhandlung, „so kannst du bei gehöriger Anwendung
des Wissens auf die Uebung die ganze Kunst des Discantirens dir
eigen machen"^). Auf «ranz übereinstimmenden Grundlagen nihen
die Anweisungen jener altfrnnzösisch geschriebenen Ars diacantaiidi,
nur ist hier alles noch einfacher: Alles was der Discantirende su
beobachten hat, ist, Note gegen Note singend immer also tu steigen
oder su fisUen, dass wenn er mit der ersten Note gegen den Tenor
eine Quinte angegeben, die sweite eine Octave sei, und umgekehrt;
und beim ersten Einsetzen eines dieser Intervalle immer so zu wählen,
dass ihm genügender Spielraum bleibe, um jene Bogel beobachten
1) Quibnsvisis et memoriaecommcndatis totamdiacautandi artem habere
poteris, arte usui applicata (Diso. valg. pos. 40 bei Hioron. de Moravia).
Der DiscMttns and Fauxboardoo.
323
und parallelen Fortochreitungen vollkommener Consonansen ans-
weiehen sa ktfnnen. Quido von Ghalie sieht auch noch die von
den flbrigen fransöaiachen Theoretikern aufgegebene Quarte und
den Einklang mit hinein, daher die Zahl der von ihm erklärten Fort>
■chrMftnngen auf einundvi«»ig steigt. Merkwürdig ist , dass er
poppnzwei Quinten nach cinnn»l«'r dann niolit das rjorinf^stc hat, wenn
aie durch (sprungweise) Gegen beweg uug der Ötimmen ontateheu:
1
- (
- r> rm
-n
1
ein neuer Beweis fUrdas damals, schon stillschweigend angenommene
Verbotgesets der Folge sweieryoUkommenenContonanaen in gera-
der Bewegung, ein Geseti freilich, an das sich die Praktiker nicht
banden, und das erst im 14. Jahrhundert ausdrücklich anerkannt
nnd ausgesprochen wurde. Dabei werden der discantireuden
Stimme oft schwierige nnd nnsingbare Sprttnge lugemuthet:
Die französischen, insbesondere die Pariser Bibliotheken bewahren
noch eine nieht nnbedentende Ansah! von Gesfingen], welehe die
Anwendung dieser Gesetze in der praktiseken Ausübung neigen,
wie folgender dem 14. Jahrhundert angehörige zweistimmige Gesang
aus einem Manoseript ^r. 11S9) der Bibliothek sn Paris:
(CouBsemaker, hnrm. da moyen ftge.)
^-1
iL.
a
8
>ra
>ge, mi-ro mo-do De-us for*nii
Ii ho • nu-
, ' 1
nem,
5. S
mi-re
ma-gis
ft 4 s 1 a
hune re • for - mat
^=«» 4 Ä»^«
mi-rum
WU-^» — 1
n w r r ' — ^ — 1 — 1" r'" " '
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324
Die Eatwickelung des mehrstimmigen Gesanges.
or-m - m
8« «4 58 ft« tta Ii
nem.
^.^nutti'ji mi-xtw w • in lioe m> - nat
• 1
>Cft'OOI>
1 i 6 Alst
• 1 41tC It
• t t •
iRi t f — r
Hier werden noch Quint- und Qnartparallelen ohne Bedenken ein-
gemischt, überhaupt zeip^ der ganze Satz, wio viol der D6chant im
1 1. .lahrhuudort iiocli vom Organum an sich hatte; der Schluss klingt
wogen der darin \ ( n wicii^cud angewendeten Terz zutallig erträglich.
Ein anderes .Manuscript der Pariser Bibliothek (Nr. 812) enthält
unter andern ein dreistimmiges Sattdua und Benedictus aus dem
12. Jahrhondert, beide in der Harmonie Xnasertt loh; sie laasea
die Beobaohtong der Begela flir die dritte Stimme (IWfiliMi)
erkennen, wie sie sieb bei Franeo finden:
^1
■6^
Be-ne-dic-tos
II jTT I ~1
2t
2s:
Be-ne-diotas
Be-ne-dic-tu8
U. 8. W.
Man müsse, lehrt Franeo, wenn man zu zvrei Stimmen eine dritte a.8. w.
setzen will, sehen, wie sie sich zu den schon vorhandenen schicke;
wenn sie mit der einen dissnnirt, müsse sie mit der andern consoniren;
auch solle die hinzutretende Stimme nicht immerfort mit einer und
derselben von der früheren auf- oder absteigen, sondern bald mit
dem Tenor, bald mit dem Discant u. s. w. Franeo hat seine Lebren
Uber den dreistimmigen Sata durch ein Exempel illustrirtt welche«
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Der OisQUitii» and f •azbourdoiL
325
Im Texte bei ffieronymas de Horavia (Per. Bibl. Meer. Nr. 1817)
steht, sngleieh eineB der lltesten Beispiele eines partitnr- oder viel-
mehr tabulatarmitssig notirten Saties, und bei aller Unbeholfenheit
und Rohheit doch schon ein grosser Schritt über das Ofgannm
hinaus ist:
de
S
1-
I
1)
olcia
(Entziflbrung von E. Coussemaker.)
i
(ÜBhlt im Orig.)
-'^ ^ ö»— 'S' — ^ e/ (g
Ini — =: P (~ ■ — ^ — p T—
(Sohrnbfehler im Originsll)
Als «ich, wohl schon im 9. Jahrhuiidort, von der ersten Stimme,
dem gegebeneu Gesauge des Cantus firmiui, eine zweite lusloste,
wagte man, nur sie mit der ersten, einer vollkommenen Consonanz,
derQninte, Quarte oder Oetave, mitgehen m lassen. Dadnreh wurde
die organisirende Stimme nichts weiter als ein Reflex, ein etwas
anders geflirbtes Spiegelbild der Hauptstimme. Beim filteren D6chant
mischte man, wie wir sahen, nach einer siemlich mechanischen Mani*
pulation auch andere Intervalle ein: man stieg mit der Ooprenstimme,
wenn die Hauptstimme fiel, und umgekehrt. Iiier war die Gestalt
der Gegenstimme noch immer eine unmittelbare Consequenz der
Hauptstimme und im Grunde nur eine Art Umstellung der letzteren,
aber es trat doch schon eine Art von Selbständigkeit, und besonders
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326 tHe Entwickcluug de« mehrstimmigen Gesanges.
in der strenge eingdialtenen Gegenbewegung eine Art Contnst ein.
Es kam hier, wenn auch nur wie durch Zufall, schon eineArtOegen-
mcloflio heraus. Dies konnte mit bestimmter Absicht aufgegrriffen
und dem Tenor, so gut als es die noch unbeholfene Kunst vermochte,
im Discant eine zweite Melodie entgegengestellt werden, allen beiden
im Triplum eine dritte u. s. w. Diesen Staudpunkt, der eigentlich
sdion den Uebergang vom Xlteren mechanUeben D^ehaat mm eigent-
lichen regelmtssigen Contrapnnkt hildet, eireiehte, wie wir an dem
Torstehenden Beispiele sehen, schon Franco. Ganz deutlich und be-
stimmt tritt die Auffassung des Discantus als einer wirklichen Gegen-
melodie in einer Stelle des Johannes de Garlandia hervor. Man
gebe der Musik Färbung (color) durch drei Mittel: durch den
geordneten Klanf^ {Sono ordinato, d. i. wrdil durch einen regelmässig
geordneten Discantus überhaupt), dunh Tiorirung (Florificatione)
und durch die Wiederholung (i^e/zdi/to^ft^). Letztere ist eine doppelte:
entweder in der nltmlidien Stimme (ejusdm weis), wenn fiimliffb in
einer nnd derselben Stimme eine ganae Phrase wiedeilKehrt nnd da-
durch dem Hörer als ein schon Bekanntes neuerdings entgegentritt,
oder in ver schiedenenStimmen (repetitio divenaevocis), wenn
dieselbe TMirase ({(lern soints rejjefitus) in verschiedenen
Momenten von verschiedenen btimmen (tR äivertO tonpore
a diuersis vocibus) vorgetragen wird:
A.
B
A.
r 1 r "
p-f:.. 4 :
Zum erstenmale geschieht hier des unschätzbaren Kunstmittels der
Nachahmung ErwMhnnng; in dem Beispiele aber wird es in mner
allerdings noch nichts bedeutenden Gestalt, nimlich als blosser
Phrasentaasch in den beiden Stimmen, angewendet^). Gewiss ahnte
weder Garlandia noch irgend einer von seinen Zeitgenossen, welche
unermesslichen (\)n8equenzen sich an diese halb tändelnde Umsetzung
reihen, so wenig wie die mit geschliffenen Ginslinsen sjiielenden Kinder
jenes Brilleumachers in Middelburg ahnten, dass ihr kindischer Einfall
durch zwei solche Gläser nach dem Wetterhahn des Kirchthunns zu
schauen den Weg zu den Wundem des unendlich Grossen im Sternen-
1) In einem neuestens (1869) im Archive der medic. Facultftt m
Montpellier gefundenen Manuscript des 13. Jahrhtiiiderts sollen sich
französische Lieder behuden, in denen bereits wirklicher doppelter
Oontrapenkt angewendet ist Die verheiaMnePtablication durch Oonne-
maker wwd darüber wohl Anfschlnss geben.
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Der Diaeft&tiu und Vaiiztiourdon.
327
himnicl, wie des unendlich Kleinen im Wassertropfen balinc. In einem
dreistimmigen Tonsalze aus dem 12. .Tahrluindert (Mscr. Xr. 1817
Pariser Bibl.) finden wir in dfu beiden über den Tenor gesetzten
Gegenstimmen (Motetus und Triplum) bereits vollständig ausge-
sprochene Imitationen; übrigens ist es trotzdem ein rohes Produkt:
Cu - 8tO
di
DO«
Do
(Coonemaker a. a. 0.)
• mi
ne
1 L
&i _ 4
3
Cd - sto
1
di
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Do • - mi
ne
Ca -sto
di
not Do
mi
ne
inb a
la - nun
tag
mi
ne.
cu - sto-
cu - sto-
no8 om - noB
i
di
hu • jiM
not om - n«8
hn - jot
:5
'S!:
i
<5^
ea - • lietc.
Marchettus von Padua ei-whbnt der sogenannten Perniutatio^),
d.i. der VerSnderung eines Tones auf derselben Htuf'e durch oderj?,
1) Pennatatio quid rit et qaomodo fiat ^noid. raus, plante. 8. Traotat.
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828
Die Entwickelung des mehntimimgen Gesanget.
und gibt dasu ein Beispiel, in dem beiher sich wieder eine an*
dere wiclitige eontiapanktiBche Manier, die Verkehmng des Thema,
ankündigt:
Es ist im höchsten Grade raerkwUrdi{i;, solche Keime da und dort
wie in einzelnen Blättchen aufspriessen zu sehen. So finden sich
unter den Motetten Adams de la Ilale, welche in der Bibliothek
zu I^aris aui'bewalirt werden (Codex 65 und 66, fonds la Valli^re)
einige, bei dmien flbor i^en nnd denselben idiii oder iwSlfinal
wiederholten Gang des Canhu fkumt ab obstinaten Bass die
htthem Sternen einen manmgiiwhen, wenn gleich noek rohen
fiorirten Contrapunkt bilden. Dieser spielende Einfall wurde dann
gelegentlich von den niederländischen Meistern in sehr sinnreicher
Weise verwerthet. Der Codex No. 1783 der llofbibliothek zu
Wien enthält eine sehr troff'liche Messe {Officium mi-vti) von de
Orto (einem Mrister, von dem l'etrucci 150.'} in den Ciuiti cento
ciuquanta das vierstimmige Lied „Les trois filles du Paris'' 1505
ein Buch Messen nnd 1506 Lamentationen dradtte), in welcher
Hesse gleieb das erste Kyrie nnd das Christo so componirt ist, dass
der Bass immerfort die Noten e Äe f 0 wiedeiliolt. HXnders don-
nernder Weckruf im Alexanderfest, Seb. Bach's Cracifixus in der
hohen Messe, seine Passacaglia sind allbekannt, sie beruhen anf
demselben Kunststück.
Eine panz eigene, wunilerlich «geschmacklose, aber im Dechant
ungemein beliebte Manier war der sogenannte Gehet Iis {Hocqiid)^
d. b. {Schluchzer, welcher darin bestand, dass der Säuger einzelne,
durch Pansen unterbrochene, knrs abgestossene Töne hQren liess,
welche an die abgebrochenen Laute des Schlnchsens erinnerten und
daher ihren Namen hatten^). Diese Manier, gegen welche Papst
Johann XXII. in seinem gegen den Dächant geschleuderten De>
cretalc seinen ganz besonderen Unwillen ausspricht, erhielt sich bis
in die erste Hält^e des 14. .Tahrlmnderts hinein; man findet ihn z. B.
noch im Contratenor der dreistimmigen, aus jener Zeit herrührenden
(>hanson „mais qu'il vojis vienne ä plaisance"^. Einer der ältesten
Niederländer II. de Zeelandia wendet ihn im Contratenor seiner
dreistimmigen Chanson Fseke perÜH theils in gestossenen einseinen
Cap. 2. Permutatio est variatio nominia vocis aeu notae in eodem spatio
sen linea in diverso sono, fit enim permutatio, ubi touus dividitur prop-
ter Goosonantiam in diatonicura et enannonioom ant in ohromationm et
diedm, vel e contrario.
1) F^oo definirt: „Oekefus truneatio eai oantnt, reetis omiBsisque
VOdbns truncatc prolatus.
2) No. 4 der Bei Ingen zu Kieaswetter'a Qesch. d. M. Der üchetas
lieht im 9. und 10. Takt.
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Der Diieaiitiii imd B'Mizboiiid(m.
Tönen, theils in Gruppen von je zwei Tönen reichlicb an. Im
Tenor eines anderen Liedes „Flettrs de Mai^' benütst er ihn au
der aitigea Spielerei, den Knknksnif damit naehsnalimeii; und in
einer vientimmigen Chanson ans demselben Jaihrhondert, die
rieh im Besitze der Bibliothek von Cambray befindet, besteht der
Tenör (die tie&te Stimme) £ut gans und gar darauf:
Triplim. (Counemaker, hum. da moyen Ig«.)
''7 f I r tHrT^-f-i-i-j—^
Tenor.
Ochutuf
■5/ _.
i
oon
qaet
veut
Oche-
«9
Oohetos .
IBL
Oohetns,
330
Die Eni Wickelung des mehntimmigen Gesanges.
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3
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IST.
-- 1 II
L Ai -L
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1^
1 6#
4a
«T 1
1 f
ir.
jOx.
part 2da|)
Geg:cn (las Ende des 14. Jahrhundert» kam al)cr der vielbelicbtc
Ochetus aus der Mode, bei den niederländischen Meisteni jener Zeit
(Dufay, Bincliois u. 8. v.) ßndet man ihn nicht mehr, und im 15. Jalir-
hundert g:erietli er so vidlständig in Verfj^essenheit , dass ihn Tinctori»
in seinem „Diffinitunum terminorum muakoi-um" nicht einmal mehr
einer Erwffbnung werth hXlti). Eine andere Zierweiae wmr die soge-
nannte Pttea, eine Verbindung einer bttbetn und tiefem Note, die
man in der Notenscbrift dnrob das sehen bei Oelegenbdt derNenmen
erwfihiito Zeichen andeutete. Man riihrte, wie ^egulae de aiie
(liscantandi bemerken, diese Manier mit dem Kehldeckel (Epiglottis)
aus. Es scheint eine Art von Vorschlag gewesen zu sein, eine Art
Pralltriller oder Mordant, wo zwei Töne gleichsam zusammen-
geflochten wurden {pliccUfantur). Marchettus von Padua sagt: man
1) Franco definiri: Plica est nota divisionis cjusdem soni in (n^yem
aeet atum. Er unterscheidet eine Plica asceudens und descendens, eine
Pliea longa, brevit und ■emibreri«; aber seine JGrfclinmg ist sebr donkeL
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Der IMioatm imd fauxbourdon.
331
maebe die Fliea, indem man die Note auf« oder abwIrts in dnen
HiUbton binttbenieht {thfbrdker9 1» mmnn vd deoraum am voce
fidüf d. i. mit einer nicht attsdrtteUieb geficbriebencn Note oder mit
dem böbeni oder tiefem der Mtiftica fida angehörigen Halbton). So
sncbte man dem Gesanpe Ixciz, Interesse niul Abweclislungtn geben.
In Frankreich kam mau etullich gar auf den barbarisch abenteuer-
lichen Kiufall. zwei oder drei ganz verschiedene, von einander uuab-
liängig erfundene, auf eine Verbindung unter einander gar nicht be-
rechnete Melodien mit ganz verschiedenen Texten so zuzurichten,
dass sie gleichseitig gesungen tm mehrstimmiges Stack bildeten,
eine Operation, der an Liebe man die Koten der gewihlten Melodien
auseinanderzerrte, verkUrste,' umstellte, wegwarf, andere dafür ein-
flickte und so endlich Singestacke zu Stande brachte, die trotz aller
gegen ihre Grundmelodien atisgeUbtcn Gewaltthätigkeiten begreif-
licherweise doch nur roh aufeiuanderstossende Hannonien enthalten,
da man von der Kunst, mit welcher die sjiäteren gmssen Com])o-
nisten zuweilen zwei gegebene Melodien nach Gesetzen des Wohl-
klangs sn eombiniren verstanden, noch sehr weit entfernt war. Es
genügte, wenn die Noten der gewählten Melodien so aneinandcrgc-
kettet wurden, dass sie in Quinten, Qnatiea, Octayen u. s. w. auf-
einandertrafen ohne alle IlUcksicht auf Wohlklang, auf natuige-
mXsse Verbindung und Fortschreitung.
In den erhaltenen Denkmalen erkennt man solche zusammen-
gebackene Melodiebreccieu (wie man sie nenTien könnte'! schon äusser-
lich daran, dass jede der vStimmen einen ganz verschiedenen Text
beigeschrieben hat, und dass die harmonische Textur noch viel un-
geschickter iit als bei Sttteken mit frei wo. einem Tenor erfundenen
eontrapuaktirenden Stimmen. Es sind unglaublich barbarische
Stttcke und es blmbt ein Rithsel, wie jemalsMenschenohrett an einem
solchen missklinge uden iMlschmasch, wie z. B. nachstehende Com-
Position von Adam de la Haie ist, Gefallen finden konnten.
(Nach Bott<e de Tonhnon).
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332 Die Entwickelang des mehrstimmigen Gesanges.
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m
Der Cantus firmus (eine echt französische Melodie, trotz des auf etwas
Kirchliches deutenden Saeculum) liegt hier im Bass, darüber sind zwei
andere Melodien angebracht. Da«8 sie nicht nach dem Cantus firmm
der tiefen Stimme eigens erfunden Bind,8iehtmandeatlich genug; noeli
dentiicher aber, wenn man ne mit andern mehrstimmigen Liedern,
wo letzteres wirklich der Fall ist, vergleicht, mit anderen Gesingen
Adam de laHale's selbst, z. B. dem l?(nule11iis jemuir d*amouren.B.w»
Während man im letzteren Stücke deutlich bemerkte, wie zu den
Noten der den Tenor enthaltenden Mittelstimme jene der beiden
anderen eigens erfunden «ind, sind hier die zwei ohern einander
ursprünglich ganz fremden Melodien so zusammengezwungen, das»
ihre Abschnitte jedesmal mit einer Quarte zusammentreffen, und zu-
sammen mit dem Bass DreiklXnge mit weggelassener Ten und ver^
doppeltem Grnndton entstehen. Die Texte der beiden höheren
Stimmen klingen wie Exponitioncn skandalöser Histörchen. Sie
haben eben deswegen eine Art Zusammenhang. Dass man aber
auch Lieder mit vollständig verschiedenen Texten znsammenzwang,
zeigt nachstehender zweistimmige aus dem 14. Jahrhundert her-
rührende Gesang (aus der Bibliothek von Cambray):
(Oonaiemaker a. a. 0.)
.n- * —
Yenea a nne - dies um de - tri, je vons prie venes toat
V«
dii Her - nd
:t=^
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danser et chan
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334
Die Bntwickeliing des mehntimnugen GeaangM.
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On-qmee ne veux ponrniil de • pri
mais quaniaeal vien par le rot
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d'a • mer
si on V0U8 de
M me
ir
I
ler yeat
or - don - aer
19-
mantl
prut t»
Was bat, mu!^R man frair« n, Bolmi*s HochseH sut dem beichte-
hörendcii Eremiten zu thun ?
DerGiptel allerTolllHMt aber ist ph ohne Zweifel, wenn zu einem
vollkommen weltlichen tranzüsisclieu Texte der einen Stimme die
zweite einen *:^eistlichen l;»teini«chen sin^jt, wie in folgendem drei-
stimmigen gleichfullä der Bibliothek zuCainbra^augehurigeu Ötilcke;
Der DiacantiM and FknxbonrdoiL
835
m
1
ä? (Coasseiuaker a. a. O.)
3Z:
j
10.
~4»i
: U
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Dieus
- t9 e t
je ne
ST
pOM
la
nuit dor
mir
3:
22:
Et
VI
de
et
in-
x:
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Man pflegt oft anf die Entartong des 14. Jahrhunderts hinsuweisen;
diese frivfi'c Vermisch luifi; des Kirchlichen und Profanen ist eben
ein Zeichen davon. Ueber dieArt und Weise, derlei monströse Stücke
zusammenzusetzen, belclirt uns Ejr^idius de Murino (dem Sp:itaro
die Ehre erweist iiin einen ,,r/aro musico" zu nninen): seine An-
weisiiujj ,,de modo compoiievdi tcnores mofc("nnii" , wcIlIk's das vierte
Capitel »eines niusilcalischeu Tractates bildet ^j, klingt völlig wie der
Text eines Kochbaches. Man solle den Tenor irgend einer Anti-
1) Manuscript der Vaticana No. 5321.
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336 Die EntwtolMlQiig dw nMhntiiniiugea Owingw.
phone, eines BespenBoviiims oder anderen Gesanges nehmen nnd
dabei darauf achten, dass die Worte an dem Gegenstande, worttbet
die Motette gemacht ist, passen. Dann solle man den Tenor bestens
ordnen, je drei oder zwei Noten auf eine Zeit; dann ordne und „co-
lorire" man den Contrateuor über dem Tenor, sofort das Triplum,
das Superius und den Motetiis oder Quintus. Dann nehme man die
Worte des Textes, iheile sie in vierTheile nnd vertheile sie an die
Parte*) u. s. w. Von dieser Art von Gesängen mit verschiedenen
Texten redet auch schon Franco: „Der Discant wird entweder mif
einerlei Text oder mit Tersehiedenen Texten gemacht, oder auch
ansammen mit nnd ohne Text. Macht man ihn mit Text, so gibt ea
wieder zweierlei : mit demselben Text oder mit verschiedenem. Ifit
einem und demselben Text macht man d«>n Discant bei Cantilenen,
dra Rodellcn und im Kirchengesange. Mit verschiedenen Texten
macht man den bei Motetten, die einen Triplus (eine dritte Stimme)
haben, oder einen Tenor, der sich mit einem selbstständigen Texte
geltend macht. Mit und ohne Text wird der Discant bei den Con-
dncten gemacht, nnd in der einen Art Kircheogesanges, der mit dem
eigenthflmlichen Namen Organum beseichnet wird. In allen diesen
Gattungen inrd in gleichet Weise verfahren, mit Ausnahme der Gon>
ducte; denn in allen übrigen nimmtman einen schon vorher gemachten
Gesang dazu, der Tenor genannt wird, weU er den Discant hält
(teuet) und (letzterer) von ihm seinen ürspnmg hat. Bei den Con-
ducten ist es nicht so, hier macht derselbe (Tonsetzer) den Gesang
(cantu.s, d. i. Tenor) und den Discant. Daher heisst der Discant aus
zwei Gründen so: einmal weil er der Gesang vGrschiedeuer „{dis-cantus
wie dis-sensus oder äig^eordia/', dann weil er aus dem Oantus gebildet
ist"*) Bei den Conducton stand also dem Tonsetaer M seinen Tenor
als Hauptstimme frei tu eifinden nnd dasu ebenfalls nach freier Er-
findung einen angemessenen Discant an seiner als Tenor dienenden
1) Primo aodpe tenorcm alicujus antiphonae Tel respomoni vel al-
terius cantus de aiitiplionario, et dcluMit vcrba concordaro de niateria de
qua fecere inotetum. Et tuuu recipe tenorem et ordiuabis et colorabis
secimdum quod infnius patebit de modo perfeoto et imnerfeoto a. s. w.
2) Die hier citirte Stelle hat in dem Abdruck bei Oerbert 3. Bd. S. 12
jpdrsiiial. WO fs heissen soll „Hiera" (Text), wahrscheinlich in Folge einer
Ai)kur/uiig Ira = Lyra, wodurch die ohnehin nicht übermässig klare Aus-
einandersetzung vollends ganz unverstäadlidi geworden ist. Vmkel und
Kiesrwctter haben dieses ominöse lyra, so gut es eben pfehen wollte, zu
deuten gesucht; sie sahen darin eine Art Orgelpunkt mit Grundton und
2 Hinte, als Kachahmang der Leyer (Organistmm), sowie das Orgwmmk Nach-
imnng der Orgel war. Glüeklicherweise hatte Bottee de Toulmon ein
besseres Manu8enj)t vor sich als Gerbert und berichtigte die Lesart. Die
Stelle selbst beginnt im Urtexte: Discantns autem fit cum litera aut cum
diversis, aut nne litera et com litera Si euni litera hoe dupliciter, cum
eadem aut cum diversis u. s. w. I< }i kaim nicht unbemerkt lassen, dass ich
in der Handschrift des U. du Zuulaudia an zwei Stellen, wo es zweifellos
heisien moss „litera". c^ne Abhannuig geflmdea habe, welche ansieihalb
des Zossmmenhangs Jeder eher üBr lini aJs für litera lesen wflrde.
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Der Discantui and I^oxboardon.
337
Melodie {auitua) eine Gepeimiolodie (ffisranfufi) zn sofj^pn. Bei den
anderen Gattungen fand eine Art Obligo statt, zum Tenor nms.ste ein
schon früher bekannt gewesener Gesang gewählt werden. Wurde
nun neben dem Tenor eine andere Melodie mit einem andern Texte
snrecht gemacht, so hieat dieaer Discant Müteiw, ohne Zweifel des-
wegen, weil er gegen den Text des Tenors einen Denkapmch (Motto,
mot)^) oder etwas Aehnlichcs hören Hess. Schon Papst JuhannXXH.
beachwert sich, dass die Sänger den (rituellen) Melodien zuweilen
gemeine Motets und Tripleu aufzwingen. Unter den 1503 bei
Petrucci gedruckten Canti cento cinquanta findet sicli ein Stück zu
fünf Stimmen von Johann Jaj)art, wo die zwei Contratenorc im
Responsorinm die Litanei zu allen Heiligen singen, wüIuimkI die
andern dazu singen: „vray dieu d'amaurs"^. Spruchgesfinge dieser
Art nannte man naehmals, nach der yon Fnmkreich ttberkommenen
Benennung, Motetten, nnterliess aber die Text- und Melodien-
mengerci und nahm Bibelsprüche, P^almenstcllen, Verse aus alten
kirchlichen Hymnen u. s. w. Wurde eine dritte Stimme zugesellt, so
nannte man sie ebendeshalb Tp Ij'Iks oder Trijilum; sie hatte, wie
wir an de la Ilale's Beispiel sahen, wieder ihren eigenen Text und
ihre eigene Melodie. Die Ilauptstimme scheint eigentlich doch der
Motetus gewesen zu sein. In dem Gloria, das Guillaume de Machault
für die Krönung Carls Y. 1364 componirte, hat allein der Motetus
eine wirklich völlig singbare, sogar fliessende und wohlgeordnete
Melodie, der sich alle andern Stimmen, auch der Tenor in der
tiefsten, so gut es gehen will, anbequemen, wie denn das ganze
Stttek der Kindheit der harmonischen Kunst angehört:
(Nach Kieaewetter Geschichte der Musik.)
Triplum
Motetus
Oontratenor ff^Q^^
Tenor
1) üo heissi 08 im Kornau de U Kose:
Qu*U feist rimes joUvettes
Motes, fluhiaux et chatisöucttes
Qu'il veiiüli' h s;i inie ou\uyer.
und: Cliantuul eu pardurabilite
ifoik», gaudins H diansoiK iteb;.
S) „Sancte JoBanea Baptist» or» pro Mna, 8t Fetre, St. Faule.
Asibros, QMGhkhte dar Mulk. IL 82
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Die Entwiolnliiiig äm mahntiiBmigeii OeBaagM.
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St. Andrea, St Thoma, Si Kioolae, St Symon, St Lucha (so!) orap. u."
Warum gerade dieie? Musikalisch ist c!« iinmerfort die gleidie Fnrue,
eine Art „obstinaten" Tenors: c c d c; c a h c c.
l)Anmerkunfj. Obfrlt'ich Ambros die gröbsten Fehler der Kiescwcf fer-
schen Eutsifi'eruDg (siehe unter No. 2 der Beilagen zu seiner Gescliichto
der Mnsik) die wegen ADwendnng eine« falschen SchlAssels im Tenor
allein schon gänzlich misslingcn musste, glücklich vermied, so ergab doch
eine nochmalige Vcrgleichung mit dem daselbst mitgethcilten Facsimile,
dass die Lösung sich wohl noch strenger an das Original hätte halten
müssen. Diess erstreckt sidi namentltäi auf die rhythmische Gliederung,
die freilich im Original gar nicht angegeben ist. Dass aber statt
des Tenipiu imperfectum hier das Tempus perfectwtty also Tripeltact,
hfttte angewendet werden müssen, ergiebt augenscheinlich die letste Note
des Satzes, die iu allen Stimmoii puiiktirt erscheint, was Ainbros
übersehen su haben scheint Man vergleiche darüber auch die Entzifferung
der C^nson: Toni con je vivrai ron Adam de la Haie, 1S80, bei Bel-
lermann, Mensuralnoteu S. 35, wo auch d(;r Tripeltaot angewendet ist,
wenni^eich im Originale ^ede Tactangabe fehlt 0. Kade.
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Der Diiotntaa imd Fanxbonrdon.
339
Wurde zwischen den Tenor und den MntetuH eine Stimme als „Gegen-
tenor" einpegchaltet oder unter den Tenor gesetzt, so nannte man
aio ebendeswegen CotUratenor^). Sonst nannte man, wie Franco
an der erwähnten Stelle bemerkt, die vierte Stimme das C^uadruplum,
eine fünfte das Quintaplnm. Diese Ton den Hoteten her gewohnten
Benennungen ttberftrag man, wie num ans Mechanlt*! Gloria sieht,
auch auf andere Compositionen. DasTriplom, die hohe Oberstimme,
hat vielleicht dem Treble den Namen gegeben, einer Art Trompete,
die man um eben diese Zeit in Frankreich beim feierlichen Gottes-
dienste anwendete^). So heisstes in den Annalcn Ludwig's IX. (des
Heiligen): comme devotement il fit chanter la messe et tout le serrice
a chaiit et a dechant^) a ogre (das ist: orgue) et a treble. Ein
deutliches Bild der damaligen solennen Kirchenmusik in Frankreich :
Gesang (chant) mit Tenierendem Discant {dechmi) nebst Begleitung
der (hgel und jener Trompete, welche die höchste Stimme (das
Driphm) verdoppelte oder vielleicht selbstständig ausführte; wie es
denn gar nicht unmöglich ist, dass umgekehrt das IViplum, das (wie
bei Machault) auch in vierstimmigen Sätzen vorkommt, nicht so viel
heisst als dritte Stimme, sondern nach der dreiröhrigeuTreble benannt
worden ist. Jean de Muris benennt die vier Stimmen: Tenor, JVn-
2)lum, Mofeius, Quadru}>lum^). Erst später nannte man die tiefste
Stimme, als Fundament des Ganzen, die Basis, woraus dann Bassua ent-
standen ist Bemerkenswerth ist in der angezogenenStelle desFranco
die Notis, dass man das Organum ohne allen Text sn singen, das
heisst blos zu solfeggiren pflege. Wiisstcn wir nicht ans den notirteu
Beispielen Uucbald's ganz bestimmt, dass auch der ffoxorganalis der
Text zngetheilt wurde, so könnten wir des Glaubens werden, dass
sfdches eine specielle ICigenheit des Orgamiins war, welches durch
die unbestimmten Kliiiif^e noch orgelähulic her werden musste, als
wenn der organisirende Sänger den Text mitsang. So viel ist aber
doch sicher, dass es häufig genug in einer blossen Vocalisation be-
standen haben mnss.
1) CoTitratfiinr est pars illa cantus compositi, quae principaliter cmitra
ienorem facta inferior est supremo, altior autem, aut aequalis, ant etiam
ipso tenore inferior (Tinctoris Diffinitorium).
2) Carpentier meint, sie sei ein Instrument mit dreifacher Rnhre und
schon hei den alten (fuUiem im Oehrauche gewesen. I>ic Bcnoninin{?
de« Discants im Euglischen „Treble" ist auch noch eine Erinnerung au
das Triplom oder gar die ^IVompete Treblo.
3) Diese Redensart ist dem mitf olalterlii lu ii Französisch durchaus
geläufig. So sagt Jean MoUnet in seinem Ehreuthron sogar: Oiaeaux
de champs chantans dkms «i detdkoMto. Selbst im Latein wendete man
diese herl 'hnnUiche Phrase an, s. B. im Obituarium ecclesiae Morin. fol.
39 V,: „Fandavit solempnom missara de B. Virgine decantnndam cum
Cantu et Discantu et organis sonantibus (bei du Caugo 1. Bd. 8. III.
Ausgabe 1764).
4) l^ecnlum mus. YII. 8.
82»
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840
Die Entwiokeltmg des nelmtimiiilgeB Gesangee.
Von jenen von Franco erwähnten Conductcn^) ist eine sichere
Probe nicht nachzuweisen, dagegen sind uns Proben von Rondellen
und Cantilenen jenes Adam de la llale erhalten. Unter Cantilena
verstand man (wie Tiuctoris erklärt) einen kurzen Gesang mit
Worten Uber jeden beliebigen Gegemtend, docb snmeist mUebten
Inbalte*), also das, was man spitnhin Madrigal nannte.
Adam de la Haie: Kondellus (mitgetheili von Boitze de Toulmon).
Je mnir, je mnir d*a - moa>re te las
ai • üi
5 S
irr-rrrffr^
par de*fira- te d*a
schloss)
6 Takte
(Ganz8ohlnss)|
Die Mittclstimme enthalt eine wohlgegliederte ansprechende Me-
lodie, die harmonisebe Textur ist mit parallelen Yollkommenen
Consonansen reich ausgestattet.
(Chanson, aus dem Manuscript der Bihliothck zu Paris, Nr. 2. 738, hier
nat li der Ent/.ifTi run^ von Heiürich Ut Urrmann !\ItMiRuralnoten, 8.35.)
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1) Im ßoman de la Violette geschieht cbcni'uUs Erwähnung davon:
Cü jugltour vielent lais
Et sons rt iiotcH et conduis.
2) Cantilena est caTitus parvus cui verba ciguslibei matenae scd
frequentius amatoriae t>iij>iMinuutur (Tinotorit Diffinitoriom). Im Originale
ist de la Hale*s Composition betitelt: U rondel Adan.
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Btt JXwoKpfyu und VMizboardoiL 341
▼oas j'e u'ea par - ti • - rai.
Hier liegt eine liübHche aber entstellte Melodie iu der Unter-
stimme; die Harmonie ist abennalB hoiribel.
Wo Adam aufhört so ringen „wie der Vogel singt, der in den
Zweigen wohnt", wo in ihm der Dichter, der ImproTisator, der
glückliche Naturalist ein Ende nimmt, wird er der Gegenftissler aller
Schönheit. Wie in ihm, dem „Buckligen von An-as", eine feine
Sct'l(; in einem niissn^estalteten Kfhpor wohnte, ho stecken seine
frischen Melodii'n in einer kriippelhat'ten, missgestalteteu Harmonie.
Auch Guillaumc Machault, der graziöse Meludiät, blüht
als Contrapunktist um nichts htther als Adam de la Haie, wie
nachitehende Chanson h trois paitiea bewdst, obschon darin so-
gar Ton der Naehahmnng Gtebraneh gemacht wird.
1) Die Unterstimme bir^ eine ganz fran/ösiache Melodie (von Adam
selbst?), deren Urgestalt folgende sein möchte:
t.
<5»
Tunt quo j(! v\ - vrais n'ai - me - rais aa - imi qae voua
je n*en par ti • - rai.
Nnn sehe man, wk' lic ilmute im Prokrustesbette der Gontraponkük
jämmerlich ausgereckt istl
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843 Die Bntwiokalinff des ntthntimmigMi toangei.
(Guillaame Machaalt. Nach Kieaeirtlter, Sohiokitle n. s. w. Ko. U der
BeOagen.)
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Von Frankreich aus verbreitete sich die Kunst des Discanti-
pirons Uber die Nicdrrlan»!«' , wo es der Kunst des ausgebildeten
Cuntrapunktes den AVeg bahnte. Ii. deZoelandia, wahrscheiulich
einer der frühesten niederländischen Lehrer and Tonsetser (um
1880?), der schon eine sehr fein ausgebildete mnsikaliflche Henni-
rallehre beeitst, redet ^eiehwohl nur Tom DiBeantos in der alten
Bedentongi). Aach Uber den Bhein drang die neue Weise, wenig-
1) Das Manuscript der Prager Universitlltsbibliothek XI. E. 9, nach
der Schrift aus der erstt'n ITsllfte des 15. Jnhrliundcrts. boprinnt mit den
Worten: „Gaudeut musicorum discipuli, H, (Henricus?) de Zeelaudia ali-
qua brevia iraciat de musica." Seine Discantirregeln lind nicht mehr und
nicht wenif^er als folgende: „Notanduni quod Septem sunt specics discantus,
quibos discantaus debet uti, videlicei: unisouus, tertia, quinta, sexta,
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Dtr Discantiu nnd Fanxbonrdon.
843
stens in die Frankreich benaclibarton Gane ; das Klostor von
St. Blasien besitzt Codices, in denen sich zweibtimuiige Tonsätze
finden, welche die Anwendung der franzOabchen Ducantiniungs-
regela seigen, wie folgende Venus wper Ägtaia Dei am Diseanhi
aus dnem folcheii dem 14. Jabrhimderte angehifxigen Codex yon
8t. Blasien:
(Atu Gertwri De cuita 8. Bd. & 466.)
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octava, decima et duodecima (die Quarte ist nach dem Vorbilde der Fran-
zosen weggelassen), quarum quatuor sunt uerfectae et tres imperfectae.
Perfectae sunt nnisonus, quinta, nctava et anodeoima. Imperfectae vero
sunt tcHia, sexta et decima. Et iiotandnra quod omnis discantus iiicipere
simol debeat et specie perfecta. Item doae species jperfectae aimiles nun-
qnam ooineqnent«r Temre posaunt. Sed duee Bpeeiea nmflet vel plorM
bene coiisequenter possunt venire et asccndendo vd dcsceiulendo; sed nun-
quam respectu ^juadem liueae vel spatii. item, quum principalia cafUua
ateenditf diteantiu deftef daeendere, et contra, item cantns principalis
est aeqiialis, videlicet quum duae vel plures fa vel sol et sie de aliis simi-
liter veniunt, et ad placitum discantantur discantaiitis (d. h. es entftlllt in
diesem Falle, wie natürlich, die Kegel der Gegenbeweguug). £t discantus
■a^M debet uti cpeoiebns propinquioribus (der nächstkleineren Noten-
gattnng). Et m\ nnnqnam in disoantu stnre debet extra fa in spccic pcr-
tecta." Das Verbot paralleler vollkommener Cousonanzen, so wie die
Einreibung der Sexten vnter die unToUkonunenen Oontonanaen deutet
darauf hin, dass H. de ZeeUodia ans der Sohnle Fliilipp*s von Yitry
oder des dis liurit stanunte.
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844
Die
im mahntiiiiiiiigien Omnfai.
3=±:
In Idmlicher roher Webe wurden die Melodien der Prosen und
Sequenzen mit dem DiscwitiUI begleitet, wie Gerbert in seinem
Werke „De cantu et musica Sacra** davon aus dem Archiv des Klo-
sters von St. Blasien verschiedene Proben mittheilt. Kiese wetter
meint, dergleich<Mi könne nur in irgend einer Klosterkirche von
gehör- und gesclnuac kloscn Klosterbrüdern versucht worden sein'*).
Die Gcgenbewogung herrscht durchaus vor: steigt der Tenor, so
filllt der Diseant, und umgekelirt Dureh die gans mechaniseho
Beobachtung dieses Knnstgesetaes ist fHr die Reinheit der Hai^
monie natttrlich nicht viel gewonnen. Das Ganze ist noch Xnssent
barbarisch.
Dass aber in Deutschland nicht blos geistliche Gesänge in
solcher Weise discantislrt wurden, sondern dass auch das Durch-
einandersingen verschiedener Lieder und Texte nach französischem
Muster bis tief hinein nach Deutschland Eingang und Nachahmung
&nd, davon gibt 4afl Liederbuch von Lambach eine in ihrer Art
merkwürdige Probe. Hier findet sich ein lustiges Trinklied „Von
sand Marteins frewden*' mit einer sweiten, mit der Ueberschrift
„Der Tenor** beseiehneten Stimme, welche den Frendenspender
1) Die Notenquantitftten sind hier so gegeneinander gemeaaens
folglich nicht ganz im Sinuc der Menioralnote. Die zu zwei gebundenen
Noten sind gleich ■ Die Ausmessung der beiden Stimmen gegen ein-
ander ist in dieser Hinsicht äusserst sorgiUtig. Die Noten stehen, wie
man sieht, im O^S^flssel (Alt- und TenorsehlfltBel).
2) Gesch. d. Mus. a 44.
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Der IKwNniti» und Fttoxbonrdon.
845
St. Martin selbst mit heiteren Worten anredet und begrUsst. Die
Haaptmelodie ist eine nemltch nngeschUffeiie Volkswmse, der
Tenor fthrt mit vielen klmnen Noten daiwiachen, es ist ein bnr^
leskes Cliarivari.
In Frankreich, der Heimat des Dechant, wurde dieser, wie
sich Kiesewetter ausdrückt, „mit rasender Liebhaberei getrieben".
Der König hatte dafür seino eigene „ChapeUe inmiqve du Roi".
Die rechte Art zu t'auxbnurdonisiren und zu decliantiron bildete
den Gegenstand geregelten Unterrichtes an den grossen Kirchen
der französischen Städte. Es entstanden dafür Meisterschulen
(Ifaünaeii) wo nnter einem Singemeistw (Maüre) SXnger and
Knaben die aUbeliebten Singmanieren einttbten nnd beim Gottes-
dienste SU Oebör bracbten. Förderer der Andacbt nnd Kunst
machten jetzt öfter Stiftungen dieser Art. Papst Urban V. fundirte
13G2 zu Toulouse einen Bingemeister mit sieben Knaben: letztere
sollten neben ihren Studien denGesang beim Iloclminte ausführen').
Johannes Gerson, der berühmte Kanzler der Universität zu Paris,
entwarf selbst die Bestimmungen der inneren Einrichtung für die
Kathedralschule von Notre-Damu. Die Knaben sollen „den Sinn
der Engel baben, weil de fttr die Katbedrale den Dienst der Engel
danteilen.'* Der Oesangnnterriebt ist die Haaptsaebe, soll aber nicbt
so weit ausgedehnt werden, das» dadoreb die Unterweisung in der
Grammatik und Logik beeinträclitigt werde; der Text der Liturgie
soll den Knaben französisch erklärt werden, denn „Worte, deren
Sinn man nicht versteht, kann nmn nicht seelenvoll vortragen-)."
Sogar auf die Kost der Knalx-n nabm (lerson Bedacht: sie sollen
des Morgens nicht zu viel essen und überhaupt alles vermeiden, wo-
durch ihre Stimme leiden könnte-^). Der Säuger meinte seine Kunst
niebt besser seigen su können, als wenn er %u einem Tenor im
Angenblieke der AnsfÜbning einen Decbant an improrisiren nnd
ibn so reicb nnd geschmackvoll ansansieren wnsste, als es ibm nnr
immer möglich war; die Zuhörer waren befriedigt, wenn es nur
voll klang, ob auch schön, darauf kam es vorläofig nicbt an. Gans
Paris bewunderte einen jungen Menschen, weil er, neben anderen
Kiiusfeu, ,,auch" sang nnd dechautirtc (rhantnit et Jechautail) wie
sonst keiner. Die Sänger, deren der Dichter Martin le Franc ge-
denkt, werden auch schwerlich mehr gewesen sein als Dcchauteurs:
Tapiasier, Carmen, Ceaaris,
n*a pss lon^ temps, si bien obaaierent
qu'ils esbahiront tout Paris
et tous ctiux, qoi les ir^quentörent.
1) Baluz I. 41t;
2) Vcrgl. Joh. üerson von D. Jos. Bapt. Schwab S. G9.
8) Item probibeatiir a oomestione nimia de maae aut aliis horis, per
qiKim inipodiri posscnt a conservatione voois suae ei regiilam sobrietatis
iuirüigere (Cierson. Up. lY. S. 720).
846
Die Bntwiekalimg dei mehntimmigeii Ooingei.
Er stellt sie freilich mit Moistern wie Dufay und Binchois zusammen,
aber da er anderwärts von diesen berühmten Tonsetzeru sagt:
eine Bande blinder MoBikanten habe rie QberCrofflBn — so rieht
man nnaweidentig, wie weit sein VeratBndniss reichte.
Aber auch tadelnde Stummen Hessen rieh hOren, nnd swar sehr
gewichtige. Hatte schon Johannes Ootton gesagt „er könne die
Sänger nur mit Betrunkenen vergleichen, die zwar glücklich nach
Hause kommen, aber selbst nicht wissen, auf was für Wofren und
Sf<'j;iMi*' so ätisserst sich Jean de Muris, der tiefj^'clehrte Mann
und einer der Putriarclien des ( -fintrapunktes, welcher dieses fran-
Küsische Dechautirwesen in seiner vollsten Blüte sah, noch ungleich
schSrfer. „Wiek5nnen,*' sagt er, „Toransgesetst dass unsere Regeln
gut rind, ^e Singer nnr die Stime haben an discantiriren oder rinen
Discant an componiren, die von Zusammenklingen gar nichts ver-
stehen, die rieh nicht einfallen lassen, dass man che davon besser klin-
gen können, als andere, die nicht wissen, welche man vermeiden, -
von welchen man öfter Gebrauch machen soll, an welchem Orte es
geschehen muss und was sonst eine richtige KunstUbung erheischt?
Wenn es ihnen zusammengeht, so ist es ein reiner Zufall. Ihre
Stimmen irren regellos am den Tenor herum; mögen sie doch zu-
sammenstimmen, wenn es Oott geföUt; rie werfen ihre TOne auf gut
Glttck hin wie einen Stein, den eine nngeschickteHaad sc^lgjidert nnd
der nnter hundert Wttrfen kaum einmal trifft" DteUii]|9|Üchkeiten,
welche Onido den Sängern seiner Zeit sagt, sind wahre Kleinigkeiten
gegen folgende Strafpredigt, welche de Muris in seinem Speculmn
musicae hält: ,,0 Schmerz! In unserer Zeit versuchen es Manche ihre
Mängel mit einfHltigen Redensarten zu beschönigen. Ks ist, sagen
sie, eine neue Art zu discantisircn, eine neue Anwendung der (^on-
sonanzen. Mit solchen Aeusserungen beleidigen sie die Einsicht Der-
jenigen, welche derlei Fehler sehr wohl erkennen, sie belridigen den
gesunden Sinn; denn wo sie Vergnfigen erregen soÜten, bringen rie
vielmehr Verstimmung hervor: o unpassende Bedensait, o sehlechte
Beschönigung, unverständige Entschuldigung, o grosser Missbranch,
o Roheit, o Bestialität: einen Esel fUr einen Menschen zu nehmen,
eine Ziege für einen Löwen, ein Schaf fllr einen Fisch, eine Schlange
für einen Lachs! Denn gerade so werfen sie Consonansen nnd Dis-
1) Cui eantorsm melins comparavwo qnam ebrio, qni domtmi (]uidfm
repetit, sed quo callc revertatur penitus ifniorat? (h. Gorbert, Script. 3. Bd.
S. 233). Dieses Dictum wurde berühmt. Es wird citirt von Johann de
Muris (Summa Mniicae, Gap. II ad quid utilis sit mos., G«rbert 8. Bd.
S. 195), frnicr von Adam von Fulda (um IKX) — 1480), auch v(ui Omi-
toparchus in seinem 1517 erschienenen Microlog (I. 1. Cap 2). Letzterer
swrribt es Papst Johann XXII. sn, ein Beweis, dass sdion dunals Cotton
mit diesem iiorühmten IMerer und Kenner des canoniichen Bedhtes
verwechielt wurde.
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Der Disoantna und SWwboiirdxni.
847
Bonanzen durcheinander, dass man eins vom andern nicht unter
scheidet. Wenn die alten wohlerfahrenen Leiirer der Musik solclie
Discantatoren zu hören bekämen, was würden sie sagen, was thun?
Sie wttrden den Diseentirenden mit harten Worten anfahren und
sprechen: den Dieeant, den dv gebrauchst, hast dn nicht yon mir;
dein Gesang stimmt mit meinem nicht zusammen; wessen nnterftngst
dn dich? Du passest nicht für mich, du bist mir ein Gegner,
Aergemiss bist du mir! O dass dn doch schwiegest! Du bringst
nicht Uebereinstimmung, sondern Unsinn und Missklänge zu Wege!'*
An einer andern Stelle vergleicht er den ungeschickten Sänger, un-
gemein witzig, mit einem Blinden, der einen Hund prügeln will*).
Johannes von Salisburj {Sarisberieuöis) macht im 12. Jahr-
hundert den Sfingem den Vorwurf, „dass ne durch Verschnörkeln
eincelner Töne die snhOrende Menge sum Staunen bringen wollen;
das seien nicht menschliche, sondern Sirenengesänge, und wenn man
diese Kehlenfortigkeit, welche selbst von der Nachtigall nicht Uber^
troffen wird, wenn man diese Geschicklichkeit auf- und abzusteigen.
Töne zu binden und zu trennen, wiederholt anzuschlagen und zusam-
menzuschmelzen bewundern müsse, so werde doch der Sinn verwirrt,
der Geist bethürt und ein richtiges Urtheil über den Werth des Ge-
hörten unmöglich^)". Omitoparchus erzählt, dass der „neue Virgil*',
Baptista Hentnaans, die SSnger mit den unhöflichen Worten surecht-
wies: „Gehört solches Ochsengebrttll in die Kirche? Glaubst du
Gott diuch einen solchen Lfirm gnädig stimmen zu können')?**
Papst Johann XXII. verbot 1322 den Gebranch des Discantns
im Kirchengesange völlig, als dem Geiste und Zwecke des letzteren
zuwiderlaufend. Einige Zöglinge der neuen Schule," heisst es in
der in die canonischen RechtsbUcher aufgenommenen Verordnung,
„wenden ihre ganze Autinerksamkeit dem Einhalten der Zeitmasse
und allerlei neuen Noten zu, wobei sie dann lieber ihre eigenen Ein-
fiflle als das wohlhergebrachte Alte yortragen mögen. Die Kirehen-
melodien werden in Semibreven und Minimen ansgefUhit und mit
kleinen Noten ttberschttttet. Denn die Sänger serschneiden die Me-
lodie mit Hoqueten , machen sie durch Discanto flppig» swingen ihr
zuweilen gemeine Tripla und Motetten auf, so dass nie mitunter die
dem Antiphonare und Graduale entnommenen Grundlagen geradezu
1) Caeco alicui canem verberare Tolenti (Summa mus. Cap. 2. bei
Gerbert, Scriptores 3. Bd. S, 195).
2) Joann. Sarisber. Policraticus, sive de nugis et vestigiis philosophor,
I. 6 de mnsiea et instramentiB et modo et finictu eomm.
3) ,,Cur tantis delubra boum mugitibus implcs? Timc Deum tali crcdia
Elacare tumultu?" (Microloff. IV. 8.) Omitoparchus erzählt, dass in den
archen Sachsens und der Ostseeländer die Sftnger ganz ersomreddich los-
legten: i^Ssd cur Saxones et qui Baltica litora accolunt Ulis gaudeant cdamo»
libos, eania nnUa subest, nisi qaod vel inrdam Deum habeant**
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348
Die Eotwickeliing des mehntimmigen Oenages.
▼erachten nnd k«ne Kenntniu von dem haben, worttber ne bauen,
tind die KIrchentQne, von denen ne keine Kenntnias haben, nicht
nur nicht nntencheiden, sondern dttrcbexnanderweifen, indem in
solcher Notenmenge das snchtvolle Anftteigen, das gemässigte Ab-
steigen des Choralgesanges, als wodurch sich die Tonarten von
einander unterscheiden, unkenntlich werden. Denn sie Laufen ruhe-
los, berauschen das (Tchör statt es zu ertjuicken, suchen durch Cie-
Iterden auszudrücken was sie vortragen; das Ergebniss ist, dass die
Andacht, um welche es sich doch handelt, bei Seite gesetzt und
tadelhaftor Leichtnnn Tabreitet wird. Doch wollen wb damit nicht
▼erboten haben, dass snweilen, besonders an Festtagen oder feier^
liehen Messen beim Gottesdienste einige melodiöse Consonanzen,
als die Oetave, Quinte, Quarte und dergleichen, Uber dem einfachen
Kirch enge sänge angebracht werden, doch so, dass der letztere voll-
kommen unan^retastet bleibe und von der wohlgcarteten Musik nichts
verändert werde, da diese Consonanzen das Ohr erfreuen, Andacht
wecken, und die Seelen derjenigen, welche zur £lire Gottes singen,
▼or Abspannung bewahren^)."
Die Verordnung entwirift ein anschanlidies Bild der damaligen
Singweise, nnd der Papst hatte in der Sache ganz recht, wenn er nie
höchst barock, ungebührlich überladen und derBkircheganannwOrdtg
fand, obwohl Johann XXII. sicherlich ein besserer Jurist als Kunst-
kenner war. Die Reinheit des von der Kirche Jahrhunderte lang als
theures Gut bewahrten Grefj^orianischen Gesanges drohte in den
wühlen ()rfj:ii'n unterzugehen, womit ein Säuger den andern zu über-
bieten suchte; und so fremdartig die Beziehung für den ersten Augen-
blick scheinen mag, diese modische Schönsingerei steht als tolle
Oesehmackverirrung in einer Art Znsammenhang mit den llhrigen
Eztravaganaen im Leben der damaligen Zeit, bis anf die ellenlangen
1) Sed nonnuUi novellae scholae discipuli, dum temporibos mensurandis
invipiiant, novis notis intendant, fingere suas quam antiquas cantare malunt.
In 8t>Tnibreve8 et minimas eoclesiastica cantantur, uotulis percutiuntnr. Nam
nn'lndias hninn'tis iiitcrsecant, discantibuB lubricant, triplis et motetis vulga-
ribus nuuuunquam luculcant, adeo ut interdum Antiphonani et Gradualis
fimdamenta despidant, ignorent super quo aedifioant, tonot nesdant, qtios
non discemunt, imo coufuiulunt cum ox oannn niultitudine notarum ascen-
sionespudicae, desoensioues moderatae plaui cautus, quibus toui ipsi discer-
nimtiir invicem, obfoscentur. Oommt enim et non qnieacant, aures inebriant
et non medentor, gestissimvlant quod deprotiumt, quibos devotio quaerenda
contemnitnr, vitauda lascivia propalatur. Per hoc autemnon intendimus pro-
hiberu, quin interdum, diebua festis praccipue, sive solennitatibus in missis et
praemia divinis officiis aliqnae consonautiae quae Melodiam tapinnt, puta
Octavac, Quintae, Quartae et hujus modi supra cantum ecciesiasticum
simpUcem proferantur: sie tarnen, ut ipsius cautus integritas illibata per-
maneat, et nihil ex hoc de bene moraiamiuica immutetar: maxune com
hujus modi consonantia auditum demulceant, devotiopem provocent
et psnlh ntimn T)<'o animos torpere non sinant." (Extravag. OOnunun.
Lib. Iii. de viia ut houestate Clericorum titulus 1.)
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Der Discanioa and Fauxbourdon.
349
Bcbellenbesetstten SchnKbel der Schuhe herab. Um sich von den un-
Binnigen EinflllleD, Ton der barbarischen Geschmacklosigkeit der
Sänger eine Vorstellung zu machen, genügt es auf eine einzige Eigen-
tlnimliclikeit hinzuweisen, die noch im 15. Jahrhunderte in Uchting
war (denn Franchinus Gator redet davon wie von einer gewohnten
buche), deren Ursprung aber sieher bis auf die Zeiten des Dechant
zurückreicht, auf den sogenannten Contrapunct us falms 0« Die Sänger
suchten nXmlich bei TodtenmesBen und an Hltrlyrerfesten dem Ge-
sänge dadorch eine angemessene (!) FSibnng su geben, dass an dem
Cantus firmmt den eine Stimme aUein sang, ihrer Zwei oder Drei die
tiefere Stimme in lauter Dissonanzen, besonders in Secnnden nnd
Quarten, durchtiihrten. Franchinus ist darüber so entrüstet, dass er
gar nicht davon reden mag, kanti al)er doch nicht umhin, Bei-
spiele dieser erbaulichen Singweise zu gebeu^):
Utaniae mortnorom disoordantos.
I
de pro-fon - dit da - ma - vi
Domine miserere.
Bie AnflKnge aller Kunst, nicht der Tonkunst alliun, sind ab-
schreckend hHsslich.
Ueberblickt man die Entwickelung des Discantus von seinen
ersten an das Organum anknüpfenden Anfängen bis dort wo er
zum geregelten ( V)ntraj)unkt wird, so sieht man, wie auch er seine
Oc'seliichte für sirli hat. Er ist die Knospe, die immer voller an-
bchwoU, bis sie endlich aufbrach und zum Contrapunkt erblühte.
Der Moment dieses Ueberganges, eine scharfgezogone Grense
1) Falsum contrapunctum dicimna, qunm duo invicein eantoios pro-
erdniit i>er dissoiias conjunctorum Bonorum extremitatef», ut sunt srcunda
major et minor, (|uarta item major et minor, atqae septima et nona ejua-
modi, quae ab omni penitns suavis haiinoniae ratione et natura diquno-
tae sunt. (Gafor, Prart muR. III. lö <lc Talso contraiiuncto.)
2) Solas quidam cautor acutiore vooe pronuuciat uotulas cantus
plani: duo vero ant tres raeeinunt nnieo aono notnlas ipsins oanins plani,
■ubsequcntcs in secundam et quartam vicissim certo ordino: quem quoniam
ab omni modulationis ratione sejunctus est, me pudct deseribere. Quan-
doque incipiunt hujusmodi succeutum in unisono cum cautu piano pro-
dnoentes, mde per seoondas et qnartas ad finem nsqne vel ad certam
terminationem, in qua unisonantcs conveniunt. l'lerumquo vel in seoun-
dam vel in quartam incipiunt. In unisouum vero sempcr termmautur.
(A. a. 0.)
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350 Di« Eniwickeluiiir dM melintininigwi GMingM.
zwischen Discantus und Contrapunctus, ist nicht wohl au bezeichnen.
Beruhte der Discant im Wesen auf Improvisation, auf üebung- und
wechHcl8citigem£inverstäodni8s durch gemeinsames Zusammensingen
geübter Chorsänger, war daher eine gewisse stereotype Gleichartig-
keit der Wendungen und ZusammenUlüige um lo weniger su Ter-
meiden, je besser sich die SKnger ttber gewisse gleiehaitige und in
der Discantisirung nach getroffenem Uebereinkommen gleichartig
zu behandelnder Stellen des Cantus finnus geeinigt hatten, ge-
niigto es in diesen Urzeiten der Hamionie, wenn es Uberhaupt nur
zusammenklaiifr (wie ein musikalisches Kind am Ciavier schon am
Zusammentüuen blosser Dreiklänjz:e, die es sich zusammensucht, die
grijssto Freude hat) und wurde die Forderung einer interessanten
Führung der Gegenstimmen gar nicht gestellt: so lag das Wesen
des Gontrapunkts, trots aller diseantartig improyisirten Gesinge
supra lüfnm, vonflglieh im prKmeditirten, ausgearbeiteten» sehrift-
Uäi in Tonaeiehen fixirten Tonsatze. Stephen Morelot hat auf
einen merkwürdigen Umstand aufinerksam gemacht, welcher in die
Tcclinik der Tonsetzer aus den Zeiten der ersten Versuche einer
Aufzeichnung mehrstimmiger Tonsätzo ein überraschendes Licht
wirft. „Wie nun die Tonsetzer", sagt der geistvolle französische
Gelehrte, „noch nicht so weit waren , um gleichzeitig die Verbindung
von drei oder vier Stimmen im Geute (beim Schaffen) erfassen
SU können, fingen sie mit einem iweistimmigen Satie an, dem sie
dann so gut als sie konnten eine oder swei Stimmen in der Hdhe
oder in der Tiefe beifügten. Diese Methode einer suceessWen
Composition, von der noch Franchinus Gafor, ja sogar noch
Zarlino (Instit. barm. 2. parte, cap. r>4) redet, erkennt man leicht
an zwei Kennzeichen: zwei Stininieii bilden ein regelmässiges Duo,
das einer dritten Stinnne ganz woIjI entbehren könnte, und diese
dritte Stimme macht sich immer durch einen weniger eleganten,
sehr oft mühsamen und gezwungenen Gang kenntlich. Bei Be*
nriheilung der Münk Jener Zeiten darf man diesen Umstand nicht
ausser Acht lassen."^) Noch mOhieliger musste dann der Gang
1) 8. dessen gehaltvolle Monographie „De la musique au XV. stiele: no-
ticcsurun manuscrit de la bibliotnöque de Dijon, Paria löfiT. Extrait des
nicnioires de laeoiiunissionarcheologiquede lacöted'or". Es ist eincFreude,
deu Ernst, die Cirüudlichkoit, die gewissenhafte Forschung der französischen
Gelehrten im Fache der Hnrikgeschiohte tu sehen gegenflber dem gswissen-
losen Treibender anmassliehon Halbwisserei im ,,gründlichen" Deutschland,
wo Musikgeschichte mit Hilfsmitteln geschrieben wird, die mau für den Lese-
groschen ans der Tjcihbibliothek haben kann, wo sie sogar anßlngt, Gegen-
stand seichten K uillrtongoschwätzes zu werden, das sich für geistreich hält,
weil OS frivol ist und in studentenhaftem Toni- üher die (Irössen aller Zeiten
zu Gericht sitzt. Zum Glücke aber können wir den Franzosen auch
Mftnner entgegenstellen, wie die beiden Bellermann and O. Lindner
in Berlin, O. &ade in Schwerin, Julius ICaier in München, G. Notie-
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Der Diflcanius und Faaxboardon.
351
einer vierten n. e. w. Stimme werden. Der Componist verfiihr also
wie etwa ein Banbeir, der auf ein ErdgesoliOBS ein Stockwerk bant,
wo es dann bei ihm steht, ob er es schon jetzt unter Dach bringen
oder ob er noch ein zweites Stockwerk auf das lix und fertige erste
setzen will. In der That wird der Sinn der Anweisungen , welche
die Tonlchrer selbst bis tief in's fünfzehnte Jahrhundert hinein
über den mehrstimmigen Satz geben, erst klar, wenn man sie nicht
von der gleichzeitigen Conceptiou eines drei- oder vierstimmigen
Satsee, sondern von jener anccemvea CompMitionswdse veretäit
Tinctoris spricbt in seinem Pkoportionale gtaa ausdrtteklicb von
dem Falle, dass ttber die höchste Stimme einer mehrstimmigen
Composition eine nene noch höhere Stimme hinzugefügt werde*).
Ein dreistimmiges Lied des Engländers John Dunstabio (er ist
nach Tinctoris' Angabe einer der Urväter der Harmonie), welches
über ein im Texte aus Französisch uiul Italienisch wunderlich ge-
mischtes Lied gesetzt ist, „0 rosa bella"^), lässt ganz deutlich er-
kennen, dass der Tonsetzer zu dem gegebenen Liedmutive erst
eine bVbere Stimme leeht flietsend setate, und erst als er damit fertig
war, eine dritte Stimme als Contratenor awiscben jene beiden ein-
Bwftigte, nieht nngeschickt nnd selbst mit Anwendung einselnor
kurzer Imitationen, im Ganzen aber doch etwas steif. Bei den
noch schwMra notirten Liedern der berühmten Niederländer Dufay
und Binchois ist die spätere Einfügung des Contratenors
ebenfalls sehr deutlich fühlbar. Dagegen zeigen die Chansons
Okeghem's, des Vaters der zweiten niederländischen Schule, nicht
mehr jenes den Kern des Ganzen bildende pausenlose Duo; die
Stimmen altemiren hier schon mannigfacb und beben schon eine
völlig fireie Bewegung , suweilen sogar von sehr schönem melodischen
Flnss, wenn anch alle ausammen oft einen wunderlich altirSnkiscben
Zusammenklang geben. Ohne Zweifel aber verdient jene Art lU
arbeiten mit gutem Grunde für ein zweckmässiges Exercitium zu
gelten, durch welches mau den Tonsatz allmälig beheiTschen lernte.
Sogar jene barbarische Munier zwei gar nicht zusammenge-
hörige Lieder (cantu-s prius facti) in ein unnatürliches liündniss zu-
sammeuzuzwiugeu'^) klärte sich durch anhaltende Uebuug. Es
bohm in Wien u. a. m. Was Freske mid Oommer f&r nie fifetrag zu
dankende Verdienste haben, weiss alle Welt!
1) . . . (linn supra snpremum ciijusvi» cantus miiltipliciter Gompositi
aliam iiarteni novaui edirnus. (Tinctoris Pntport. III. 4,)
2) Bian findet es unter den Musikheilagen, wo es nach der Redac-
tion des vatieauisehcn liiedercoili'x ersdu'int. Kiiie zweite, wesentlich ai)-
wcicheudc Bearbeitung enthält der Codex Nr. 2*Jö dur Bibliothek zu Dyon.
3) Wie wanderbar ist doch Aet ParaUelismtis der einseinen Künste!
Aus den Z<;iten, wo die Sculptur ungefiihr ebenso l»arl»arisch war wie
jene Musik aus dem 10. Jahrhundert, findet sich am äussern linken Por-
tal von S. Marco in Venedig (unter dem die ^larcuskirche selbst d'vrstellen-
352 T)ie Eniwickeliing des mubrstimmigen Gesanges.
finden sich im Codex No. 295 der BiblioUiek zu Dijon merk*
würdige, in ihrer Art bereits ganz schätzbare Arbeiten dieser Art,
welche allerdings erst der Mitte des 15. Jahrhunderts anpehören
möf^cn. Eine solche Motette verbindet in den Mittelstimmen zwei
Lieder: Pardonuez moi und l'autrier m'nloie, wobei die eine Me-
lodie ursprünglich im geraden, die andere im ungeraden Takte
steht, und gleichwohl beide geschickt zusammengeknüpft neben-
einander hingehen. Die Anssenstimmen RUsgue A duucm nnd
dun in freier, schon erfreulieh belebter Contrapnnktining er-
fanden:
Aus dem Codex N. 295 der Bibl. von Dijon (s. Morclot Beilage II.)
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«Ir'ii Mosaik) ei»i Relief mit der Darstellunpr einer biMisclien Begebenheit,
welches aus gar nicht zuBanimeugehörigeu Fragmenten noch älterer Sar-
kophagrelieft susammengeflickt und zaMunmengestosaeii ist. Burckhardt
erwfthnt es in sciium ricrrfnic S. 580 und bat panz richtig gesehen, wie
mir eine genaue Untei'suchung jenes alten Beliefs die Ueberzeugung
versohafifl hat.
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Der Diflcauius und Faaxbourdon.
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Eine andere Motette dcrsolboa Sammlung „Souviegne vous de
la doulcur'* hat gar einen aus einer Menge von Liederanfangen
quodlibetartig und toll genug zusammengeflickten Tenor: „A bien
amer soiU mes jeiUx gracietdx: hoc aar la mer quaid il vente il y
fait daugereitx aller: gaillarde pemie my larrez vous morir: quant
le Roy alla en Flandre il fit oindre ses ouseaiix: Vami BaudichoHf
madanie, Vami Baudichon". Aber auch eine fünfstimmige Marien-
motette findet sich da, die zwei tiefem Mittelstimmen intoniren zwei
Marienhymnen „pidcra es et decora'* und „Saticta Dei genitrix^^
beide den Notenfolgen nach unverändert, aber den N*tenquantitüten
nach durchaus accommodirt und durch Pausen nach Bedilrfniss aus-
einandergehalten. Dazu coiitrapuuktireu die drei anderen Stimmen
mit französischem Text „;;e; »m»ic/ii vierge plus digtie^* u. s. w. Der
Tousatz erscheint hier schon mit grosser Sicherheit behandelt,
das Ganze ist von sehr würdig ernster Färbung und trägt so sehr
den Charakter der zweiten niederländischen Schule, dass es
allenfalls eine Arbeit Okeghera's sein könnte:
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Der Discanius und Fauxbourdon.
355
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Dijoner Codex No. 206. S. auch Morelot Beilage IV.
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Die Entwickcluug des mehrstimmigen Gesanges.
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358
Die Entwiokelniig des mehntimmigen OMaogei.
Comporitioneii dieser Art sind die eigenfliche Vorscliiile und
Vorhalle jener spXtem meisterliehen Arbeiten nüt doppeltem Cantns
firmns sweier ▼ersehiedener Hymnen oder Antiphonen (oder auch
eines durch canoulsche Nachahmung sich selbst verdoppelnden Te-
nors). Wenn Heinrich T-^aak seine hr5chst grandiose sechsstim-
mige Motette an Leo X. ,^optime pastor^^ über die zwei verhun-
doiion Tenore ,,ffa pacem Domine^^ und j,Sacerdos et poniifejc'*'
im wundervollsten Stimmgewebe wie einen riesenhaften gnthischon
Dum aufbaut, so ist das nur die Vollendung dessen, was jeue alten
AnfKnge zuerst Tersucht. Und eben dahin gehört des geistreichen,
phantasievollen Nicolans Qombert vielbeininderte Motette mit
der Devise „divow üvena aroKt^, welche Oiov. Batt Bossi^) in
folgender Weise schildert: „Nicolb Gombert, eeeelentissimo in
qnesta scienza, nel secondo libro de motetti a quatro fa qnesto motto
in uno che dice diversi diverse (richtig; diversa) orant e qjntito
perche il basso iWce Alma redemptoris su lamaniera del canto fermo,
il ranto dico salve rcgina su l'andata del canto fi'imo, e Talto dice
ave rtv/Z/ia coehrum pure aopra il modo del canto fermo, et il tenoro
dice Jnviulata in qucUa maniera, che sta il motetto della Corona'^;.
Di pih ü soprano imita il canto forme ehe h per 6-qnadn» el le nitre
parti sono per fr-molle, perch^ anco l'antifone loro sono per d-moUe,
arteficio non cosi focile, eome aleoni pensaao**^ Allerdinga be-
handelt Gombert aber die vier Antiphonen durchaus mit ktestleri*
scher Freiheit. Doppellieder su eomponiren, d. h. zwei gar nidit
zusammengehfiri^e liiedermelodien in sinnreiche Verbindung zu
setzen, war bei den späteren Meistern eine beliebte Spielerei. Der
Niederländer Juhanu J apart hat einige hübsche CabinetatUcke
dieser Art geliefert; sehr geistvolle Arbeiten desselben Genres
aber Arnold von Brack nnd Ludwig Senfl, von denen
weiterhin an gehöriger Stelle mehr sa sagen sein wird.
1) Organe de Oantori 8. 18.
2) Rossi meint Josquin*9 funfstimmige Motette, dio im Tierten Booh
der Motetti della Corona als No. 6 zu hnden ist.
3) Auch Zarlino lobt dieses Stflck „cotal oosa h molto lodevole, per
esier ingegnosa" (Institut Harm, pars III. cap. 66). Gombert's Compo-
sition steht als No. XXX in dessen Werke: Ii. Gomberti musici impe-
ratorii motectorum nuperrime maxima diligentia in lucem aeditorum (so!)
Liber tecondus. Quatnw voonm. Venetüs apad Antonhmi Gaidsae
MDXXXXTT. Die Münchcnor k. Bibhothek besitzt diese Ssaunlutg; kdl
habe Uomberi'g Stack darnach in f artitor gebracht.
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Bi« BfoMnnlmiink vnA der eigsnUkba Oonlnpiinkt
559
IM« KtnsoMlmiulk imd d«r «ic«&tllfilM Oomtrapimkti
Hatte sieh ans rohesten Anftngen «UmSlig eine geregeltere Sats-
knnst entwickelt, to entwickelte ncli damit gleichsmtig omd panllel
auch eine dem neu gewonnenen Standpunkte entsprechende Noten-
Hchrift, welche nicht blos, gleich den auf ein Liniensystem gesetzten
Neumcn, die Höhe, sondern nach den neuen Bedürfnissen des
GesÄiijros auch die Dauer eines jeden Tones deutlich und bestimmt
auszudrücken iahij^ war. Sie war nicht die Erfindung dieses oder
jenes ausgezeichneten Mannes, sondern wie fast alle wichtigen neuen
Enehelnniigeii der Musikgeschichte, die allmälige Ausgestaltung
eines glttekHch anfgegxUfenen Gedankens in lange fortgeselster Be-
mtlhnng Vieler, wo ans mannigfiwhen Vorsehligen und Experimenten
endlich das ZweckmSssige rieh herausstellte nnd sich wie von selbst
allgemeine Geltung vcrschaflFte. In die Zeit zwischen der zweiten
Hälfte des 11. und dem Schlüsse des 12. Jahrhunderts föllt nun die
Ausbildung der sogenannten Mensural note zugleich mit der be-
reits erwähnten Mensuralmusik {mmica mcnsnrataj catUus men-
surabüis), durch welche letztere zu den beiden bereits früher
ausgebildeten Hauptgrundlagen der mittelalterlichen Musik (den
Kiiehentönen nnd der Solmisation) die dritte nnd wichtigste hinsn-
kam. Anf diesen drei Fundamenten bildete rieh ans den nnfbrm-
liehen Versuchen des Organums und des Diseantns heraus Im Laufe
des 14. Jahrhunderts der artificiöse Coutrapunkt mit seinen strengen
Regeln Uber Intervallverbindung, Gebrauch der Dissonanzen, Gegen-
bewegungu. s. w., den Kunststücken der Nachahmung, Vergrösserung
und was mehr dergleichen der Scharfsinn der Musiker ersann. Von
Schönheit war lauge Zeit hindurch in alle dem keine Spur zu finden;
durch die elementare Wirkung der Singstimmen, durch den blossen
richtig geordneten Zusammenklang der Intervalle schien jener Zeit
schon Alles vollgenUgend erfWt, was man von der Musik verlangen
oder erwarten konnte. Erst als man in der Behandlung der Kunst-
mittel sn einer gewissen Sicherheit und Leichtigkeit gelangt war,
glückte es ans dem solidarischen Musikmachen der Schulen individuell
und bedeutend hervortretenden Talenten, wie Wilhelm Dufay u. A.,
wirklich musikalische Kunstwerke zu schaffen. Während dieser
Bildungscpoclic hörte die Musiklehre allmälig auf das Monopol der
gelehrten Mönche zu sein, besonders seit ihr einziger Zweck nicht
mehr darin gesucht wurde den Ritualgesang im Kirchenchore rein
in erhalten und der kirchlichen Anordnung gemlss ansflUuen xn
helfisn. Dnroh niederländisehe Lehrer, die meist selbst tüchtige
Singer waren, wurde von etwa 1350 — 1550, also swel Jahrhun-
derte lang, für die allseitige Ausbildung der Tonkunst das Be-
deutendste geleistet. Deutsche, italienische und franaösisehe Meister
schlössen rieh in rilhmlichem Wetteifer an«
360
DU Bntwickelong dea mehntimmigen Gesänge«.
Die Mensuralnote lud HenannlmuBik fand ihre ertte Pflege
nicht in Italien, wo- die Kirch ensünger einstweilen an ihren Neumen
festhielten, sondern am Niederrhein, in Frankreich und den Nieder-
landen, wurde aber bei dem geistigen Verkehr, der trotz der damals
mangelnden Verkehrsmittel unserer Tage lebhaft und rasch genug
war, auch in Italien bald und mit Eifer aulgenunimen.
Der älteste Schriftsteller über Meusuralmusik , der schon
beim Diaeaatos wiederholt genannte Franc o, war seiner Abstam-
mnng nach rennnthlicb ein Niederdeutacher. Ein Compendium de
iüca$du ans der HandBchriftenBammlung der Königin Chriaüne von
Schweden, welches sich dermal in der Valicaniachen Bibliothek be-
findet, fKngt mit den Worten an: §gQ IPrmm de OoUmia^), £r
1) KiMewetter(„Ueberdie3^eben8periodeFranGoVin derLeipz.allgem.
mm. Zeitnng,. Jahrgang 1888 ifr. t4 nnd S5) bemerkt dam: „Denke ich
daran, wie Absclireiber (Transcribers), Lehrer, Scliüler, AntiquitAtenkrämer
und Sammler mit wirklichen oder angeblichen Guido'» verfahren und bedient
worden sind, kann ich mich des Zweifels an der Echtheit jenes £go IrVanco
nicht erwehren. Der Ürlieber jenes Gopendiums , der fiir gut fiina , dieMnal
seinen Franco, progen dessen sonstige Gewohnheit, in der prima persona sin-
golaris sprechen su lassen, hatte natürlich den Scholasticus von Lüttich im
Sinne, in welchem man schon früh nnd vielleicht nicht ohne Orund einen
Cölner vermuthete, weil er dem Erzbischof von Cöln ein mathematisehea
Wi'rk zugeeignet haben sollte. Meines Orts gestehe ich, dass ich eher ge-
neigt bin, jenes Compendium für apokryph zu halten, als zwei gelehrte Franco
▼on GOln amranehmen ; obgleich kAk es eben nicht f&r nnmOglioh bidte, dass
diese altberühmte Stadt in verschicHtMien Zeiträumen auch wohl zwei Geist-
liche gleichen Namens hervorgebracht haben könnte. Ich halte dafür, dass
die Herkmrft mserea Franco noch problematischer ist, als dessen Lebens«
pcriode. Sein Name IVanco, d.i. Frank, zeigt übrigens ohne Zweifel einen
Deutschen nn." Giovanni Sjiataro in seiner 1491 für Bartolnmeo de Ramis
veröffentlichten Streitschrift nennt ihn Germauus de üolonia, auch von Doni
(discorso sopra le consonanze S. 257) wird er Fkaneone daCwknda genannt.
Auf einigen Ahfichriftm seines Werkes über den Mensuraljyesang heisst er
Franco i^arisiensis (Forkcl, Gesch. d.Mu8.2. Bd. S. 390), daher ihn P. Martini
mmFranCOne di Parigi macht (Stor. della mus. Thl. 1 S. 169). Daför fehlen
aber alle Anhaltapunktc, und es ist diese Metastase auch anderwärts vorge*
kommen, wie denn z. B. de ^luris, der französische Magister der Sorbonne,
wie Rousseau in seinem Dictionnaire de musique erwähnt, für einen Italiener
aus Perugia ausgegeben werden wollte, weil auf einem Codex aus Versehen
statt Parisiensisgppfhrio1)Pn stand Pomsiensis. Mit Franco, einem Scholasticus
von Lüttich, der um lOüU lebte, und dessen Sigebertus Gemblacensis und Tri-
themios ab eines tiefgelehrten Mannes gedenken, hat unser Fnmoo nichts ge-
mein als denNamen. Die beiden uon itintf-ii Autoren, die s«dbe Kenntnisse
einzeln aufzählen, ihn als Mathematiker rülinuM», auch dass er ein Buch Ober
die Quadratur des Zirkels geschrieben u. s. w., erwähnen kein Wort von mu-
sikalischer Gelehrsamkeit, und dieses Stillschweigen allein schon sollte jede
Verwechslun;^ des Mathematikers Franco mit dem Musiker Franco aus-
schliessen, wenn man bedenkt, welch' eine musikalische Autorität der Letztere
war. DieNothwendigkeit sweiRwnco yon Cöln anzunehmen, ist doch wohl
nicht vorhanden. Deswegen, daas Franco von Lüttich seine Quadratur des
Zirkels dem Erzbisehof Hermann von Cöln widmete, braucht er nicht selbst
auch Göln angehört zu haben ^ und eben so ist das blosse eyo doch wohl noch
L^iyiu^uo Ly Google
0ie Mentnralnrarik und d«r eigentliche Oontrapankt 861
wurde eine Autorität, fast wie Guido; spatere Schrit'tstcller (Mar-
chettus, JeandeMuris, Robert de Handle, Thomas von
Walsingham, Spataro, Doni n. 8. w.) nennen ihn mit grosser
Aehtang. Fnuieo*8 Tractat Ist neben swei anonymen HanuBcrip-
ten der Pariser Bibliothek, deren eines mit der Jahreszahl 1187
bezeichnet ist, nnd einer ehemals dem Ahbi Teisan (jetst F^tis)
gehörigen Handschrift vom Jahre 1226, die Mteste erhaltene Ab-
handlang Uber Mensuralmusik.
Franco's Tractat ist, wie er ihn selbst nennt, ein Compendinm
und in dieser Beziehung, als Zusammenstellung der zur Zeit seiner
Abfassung geltenden (Jrundsätze der mensurirtcn Musik, wichtig.
Wo er etwas wirklich Neues behaupte, werde er es auch beweisen,
verspricht Franeo. Wohl ein Jahrhundert später, nm 1220, schrieb
der Benedictinermdnch Walter Odington yon Evesham seine sechs
Bttcher de speeukUume murias» Ans der Aehnlichkeit der Lehren,
die er im sechsten Bache {de karmtmia muUiplicif id est de organo
et ejus speciebus, nec non de campositione et figuroHone) vorträgt,
folgt wohl noch nicht nothwendig, dass er, wie Bumey will, ans
Franeo geschöpft haben müsse; beide lehrten was zu ihrer Zeit all-
gemeingiltig war. Dagegen tritt ein anderer cngliseber Mensuralist
Robert de Handlo (der einen seiner Tractate mit der Jahreszahl
1326 bezeichnet hat) in seiner Schrift Regulae cum maximis magistri
l^aneoms am addUumilma alienm nmieonm eompihiae a Boberto
de .HomCo nicht allein als Commentator Franco's auf, sondern er
macht, da sein Werk in Dialogform abgefasst ist, den Franeo sogar
zum Interlocntor; er selber ist der andere, und spfiter mischt sich
der Motettencomponist Petrus de Cmce, dann ein Herr Peter le Visor,
Jacob de Navernia und Joannes de Garlandia in das Gespräch.
Der Zeit FrMiuo's entweder unmitt(dl)ar angehörig oder doch
wenigstens noch nit iit über ihren Standpunkt hinaus ist ein sonst nicht
näher bekannter Beda (Pseudo-Beda, auch unter dem Autoruameu
Aristoteles vorkommend), der einen Dractatus de muska quadrata
aem maiMrata hinterlassen hat, in welchem die Lehre von den Noten-
gattangen, Pansen, Modis, Ligaturen n. s. w. im Sinne Franco's,
kein ausreicheTidt-r Grund gt'gen die Echtheit des vaticanischen Manuscripts.
Ueher Franco's Zeitalter hrachtc Kiesewelter in der Leipziger allgera. mus.
Zeitung Jalirrf. 1H28 Xo 4S. 40, 50 fincn AuFnütz, der als Cluster musikalisch-
historischer Kritik gelten kauu. Hr. i* utis suchte dagegen in der Einleitung
seiner Biographie nniTerselle die Identität Franoo't de« Lttttioher Scho-
lasticus mit Francodem Mensuralisten durch allerdingsiehrBchwache Crründe
zu erweisen, Kiesewetter verfocht in der Leipziger allgem. iiiu'«. Zt-itiing
Jahrprang 1838 No. 24 und 25 seine frühere wohlbejfründetc Ansicht. Da-
bei wird es wohl einstweilen sein Verbleiben haben. Wie man nm 1(J<jO
sclioii eine Mensuralmusik hätte besitzen sollen, ja wie Franeo um dirse Zeit
von der Mensuraimasik als einer schon den „Aelteren'' bekannten Sache
tollte reden kftnneii, ist allerdings rein unbegreiflich (S. auch die neue Ans-
gäbe der Biogr. amv. ad v. Franoon 8. Bd. S. 320).
Digitizoa Ly Li(.)0^le
362 Die ButwuMang UMlmtinunigiNi Getuget.
tlitch verworrener und weniger vollht.ünlif^ abgeliandelt wird'). Fast
Zeitgeuobse Walter Odiugton's war der liieronymus von Mähren
(Mmum oder it Mwwoia), dessen IVüäaius de Mtisiea lehon 1260
als koetberes Legat Pieire's tod Linoges in den Besits der Bor-
bonne gelangte, nnd ans dessen Sebnle Johann de Mnris wenig-
stens mittelbar bervorgo^^m^en ißt. Zu dieser Gruppe der Kitesten
Mensuralisteu gehört endlich auch noch der fruchtbare musikalische
Sdiriftsteller Marcliettus von Padua, muthmasslich ein Mönch,
denn er lässt sich in seinen Schriften von fingirten Interlocutoren
mit ,,Frater" anreden. Er nennt sein Buch über Mensuralmusik
l'omerium, „weil es gleich einem Garten den Sängern unermess-
liehe Blumen und Früchte bringe", und er bat es geschrieben, „um
den Musikern nnd SXngem sn seigen, dass die Mensnralmnsik mit
niehtenansittmerWillk1lr(a&Mte(ot^im<a<isarUlno)herTorge
sondeni durch die Vernunft begründet sei.** Diese philosophische
Begründung, bei der ihm ein Dominikaner aus Ferrara, ßyphantes,
rathend zur Hand war, enthält gute und höchst seltsame Argtimente
in wunderlichem Gemische. Das ganze Werk ist so weitschweifig
und schwülstig' geschrieben, dass man die Harmlosigkeit des guten
Marchettus bewundern muss, der sein Opus dem Könige Robert von
Sicilien ausdrücklich deswegen widmete, „damit er im Lager des
Krieges den kSniglichen, von den Wechselflfllwi des kriegerischen
Mars beunruhigten Geist daran eigStae.** Ob diese tiefsianigen
XJntersnchungen Uber Cauäas, BropritMu^ Borna» nnd BmctoPst,
Uber Breves und Brwea aiiei as u. s. w. dem Könige wirklich die
Sorgen des lüaeges versüsst haben, wissen wir nicht; die Dedica-
tion ist aber wenigstens für die Zeitbestimmung nützlich, denn da
König Kubert 1309 — 1344 regierte, so scheint, nachdem Marchettus
seinen ersten musikalischen Tractat schon 1274 vollendet hatte,
sein Pomerium jedenfalls seinen spateren Lebensjahren anzuge-
hören und reicht (gleich de Handlo's Schrift) eigentlich schon in die
Zeiten des de Muris nnd Philipp von Vitiy hlnllber, denen gegen-
Uber es jedoch noch den Mteren Stand der Mensnrallehre yeitiitt
oder vielmehr den Uebergang Ton der Uteren sn der entwickel-
teren Eichtung vermittelt.
Marchettus hat das Geschick erfahren mUsseUi die Zielscheibe
1) Man hat diesen Autor lange mit Beda venerabilis vorwrchselt,
daher jener Mensuraltractat auch den 1<'»88 zu Cöln gedruckten Werken
(I. Bd. S. des ehrwürdigen Beda beigegeben worden ist. Dass der
Mönch-Aristoteles und Pseudo-Beda eine und dieselbe Person sind, Imt
BottOe df Toulniont vollständig nachgewieftcn. (Die entscheidendsten Be-
weisstelien ündeu sich im Speculum des de Muris XIL 11 und lö, femer
6, 19, 90 und 27.) Moria nennt ihn und Franoo die Bsuptb^rfbiaOT des
mensurirten OcBanges: „inter qnos eminet Franco Teutonicus et alias
quidani , qui Aristoteles nunciipatur" (Speculum VII. 1). Der Mönch
Aristoteles gehört dem Kude des 12. oder dem Anlange des 13. Jabr-
bnndeits an*
Die HenninlmniUc und d«r «igtnlUdie OontnpiDJct 863
der Bpfiteren Mnsikgelelirten zu Avcidt n. Sein eignier Landsmann
ProBdocimus von Bcldomaudo {Fiosdocimus de Bddomandisy
«iner der Tontli^chateii Vertreter der mittelalleiMien AUiruMMrei,
gleich Pietro Ton Abano Philoioph, MiAer, Astrolog u. a. w.)
schiieb 1410 ein ganzes Buch „wider den theoretiBehen und specn-
lativeii Theil des Lncidarium des Marchettus" Der Earthfiuser
Joannes {Joannes Carthusieiisis) bezeichnet Marehetto als Einen,
der f:leich einem Schulknnben die Ruthe \ erdient ifcruhi ivfUt/enfein);
Bartulumeus de Kamis maclit auf dessen Namen ein unüberset^jbareH,
nichts weniger als schmeichelliaftes Wortspiel 2), und der Gegner
des de Kauiis, Nicolaus BurtiuB, glaubt diesen nicht Bchlimmer ab-
fertigeil an kBunen, als mit der Wendung: „er, Ramis, geratbe der
groben Dummheit und Albernheit eines Marehettas nach**^). Die
Folgeteit hat indessen dem VielgeschmXhten seine Stelle unter
den schätzbaren MusikschriftsteUeni eingerinmt, nnd in der That
hat er vieles höchst Anerkenneaswerthe gessfrt, oh es gleich keine
leichte Arbeit ist, es aus seinem unendlichen Wortschwall herauszu-
fischen*). Für diese filteren Mensuralisten blieb Franco eine Art
gemeinsamen Oberhauptes: in dieser Beziehung ist eine von Mar-
chettus gebrauchte Wendung bezeichnend „I rauco und die übrigen
Lehrer der Mensuralmusik*''^).
Der Charakter dieser Slteren Lehre ist eine gewisse rohe Altei^
ihlbnliehkett und Einfalt, die snweilen an Ungeschicklichkeit grenst,
obwohl einzelne Partieen schon sehr snbtü heransgearbeitet sind.
Die ersten Anfänge der Lehre hat man sich wohl äusserst einfach
nnd auf das nächste praktische Bedürfniss beschränkt zu denken.
Sobald es darauf ankam fiir die Töne eine bestimmte Dauer zu er-
mitteln, ergab sich sogleich der natürliche Gegensatz von Länge
1) Oposcoliim contra theoricam partem sive speculativam Lncidarii
Marcheti Patafini Dieses mit 1410 datarte Ifanaacript so wie zwei an-
dere, ein Compcndium tract. practicae cantus mcnsurabilis (datirt 1408)
und eine Abhandluug „Cantus mensurabilis ad modum lialicorum" (1412),
befinden rieh im Besitz der Bibliothek der Conventualen in Bologna,
wohin sie wohl durch P. Martini gebracht worden. Die Notiz des I^crns-
dorf *8chen Umversailexikons, „dass sich auch in Padua Abschriften findeu",
ist irrig; wenigatena habe ich bei peraOnlidien Kachforachnngen in der
genannten Stadt nichts davon aufzufinden vermodbi. Ueber Beldomaado
Tergl. man die Binprafia deprli artisti Padovani von Napoleone Pietrucci.
2) In eeiiicr Pract. musicae. £r nennt ihn „DJarchettus, (juatuor
marchetia Yenetoram venahs".
3) Crassam etenim Marchetti imitatus est^ nt dixif ineptiam et firtoi-
tatem (Nicolai Murtä Muaicea opusculum).
4) Forkel (0. d. M. 2. Bd. 8. 468) bemerkt: .was er zvr Erweiterung
der Harmonie gethan, war nach der Bescbaftnheit seines Zeitalters be-
rechnet, schon sehr viel".
ö) Circa quod sciendum est, quod JUagister Prauco et ceteh doctorea
nnricae menauratae aio Tetificant n. s. w. (Hardhettns bei Gerbert Scrip-
toies m. Bd. S. 127).
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364 IHe BntwiekelaBg des mebnümmigen OetangM.
uml Klirae, wie ihn die M«'trik für Sylben von jeher in der Weise
tcstgehalten hatte, dasä „Lange doppelt genommen Kürze sei.'*
Hatte man in der Nenmenacbrift den einzelnen Ton dnreh den
Punkt nnd die Virg» Teninnlieht, so gab man jetit diesen Zeichen
eine feetere, eckige, mehr in die Aogen fallende Oestalt nnd aehnf
daraas als Zeichen fttr die knne Tondauer die sogenannte Brevis
für die lange Tondauer die Longa ^ ; bei letzterer sollte der herab-
gehende Strich [caitda oder tracfMs) die Verlängerung andeuten.
Dies mögen Anfangs die beiden Quantitäten gewesen sein, deren
man sich vorläufig allein bediente. Als später noch andere Noteu-
gattungen in Aufnahme kamen, erklärten die Mensnralisten die
Longa für die erste und ▼onttgliehste (prima «f primcipalis)^ weil
alle andern sieh auf sie besiehen. Die Metrik bewegte sich nun
meist trochSisch oder jambisch (-^; diesem Masse der Worte
schlössen sich die Notenseichen an:
1
^(iroohiiach)
1
(jambisch.)
Diese Verbindung von Länge und KUrze oder Kürze nnd LSnge
wurde daher tur ein in sich Abgeschlossenes, fiir einen eigenen
Abschnitt angenommen, man nannte diese das ,,Mass" der Töne
anzeigende Verbindung Modus, das Mass. ,,Der Modus," sagt eine
Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert Uber die Kunst des Discan-
tirens, „ist eine Verinderung des Tones sios LXnge nnd KQne
geordnet** ^) Das rhythmische Mass war also ein drdieitiges, in«
sofern die Longa an Dauer so viel galt als swet Breves. DieBrevis
wurde daher auch tempus (Zeit) genannt. Dieser dreitheiligen Mes-
sung zufolge galt daher die Longa dann statt zwei vielmehr drei
Breves, wenn ihr eine andere Longa nachfolgte. Das dreitlieilig«
Mass, das ursprüngliche, liiess daher vollkommen, perfeduvi. Die
Symbolik hatte dabei zu bemerken, dass ja in der Drei alle Voll-
kommenheit begriifen sei, und erinnerte an das Geheimniss der
TrinitSt^. „Alle Musik," sagt de Muris, „geht von der Dreizahl
aus; drei dreimal genommen gibt neun, worin alle Zahlen begriffen
1) Modus est variatio soni ex longitudine et brevitate ordiuata (De
arte mscantandi bei Goussemaker Hist. de Tbarm. du moyen äge 8. 281).
3) Perfecta dicitnr, eo quod tribos temporibiii mensuretiir. Bat enim
temarius numerus inter numeros porfectissimus pro eo, quod a summa
Trinitate, quae vera est et summa perfeutio, nomeu aasumsit (Franco, Ma-
sica et cantos msiisarabQia oap. iV). Uebereinatinmiend aa|;t H. d. Ze^
landia «pOT^Botio consiitit in nomero temario, imperfeotio m binario**.
Die Mensuralmuiik and der eigentliche Contraponki.
365
rind, da man nach neun immer wieder cur Einheit zur&ckkehrt, daher
steigt die Mnsik auch nicht ttber die Neunsahl** i). Bas xweitheilige
Mass, der gerade Takt, wie wir sagen wttrden, galt folgerichtig für
unvollkommen {imperfedum) und wurde auch so genannt. Er tritt
als selbstständiges rhythmisches Mass erst im 14. Jahrhundert auf.
Von der blossen Möglichkeit eines sclbstständigen zweitlieiligen
Masses hatten die ältt-ston Menhuralistcn so wenig eine Vui^tcllnii«^,
dass Franco saj^t : die impert'ectc Longa werde olnie ergiinzi nde Hilf-
leistung einer ihr voransteheudeu oder uachi'ulgcudeu Brcvib gar
nicht angetroffen^).
Et iniisa übrigens hier eigens darauf hingewiesen werdeUi dass
die Uensuralnote mit der römischen Choralnote, wie wir sie noch
hentsntage in den Canttonalen antreffan, nichts gemein hat als die
Hussere Aehnliehkcit der Gestalt. Die Neumen behaupteten sich in
den BUcliem des Kirchengesanges bis in das 14. Jahrhundert hinein ;
und erst als die Mensuralnote bereits zu einer bedeutenden Anzahl
von Formen ausgebildet war, Hess man für den Choralgesang eine
ahnliche viereckige Note, die no(n quadriquarta, geltt'ii und machte
den der Mensuralnote in Gestalt und Namen nachgebildeten Unter-
schied der Longa \t Brevia m und Semibrevia 4, deren Daner aber
im eaniusplanua immer nur eine ungefiUire war, die immer Noten
unbestimmter Geltung (ineerÜ vahnris) blieben« Viele bedienten sich
noch immer jener unschönen Schrift der „Flit i^c n Hisse** und Huf-
eisen/' welche die Uebeigangsform zwischen der Nenme und der
Ohoralnote bilden 3). Jene Unterscheidung der Quantitäten in der
Choralnote war eben nur eine Hilfe fiir die der latt'iuisclien Prosodio
nicht kundigen Chorsänger, besonders fnr die Ch(»rkiial)cn. Die ndt
den viereckigen Mensuralnoten geschriebene Mensurahnusik hiess
daher (im Gegensätze gegen die sur Zeit als die Mensuralnote auf-
kam, noch immer in Neumen notirte musica plana) auch wohl die
viereckige Musik (titiine» guaäraia)^ oder nach den mannigfachen,
1) Musica ergo a numcrorum tonmrio sumit urtum. (|ui tornnrius in
se dactus uovem generat, sab quo noveuario quodummodo omuis numerus
continetnr, cum ultra norem semper fiat reditns ad nnitatem: ergo musioa
iiovenarium numerum non transcendit Nnlhi i)crfcctio musicalis
tornarium cxcodit, sed tomariiim amplottitur et in^truit. Pcrfectuni
est, quod est in tres partes aequales divisibile, vel iu duas inaequalcs,
quarom minor in Be ipsa a majore superatur (Mas. pract. S. 21)5).
'2) ...pro tanto dicifur imperfecta, qnia j-iTii- adjutorio brevis |Hrae*
cedentis vel subsequeutis uullatenus invemtur (Franco cap. 4).
3) Notae vero incerti vslorts sunt illae, quae nullo regolazi Tsloro
sunt iimitatae, cujusmodi sunt, quibus in piano cantu utitur, quarum
qnidem forma interdum est similis forraae longae, brevis et somihrevis . . .
et interdum dissimiHs, ita quod pedes mmcarum propter eurum pcnüci-
tatcm a plerisque nominantur ( Tinctoria, im Tractate de notis et pausiB
Pap. X. V : de notis incerti Ysloris).
366
Die Entwickelang des mehrstimmigen Oetangea.
oft sehr bmiteii Figuren, welche die Mensnralnote stunml in den
genannten Ligaturen bildete, Figuralmnsik (musica figurcUis) Der
letztere Ausdruck hat sich bis auf unsere Zeit erhalten: die Kirchen-
mnsik wnrd noch jetzt in den Choral, d. i. den Gregoneniiciiea Ge-
sang, und die Fifjuralmusik uiiter.sciiiodon.
Die sicli alhnälig reicher gestaltcude Weise in solchen bestimmt
gegeneinander gemessenen Quantitäten zu singen erheischte bald
eine reichere Anzahl von Quantitätszeicheu oder Notengattungeu.
Das NXchstliegende war die QuantitXten in verdoppeln nnd sn hal-
biren: durch Verdoppelung der Longa anstand die duplex longa
oder tn^anwia^*!, durch Halbirung der Brevis entstand die Senii'
hreris^. Diese Notenformen und Geltungen kommen schon bei
Frauco, dem ältesten Schri fistoller Uber Mensuralmusik, vor. Da
man das dreitheilige Verhältniss als das vollkommene ansah, so stellt
sich die Semibrevis zur Brevis ursprünglich so, dass gleichfolls ihrer '
drei (nicht swei) der Brevis gleichkamen, wenigstens wollte es die
Theorie. „Stehen,'* heisst es in der eben citirten Knnst des Dis-
cantisirens, ,|iwei Senübreven zwischen zwei Longen oder zwischen
einer Lon^' t und Brevis oder auch umgekehrt, so rrilt die erste Semi-
brevis den liiitten Theil eines Tempus" (d. i. einer Brevis), ,,die andere
aber zwei Theile eines Tempus." Beide zusammen kamen also drei
Dritteln des Tempus, das ist dem ganzen Tempus, gleich. Die ar5
diöcautanili gibt dafUr folgendes Beispiel:
NB^ NB^
5
NB NB
„Diese dreitheilige UntereintheUnng der Brevis,** bemerkt Heinrich
1) Die Siiuger, die soluhen Gesang ausführten, hiesseu FiifuraliaUK.
So sagt der Dominikaner Poter Herbipolensis (von Wünbiurg) in teinem
Chronicon Francofortenso zum Jahre lotX> Musica anii>liata est, jam novi
cantores sorrexere et cumpouistae et fiyurüttae iauoperunt alios modos
assuere (vergl. Gerbert, De canta S. Bd. S. 125). A^m von Fidda tagt
(Mus. I. 1): B^ttlata aimplex vel plana (musica) est, cujus fignrae neo
auj?Tnentutn neo decremcntura patiuntur, ut tit in cantu ( 1 i **>^oriano : men-
auralis vel figwrativa est, cigus ti^urae augeri vel miuui possunt in si^nis
jiizta fermam et speciem et hoo in primis mensurae gradibus, viddioet
modo, tempore et prolatione.
2) ^uandocouij^ae duo semibreves iuter «luas iongas vel iater lougam
uiyiu^uu Ly Google
Die MeosiurAlmimk nnd der eigentliche C<mtn|Hiiiki
367
BeUeriiuuiii ni dem vontdiwideii BeiBpiel i), „lurtto Jeden&lls filr die
Ansflihrendeii gfoise 8diineri|^ceft wnd ist gewiss in der Praxis
anders gewesen; man würde dadurch gtets einen neuntheil igen Takt
erhalten hahen, den wir nicht den Auföngen der Musik beimessen
können, besonders wenn durch die Alteration der zweiten Brevis
Rhythmen wie in dem obigen Beispiel entstehen." Die Longa
duplex war dagegen nur zweitheilig, die „doppelte" Longa. Die
Theorie unterschied die Longa in eine vollkommene, unvollkommene
und doppelte; die erste enthielt drei, die audeie sswei Breve«, die
Longa dupltm naeh Unterschied seehs oder vier Breves, aber immer
nnr swei Longas^. Zar Verdentlichnng der rbytbmiseben Hessnng
bedienten sich schon die Vlteren Hensoralisten eines Punktes, den
sie divisio modi (die Theilung des Hasses) oder Signum perfectionis
(das Zeichen der Vollendung) nannten*).
1. 2. 3. I 1. a. 3.
1. 2. 3. < 1. 2. 3. 1.2. 3. 1 1. 2. 3. 1 1. 2. 3.
V • 1 II T
In Werthcombinationen, wie die vorstehenden, müsste ohne Punkt
die erste und dritte Longa dreitheilig gezählt werden, die zwei da-
zwi.sehengesetzten Breves abi'r so, dass sie zusammen wieder einen
dreitheiligen Modus bildeten; die erste {breris tcrta) gleieli den»
dritten Theil der Dauer einer perfecten Longa, die andere (brevia
aUera) gleich den swei flbrigcn Dritteln derselben oder gleich einer
imperfecten Longa. Von swei gans gleichen Noten, swei Breven,
galt also in solcher Stellung die sweite den doppelten Werth der
ersten. Der zwischengesetzte Punkt {divisio modi) schied dagegen
die Noten in Gtmppen, wobei dann die Longa nur zwei Breves galt
nnd die der Longa folgende oder vorangehende Brevis die Zahl der
drei Tempora vervollständigte.
Die doppelt grosse Geltung einer Note oder Alteration und
et hrcvem, vcl o convorso inveniuntar, prima scmibrevis habebit tertiam
partcm unius temporis, alia vero duas partes unius tejnporia (a. a. 0. S. 2<)8)
1) Die Mensuralnoten und Taktseichen des Mittelalten S. 31.
2) Duplex lonpa . . . duas lonpfas Bifruificans (Fninco cap, 4). J do
Muris (Quaest. sup. pari, mus.) uutersuheidet die Maxima ala Lou^iasiiua
nnd Longior; entere besteht ans drei, letstere ans zwei Lon(^: tio ent-
sprechen also dem, was man dann Modos mi^or perfectus nnd imperfeotot
nannte.
3) . . . nisi iuter illas duasj suilicet lougam et brevem ponatur quidam
tractnlus, qui »ignum perfectionia dicitur, qui et alio nomine diviaio
modi appcllatur . . . et ttim- lon^'a perfecta est et brevis imperfioit longam
sequentem. (Franco, (ierbcrt Script. 3. Bd. 8. 4).
4) Daamm autem brevinm pmna rseto, seoanda vero oilrra brevis
appellatur. Reota brevis est, quae unom tempus coutinet: altera autem
brevis aimiUs est longae imperfectiom. (Franco Cap. Y.)
368 Die Eniwiokeliiiig dei mehrtUmiiugeii CteMBget.
dieBeselurltnkung einer ursprünglich dreitheiligen Note auf das Bwel*
theilige Kmss durch eine angrensende Note der nSehgtklemereii
Gattnng oder Imperfeetion gehörten in der Hensuralmnaik mit
BU den allerwichtigsten Lelirsätsen. Da ferner der zwischen eine
grössere und eine kleinere Note gesetzte Punkt die Imperficirung
wieder beseitigte und die kraft der letzteren nur zweitlioiligo grössere
Note wieder dreitheilig machte, so verband man mit dem Punkte,
als nocli kleinere, nicht mehr tlieilbare und folglich nicht mehr imper-
fectible Notcngattungcn aufkamen, auch den Sinn, dass er den Wertli
der Note ^wie bei uns) um die Hälfte ihres Werthos verlängere. Da
nun der Werth der Note hald swei- hald dreitheilig zu gelten hatte,
da die Alteration und die Imperfeetion auf diesen Werth entediei»
dende Wirkung hatten, ohne dass in allen diesen FVUen die XoMere
Gestalt der Note irgendwie veräudei-t wurde: so musste der Werth
einer jeden Note nicht nach ihrer Gestalt allein, sondern auch nach
ihrer Stellung und ihrem wechselscitigon Zusammenhange mit den
übrigen Noten beurtlieilt werden, wjvs bei der in den älteren Zeiten
mannigfach auheinanclcrgchcnden Praxis der einzelnen Lehrer und
Tonsetzer nicht immer ohne Schwierigkeit war. Der Sänger musste
jedenfalls neben dem Tontreflfen beim Gosange auch fortwährend
sich nebenher mit dner Kopfrechnnng besehftfligen. Manche Lehrer
der Siteren Zeit dachten wirklich daran, die wechselnden Werthe
der einseinen Klassen von Noten auch durch Modificimng ihrer
äusseren Gestalt deutlich zu machen, wie z. B. Pseudo-Beta durch
■ Anwendung und Weglassung des Striches, durch dessen Stellung
rechts oder links und durch dessen wechselnde Länge die drei zu
Bciaer Zeit gütigen Noteuquautitäteu in sechserlei Noten und Gel-
tungen scheidet: " oder " Longa perfecta, f Longa imperfecta,
m Brevis recfa, ■ Brevis aKern. ♦ S!r))ii}>revis major, ^ Sctnihrei'is
minor. Aber dieser Vorschlag und noch mancher ähnliche blieb
unbeachtet.
War nun das wechselseitige Verhältniss der Noten durch das
Verhältniss der Länge und Kürze unter sich geordnet, so war ausser-
dem noch die Bestimmung eines gewissen Gfmndmasses nStiiig,
welches die Bewegung des Gänsen flberhaupt regelte. Es musste
eine bestimmte Gattung der Note (die Longa, die Brevis oder die
Semibrevis) eine absolut bestimmte Dauer haben. Unser wechselndes
Tempo, wonach die Taktnote im Presto nahezu der Achtelnote im
Largo gleichkommt, kannte man nicht; es wurde aber dem Bedürf-
nisse nach rascherer Bewegung, wie wir sehen werden, allerdings,
aber rlurch andere Mittel, genügt. Die Longa wurde nicht zum
Grundiaasse genummeu, wobl aber (und zweckmässig) die Brevis,
welche sweimal oder dreimal genommen die Dauer der Longa
ausmachte. Sie gab die eigentliche Zeitbestimmung, daher r
als Tempus beseichnet wurde. In der lüteren Zeit wurde,
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Die Menraralmtink ond der eigentliehe Contnpimkt 369
Glarean erwähnt, in solcher Art p^nu'ssen; an vit lni Orten Deutsch-
lands erhielt sich diese Weise bis iii das IG. Jahrliuudert hinein.
Auch Marchettus von Padua nimmt die Brevis zum Taktmasse i),
doch ohne das Wort Tactm dafttr ansawenden. Die Nieder-
länder zogen aher die heqnemere Taktweise nach der Semi-
breids vor, welche man daher auch als Tacius (Schlag oder Be-
rührung) bezeichnete. Zwei oder drei Takte, je nach der Imper-
fection oder Perfection, bildeten ein Tempus^). Es pab aber noch
ein weiteres Mass, die Prolatio, wobei die Mininia Mie liall)e Takt-
nute) die Einheit bildete, nach der Alles gemessen wurde. Da liier
die Minima so lange auszuhalten war, wie im Temi)us die Scmi-
brevis, so würden wir sagen, dass bei der Prolation ein laugsameres
Tempo heirschte. Umgekehrt wUtde conscquentorweise der Ifodus,
d. i. die Bemessung nach der Brevis, das schnellste Tempo bilden^;
man Hess aber wie gesagt diese Ghrnndmessimg fallen: der Modus
hatte nnr seine Bedeutung mit Hinblick darauf, ob er perfcct oder
imperfeet sei, d. i. ob auf die Longa swei oder drei Ihcves kommen.
Tempus und Prolation hatten dagegen die doppi ltc Richtung: das
Mass der Bewegung und das Verhültniss der 8emibrevis zur Brevis
(im Tempus) und der ^linima zur Semibrevis (in der Prolation) zu
regeln. Die Abstufungen des McmIus, dct: Tempus und der Prolation
1) In dem einen Theil seiuet Pomehum bildenden „Tractatus" de
applicatione ipsius Temporis.*'
8) Ut inpoomatis non parum lucis adfert decora carminis caesura, mal-
tum etiam omatus liKMilrnta arsis et thcsij» i(n in hnc cantu. Si (leluerit con-
ciuna vocum meusura et in cantantium coetu acqua omuium acceleratio, mira
nt oonfamo oportet . Nunc igitur de cantas menamra, quam Taehm Toeani,
nobisdisserendnm Q uibusdani autcmplacct,ut trniporis pntissiintmi raf ioncm
habeamus in metieudo cantu, quando ipsum medium est intcr moilum pro-
laiionemque, velui sol inter planetas, ad cujus quidem cursam anni tempora
metimnr. Horum opinionem aetas saperior secuta est et sdhuc magna Oer»
maniae portio. Ita tactmfieret ad brrris quantitatem. Quaiiqunin Iti tmiporo
perfecto etiam qui hanc sequuntur opiuiouem uou tres semibreves uuo tactu sed
binariam oboerrant diTiiionem, saepiua mensura ad amnanm non oongmente.
Quaproptcr alii meiisuram ad prolationem rcforunt, ut, totius hujus negotii
elcmentuni. Quem modum magna GaUiae pars observat, et herde, disceuti-
buB est expi diiior. Ita tactus fiet addemihrevis mensuram: sed hic in prola-
tione perfecta eadem variatio accidet, quam pri<»ribus in perfecto tempore ob-
venire diximus (Glarean, Dodecachordon III. Buch Cap. 7 de tactu S. 203).
Die Darstellung Glarean's hat hier etwa» Schwankeudes: er nennt Prolation,
was schon bei H. de Zeelandia Tempus heisst Oder soll der Ausspruch „ita
tactus ficrct ad brevis quantitatem'* uiclit soviel heisscn wie „die f?r<'vis bil-
det das Taktmass", sondern »der Tactus (die Semibrevis) wird, als J^Unbeit,
augegc))en, am die Quantittt der Brevia dadaroh zu bemes8«n?** Dann ist die
Fassung wenigstens ftnaserst undeutlich undeinHi8s\ < ; ' nduiss si br leicht.
H ) Eine Hinweisung aufMftlzel's Metronom möge das Verluvltniss ilentlich
machen. Denken wir uns, das Gruudmass sei z. B. mit &0 bestiumit, so
mttMten wir sagen: Modas a •-> M. d. M. 50
Tempus o = M. d. M. 50
Prolation p —M. d.M. 60
▲mbros, easohisbl« dar Musik. IL 94
370
Die lHuLwickelung des mehrstimmigen GesaDges.
waren bei den mederlAndiBchen Hneikeni sehen in jenen Früh*
Seiten, als noch die schwarze Note hemelitey in Anwendung;
Bclion H. de Zeelandia redet davon^).
Neben der zu sinfjenden Note miisste Jetzt auch die Zeit schwei-
gen zu sollen berücksichtipt werden. Sic wurde durch die Pause an-
gedeutet und als deren Zeichen bestimmt bemessene senkrechte
Striche zwischen die Linien des Notensjstenis gezogen; jedes Spa-
tium zwischen zwei Linien bedeutete ein Tempus, d. i. kam an
Baner einer Brevii gleicli, daher ein nnr halb ndt der Pansen-
linie geflUltes Spadom einer Semibrevis oder Taktnote, eine dnxch
zwei Spatien gezogene Linie zwei Tempora oder vier Takten a.8.w.
„Die Pause", erklärt H. de Zeelandia gut nnd bündig, ,,ist die Unter-
brechung der Stimme, oder ein gemessenes Athemholen, und zwar
durch so viel Tempora als das Zeichen Spatien einnimmt"^. Schon
Franco unterscheidet deren sechs: longa perfecta, longa imperfecta^
welche zugleich für die altera hrevis gilt, die brevh recta, seniibrei'is
major und minor und finis punctommi letzterer ist der durch alle
Linien gezogene Sdihisssirieh nnd, wie Franeo selbst sagt, „incom-
mensorabeVS Johann de Muris billigt diese Abstnfcngen, wie sie
Longa perfecta
Brevis
imperfecta
recta
oder
zwei
eins
Semibrevis
Buyor ) aunor
Finis
pnnotoram
drei Spatien
drei Tempora
nach den Regeln der Alten (in canonxhus antiquorum) festgestellt
seien. Dagegen verwirft der sonst wenig praktische Marchettus die
Unterscheidang eigener Pansen Ar die Semibrevis major und minor,
weil weder die sehreibende Hand, noeh das lesende Auge genüge,
um einen so geringen Unterschied im Zeichen gehörig an beobachten:
es sei besser, die Pause entweder unten oder oben an die Linie sn
schreiben^). Wohl aus demselben Gmnde fand der von Marchettus
erwähnte Vorschlag Einiger {quormäom opinio) keine Aufnahme oder
kam wenigstens bald ausser Gebrauch, die Länge einer Note durch
die LKnge des ihr angehängten Striches zu bezeichnen, ob er (ähnlich
der Pause) durch ein, zwei u. s. w. Spatien gehe, so dass eine ^^te
1) Er sagt z. B. „item modus, tcm])ua et prolatio distingnnntiir n. s. w.
Et pott'st fieri (syncopatio) in mndo, fcnipore et prolatione.
2) Pausa dicitur vocum oniissio äeu aspiratio mensurata pro tot tem-
poribns qvoi fiierint spatüs figurata.
^ Letztere Pause kommt übrigens schon
3) Nämlich — »— oder
bei Pseado-Beda als Semituspirium minus vor
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Die liensiiimlmnsik und der eigentliche Oontrapunki.
871
ohne Strieh ^ Tempna, eine Kote mit einem Striche durch das
nXchtte 8petinm abwKrts swei Tempora, dorch swei Bpatien drei
Tempora u. s. w. gelte i). Ueberhanpt seigen die Schriften der Lehrer
nu(\ Theoretiker ans den Frtihzciten der Mcnsuralmusik ein buntes
(iewinunel von vereinzelt gebliebenen Einfällen und Versuchen,
durch welche da und dort netio "Wege gebahnt werden sollen^). Es
werden neue Quantitüten erdacht: bald soll, wie bei Robert de
Handlo, zwischen die Longa und Brevis eine Seniiionga cingescliobeu
werden; bald sollen vier- und tsccliäzeitigc und noch weiter ge-
dehnte Maiima durch eben so viele aneinandergeschobene Longas
nebst Seitenstriehen^, oder, wie abermals Robert de Handlo will,
mit einem einsigen Seitenstriche, aber dnreh Theilnng des Noten-
körpers in die entsprechende Anxahl Quadrate dargestellt, eine zwei
Drittel geschwärzte Longa soll nach Anderen dreitheilig gezählt
werden. Anselm von Parma statuirt dreierlei Breves und dreierlei
Bemibreves: majores, medias et minores*). Bald wurden seltsam ver-
wickelte QuantitÄtsberechnungen angestellt: Walter Odington be-
spricht den Fall, dass drei Semibreves die blosse Dauer einer ein-
ligen aasmachen, was ohne ein besonderes Notenzeichen aus deren
blosser Stellung entnommen werden soll. Marchettos plagt sich auf
eine wirklich mitleiderregende Weise mit der „AnftehwSnsnng**
1) Marchettus lehrt mit Umständlichkeit, worin Pausa uud Cauda ähn-
lich und verschieden seien. Beide bestehen aus senkrechten Strichen , die
durch ein oder mehrere Spatia fjernp-pn sItuI ; a])Pr die Pause ist von der Notf
getrennt, die Cauda schliesst sich ihr an „quia de ratione caudae est (bemerkt
unser FlukMoph) incipere a nio taperiori prindpio et trahi deorsum infn
ijisum." Die Art,aufwclclioMarchettu8 beweist, warum ein senkrechter Strich
rechts abwärts die Pertection bedeute, wie die rechte Seite des Menschen die
vorzäglichere sei u. s. w., muss man in dem Pomerium selbst nachlesen. Ein
Strich an der linken Seite hat natürlich die entgegengeietste Wirkung: „qnn
sicut est propositum de proposito ita et opjiositum de opposito . . . sed dex-
trum et sinistrum sunt oppositia etc." Durch so viel Spatia die Cauda links
berabgeht, so viele Tempora yerliert die Kote; nur soU man, warnt Mar^
chettus, die Cauda beileibe nicht durch drei Spatia liehen, „nota perderet
tiia tempora et tunc mef nota aine tempore."
2) Noch de Mnris (pract. mus.) saj^'t: cum de ipsa (der Mensuralmusik)
diversi diversiuuidu seiitiant practicantes.
3) Erwähnt in franchinusGlafor's Pract. mas. IL 2. Die Figur ist V^^^V
dergleichen spätor in die Ligaturen wiiklioh angenommen wurde; ferner Oj
Kj— , bei de Handlo gar° ■■■■>• | 0.0.^.
4) Die von ihm Torgesehlagenen Figuren waren:
Der Torschlap mnrhtc kein Glück. „Rejiciendas potius quam approban-
das esse ueoterici arbitrati sunt", sagt Franchinns Gafor, Mus. pract. II. 4.
Arcris > • Y
SemibreriB ^
84*
372 Entwickelimg des mehniunmigen Ge&auget.
{cßudatio) von Semibroven, d. h. es sollen unter einer Ansahl solcher
Noten eine oder zwei durcli eine Caada verlingeit werden, wo dann,
um der Perfcction des Dreitbeiligen gerecht zu werden^), alle
Quantitätsbcrechnunp^en in's ScLwnnken p;crathen und der Noten-
werth sich .auf das allerseltsamste viTseliiebt. Bei diesen auseinander-
gehenden lienuntastcndcn Experiuienten und Problemen der ge-
lebilen Meiätur bildete wenigBtens die Perfection des Dreitheiligen
ein ollgeniein anerkanntes, nicht antastbares Dogma. Wenn einige
der Xltesten Mensnralisten, wie Franco, die DraÄeiligkeit der Note
als das Vollkommene und Nothwendige dureh eine Anweisung auf
die höchsten Geheimnisse der Religion zu rechtfertigen snehten, so
nntemahmen andere auch wohl eine philosophische Erklärung. ,,Bei
jeglicher Bewegung," sagt Marchettus, „liegt es in der Nothwendifr-
keit von cinoin äusscrsten Grenzpunkte zu einem andern äussersten
Greuzpuuktc durch irgend eine Mitte (de uno extrcmo ad aliud ex-
trenium per aliquid medium) zu gelangen, und ebenso nothwendig
ist es, dass diese Mitte an sich und wesentlich {per se ei essentuAUer)
sich von den Grenspunkten unterscheide, was rttcksicfatlieh der
köfperlichen Bewegung klar und einleuchtend ist; denn wer von
einem Orte zum andern geht, muss nothwendig irgend einen Mittel-
raum durchwandern, welcher weder der Anfang noch das Ende
seines Weges ist. Es ist nun gewiss, dass der Gesang eine Be-
wegung der Stimme ist, welche in der Zeit gemessen wird, wie ja
auch jede körperliche l^ewc^ung der Zeit nach mcöshar ist. Wie
wir nun also in der Körperbewegung eine erste Zeit setzen, in
welcher das Bewegte in dem Augenblicke, von dem an es sich be-
wegt {in tmo termtno a qäo movetur)^ sich befindet, und dne sweite
von der ersten unterschiedene Mittelseit, und dne dritte, wo das
Bewegte sein letattes Ziel erreicht hat: so müssen diese drei Zeiten
natuigemSssTon einander auch im gemessenen Gesänge (ta tjMO cantu
mensurato) unterschieden werden, der in gemessener Bewegung sich
von einer Note zur andern bewegt, bis er sur Vollendung des drei*
zeitigen Masses ;xelangt ist'-^)."
Eines besonderen Zeichens, welches zu Anfang' der Notirung
1) Wird z. B. von drti Semibrevcn die erste prosohwünzt
(caudatur), so soll die erste dreitheilig, die zweite eiutheihg, die dritte durub
Alteration zweitheilig angenommen werden; bei Sehwtnznng dw zweiten ist
1 18 s Ii 1 g 8 1 s 8
das £rgebnisB gar T , bei Schwiiuzung der dritten T
1 8 8 1 8 8
Aehnliche Berechnnngen fttr vier und fllnf Somibreves schlieBsen adi an
Was abfr sechs Scmil)r»!V<»'^ hrtrilTf. ..«licitniis ipiod iion", sio müssen unge-
aohwänzt bleiben. Dabei »trcitet sieb Marchettus mit ti«girten Gegnern (8ed
diceret aliquis n. f. w.) hat aasser Athem. Ich stimme Heinrich Bellermann
bei (a. a. O. S. 11), dass dergleichen schwerlich je im Gebranchi; gewesen.
2) Man lu ttiiH de Padua, Pomerium mosicae mensorstae (bei Oerberi
•Scriptores Iii. Band 143.
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Die McnMmlnMuUc und der eigentU^e Coittr»iraiikfc. $73
gesetzt worden wäre und das dreitlieili^e Mass anp«Mleut('t hätte,
bedurftü es nicht, weil ein sulches Mass ohnehin das Selbstverständ-
licBe war. Sollte eine grössere Nota nur sweitheilig gemessen werden,
so ergab sich das sogleioh darch die Nachbarschaft der kleineren Note,
durch welche sie impeiiieirt wurde. Man erblickte darin nicht ein*
mal eine Verringerung oder Werthvennindemng der grtfssern Note,
sondern in der impeificirenden kleineren eigentlich, wenn sie der
imperficirten grösseren voranstand, das erste, wenn sie ihr nach-
stand, das letzte Drittel der p^rössern Note, welches sich selhstständig
und getrennt hören lasse. ,,Wa8 in drei gleiclic Theile tlieilliar ist,"
sagt H. de Zeelandia, ,,kanu von einem seiner Drittel iuiperticirt
werden"^). Diese Anschauung erklärt auch, das« man auf das
wunderliche Mittel der Alteration Terfallen konnte, wo es doch weit
einfacher gewesen wKie statt der alterirten Note lieber gleich eine
doppelt grosse zu schreiben. Marchettas behandelt diesen Gegen-
stand, nach den von Franco darüber gegebenen Andeutungen, mit
nmstftndlicher Casuistik. Da sich die Longa in drei Breves theilt,
jede Brevis in zwei Semibreves, so sind sechs Seiiiibreves gleich
einer Longa: lindet man nun die Dauer eines Tempu.s perftrtum
(d. i. eine Longa) in nur vier Semibreven dargestellt, so müssen diese
gleichwohl das Ganze darstellen {oportet quod tales partes ad huc
tnensureni mum lotem), sie rnttsaen also nntereinander so geordnet
werden {imoieem Ha coaptentur), dass dnrch sie die sechs Theile der
Zeit dargestellt werden (caii^^riimdaMiur), Es liegt nun (meint der
philosophische Mnsiker) in der Natur, dass jenes, was sich dem vollen
Gänsen annShert, der ersten Einthdlong (in grössere Theile) ent^
spreche, und erst aus diesen grösseren Theilen naturgemSss eine
zweite weitere Theilung in noch kleinere Theile geschehen kann,
mit der man wieder bei dem ersten Theile jener ersten Theilung
den Antang machen muss. Daher miissen folgerichtig die zwei
ersten Theile der aweiten Untertheilung dem ersten Drittel der ersten
Etntheilung des Tempus entsprechen und folglich Ton den sechs
Theilen awei reprSsentiren; die beiden andern Theile müssen dann
eben so nothwendig den noch ttbrigen Raum füllen, das heisst em
jeder doppelt gross genommen, alterirt werden. Wo fünf Semibreves
ein perfectes Tempus darstellen, hat aus ganz demselben Grunde erst
die fünfte und letzte Note den Kaum zu füllen, oder, mit andern
"Worten, ist do})])elt lang auszuhalten. Wo aber sechs kleine Noten
den Kaum einnehmen, bleiben sie alle in gleicher Geltung, weil sie
ohne Rückstand aufgehen u. s. w. Man sieht, dass die Theilung der
Brevis in noch kleinere Noten diese letateren nrsprünglich als Ton
der Brevis nnd der Longa völlig abhSngig und ohne eigentliche
1) Etuuotiescum quid potcst dividi in tres partes aequales, toties polest
imp«äoi abiOa tertia parte. Et imperfidentespostantpcaepomvelpostpom
illiouiimperficitnr (H.aeZedaadia,TraQtatiis de perfeoto et imperfecto canta).
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374 Entwickelttiig des mehrstimmigen Gesanges.
selbBtBtSndige Geltung eneheinen lieis. Maidiettiit ttennl rie mwar
anch scbon Semibrayes (Hlüften der Brevis), aber eigentlich sind sie
ganz allgemein Noiae muufrta l), kleinere Noten, nnd diese kleineren
Koten iiiUfiscn zusehen sich so su fttgen und zu strecken, dasssie sich
gegen (las hcrrscliendc Hanj)fmass der Longa undBrevis ausgleichen,
we«ler eine- Lücke lassen, noch über die Schranken hinausgehen.
Diese schwankende Werthgeltung der Semibreven bewog schon die
ältesten Meusuralisten, wie Franco und Beda, die Bemibrevis in eine
grössere und kleinere (nMjor et minor) einzntheilen ; erstere ttt die
alterirte Semibrevis, welcbe an Daner der imperfecten Bre^is gleich-
kommt^. Die spSteren Hensuralisten lieaaen diese Unterscheidung
wieder fallen. — Die ersten Anfönge der MeuRurirung waren einfach
gewesen, weil sie nach dem einfachsten Hedürfnisae sich Uber wne
gleich massige Dauer der auszuhaltenden Tö-^e zu verständigen ge-
modelt waren. Die Sänger, welche sich darüber für die unmittelbare
praktische Uebung waiirscIuMnlich nur durch Verabredung geeinigt
hatten, würden vor Erstaunen ausser sich gerathen sein, hätten sie
es erlebt, welches weitläulige UberkUnstliche System aus ihrem Hilfs-
mittel Tlieorie und Pnuds wetteifernd im Laufe einiger Jahrhunderte
herausspannen. Die Menaurirung war ursprünglich keineswegs ein
Mittel der Rhythmik, sondern eben nur die zahlenrichtige Aus-
gleichung aller NotenquantitSten untereinander^); die Rhythmik be-
1) . . . quaelibet minor Semibrefris dicitnr (Franoo cap. V). Für die BreTit
raobi, It-lirt Franco, könne man nicht weniger als drei, nicht mehr als
HC un.Senubreves annehmen, oderzwei ungleiche, deren eine die kleinere, die
andere die grössere Semibrevia genannt werde. Damit ist die Dreitheilung
anoh der Brevis bestimmt ausgesprochen und die neun sind eigentlich die
sogenannten minimae pmlationis porfcc-tae (wie die späteren Mensuralisten
dergleichen annahmen). Für die Brevis altera, fkhrt Franco fort^ können
ntdit wenigar als yier, nicht mehr ahi tsehs Semibreren geltea, tem ^
Brevis altera enthalte zwei rectas. Die Rechnung ist seltsam, denn folge-
richtig sollten dann achtzehn Semihreves (oder eigcntlicli minimae cam pro-
latioae perfecta) die grösste Zahl sein. Hier beschränkt sich also die Drei-
theÜang wirklich auf drei Semibreves gegen die Brevis, und sechs Semibre*
ves '^c<^rn die alterirte, doppelte Semibrevis. Die Mindestzahl von vier Somi-
breveu ist wieder nur durch Alterirung begreiflich; es ist der Fall, über
welchen Marehettas seine philosophische BrCUie ansfl^esst. Ebenso gut hitten
drei Semibreven den Raum eiiu r Brevis altera aaarallen kOnnen, wenn man
die letzte Semibrovis alterirt hatte; aber davon mag Franco nichts wissen
und ereifert sich „Per quod patet quorundam mendacium, qui quandoque
tres semibreves pro altera brevi ponunt, aliquando vero dins^.
2) Bei Beda hcisst es: Scmibrevis major dicitur, quoniam majorem
partem retinet rectae brevis, und von der kleineren „eo quod minorem in
se continet rectae brevis.** So sagt aaoh Fnmoo: . . major pro tuito
dicitur, quia duas minores in se includit (cap. V.)
3) (^iiiil vult dici „mensurato mensuram adaequare"? Plures cantns
sub multitudiuc vocum in bona proportiune musica consociari (J. de Muris,
Quaestiones super partes muiicae). Mensora est hsbitudo^ qusntitatem,
loiiq-if udinom et brevitatem cujuMibet cantus mensursbillS imnifltstint
^Franuo, Musica et cautus meusurabihs cap. 7).
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I)ie Mensuralmiuik und der eigentliche Contraponkt
375
mSchtigte sieh vielmelir nnprünglich der Meiunirirniig^quaiititilten
in einer Art, in welcher noch halhverschollene Traditionen antiker
Metrik nachklingen, wie sie von der Poesie her in die Musik hinttber-
wirkten. Schon bei Franco treten fünferlei Masse oder Messungs-
arten (modi) auf: die erste aus lauter Longis, die zweite aus Brevis und
Longa, die dritte aus zwei Breven und einer Longa, die vierte ans zwei
Breven, einer Longa und wieder zwei Breven, die fiint^e ans zwtü
Breven und Semibreven bestehend. Im ersten Modus ist das Gegen»
bild des antiken MoIossub, im sweiten des TrocbXai und JambttB n.8.w.
nicht m verkennen; nnr der fünfte Modue, der nieht mehr anf der
einfachen abstrakten Entgegensetanng von LXnge nnd Kttne bemht,
sondern schon die relativ kleinem Notenmasse zur Geltung bringt,
tritt aus dieser Verwandtschaft heraus. Johann de Muris erklärt die
fünferlei Masse als die Anordnung der Figuren, welche die ver-
schiedenen Bewegungen des Genüithes im Gesänge darstellt'*.
II. de Zeelandia statn rt sechs MoiJos, bemerkt aber, dass manche
Musiker deren nur fünf gelten lassen; wie denn auch Franco er-
wihnt, es gebe yerschiedene Arten derlei Modos zu zählen, man
habe deren aneh wohl seebs bis sieben, die sich aber von seinen fttnf
nieht wesentlich untersebeiden. In keiner einsigen erhaltenen Gom>
Position jener Zeiten ist indessen eine wirkliebe Anwendung jener
ftinf oder sechs Modi naek Art eines geregelten Metrums oder einer
dem Gleiohmasse unserer Takte entspreclienden Anordnung der
Quantitäten nachweisbar. Wie aus einer Stelle des Job. de ^fnris
zu entnelimen, dienten die tunt' Modi zur sichern Beurtheilung des
Nütenwerthes: die Longa vor der Longa ist perfect; vor zwei Breven,
▼or drn Breven, vor einem Punkt, vor einer Pausa longa gilt die
Longa ebenfalls jedesmal drei Zeiten. Die Imperfecta eikennt man
an der ihr vor- oder nachgehenden Einheit. Dieses solle, sagt Unris,
aar Unterscheidung dienen, weil man je Perfectes und Imperfbetes
in ganx gleicher Art schreibt Insofern aber diese Masse etwas
unserem Taktmasse Analoges sind ,wo derselbe rhythmische Absatz
stets die gleiche Sunune von Not<>ngelt nngen enthält, wären die
Modi zur Berechnung; der schwankenden Aiisirleichungen der klein-
sten Noten (wie sie Marchettus casuistisch tractirt) alb-rdings sehr
nützlich gewesen, wären nur jene gelehrten Grübeleien überhaujit
Je praktisch verwerthet worden. — Schon bei den Sltesten Mensnra-
listen spielen auch die sogenannten Ligaturen eine grosse Rolle.
Sie bilden, nebst der Maxima, die sogenannten figuras composüas im
Gegensats au der Longa, Brevis und Semibrevis, welche fiffuroi aim^
plices hiessen. Schon die Neumen hatte man sehr oft zu ganzen Grup-
pen verbunden, wenn mehren^ Noten auf eine und dieselbe Textes-
sylbe zu singen waren. Eine ähnliche Verbindung m«direrer Men-
buralnoten zu einer zusammenliäugenden Gruppe nannte man oben
1) Mus. pract, Distinotio quinque modorum.
376 Die Entwiokelimg Bm mcSinlimmigen Q«Mitg«t.
„Bindung" Ligatura. Darauf wurde grosses Gewicht gelegt: „man
innss wissen," sa^t Franco, ,,das8 eine bindbare nicht liprte Figrur
tVlilerliait ist, aber ein noch ärgerer Fehler ist es, wenn m.in aus
nicht bindliaren Noten eine Ligatur macht." Die Ligatur ist ent-
weder aul'hteigend {ai^cendem)^ wenn die zweite Nute höher ist als
die erste; im entgegcugesetaten Falle ist sie absteigend {descendens).
Es gab Ligaturen von swei und noch mebr Noten. Den GnmdstoflP
der Ligatur bildet die Breris, sie ist sn Anfang, in der Mitte und sa
Ende der (Gruppe bindbar. Mehr als zwei Longas zu binden (wie
muiohe Musiker tbaten) sei ein grober l^ehler, raeint Franco; Berai-
brevon können nur zn Anfan": und nur unter der besondern Modi-
iic ation erscheinen, dass man sie wie Breves schreibt, aber die erste
Note mit einem Striche links auiSsärts bezeiclinet. In diesem
Falle galt die erste und die zweite Note als Semibrevis und die
Ligatur biess dann „^m opposita proprietate.*' Eigenheit (prO'
prietaa) hiess nUmlicb die nrsprQnglidie Geltung jeder Note, inso-
fern sie am Anfange einer Ligatnr erscbien, am Seblnsse der
Ligatur unterschied man dagegen die Perfectio^). Zu Anfang der
Ligatur war die Note cum proprietate, d. h. sie blieb Brevis, wenn
sie in einer absteigen den Ligatur einen Strich rechts abwärts hatte,
o<ler wenn sie, ohne Seitenstrich, am Anfange einer aufsteif^enden
Ligatur stand. Sie hiess sine pro in ietate und zahlte als Longa, wenn
sie entweder in einer aufsteigenden Ligatur einen Strich links ab-
wSrts hatte, oder in einer absteigenden Ligatur ungestrichen erschien;
der Strich links aufwärts gab ihr, wie gesagt, die opposita proj ridßs^
und machte sie sur Semibrevis. Die Bcblussnote (finoHs) war ent-
weder am perfectione oder sine perfecHenei im erstem Falle (der
eintrat, wenn sie tiefer war als die vorletzte Note und nicht in einer
schrägen Zusammcnziehung stand, welclie man insgemein corpus
ohliquum nannte und die bei Roliert de llandb» C)bli(|nit!iten heissen)
galt sie als Longa im corpus ohli quiwi] oder wenn sie hi)her v. ay als
die vorletzte Note hiess sie aine perfttiiout und galt als brevis ausser
sie hätte einen Strich abwärts gehabt, wo sie als Longa zählte und
Ton Einigen longa propier oppimlUm pi oprißtoim genannt worde^,
wohl um der dreifachen Unterscheidung der Anfimgsnote etwas
Aehnliches en^egensnsetien. Die Mittelnoten (medta«) galten alle
als Semibrev es, ausser die erste Media bei der oppoäta j^ropridas^
1) Proprietas est nota primariae invcntionis ligaturae data a plana
muaica in principio illius. Pcrfectin diritur ni in tiiie (Franco cap. 7).
2) Quarta regula est : in omni ligatura nota habens tractum a parte
sinistra sacendentem cum üppotita proprietate este dicitur et fiicit primts
duas esse semibreves (II. de Zeelandia). Item omnis ligatura ascendens
sive deseondeiis, tractum gerens a pnjno puncto ascendeute cum oppimtu
proprietate dicitur (Franco cap. 7).
3) H. de Zeelandia.
4) Franco : Item omnis media brevis est, per oppositam Proprietäten
semibreviter (cap. 7).
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Die Menauralmusik und der eigentliche Contrapunkt.
377
Diese Ligatoxregdn beliielten ihre GMtang aneli in aller Folgezeit,
80 lange dieMentnralnote tibcrliaupt angewendet wurde. Jenew^under-
liehe, bei Fnmco, de Muris, H. de Zcelandia ii. A. gebräuchliche und
BOgar noch von Franchinus Gafor erwähnte Terminologie kam bei
den späteren Mensuralistcn völli«; ausser (if})rauch
Diese vielfachen Unterscheidungen setzen jedenfalls eine
längere mit besonderem Eifer gepflegte Bescluiftigung mit der Men-
suralmusik voraus und scheinen, von Schule zu Schule Uberliefert,
bald Gemeingut der Mndker geworden sn sein. In diesem Sinne redet
Franco, den man gewöhnt ist ale den Vater der Menenralmmiik oder
gar alt Erfinder derselben ansusehen, von derselben als von einer
überkommenen Sache. In stetig fortgehender Entwickclung des
Gegebenen echloss sich den älteren Mensuralisten eine Kcilie von
Lehrern an, durch welche sich die Kunst der niensurirtcn Musik
immer reicher und feiner ausgestaltete und die man die mittleren
Mensuralisten nennen könnte. Die traditionellen Lehren der alten
Schule bildeten die unverrückbare Grundlage des Ganzen, aber im
Einselnen gab es Vieles neu zu gestalten. Adam nm Fuld« fasst
die ganse Lehre in sw5lf Artikel (gleichsam 12 Glanbensaztikel),
weldhe der Sehttler genau inne haben müsse: Fignra, Modm, Ttmpiu,
^roUUio, Signum, Tactiis, PunduSf Tractus^), Ligatur a, AlteraHo,
Jmperfeetio, Proportio. Mit Ausnahme der Prolnfio, des Signum
und der Projmrtio sind das alles schon den ältesten Mensuralisten
wohlbekannte Dinge. Die Noten theilen sich jetzt in kleinere Quan-
titäten, die Semibrevis zunächst in Mininias, und zu Ende der Epoche
treten gar noch drei weitere Untertheiluugeu ein: die Semiminiuia,
Fosa und Semübsa.
An der Spitase der mittleren Mensuralisten steht der weitbertthmte
Magister der Sorbonne Johann de Muris, er ist filr sie was für
die Xlteren ^lensuralisten Franco war; sein Ruf und sein Ansehen
drang nach den Niederlanden, nach Italien und Uber Deutschland
weg bis selbst nach Böhmen*^); Adam von Fulda beruft sich auf
ihn, Prosdocinius von Beldomando trat als sein Commentator
auf und suchte tluils den de Aluris commentirend, theils den Mar-
chettus bekämpfentl die Grundsätze der Mensuralmusik nach itali
scher Weise" {canttu mensurabiUs ad modum Italiconm) festzustellen.
1) War aber noch nicht vergessen. Stephan Monetarius erwiümt
ihrer euch noch.
2) Tructus est totins cantus dispositio ot effectus, videlicet figurnrum,
pausaruni, notarum, signorum etligaturarum etc. . . . Tractus vero notanara
est, qui deraonstrat valores et dispositiones notamm, ligaturarum ac eorum
proprietates per gradus et sigua (Adam v. Fulda III. 9. 10).
'6) Die Prager Universitätsbihliotlick besitzt eine Handschrift, die mit
den Worten schliesat „£xpUcit Munica Magistri Juarmis do Muris.'' Dem In-
halte nadi irt es aber augenseheinlioh kein von J. de Mnris selbst yerfiustes
Buch, Bondem ein ComptMidiuTti, das Jemand nach den Grundsätzen des htv
rühmtenPariser Lehrers zusanunensteUte,vermutblichza eigeuemGebrauche.
uiyiu^uu Ly Google
378
Die Entwiokeliuig des mehrstimmigen Gesanges.
Denn es hatten sich «wischen der Weise, wie man die QaantitKten
in Frankreich und wie man sie in Italien siüilte, allerlei Untenehiede
herausgebildet, und es verschwanden diese specifischen Italianismen
aus der KunstUbnng wohl erst dann, als Italien mit den berühmten
niederländischen Musikern, die es berief, auch deren Mosiklehreond
Uebun^ annahm ^).
II. do Z»;elHndia weist auf die Schriften des de Muris als
Quelle richtif^ster Einsicht hin. Zu dieser aweiten Reihe von Men-
suralisten gehVrett in Finrnkreich noch Philipp yon Vitry^), in
Italien Anselm Ton Parma^, Philipp (Phisiphus) von Ga-
serta*), in England Thomas Ton Walshingham und John
von Tewkesbury, denen auch nocli der Deutsche Adam von
Fulda beizuzählen ist, obgleich der letztere erst um 1490 schrieb.
Wie Marchettus unter den Mensuralisten der scholastische Philosoph,
so ist Adam von Fulda der klassisch gebildete Humanist, der
seine Tractate reichlichst mit klassischen Keminiscenzen und mit
Citaten aus römischen Diclitern würzt und die Lehre der Meusural-
musik durch Verse aus Virgil, Horas und Ovidius zu beweisen sucht,
wie B. B. die Dreitheiligkeit der Perfeetion durch die Worte Tfaga's
^mmen äeiu impare güudd*', den Modus durch ^ mete m
rflbus"^ den Punkt gar mit dem Horasischen Spruche illuslrirt:
OMM iulit punctum qui tniscuit utile Adei n. s. w. Wie Marchettus,
der noch den älteren Mensuralisten angehört, schon zu den mittleren
Mensuralisten hinUberleitet, so leitet Adam von diesen zu der dritten
Reihe oder den vollendeten Mensuralisten, Johann Tinctoris, Bern-
hard Hykaert, Franchinus Gafor seinen Zeitgenossen, von denen
aber erst später zu handeln sein wird. Neben de Muris nimmt za-
nXchst Philipp von Vitiy die bedeutendste Stelle ein. Eine Poetik
ans dem 14. Jahrhundert, also ein beinahe gleichseitiges Zengniss
1) Eine bemerkenswerthe Stelle über diesen Gegenstand findet sich bei
Marchettus von Padua: „Sciendum est autem, quod inter Uulicos et Gallicoa
est magna diffsrentia in modo proportionandi notsa, similiter in modo oaa*
tandi de tempore impcrfecto. Nam Italici scmper attrihuunt perfcctionem
a parte phncipii: unde Italici dicunt, quod nota tiuis plus continet de
perfeotione, eo quod finis. Sed GsUici oppositum dieunt, sdlicei, quod hoo
Bit verum de tempore perfecto, dt imperfeoto autom dii unt. finalis semper
est imperfectior, eo quod finis. Qui ergo rationabilius cantantV Et respon-
demus: quod Galilei. Cujus ratio est, quia sicut in re perfecta ultimum com*
plementum iinperfectio ipaius didtur esse a parte finis — perfectum enim
est, cui nulla deest non solum a parte i)rinoipii, sed etiam a parte finis, ita
in re imperfecta imperfectio et defectus ipsius sumitur a parte tinis.*^
5) von ihm bentst Rom swsi Manuscripte in der BiUioibeoa Yätt»
oellana B. 89 und in der Ystiosaa No. 5881 „Ars oontrspuncti magistii
Philippi de Vitriaco."
ii) Sein Werk besitzt die Ambrosiana in Mailand in Handschrift.
4) Seine Schrift Philippi de Osierta de direvtis figuris im Oodn
JPerrarensis (XV. Jahrl».).
6) Auch Glareau macht im Dodecachordon daaaelbe Gitat
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Die Mensoralmosik ond der eigeatliche Contrapaakt. 37 D
eehieibt ihm httdut wiehtige Erfindungen su: „spi^ vint Philippe
de Yitiy, qiii trouTe Im meni^ des mot&B et des beladet, et de
lais et de simplee fondeaux, et en musique troma les quatre prola»
HoTis, et les notes rouges, et la nouvelete des propordons"^). Unter
„Prolationen" verstand man in dieser Zeit die Notengattungen 2),
und die vier Prolationen des Philipp von Vitry sind wohl die Tion«ra,
Brevis, Semibrevis und Minima, denn er wird auch sonst als Er-
finder der Minima bezeichnet, deren zwei auf eine Semibrevis gehen
nnd deren Form eine Semibrevii mit einem Btridie abwSrts ist
spSter I). Von den rothen Noten und den Proportionen wird
weiteriiin sn sprechen sein. Johann de Mmis kennt bereits die
Minima, rie ist ihm, eben weil sie die „kleinste** ist, die schlecht-
hin mitheilbare Note*). Zn seiner Zeit hatte sich neben der sonst
ausnahmslos giltig gewesenen Dreitheiligkeit anch bereits das zwei-
theilig gemessene Tempus imperfectum Anerkennung und Giltig-
keit errungen: er bemerkt, daas ehedem die Musiker in allen
Getiängen das dreitheili^e Mass aufgewendet haben, ,,weil sie
nichts Unvollkommenes in die Kunst einführen wollten.'* Auch
Marchettus bespricht bereits das Tempus imperfectum und die ab-
weichende Alt wie man es in Italien nnd Fmikrelch sn singen
pflege. „WiikHeh wird Ton jetst an dermensnrirte Qesang in den
1) Das Manuscript befindet sich im Besitze des Herrn Monmerauü und
ist flbersohfieben „Cy commenoent les reglet de la teconde reotoriqne. Anch
sonst wird Philqpp Ton Vitry p^opriesen. Ganse de la Yi^e SSgt fon ihm:
. . . un motet qu'il fist nouveaulx
Et puls fu evesque de Meaulx
Philippe de Vitry ent nom
Qiip micux scut motez quo nul hoin.
2) Partes proiationis quot sunt? ^uiuque. (^uae? Maxima, Lou^a,
Brens, Senalwevis, Minima (J. de Munt, Quaeet sup. pari mas.). Ita
enim sunt quinque partes prolationis, videlicet maxima, lonpa, etc. (H. de
Zeelandia). Der Ausdruck Prolation für Notengattung [kam später völlig
ausser Gebrauch, nachdem man sich gewöhnt hatte damit eines der Haupt-
masse des ganzen Systems zu bezt ichuen. Ursprünglich hatte er im All«
gemeinen ,,Vortrai;" bedeutet. ,Jn plana aotem masica prolatio est ipse
oantus in se'' (Adam vou i^'ulda Iii. 5).
8) Minima qnaeeit? Impartita. Quare? Quia non est ^bre minore minus.
Demnach entstand spilter eine Somiminima, Fusa und Somifusa. Auch Mar-
chettus kennt bereits die Minima, handelt aber meist in ganz confiiser Weise
nnd erkennt sie nur als eine Modification der Semibrevis an . . . Secundum
autem Oallos «i ipsa nna (semibrevis) caudetur statim transimns ad tertiam
divisionem temporis imperfecti, quae est semibrevis in sex aequalos quae vo-
cantur minimae. Also eine Art Prolation. Wird von zwei Semibreven eine
geK^wttnst, so gehe man damit nach italienisdher Weite zn der sweiten ESn-
theilung des Tempus imperfectum in vierSemibreves (d.h. Minimas: dieri-ste
Eintheilung ist nämlich die der Brcvis in zwei Semibreves) über, wo dann
die geschwänzte Semibrevis drei Theile gilt, die andere aber in sua natura
bleibt, diese nenne man Majores. Nach französischer Art enthalte die ge-
schwänzte dann fünf Theile, die andere bleibt in natura, d. h. bildet den
sechsten und letzten Theü. Dieses seien eben jene sogenannten Minimae.
380
Die Entwiokelnng des mehntimmigeii Otemngpk
Uebenchziften der Lehrbücher nach dieeen zwei Hmiptarlen nu-
drficklich untersehieden und die Lehrer betitehi ihre Tractate in*
weilen „de caniu perfedo et impei fedo."
Sobald das zweitheilige Mus, die Imperfcctioiii einmal eelbst-
stKndig als Eintlieilunjrsart panzer TonsStze Geltung errriTip'en liatto
und nicht l>los als zufallipos Kr«rol>niss der Imperhcirung einzelner
Noten auftrat, wurde es iiotlii'^ dem Bänger in Vorhinein dar-
über eine deutliche Vorschrift zu geben. Dieses ftihrte zu dem
Gebrauche der Zeichen (Sigm)y welche zu Anfang derNotirung gesetzt
wurden, Ton denen aber noch Johann von Huris nicht die leiaeate
Andeutung gibt, sondern die Perfection oder Imperfeetion aus der
blossen Reihenfolge der NotenquantitXten errathen sehen will Doch
taucht die erste flüchtige Andeutung ttber die iSic^ta schon beiMarchet*
tns auf. Um den Willen des Tonsetzers zweifellos zu erfahren, zumal
wenn Gesänge im Tempus perfectum und imperfectuin gleichzeitig
miteinander verbunden werden, soll man ein Zeichen beisetzen,
weil aus den blossen Noten dergleichen denn doch nicht zu ent-
nehmen sei. „Manche setzen", sagt er, „als Andeutung der Per-
fection und Imperfeetion die Zahlen I und n, Andere, um die Drei-
und Zweiiheiligkeit anandeuten, die Ziffern 8 und S, Andere
wieder andere Zeichen nach dem Belieben eines Jeden". Ander-
wärts sagt er: „die Franzosen setzen zu Anfang eines nach französi-
scher Weise einzutheilenden Tempus imperfectum den Buchstaben G
{galUrej französisch); dagegen die Italiener, um die italienische
Eintlieilung anzudeuten, den Buchstabon 7 \J(nIice, italienisch)".
Jenes venneinte G ist offenbar nichts als der wohlbekannte Halb-
kreis der Imperfeetion. Ausgebildete Zeichen fUr die verschie-
denen Abstnfiingen der Perfection und Imperfeetion kommen suertt
bei H. deZeelandiavor, dessen Tractat ttberhaupt gegen die Lehren
desMarchettus und des de Huris einen betrltehülchen Fortschritt in
der Ausbildung der Mensurallehre zeigt, welcher Fortschritt sonach
in den Niederlanden gemacht wurde und die BlUthezeit der ersten
niederländischen Tonsetzer, eines Diifay, Elay u. s. w., vorberei-
tete, zu deren voll ausgebildeter Mensiirirung von dem Standpunkte
des U. de, Zeelandia aus nnr noch eine ganz kleine Stufe ist. Der
genannte niederländische Lehrer ist der erste, bei dem wir die
Unterseheidniig der schon erwähnten Chrnndmasse dm Hodus,
Tempus und der Prolaüon antreffen, welche wieder in perfecte und
imperfecte getheilt werden. Um jenen sichern Massstab einer
Grundbewegung au erhalten, nahm man ein sogenanntes „volles
1) Dagegen berichtet Bamey, Hist. of mus. 2. Bd. S. 208 Uber einen Trac-
tat ,.f|uilibL't in nrte" fatigeblicli von TMiiris: Tliis is tlio most ancient manu»
Script iu whichl have fouud thc aigus of the modes (folgt der Ki'eis uudHalb-
loretu mit und ohne mittleren Punkt). Das ist ein ganz nnrereinbarer
Widt isju II Ii mit »Ich Lehren, die sonst unl' i ^rni is' Namen cursircn. In den
authentischen Werken des de Muris, in der pariser Bibliothek konunen
Digitizea L7 GoOglc
Die Mentundmosik und der eigentliobe Contrapaiikt. dSl
IUm der Noten" {itUeger valor naiarum) an, so tchnell als (wie
Onfor sagt) der A^em dnes ndug Athmenden gdit^), oder als
man bei mässiger Schnelle die Hand hoben und senken mag. Da
man nun bei der Senkung das Pult, das Buch oder den Tisch leicht
SU berühren, vielleicht auch, besonders beim Einstudieren, die Ab-
Bätzo mit kräftipjeror Bcrülirunf^ anklopfend zu markiron pflegte
so liiess ein solcher Abschnitt Tactus, die Berührung, woraus unser
Wort Takt entstanden ist. Sanjj also Einer im Tonipus, der Andere
zugleich in der Prolation, so uiussteu im Parte des letzteren alle
Noten in nnr lialbgrosser Gdtnng geschrieben sein. Von diesen
drei Qmndmassen gehörte also der Modus der Longa (undHaxima)
an, das Tempns der Brevis, die Prolation der Semibrevis*).
GKngen drei Takte in Semihreveii auf das Tempus, so hiess es
perfedum, wenn swei Takte, so hiess es imperfecium. Ebenso war
die Prolation perfecta oder major, wenn drei Takte in Minimen auf
die Seinihrcvis pinj^eu, dagegen imperfecta oiler minor, wenn deren
uur zwei der Seinibrcvis gleichkamen. Die Pcrfeetion oder Trnper-
fectiou des Modus beruhte ebenso auf der Drei« oder Zwcitlieiligkeit
in Bezug auf die nächstkleiuere Notengattung {partes propinquiores)^
und swar unterschied man wieder änen JffMiKS majore der sich
durch die Theilung der Maadma in drei oder awei Longas bestinmite,
und einen Modw minor, der die Longa in swei oder drei Breren
theilte. Diese Masse konnten dann combinirt werden, z. B. als
Moifas minor perfectns am tmjpor$ perfecto et proUUione imper^
f'eäa, d. L
:i b a b a b
^^^^
♦ ♦ ♦
TtttTt
a b
♦ I II I I
u. s. w.
Solche vielgliedrige Zusammensetzungen kennt nun schon de Zoe-
diete Zeichen nicht vor; ich habe, che ich di^se Zeilen schrieb, darüber
Bppziell die Versicherung eingeholt. Reissmann (S. 151) sdireibt Bumey's
^^otiz mit oincr zweifelnden Wendung „sollen vurkommeu'^ nach.
1) Semibrevis recta, plenam temporis mensoram ooniequens, in modnm
scilicet pvjlsus a(n|u«' respirantis (Gafor, Pract. mus. III. 4).
2) iSehr treiilierzig bezeichnet solches Hermann Finck in einer mitten
in seine lateinische Uelehrsamkeit eingeflickten deutschen Phrase „Perfecta
prolatio est, ubi senubre^is tres minunas continet, aut semibrevis integre
tactujuxta veterum musicorum consuetudinem mensuratur, sowirteine
Minima einen gemeinen Krauthackerischen Schlag gelten."
8) (Etermsnn Finck.) Modm consideratnr in notas maximis et longis
Tcmjxis in bn!viliuB
Prolatio in semibrevibos«
DigUizea by CoOglc
382
Die Kniwickelong des mehniunmigeo Oeaangei.
laodia, auBser dam er anicIrtteUieh nur einen dnsigen Modus an-
nimmt, der dem Moäuß mmor entspricht; aber anch der Modu$
major ist ihm thalBlchlicIi nicht fremd, denn «r llast die Mamma
perfecta drei Longas, die Maxima imperfecta zwm Longas gelten.
Aber aucli schon de Muris deutet dicso Abstufungen an, denn er
nennt 81 ,,die Zahl der Zahlen, die alle l'erfectionen und Tmpcrfec-
tionen einer jeden Stimme in sich begrreift" ^J, was nur beim Modus
maj(rr cum tempore perfecto et cum prolatione perfecta der Fall
8ein kann ^. Natürlich konnte ein so mannigfaches Spiel von Com-
btnalionen der Notengattnngen nicht mehr nach dem Uoasen Noten-
ansatse errathen irerden, man erfand also eigene Zeichen*). H. de
Zeelandia bestimmt für den Moäiu perfedMB dn Quadrat mit drei
eingeseichneten Punkten, fllr den Modus imptrfKtus desgleichen
mit zwei Punkten, einen Kreis fUr das Tempus perfedum, einen
Halbkrois ftir flas Tnnpvfi im] erfrcfitm, einen Kreis mit drei Punkten
fUr die üolatio major mit zwei Punkten fUr die Drolatio minor:
(Aus dem Tractate des H. de Zeelandia).
5=E
-<*»-
Jif.
All U-fe4-L-t-Ult
♦ * » ■ * ♦ * 1
Die Tempusseichen bleiben in der hier angenommenen Form auch
fortan ^tig; dagegen wurde «Iii- Zahl der Punkte bei der Frolation
auf einen einzigen reducirt O G und fiir den Modus kamen völlig
andere Zeichen in Aufnahme; merkwürdig ist aber, dass Franchinus
Gafor um 1490 doch noch bei dem swei- und dreipnnktirten Quadrat
1) Numeri numerorum quot sunt? 81, qui omnem pcrfcctionem et impetw
fectioiiem cujuelibet Tocis oontinnae detenninat (Quaett. sup. parte» mus.).
2) Nämlich 1 Maxima 3 Lonpf^n = 0 Breven = 27 Scmibreven
« 81 Miuimen: wobei die Minima die Cieituug des Integer valor, also
eines YoUen Taktes hat.
3) Diese Zeichen sind:
@ Modus (minor) per£ cum temp. perf. (Heyden, Finde, Adam t. Fulda)
(§) Modus (minor) imperC enm temp. perl (Hejden)
(C) Modus (minor) perf. cum temp. imperf. (Heyden und Adm von Fnida)
(O^ Modus (minor) imperf. cnm temp. imperf. (Heyden)
Modus (minor) perfiactus com. temp. et com prolatione (Adam v. Fulda
^ u. Finck).
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Die Mensoralmank and der eigentliche Gontraponkt 883
für den Modiu minor perfechta und mperfedua bleibt Manche
Tonsetzer snehten die verschiedenen Zeichen dnrch in einender ge-
schachtelte Kreise auszudrücken; aber selbst Adam de Fulda nennt
diese Schreibart alterthttmlich, ebenso beschreiben sie Sebald Heyden
undllermann Finck als .,ohpnial8 gebräuchlich geweseno Zoiclu n der
Alten.'' Der nussiere Kruis drückte den Modus, der innere diis
Tempus aus, ein ein{;ezeichneter Punkt deutete die Prolation an.
Andere zeichneten in eine Note selbst zwei oder drei Punkte ein'-^).
Oder sie wendeten sogenannte Signa interna an, d. i. vorgesetzte
Noten oder Pausen (pmuae indieiaiea), welche suweilen auch schon
für das Tonstflck selbst wirklich aussafUhren waren. Da nlfanlich
der Hodns auf die grossen Notenprattungen wirkt, das Tempus auf
die Breven, die Prolation auf die Semibreven, da femer die Regd
galt, die dreizeitige Pause dürfe nur im Modus, die zweizeitige
Pause (pau.sa hrevis), die Taktpause (pausa semibretns), nur in der
Prolation gesetzt werden '^j, so schrieben die Tonsetzer zu Anfang
ihrer Sätze entweder drei schwarze Noten der gedachten Art oder
drei Pausen als „innere Zeichen'''^). Diese signa intenia waren aber
schon snr Zeit der ersten niederlXncIischen Schule, um 1400, nur noch
für den Modus gebriuchlich, wie rieh Überhaupt ein geregelter Ge-
brauch der Zeichen eilt in dieser Schule feststellte, und Hermann
Finck*s Angabe, dass die Heister dieser Schule „viele Zeichen er-
1) Fraot. mm. IL 7. Fhmclmrat hat dieses altniederlftndiMlie Mo-
duBzeichon wohl von seinem Lohror Johannes Goodcndach übcrkoniiTien.
2) Hermann Finck sagt: Signarant eÜam poncta in ipso corpore
notarum, hoc modo
quibns mcnsuram indicarent (Selbstverständlich : erst bei weissen Noten).
3) Item notandnm qnod non dsbet poni pause lemibrevis neqne
major nisi in corapleta prolatione, nec de', jt poni pausa hn-vis no«iiie
mii^or uiü in completo tempore, pausa longa triam temporum nisi in
Gompleto modo (B. de Zeelaadia).
4) Hemiann Fitn k bozeiclinet den Unterschied sehr g-ut : (Signum) Ex-
ternum (est) quod in priucipio cautus cxpresse pouitur ex quo statini priiiio
intuitu moricae gradus cxtrinsecus coguoscimus, et tribus modis signatur,
puncto, circulo et numero . . . Sigmm intemmn est, quando cognoscimas
pradns musicales absqup cxtemo sipno tantum ex rantilmn, hnc; est ez ge-
minaüone pausarum aut colore notat um. Die Zeichen selbst sind:
Externa :
tOcr den Modus migor Q8
InUma:
1
1 J
Digitizoa Ly Li(.)0^le
3^4 Die Entwickelung de« mehnUminigeti Oesangee»
dacht*', hat wohl ihre Richtigkeit 1). Henriciu de Zeelandia wendet
hei seineii Compositioneii keio Signum an, Dufay, Binehois n. 8. w.
liessen ihre frohen noch lehwan notirten, weltliehen Chansons auch
ohne alle Zoicheii, ebenso die florcntiner Contrapnnktisten des vier-
sehnten Jahrhunderts. Wo kein Zeichen war, weder ein inneres
noch ein Xttsseres, sollte jetzt das Tempns imperfectom Terstanden
werden
Auch die soi^^cnannto Diminution, ein hernach zu vielen
Spitzfindijjkeiteu benutztes Mittel, kam zur selben Zeit bei den
niederländischen Monsuralisten in Aufnahme. H. de Zeelandia be-
EaBtema:
Skr den Modus minor
Interna: ,„i,.r
Externa:
fibr das Tempus Q G
Intsma:
Externa :
ix die Prolation Q 0
Interna:
*
(Aus Hermann Finck*« Prsot mna.)
Die Niederländer verbanden die Pauscuzeicheu auch wohl mit dem Signum
cxtcmnm. Zwei gleichgestellte Fausae longse itlr denModuB major perfeo-
tuH, zwei dergleichen fürdoi modus major imperfectus, und dann erst Kreis
odri- Halhknis den Teiupuszeichens, eine Pausa longa oder zwei ungleich
J^cbtelltc für deu Muduä minor perfectus, zwei gleichgestellte Pausae breves
mr dem M. minor imperfectns, und dann erst dis Zeichen, s. B.
Modus minor perfectus cum tempore perfecto et prolationc perfecta u. s. w.
StauiU u ;: MchL- Pausen hinter dem Notenschlüssel (Clavis signata) und
vor dem signum (wie in Torstehendum Beispiele), so waren sie auch nur
lilosse Zeiehen; im ctitgegengeaetsten Falle kamen sie aaoh als Pausen
in Anwendung (Hcrmauu Finck).
1) Dafifti, Bosttoe, Budioi, Caronte . . . multa nova Biffen addiderunt.
Die Nameu sind zum Theil entstellt, es soll heisien: Du&y, Bnsuois,
iiinchois, Carontis.
2) Cautileua autem careus externis signis aut interuis simplic iter cen«
seuda est esse temporis imperfecti, qood omnes Mnsici af&rmant ^erm.
Finok).
uiyiii^Cü Ly Google
Die Menroralmank und dar eigcntliolie Ckmtrapnnkt 385
q^eht bereitB die ente nnd noch einfitehe Anwendung der-
selben. Die Diminntion bestand darin, dass man im Gesänge allen
Noten nnr die HjQfte der Oeltong gab, die ihnen nach der geschrie-
benen Note angekommen wäre, also statt wo eine Maxiina stand,
eine Longa sang, statt der Longa die Brevis u. 8. w. Die Nieder*
IXnder zu Ende des 14. Jahrhunderts deuteten ein solches Tempus
diminutum dadurch an, dass sie durch das Tein|Mis'/,eicheu einen
senkrechten Strich zogen, was auch in den folgenden Zeiten beibe-
halten wurde:
Umgekehrt konnte man angmentiren, d. h. alle Noten do|)pelt gross
singen; dies wurde aber dnreh kein Zeiehen, sondern durch Bei-
schrillen wie nOreseit im duplo" u. dgl. m. angedeutet; diese Manier
kommt zuerst (und zwar gleich in praktischer Anwendung) im
Tenor der Messe se la face ay pale und iant je me deduis von Dufay
vor. Die Bezeichnung solcher Verkleinerungen und Verpriisseruniren
durch dem Signum beigesetzte Zahlen, die also fz:enaunten Propor-
tionen, ist in dieser Epoche noch nicht gebräuchlich, sondern ge-
hört einer späteren Zeit an. Die „Art de rectorique" schreibt die
„nonveleti des proporeions** dem Philipp von Yitiy an. Der Gk-
braneh der rothen nnd weissen, d. h. ungefüllten Note {rvhea und
vocva), welche die ebengenannte Schrift auch aU Erfindung des ge-
lehrten Bischofs bezeichnet, kommt bei de Muris u. s. w. noch nicht,
wohl aber in theoretischer Auseinandersetzung bei II. de Zeelandia
und in praktischer Anwendung schon in alftVanzitsichen, der Zeit
des Dechant oder ältesten Contrai>uiiktes aii^M'liiirigcn Nutirungcn
und in den frühesten, noch schwara notirten Conipositionen Dut'ay's
und Binchois' vor. Die Einmischung solcher durch ihre Farbe auf-
fisUender Noten hatte den Zweck diese Noten als imperfect, d. i.
■weiseitig dem Singer schnell bemerkbar an machen. „Hodna,
Tempus nnd Prolation**, sagt H. de Zeelandia, „werden andi durch
rothe oder leere Noten bezeichnet, die in einem Gesänge abwech-
selnd eingemischt werden; finden sich also in einem Gesänge
schwarze und rothe oder leere Longä, so jj^ehören die seliwar/en
dem perfecten, die rotlien oder leeren dem iinperfecten Modus an;
desgleichen wo sich schwarze, rotho oder leere Breves linden, ge-
hören die schwarzen dem perfecten, die rothen oder leeren dem
imperfecten Tempus an; finden rieh endlidi schwane SmnibreTes,
so gehSren sie der grosseren Prolation, rothe oder leere aber der
kleineren«!).
1) In demTractate heisst es: Item modus, tcmpus et prolatio distiurrnnn-
tur etiam per notas riihe<is vcl vacuas et per mgras, quae in aliquo cauta
Ambro«. 0<icbicbt< der Muik. II. 85
[jj Tempus perfectum diminutum
0 Tempus impwfiBctum diminutum.
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386 Die Entwickeltuig des mehnümmigen GesangM,
So wendet i. B. "DuSäj die veisse Note im Tenor seinee drei-
stimmigen LIedee «je prmidi coi^^' aa:
tltlllll 1S< lai 12 S I 12 s
Sfi fiingt auch Binchois sein, dreistiiuiniges Lied „ce mois de Mai
in der Oberütimme also au:
In England erhielt sieli der Oebianeli rother Noten snr Be-
seichnang der Diminntlon sehr lange. Bumey sah eine Sanunlang
Yon CompodtiDnen engliseher Tonsetser ans dem 15. nnd dem An-
fange den 16. Jnlirliunderts in einer der Thoreshj*8chen Sammlung
gehörigen Handschrift, wo dorlei Noten vorkamen i), und Wilhelm
Cornyshe, ein Cajiellmusiker im Dienste Heinrich VIT. (um 1500)
redet von farhipren Noten zur Bezeichnung des Werthes als von einer
gcwühnliclien ^ache*).
Eine durchgreifende Modification in der Notenschrift trat um
v: riantm*. ünde ri in aliquo cantu reperiantor longae nigrae, mbeae vel va-
cuae, nigrae sunt modi perfecii et mbeae vel vaenae mmu imperfeoti, nt hio
(folfft ( in Beispiel). Item si breves inveniatitur nigrae, rubeac vel vacuae,
nigrae sunt temporis perfecti, rubeae vel vacuae temporis imperfecti ui hiu
(Beispiel). Item ri nigrae semibreves inveniantur, sunt majoris prolationis;
si rubi rie vcl vacuae sunt minori!', ut hie (Beispiel). Ein Beispiel ein«'r
solchen schwarzen und rotheu Notirung findet man unter den Facsimiles zu
Coussemaker^s Histoire de Tbarmonie du moyen &ge. Sebastian Yirdung
erwähnt: ,,man saaganfang in der perfekten Zeit colorirt mit Ruliro^^
1) Hist. of mut. Bd. 2. S. 539, 540 „with a mixture of red notes
for diminution".
S) Und zwar in Versen. In einer Ali Lehrgedicht „a pariUe bct-
wesn inibnnaeion and Musikc*' sagt er:
In Muaike I bave learued Uli colours as this
Blake, ftd blake, verte and lykewise redde
By these colours many suhtill alteracions ther is u. 8. w.
Das Gedieht findet sich vollständig bei Hawkins 2. Bd. S. Ö08. Die
Handschrift war ebenÜEÜls im Besitze des Mr. Kalpb Tboresby.
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Die Meiuimlmniik uiul der eigentliche Contnpunkt. 887
etwa 1400 ein: dieNoten wniden bis nur Hinime (der halben Takt-
Bole) henb dnrdigeheiids weias geechrieben, die get>cbwlfi»te
Koto wurde nur da angebracht, wo snr Zeit der Hennchaft der
schwanen Norirung die weisse orlor rothc Note stand. Die Xlteren
Chansons der Meister Dufajr und Binchois sind noch mit schwarzen
Noten, die Messen Dufay's und der andern Tonsetzer dieser Schule
schon mit der weissen Notirung geschrieben. Der Anlass zu
dieser veränderten Uebung- mag weniger die entschieden leichtere
und raschere Schreibart in weissen Nuten, als die häutigere Auf-
nahme der kleinsten Notengattungen, die man von der Semiminima
(nnserer Viertelnote) anfangend schwars sehrieb, gegeben haben, l)
Die weisse Notation kam in der zweiten Hälfte des 14. Jahr^
hnnderts in Frankreich auf, wurde aber erst von den niederländi-
schen Componisten in allgemeine Aufnahme gebracht. Umgekehrt
blieben in Frankreich, in Deutschland und in den Niederlanden viele
Musiker noch bis tief in'» 15. .T.ilirlmndert hinein bei der gewohnten
schwarzen Notinmg, welche erst allmälig der weissen wich und
endlich in der zweiten Hälfte des genannten Jalirhuuderts völlig der
Vergessenheit anheimfiel^, da sie fiir die mittlerweile äusserst tciu
ausgebildete Kunst derHensurimng nicht mehr ansreiehte.
1) Virdung (Musica gotutscht) sucht die Varaulassuiig in Papiercr-
spamiss: „weil der Gesang nun SO gemein iit worden, sollt man es mit
schwarzen Noten alles schreiben, «o kann man nit luiib und umb berganun
haben, so schleicht auch daz bapevr so gerne durch, unt wäre not, das man
allweg nur anff sin seyte notiret, das nem dann sn <rQ bapejrn".
2) Die näheren docunicntgemftsscn Nachweisungen aus französischen
und belgischen Archiven wird Fetis in seiner Hint. uiiiv de nuis. liefern. Wir
nehmen davon einstweilen Act und sehen dem Versprochenen mit Antheil
entgegen. Einstweilen sei bemerkt, dass die schwarze Note auch in Hand-
Schriften des 1'). Jahrhundertf«, welclie die Bibliotheken zu Wien und zu Vv.vr
bewahren, häuiigvorkommt, wie im Lambacher Liedercodex, in dem Codex
No. 3856, in der Hendschrift der Gedichte dss Oswsld v. Wolkonstctn u. s. w.
Die contrapunktirten Lieder in der Handschrift des H. de Zeelandia sind
durehaus schwarz notirt, und ein Codex der Präger Universitfttsbilih'ttthek
(XI. B. 2) enthalt einen in spitzer schwarzer Notirung, welche laut Beischrift
„Inspice notas gallicanas'* als franzSsisch beseichnet Mrird, geschriebenen
„Rundellus'*. Zur Zeit der w« isscn Note kommen durchaus schwarz nrttirte
Stücke nur als besondere und sonderbare Ausnahmen vor. In der bekannten
grossen, ron 0. Förster su Nllmberg (1540 8. Aufl. 1660 u. s. w.) herausgege-
benenLiedersammlung fuidet sich im zweiten Theilc (erschien 1560) alsN.XI
ein Lied von Hans Teuplein „und ist er doch kein reitcr" und als N. XXV ein
Lied von L. Senil „es hat ein bidernian ein wcyb" durchgängig^ in sehwarzen
Noten. Tinctoris erwähnt einer Missa nigrarum von Jean Cousin, einem Zeit-
genossen Okeghem's. Jean Cathala, Musikmeister bei der Kathedrale zu
Auxerre componirte eine fünfstimmige, 1G7Ö bei Christoph Ballard zu Paris
gedruckte Messe „ad imitationeni moduli: nigra som sed formosa**, die emit
spielender Beziehung aufihrMotto ganz und gar in schwarzen Noten schrieb.
Jacob Hobrecht schliesst seine Passionsmnsik mit einem Satze (qui passas
etc.) in lauter schwarzen Noten — eine naive Symbolik, die an die schwarzen
IVauerengel aof M. Schongauo^s Krcuxignngsbild (imWieuer Belvedere) er.
iniMrt. In ilmlichem Sinne setii Hieronymus Vinders su den l'salmworten
25*
uiyiii^Cü üy Google
388
Die Entwiükeluug des mehrstimmigen Gesanges.
Jm 14. Jahrhundert consolidiite sich neben der Lehre von der
Mensur oder vielmehr mit derselben auch die eigentliche Kunst dos
Contrapunktes, die Kunst zu einer Melodie eine zweite zu setzen,
docli in bpsserem und höherem Sinne al8 jenes barbarische Zu-
sanimenHicken von Melodien, die einander von ilausu aus niclits
angingen. Die Bezeichnung Discautus kam allmälig ausser Ge-
brauch. Sie deutete mehr auf das Improvisiren, auf dtn aat dem
Stegreif ausgeftüuien Gegengesang, wXbrend bei dem Contraponkt
(fmäm eonlra pmeitim, d. L woUi connira notom) mehr anf die
sehriftlieh angesetzte Composition hingewiesen wird. So wie es
indessen (wie wir sahen) auch schriftlich aufgezeichnete Discante
gab, 80 pab es umgekehrt auch impro\'isirte Contrapunkte: der so-
genannte Canim supra librum oder Coutrapundo a mente, aus dem
französischen Dechant entstanden, von den Niederländern fleissig ge-
übt, durch sie in die päpstliche Capelle verpflanzt und von dort aus die
Kirchenmusik beherrschend, spielte in den Niederlanden, in Italien
nnd Franlueich eine grosse Bolle, nieht so in Deutsehlaad, wo er
nicht sondeilieh geachtet wurde nnd die wenigsten Singer sieh
darauf yerstanden. Adrian Petit-OocUcus beklagt sich darüber leb«
haftl). Bei dem improvisirten Contraponkt mussto der gebildete
Sänger seine Stärke darein setsen, „über dem Buche," in welchem
der von einem anderen Sänjror atisg;enihrt(3 Cantus firmus in Noten
aufgezeichnet war, rein und harmonisch einen Contrapunkt aus-
fuhren zu können. Willaert erregte damit bei seinem Erscheinen
in Venedig Aufsehen, bei S. Marco wurde sogar der Säuger mit dem
ansdrttcklichen Titel „ConirapwUo" in den Dienst aufgenommen >).
Gewandtheit im Singen des impro^rirten Gontnq[innto was noch
im 16. Jahrhundert eines der allerersten Erfordernisse dnes ttteh«
tigen Musikers, ohne welches er kaum lllr genttgend gebildet
galt Niederländer, Picarden und Franzosmi galten darin für
Meister und waien fllr die Gapellen der Grossen sehr gesoeht*).
„nam si ambulavero in medio umbrae mortis (Psalm, select. 1553 bei Monta-
nns und Ncuber I. Theil No. IG) plötzlich in allen Stimmen schwarze Nuten.
1) Modus canendi contrapunctom in Germania rarus est, haud dubio nou
alism ob causam, quam com puloherrima hacc an diuturno usu sc labore
maximo perdiseatur, nec praemia eam callentibus constituta sini: perpauci
ad haue disceudam animum appliucnt . . . Ac si quis contrapuucti mentionem
fiMOst, ae in perfoeto mutioo requirat, huno odto plus quam osnino laoerant
IL ■. w. (Adr. Petit-Coc^licus, Comp. mus.. de rej^. cnntrap.\
2) Z. B. wurde noch am 25. Januar lliHl eiu gewisHcr F. Lodovico Fuga
mit 100 Ducaten Uohalt als „Gontrappunto" angestellt und zugleich mit ihm
P, Lodovico Zanchi als canto furino (s. Cafli, Storia doUa mus. sacra nella gik
capiii'IIa ducjilr ili S. Marco in Vcnezia 2. Bd. S. 12\ In den Constitutionen
PapstPaul III. tür die päpstliche Capelle vom Jahre läl5 heisstes unter andern
an die Sänger gesteOten Anfordenmg^n: cantei sufficientor oontrapanctum.
3) Primum itaquc. quod in bono compoHitoi e desidoratur, est, ut contra-
ponctum ex tempore cancrc sciat. Quo sine uuUus erit. (A. Pctit-Cocliuus.)
^) ... et ex tempore super Choralem aliquem cautum contrapunctum
L^iyiu^uo Ly Google
Die Hensnnliiuink und d«r eigantliehe ContrAponkt 889
Wenn mehrere Sänger Uber dem Buche sangen, führten sie zu-
sammen mit dem Tenor drei- und vieratiiiiiidge Sltse ans, ihre
Stimmen erklangen in Tollen Aceorden, da jeder der Contrapunk*
tirenden bedacht wer cur Note des Tenors ein anderes consoniren-
des Intervall zu singen. Das war freilich nur dadurch möglich, dass
sich eine gewisse Uebung, ein gewisses bleibendes Uebereinkommen
Bwischen den Sängern feststellte, dass sich für TonschlUsse, Absätze,
Einschnitte und Ufter im Tenor wiederkehrende Wendungen ge-
wisse Formeln und Manieren der contrapnnktirenden Stimmen fest-
setzten. Die zehn Cadenzregeln, welche Omitoparchus lehrt, sind
ganz in diesem Sinne zu verstehen. Die Grundregeln der älteren
Lehrer des Contrapnnktes, wie Philipp ron Vitry, Tincto-
ris u. B. w., sind augenscheinlieh mehr fttr den improrisirten, als fUr
den nach Componistenweise schriftlich aufgezeichneten Contrapnnkt
berechnet; Pietro Aron handelt ganz ausdrücklich davon, und
selbst noch Zarlino (um 1570), Antonio Bruneiii (t610) und Lodo-
vico Zacconi (1622) maclien sich damit zu schaffen^). Das liupro-
visiren, die Fähigkeit im Augenblicke nach Verschiedeulieit der
einzelnen Aufgaben eine reine, wohlklingende, regelrichtige Musik
ausführen zu können, ohne dass mau sie ausdrücklich in Noten auf-
gesetst vor Augen hatte, spielt überhaupt noch lange eine sehr grosse
KoUe, selbst als der improvisirte Gontrap unkt ausser Uebung kam, vom
17. Jahrhunderte an, besonders in der Ausflihmng beaifferter oder
auch unbezifferter Bässe als Begleitung, feiner in Prfiludien, Toe-
caten, Phantasien und Zwischenspielen n. s. w. Daran wollte man
den tüchtigen, durchgebildeten Künstler erkennen: je geistreicher
er seine Aufgabe löste, auf desto mehr Anerkenimng diiifte er
rechnen, ja es gewährte das grösste Interesse dasselbe Stück von
verschiedenen Künstlern unter solchen Bedingungen ausführen zu
hören und deren Talent, Bildung und Geistesgegenwart ver-
gleichend gegeneinander abwSgen an können. Der Instrumentalbt,
der SXnger sollte durch stets neue, stets intereBsante Wendungen
und Verzierungen, die er anbrachte, tiberraschen, dieselbe Melodie
mehrmal geistvoll verändert vorzutragen, der begleitende Cembalist
die Mittelstimmen in anzicliender Weise einzuschalten wissen u. s.w.
Utisere Musikalien, wo alles bis auf die kleinste Verzierung ausge-
schrieben ist und die von Vortragszeichen wimmeln, hätten damals
SQum prononciant ... Belgici, Picardi et Galli, quibus fere naturale est, ot
reliqiiis ])nlmam praeripinnt ; ideo soli femntur in Pontüicis, CaesariB, Re-
gia (ialiiae et quorundam principum sacellis (a. a. O.).
l)Äron im Toaoanello, Buch 2, cap. 21. ZarUno Inst. hann. 8. parte.
Ant. Bruneiii Regole dichiarazioni d'alcuni contrapunti etc. Zacconi Prutt
di mus. 2. Buch 34. Cap. „del obligo ehe hanno i macstri in inst'gnare di far
contrappunto alla mente a i loro Scolari. Nach P. Martini haben ( Jiov. Maria
undBemardino Nanini handschrifllich trefifliche Anleitungen zum improvi-
•irten Coatraponkt hinterlaswn (Sagg. di Coitepp. 1 Th. 8. 57 and &8).
uiLjiii^cü by Google
390 Die Entwickelmig das atelmtimniigen GeMuigflt.
den Eindruck gemaeht, ab lege man Jemaudem, der tanzen soll, an
HlCnden und FQaaen Fesseln an. In Italien ist die Erinnening
daran bis heute nicht erloschen i). Der improvisirte Contrapnnkt
hatte strengere Regeln als die schriftlich ausgearbeitete Composition,
der riohrancli der Dissonan/en war weit beschrSnkter u. 9. w., weil
die Gefahr bei freierer Handhabung der Mittel in der Eile in etwas
Uebclklini:;^ondos unversehens hinein zu gerathen grösser war*).
Das Wort Contra j>unctus wnrd schon von Philipp von Vitrv
und l^rosdocinins von Bei dorn an de an«i:e wendet, von de
Muris und weiterhin im 15. Jahrhunderte von Tinctoris, Frau-
chinufl Gafor n. s. w. In dem „Diffinitorium terminonm muri-
ewwn** von Tinctoris wird allerdings noeh der „Contrapanctna^ md
der „Discanttts" unterschieden, aber in der That nur dem Namen
nach, dfim die hoigegebenen Erklärungen zeigen, dass binde eine
und dieselbe Sache bedeuten 3). Muris braucht beide Benennungen
synonym*). Die Regeln ftir den Oontra])inikt finden sich daher
znm Tlieile schon dort, wo noch ausdrücklich vom Discantus die
Rede ist: mit einer vollkommenen Consonanz anzufangen und zu
schliesseu^), die Gegenstimme steigen zu lassen, wenn der Tenor
föllt, und umgekehrt, Dissonansen nur im stnfenweisen Durch-
gange aninwenden. Aber es gestaltet sieh alles INeses in der An-
wendung reicher, freier, minder fteif und nnhehilflieh, als im Dis-
cantus der Fall gewesen. Man suchte die Gesetze der Fortechrä-
tung und Verbindung der Intervalle besser sn erfassen und tiefer wa
1) Die zuweileTi skizzenhafte, nahezu lüderliche Art italienischer Opern-
purtituren findet darin ihre Erklärung und Entschuldiguniir' Italien ist ja
aiicli die Heimat der conimcdia del arto, wo den Srhanspii-Icni nur der In-
halt der Sceue im Aligemeinen voiveschrieben wurde uud die Ausführung
im Dialog ihnen ganz anheimgesteUt blieb, wobei sie lo viel Wits, Munter-
keit und Geist entwiekeln durften als nur immer möglich. Interegsani ist es
in O. .Tahn's „Mozart" (^4. Bd.) die Programme der Akademien anruselien, in
welclu-n der juiif^e ^(eiiiale Cavaliere fih\niionico Alleszum Enthusiasmus hiu-
ris8. Die Improvisationen spielen fast die Hauptrolle, sogar bissum blossen
Vistaspiolrn herab. Nuch Mi Tidclssnlni (man sehe seinr liebenswflrdigea
Keisebriefe) musste in Italien die i'^euerprobe des Im^rovisirens bestehen.
it) Adrian Petit-Codicns mgt: Regula Compositionis a regula oontra-
{lUncta panun differt. Compositionis regula liberior est, et in hac plura lieent,
quam in contrapuneto. Wie man sieht, heisst hier Compositio so viel als Res
facta, sclu'iftliche Composition, Contrapunctus soviel als Cantiis supra librum.
3) Contrapunctus est eantus per positionem noias vocis contra aliam
punctuatini effeetus. Discantus est cantus ex divcrsis vocibus et notis
curti vaiuris editus. Prosdocimus von Beldomando bemerkt: Contrt^^
siHo vere est interpretatio istius tennini Oontre^nehu.
4) In seinon Quaest. sup. part. mus. betitelt er die eine Abtbeilung
„de diseuntu et oonsonantiis", dagegen ist das in der Vaticana befindliche
Manuschpt No. 5321 übei'schrieben: „Ars contrapun* li Joh. de Muris."
5) . . . quod dissonantia sit quoddsm imperfectum, requirens i)erfectum,
quo jicr^ci ])ossit, eorisonantia autem est perfectio ipsttts« (MarchettU8|
Luoidahum. Tractat V. cap. (».)
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Die Mensuralmusik und der eigentliche Contxapuukt. 391
begrQnden unA insbesonden das Wesen der Dissonansen, deren
Werdi nnd Bedeutung für den Tonsntz man mehr und mehr ahntOi
zu erkennen. Ueberrascbend tiefsinnig nnd geistreich ist ein Ge-
danke des vielgesclimKhten Marchettus: die Dissonanz, sagt er,
sei das Unvollkommene, das sich sehnt vollkommen zu werden und
Bich in dem Vollkommenen zu vollenden; diese Vollendung aber
liege in der Consonauz i). Mit anderen Worten: die Dissonanz
strebt nach der Consouanz, will in ihr ruhen, sich in sie auflösen.
Daher darf nie Dissonana anf Dissonans folgen ; die Dissonans nrass
steigen oder fallen, nm in die Consonans flbersngdien. Der
Hann der dieses zuerst bestimmt aussprach, war der Idiot nicht, an
dem ihn seine Gegner machen wollten.
Es wird hier jener Erscheinung zu gedenken sein, die in den
Schriften des Marchettus liberrnscbend auftaucht-), aber ebenso wieder
verschwindet ohne dass es J(Miiand der Mühe werth hfilt den Ge-
danken aufzugreifen, nämlich Anwendung der Chromatik in theil-
weise richtigen, theilweisc freilich auch noch in ungeschickten
Wendnngen. In dem Capitel seines Locidariums, „von der Diesb"
lehrt näidich Marehettusi wie man^ nm ix^gend eine Consonani Uber
(supett im Texte steht» nach den beigegebenen Beispielen offsnbar
irrig: subter, unter) dner Ten, Sexte oder Dezime, indem man nach
irgend einer Consonanz hinstrebt, zu coloriren, den Ton in zwei
Theile theilen müsse. Der erste grössere Thcil des also behandelten
Tones heisse, wenn es aufwärts geht, Chroma, der restirende Theil
lieiHse Diesis, die Diesis sei aber der fünfte Theil eines Tones.
Zu dieser Lehre, in welcher die antiken Grundsätze von der Theilung
des Tones seltsam missverstanden und entstellt sind, gibt Marchettus
folgende Beispiele :
c ■
— ■ — 1
1
i - —
— l—
— -4- J
^_
■ » ■
— ^ 1 1 1 1.1*1 1 1 Ii
Die Colorirung besteht, wie man sieht, aus der Anwendung des
1) . . . utrsqne duanim voonm in dissonantia est et propter hoo utra-
i|ur appi'tit pf-rfici, nec potest si non movrtur de loco, sive de so7w in
quo est: oportet igitur quod moveautur ambae sarsum et deorsum ad
aliqnam eonsonaotiam intendentes. Dsftst mttem ügwnanHa dUtart ante
eoiuenanHam per tninorem dttCaniMMM et per hmIimi vMmt^ue, rationibus
Buperius allegatis, ut hio:
8) Bei Gerbert Script. Bd. III. S. IS und 74. Die Noten sam Theil
fehleriiaft, bei Forkel 9. Bd. 8. 468 nnd 464 Terbessot
899
Die Entwickelong de« mebntimmigen Gesäuges.
swisehenfiegenden ehromatischen Halbtones. Harchettos Teifolgi
den eingeschlagenen Pfad weiter und belelurt uns im nlchrten
Cnpitel Uber den Gebrauch des diatonischen und enliannoniRchen
Semitoniums zugleich, damit eines durch dan andere besser erkannt
werde, was er mit dem Beispiele illustrirt: abhc\chha und
dabei bemerkt, es wt-rde hiervon nicht im planen, sondern nur im
mensurirten Gesango Gebrauch gemacht. Endlich kommt er im
nächsten Capitel auf das „chromatische Öemitonium" und erläutert
es mit den Beispielen:
I ■ 5» F
■ &
~ i '
_ -| - - T i J
P — iw .
- ■ —
1" ^ — 1 1 —
Ii T I J
-F— f—
-r T r II
Dieie fruchtbaren Ideen blieben unbeachtet Marchettus selbst
kann nur durch die Mnska fida nnd durch die in der Scala foctiach
Torkommende F<ntichreitnng a h h e auf den Einfall gekommen
sein den g:esetzm888igen Verbindungen ähnlicher Fortschreitungen
nacliziiforsehen. Es war ein für jene Zeiten kühner Gedanke, Nie-
mand hatte den Miitli zu folgen 2). So leuchten bei Marchettus
in oft trostlos grauer Oede iibenaschende Lichtblitze auf. Abge-
sehen von ihnen ist die Lehre des Musiklebrers Ton Padua im Ganzen
noch sehr befangen.
1) Diese Fortschreitung gehört nur uneigcntUch hierher, denn sie ist
nichts als eine Gadensfonnel, wie sie dnidi «Ue Ekvatio vooii im Fignral-
gesange angewendet wurde.
2) Ft'tis sagt: „les successions harmoniques, (ju'offrent ces exemples,
fjont des hardiesses prodigieuses pour le temps oii dies ont 6i6 imagiu^es.
Elles semblent devoir creer immediatement une touahte uouvelle; mais
trop prtaiaturees, elles ne furent pas comprises par les musiciens, et rest^
reut satis siiriiificution jusqu'k la tin du seizii-mo Hi^ele." Die Anwendung
erliühter Töne in den Cadeuzen ist natürüch etwas Anderes, als die von
M. gelehrten FortschreHongen in halben TOnen. IVaet I. cap. 6. 7. 8.
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Die Mennmlmiiiflc und der eigeatlidie Oontnpimkt
893
Entwickelter als bei Marcliettus, filr den die (Quarte nocli immer
unbedingt consonirt, der die Sexte und Terz tür dissonirend erklärt,
die Sexte in die Octave aufgelöst wissen will, weil sie Tollkoin*
mener eei als die Quinte, die Sexte swiaeheii diesen ilir gleieih nahe
benachbarten Conaonanien die Tollkommenere wKhlen mfiese ^) nnd
deren Auflösung In die Quinte nur als Licens (eeilor fieiitius) gelten
mflsse, obscbon es son^^t die Natur der Dissonanzen sei sich ab-
wärts (per descensum) aufzulösen ^, ist die Auseinandersetzung Uber
die Fortsclireitung der lutervallvcrbindun^en beiJoh.de Muris,
wie er sie in seiner Ars contrapuncti lehrt. Der Unison geht zweck-
mässig durch Auseinandertreteu der Stimmen in die kleine Terz
c d
Uber - , , nnd umgekehrt die kleine Ters durch Znaammentreten in
C ft
den Einklang; sonst nimmt ilic, kleine Terz als unvollkommene Con-
sonanz eine andere unvuUkumniene, oder auch eine voUkonmieue
^ ^ widirend auf die grosse Ten swar nie eine sweite
a—g a—g
grosse Ten (a. B. ^ ^ ^) folgen darf^ wohl aber eine kleine, oder
eine Quinte, so wie umgekehrt die Quinte sehr gerne in die grosse
d — s
Ten übergeht -» - « Tenengänge und Gänge in (grossen)
g — c e — g
Sexten sind gestattet^). IHe grosse Sexte geht am besten (wie auch
Marchettus gelehrt) in die Oetave^); sonst kann die Sexte, wenn
1) A. a 0
2) Ornitoparchus (Micro!. IV) sncrt: ,,in omni cantilona conso«
nantia« quaerantur vtoximiores . uam quau dit^tunt nintiuui dissonantiam
sapant — tmdont PjrtbagoricL**
9) Wegen des Diabolos in mntiea f^h. Bs musi heissen
4) In dem Capitel de discanta (bei Gerbert m. Bd. & 906) sagt de
A[uris: Item sciendum est , quod nos pouumos ascendere per unsm tei^
tiam, per duas, vel per tres, sicut placpt. cnm tenoro.
5) In dem ebenerwälmten Capitel „de discautu'' sagt de Muris gar:
Item sciendum est, quod sexta nuUo modo potest poni in discantu sim*
plici, nisi quod octava sc(nisitur immciliatp. Pietro Amn (Tiistit härm.
III. 13, quomodo secundum praecepta veterum ordinandac sunt cousonan-
tiae) Imurt auch noch, daas man, nm eine ▼ollkommene Consonanz ein-
treten zu lassen, sie am besten durch die nächstverwandte Consonanz
vorbereiten kann, die Octave durch diu grosse Sexte: „si octavam sexta
item major, quia illi vicinior est, praeponenda erit. ... Et ita quidem tieri
debere Tetenmi praecepta nos edooent. Quod nos qvoquc monere ▼olui-
nuis, non tanquam sit omniiio n<'fes8ariimi, sed quia u\h\\ tjuod ifrnorare sit
turpe praetermitteudum judicamus. Hoc auteni ita dixisse volui, quia lex et
eonsnetudo seeali hiyas ita noi consonantias componere non egit." Zu Aron's
Zeiten war also das Oebot niofat mehr in Kraft. Franehinns Gafor sagt
894 Bie Entwickelnng det mefantimmigen GecangM.
Oure tiefere Not« nm eine Ten steigt, aaeli in die Quinte flbergelieii
^ «nbediogt in eine kleine oder grosse Tera ^ ^ ^.
• 5^ ^
Die OetaTe endHeh sehieitet in die grosse Sext Was Uber die
Oetaye hinaas liegt, nnd nnr 'Wiederholungen der entspfechenden
tieferen Intervalle. Es gab noch bis tief in das 15. Jahrhundert
hinein (wie wir von Adrian Petit-Coclicus erfahren) Musiker, die
sieh an die Fortschrcitnnprsre^ehi des de Muris mit Strenj^e, ja mit
Aenj^stliclikeit liielten, z. B. nach einer Sext kein anderes Intervall
zu briii{;en gewagt hätten als die Octave. Die goiiialeti Küiistlor
jeuer Tage, au der Spitze Josq^uin de Pres, durchbrachen aber die
starre Satmng nnd bahnten den Weg zu einer weniger eingeengten,
frieren Kunstfibnng — In die Zeit des de Muris nnd Philippus von
Vitiy fifllt endlich die Anerkennung eines Knnsigesetses, welches
bis heute das erste und wichtigste Fundament rmnen Tonsatzes
bildet: dieses wichtige neue Gesetz, das erst jetzt klar und bestimmt
ausgesprochen wird, ist das Verbot der Fortschreitung zweier
vollkommener Consonanzen in gerndi r Bewegung. Ins-
gemeinwird es auf Joliann de Muris zurUckgelÜhrt, gleichsam als
habe dieser in einer glücklichen Stunde das Octaven- und (Quinten-
Verbot erfunden, wie Berthold Schwarz das Schiesspulver. Aber
auch sehon Philipp von "Vltiy kennt diese Grundregel: „zwei voll-
kommene Consonanzen," sagt er, „dürfen me aufeinander folgen,
wohl aber verschiedene** WMhrend Philippus Regel aussieht als
dürfe man vollkommene Consonanzen auch in der Gegenbewegan^;
nicht anbringen, fasst de Muris die Sache scharf und prKcis also:
,,wir müssen auch zwei vollkommene Consonanzen in fortschreitender
Verbindung auf- oder absteigend vermeiden"^. Die Regel hat sich,
wie wir sahen, allmalig in der Praxis des Discantus ausgebildet.
Philipp von Vitiy und Joh. de J^Iuris sprechen nur aus was ihre
anerkannte. Erfinder des Verbotes ist keiner von beiden.
Den Grund, warum man die parallele Folge aweier vollkommener
Consonansen vermeiden solle, deutet weder Philipp von V itrj noch
(VIT. rog. Contrap.): Quod quidem proprium est sextan majori» ad octavnm
Bcilicet trausmeare. Die seltsame Ciulenz der pftpstlicheu Capellsäuger
ist augengcheiiilich aus gleicher Quelle geflossen.
1) Sed haeo Dominus Josquinas non obaorvavit, sagt CocHcus.
^ ... et neqoaquam dnae istarum apederum perfectarum deh(>nt
sequi nna post aliam . . . spd bene duae diversae (Philippus de Vitriaco).
3) „Debemus etiam biuas consonantias perfeotas seriatim coiyunctaa
asoendendo toI desoendeodo evitare." So hat das Oenter Manuscript des
Joh. (lo Muris. In jenem, das Gerbort (Script. 3. Bd. S 306) abdrudBen
liess, steht der abschwächende Zusats ,j^out fi§mimus evitare.**
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Die Meninriliiuiiik und der eigentUehe Oontnpankt.
395
Johann de Muris näher an. Das Verbot kam auf, alti sich das
richtic^ G^bllr w weit «usgebildet liatto, daw nm die Mhleehte
WiriLong soleher Fortschreitungen empfiiad; einen andern Grand
dalür m geben als die ibatslehUeli nnangenehme Wirkung wnstte
man nicht, erst Zarlino ging um 1570 mit wissenschaAlieher
GrttndUehkeit auf die Sache ein. Pietro Aron erinnert in seiner
Harmonica InstituHo (1516) in einem beiläufig «joprobenen Gleich-
nisse an den Ueberdruss, welchen unansgesetxter Geiiuss süsser
Weine und feinster S})eisen eiregen niiisste; in flcr Abwechshiii;^
liege aller Keiz^). Hieronymus Card an ub, der berühmte Philo-
soph und Arzt, der auch einen gehaltreichen Tractat Uber Musik
geschrieben hat, stellt den Gmndsats anf, dag Wohlgefollen an
T5nen werde dadnreh erregt, daas das VoUkommnere anf das
llindervoUkonunene folgt: die Consonanz anf die Dissonanz, die
vollkommene Consonanz auf die unvollkommene; ferner dass die
Mannigfaltigkeit der Abwechslung erfreue. Beides fehlt, wo voll-
kommene Consonanz auf vollkommene Consonanz folgt; bei Octav-
fortschreitungen erscheint sogar eine Stimme völlig mUssig, weil
( )ctavschritte nahezu als Homophonie (gleich dem Einklänge) gelten
dürfen^.
IHe Kegeln, welche Philipp von Vitiy in seiner „Kunst des
Contrapunkts'* neben dem Verbote der parallelen Fortsehreitung
vollkonunener Gonsonanzen gibt, sind im Wesentlichen die bereits
wohlbekannten: dass jeder Contrapnnkt mit einer vollkommenen
Consonanz beginnen und schliessen müsse, weil diese dem Gehöre
eine vollständige Befiriedigung gewährt^), dass Dissonansen im
1) Ratio autem, quare non deceat tales consoiinntias eo modo, quo
diximu9, cnntinuare, ac ita committere, non alia qiiidem est, quam quia
intermixta varietaa gratiorem melodiam et suaviorem conceutum gignit.
In iis nempe, quibns animos pascitur, simile quitUlam accidit, quod illa
videmuH ('{ticfre, quae cori)us ahmt. Nam si duioi viiio friM|uenter utaris,
ac eodem modo epulis vescare delicatioribus, brevi fastidium illa res et
nanieam inirmienihit (Aron, De harm. inst. III. 19).
2) 13. Dictum est de comparationo, quae est inter sonos eodem tempore
produ('tos vocaturque haec proportio. Alia est, quae suecessione habetur,
quae non minus est priore digna cousideratione. Nam cum jucunditascoucen«
tos in hoc ooniistit ut nu liora deterioribus succedant, plurima commoda ex
hac regula nascuntur, 11 I'rimo quotl varicfa^^ ipsa ad (leltfctandum praeci«
pua siut. Quae enim mcliora sunt, si succcdaut dttterioribus^ duplici ex oanta
delectant, tnm qnia meliors, tum qnia ob varietatem jtaeimdiora. ... 15. Non
igitur dnae peHectae consouantiae ut duae diapason aut duae diapeuto sibi
Buecedere possunt, nam ueque altera altera melior, quod 13. rcgula postulat
neu varietas uUa quod praecedens edooet. Sed et videbitur in diapaao super-
floamiavox, quoniam est ac siper unisonum progrederentur. Est enim diapa-
son symphonia adeo perfecta utpropinqua sit valde homophono (Cdrdntins,
De Mus., in dessen Werken, Leydeuer Ausgabe von 16(>3, Bd. X 8. lOG).
8) ... et dicontur ^erfectae, quia perractom et integrum sonom im-
portant aoribns sndientinm ... et com igu» oaaois dtsosatas debet inci-
pere et fimrOi
396
Die Entwiokelang dei mehrntiminigw GeMiigef.
Contraponkt der Note gegen die Note nnsnllsiig rind, wohl aber
wo mehrere Noten des Contmpnnktes gegen eine Note des Cemitts
fimnts gOBetst werden, wo nSmlich die Brevis oder Semibrevis in
drei Noten getheilt wird (also in dem perfecten Tempus und der
perfecten Prolation), kann eine dieser drei Noten dissonirend sein
Ferner ist es eine allgemeine stets zu beachtende Kegel, dass,
wenn der Cantns steigt, der Discantus fallen müsse, und umgekehrt;
es wäre denn, dass man um einer Folge unvollkommener Conso-
nanzen (^Terzen, Sexten) willen oder aus anderen Beweggründen
ron dioBem Gebot Umgang nithme^. Den Sets der Note gegen
die Note nennt Philipp von Vitiy ,tCmtrapuiieM*% für den Contm-
pnnkt Ton mehr Noten gegen eine „Caiiiua fradiOnfiü^* ftberhaapt
aber wendet er noch die alte Benennung „Discantus" an. Seine
formnlirten Kegeln bilden in ihrer prfizisen Fassung den Uebergang
von den alten casuistisch herumtappenden Discantirrogeln zu den
Kegeln des ausgebildeten Contrapunktes, wie ihn die Lehrer des
15. Jahrhunderts Tinctoris und Franeliinus Gat'or lehren.
Die Vorschritteu des de Muris stimmen im Wesentlichen mit
denen des Philippus von Vitiy ttberein: auch er will den Anfang
and Schlnas in Tollkommener Consonans, die Gegenbewegung u. s. w.
Diese Lehren nnd Begeln der Gelehrten nnd Theoretiker nahmen
jetstwie man sieht, eine melir dem praktischen Bedflrfiiisse der
Tonsetser angewendete Biehtong: was als dem Tonsatze gedeihlich
anerkannt wurde, das galt auch ohne tiefsinnige philosophische
oder mathematische Untersuchung Uber seine letzten Gründe. Die
Lehrer des 16. .Tahrhun<lertH warnten sogar vor dem Studium
der alten musikalisch - «iathematischen Schriften als vor frucht-
loser Muhe und Zeitverderb Die Praxis siegt Uber die ein-
seitig betriebene Theorie. Yielee in der Art der Gontnpnnk-
timng, der Notirung, der Mensturalbereehnnng, was sehon an
Anfang des 15. Jahrhunderts in den Werken der Tonsetser der
ersten niederlSndischen Schnle Torkommt, wird von den theoieti-
1) . . . aliae vero species sunt discordantes et propter earum discor-
dantiam ipsia non atimur in contrapancto, sed bene eis utimur in cantu
fractibili, in minoribus notis, ubi semibrevis Tel tempns in ploribus notis
(lividitur, id est in trilms ]>artibii8| tone una iUerom triom pertiom potest
esse in specie discurdanti.
2) . . . quod quando cantns ascendit, disoantos debet e e oa v e rso des-
cendcre, quando vero cantns dt sci-ndit , cantns debet ascondere, et haec
regnla generalis est et Semper observanda, nisi per species imperfectas
sive aliis rationibus evitetur.
3) ... in coutrapuncto, id est nota contra notam.
4) Adrian Petit-CoclicuB sagt in stMuem ('omjH'ndiiini (ir>52) „propterea
paucis verbis et praeceptis volui haue industriam Musiccs puerilem for-
mare: ne juTOitas ad Masioonmi Msthematioomra fibrös ourreus ra legen-
üis illis aetatem frostra conterat) et niinqnam ad finem bene eenendi
perveniat.**
Digitizea L7 GoOglc
Die Menturalmnrik and der eigenüiohe Gontrapankfc.
397
M^en SehriftsteUem fiut ent dn Jabiliandort spiter unter Hin'
Weisung mat die Werke jener Meister beeproehen und sur dauernden,
allgemein giltigen Regel erhoben. Auch hier bewahrte uch (Wa Kr-
fahrung, dass die Kunsttheoiie und Aesthetik immer erst durch das
reflectireude Eingehen auf dasjenige ihre besten Erwerlmn«jou
machen, was der inspirirte Genius kraft seiner pöttlichen Natur wie
unbewusst erj^riffon und hingestellt hat. Was der Genius in offener
Feldschlacht mit dem blitzenden Schwerte erkämpft, das recht-
fertigt die grübelnde graue Theorie hinterdrein am äessionstiuche.
Das Yeibtitniss war ein strengeres als heutsntage. Die Geseta-
mfissigkeit der Tonreibindung war keine willkttrlich an Indemde
Sache; die freie länfUhrung, die regelwidrige LQsnng gewisser
Dissonanzen wUrdc z. B. damals so unsinnig geschienen haben, als
wollte etwa ein Mathematiker im Laufe einer Berechnung annehmen,
dass die drei Winkel eines Dreiecks zusammen nie Ii t gleich seien
zwei rechten Winkeln. That die Praxis einen Schritt über das von
der Theorie bereits Anerkannte hinaus, so geschah solrlies stets mit
einer gewissen Vorsicht und Zurückhaltung. Die Theorie ihrerseits
notirte dankbar die neue Erwerbung ^) ; fand die Theorie etwas in
sich Widersprechendes, so tadelte sie oÄ»n. Tinctoris rügt gerade
an den von ihm so hochverehrten Meistern Okeghem, Faugues u. s. w.
Einzelnes mit grosser Schärfe^. Die voIIstKndige, scharfsinnige,
in allen Einselheiten consequent durchgefülirte Ansbüdnng des
Mcusuralwesens, die mannigfache fein abgewogene Anwendung der
Taktzeichen, die fast ausgeprägte Cadenzbildung, der geregelte
Gebrauch der Dissonanzen und noch vieles Andere, welches wir
systematisch zusammengestellt und besprochen erst bei den grossen
Theoretikern des 15. Jahrhunderts antreffen werden, entwickelte
ach, gewann Halt und Bestimmtheit in den Compositionen der
Nieder iSnder, jener trefflichen Meister, mit denen in der
sweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine neue Epoche der
Tonkunst beginnt
1) Ein Beispiel dazu wird uns der Tonsetser Da&y und der Theo-
retiker Adam von Fulda frohen.
2) Zuweileu drückt er sich scharf geinig aus, z. B. in seinem Fru-
portionale: „ds Dimarto in misM*' spiritus almus intolerabiltter peoca-
vit u. s. w. Al)C'r er schliosst auch sein Werk „de Contnipuncto" mit
einem Lobe auf Dufay, Faugues, &egis, Busnois, Okeghem und Caron,
und bemerkt: „enim vero et eos tnmmis laadibns eztouendos et pcuitua
isMtandos censco, ue eoutra officium boni viri me solom probsre, alios
vero, nbi recie feoerint, contemnere videar."
898
Der auBgebildote Tonsats. Di« erste niederländische Bohule«
Dofky und Mine Mt*
M<an hat sich so sehr gewöhnt, Italien , wo wir die Künste
nicht erat in Museen aufzusachen brauchen, weil sie uns an allen
Strasseneeken begegnen, als die eiiiage Kunstheimai ansiuehen,
dass es eine Art Uebemschmig eir^ite, als Kiesewetter in suner
Schrift „Ueber die Verdienste der IHededSnder um die Ton-
kunst^*, bestimmt nachwies, was noch Burnej und Forkel geraden
auszusprechen nicht gewagt, dass statt des Landes, unter dessen
tiefblauem Himmel der dem Dichtergotte heilige Lorbeer, die
königliche ernste Cypresse, die edle Pinie ihre Häupter erheben,
dessen laue Nächte von Oran<;en(liiften gewürzt werden, in dessen
vulkanischem Buden Glutweine reiten, wo die zertrümmerten Kestc
antiker Knnst lehren, was Mass, Klarheit, Harmonie und Form-
Schönheit i^, ▼ielmehr das prosaisch yerstVndige, gewerbflelsög
handeltreibende Allnvialland im Nordwestwinkel Enropa's die
( i^M'ntliche Heimat der zauberhaftesten unter den Kttnsten sei. Der
Italiener, stolz einen klassischen Boden zu bewohnen und sich für
den legitimen Erben antiker Bildung ansehend, hat längst ver-
gessen M, was er den Niederländern zu danken hat*). Ruft doch
sogar l'ietro Aron, ob er sich gleich in seinen Schriften fortwährend
auf niederländische Tonsetzer beruft und ihnen die wärmste Aner-
kennung zu Theil werden iXsst mit fast ttbermttthigem Stolze aus:
„wenn Franzosen, Deutsche oder sonstige Barbaren irgend eine
gute Seite haben, so danken sie Solche Italien^**.
Aber es ist ein schönes herzerfreuendes Schauspiel ehren-
werther Sitte, frische Lebenskraft, mannhafter Tüchtigkeit und
solider Bildung, wohlerworbenen Reichthums und echter, kern-
gesunder FnMule am Leben, feiner Geselligkeit und lebendigen
Sinnes für »Schönes und Edles, das unserem Blicke begegnet, wenn
wir ihn auf diese sogenannten ,, Barbaren" an der Scheide und Maas
in ihrem den Meercsfiuthen abgetrotzten Lande richten, diese
„Barbaren", deren breites Vlaemisch den italienischen Ohren frei-
lich wohl wie Froschgequak klingen mochte (schwerlich konnte
man in Italien begreifen, wie ein grosser Meister des Wohlklangs
1) Man weiss nicht, soll man lachcTi oder zürnen, wenn Scudo in
seinem Cavalier Sarti von den Niederländern mit dem aufgeblasensten
Hochniuth redet. „Diese Barbaren, welche Italien ein zweites Mal in
Besitz nalnnen, wo sie Schulen gründeten u. s. w."
2) Seihst auch in der ]»ild»Miden Kunst. Noch zu Michel Anprlo's
Zeiten galten niederländische Gemälde für besouders fromm und worden
gesucht. Was die venezianischen Maler durch die Kiederiinder für An-
regung erhielten, ist ullhekannt.
3) Sappiauo qucäli noatri malivoli e detrattatori, che, se Franciosi,
Tcdesdü, o niun altro barbaro, hanno qualchc parte, che traluca in loro,
Dufay und Beino Zeit
S99
„Okeksm" ^)]i«iMeii mOge), die aber in ihrer kakophoniBchen Sprache
gar Wackeres und Körniges zn sagen wussten! Den greisen Adrian
Willeert mag etwas Aehnliches bewegt haben, als er sich aus der
marmornen Pracht Venedig's nach seinem lieben BrUg:fje zurück-
sehnte! Was aber die Kunst betrifft, so darf das T^and, welches
die Brüder van Eyck, einen Johannes Mcmling, einen Kodier von
der Weiden u. A. sein nannte, auch eine Kunstheimat heissen,
wenngleich der Anblick der Antike fehlte und eine zwar minder
poetische, aber daftr gleiehaam dnreh und dudi aolid bttrgerUche
Natar statt der Zitronen nur derbe rothbllekige Aepfel bot und den
Rand der KanKle statt dee gOtdichen Geschenkes Pallas Athenens,
statt des „bläulichen Oelbaums" mit nrdinttren Weiden sSumte, die
endlich, genau genommen, auch wie OelbSnme aassehen. Dass
aber die Musik, die endlich weit genug gediehen war, um ihre
ersten Blüten entfalten zu können, diese Blüten nicht in Frankreich,
nicht in Italien, nicht in Deutschland, sondern eben in den Nieder-
landen öffnete, lag an ganz eigenen Verhältnissen. £s ist kein
Zweifbi, dass unter der Leitung von Lehrern wie Joh. de Huris ^
eine erfreuHcbe Gestaltung der Tonkunst sich hätte entwiekeln
können. Die erhaltenen Arbmten eines gewissen Jehannot Les-
curel aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts (Bondos und Balladen
in einem zwischen 1316—1331 geschriebenen Codex der Pariser
Bibliothek, als Einschaltungen in dem Roman Fauvel) zeigen einen
merklichen Fortschritt über Adam de la Haie hinaus: die Harmonie
ist reiner, obschon Quinten und Octaven noch nicht völlig vermieden
sind, zahlreiche Fiorituren sind für den Geschmack der Zeit be-
zeichnend.^ Aber es kamen für Frankreich wilde, blutige Zeiten,
in denen die Künste nicht geddhen konnten. Die Kriege mit Eng^
land, welche naeh dem Erloschen der Capetingiseh'en Linie durch die
Ansprüche Eduard III. von England entsttndet wurden, die blutigen
Tage von Crecy, Poitiers und Azincourt, wo die Blüte der fran*
che tutto hanno (sia detto con loro paoe) apparato in Italia, come quelle
che e eimeuto e paragone di tutti belli e buoui iugegui e dove loro con-
viene, che vengano a pigliare il giuditio el contimento di ogni lor tapere
IV. Buch S. Ml).
1) 8o tindet sich der Name ükeghcm's oder Ockenheim'! b. B. bei
Hermann Finok, bei 8eb. Heyden gar Ogekhera. Dagegen schreibt Q.
B. Rossi (Org. de Cantori S. 69) „Okgteghen" u. s. w.
2) Johann de Muris war nicht hlos als Schritt »tt-llcr, sondern auch
durch mündlichen Unterricht für diu Verbreitung rechter Musiklehre be-
müht, er sagt es in der Vorrede seiner Sununa m u siflgs ; „Sed cum fte>
qucnter nniniRdvcrterim socionim ei düdpulorum meonm quam plurimoi
errare graviter in via'' u. s. w.
8) F^s hat m der Revue musicale (Bd. XII. No. 84) ein Bondo
dieses Musikers ,,a x'ous douce dcbotviairc ni man cucur dotiue" in der
urRpningliohen Notirunp; und cntzifi'ert mitgetheilt. Es ist dreistimmig,
die Melodie liegt in der Mittelstimme.
400
Die £iit Wickelung des niehr&timmigen Gesanges.
/ösischen Kitterschafl fiel, die GefangenB<Üiaft König Johann's von
Valois, der das Land verwüstonde Bauernaufstand der Jacquerie,
die Pöbelherrschaft in Parip, der Wahnsinn Carl VI.: das Alles
brachte Frankreich an den Knnd des Ab<frunde8, und selbst das
Privatleben gerieth unter diesen Stürmen in die schlimmste Entiiitt-
lichung und Verwilderung.
Als Ludwig XI. (fireilidi dnnli dse bii snin Baehlosen ge-
triebene politiBcbe Klugheit) die Uaeht Fnuikreich*a wieder liob, war
der rechte Moment für die Entwickelong der Tonkunst bereits ver-
strichen nnd hatten die Niederlande die musikalische H^emonie
emingen. So schwere Stürme Frankreich heimsuchten nnd dort
die anfspriessenden Keime der Kunst verwüsteten und vernichteten,
so glücklich gestalteten sich in den Niederlanden die Dinge. Dort
blühte Gewerbfleiss und Handel; die mannhafte Bürgerschaft
wohlhabender StSdte hatte sich durch die eigene Tüchtigkeit and
den fest zusammenhaltenden Geist der Gilde and Verbrüderung
(Oommoiyiie, ConspiraHtmt Frame) mKchtig gehoben. Vom 9. bie
snm 18. Jahrhundert war der niederlXndisehe Handel in stetem
Steigen begriffen gewesen, mit ihm kam Reichthum and nüt dem
Beichthum behagliches Wohlleben in*s Land, ein Wohlleben, das
von Schwelgerei und Entartung ferne blieb und immer etwas Ehren>
festes behielt, da die Mittel dazu nicht gewaltthStig durch Raub
oder mühelos durch Renten und Gefälle, sondern durch red«
liclicu Erwerb and anhaltende geordnete Thätigkeit herbeigeachafift
wurden.
Fühlte sich der Kaufmann im Bewnsstsein seines Beichthums,
seiner UnabhXngigkeit von würdigem Stolse erfüllt, so standen ihm
die Tuchmacher, die in Flandern nnd Brabant dne Hauptmacht
bildeten, die Weber, ebenso tüdltig und stolz gegenüber. Flaa-
drisehes Tuch, Brüsseler Leinenzeug war schonim 13. Jahrhunderte
berühmt. Wie die Niederländer durch gemeinsame ThStigkeit jene
Däninic anfwarfen, durchweiche sie ihr Heimatland dem Meere ab-
gewaiiiuju: so war ein Zusainuienwirken vereinter Kräfte, deren
jede lür sich tüchtig dastand, aber keine sich vereinzelt auf sich
selbst verlassen mochte, sondern ihren Bückhalt in allen übrigen
fand und deren eintrltchtige Wechselwirkung den Grundsug alles
niederlXndischen Lebens bildete, der KempuidLt, aus dem daa Gre>
deihen sprosste. Der Niederländer schmückte seine StXdte . nicht
allein mit erhabenen Domen, sondern auch ganz vorzüglich gerne
mit prächtigen Stadthäusern (wie zu Lccuwen, Oudermrde u. s. w.),
den wahren Palästen der einij^en Gommune. Feierte er Feste, so
kamen nicht einzelne Gäste, sondern es hielten gleich jjanze Städte
durch ihre Gilden, Gewerke und Brüderschaften vertreten mit
wehenden Baunern triumphirende Einzüge; da rauschte undglänate
Allee fün Sammt, Seide, Taffet, Goldstickerei und Schmuek; b«i
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Der ausgebildete Tonsaiz.
401
dem 1331 gefeierten Feste der sogenannten 31 Könige 1) waren
nicht weniger als vierzehn Städte vertreten.
Vergegenw;irfip:t mnn sich diese Eigenheiten belgischer Art
nnd Sitte, so scheint es eine jjanz natürliche Conseqnenz, dass sich
dort der das Leben erheiternde (^esaii}; nicht wie bei den Trouba-
dourä zu Einzelgesängen, »ondern zu vielstimmigen Tonsätzen
gestaltete, wo Jede Stimme ia wahrer Polyphonie ibren eigenen
melodischen Gang einschlug, aber nur im Zusammenwirken aller
das TonstOck erst seine Gestalt und Bedeutung erhielt. WXhrend
die Kunst des Troubadours fast nur auf Im{ffOvi8ationen heg:eistetter
augenblicklicher Anregungen berechnet schien, galt in den Nieder-
landen die wohlUberle<jte niedergeschriebene vielstimmip^c ('onipo-
eition des Tonsetzers, wo dann die Sanfter sich als eine Art ,,C'om-
nioirrne" vor das Notenhiich hinstellten, wie wir es auf dctiv (Jenter
Altar der Brüder van Eyck abgemalt sehen, und ein jeder in ein-
trächtigem Zusammenwirken seinen Part daraus heruntersang. Wo
man seit lange so Tortrefllieh Zeuge und Stoffe webte, war man
pridestinirt «ich die T5ne au reichen Kunstgebilden su yerweben,
nnd wie die Teppichweber von Arras die historische Figurengruppe
eines Ilaupt- und lüttelbildes mit dem zierlichsten Rankenwerke
von Arabesken umgaben, so umgab der Tonsetaer seinen Tenor
mit reichem ötimmengetiechte.
Itali en bot in seiner ganzen gleichzeitigen Erscheinung manche
den Niederlanden sehr analoge Verhältnisse. Der Handel der
Venezianer, Pisaner, Genuesen, Florentiner u. s. w. durfte sich gar
wohl neben dem Handel der NiederlMnder zeigen; ia luxuriösem
Wohlleben standen die italienischen Kauflente den medeilXndischen
nicht nach^; die StKdteverfassung mahnt an die niederländischen
Communen und das reiche ßtadthans {paXazzo puhlico) wie der
prächtige Dom waren glänzende l)enkmale des Keichthnmes, Ge-
meingeistes und Kunstgeschmacks der stolzen Bürf^erschaften. Dazu
hatte Italien neben seinem den Sinn des Künstlers zu heiterem
Schaffen anregenden glücklichen Himmel, seiner reizenden land-
schaftlichen Natur mit ihren malerischen Berg- und Pflanzenf<irnien
endlieh den unennesslichen VorUteU des Anblickes der edel ge-
bildeten Reste des Aherthnms, deren tXgliche Anschauung von selbst
den Schönheitssinn wecken musste. Daher finden wir auch schon
im 14. Jahrhundert, also gleichseitig mit dem Beginne der nieder-
1) Bfirgw in KOnigsmaiken, wie s. B. den KOnig Candebrinhas em
gowisser Johann Thibegnd, den KOnig Abilacui em Jacques Mouton
U. 8. w. reprftfientirte.
2) Zu welcher Höhe und Ueppigkeit nm 1350 der Luxus in Kleidung und
Tafel gestiegen war, mag man in der ^.'hrouik von Piacenza l)ei MuratoriXVL
579 und 582 nachlesen. Die Chronik bemerkt, solcher Luxus sei a mer-
catoribws Placentiae, qoi utuntor in Franoia, Flandria ac etiam Hispauia,
Der Verkdir mit den l«iederlaadem(Flanden) wird hier ausdraddich betont •
Aabroi, 0«i8|i|eM« 4«r Miufk. H, 9$ *
Digitizoa Ly Li(.)0^le
403
Die Eniwickclang dea roehrstimmigen Gesanges.
ländischen Tonkunst, Anflätze zn einer ähnlichen Entwickehinp (?(*r
Kunst in Italien. Aber jenen fördernden Einflüssen standen weit
iiborwicg^end licmmondo entg^epren. Statt sich gleich den nieder-
ländischen Städten zu frohen Festen zu einen, waren die ilAlieni-
schen Communen fortwährend in blutifre Fehden untereinander ver-
wickelt, und Eifersucht und wechselseitiger Haas wurden nicht
mttde den Brand zu schüren; selbst der Haas einzelner Familien
vererbte sieh, noch 1490 konnte in Perugia das Hodueitsfest
Giifonetto Baglione*s sn einer Bluthocbseit umschlagen. In Venedig
drückte ein Adelsregiment voll offener und geheimer Sehrecken;
in Rom, dem Mittelpunkte des Katholicismus, hielt man, Jeder
Neuerung misstranend , an dem einmal gutgeheissenen und san-
ctioniiten Ritual fresang, und als die PSpste im fernen Avignon
weilten, zerriss der Streit der Barone die Stadt und verwandelte
die Keste altrömischer Herrlichkeit in Zwingburgen. Süditalien
gehorchte seufzend oder murrend fremden Herrschern. Da und
dort sassen In den Stedten und auf Burgen kleine, sIldHeh heiss*
blttlige Tyrannen^) oft bis snm Dimonischen fbrähtbar, wie im
18. Jahrhundert Ezselino da Romana. Selbst der Handel Italiens
hatte nicht den Segenszng des niederlftndif=!chen, bld dem zumeist
Produkte eigenen ehrenwerthen Fleisses in Geld umgesetzt wurden,
während Italien mehr die kostbaren, aber bedenklichem Luxus will-
kommenen Produkte frenuler Welttheile. die Perlen der indischen
Meere, die Edelsteine, die (lewürze und Soidenstot^V des Orients, das
Elfenbein und die Straussfedem Afrikas, herbeizuschaffen bemüht
war und Wucher und Oeldgeiz den eifernden Predigern oft genug
GelegenhMt an Strafreden gab. Die Baukunst gedieh, die Maler«
blühte in Florenz und Siena wunderbar auf; aber die Tonkunst fend
vorläufig nicht die ruhige StStte, deren sie zu ihrer Entwickelung
bedurft hätte. Damm geschah es, dass bei dem steigenden Kufe
der niederländischen Musiker diese bald genug auch nach Italien be-
rufen wurden und die nachmals so bedeutend gewordenen Schulen
Venedigs, lioms u. s. w. auf niederländische Gründer zurückzu-
führen sind.
England war nach dem Tode Eduard III. der Schauplatz
heftiger Unruhen und wilder Kämpfe. Deutschland wurde durch die
heftigen Streitigkeiten der Kaiser mit den Plasten (bis auf Ludwig
▼on Baiem), die Parteinahme der Fürsten, die Interdicte und was
sonst die Folge davon war, und ausserdem durch mancherlei Local-
bedränp:nisse beunruhigt; dazu kam 1348 das grosse allgemeine
Uebel, die fürchterliche Seuche des schwarzen Todes, welche ganz
besonders in Deutschland die Oemiither bis zum Wahnsinne er-
schreckte, dass Schaaren verhüllter (ieisselbrUder, fanatischer Bnss-
1) Als charakteristische Schilderung dieser Mensühenart mag man iq
A. Keumont's „itaL Studien" die „Herzogin toq PaliaqQ" lesen.
Digitizea L7 Google
Der ausgebildete Tonsatz.
403
prodip^erund Propheten das Land durclizogcn, ein Jeder das Ende der
Welt erwartete. So blieb der Musik in Europa kein ruhiger Winkel
vergönnt als die Niederlande. Wie grogs das Ansehen der Nieder-
länder als Musiker war, beweist das ausserordentliehe Lob, welcbes*
ilinen ein Italiener, der florentiner Anibassador Lodovieo (4nic-
ciardini, in seiner Beschreibung der Niederlaude (155<i) i«|H'udct:
„Die Belgier*', sagt er, „sind die wahren Vontelier der miisika-
iischen KmiBt, die sie sowohl begrttndet als inr höcbgten
Vollkommeolieit auBgebildet heben. Denn sie ist ihnen so
natttflich und gleichsam an^eVH)ren, dass HXnner und Frauen
Munmen nicht allein auf das Zierlichste, sondern auch harmonisch
eine ganz richtige Musik von Natur singen, und da zu dieser ange-
borenen Anlage nachmals auch noch die Ausbildung der Kunst sich
gesellet hat, so liaben sie sich zu jenen l^eistungen der VtK-nhnusik
sowohl als der Instrumentalmusik emporgeschwungen, von denen
wir sie tagtäglich Proben ablegen sehen, so dass sie mit Recht an
allen Httfen christlicher Fürsten eine ansgeseichnete Stelle ein-
nehmen und hoehgehalten werden^ ^. Die ttberraschende Meister«
schafl, mit welcher die Tonsetzer der ersten niederländischen Schule,
ein Wilhelm Dufay, Eloy, Egidius Binchois, Vicentius Faugnes,
sogleich auftreten , setzt eine vorhergegangene Epoelje eil'riger
Kunst und Uebung in den Niederlanden voraus, welche unverkenu-
barmit der französischen Singekunst in einem nicht blos äusserliclien
geographischen, sondern in einem inucrn geistigen Zusamnienliaii<;e
stand. Der französische Poet Martin le Franc nennt die beiden
grossen Meister der ersten niederlKndischen Schale Dnfiiy nnd
Binchois in einem Athem mit drei Dichantenrs Tapissier, Carmen
nnd Cesaris, über deren Knnst gans Paris ausser sich war. In
diesem Sinne verdient jene von lÜesewetter als altfranzösisch be-
zeichnete Chanson „mais qn*il vons viengne a plaisancbe,'* welche
Fürstabt Gerbert nach dem in der Sammlung des Georgsklosters zu
Villingen befindlichen Original in der ursprünglichen Notirung publi-
zirt und Kiesewetter seiner Musikgeschichte beigegeben hat, ein
höchst schätzbares Denkmal zu heissen. Sie und die Chansons von
H. von Zeeland beseichnen den Uebergang von der roheren Kunst
eines Jdhaa Lescnrel n. s. w. tu der ansgebildeteren, wie sie schon
in Wilhelm Dnfay*s Jugendarbeit, der noch schüchtern behandelten
Chanson ,jeprends congi", su finden, von wo, in dem hochbe-
gabten Di^ajselbst, ein weiterer Weg snr geklXrten und gereiften
1) Qnesti sono i veri maestri della musica, e qnelli, che l'hanno ristao-
rata e ridotta a perfpzziono, pcrche Tliaiino tanto propria e nafiiralo, che
haomini e donne cantan' naturalniente a niisuru^ con graudlBsima gratia e
melodia, onde havendo poi congtnnta Farte alla natura, fanno e di voce,
e di tutti gli stroinoTiti quella provn. e barmoiiia. ehr- si vcde c ode, tal
che se ne trova sempre per tutte le corti de' principi chrisUani (Gnio*
oiardini, Desoriiione di tutti i paesi baasi. Antwerpen 1556 und IMl).
Digitizoa Ly Li(.)0^le
404
Die Entwickelung des nehrttinmigeii OesMigei.
Kunst der späteren Chansonn Diifay'« und seiner KunstgenoBsen
Kircheiistückc führt.
Was aber voHoiiHh merkwürdig lieisson darf, i'^t dvr Umstand,
dass die Kunst jener Ucborgängc von dem halbbarbarisclien Dechant
zu eiiii in frer«'p:<'lten Tonsatz in Frankreich und den benmlibarten
Niederlanden wie in Italien (Florenz) ganz genau dieselben Foria«u
annahm. Die Anlage der Chansons des H. de Zcclandia wie des
Flormtiners Francesco Landino (und so anch jenes anonymen
,,niaiB qa*il vons") ist eine von der Dufay-Ghanson, welche dann
auch fsät die folgenden Meister Muster und Vorbild blieh, wesent-
lich a)>weichcnde. Die Hauptmelodie liegt liier niebt im Tenor,
sondern in der Oberstimme; das Lied gliedert sich in eine pars
prima und pars senmäa, bei U. de Zeelandia selbst noch in eine
pars teriia, während die neuere Clianson mit sehr wenig Aus-
nalnnen, wie z. B. Jajiart's ,,Joier mi fault uiiy carjientier ," wo
der erste Theil zu wiederholen ist, in einem Zuge durchgeht; ferner
wird zuweilen der erste, öfter auch der zweite Theil wiederholt und
awar mit jedesmal geindertem Schlüsse (Wiedeiholnng mit prima
und aecanda vaUa, bei den Italienern jener Zeit genannt „chinso**,
bei H. de Zeelandia „daus.** d. i. dansura).
Die Chansons sind sämmtlich noch mit der alten scbwar/en
Note geschrieben, zeigen aber eine bereits sehr ausgebildete Men-
surirung mit Anwendung der fein distinguirenden Regeln über
Ligatur, ImperHzirung und Alterirung, des Tempus und der Prola-
tion (die Mittelstimme der anonymen Chanson ist in ju-rtecter Pro-
lation gesetzt, alle drei Stimmen im jierfecten Tempus), der Synco-
patioD und Cadenzirung. Die Harmonie ist zwar noch völlig ohne
Gestalt und Schöne, aber sie zeigt bereits eine sehr bestimmte Ah-
nung des Wahren und Sichtigen und nähert sich dem Standpunkte
untadeliger Reinheit, wie denn fehlerhafte Quinten und Octaven
bereits vermieden werden. Die im Contratenor der anonymen
CSumson und des Liedes Poche perltet von H. de Zeelandia vor»
kommende Manier des in letzterem Gesänge gleichsam ostenziös an-
gewendeten Ochetus, welche schon Dufny als obsolet aufgab, zeigt.
ne})st der im Vergleiche gegen Dufay's Kunst noch unbeholfen zu
neniK'iidon Satzweise, dass hier Werke etwa aus der zweiten Hälfte
des 14. Jahrhunderts vorliegen, diu unmittulbareu Vorstufen der um
1400 pldtalich und mit so ausgebildeter Technik des Tonsataes
auftretenden ersten niederlftndischen Schule.
Ob man nun diese Kunstweise als spAtftanaOsische hochausge«
bildete D^chantirkunst oder als frühniederländische unausgebildete
Contrapunktik anzusehen hat, wird freilich zweifelhaft heissen
müssen. Die Sprache in den südbelgischen Provinzen (die in
gleichzeitigen Schriften oft als Gallia bezeidmet werden, wie die
Niederländer in Italien damals auch Galli genannt wurden^ war
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Der «Mgebfldeto Tonstts.
405
neben dem Vlnemischen auch in Hennep^au, Bur^md u. s. w. sopar
vorwiegend und selbst ausschliessend die französische, wie ja eben
bei Mischvölkern solche Drtjjpcllandessprache vorzukommen pHep:t.
Es ist nun sehr bemerkeuswerth, dasa II. de Zeelandia Lieder mit
franiOsifleheii wie mit ▼lAemiseken Texten bearbeitet hat: Por roas;
Tut plus bas boye; FUrs de May; Je langois; Poehe pertiet; —
Hya heil mjn Trost; De molen bej Paria; Ic prise altoea geataden-
helt; Vaer rouwe in dander huyas; leb aaeb den may met bloemen
benaen; Eon meysken dat te werbe gaet.
So ist in frlricher Richtung der Umstand höchst merkwürdig,
dasB die Melodie i^der Tenor) jener Chanson, welche Dufay mit dem
französischen Texte, , je prends conp;^ de vos amours" bearbeitet
hat, in den sogenauuteu Öoutcr liedekens ^) mit der Textbezeichnung
„ick seg adieu wy twee wy moeten scheyden'% also mit vlaemischen
Worten vorkommt, (es ist dort der 65. Psalm unterlegt: , jubilate
Deo omnis terra" oder wie es in der Uebersetinng helsst; „TroeUk
en bly loeft'*), und eben dieser hier allerdings schon im Sinne der
neueren Kunst stark umgebildete Tenor findet sich mit demselben
vlaemischen Texte im zweiten Theile des Ausbundes schöner teut-
scher Liedlein" von G. Förster (Nürnberg 1565) in einer guten Be-
arbeitung eines un}!:enaunten Tuusetzers (No. XXVII. «h'r Samm-
lung). Die kuustreiche Heimverschränkung der anonymen ( 'hanson
deutet auf Troubaduurpoesie, dagegen deuten des H. de Zeelandia
Textanfitnge (mebr ist im Codex leider niebt gegeben) ebenso nn-
▼eriiennbar anf Volkslieder. Aucb in den Melodien ist der eckte
Klang der Volksweise gar wobl in erkennen. H. de Zeelandia
(voraust^esetzt, dass er der Componist der seinem Tra( tat beigege-
benen Lieder ist) weiss übrigens auch mit dem vierstimmigen Satze
ganz wohl umzupjehen, er filgt dann den drei Stimmen eine als
Oontratenor oder Altus bezeichnete vierte hinzu ^). Eine zwei-
stimmige Chanson, in deren Ob«r«titnme die Volksmelodie besonders
klar hervortritt, map^ hier als Probe seiner Kunst eine Stelle linden:
Een mcyskeii dat te werbe gaet.
Pritn».
1) Diese Sammlunff erschien bei Tylman Susato in Antwerpen. Es
werden darin beliebte Volksweisen mit dem unterlegten Texte dwnalmen
in vlaemischer Uebersetzunp: zum (Jebrauche der Andacht zurecht ge-
macht. Man sieht, dass es kein blosser burlesker Einfall ist, wenn Shake-
speare seinen FallstafT sagen lässt: „Das passe zusnmmen wie der zwei-
und zwanzigste Psalm zur Melodie vom grünen Aenn« !
2) Bei dem Liede Vaer rmive findet sich die Bemerkung: '
Tenor faciens contratenorem altL
Altum duobus tsmporibus suis reddo.
Es ist also seliou hi* r • ine jener Devisen su fiudmi, die i^iter eine so
vielbeliebte Sache wurden.
406 Die Entwiolcelmig det melintüiimigm Oeniiget.
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Dar aaigabadaU tooHtt. 407
(Oodas dw Png«r PijMiJllliliiMiothek.)
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Ben Meyaken d«t te w«rbegAet: eto.
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408
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Anmerkung: Die frühere (Jebcrtraguag dieses Stückes litt an
cinieliieii Mangeln tind WUlkOhrlichkeiten, aaaMntlich in rhythmitehar
Beziehung. Es ist daher hier eine einfiudiere und aberrichtuchen g»>
geben worden.
Digitizea L7 GoOglc
Dar uigebfldete Tomatz.
409
Jene Chanson „mais qu'il vous viengne" ist übrigens ungleich
erfreulicher. Die ganz muntere Melodie im Discantus ist llber-
raschend woiilgegliedert und fliesbend^), auch die Harmonie ver-
bältnissmässig besser, entwickelter und immerhin anhörbar. Be-
sonders interessant ist es aber, dass einzelne Wendungen der Haupt-
melodie iteUenweiie dir die andern Stimmen das Motiv geben , so
daas sieh da nnd dort Ansitae m wirkUehen Nachahmungen zeigen^.
Der Gebrauch der Dissonanaen ist aneh schon ein geregelter. Sie
erscheinen im Durchgange und so, dass sie in der Regel nur die
Dauer einer Minima (nur zweimal einer Semibrevis) ^) haben. Auch
die zum Schluss beider Theile gleichartig vorkommende syncopirte
Cadenz jjj^ jj j ist hemerkenswerih. Der Vorhalt der Quarte
vor der Terz, wie er bei dem wohl nur wenig .späteren Dufay schon
mit ToUer Sieheiheit angewendet wird, ist Uer einstweilen eine
noch unhekannte Sache.
IndenArheiten dea Componiaten der eben erwlhnten Chanson,
in jenen des H. de Zeelandia u. s. w. steht die fertige Knntt der so-
genannten ersten niederiXndischen Schule, deren Hanptvertreter
Wilhelm Dufay ist, schon vor der Thüre, So lange die Kunst des
Musikers auf der mechanischen Organumsingerei und dem Faux-
bourdon, auf dem schon aur^ebildeteru Discantisiren und dem be-
reits eine bedeutende Uebung und Geschicklichkeit erheit^chendeu
Cantus supra librum beruhte, so lange die mehrstimmig vorge-
tragene Antiphone oder Messe ein auf den Cantus ftrmut gehautes,
im Moment entstehendes und verwehendes Produet der Impcovi-
aation war, konnte natürlich von eigentlichen Componisten und
Compositionen keine Rede sein. Der Musiker war ein Diener des
Angenblieka, ilun „flocht die Nachwelt keine Kränae" nnd er machte
1) Man sehe die aymnietriache, sequenzartige Wiederholung der
Phrase zu Anfang des zweiten Theils.
2) Im zweit rti Theile ist im Bass eine Lücke von zwei Takten, wie
SS in Kiesewetter's Entziffenuig auch bemerkt ist. (Bei Heissmann ist sie
angshOriff mit Pkosen aaigef&nt; überdies der Oontratenor mit dem
GeigeDMOlüssel statt des Timorschlassels [oder, wie das Original hat,
mit dem F-Schlüssel auf der zweiten Linie] geschrieben!) Jene Lttcke
wäre vielleicht so auszufüllen:
1 tü ■ 1
h-rd
IB) Tiaetoris will der Dissonant nur die Dauer einer Minima sn-
ffestanden wissen. Seine und seiner Nachfolger Auffassung über das
Wesen der Dissonanzen geht dahin, dass man sie gleichsam einschmug-
geln und möglichst schnell vorüberführeu müsse. Mehr darüber an ge-
Eoi%sr Stelle.
410
Die Sntwiekelinig det meliniimmigen Oeiangei.
selbst 80 wenig Ansprüche in die Annalen der Unsterblichkeit ein-
pretrapou zu werden, als etwa der Mönch, der zum Kirchenfeste
des Klosterpatrons die SSulcn und Altäre der Kirche nach bestem
Geschmack mit dem wieder abzunehmenden Schmuck von Blumen-
gewinden und Teppichen bestent henasputste. HVchstens hallte
dem Singer das £eho eines eigentlich inhalüoaen Rofes Ton be-
sonderer Geschicklichkeit nach, wie der Poet Marlin le SVaae Jenen
vorhin genannten Dt'chantenrs Tapissier, Carmen und Cesaris
Mn Andenken gesichert hat, wobei wir freilich nichts erfahren als
dasf ganz Paris über sie erstaunte („qu'ils esbahirent tout Paris").
Etwas Bleibendes konnte der Welt eigentlich nur der traktaten-
schreibende Musikgelehrte, allenfalls der Erfinder einer neuen in
den Kirchengesang übergehenden Sequenzmelodie hinterlassen. Das
war der Zustand der christlichen Musik bis fast 1200 Jahre lang
nach ihren ersten Anfilngen. Wir beiitien ans dieser so langen
Zeit eigentlich gar keine mnsikalischen Knnstdenkmale, weil in
der That keine ezistirten, sondern alle knnstv'olle oder fllr kunst-
voll geltende Musik im Momente entstand und verschwand und
keine Spur znrückliess als die Traditionen der Praxis. Das Feste,
das Dauernde im "Wechsel" war eben nur der CatUus finnus, der
unantastbare Schatz Gregorianischen (resanges, ein wahrer unver-
rückbarer Felsen Petri, den die zerfiiesseuden Wellen jener im-
provisirteu Contrapuuktik umfiuteten.
Zeigen sieh nun im 13. Sienlnm sehflehteme nnd toheyenneiia
einer schriftlichen Ausarbeitung mehrsümmiger Slllse, gewinnen
sie allmXlig mehr Halt nnd Gestalt, so beginnt mit der iweiten
HSlfte des 14. Jahrhunderts eine erstaunliche Entwickelung: statt
▼ereinselter, planlos da und dort anftanchender, mehr oder minder
gelungener Verstiohe, statt der vergehendon Improvisationen ]>er-
sönlicher Geschicklichkeit sehen wir gegen den Anfang des 15. Jahr«
> hundcrtö hin ordentlich gearbeitete Compositionen (die „res facta**,
wie sie Tinctoris im Gegensatze zum Cantus supra librum nennt)
entstehen, wir seheui wie sich die niederländischen Tonsetser au
einer förmlichen Schule eonsolidiren, welehe in der Gtotehichte der
Tonkunst mit dem Namen der ersten oder ftlteren niederlCndi*
sehen Schule bezeichnet su werden pflegt Sie nimmt ihren Aus-
gangspunkt gleichmttssig vom weltlichen mehrstimmig behandelten
Liede und vom Gregorianischen Gesänge. Wir begegnen zum ersten-
mal e den Compositionen zahlreicher Messen, Arbeiten, in denen sich
eine so bedeutende Kunstbildung, eine so entwickelte Technik des
Satzes, eine so sichere Behandlung der Stimmführung zeigt, dass
mau von hier aus eine neue Aera der Kunstgeschichte datiren muss.
Der Tom weltlichen Liede genommene Ausgang wirkt auch
noch und swar in der bedeutendsten Weise in dieie Gompoii-
tionen einer höheren Ordnung htnein, und de haben dadoich
uiyui^uu Ly Google
Der »nigvbildflto Toimfti.
411
eine Richtung erhalten, welche bis selbst in's 17. Jahrhundert
hinein nacliwirkte.
Es ibt eine allbekannte Thatsache, tlass die Niederländer
selbst für ihre grossen, sorgsam mit allem Aufwände der für die
Kmift cUunali ^ponibeln Mittel dmehgefllirteii Messen sehr oft
popnlttre weltliehe Lieder snr Ornndlage nahmen, deren Text-
anffinge dann der Messe den oft sehr sonderhar klingenden Namen
liehen. Im Qmnde war aber an solchen Messen nichti anitttssig
als die Benennung. Die Melodie des Liedes im Tenor verschwand
zwischen dem contrapunktischen Aufbau, den der Componist in den
übrigen Stimmen rings um sie her aufführte, selbst wo djis Lied
wie in Dufay 's Kyrie über das Lied ,,Omme anne" oder Taut je me
deduis'' unverändert beibehalten wurde; um so mehr, wu der Gum-
poniat dnreh angmentirende Ziehen oder durch grosse Noten die
Liedennelodie ausdehnte, sie dorch Pansen unterbrach u. s. w. Der
Tenor war hier gleichsam nur der Holsreifen, hestimmt den darum
gewundenen Blumenkrana snsammenzubalten, oline seihst sichtbar
SU werden. In der aweiten, nach dem berühmten Meister Okeghem
benannten Schule wurde dann allerdings dem Liedmotive als
solchem mehr Wichtigkeit beigelegt.
Sch(jn bei den Meistern der ersten Schule wird jenes epoche-
machende Lied „Omme armd*' als all beliebter Tenor eingeführt,
Uber welches nicht nur Dnfay, Faugues, Caron, Busnois,
Begis, simmtlich Meister aus den Frtthaeiten der Kunst, Messen
componirt haben, sondern aneh gegen Ende des 15. SKculnms der
Theoretiker Tinctoris, die Meister der zweiten Schule Mathurin
Forestier, Matthias Pipelare, de Orto, Josquin de Pr^s
(eine Messe super voces musicales und eine zweite Sexti toui),
Pierre de la Rue (unverkennbar mit .Tosquiu's iibennüthigem Vir-
tuosenstück der M. Omme arm6 sup. voces mus. wetteifernd), lioy set
Comp^re; femer der Spanier Cristufano Morales (zwei Messen
Bu 4 und 5 Stimmen) Vacqueras, selbst noch Palestrina, der in
•einer Omme aim^- Messe seine Tolle Vertrautheit mit den Nieder-
linderkttnsten' bewies; endlieh macht gar noch nrZeit der Gompo-
sitionen mit massenhafter StimmenhSufung Giacomo Carissimi
mit einer zwölfstimmigen Messe den Besehlnss. Das Archiv der
pSpstlichen Capelle besitzt alle die vorgenannten Compositioneu
und ausserdem noch zwei Messen gleichen Titels von nicht genann-
ten Tonsetzem, wovon eine sicherlich dem Franchinus Gafor
angehöi-t, da er selbst erzählt eine solche Messe den Sängern
Leo X. gesendet zu haben Auch Anton Brumcl, der würdige
Genosa Josqnin't und de la Bae% hat eine Messe Uber den nnver-
1) » . . . ttt in tenors aosiro Chief/laMS dUm pro nahia et primi
Agnm V» de nusia oinnm armi et in tenore Oiafiaa de missa Mutti ' ;
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412
Die Botwiekelnag des mehntimmigen Oeeaoges.
meidlic'lifii Oimne aniK; componirt («ie lindet sich in seinen 1503
bei Pctrucci gedruckten Messen), und von Jakob Uobrecht be-
sitzt die Wiener Hof Bibliothek eine vierstimmige ungedruckt ge-
bliebene Messe gleichen Titels^). Noch nicht genug: Johann
Japart, der Zeitgenosse Joeqnin'^ findet bei Bearbeitung des Liedes
„n est de bone henre ne'S dass der Omme ann^ als vierte SUmme
und uls Bass vortrefflich dazu passt, und ermangelt nicht die £ait-
deckung zu einer eigenthümlich geistreichen, sinnig combinirten klei-
nen Composition zu benützen Desto auffallender muss es heissen,
dass sich der Omrae anne nirgends als selbstständiges weltlitli
bearbeitetes Lied findet, während sonst von den zu Messen be-
nützten Liedern meist auch weltliche Bearbeitungen vorkommen,
öfter sogar mehrere über dasselbe Lied.
Eine sweite Gattung von Messen bildeten jene» welche über eine
Hymne oder eine Antiphone componirt wurden; sie waren minde-
stens ebenso sahlreich als die Messen fiber weltliche lieder. Schon
in der ersten niederländischen Schule finden wir die Messen ecc9
ancilla, dixentnt disciptUi u. a. m. In Messen dieser Art seigt tu-
weilen selbst auch der Text eine wunderliche Vermischung des
fremd on und des Messtextes, doch nur im Tenor, nicht in den
anderen Stimmen. Schon bei Dufay, dem bedeutendsten Meister
der ersten niederländischen Schule, finden wir in der Messe Ecce
ancilla JJomini ein seltsame« Gemenge dieser Art: ,,Beata es, cruci'
fixus etiam pro nobis Maria, quae credidisti, perfiekniiir in te,
(juae dida sunt tibi a Dmüno, Jüduia**,' Das letste AUeluia trifft
mit dem „et^ regni non erü fhiW* der anderen Stimme susammen.
Oder: „Beaia es Osanna qua« credidisti in excelsis*^ Auch das
Kyrie einer dreistimmigen Messe von Egid Binchois (im Besitze
der k. BibL zu Brüssel) ist mit solchen ESinschubphrasen (Farcituren)
ausgestattet.
Die Sonderbarkeit über weltliche Lieder geistliche Musik zu
componiren ist nur dadurch erklärlich; andererseits aber auch der
stärkste Beweis, da.ss sich die Kunst einer solchen Verarbeitung zu-
erst im Dienste geselligen Gesanges an weltlichen VolksUedem be-
thitigte, ehe sie in die Kirche eindrang« Ein äusserlicher Beweis
för das höhere Alter der weltUchen mehntimmigen C^esellschafts-
lieder ist auch die noch schwarse Kotirung der ältesten erhaltenen
Arbeiten dieser Art. Die Niederländer hatten von jeher viel Sinn
für Hausmusik, för Qesellschaftsconcerte. Das Einaige, was daf&r
»rmcepx atquo in tenore secundi Agnus de missa h souvenir, quaa cele-
oerrimis oantoribus Leonis decimi Pontificis Maximi misimus, pernotatum
est. (Fraaddniis (Hfor, Apologia adv. Josanem Spatariam.)
1) Codex N. 11883.
2) Canti cento oinquanta fol. 79. I>er Bass ist ausdrücklich mit
,,Lome arme" beseiohnet.
Der ftvagebildete Tonaats.
418
aufzutroihen war, hostand eben nur in beliebten weltlichen Liedern.
Dariihcr einen (Tesanp: ,.snf)ra lihrvtn" zn improvisiren, wäre den
immeriiin kunstgeiibten (ie.sanf^lVeuiiden doeli eine zu schwere und
zu wenig ergötzende Aufgabe gewesen; hier niusste die lies facta,
die gwchriebene Composition aushelfen. Von dem angeborenen,
von Guicciardini gepriesenen glücklichen Talente unterstützt, führte
man in heitern Gesellschaften, in den Salons, wie wir nach heutiger
Weltsittc saften müsstcn, künstliche polyphone Sinp^stücke aus und
freute sicli, sowohl den bekannten und beliebten Liedern in einer
80 preist reichen Markimng zu begegnen als die eigene Geschicklich-
keit daran zu beweisen, wobei sich, «'cht niederländisch, keiner
auf Kosten des andern vordringlicli erwies, sondern alle fiir einen,
einer für alle einstanden. Nicht einmal die r^riipott-iiz. welche die
Oberstimme durch Zuweisung der bekannten Melodie erhalten hätte,
liess man su; die Volksweise lag im Tenor, jede Stimme war gleich
wichtig und keine davon blosse Begleitmig.
Als sich diese Singemanier, ^as ohne Zweifel sehr bald ge-
schah, die allgemeine Gunst erworben, wollte man dergleichen
statt des armseligen Fauxbourdons oder des doch immer nur auf gut
Glück auszuführenden improvisirten Contrapunkts auch in der Kirche
hören. Die Tonsetzer, p^ewohnt weltliche Lieder zu verarbeiten,
nahmen solche auch für ihre Messen; sie mochten ihnen für die
neue Con» positionsweise handlicher und sogar oft zweckmässiger
scheinen als die Sequenz- und Prosamelodien des Kirchengesanges,
auch hatten ja die schon früher in Frankreich zu Ritualmelodien
„eingezwängten gemeinen Tripeln und Motete" an AehnUches ge-
wöhnt Anstoss daran zu nehmen fiel vorläufig Niemandem ein,
80 wenig als es einem Menschen in ganz Gent einfiel darüber
Lärm zu machen, dass auf dem weltberühmten Flügelaltare mitten
unter den Bildern der Heiligen und Engel höchst gemüthlich der
wohlbekannte Herr Jodocus Vyts mit seiner Frau Lisbettc (als
Donatoren) knieten und ihren Theil Verehrung mit in Emi»fang
nalimeii. Der Niederländer mischte sich und sein eigenes derbes,
kerngesundes Leben ganz unbefangen unter das lieilige, und es
erregte nicht das geringste Bedenken, wenn auf dem Bilde eines
Flügelaltars Maria den Gruss des Engels in einer säubern
niederländischen Stube entgegennahm, Christus von Pilatus vom
Sdller irgend eines niederltodischen Rathhauses herab dem Volke
vorgestellt wurde, oder wenn er das Mahl zu Eniaus in einer echt
niederländischen Taverne einnahm. Ist es dann ein Wunder, wenn
das Volkslied eben so naiv und unbetangen auf den Kirchenchören
Platz nahm, ohne dass ein Bischof oder Erzbisehof trotz jenes
Decretals des Pajistes Johann XXII. etwas dareinzureden fand?
Der Werth der Comp(»sitionen, der Kuf der niederländischen Mu-
siker bahnte dieser Art Musik den Weg auch bis selbst in die
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414 Die Eniwickelang de» mehniimmigen GesangM.
päpstliche Kapelle, wo man veminthUeh Einspraehe erhoben hKtte,
wenn die neue Manier dort snerst ihre Versnehe hStte anstellen
wollen, statt als «n Fertiges und Anerkanntes mit den nieder*
iXndischen SKngern über die Alpen herttberzakommen.
Hier, in iler pftpstUchen Capelle, haben die Niederländer jene
echte hohe Kirchenmusik ausbilden helfen, die auf ihrem Gebiete
bis heute unübertroffen ist. Schon in der ersten niederländischen
Schule xejf^en sich die zukuut'treichen AnOiuge des Styles, den man
als Stile da Cappella zu bezeichnen pflegt: ein Styl, der nach
einer beinahe zweihuadertjährigen Entwickelang seine höchste
VeiklMrung in Palestrina gefhnden hat, nm sodann bald genug
von einer gans nenen Tonkunst, wesentlieh weltliehen Ur-
sprungs, verdrängt zu werden.
Von Wilhelm Dufaj, dem glänzenden Morgenstern der ersten
niederländischen Schule, zu Palestrina geht jene stetige Entwiche-
lung in einer Reihe edler Meister und bedeutender, selbst herr-
licher Kunstwerke; sehr analog wie gleichzeitig auf dem Gebiete
der Malerei eine ähnliche von den alten floruQtiQer und sieneoser
Malern zu Raphael Sanzio geht.
In den Weiken dieser Sehule tritt endlldk eine ▼ollslladig
ausgebildete Kunst henror. Es ist kein Widersprueh, wenn im
Einseinen vielfach Befangenes und Unentwickeltes nachsaweisen Ist,
und wenn diese so eben als Tollständig ausgebildet bezeichnete Kunst
doch seihst erst wieder nur als der Anfang einer fast sweihundert
Jahre dauernden Entwickelung erscheint. Vollständig ausgebildet ist
sie in dem Sinne, dass die ihr angehörigen Tonsetzer nicht mehr
tastend und experimentirend nach den Gesetzen der Kunst suchen,
sondern im vollen bewussteu Besitze der Kunstgesetze das ihnen
entsprechende Kunstwerk an seheifon vermögen, ffier treten snm
erstenmale Musiker auf, die nicht Seholastiker, nicht Aknstiker,
nicht Mathematiker, nieht Arehiologen, sondern witkliehe Kttnstler
sind. Daher haben sie auch Arbeiten geliefert, welche den Rang
giltiger Kunstwerke fUr alle Zeiten einnehmen Es ist in diesen
Arbeiten, bei noch knospenhaft unentwickelten Formen, eine
eigcnthümliche Holdseligkeit, etwas, das an Rosen wangen und
Blauaugen aufblühender Mädchen erinnert. Auf ihrem (lebiete ist
diese Schule ein SeiteustUck zu der gleichzeitig und ebenso plötzlich
hervortretenden Cölner Mnlerschnle, deren vorwiegenden Charakter
Kngler im sich aussprechenden ,Jdealismns** findet Idealismus
ist der Gmndzug auch Jener Tonwerke.
Der Tonsats beschrSnkt sich snweilen noeh auf die alter-
1) Kiesewetter (Gesch. d. Mus. ä. 4Ü) will eben auch nichts anderes
sagen, wenn er in seiner mhigen Weise heraeikt, dass man die Oompod-
tionen dieser Schule „noeh heute ohne Anstois, ja mit Wohlgefallen hören
kann": den Arbeiten einet Do&y gegenflber allerdings ein etwas kObles Ijob.
L^iyiu^uo Ly Google
Der anigelrildete Tonaati.
415
thümliche Anordnung in tlriü JStiiniiit ii, wo sirli über floii f^cfi«'-
bt-nen Tenor eine höhere Stimme f'iSV /e/V'iv^ unter ihn eine (irund-
htimme (Basis) stellt, oder wo sich diese zweite (i egenstimme
swisehen den Tenor und die OboBtimme als Gontrnfcenor einschiebt
(Messe Omme ann^ von Fangaes, Messe von Bt:ichois, eine Anzahl
weltlicher Lieder von Dnfay u. s. w.). Ins^raein aber tritt der
Sats vierstimmig anf Fiinfstimmige Compositionen sind scltcnert
in solchen erscheint der Tenor als Spruchsatz, der ir^rond einen
eigenen Toxt und Satz immer wiederholt. So singt bei Eloy der
Tenor durch eine pranze Mess<» dieselbe Notenphrase mit dem Text«
„Dixerunl discipuli" in Ilaltenoten , während die anderen vier
Stimmen in bewegterer Satzweise contrapunktirend den Ritualtext
der Messe Kyrie u. s. w. hören lassen. (Dieselbe Anordnung bo-
hUt noch Jacobns Barbirean [starb 1491] für seine streng altei^
thttmliche fiinfstiininige Messe „virgo parens Christi** bei.) Zur
Abwechslung Icommen im Verlaufe eines Iftngeren Werkes auch
wolil zweistimmige Theile, Sätze y^duarum uocim" vor (das eine
Agnus der Messe Ecce ancilla Domini von Dufay). Die Compo-
sitionsweise ist streng diatonisch über den Gregorianischen Gesang,
sie bewegt sich daher in den Kirchentonarten. Uiernuch bezieht
sich der Gesang auf die vier Finaltöne D, E, F, G, wird aber
auch mit Beibehaltung der Tonreihe auf die Oberquarte transponirt,
statt D E F0 auf G Ä B C mit einem voigeseiehneten b (CatUus
mcüis)* G^esXnge ttber die Tonreihe von A und C kommen andi,
aber seltener vor. Bei der auf O belogenen Tonart wird , wenn es
Unterscheidung vom transponirten C und Kenntlichmachung des
Myxolydischen gilt, nebst dem auf die sweite Linie gesetzten
G^BchlUssel auch noch das b auf die fUnfte Linie gesetzt
Dnfaj's Messe „Taut je me deduis**). Wird im Laufe eines Ungeren
Stttckes vorabergehend eine andere Tonart berOhrt, so ist es immer
eine solche, die auf einer der diatonischen Stufen ihren Sita hat.
Oft ist die Wendung von Dreiklang zu Dreiklang von frappant
feierlicher Wirkting. Der rielitige Gebrauch der znfallijr<'n Er-
höhungen und Kniiedri^nnpren (Accidentien) ist dabei von irmsser
Wichtigkeit. So liui^n- der Gregorianische Gesang im Kiiiklan<re
gesungen worden, konnte die allerstrengste Diatouik mit starrer
Consequenz festgehalten werden. Im mehrstimmigen Gesänge war
solches nicht m9glich| ohne das Ohr durch widematttrliche Zu-
sammenklMnge unertrXglich an beleidigen^, Man griff sa dem
1) Schou Elias Salomouis hielt den Satz zu vier Stimmen für den
wahren, wesentlidien; doch ffeht er darin sn weit, dast er den Satz ver-
ficht: ein mehr als vierstiimiii^nT Gesang sei gar nicht möglich (Man
sehe die betrefifenden Stellen bei Gerbert Soriut 3. Bd. S. 58).
2) Das uatilrliohe Urtbeil des QehOres wurae keineswegs onterschfttzt.
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416
Die Entwickelnng des mebrtiimiaigen GmogM.
Auskunftsmittel der Musica ficfa, und dasssit' den Meistern der ersten
niederländischen Schule etwas Gewohntes war, beweisen die zwar
nicht häufig aber doch in einselnen Füllen im Laufe eines Tonaataes
an sweifolhaften Stellen ansdrücklich beigesetsten Zeichen^). Da-
gegen wurden bei Cadensen die Erhöhungen stillschweigend vor^
auKgeHotzt nnd nie ausdrücklich vorgeschrieben, ebenso wenig das
fa (hei h und e\ wo es sich nach der allgemeinen Regel von
selbst verstand. I)erp;loiclien fi^alt als löbliche, ja uncnthchrliche
Praxis, wie sie der tüclitif:;'o Siiiif^er immer haben musste '*). Pietrn
Aron, der lu riiiinite Florentiner, der freilich einer bereits fort^^fe-
Bcliritienen l^pothc an^M-liört , kommt in dem Anhange (agginvta)
der zweiten Auflage seines Toscanello (erste Aufl. 1523, zweite 1539)
darauf zu sprechen. ,,Gott lasse uns'', sagt er, ,,uachdeni er uns
im Allgemeinen geoffenbart was gut und was böse sei, im Einseinen
die Freiheit nach unserer Einsicht su handeln und Gute oder
das Böse zu wählen. So s^ es in der Musik mit den Zeichen
(SegnaU und Wer, wo mehrere Wege führen (piu straAe da
pofere caminare), nicht genau weiss, welches eben der rechte We^
sei und wo er sich bin zu wenden liat (per quel pae.sc andwe),
werde selir leicht aut Irrwer!;e f^eratlien. Die Componisten meinen
freilich, ihre Gesänge müssen von Sachverständigen und geübten
Ausführenden wohl verstanden werden (die gli loro caiUi h<ibbino
a e89ere inUsi da 0 datü e huoni praiichi), aber es sei doch
besser die Accidentalen ausdrücklich beisusetsen*)."
Adriiin IVtit-Coclicus. .losquin's verdicnstvnllerSchüler und aellist ein tüch-
tiger Lehrer (in Nürnberg) sagt: „Adhibebit enim somper suarum aurium
jadicinm. Aares enim quid recte, qnid seons fiat, faoile inteüigunt et
sunt artis canendi mafjfistri
1) Z. B. gleich im ersten K^rio der Hesse Se la face ay pale von
Dufay im Alt ein |/*. im Bass em b.
2) . „come si vcda in aloani, che qnesto molto bene fanno**, sagt
Aron (Tüscanello II. '2^').
3) Im 20. Capitel aua 2. Buches des Toscanello (del Diesis) redet
er von der »«aooiaental figura - und bemerkt, dsss die IMesit eigentlich
R-ufcn Siirijrern gpfjfpnüber für selbstverständlich genommen werde: ..benche
tal seguu appresso gli dotti e praiichi cantori manco e di bisogno, ma sol
81 pone, perond forte 11 mal prattioo e non intelligente oantore non da«
rebbe pronuntia perfetta a ta! positione ovver syllaba, percbc essendo
uaturaimente dal mi et sol uu scmiditono^senza quel seguo esso oantore non
oantarebbe altro che il suo proprio, se tfia Voreeehio uon gli dessi ajuta**.
Man sielit aus dieser Behaujtfung einer grossen gleichzeitigen Autorität,
dass also Kiesewetter den Ausichten der Alten nicht zu nahe tritt, wenn er
8.48 seiner Musikgpsohiohte naohdrüciclich darauf aufmerkram maeht. dass
die Sän<ror ja „für Menschenohren und zwar für geüVite Menschenohren
sangen ' und dass als) noch ganz andere Bücksichten in's Spiel kamen als
eine vermeintlich unbeugsame diat »nischeConscquenzaafKosten des Ohres,
anddastman in jenen Compositiunen nicht „diatonische Stereotypen, wie ein
Clavior «duic Obcrtnsti'u ' sich vorntjdlen dürfe. Durch eint' solche Modifizi-
ruug wurde nach Arua's Auseinandersetzung die Note ansich nicht, sondern
nur das Intenrall geSndert» „peroh^ quel segno non aooresoe et dimiimisoe
Der aasgebildete Tonsats.
417
Nor durfte dadurcli der Charakter des Klrcbentonea nicht aer-
uVBni werdeTi, <lnnim machen die alten Meister bei dem pbr}'gi8cheii
Ton (auf E) die Cadenc nicht mit der Dominante, sondem mit den
Dreiklängen der zweiten oder vierten Stufe, Aveil das Siihsetnitonium
den Accord H j^d jj^f bedingen würde (nidit H f), gerade /'
(die kleine Oberhecunde) aber der charakteristisehe "^ron des })liry-
gibchen Modus ist. Das Charakteristische der l'onarten ibt die
Venchi^enli^ der Arten von Quarten und Quinten, aus denen
sie susanunengesetst sind: diese hat daher auf die Cadensbildung
wesentlichen Einfluss^).
la nota (er läpsl für beides gelton: „qua! sia la nota auijniontntri o dimi-
nuita"; in Hobrecht's Ave regiua in den Canti cento cinquauta kommt es
gleidi anfangs wirldich in der Bedeutung eines \f vor), oltre al t uo ▼alore,
ma bene accrcsce et dinunuisfe il spatio et intrrvallo tra nnta o nota appa-
rente, iu quauto alla imagiiiazione et optrazione, ma neu iu quanto alla sua
ajipareutc locazione (Agg. del Tose). Frätorius im Syntagma (3. Th. S. 32)
erklärt die ausdrückliche Beisetzung der Accideutalen für „hochuöthig nit
allein vor die Sänger, damit dieselben in ihrem Singt-n nit intorturbirot
werden, sondern auch vor eiui^tige Stadtinstrumeutislen und Organisten,
welche Musicam nü recht ▼erstehen, vil weniger recht ringen kOnnen, and
daher, wie ich sclbstcn zum öfti rcn gesehen und crfalircn, keinen rechten
Unterschied hierinnen zu machen wissen, zu geschwcigen dass der Compo«
nisten ihre Composition also beschaffen, dass diese beiden Signa Chro*
matica an etlichen Oertcrn gebrauchet, an etlichen aber nicht
in Acht genommen werden dürfen." rrätorius erzfthlt, dass viclt-
Componisten das Beischreiben der Zeichen sogar ausdrücklich verboten ^
jeder wisse ja, dass snr Gadens der Schlnsston ehien Halbton vor rieh ver-
lange, dass ein Triton zu vomieidcn sei. Die Schreibart ist in der That
nachlässig genug. So setzt z. B. Joh. Gero im Verlaufe seines Ave
Maria einmal ausdrücklich b vor eine Note und unterlftsst es späterhin,
wo »ich die Stelle Note für Note wiederholt. Solcher Beispiele liessen
rieh fast zahllose anführen.
1) Arou ToBcanello II. 18. Umständlich bandelt Aron über die Caden-
sen auch im 89. Capitel des S. Bvehes seiner Lihri tres de institatione har-
monica. Er sagt hier unter andemi: ,.St ienduni autcm ilhid est, cadeatias
omneis, quae terminatae per tonos monstrantur, debere suspendi et primnm
quidem secum ordinem tenet Re Ut Re. Sequuntur autem Ali Re Mi, Sol
Fa Sol, La Sol La. Quae vero per semitoninm pronuntiantur, suspendendae
non sunt, sicut Fa Mi Fa, nam haec quidem naturalem habcnt sccum sus-
pensionem". Dass unter dieser Suspensio die Erliöhung um einen Haibtou
SU verstehen sei) seigt nicht nur dw Zusammenhang der SteUeu sondern gans
ausdrflcUich die Aggivnta des ToscsneUo. An« gibt hier das Notenbeispiel :
und bemerkt dazu: „che quella ultima brcve (im Alt), o veramente inter-
vallo ultimo habbia a essere sospeso" d. h. als vorletzte Note ist /is zu singen.
▲ab rot, G«s«bicht« dsi Motik. U. 27
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418
Die Entwickelong des mehrstimmigen Gesanges.
Die wichtige Begel, dass mne Stofe ttber /» stets la va singen ist,
war den Meistern der ersten niederlSndisclien Schule geläufig, wie
Stellen ihrer Compositionen zeigen, wo zur Vermeidung des Tri-
tonus nothwendig fa gesungen werden musB, und gleichwohl kein
b vorgezcichuet ist. Aber dieses „Semper est canendum fa" pralt
doch nicht so ausnahmlos, es |^ab Combinationen , wo eine Note
supei' la doch das Intervall eines ganzen Tons zu singen war; auch
hier wurde den Sängern ein feines Unterscheidungsvcnnögeu 2ugc-
trant^). Im dritten «atbentisehen Ton (von F) der „lydischen**
Tonart trat der Tritonns f — h schroff sn Tage, er wurde daher
Bum by der reinen Quart^, gemildert. Glarean bemerkt , dass man
„den lydischen Ton wie in gemeinsamer Verschworung gleichsam
des Landes verwiesen habe". Die also entstehende Tonleiter
entsprach aber der natürlichen Skala von C, so wie die Ein-
mischung des b in Skala von D dieses der Skala von A entspre-
chend gestaltete. So erwarben sich auch diese zwei Tonreihen
das Bürgerrecht. Zweifelhafter ist es» inwieweit bei blos Icite-
tonäbnliäien Appoggiatnren ^B. ä e d e \ f) etwa Erhöhungen
gesungen worden, ffierttber fehlt, ausser der allgemeinen Ver^
1) Lucas Lo8«iu8 (ErotcmatA, Auspfulx! von 1570) sagt darüber im
2. Capitel: „Si vocem la una vuce taiituni notula cxcesserit, ea plerumque
(ganz richtig! nicht „semper**) fa canitur, videlicet %tbi eanhu natwra
admittit, alioquin harmonia ((uif i-nriis vociluis offenditur, et sie tintonos,
quintas imperfectas et similes dissunautias cdit". Bin überaus lehrreiches
Beispiel enth< gleich der Anfang des Kyrie Taut je me dednisvonDa&y:
Kyrie eleison.
m
fa^^ 1 m
7
1^
r
i
(Im Orig^inal sind dio Accidentien nicht beigosolzt.) Der Sopran mus3
nach der Kegel im zweiten Tempus b singen, dagegen der Alt im vierten
anscheinend gegen die Regel K Woher die üntendieldaBff? Wefl hn
Alt der Bftokgiiiig (nach a) nur ein schembarer, nur eine Zwischenstufe
YOr c, und der Gang in der That aufsteigend ist. Das h im Disosnt hO*
wirkt» dass auch der Tenor b singen muss u. s. w.
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Der «ufebüdete Tonaats.
419
weuang auf's „Ohr", jede feste Begel nnd scheint dem Geschmacke
und der Einsicht der SXnger in der That ein grtfesei«r Spiel-
räum gestattet worden ku sein^).
Ein sonderbarer IdiotiBmus ist eine oft Torkommende Cadonz-
bilduDg, bei welcher zwischen den Leite- und Schlusston die
kleine Unterterz dos letzteren, beziehongswttse die grosse Sexte
des Gnmdtones eiogeschoben wird;
Dufay
Kyrie: Tant je mo dcdois.
Oroeifixas: Eooe anoilU
SLSL
8ul) Poutio Jfc*üat4.»
1
Eloj. Sohlote d esA gnoi; Dixenint dincipuU.
1 ^
m
Diese Cadcnzforra erscheint storootyp in den Kltt-stcn italiniisilion
Corapositionen des 14. JahiliuinltTts (z. B. bei Fraiicesio Lamliiio),
' wie in den ältesten irauzösi»ehen und niederläudisclieu aus der Epoche
unmittelbar vor Ihthj (z. B. in jenem TordrwShnten „mais qui*!
TOUB Tiengne"; in H. de Zeelandia's i,een meysken"), sie prXvalirt
noch entschieden in den mathmasslich Xltesten Chansons Dufaj's
und Binchois*. Sie klingt ans sehr fremdartig, weil sie den Zu-
sammenhang des accordmässig und natilrlich geordneten Schlusses
unterbricht. Damals, wo man von einer Hannonielehre noch lange
1) Einen richtigen Anhaltspunkt gewihren die Werke Girolamo
Froscobiildi's. Dieser prasse Orgclmeister, an der ({hiiizi' der frrnssou
Musikepochen (vor und nach 1600) stehend, schreibt seine lebhatteru tigu-
rirten »fttze, seine Toccaten, Biceroar n. t. w. schon in der neuem
Tonart, d. i. in unsenin Dur nnd Moll, weil fvlr rasche Bewejj^uTij; die
Kirchentöne nicht gut taugen. Seine A U'^:ir)>eitunijen übi-r ulte kirch-
liche Ganti fcrmi setzt er streng in den Kircheutünen, und hier wendet
er allerdings erhOhete Appoggiatureu wenigstens stellenweise an, z. B.
im Kyrie deUa Domenioa im Alt: fed jj^each 9^ and: f • d^e • f d
f C VL B. W,
»7*
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420
Die Eniwickelung de« mehrstimmigen Gesanges.
nichtR wuBste, konnte sie, wenigstens tiieoretisoh genemmeni nielito
Bedeiikliclics haben.
luilen ausgebiUleteren Chansons (z. B. Pufftv'sCentmilleescut«)
und in den KirchenstUeken der Meister der ersten niederländischon
Schule theilt demgemftss diese aus einer noch älteren Kunstepoche
ererbte Schlussform die Herrschaft mit jener vollkommen und schön
ausgebildeten, flbr den niederlilndisehen nnd den ans ibm hervor-
gegangenen Capellaslyl so ebarakteristiBehen stets wiedetkelirenden
i • i
I und II j I. Von dieser Form
mehr verdrängt, blieb die alt er o
Cadenzbildung mit der ,, sonderbaren "Wechselnote", wie t>ie
Kiesewetter nennt, bis in das 16. Jahrhundert unvergessen, von
1500 an kam sie allmälig ausser Gebrauch, sie erscheint hier
meist mit der kleinen Eigenheit, dass die lotsten Noten in Send*
minimen gosetst sind:
SoUttMd. Sanotos a. d. Messe: Ave maris steQs, t. Joequin de PHs.
und stet« wirksamen Cadeuz V
Tonschlusses mehr und
ics
De
■ — :
zz — tn — i"B^i
— £^
U8 Sa
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Domians
m
-OL
^^^^^
Im
nth
ba - oth.
TT ftF^
Ssbaoth
11^
otb.
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D«r «NgalnldAto Tornttt. 491
Aof der Motette: Exortum est in tenebris, von Leonard Barrd 1648.
ab«?:
ZT
et
mi-se
ra
mi • se - ra
•i*
mi • se • r»
tor
6^
ni-M-im
tor
tor
NB.
•tos
^ r r r f r
I
tor et ju
fltns
19-
Sias
ja-sttts Do
QU
nns.
Die Ansicht, als sei diese Cadenzform eine Folge der Scheu
vor dem Gebrauche des Sabsemitoniums als tingirten Tones, um
die strenge Conseqnens der Kiiehentilne nicht sa vedelieii, wird
gans einfaeli dnzdi den Umstand widerlegt, dasa sie ancli auf f
und c vorkommt, wo das Subsemitoninm « nnd \ doch ohne
Fiction im System liegt (Bchlnss der Chanson qa*il vous viengne
und des Benedictas aus Ecce ancilla n. s. w.). Sie mUsste
doch wohl aus gleichem Grunde vor allem im Gregorinnischen
Gesänge selbst vorkommen. Dies ist aber durchaus nicht der
Fall. Aus dem Grundsatz bei Aron, Ornitoparch u. A. , dass
die Sexte gern in die Octave fortschreite, ist sie auch nicht zu
eiUlren, weil diese Cadens wohl auf der Sexta toni heruht, im
Moment des Auftretens aber nie im Znsammenklange einer Sexte
erscheint. Sie bleibt einstweilen rithselhaft.
Der Tonsatz ist streng poljphon; ein Unisono zweier oder
mehrerer Stimmen kommt nie nnd nirgends v^r. Wie nnn aber der
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42d Di« Bntwiokelimg dM mebfiiiiBiiiig«!! Oenngn.
polTpbone TosmAi leinen Ursprung daiin hat, dam den TBnm
eines gegebenen Cantas fiimnt in einer oder in mehreren Oegen-
sttnunen Air snlftMig gehaltene oder wirklich inliMrige Intervalle
entgegengestellt wurdeOf konnte sich die Polyphonie erst dann sn
etwas Sehdnem gestalten, als man durch anhaltende Uebung dahin
gekommen, in den Gegenstimmen die Intervallfolge nicht nur mög-
lichst fliossend, sondern selbst wieder zu einer selbstbtündig durch-
getVihrten Melodie zu gestalten, die nicclumische Arbeit des ehe-
maligen OrganiHirens und Discantirens zu künbtlerischem Schaffen zu
erhöhen. Spuren dieses Ueberganges machen rieh noeh in der ersten
Sehnlefilhlbar : helEloj, einem tüchtigen Meister derselben, haben
die Sitae im Oanaen mnen gana belnecBgend an^reehenden, selbst
einen gewissen solennen Klang; im Einzelnen überlassen die Stimmen
fliessenden Gesang bedeutend vermissen, sie haben durchweg noch
8chro£fe, harte Contouren'). war freilich gar sehr Sache des
individuellen Talentes; bei Dufay, gerade dem fi'ühesten Meister
der Schule, flicssen die Stimmen in Bchonoiii Masse, in reinem Wohl-
laut von Absatz zu Absatz hin, sie haben eigenthilmlich ariosen
Zug, der sogar noch bemerkbarer wird, wenn man sie einzeln in's
Auge fasst, als im Zusammenhange, wo snweilen hohle Zusammen*
klttnge oder 11ber*s Knie gebrochene Harmonien der Schönheit
der Gesammtwirkung Eintrag thun. Wie hier nun drei bis Vier
Melodien wie StrSme nebeneinander hinsiehen, aeigt sich auch
hier schon eine ausgebildete Kunst.
T)ie späteren Theoretiker glaubten aus den Werken der ,, Alten",
d.i. der älteren Niederländer, die Kegel abstrahiren zu sollen, dass
man mit dem Sopran anzufangen habe, wonach der Tenor, dann
der Bass, zuletzt der Alt successiv eintreten 2). Aber nicht nur
Dufay, Faugues u. s. w., sondern «ueh noeh die Meister, welche den
Uebergang aur sweiten Schule yermitteln, wie Busnois, Caion n. a. w.,
lassen gern alle Stimmen gleich mit einander beginnen, oder aber
awei oder drei Stimmen, denen sich wenige Tempora spXter der
Tenor gesellt u. a. w. Die Stimmen gehen insgemein jede ihren
gana eigenen Weg ohne irgendwelchen inneren thematischen Nexus
mit den übrigen; auch hierin liegt noch eine Reminiscenz an die
Entstehung aus dem Caulua aupra librum. In Dufay 's Messesätzen
1) Man silie die beiden von Kiosewettcr mitgetheilten Satze Eloj'V
Baini geht indensen ohne Frage viel zu weit, wenn er behauptet, dass die
Melodien dicHcr ganzen Schale „meist ohne Osatilene, 8chwer»llig und
hart, die I'hrasen ohne Bedeutung nind". Er ist zwar so billig wenigstens
Dafay's (\tiii])ositionen als orfreulicliere Ausnnlinieu pelton zu lassen.
£r hätte dauu aber gerechterweise auch Vinceu/ Fuugues neuneu sollen,
Anderer zu getchweigen.
2) Modulatio secundum vcti rum morem et institutionom primuni quidem
a cantu inchoanda est. äubse(^ui tenor debei. Tertio loco Bauoa. d^uarto de-
muui (|ui dieitur Altus. . . Kostri ttmen temporit eompositores üufle depre-
bendimtur haue non senrare GOn9uetadinem)Pietro Aron, de inst. haim. IIL10)i>
Digitizea L7 GoOglc
Dar «uf«t»fldeto Toniati. 423
seigen neb, wenn er nieht etwa einmal iwei Btfanmen an einem
gans strengen, aber dann doch nur knnen Canon verbindet, eben
nur keimartige Ansätze zu Imitation und thematischer Arbeit. (An^
fallend reich an imitirenden, sehr glücklich angebrachten Einsätzen
ist sein sehr merkwürdiges weltliches Lied von den f,hunderttausend
Thalern."). Fast gleicht es rincm blossen Zufall, wenn gleich beim
Anfang des Kyrie tant je me deduis der liass das Liedmotiv gleich-
zeitig mit dem Tenor und zwar gegen diesen in vierfacher Ver-
kleinerung, aber nur durch zwei Tempora und nur die ersten sechs
Noten davon bOren lltosti}. Die mnsikalisebe Conseqnena des
Sataes, die man später in tbematiscben Durch Atbmngen u. s. w. snehte,
war einstweilen genngsam, freilicb aber nur äosserlieb gewahrt,
wenn nur der gegebene Camius finnus durch den Sata tren nnd
sorgsam beibehalten wurde: er bildete den sichern Kern, an den
die anderen Stimmen krj^stallisirend anseliossen. In Dufay's Messe
Omme am<? singt der Tenor im ersten Kyrie einfach sein Lied
ab, nur gegen den Schluss hin treten etwas bewegtere Gänge
ein. Im Chiste fuhren die zwei höhereu Stimmen 31 Tempora
lang einen freien Sata durch, dann tritt der Tenor und ein Tempus,
später der Bass binzn, ersterer mit einem Fragment des Liedes.
im aweiten Kyrie singt der Tenor das Lied aweimal nacheinander,
das erstemal nachdem er fünfzehn Tempora pansirt, dann, ohne die
Yorpansen, doppelt verkleinert in den Notenwertben, was Dnfaj
dnrcb das Jiotto aosdrtlckt:
Canon: ad mediun reftns; panisa Unqaendo priores^
Die Combinatlonen dieser Stimmen geben dnrebsichtige, klare Hai^
monie, die tadellos rein ist, aber nicht immer aucli durch Klangfülle
schön zu heissen verdient, obwolil die magern oder scliroffen Stellen,
die kindlich unbeholfenen Wen<lungen, welche durch eine ein-
geschobene Terz u. dgl. so ganz leicht zu verbessern wären und
die eben auf Kechnung der noch kindlichen Kunst kommen, doch
nur zwischendurch vorbeigehen, und der [natürliche binnund Schick
der Meister sieb doch vorwaltend in Harmonien von ttboraschend r
edlemKlange bewährt Qnintparallelenwerdendnxeiians gemieden*), <
1) S. Notenbeispiel S. 418.
2) S. die Beilage. Kiesewetter (S. 49) erwähnt dieses Bäthselmottos:
„dahinter icii zwar da« vermnthete KuisUtflek niebt fimd", sa^ er. Yeiw
muthlich las er: ad medium referas pausas; linquendo priores, und da war er
freilich auf falschem We|[e, der nicht zum Ziele führen konnte. Die Sache
ist endUch doch so 'deuthch, dsM Hermann Fiaelc, der den gan* ibnlioben
Caaon mtirt: undecies canito pausas linquendo priores (er steht b^m Bt in
terra in Josquin's Messe GniuleamuB) gar keine Erklärung zxx geben fBr
nöthig hält: Versus ^er so plauus est, ergo oxj^licatione non indiget.
9^ Die Quinten m Dufiiy*! erstem Kyrie l'bomme arm^, wie es bei Kiese-
wetter vorkommt, stehen zu vereinzelt da, um nicht für einen Copisten-
fehler (wie dergleichen in den alten ^iotii uugen leider oft genug vorkommen)
Digitizoa by CoOglC
424
Die Bntwickeliuig dM mahnttmmigai Omagei«
es inrd ihiieiL dnreli Gegegenbewegang vorgebeugt, oder de wwdeii
dureh eingetehobene ZwisehentSiie, die dann Jedeemel GoBsonamen
rind, getrennt, oder durch punktirte Noten oder Syncopirungen
atueinander gehalten Die DiMonanien „erscheinen Uieils im
Durchgange, und dann immer so, dass dissonirende Accorde auf den
schlecliten Takttheil kommen, was die Schule heutzutage den regel-
mässigen Durchgang nennt; theils kommen aber auch schon disso-
nirende Accorde als Verzögerungen eines consonirenden Accordes
4 5 6 7
snm yoraehein, wie 2 4 5 3 nnd »wer lind lolcke gehHiig
vorbereitet nnd en^^löet, so reg^mlnig, all es noeh bentratage die
mnsikalisebe Qrammatik nnr immer fordert**^. Dmrdi dieses nn-
l^clten zu müssen. Auch stimmt das / nicht gegen den Zusammenklang c
und g der swei anderen Stimmen. Offenbar sind im dritten Tempos die
drei letsten Bifinimen um «ine Ten sn hoch sageMtst, es mvM bdsien
♦ ♦ ♦ b
Diidurch entstehen zwar abermals Quinten gef^en den Discant, aber Quin-
ten, wie man eio auch noch bei späteren Meistern tindet und die nichts Be-
leidigendes haben, hier sogar ener^j^inch klingen. Bei dieser Gelegenhmt
seien nodi nachstehende Druckfehler in Kiesewetter's Musikbeilagen
(Aoagsbe Ton 1884) bemerkt: S. IX , Syst.^1 Tac t 4 mow der AU beiiian:
S. (Kyrie, Se la face) Syst. 2 Tempus 6 musa im Alt tUtt stehen^.
8. XT TT rEloT. No. 6, Kyrie, Dixenmt ditoiptdi) Syst 1 Tefipni 1, Ist im
DisOSat der Punkt bei der ersten Semilirevis wegzulassen, S. aTTT, Sy?=t 2.
TrakpOB 1, muss es im Goutratenor (der zweittiefsten Stimme)} heiasen:
^>
S. IX. Syst Tempas 6—6, mnts der Tenor heissen:
1) Ein sehr tüchtiger Meister der zweiten Schule Brngher oder
Bruhier (wohl in der Capelle Leo X., denn Theophil Folengo nennt ihn
alSnBroyer" mit anter der„IieonraM sqoadra capellae") hat in seiner Heese
Mediatrix nostra davon sehr sinnreich Gebrauch gemacht. Im Kyrie singen
Bass und Tenor den Cantus firmus in reinen Quinten. ftl>er dureh geoohiokte
Anwendung der weissen Note in der einen Stimme und der Nota colorata
in der anderen stellen sich die Stimmen in lauter Syncopen gegeneinander,
wodurch, zusammen mit dem Dazutreten der beiden h/>heren Stimmen,
jeder Anstoss verschwindet. Die Messe findet sich in den kostbaren Musik-
bttohem der Ambruer Semmlong in Wien.
2) Kiesewetter a. a. 0. S. 49. Auffallend ist denn doch wobl, wie F<ttis
ad voc. I)uf:»y unter Benifung auf Adam von Fulda (noch mehr! mit aot-
drücklicheni Citiite) behaupten mag, Dufay habe den Vorhalt zuerst ange>
wendet, da doch Adam k <■ i n e S y 1 b e davon sagt. Vollends eines so grossen
Gelehrten unwürdig und unkritisch ist die Berufung auf einige Verse Mar-
tins le Franc, die auch nicht entfernt beweisen, was sie beweinen sollen.
Dar anigablldcto'Toiiwts.
495
ermesslich wichtige, mit voller Siclicrlieit verwendete Kunstmittel,
durch die so energisch Widerspruch und befriedigende Lösung
bringenden Vorhalte bekommen die Compoiitieiien hier snm ersten-
mal das Anaehen des fertigen mnaikaUaehen Kunstwerkes. , Unter
den Gonsonansen nimmt nlUshst der Oetave, theoretiBeh riehtig, die
Quinte den Vorrang ein, daher Anfang und Schluss der Tonsälzu
sich auf diese Intervalle beschränkt: denn, lehrte die Theorie, jeder
Abschnitt soll in vollkommener Oonsonanz bej^innen nnd scliliessen^).
Die Terz galt aber als unvollkommene Consonanz. Im Laufe der
Stücke wird sie oft mit schöner Klangwirkung, aber doch unverkenn-
bar mit einer gewissen Zurückhaltung zur Anwendung gebracht.
Dufaj liebt es unmittelbar vor dem Schlüsse in irgend einer meist
einftieh schönen Wendung de klangvoll hervortreten tu lassen
(Sehluss des Kyrie; „Omme ann6,^se la &ee aj pale, tant je me^
dednU**)« Daraus hat dann spiter der geniale Josqnin de Prte
etwas ttberans Schönes herauszubilden gcwusst, jenes den Sehluss
bezeichnende und oft verlängernde innigliche, sUsswehmiitbige Auf-
senfzen einer Mittelstimme, das man den „Josqnin'schen Selin-
suchtsblick" nennon könnte (Sehluss des Christe der Messen Fange
lingna, De beata virgine, Da pacem, der Sehluss desCiloria in letzterer
Messe, der beiden Kyrie der Messe Dmg aulire amer u. s. w., Sehluss
des Ave Maria in den Motetti 0)* Seine Mitsehtller und Mitmeister
haben ihm die Sache, wie es seheint, abgesehen: man findet den
Zug verefauelt auch bei Anton Brumel {ÄV9 Btgina eodonm in
Petrucci's Motetti C), sogar hei dem ernst-grossartigen, sonst nicht
sonderlich sentimentalen Pierre de la fiue (Andentungen davon
auch schon in Klteren Werken).
1) Tinotoris, der seine Lehren mm guten Theile ans den Werken
der Meister der ersten niederl&ndischen Söhlde geeohOpfb hat, sagt: Omnis
contrapunctus per concordantiam perfectam incipere finirique debet (de
arte coutrap. Lib. III. regula 1), JSo auch Oruitoparchus (Microlog. IV.
1, erschien 1517) Omnes caatilefiae partes in principio et fine veteres in
concordantiis perfectis posuere, quae lex apud nos arbitraria est. Für
Omitoparchus ist das Gesetz schon „arbitrarium/' So setzt auch Frau-
chfaras Gafor in fthnlichem Sinne als erste Regel des Oontrapnnktes: „Quod
prineipia uniusquisque cantilenae sumantur per concordantias perfectas,
videlicet vel iu unisonum, vel in octavain, vel in quintamdecimam, seu etiam
in quintam et duodecimam: quas et ai perfectae miniine sunt, tameu suaviori
sonoritate perfectis adscribnnt. Yemm hoo primum mandatnm non neoes-
sarium est, sed arl)itmrium, namqup porfoctionem in cunctia rebus non ])rin-
cipüs sed terminatioaibua adtribuunt. (Für die Schlüsse gilt also das (iesets
ausnahmslos!)^ Lide et imjfMrfeotis conoordantüs eaatilenarum ezordia ple-
riqne iastitnemnt (man ennnere sieh, dass Gafor's Buöh 1496 erschien!), nt
bis esemplis oomprobatur.** (FblgenNotenbeispiele mit Anilbigen f i i j
Bloy sdiliesst sein Agnus „dixemnt** mit dem Aooord Ggähg. vielleicht
aber ist das h im Alt für einen Copistenfehler su halten, und dass der
' Schlossfrll des Altes nicht heissen soll 3 sondern 3 g.
•426 I>i» JSntwiQkelonf das melinftinBugeB OeMagiet.
Die Notenschrifl erlitt um diese Zeit und zuTerlSssig durch die
K«ifter dieser Sebole die VerladeruDg, daas m die Stelle der
alten Bchwanen Notirong (der Franeo-Note, nole firtmeaiiimie, wie
sie F^tis nennt) die weirae, d. h. nngelllllte Neto eingefifliit innde.
Dabei erhielt die schwarze Note, wo sie vorkanii ^eNota colorata, die
Bedeutung, welche bei der schwarzen Notirung umgekelut der einge-
mischtpn weissen oder rothen Note ei{;^en gewesen war. Die weisse
Notinnip: vcrdrHnp^ jetzt rasch die ältere schwarze. Die Zeit dieser
Reform in der Notenschrift kann nin 1370 angenoramen werden.
Die allgemein zur Geltung kommende Anwendung der weissen Note
scheint aber, wie gesagt, völlig auf Reclmung der ersten Nieder>
linder gesetat weiden an müssen^). Es war dnrefaana kein nenes
NotiningBSTBtem, waa jetet in Aufnahme kam| die Note Inderte
die Farbe, aber nicht Wesen und Bedeutung, welche dieselben
blieben^). Dennoch aber nimmt sich das nanere weisse Noten-
System dem älteren schwarzen gegenüber aus, wie das fertige gegen-
über dem Werdenden. In der scliwar/-en Note arbeitete sich ein
sicheres festes System aus einfachen Anfangen heraus, in der weissen
Note wurde innerhalb des in seinen GrundzUgen abgeschlosseneu
Systems alles Einzelne zu der erdenklichsten Feinheit ausgebildet
und ToUendet, ja bis an die Grenze möglichster Verfeinerung gerflckt.
Die Musikgesdrfekte der Epoche yon 1880 bis 1600 hat gegen jede
andere Kunatgesehiehte das Eigene, dass sie gründlich auf Dinge
eingehen muss, die an sieb gleichgiltige Nebensache scheinen. Der
Gehalt der Ilias bleibt derselbe, ob sie in Majuskeln oder in Cursiv-
Schrift, mit oder ohne Accentuirung aufgezeichnet vorliegt. Die
Musikgeschichte aher muss sich nothwendig auf eine eingehende
Darstellung der Art und Weise der schiiltliclien Aufzeichnung der
Tonsätze einlassen, weil diese Aufzeichnung die Gestalt und den
Gehalt der Tonsitae eelhet sehr wesentlich mit bestimmte, und ins-
besondere die Kunst der beiden niederlXndisehen Schulen ohne ge-
naue KenntnisB der von ihnen angewendeten Uensuralnotimng nidit
einmal völlig verstanden werden kann.
Die Erfindung neuer Mensuralzeichen, die sinnreiche Anwen-
dung der Eigenheiten der Mensuralnote beim Tonsatze, die Durch-
bildung eines vielgegliederten Systemes, das bis zur Spitzfindigkeit
scharfsinnig durch seine Consequenz und den inneren festen Zu-
1) Wenn in der folgenden Darsiellang des Mcnsuralsystems der weisKcn
Notirung sich einzelne Lehren und Rcjroln wiederholen, die schon bei Be-
sprechung der schwarzen Notirung vorgekommen sind, so möge man solches
dem Streben nach möglichster DentUchkeit in einem so TieWerwiokdten and
iVt indarti^'cn Ciofreustande zu gute halten. Ton neueren Schriften über diese
Materie ist H. BoUermaxm's Buch „Die Meusuraluoten und Takizeichen'*
nicht genug zu empfehlen. Unter den iltem Autoren nehmen Sebald Heyden
und Hennann Fuk k einen hohen Rang ein; schade, dass die yortrefTliche
Fraotica mnrioa des Letzteren an den bibliogrsp hisofaen Seltenheiten gehAri.
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427
fau.uienluiiig wie durch vollständige Befriedigung jeder daran zu
»teilenden Anforderung Bewunderung verdient, und aus dem durch
V«cei]illiebimg und dureh Awwch^dung des Venlteten im Laufe
.des 17. Jalirliiindeits rnuer heotiges NoteDs^stem heiTOigiiig: daa
alias sind, wie Hermann Finck, der es noch recht gut wissen konnte,
bezeugt, snm grossen Thcil Verdienste derültesten niederländischen
Heister, welche diesem Zweige ihrer Kunst eine besondere Thätig-
keit und viel Nachdenken widmeten Es ist in der That bemcr-
kenswerth, daf?« die muthmasslich ältesten noch schwarz notirten
(."Oppositionen Dnfay's und Binchois' noch ohne alle Zeichen sind,
die späteren weiss notirten schon einen feinen Gebrauch der Zeichen
aufweisen nnd ans deren Werken Lehrer wie Tinctoris, Adam von
Fulda, Franchinus Gafor die Lehren sehSpften und gern mit eben
daher genommenen Beupielen illustrirten. Die Mensuralnotimng
bietet in ihrer Ansbildung nicht nur einoTollgenligende Beseichnung
für jeden Ton nach Höhe und Dauer, sondern es sprechen sieh in
ihr schon an und für sich genommen als grosses, zugleich tiefsinniges
und anschauliches Schema <lic höheren rhythmischen Ordnungen
aus. Sie kann in diesini Sinne an die Lehren und Geheimnisse
der alten Bauhütten (das Geheimniss des „Achtortes'^) erinnern,
die den srehitekteidschen Rhythmus des gothischen Domes in
bestimmte Formeln Austen, wie jene den mnsikalisdiea der Heese
und Motette.
Die vollausgebildete Mensuralnotirung der ersten niederlUnder
Schule umfasst sechs Noten p:estalten (später kam eine siebente und
achte dazu), wovon, wie Adam von Fulda, wohl nach der Lehre
der von ihm als Muster gepriesenen Niederländer annimmt, von der
sogenannten Maxima abwärts, immer eine aus der anderen liervor-
geht^); dagegen Zarlino und Giov. Batt. Kossi die Brevia illr die
„Matter" der übrigen erklären^.
Maxima oder duplex longß
Lmga (das Ziehen des JMis)
g Brm>i8 (das Zeichen des Tempus)
^ (selten ^'^^ ) SemiWevis (das Zeichen des Taclus)
T Mnima (das Zeichen der BroUiHo)
I (selten \) Sem i m in ima.
Die Brevis, welche das Mass der ,,Zeit'' giht, uud im per-
1) S. Einleitung der Pract. mus. von Hermann Finok.
2} Quorum EÜia semper ex aUa consurgit.
8) Zarlino (lusUt. hann. III. 2) sagt: ,J^a Breve fu la madre et ü
principio di tutte le sltre." Und G. B. Roni (Orffsno de cantori S. 8):
„Ma U breve ha qnssto di piü, ohe si dusma madre dell sttte.**
uiyiu^uu Ly Google
428 Die Eniwickeltuig det mehnttBunigan OetugM.
fecten Tempus dxeUSemibmM, im imperfeeten Tempos swei 8e-
mibreTes in sieh fSust, bt in der Tkat die Matter der andemTdenn
die Longa igt eine Brevis mit einem Strich (eamda), die Semibrevis
igt eine tIbereekgegteUte Brevis, sie ist zugleich die „Taktnote**,
deren Dauer so lange zu währen hat als eine mässige rahige Hebung
oder Senkung der Hand. Die Maxima ist nur eine doppelte Longa,
die Minima eine Semibrevis mit einem Striche. Sie gab bei der
Prolatio dasselbe Dauermass wie sonst die Semibrevis. Die Semi-
minima, eine geschwärzte Minima, war gar nie Grundmass der
Bewegung, sondern diente nur für rascheres PassagewerliL Die
Longa selbst war das Zeichen des „Masses" (des Modns)» in dem
sieh das Schema des Tempos in höherer Ordnung wiedevhelt. Der
Modus major regelt das Verhältniss der Longa snr Manma; ist er
perfecti so dauert die Maxima drei Longas, ist er imperfect, zwei
Longas. Der kleinere Modus (M. minor) regelt das Verhältniss der
Brevis zur Longa: erstere erhält den Werth von drei oder von zwei
Longen, je nachdem der Modus minor wieder perfect oder imper-
fect ist. Die Prolation wicJerliolt das Schema im Verhi'iltuiss zwischen
Semibrevis und Minima; es gehen wieder bei der perfecten Prola-
tion drei Miiümen auf die Semibrevis, hei der imperfeeten drei.
Daher sagten die Lehrer: Modus offU in Longas, Tempus in Bretfest
Brolatio in SmuSbrevet.** Die Semiminima, da sie nie Mass der
Bewegung war, galt immer nurbinXr, d. h. swei Semtmimmae gehen
ein- fUr allemal auf die Minima.
Man spaltete die Semiminima in eine noch kleinere Gattung
die SStsa |^ (selten \ oder welche Prosdoeimus de Belde-
mandis, der gelehrte Paduaner, den wir schon unter den älteren
Mensurallsten kennen gelernt, Semiminima miner nennt|irfe die ge-
wöhnliche Semiminima Semiminima major; wihrend Franehinus
Gaf or die Fosa als Seminima d. i. ssjuNCto oder ng^amin a mimma he-
aeichnet, Adrian Petit Coclicus aberCV'oma (die Gefihhte) ge-
nannt wissen wilL Sie ist ebenfalls in der grössem Gattung swei-
mal enthalten. Die Tonsetzer verwenden sie vorläufig nie zu län-
gern Passagen, sondern nur zu raschen Verbindungen BWOier TönOi
wobei nur zwei Fusae gleichsam vorheischlUpfen
Bei den ältesten Meistern kommt sie noch gar nicht vor.
Die späteren Instromentalisten^) brauchten au iliren raschen
1) Organarii vero, aUique plarimi, qui instrumentis uiuntur musicis,
etism ftnam diridenmt ot noeront octavam notamm figuram, quam Mmi-
fusam vocant cpiidam, variiM}uo piii<:ruiit, maxime tamon altcro a^l^^^to
unco fosae (ülareao, Dodeohacbord. III. 1. S. Xd^).
Du&y and seine Zeit
429
Unfenden Psasageii, wie neh ihre Instmmeiile daftr eigneten, eine
noeii Uebero Notengatlmig, eie ftiurten die Smifusa ein ^ (sehr
selten bei Cociicns Semtenma,
In alle dem sind deutlich cinenieits dieselben Grundzii^;« wieder-
KuHnd«'n, die wir bei der schwarzen Notirunp kennen lerntt n (nur
endlich alles ohne weiteres Tasten und lierumsuchcu zu sicheren
Prineipien fixirt), «ndereneits erkennen wir nnschwer unser heutiges
NolenBjBtem wieder, nnr dass wir, mit Beseitigung der grossen
Qnantttllten, errt mit der Bemihrevis, der Taktnote, als Theilnngs-
mass anfangen. Die grösseren Bhyihmen, die „Rümi di dtte, tn,
quattro u. 8. w. Battute" ^ treten daher bei uns in der Au&eichnnng
nicht mit jener plastischen Scharfe hervor, wie es hei den grossen
Notengattungcn der Mcnsuralnotirung der Fall war. Nehon den
Zeichen des Bingens brauchte man auch die hcrki.iniiilichen Zeichen
des Schweigens, die Pausen^). Sie entsprechen den Noteugeltungen:
, ■ Psusa (proprio) ... ein Spatium ein Tempos, d. i die Dauer
einer ßrwia oder zweier Takte
ßemifiama . . . eb bslbes Smitimn, ein lialbos Tempus, d. L
eine Taktpause, die Dauer euisr Smuhrwii oder eines
Tacttts
SmfiMitm • • . ftr die Hßnima oder den halben TUd
N SenUtutpirinim . . . (virgula aequalis suspirio, sed a parte superioci
■ ^ " liüoaUasgi Adam von Fnlda)£to die SeiiitfilifNMa.
Man nannte diese Hxkchen Psiisas acMkatae, und GesXnge, wo sie
▼orkamen, (kudiu aadeatos. Die Knaben sangen es nicht gerne,
wie Sebald Heyden bemerkt. Er vnteischeidet auch schon Pansen«
seichen für die ISua nnd SmifMBa mit iwei und drei Hikchen.
1) Bs ist merkwflrdig, dass die Theoretiker die Psqm oder vielmehr
das Pausiren eigens rechtfertigen zu eollen meinen. Adam von Fulda sagt
(III. 9) : »Sunt autem pausae ex fragiUtate humanae vocis per cantores in-
veniae. Primo prupter refectionem anhelitas o. s. w.** Lossius sagt: „Cur
inventae sant paunae? Primo propter anhelitns refcctionem, ne soUioet
Spiritus canenti deficiat. Si-cuikIo fngarum fomiaudarum gratia, qnae minim
in modum conceutua dulcedmem uusent. Tertio, propter difticilem notu-
lae in oompoiitioDe looattonem ad doamm oonoonlantiaram perfeotanmi
distinctionem, qui nusquam nisi pausae vel concordanliae aUi rius inter-
positione se sequi permittuntur.^' X)er zweite Uruud nimmt also die Pausen
doch nicht blos als Nothbehelf, ■ondem als Konstmiitel. So sagt auch
Adam (II. 11) „Componens discat cantum distincte paosts omare, qnia
varietatem faciunt, non minus eniro laodabUs est paossre quam eaatore,
nec acceutus prosae sine pausa sit.**
430
Die Entwickelang dee mehntimmigeu Gesanges.
Feiner für die swei- und die dreitheilige Longa die Pan^a longa
und die Pausa modt, gleich vier und seelu Takten:
Die Anwendung der letzten! ist für den Modne kennseichnend').
Ein duich eile fttnf Linien des Systeme senkreckt gesogener Stridi
wird Ton Adam von Fulda Panua gmeraiis genannt^, als Zeichen,
eine Stimme hnbe durch ein ganzes Stück zu pausiren. Statt dessen
schrieb man aber lieber ein Tacet (zuweilen mit einer Phrase, wie
PetruH do Molu, ein Schüler Josquin's, in seiner Missa duarum fa-
cierum „Fleni don)üuiit'\ oder wie Pierre de la Kue in den Am-
brascr Messen, der den Sjinj;ern das Tacet immer mit irgend einem
Sclicrze ankündigt, z. B. in der Messe sMj^er ÄUduia [auch beim
Pleiti] dem Tenor habaUüms unde reddermUf" ein andermal
mit komischem Widerspruch ,^aniabü vaemts ecram tofrone viator^';
in der Messe de 8. Job wirklich recht passend ndt Hiob's Worten
fflJoiniuus thilitf Dominus ahstulit").
Dasu kommt noch das Zeichen des Anhaltens, das
mantioms, wie es Coclicns nennt, bei Virgil Hang Signum conve-
uienfiftc^) ^ und das Wiederholungszeichen (Signum rejictifionist
bei Lossins ,,P<uis(i rrintilioiiis^^), wobei insjxeniein dieZahl der seok-
rechteu Striclie andeutet, wie oft der Satz zu wiederholen ist:
Eine ganz besondere Wichtigkeit behielten auch jetzt die oft
zu sehr reichen Notengrtipiien conibinirten Ligaturen. Bindhar
(ligabiles) waren die Maxinia, Longa, Brevis und Semibrevis^).
Neben der schrägen Ligatur (ligatura obliqua)
1) Schon H. de Zeelandia sagt in seinem Traetate: , Jiem notandnm
e>t| quotl Tinn (lebet poni pausa semibrcvis neqiie maior nisi in conij)lota
prolatioue, ueque debei ^oui pausa brevis neque raaior nisi in completo
tempore, pause longa tnum temporam in oompleto modo.
S) Lossius nimmt sogar den Schlnsntrioh als nPansa generalis in
fine CHntiin" an.
3) Haug (Erotem. Mus. Pract.) sagt: Convenientiae Signum, quod inp
dioat omnes simnl Tooei coineidsre in ooDsonantias snares qnidami sed
non j)laiu' perfecta«, atque ibi voliiti spiritum quondam alacriorem exot-
pere, (illud cautores rtvfia appullaut) ad reliqua deiudc expeditias ca-
ueuda. Habent sane eiusmodi Ttvnara multum gratiae, si suo loco posiia
sunt et Qsurpantor. Dagegen ist für LossiuB das S. convenientiae *S*,
welches anpcsetzt wird um den Anfiiiig der Folgestimme im Canon und
die Stelle des Cauonschlusses anzudeuten, auch wohl ohne Canon die
Stelle des Eintrittes eines Tenors (C. tirmus) in den übrigen Stimmen
kenntlich zu machen.
4) (^not «mit notae ligabiles? Quatuor: Mnxfm:!, Longa, Brevis, Semi-
brevis (Hern*, i* aber, Compendiolum). Die Seoubrevis erschien aber dabei
^ Nj ^ ^d by Google
Diiiiij und leiiie Zeit
431
(Aas Sebald Heyduu's an canendi ä. 45.)
i
(bei welcher nach der herkSnunUchen Weise immer nur der An-
fimg und djis Ende der Figur die Stelle einer einzelnen Note
▼ertrat, nnd die verbindende lütte keine TVne, sondern eben
nur die Verbindung bedeutete) anteisebied man aneh die gerade
{Ligatura reda)
Die Unteradieidung war darum von Wichtigkeit, weil, je nachdem
die Ligatnr gerade oder sehritg war, der Werth der einzelnen Noten,
aus denen rie zusammengesetzt war, mannigfache Modificationen
erlitt, wobei noch nach den von altersher überkommenen Lehrsätzen
darauf zu achten war, ob eine oder die andere Note einen Strich
habe, ob dieser Stricb nach unten oder nach oben gerichtet, ob er
rechts oder links anfrebracht sei; endlitli ob die Note am Anfange
der Ligatur, in deren Mitte oder zu En<l(', stelje, oder, wie man es
nannte, ob sie eine InUialiü, Media oder Fituilis sei, weil aHes
dieses den Werth der Note bestimmen half. Man fasste die hieher
gehörigen Lehren in (^edltchtnissversen zusammen, wie rie bei
Heinrich Paber und «onst sehr oft vorkommen:
Prima carcns cauda longa est peudcnte secunda
Prima careus cauda brevis est scaudeutc sücuuda^)
Bstque brevis oaadam si laeva parte remittit,
Semibrovis fertur, nursum si duxerit illani,
Quaelibet e medio brevis est, at proxima adliacrcus
Sursam candatae pro temibrevi reputatur.
Ultima cons(!(Mulcns brevis est qiiaocini(i[ur bgata
Ultima dupendens quadrangula sit tibi louga
Est obliqua brevis semper finalis habenda
Bxdititor oaudam tollens ex parte sinistra.
Eine luitialis ohne Strich galt als Longa, wenn die nächste Note
tiefer war; stand letztere höher, so galt die luitialis als Brevis
(Vers 1 und 2). £s gab Lehrer, wie in Slterer Zeit de Mnris,
in mittlerer Adam von Fulda, in spifterer Sebald Heyden, welche
nie in ihrer eigentlichen Gestalt, sondern wurde durch die opposita pro-
prietas angedeutet.
1) Bd Fignlns (Mus. praot elemenU brevissma 1666): Bit brevis
hase wailftin sed consoandente tecundat
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432 Ditt Entwickelung des mehrstimmigen -Gesanges.
hier noch die Unteifchndiiiig maditrai, ob die Initialis mit
der olUihBten Media zu einer schrKgrn Ligatur ▼erbaDden ist:
in diesem Falle sollte, ohne UnterBchied oh die zweite Note
höher oder tiefer steht, die ert>te stets die Geltung einer Longa,
die andere die Geltung einer Brevip linhen*). Hatte die Initialis
links einen Strich, ao galt sie als Brcvis, wenn der Strich ab-
wärts ging; dagegen wurde Bowobl sie als die nficbste Media
nur als Bemibrevis gesVblt, wenn der Strich an^ürts ging').
Diesen einaigen Aasnabrasfall abgerecbnet, galt die als Brevit ge-
sehiiebene Media wirklich immer als Brevis, mochte sie in ge-
rader oder in schräger Bindung stehen (Vers 3. 4. 5 und 6);
hatte die Äledia aber rechts einen Strich abwärts, d. h. die Form
einer Longa, so zählte bie als solche, nicht minder konnte s^ie
Maxima sein. "War eine finalis» reda tiefer als die vorhergehende
Note, so musste sie als longa gezählt Merden, im entgegengesetzten
Fall als brevis^ Die finalis ohligma war stets eine brevü, ebenso
wenn ne rechts einen Strich aufwürta hatte; ging der Strich «b-
wSrto, so war sie Umga (Vers 7. 8. 9). Bei Gruppen von nur
zwei Noten war die Finalis als Semibrevis au nehmen, wenn
ihre Iifitialis den Strich links aufwärts hatte (Vera 10). Waren
die zwei letzten Noten (dem Podatus ähnlich) iibereinandergestellt,
so galt die tirfcve stets als vorleUte^) und war ohne Strich brevis^
mit einem Striche Jotiga.
In mchrstiuiuiigen Gesängen hat sehr oft die Schlussnote
einer Stimme eine uubestimmte Geltung: der Sänger muss sie so
lange aushalten, bis die übrigen Stiniipen mit ihren oft noch
Unger fortgesetaten TongSngen fertig sind. Es gibt ab^ auch
einaelne Ausnabrnsf^lle, wo die letzte Note nicht ansxuhalten war,
sondern die frtther mit ihrem Part fertige Stimme den Rest des
Satzes pausiren musste. (Beispiele: der Schluss des Gloria und
Credo der Messe Forinna (fes]>ernfa von Uobrecht, erstes Agnua
der Messe Hercides duoc Ferrai iae von Josquin).
Geschwärzte Noten {notae coloratae) wurden im perfecten
Tempus in der Bedeutung angewendet, dass die Note dadurch den
vierten Theil ihres Warthes verlor, oder wie man sagen könnte, sie
1) Quinta rej^ilitt Obüqua ligatura, ri initislis sit, cauda oarens, tive
sursum, sive deorsutn iendat, primam longam, altttram brevem habet. <8eb.
Hevdeii. de arte canendi S.45.) Oblique vel ßic praecedentrs sunt longae et
sequcnteti hreves. (Adam de Fulda III. 1 1). In omni corjiore obliquo primus
punctuB sine tractu longus diciinr. (Job. de Muris. Quaoet. sup. part. mos.)
2) Das scheint willkfulii'li. ninreins ^ii lit ahcr (S. 197) eine genfipenfle
Erklärung: „quod ideo factum est, ue uuica ataue sola esset semibrevis
inter brevet, cum «oapte forma semibrevis non ugatur."
3) Es ist dies eine Erinnerung an die Keumenfonncn des Podatns,
bei dem auch die tiefere Note zuerst 7.u singen war: Podatns continet duas
notas, quanuu una est inferior et alia superior a»catdcndOf sagt de Uuris.
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Dufay uud seine Zeit.
433
mirde gleich der nScIietkleineren durch einen Punkt verlftogerten
G^tmig. Die scliwawe Brevis galt also so viel wie eine Semibrevis
mit einein Punkt u. 8. w.'). Man LiMli«Mit(' sich beider Sclireibarten
nach Belieben und Einsicht-). In dem perfectcn Modus und Tempus
waren die geschwärzten Noten stets zweitheilig (inipertcct) zu
nehmen, die schwarze Brevis galt nicht mehr drei Semibrcven,
sondern nur zwei u. s. w.; die Schwärzung nimmt ihr also deu
dritten Theil des Werthes, der ilir sonst gebtthren würde'). Von
diesem Mittel wird in der Notining sehr oft nnd snweilen in sehr
sinnreicher Weise Gebrauch gemeeht^). Eine eigene Geltung er-
hielten die schwarzen Noten, wenn sie als sogenannte J^roportio
hemiolia im imperfecten Tempus auftraten: sie bedeuteten dann,
ohne Werthverringerung, einen Umsclilag au» dem geraden in den
ungeraden Takt und, wie Adam (Tumpelzheimer bemerkt, einen
flüchtiger und leichter zu singenden Satz 5). Sie sind leicljt an
ihrer Gruppirung von je drei und drei zu erkeni-en, uud von den
werthverriugernden sdiwanen sn nnterscheidei..
1) Hermann Finck (Pract. raus. De colore figur.) sagt: „Est autem color
nihil aliud quam plenitudo notularumf re\ qnod idera est, denigratio fign-
ramm principalium''. Die geschwärzte Note Ix lii» It zwar nicht den Werth,
aber Namen uud Bedeutung: „der Mohr hört nicht uut, Mensch rw sein,
weil er schwarz ist", sagt Zarlino: „La forma ö quclla, che vetaincnte
da reisore alle oosa: onde l enser nera non le toglie la forma, si come
il color nero non leva allo £thiope TeMere huomo et essere rationale
(Instit. barm. III. 67).
8) Als etwas Besonderes ist die Zusammenstellung einer schwanen
Brevis und Semibrevis au bemeriMn, sie bedeutet so viel wie eine punk-
tirte Semibrevis und eine Minima. Man schrieb — ♦ - oder, was eben
so viel war, . ffier hatte also die gecohwinte Semibrevis aus-
nahmsweise eine besondere Bedeutung.
3) Srbaldiis Hpyrl<>n (de arte can. S. 62) lehrt: Nigredo perfutonm
cigttoram uotulis tertiam partem adimit, imprrfectxH quartam.
4) Es kommen wohl einzelne Fälle vor, wo die Schwärzung der Note vcr*
wirrend statt verdeutlichend ist, wenn niimli( h Minimcn geschwärzt wer-
den, die danti St-niiniinimen <,'leichen; dergleichen ist jedoch ziemlich selten.
Ein Beispiel enthält der zweite Theil von Joh. Gero's schönem Ave Maria
(in dessen 1648 beiH.8cotto in Venedig erschienenen Motetten) und Gaspar's
„Ave mater omnium" im Bass (bei Scb. Heyden S. 114). Auch ist zu be-
merken, was Hermann Fiiu k nagt: (^uaudo in imperfcctis signis cantilena iu
nna parte omneshabetdeuigi alas, tum pro commoni judicio musicorum habe-
tur aut so! misatur quasi dupla proportio, hoc est dimidia pars valoris cantatnr.
5) n«'miolia proportio eadem plane est cum tripla, nisi quod ca propter
nigredinom plus airihtatis habet quam albedo (Adam Gumpelzheimcr, Cum-
pend. mus.). Bs Kommen aber nicht selten Sätze vor, 8. B. mehrere in
Hobrecht's Fortunaraesse, wo zwei Stimmen das Taktzeichen 3 und weis«?«;
^oteu, die beiden andern ohne geilndertes laktzeiohen schwarze He«
mioleu haben.
Aaibres, GtsehMhls dtr Mwlk. IL S8
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434
Die Entwiokelimg des mehnttumigeii G^euuifga
Schwieriger und verwickelter als beim imperfecten Modus,
Tempus oder der imperfecten Prolation, bei denen durch alle
Noten^nantititen ein bintres YvMhaäßB galt, wurde Alles in der
Perfeetion. Hier mosste der Singer forfewährend bedeckt sein,
die gebSzigen Noten im Gesänge zu drdtheiligen Combinationen
80 lasammenzufassent dass beim Modus je drei Breven anf eine
Longa, beim Tcmpug drei Seinibreven auf eine Brovis, in der
Prolation drei Minimen auf eine Semibrevis kamen, als Grunri-
mass der Bewegung} alle andern Quantitäten wurden zweitheilig
ausgeglichen.
Um nun den nrnnerus temarius festhalten zu können, musste
za dem Anskunftsmittel der auch sebon enrShnten Imperfeetion*)
und SU jenem der Alteration gegriffen werden. Kraft ersterer
^It eine Note um ein Drittel weniger als sie sonst nacb ibrer (Ge-
stalt und Stellung gelten würde; durch die andere, die Alteratio,
welche Ornitoparchus als altera actio ,, nochmalige Geltung** er-
klären will^), erhält eine Note das Doppelte ihres Werthes. In
einer Combination wie diese, wenn das perfecte Tempus galt.
1=
wurde die erste Brevis durch die iiachfol^eude Semibrevis imper-
fectiouirt , ebenso die zweite Brevis durch die ihr vorangehende
Semibrevis i die folgende Brevis war dreitheilig, dann kam eine
imperfecte Brevis nebst ibrer den ntmeru» immrim ergänsenden
Semibrevis; die swei lotsten Bredes sShlten dreitheilig, also:
Sollte aber Im obigen Beispiel die erste Brevis dreitheilig sein,
so musste der Componist sie durch einen PuniU von der folgen«
den Semibrevis scheiden:
32:
oder
IBL
1) Imperfeotio est notnlae perfectae privstio vel detreotio tertiae
Fartis . . . 1) Omnis irnpui ffctio fit aut per pan«tam, notam vcl colorem.
1) Imperft'ctio fit a minori. Siinilis non impei*ficit similem, sed major
nota minorem. III) Dolor iu pcrfoctis notis aufert tertiam partom, in
imperfe(;tis iinai tain (Figultts a. a. 0.).
2) Et (lii'ifur altoratio, quasi altera actio, id est sernndaria alirnjus
notae decautatio propter ternahi jperfectionem (Micrologus, erächien 1517,
IL 11). Fignlus definirt: Alteratio est notse dupUeatio, quae fit propter
eonstitutionem nmneri tomsrä . . . Altenftio fit, quatuU) daae minores
nu^oribus interponimtur.
Ly Google
Dnftj und seine Zeil
435
Um nun durch die zwei Semibreven die dnMtlioili<?o Ordnunfj nicht
zu stören, mnsste die zweite Scmibrevis^) doppelt lang, das heisst
als Brevis geuommen werden: das war eben die auch schon den
ilteren Heiifluralislen wohlbekannte Alkeration, nnd der rie be>
wirkende Punkt hiess pmichtm altteraHania. Ifan alterirte die
Bweite Note, nie die erste: „pereh4'* sagt Aren in seinem Tos-
eanello „la perfczione in häte le rose e coneeßsa nello fiiie e non tiel
priiiciph" Wurde der Punkt, ohne daas er eine Alteration bedeu-
tete, als Zeichen der Imperfizirung angesetzt, so hiess er Punctum
divuiiouis oder imperfectionis. £s galt gleich, ob man schrieb
oder oder
i:
Letztere Schreibart wird öfter angewendet, um den Sänuer vor dem
^lir,>griff zu bewahren, dasB er nicht die zweite Sciiiil>ie\ is etwa
alterire''*). That nun der Punkt den Dienst unseres Taktstriclies
und war er ein willkommenes Verdeutlichungsmittel, so galt es doch
fSr eine Art Schande da Punkte in setaen, wo die Eintheilung für
den geübten Sftnger anch ohne sie deutlich war. Solche Punkte
nannte man, wie Tinctoris erwähnt, spott weise Eselspunkte').
Als man sich gew5hnt, die Noten der Regel nach für zwei-
theilig anzusehen (denn während bei den Meistern der ersten Seliule
und ihren nächsten Nachfolgern die Perfection vorherrscht, gewinnt
schon von .Josquin an, d. i. von etwa 14H() und weiter, das iniper-
fecte Tempus u. s. w. mehr und mehr die Oberhand), machte der
Punkt hinter der Brevis, der sie als dreitheilig, d. h. als perfect
kennzeichnete, den Eindruck, als habe er den Werth der Note um
ein Drittel vermehrt: diese Bedeutung hat der Punkt ftlr unsere
Musik beibehalten. In diesem Sinne wurde er aber auch schon als
Punctum additionis in der Mensuralnotirung angewendet. Man sieht,
dass der Punkt eine genug wichtige Holle spielte, um schon von
Tinctoris mit wissenschaftlicher Grilndliclikeit in seinen vei*schie-
denen Beziehungen dargestellt zu werden^). In einzelnen seltenen
1) AUeratio in ultimam cadit uotam, non in primam (Figalus a. a. 0.).
1) Wirklich hudet sieh bei Ornitoparohus die Alterirungsregel : „quo-
ties inter duas imperfeotabiles duau alterabile^ clauduntur, absque divi-
sionis puncto flccunda Semper altoratur". Das ist. ahcr, wie cahlrsiohe
Beispiele zeigen, nicht überall in Anwendung gekommen.
3) Quae quidem punoti vulgarltor dioontor aainei, eo qnod ipri ahnten-
tes, tanquam asiui rationis expertes, ifriiorant, quae uotae minores rcgulariter
majores iinprrfi, ituit, aut quae in naturali perfectione siue puncto persiatant
(Tinctons, rruoiutus super punct. musio. cap. 15). G. B. Bosai (Org. de oant.
9. 69) weist sogar Meistern wie Josquin und Morales solobe Punkte nach.
4} Tinctoris (s. punot mus. oap. I) sagt: „Puuetns est minimnm Signum
28*
u\^>u^cö by Google
436 D>« Entwiokelang des mehratiiamigen Oenngw.
Fttllen vereinigte ein und deraelbe. Punkt venehiedeae Eigen-
Schäften in aidi, s. B. der ente Punkt im 8. Kyrie der Messe
Vomme amS von IHneeas Fangnes ist sugleleh Divisions- und
Additlonspunkt
Pausen im Werthe von S^mihrevon (Semyiausae) hatten im
perfecteu Tempus die imperfizireiule Kraft der Semibrevon selbst,
ebenso im Modus die TempuspauHen die Kraft der Brevis, und
in der Prolation die Halbtaktpause {Suapirium) die Kraft der
Minima. Die Pausen selbst wurden nie imperfizirt und ebenso
wenig alterirt^).
Alle diese Impeifisirungs- und Alterimngsregeln wirkten auch
in die Ligaturen hinein, da diese nichts waren als susammengrup-
pirte einzelne Noten. Ebenso traf die imperfizirende Kraft der
kleineren Note die grössere, wenn diese auch nicht der nh'chst-,
sondern der zwoitnächstpi-ÖHseren Geltung (»pecies rnnotd) gehörte.
Stand z. B. im jiorfocten Tempus eine Semibrevis nicht vor einer
Brevis, sondern vor einer Longa oder gar Maxima, so imperfizirte
sie die erste Brevis, die in der Longa oder Maxima mit einbe-
griffen war, so gut, als ob diese isoUrt dagestanden hStte.
Endlich wurde sur Belebung der Bewegung auch die Triole
angewendet, und insgemein durch die darttber gesetste Ziffer 3
kenntlich gemacht.
Der grttbelhafte Sinn der Lehrer fand in den möglichen Com*
binationen, die aus diesen Begeln sich ergeben konnten, reiche
quoil notac apponitiir. Eam dividit, aut augnicntat, aut perficit. Triplcx ergo
est punctus uotae accideus: videlicet puuutus divisionis, punctas augmea-
tationis et punotus perfeetionis". Sofort nimmt T. diese drei einsehien
(iattungen m klarer, gründlicher Auseinandersetzung durch. Hermann
Finck und A. Petit-CncliiMi« statuiren vier Gattungen: das Punctum ad-
ditionis (oder valoris), divisiuuis, alterationis oder imperfectionis.
1) Nütiie tantum altera ntnr, non pauBae (Ornitoparcbus und Wolfgaug
Fi^nilus) Pausa imperficit si'd mnuiuam inijxirficitur (Lossius, Eroteni.lL 7).
Es gab da noch eint; Menge Feiubeiten zu merken. So sagt Lossiua: nNota a
fronte et atergo im])erficit, paua tantum atergo. Quando dnae tenribreres
]tau8ae contiguae post brevem in tempore perfecto subsecutac fueriiii, nulla
tit irnperfcctio. Iteiii (niando punetus porfectionis eaiii 8C(jnitur, vol li^atura
(luarmn seniilircvmui, duabus brevilms luicrpuuitur'*. Uubereinstimmeud
Hermann finde: „Quarta regnla. Quamvit panta non imperficitnr, led im-
pcrfirit, tarnen iluae si'niibrcvcs contif?uae post brevem in tempore pcr-
fecto Bobsecutae fuerint, tum nulla imperfectio tit**. Und Liossios gibt die
Alterationsregel: Inter dnas figuras perfectas pansa com sna notula looata, a
primum ponitiir pansa tum nota alterator. &n pausa seqnitnr **i?ty**i slie*
ratio non habet locum, qaia notae tantum altcönuitar, non pau le.
Digitizea L7 GoOgl
Dofajr und seine Zeit.
437
Nahrong, sie warfen allerld ganz seliolaatiBcli klfngende Fragen
auf: z.B. ob eine augmentirte Note auch vieder imperfizirt werden
könne, was Tinctoris bejaht*). Sogar die Sprache dieser Theo-
retiker klingt nach dem scholastischen Katheder. So erläutert z. H.
Gafor die dritte Imperfectionsregel, wie eine Longa zwischen zwei
Seiiiibreven zu behandeln sei, mit den Worten: ,,Hier wird die
Longa durch die vorangehende Semibrevis a parte mite in der
nichitgeringeren Geltung imperfisirt, denn die EÜnnilncevie Ift eben
der dritte Tbeil der nIehstgeringerenNotengattnng der Longa lelbtt;
die naekfelgende SemibreTia imperfinrt die Longa a pmU post n.e.w.'*
Man glaubt einen scholastischen Philosopben tu kVren, wenn Gafor
lehrt, das« bei der Imperfection die Note entweder paUmu (leidend)
oder agem (wirkend) sei: eine Maxima könne nur patiens, eine
Minima nur ageiis sein; die impertizirende Note müsse stets kleiner
sein als ihre imperfectibilis u. s. w.2). Die Longa, Brevis und Semi-
brevis könne nach Verschiedenheit der Zeichen sogar patiens und
agens zugleich sein, macht Hermann Finck bemerkbar. Es wurden
Etile ausgedacht und Besiehungen ergriibelt, welche aus dem ein-
fachen Greschlfte des Notenleseos dne kop&erbrechende An%abe
machten. Gafor bespricht z. B. eine doppelt imperfisirt» Longa.
Er gibt folgendes Beispiel:
. NB. L
NB. S.
! Ii
„In diesem Tenor", sagt er, „wird die erste Longa a parte
post in ihren beiden nächstangrenzenden Theilcu von den zwei
folgenden su einer Ligatur verbundenen Semibreven imperfisirt,
wovon die erste die erste verbundene Brevis (Franchinus meint die
erste in der Longa begriffene) a parte post imperfizirt, die andere
Semibrevis ebenso die andere Brevis. Die andere Longa wird
a parte ante in den nSchstangrenzenden Theilen von den zwei
voranf^cliendt'ii Semibrev«»n und zwar durch deren ernte die erste
verbundt'iic Brevis, durcli die andere die zweite Brevis imperfizirt.*'
Dergleichen hiess TrauHlation der Imperfizirung. Zum Glücke
machte sich die Praxis von solchen Uberfein gegriffenen Unter-
scheidungen siemlieh bald los.
1) Liber imperfeolioaiini, de 18 genersL imperf. regolis. Cbp. IIL rsg. 12
iniine.
2) Pract. mus. II. 11.
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488
Die Eniwickelong des mehntunmigen Oesangea.
Es ist von selbst einleuchtend, dasB die Tmehiedenen Arten
des perfecten uud imperfecten Modus, Tempus n. s. w. mit einan-
der combinirt werden konnten: wenn z. B. fllr das Verhältnis«
der Brcven und Seinibreven das imj»erfV'eto Tempus palt, so konnte
zuj^^lt idi für die Breven und Loiipen der perfecte Modus gelten,
oder es kouute Tempus und Modus zugleich perfect sein u. s. w.
Die Theofetiker und Prsktiker hatten hier aa dem, wai derfiber
schon bei Lehiem wie H. de Zeelandis Terkommt» eine tüchtige
Gnmdlage, auf der sie weiter hanen konnten. Ebenso kam es
darauf an aus der Menge von Zeichen, womit Mttselne Lehrer
oder Praktiker diese verscliiedenen Masse heseichneten, sich Uber
eine Auswahl zu verständigen, die allgemeine Oilti«rkeit haben
sollte, was liiiclist niitliig erschien, wenn Gesänge nicht auf den
eigenen Schühnkreis oder den einzelnen Kirchenchor beschränkt
bleiben sollten. Hermann Finck erzählt, dass Johann Ureisling
(soll heissen Geisling), Franchinus, Johann Tinctoris,
Dnfai, Bnsnoe (soll heissen Bnsnois), Bnekoi (soll heissen
Binehois) nnd Garonte (d. L Caron oder Garontis) viele neue
Zeichen eingeführt (mtUia nova signa aäüdminiy). Die Lelner
sachten nun den Schttlem die verschiedenen Verbindungen nnd
die andontenden Zeichen in Ueberaichtstabellen anschaulich zn
machen, wie sich dergleichen bei Ornitoparchus, Hermann
Finck, bei Seb. Heyden, Adrian Petit- CoclicuSi Lucas Lossius»
G. B. Rossi u. 8. w. findet.
1) Diese tehr oft kurzweg als glaubhaftes Zeugnitt abgesehtiebcae
Stelle niu'^s doch mit einiger Vorfiicht aiifj^cnommen worden. Hftttett
TiDCtoria uud Franchinus wirklich ganz „nette*^ Zeichen eingeführt, lO
wire wohl in ihren Schriften die Kede daTOB mit 'Wendungen wie «a>^
bitnnnnr signandum esse" u. dgl., davon ist nichts zu finden. Daas
GreisHnp ein Schreib- oder Druckfehler ist, darf für sicher gelten.
Uermauu Finck hat die Stelle dem Coclious nachgeschrieben, bei dem
richtig SU lesen: Jo. Oeyslin, Jo. Tinctoris u. s. w. Von einem Qreis-
ling ist nichts bekannt. Gcyslin aber ißt offenbar der wohlbekannte
Johann Ghiselin. Dass ihn U. Finck unter die Zeicbeuerfinder rechnen
will, eridlft eine Stelle bei Sebald Heyden: Johann. Ohiselinnt in
Hisaa Chratiosa «ngnlari in hoc dat opera, quicquid de varüs signii
di<TTii)tn ( onrTiitu centut, tsnqttam in upecnlo propoaitis exem|»lis oonqpi*
cieiidum üedit.
Do&j und seine Zeit.
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Dia Entwickdang des mehrttiinmigen Qesaoges.
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Dulky md Mine Zeit
441
War hier das System vollständig durchgebildet, so war es
freilich auch bis zu Couse^ueuzeu fortgeführt, wo seine praktische
Braaebbark«it anfhOito. Wonn die Mszima im Modus major per'
ffdm cum prolaHtme ptrfoda, wo die Dreiiheiligkeit durch alle
Noten^ltangen dnrebfilhit {Numeri mmtrmm nennt es J. de
Mnris)') and die Halbtaktnote, das Mass des integer valor nota-
mm, nicht weniger als 81 solcher Takte dauerte, so vermochte
keine menschliche Bnist einen solchen Ton ansznlmlten , kein
Componist in seinem Tonsatze damit etwas anzufangen. Der
Modus major wurde, wie Petit-Coclicus bemerkt, tiberhaupt „wegen
der unangenehmen Dehnung der Noten^' selten oder nie ange-
wendet, und so meint auch Hermann Finck: man finde äusserst
selten 8ttteke mit dem Zeichen des moäm major perfecku oder
imperfeehu, und wenn solche ▼orkommen, so sei wenig SchSnes
daran, weil eine allsageringc Abwechslang der Concordanien nnd
Fugen vorkomme: zähle ja dann die Maxima 27, die Longa 9 ge-
wöhnliche Takte. Adam von Fulda nimmt die Nothwendigkeit des
Modns in Schutz, sage doch schon Horaz : Est modus in rebtis^.
Dagegen geben aber auch die brauchbaren Combinationen eine
wundersame rhythmische Architektonik, während z. B. beim Modus
miiior alle kleineren Notengeltungen zweitheilig gezählt werden
nnd eine gerade Bewegung geben, sieht sich üi grossen Zügen
ein aogerade bewegter Rhythmus in den je drei Breden nm&s-
senden Longen hindoreh. ^Sin schönes Beis piel dasn ist Josqain*s
Motette „iVosier rerum Seriem", wovon an gehöriger Stelle an
sprechen sein wird.)
Die Zeichen, welche gleich unseren Taktzeichen zu Anfang des
Stückes in's Liniensystem gesetzt wurden, theilte die Theorie '^) in
Signa numeralia (ftlr den Modus mit beigesetzter Zahl), rinularia
(für das Tempus) und punctualia (für die Prolatiou). Der Kreis
mit der Ziffw 3 bedeutet den Modus major, mit 2 den Modus minor;
wird noch ein Punkt eingeseichnet, so deutet er dasn auch noch die
Prolation an u. s. w. Die beigesetzten Zahlen als Zeichen des Hodns
kamen aber erst in der zweiten Hilfte des 15. Jahrhunderts auf.
Bei den älteren Meistern bedeuteten sie nicht den Modus, sondern
eine sogenannte Proportion, d. i. die Andeutung einer gegen den
Tnteger valor zvs'eim.il, dreimal u. s. w. schnellern Bewegung. Den
Modus deuteten sie ilurch eigens gestellte Pausas modi an, wie es
z. B. in Eloy's Messe dixerunt discipuii zu sehen ist^). Andere
Lehrer hatten eigene Zeichen, wie wir bei H. de Zeelandia gesehen
1) Quaest. sup. part. raus. (Gerbert, Scriptores 8. Bsnd S. 801).
2) 1. Buch der Satiren, I. 106.
3) Figulus, De mua. pract.
4) S. Anhinge, wo eine deutliche Erldinmg aus Seh. Heyden auf-
geoiHnmen ist.
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44S
Die Entwickeluog des mehratimmigea GeeAnget.
baben. Beb. Heyden nennt den Kreis des peifeeten Tempns und
den Halbkreis des imperfecten Tempus (nocb jetst unser Zeichen
des geraden Taktes) signa essetitialia. Die Lehrer nnterscbieden sigrta
min ueittia, durch welche die Noten rascher worden, als sie sonst
nach dem jiitrgrr ralor iiotantm gewesen wh'ren, und sigtia avgentiaf
welche die unigekehrte Wirkung hatten (zu ersteren zfihlt Heyden
auch den Modus, und zu letzteren die Prolation, weil bei der Pro-
lation die Minima die Dauer erhält, wie sie sonst der Semibrevi$
snküme). Die mAKmiii» waren mebr Im Gebranebe als die
npna tmgentia. Ifaa konnte die Bewegung unter jedem beliebigen
Zeichen beschleunigen und langsamer nehmen (das AUegro und
Adagio unserer Musik), aber ohne die BesMchnung eines Tempo,
vielmehr durch genaue Zahlenproportionen, in vielfachen feinen
und von den Theoretikern bis in's Unausfiihrbare verfeinerten
Abstufungen. Der Lifegei' valor mit seinen stets gleichmässigen
Schlägen war, wie ein Pendel oder ein Metronom, ein unverrück-
barer Regulator. Stand ein Zeichen allein, so galt der Integer
vaUft; wurde dnreb das Zeicben eine senkrechte Axe gezogen, oder
wurde es umgekehrt, so war die Bewegung doppelt schnell, d. h.
auf einen Schlsg des Integer vdUr kamen statt einer Semibrerli
deren awei:
(l^^ ([/ (|) (0 if^^ 0 3 ; für das Tempus perfedwm
aber, dessen Zeichen der stets gleichbleibende Kreit irt, naeh Har-
1) Das erste dieser Zeichen lebt in unserem Allabreve-Takt fort. £r
hiess sdion im 17. Jahrhundert so, Q. B. Rossi eridirt im Orgtno de Can-
tori die Benemumg, weil dabei nicht nach Ssmibrevis, eondem nach
der Brcvis (alla breve □) die Bewegung gemessen werde. Rossi tadelt
die ToDsetzer, welche eigenmächtig neue Zeichen erfinden „veramente
?|aeBto h un abbagliare l'intelletto del povero csatore." So habe der
Jpanier Didaco (Ortiz) in seiner Motettf ,,Tua est potLiitia," um vierfach
schnellere Bewegung bei perfectem Tempus anzudeuten, den Kreis mit
swei parallelen Azen dnrohsdmitteb, Vmooiso Rnfb ebenso in srinen
Capricci den Halbkreis. Rosti selbst unterscheidet segni col punto, segni
rivoltati (umgekehrte Zeichen), segiii traversi (durchstrichene Zeich» n)
und la cifera. Der Halbkreis als Zeichen des imperfecten Tempus gibt
Hermann Finck Gelegenheit zu ganz seltsamen Untersuchongen. Wenn
der Kreis das Zeichen der Perfection ist, also drei Semibreven bedeutet,
warum bedeutet seine H&lfte, der Halbkreis, nicht anderthalb, sondern
swei Semibreren? Zur Beseitigung dieses Bedenkens xeiehneten die
Musiksr in den Kreis ein gleichschenkliges Dreieck als Zeichen der drei
Schläge. „Löscht man eine Seite," Baprten sie, ,,so bleiben noch zwei
Schläge, der Kreis ist aber zum Zeichen des Tempus imperfectum ge-
worden.*' Mit nichten, wendet Hermann Finck ein, „dann ist es ja ein
Zweidrittelkreis, kein Halbkreis." Die Erklärung liege ganz wo anders:
Ist der Halbkreis C gleich einem Takte (= O auif einen Schlag) und der
umgdnlirte HiJbkreis o das Zeldien doppelt schneller Bewegun^r, also
zweier Takte ( O O auf einen Schlag), so verbinde man die zwei Halb-
kreise () = O + O C und man hat wieder den vollständigen Kreia der
Perfeutiuu uud die drei Semibreven. Quod erat demonstrandum! —
Daüij and Mine Zeit
448
mann
Dieselbe BedentoBf hattß e%
[oder i i i ^ T ^^^^ J®^® Ihnlicbe, wo die untere
Zabl tweimel in der bSbeien begriffen war, JEVoporlto iupla) neben
des Zeieben gesetst weide. Hier nnd in eilen ttnlieben FMlen be-
deutet die tiefere Zahl die Anzahl der stets gleioben Schlüge des
bUgtr «Mrfor, die obere die Ansebl der darauf kommenden Grund-
massnoten. Die Zahlenprop<ntion \ oder | | n. s. w., Propmiio
subduplOi machte also die Bewegung doppelt so langsam. Dasselbe
wurde durch den Beisatz „Crescit in duplo" erzielt, alle Noten-
gattungen mussten doppelt gross genommen werden (so bezeichnet
Dufay den Tenor der beiden Kyrie: Se la face ay pale und Tant
je me deduis) ^) Durch die Proportion ' (drei Grundnoten auf
swei Schlfige) oder \ ^ (Propartio sesquialiera) wurde die Be-
.14 8
wegung um die Hälfte schneller, bei j oder - — u. s. w. um die
Hftlfte langsamer. Die dreifach schnellere Bi wc^uDp; wurde durch
eine Proporiio tripla f f ^ - viorfadi sclmellere durch
eine Ptop<niio quadrupla oder auch dadurch ausgedrückt, dass durch
das verkehrt gestellte Zeichen noch eine senkrechte Axe gezogen
V ) v) man neben ein gerade gestelltes durch-
strichenes Zeichen die ^oporiio dupla s^hnehi ( / Dagegen
maebte die JVpporKe mMripla - u. s. w. die Bewegung dreifach,
Bnparth mibgfuiinipla ^, \ n. s. w. vietfaeb langsamer^
1) Schrieb man aber tJ^B^ihna rit lougSf longa lii brens** ^lOniut),
so wurde die Bewcfrung doppelt achnell.
2) Wie Omitoparchas erzfthlt, soll diese bruchartige Schreibart zuerst
Brasmut Lapicida, etn gesdiitster Toosetser der sweiten niederlän-
dischen Schule, angewendet haben, während man früher nur die eine
Zahl 2, 3, zur Andeutung der Proportio dupla, tripla u. s. w. ansetzte.
Daraus würde folgen, dass ursprünglich, wie es auch wahrscheinlich ist,
die 2abl der Qmndnoten immer nur gegen einen Schlag gemessen wurdci
verwickelte Broportionen wie |i ^ n. s. w. also erst splter in Adnabne
kamen. Die Sohieibart || u. s. w. ist dem blossen 9 oder 8 weit ror-
zuziehcn, weil mit den blossen Ziffern 2 oder 3 auch der ^Nfodus gemeint
sein kann. Eben deshalb musste man auch zu der bruchartigen Schreib-
art greifen, sobald man die alten Pausenzeichen für den Modus aufgab
and dafür die Signa numeralia mit 2 und 8 einAlhrte.
3) Der Erste, der diesen Gegenstand einer umfassenden wissenschaft-
lichen Behandlung unterzogen hat, ist Johann de Muria. Einen Traktat
de ProportionibaB nach seinen Lcbiren reHaast, hat Ckibert in die Script,
eccl. de Musica Band 8 S. 286 — 291 aufgenommen. Tinctoris hat ein in
drei Bücher getheiltes „Proportionale" geschrieben; es ist für alle seine
444
Die Eniwiokaliuig det mehntimmigeD flniiiipt
Die entgegengesetzte ZiffenteUang im VerUnfii des Stückes
bob die frObflfe auf und ilellte den Meger valor wieder her,
ebenso dea entg^engesetite Zeieben.
Der Begnlütor des Oansen war der Takt (Ta/ttt»), desaen Ge-
setze sieb dnrob die ganze Comporitioo blnsieben, naeb dem sich
die Noten gmppiren, dem die Cadenzen folgen, wenn es gleicb Ar
überHiissig galt, die einzelnen Takte durch Taktstriche zu mar-
kiren and zu trennen. Doch wird der Takt meist (immer nicht)
Nachfolger das Fundumeut geblieben, auf dem sie weiter bauten. TiB4>>
toris dennirt; ^Proportio est duorum terminomm invioem bidniado, fit
igitur istfi proportionalis habitudo vel canendo vel componendo, quoties
unua notaruiu numerus ad alium refertur.** Er ontersoheidet die gleich«
Proportion (Pr. aeqnalii 1 : 1, S : 9 o. •. w.) and die ansleiche (inaequaUs
2 : 1 , 3 : 2 u. 8. w.). Letztere theilt er wieder in drei OCTchiechtw
^penera): in das genus Tnnltii)lex. superparticulare und superpartiens.
Seim ersten entsteht die grössere Zahl durch MultipUcation der lüeinerea
Zahl mit ganzen Zahlen, wie 2 : 1 od. 4 : 2 od. 6 : 3 (Tinctoris geht nur
bis zur l*r. 8extupla, wie 6:1, 12 : 2, 24 : 4); beim zweiten enth&It die
grossere Zahl die kleinere ganz und noch einen Aliqaottheü derselben,
s. B. bei 8 : 3 entbilt 8 die iw«i gaai and tberdiM noeb deren HUfte,
daher das Verhältniss als Proport io sesqoialtera beiaichnet wird; bei der
Proportio sesquitertia 4 : 3 enthält 4 die drei ganz und noch deren dritten
Theil, analog bei der pr. sesquiquarta 5:4, 10 : 8 (5 = 4 + -1 10 = 8 + - J»
sesquiquinta (G : 5 oder 12 : 10 d. i. 6 = 5 + 12 = 10 + ^ ) und 8es<jai-
octava 9:8, 18 : 16 : mehr z&hlt Tinotoris nicht auf. Beim dritten entiiält
die grössere Zahl die Ueine ganz nnd noch einen sliqoanten Thdl der-
selben, z. B. bei pr. snperbipartiens tertiaa 6 : 3 enthält 5 die drei ganz
und noch zwei, bei der pr. superbipartiens quintas 7:5 enthält 7 die
fünf ganz und noch zwei, analog die Proportio supertripartiens (quartas
^ d. i T'b4+3, quintas 8;6 d.L 8*5+8) and dio pr. snperqoadri-
partiens qaintaa (9:5 d. i 9"'5'f 4)i Tinotoris bernft sieb dabei auf
den Pythagoras und trftgt die Sache mit gewohnter Klarheit TOT. Seine
Terminologie (der Boäthianiscben nachgebildet) wurde von seinen Nach-
folgern allgemein angenommen. Unter diesen treibt Franchinus Oafor
die Sadie am weitesten und in's Masslosc. Er erkllrt sine grosse Menge
von Proportionen unter den abenteuerlichsten Namen, z. B. Proportio
duplasesquiquinta 11 : 5, 22 : 10 ^pr. triplasesquialtra 7:2, 14 : 4, 21 : 6,
Froport. qmntnpla sesqmqnaHa Sa : 4 n. s. w. , bfo er endlidi bei dem
Monstrum anlangt : Proportio subquadruplasupcrtripartiensqaartas 4 : 19,
8:38, 12:57. Und dann meint er noch: rcliquas autem biqns generis
habitudines musicorum diligentiae committimus perscrutandas — ! Heyden
meint: „Franchinus, alioqai accoratissimus masicas, quid qnaeso de tae-
tuum meiisura, cum diversorum sigfnorum proportionibus recte conferenda,
uspiam ita doouit, ut nostrum laborem aiiquantisper levaret? (De arte
can. — Epist noncap.) &r1lno (Instit. bann. HI. 70) sagt mit ofUnser
Versehtnng: „Haveano oltra di questi gli antichi nello loro compositioni
molti altri accidenti e eifere di piü maniere, ma perchö poco piü si
usano, et non sono di ntUe alcuno alle bnone et sonore et harmonie,
pert) lassaremo il ragionar piü in lungo, di simil oose a coloro, cbe sono
otiosi e che si dilettano di simüe cifiive piü di qadio» che facemo nci**.
Bufay and seine Zeit.
445
bei SdiloM nnd Anfang 4er Zeile insofem bemshtet, dmu man
die Zeilo nicht geine mit eitum halben Takte endet; andi die
Behieibart der Pansen irird oft dadnrcli bestimmt:
(Petrocd** Ausgabe 1808 von Josqnin's Messe Heronlss.)
nicht aber:
So macht sich das Taktgefühl auch in den hfiufipen Syncojiinin-
gen geltend, und für die richtige Behandlung der Disäonauzeo
war die genaueste Beacbtong des Taktes entscheidend. Tinctoris
seigt sogar scbon «ne sehr richtige Empfindung lllr den ünter-
schied staiker nnd schwacher Takttbeile').
Man unterschied dreierlei Takt: „Von manchen** sagt Sebald
Heyden, werden drei Taktgattungen statnirti welche auch das
SSnp^erv'olk beim Sinf^en vorlSngst angenommen hat. Wer aber
die Eigenheit der Kunst und der Proportionen und die (iesang-
stilcko der bewährtesten Meister genauer prüft, wird die Ueher-
zeuguug erlangen, dass es nur eine einzige Gattung von Takt
gibt, weleher alle Arten wirklieh knnslgerechter Gesiiuge auge-
passt werden kennen nnd sollen. Denn wenn in den Takt aller-
dings Eintheilangen gebracht werden mttssen, so wird er doch
an sich kein anderer, wenn er langsamer oder schneller geschlagen
wird, sondern vielmehr, je nachdem er mehrere oder wenigere
Noten abfertigt. Wenn die Slteren Musiker einen rascheren
oder langsameren (lesang vf>rsrhreiben wollten, so bewirkten sie
solches nicht durch schnelleren oder trägeren Takt, sondern
durch die gedehntere oder zusammengedrängtere Geltung der
Noten selbst Denn es ist kein Zweifel, dass blos deswegen
die vermindernden Zeichen nnd die Tielfaehen Gattungen von
Proportionen in die Musik aufgenommen worden sind". Die
drei gebräuchlichen Gattungen des Taktes, deren sich die ,, Alten"
(vderea) bedienten, waren nach Adrian Petit- Coclicus der Takt
1) Tinctorifs redet von der rechten Art DisRonanzru anzuw«'ndrn, imd
sagt bei dieser Gelegenheit: „Quae quidem discoidantiae purvite ita vehe-
menter te non praesentant aaditni, qaomodo sopra mltifMu parte» notap
rtim cnllocantur, ut si nvjyra privin.s assuniantur. Suni «-nini nuisici vio-
lento motu hunt, unde »i niotus violcntuH ejus naturae sit, ut circa fmem
remittutur, conaequons est, secundaa parte» noiarvm non tarn rehcmenlis
iom esse, quam pHmtu ; qmd ^dem ixttelligendum est de notis mena%i-
ram dirigentihus , earumqur partihuft unititt, in ceteruni enim asque
exaudiri aonos manifestissimum est (Tinctoris, Contrap. III. .'il).
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446
Die Eatwioikelaiig dee awhnUmmigen Geeeagei.
der Prolatioa oder Tripla G * j O 3 ' — ' ^rei Semibreven
oder Minimen auf den Takt, der sweitbeilige Takt dnrch die
Brevie (hinarii per brevem) ^. ■ — ■ * t, der dritte durch dia
Semibrevis (3 * T T """^^ ^^^^ ^^^'*» ^^"^ Coclicus fort, ,,der-
zeit der gewöhnliche Takt für alle Zeichen. Es gibt viele
Stücke, die schwer zu ninpcn sind, wo eine Stimme in der drei-
fachen, die andere in der zweifachen l'roportion singt oder im
Tempus oder unter sonst einem Zeichen. Ks gibt Leute, die sich
ftir dergleichen mehr interessiren als sie sich angelegen sein lassen
geechmackToU und rein tu singen**. Man nntwsckied sehr genau
Takt und Mensur: „es ist swischen beiden ein Unterschied**, be>
merkt Coclicus. Der Takt war das einheitliche Mass der Grund-
bewegung eines 8tflckest mochte jetat Minima, Semibrevis oder
Brevis als Mass angenommen werden. ^^Der Takt**, erkifirt
Heyden, ,,ist die Bewegung dos Fingers nach gleichmassiger Zeit-
dauer in ph'iche Schläge getheilt, wodurch alle Noten und Pausen
in Uebcreiustiiuniunj; {^ehraclit werden"^). Dagegen ist die Mensur
nach ileyden's Detiniliun eine gewisse Bewegung in der Zeit,
nach deren dusch den Takt gleichmXssig geregeltem Wechsel
die Noten und Pansen eines jeden Gesanges mit Btteksicht auf
die Geltung eines jeden Zeichens sich regeln. Der Takt traft
hinter die Mensur xurUck, während bei uns die MensuT, die Aus-
gleichung aller verschiedenen Notenquantitäten untereinander, su
einem einifren Oanzen hinter den Takt zurücktritt, welcher offen
und sichtbar wie der Pendel einer grossen Uhr seine Schläge
schlägt. Daher hat unsere ncu(M-e Musik etwas eigenthümlich
schart und präcis Gegliedertes; die rhythmische Eigenschaft der
Motive macht sich in energischer Weise bemerkbar, wir werden
gleichsam ttber Berg und Thal gefllhrt, wXhrend die alteithttm-
Uchen Gesangstttoke aus den Zeiten der Mensuralmusik etwas
YOn dem gleichmSssigen Hinströmen eines grossen Flusses haben,
dessen Wellen in einander spielen und kaum merkbar inein-
ander übergehen, und wo dem Auge nur der Eindruck einer
grossen ruhig hinwogenden Fläche bleibt. Freilich brachte,
wie wir aus jener Aeusserung des C<K"licus sehen, die Uebung die
Sänger allgemach wie von selbst auf diu drei Taktirarten, die
1) TactuB ... est digiti notas aut nntas ad temporis traotom in
vices aequales divisum, omnium notulaniTn nc pnuHRmm quantitates
coaptsns (de ari cau. I. 5). Hennann Finck dehuirt: Tactas est motio
Continus praecentoris mimi signorom indido fkola, caatsm dirigsns
menimraliter. Adam de Fulda (^ehr gnt): T^Mtos est oontinua motio in
U)e&»uia contentae rationis (III. 7).
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Dafay vnd aeine Zeit
447
noch für uns massgübeud sind: den ungeraden, geraden und
den Alla-Breve-Takt Als jene kflnsäieliett Tonsätze aufkamen,
wo jeder Stimme ein anderes Signum TOigeselirieben war, mosste
der Leiter des Gesanges naeh einem gemeinsamen Ifittelmasse für
alle Sfiinmen greifen. Dies war eben dor Takt im Tempus, die
S(Mail>rovi8, die nach jener Angabe des Coclicus als gemeinsckafl-
licher Re^^iibitor flir alle Stimmen angenommen wardc. Sebald
Heyden stellt die zwei allgemeinen Regeln {regulas catholicfVi) auf:
itCrstenH, in allen Gosrängen nur einerlei Art von Schlägen anzu-
wenden, zweitens, alle Zeichen nach dem Werthe der Semibrevis,
als einer unverrückbaren Grundlage, zu bemessen.'* Aber solche
Siltse waren in der That sebr sehwer an singen, um desto scbwierigcr,
je verwickeitere Zahlenproportionen der Gomponist in Anwendung
brachte. Es hiess dem SXnger beinahe das UnmiSgliehe sumuthen,
wenn er die verschiedensten Verhältnisse nach den stets gleichen
ScblÄgen dos l'aktes regeln sollte. Sebald Heyden beschränkt die
ausfuhrbaren Verhältnisse auf die Relationen von drei und vier.
Als man dahin kam, die Auff^abe der Musik nicht, gleich den
gelehrten Theoretikern, in der Lösung verwickelter m<ithema-
tiscber Probleme zu suchen, fing man an vom iideger valor völlig
abauweichen, indem man durch schnellere und langsamere Bewegung
ein eigentliches Tempo anauwenden begann. Damit ist nun Sebald
Heyden wieder ganz und gar nicht einverstanden. In der epistola
numupatoria seines Buches sagt er: , .Zuverlässig würde sich die
Bedeutung der Zeichen unverändert erhalten, wenn nicht die Ein-
fiihruiipf verschiedener Taktarten jene Bedeutung verdunkelt und die
wahren (Frenzen der Kunst Uberschritten hätte. Durch diese un-
besonnene Zulassung von allerlei Takten ist das Wesen und die
Eigenheit der Proportionen, welche den Werth der verschiedenen
Zeiehen unter sich bestimmen, verwirrt oder wenigstens entstellt
worden. Wir müssen solches um so mehr beklagen, je weniger
es nöthig war mehrere untereinander verschiedene Gattungen des
Taktes zu ersinnen. Denn da diese Meng^ verschiedener Takte
nur zu dem Zwecke erfunden worden ist, um dadurch verschie-
dene Ü.'wegungen des Genaustes aiisztidriicken, Jetzt eine langsame,
jetzt eine raschere, jetzt eine äusserst selmellc: so muss man
wirklich fragen, ol) diese Neuerer von Propintioncn, Augmenta-
tionen und Diminutionen etwas verstehen. So viel ist gewiss,
dass sie durch ihre verschiedenen Takte leisten wollen, was die
Alten viel besser und kunstgemässer durch die Diminution und
Proportion geleistet haben" 1).
1) Es konnten versohicdsne Stimmen unter verschiedenen Zeichen
ohne xi^thmiscbe Verwirrung singen, wenn nur die Summe sller Zeichen
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448
Die Eniwickelung des mehntimmigen Gesäuges.
Die Mnnker dieser Epoche untoschieden anch wieder dici
Hauptgattun^en von Takt: den grösseren (majot), den kleineren
(minor) und den proportionirten (jyroiwriioiiatus). Der erste, der
auch ganzer l'akt (totalis oder interjralis) hiess, bestand darin,
dass die Breviw in nicht verminderter Taktining nach Modus und
Tempus bemessen wurde j dagegen kamen beim anderen zwei Semi-
breven oder Minimen auf einen Takt, d. h. Schlag: „er herrscht
bei den Neuem gar sehr vor," sagt Hennann Finek, „und wird
auch allgemeiner (gemeräUs) oder gewöhnlicher Takt (fmlgan$) ge>
nannt Kamen drei Semibreven gegen eine, wie in der THpla
(sc, proportio) oder in der perfecten Prolation drei Hinimen, so
hiess der Takt proportionirt"
Zu den Feinheiten der Mcnsiiralisten gehörte endlich die Syn-
copirung (syucopatio), v^ 'n' llennann Finck definirt: „Die Beziehung
einer kleineren Note über eine grössere weg auf eine fthnlichc
kleinere, der sie zugerechnet wird, wie wenn zwischen zwei Mi-
nimen eine oder mehrere Semibreven stehend gegen den Takt ge-
sungen werden, oder s wischen swei Semibreven eine, awei oder
drei Breven.** Das ist dieselbe Bedeutung, die -mr noch heute
mit dem Worte Syncopirung verbinden. Durch die ganze Mensiiral«
musik spielt diese Anordnung eine grosse Rolle. Unter Syncopen
(Syncnpae) vorstand man aber ancli itisbosondere fiinftln-ili^o d. i.
halbseliwarze N(»ten, deren weisse Hälfte drei, die schwarze zwei
Semibreven {raU, oder auch einen constanten Wechsel >veisser und
schwarzer Breves. Bei dem Schreiben der Pausen durften mehrere
Pausen nur dann in ein einziges Zeichen ausammengezogen werden,
ein zusammenstimmendes Resultat ergab. Sebald Heyden (S. 7^ rÜh
die Resolution sehwierigcr pcrfcctcr Säf ze in die Tmpfrfection Tin machen
(ex Integra perfectione in diminutam imperlecttoaem resolvere), was er
an dem Kyrie „Malheur me bat" von Agrioola nachweist, statt
solle man rssolviren :
Der Hörer werde gar keinen Unterschied bemerken (nt utrumlibet rede
cantari proeul audiens dgodiosre nequeat, mt^^rofM jp»feeHo eantetmr,
an reisoluta diminutio).
1) Uermann I mck, Musica practica, Lib. II de Tactu.
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Jhähj und HOB» ZtÜL
449
wenn sie zuHammen in denselben binären oder tcrnären Absclinitt
gehörten; Ronst miissten sie getrennt notirt werden. Dieses ganze,
grosae, reich und siunvoU ausgebildete System findet sich schon bei
denlfeiilAfii der enken mederlindiseben Sehnle ab etwas vollBtibiidg
Bekanntes nnd dnreh anhaltendeUebung handlieh Gewofdenes vor;
die Anwendung desselben auf kttnsüieh durchzufUirende Probleme
bildete sich jedoch erst in der sweiten, nacb Okegbem benannten
niederländiseben Schule aus. In der ersten machen sich erst die
Keime davon in ziemlich bescheidenen Versuchen bemerkbar. Hat
unsere jetzige Notensclirift für uns, an sich genommen, keinen
selbstständigen Werth, ist sie eben nur ein Mittel die Composition
zu tixiren: so war jene Mensuralnotirung weit inniger mit dem
Wesen and Kern des Kunstwerkes selbst Terwaebsen. Neben dem
dnrcb die Ansfttbrung dem Obre ▼eiraittelten Klange , neben dem
knnstreicben Tonsatae bietet meist selbst schon die blosse Notimng
jener alten Compositionen irgend eine interessante Smte^. Die
sinnreiche Anwendung der schwarzen Noten, der Ligatoren^ der
Punkte, die feingegriffeiien Imperfizirungs- und Alterimngsnille,
die Concordanz der einzelnen in verschiedenen Taktzeichen ge-
schriebenen Stimmen, die durch blosse Proportionen durgestellteu
künstlich combinirten Vergrösserungen und Verkleinerungen, selbst
das spielende Arrangiren der Notenquaiititftten in eine regelmässige
Folge ^): alles das hat soweilen mit dem eigentUchen Knnstweike
gar nichts sa thnn nnd an rieh nieht mehr Werdi als etwa die
DnrehfHhmng eines Rösselsprunges auf dem Scbachbiet, aber es
hat etwas eigenthUmlich Anziehendes.
Die Mensuralnotimng, und wesentlich sie, führte zurEntwicke-
Inng jener Seite der niederländischen Kunst, welche unter dem
Namen der ,, Künste der Nicderlän»! er" beriilnnt und verrut'eii
i^t und die ungerechteste Beurtlieilung erfaliren hat. Schon Kiese-
wetter hat mit vollem liechte darauf aufmerksam gemacht, dass
„keineswegs alles, was die NiederlXnder liefiarten, Canons nnd
BSthsel waren, wie man au glauben Tersucht wird, Ja glauben muss,
wenn man ne blos nach den Lehrbflcbem, Compendien, ja selbst
nach den grossen gelehrten Traktaten der naehgefolgten Theoretiker
1) Diese Seite geht bei den sogenannten „Entzifferungen" in moderne
Tonsdhrift natHflioh f eri oren.
2) So z. B. hat Ludwig Senfl (um 1520) eine seiner Bcarboitungcn
des Fange lingua (sie steht in Rhaw's Sacror. hymii. lib. I. 1542
N. LXVI) in einer fast unglaublich fein abgewogenen , künstlichst ange-
ordneten Notimng niedei^^eBchrieben. An einer Stelle des Tenors ordnet
er die Noten fast wie Pnternnsterkügelchen, abwechselnd eine punktirte
Brevis nnd eine Minima, weiterhin eine weisse and eine schwarze Brevis
n. s. w. Es w&d mdbt tbecflflarig sein sn bemailBen, dass das Toastfldc
selbst Yen miohtig feierlichem Charakter ist.
A»bto», OsisMcfcH im Mnlk. U. S9
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450
Bio BDtwiokclinig dei mehnkhmiiigen OmngM.
und Didaktiker, besuiiders der deutschen^), beurtbeilt, welche ganz
eigentlich darauf ausgingen aus den Werken der Meister nur der>
gleichen viel bewunderte Spielereien sn sMnmeln***).
/. Wurde eine Composition Uber einen knnen Liedtenor, oder
Über das knne Motir eine Antiphone gesetit, so lag es dem Com»
ponisfcen nahe» seinen Tenor das Motiv entweder in sehr langen
Noten vortragen zu lassen, um für die contrapunktische Entwicke-
Inng der übrigen Stimmen Kaum zu gewinnen, oder es ihn zu
gleichem Zwecke mehrere Male durchsingen zu lassen. Um das Lied
als Lied selbst fiir den Blick in der Tsotenschrift deutlich hervor-
treten 2U lassen, wurde statt langer und schwerer Noten die Notirung
in Breven nsd Uinimen vorgezogen, aber dem Sänger doreh die
beigeschriebene Anweisung „Alles doppelt, gross" CeresetltiifiiiplMM)
oder „dreifach gross" (vk triphm) deutlich erklirt, dass er jede
Note doppelt oder dreifach so lange auszuhalten habe, als ihr nach
An&eichnung nnd integer valor eigentlich zukäme. Zu gleichem
Zwecke konnte man die Stimmen unter verschiedenen Zeichen singen
lassen, z. B. den Tenor sein Lied in der perfeeten Prolation, die
andern Stimmen im perfeeten Tempus, wie Vincenz Faugues im
Kyrie seiner Messe Ommt anne,^ (den Tenor in solcher Weise
durch einen knapperen Takt auszuzeichnen, kam später h&ufig vor:
als Bdspiele seien die weltlichen Lieder Comtm ftmme von A. Agri-
eola, Tamdemakm von Lapicida, Tartara von Isaak genannt, simmt-
lich in den Canti cento cinquanta). Der weitere Einfall gab sich nun
wie von selbst bei wiederholtem Durchsingen den Tenor das Lied
das erstemal in langen, das anderemal in kurzen Noten vortragen
an lassend Das konnte nun wieder entweder mit einer kunen bei-
1) tiiareanuB und Sebald Heyden obenan.
S) O. d. M. 8. öS. Iii der Tbat ist die Vorstellung aar nicht selten,
dass man sich einen Okeghem, Hobredit n. i. w. in seiner düsteren Studier»
stube denkt, wie er irgend einen unsingharen, für Menschenohren unmög-
lichen HsUhselcauon nach langem Kopfzerbrechen ausheckt, und schadenfroh
vergnflgt in den Bart lacht, wenn CoUegen und Sänger sich daran ihrer»
srits (lio Köpfe zerbrochen; bis ihm zur Revanche eine fthnliche unknack-
bare Nuss entgegengehalten wird; und als sei das die Kunst der Nieder-
lllnder gewesen. Wie staunt man, wenn man den gewaltigen Ei-nst, die
Tiefe und Urkraft dieser verrufenen Meister aus ihren Werken fc ^ mm
lernt! Freilich mnss man die Werke in selten besucliten Winkeln grosser
Bibliotheken, im Staub der Archive suchen, und wenn man sie gefunden,
erst aus ihrem Zauberschlafe erwecken. Das ist aUerdiags nirat Jeder-
mann's Sache, sie kostet viel Zeit, trrosse Mfihe (und, um den pro-
saischesten, aber leider nicht zu umgehenden Punkt zu berühren, (leid)
und es ist jedenfalls weit bequemer Forkel und Kiesewetter abzu-
schreiben und SQ sagen, was sie sagten, ,^ar mit ein bischen anderen
Worten," als, wie weiland der brave Bumey, den" unsere Zeit über die
Achsel anseht, weite Reisen durch deutsche und italienische Biblio-
ftheken und Kirchenarchive su machra, wom heatsutage gar aodk die
nicht minder wichtigen helgischeD and franiteisdhen koounenl
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Do&y and leine Zeft
451
geschriebenen Andeutung geschehen, wie Dufay's ,,Ad metlium
referas pansas linqvendo prioi'cs", oder ohne zu einer direkten In-
struktion für den «Sänger zu greifen, durch ein doppelte» Takt-
leicben, welches den Sänger bedeutete, dass er seinen Satz erst
iMMili der Geltang, welche das eine Zechen den Noten gab, toisu-
tragen habe, alsdann aber nach dem »weiten Zeichen, wie s. B.
schon Eloy im Ägim seiner Hesse ,JHxeruui disdpuU** ein solches
Doppebeiehen {tigmm conira ngmm) anwendet.
(Diesp Noten sind das erstomal im Modus major cum tempore perfcctn, dag
zweitemal iui Modus Diiuur cum tempore imperfecto dimiuuto xu siugeu.)
Ans diesen gans nnverflCnglidien Mitteln die schriftliche
Aufzeichnung zu vereinfachen (der bei<re.scliriehenen Anweisung
und dem melirfachen Zeichen) entwickelte sich hernach die ganze
Uclx rtulh» der mnnni;:fachsten Künste und Probleme. Man liebte
es in jenen Zeiten, jeden Spruch, j<'fl(« Kegel in metrische Form
zu bringen: nach der Zeit ^V^•ise wurden also die Andeutungen
für die SKnger in verbifizirte Denksprüche gefa«8t. So gibt Eloy
bei jeuer Messe den Sffngem die Belehrung mit auf den Weg:
NoQ faciens pausas super signis capiens has
Tempora tria primae lemper bene pause
Sex deoies currens cunctaque dgna videns.
Der erste Vers macht die Singer anfineiksam, dass die Pausen vor
dem Zechen blosse Signa des Modus und nidit wirklich zu pausiren
sind u. 8. w. Hatte der Sänger bei einem blossen „crescit in duj^um**
u. dgl. die erhaltene Anweisung eben nur einfach zu befolgen, so
konnten andere Sprüche schon ein Nachdenken herausfordern (8ch<»n
JJufay's ,,ad nudium" u. s. w. klingt wenigHtens rathtselartig) und
von da war nur noch ein Schritt bis zum wirklich änigmatihcheu
Spruche, zu den Bäthseln, wie sie in der Folge, immer eines spitz»
findiger als das andere, oft sehr sinnreich und suweilen mit einer
sehr witaigen Pointe, in grosser Menge aufkamen und die man
Canon nannte, weil sie dem S^inger als Regel und Richtschnur
(xavttiv) dienten^). Aehnliche Erweiterung und Steigerung erfuhren
die wiederholten Tenore und die l)(»pjielzeiel)en. Wenn unter den
Meistern der zweiten Schule z. B. Jajiart in ^>einem hübschrn Linie
ffFwtma d'un grau tempo" einen m&ssig langen Tenor nicht nur
1) Bei den uiederläudischen Häthselcanons brauchte eine uachahmendo
Folgestimme dudiaas nicht Yoriianden zu sein. Unser „Canon" ist etwas
gans anderes.
89*
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452 Die ^twickdung des iiMlinlun]iug«a G«Miiget.
blo8 zweimal, »uadem gar viermal (unveräudert) durchsingen*),
wwnii J«kob Holireeht, der «Bete Anodbiiiig vonüglich liebt, in
Semen MeiMB dnen gansea lang dnrebgeflbrleii Pttit sfreimal
naehemaader unter swei Zeleben vortragen lisst, wie in aeiner
Heiie „Fofitma disperata" im enten Affnus den Tenorpart, im
dritten Agitmt den Sopran; wenn eben wieder Hobrecht femer
einem kurzen Tenor drei Zeichen vorschreibt (wie gleich im
ei-steu Kyrie der Messe ,jc iie flentaiide" der Tenor das nur fünf
Noten lange M<jtiv nacheinander im Tempus perfectum, imperfeC"
tum und imperfectum diminulum singt) oder ihm vier Zeichen
voransetzt, wie im Credo derselben Messe, oder gar Abif Zeiebea,
wie bdm „et in spirüim'':
(Jaa Hobrsdii es Uissa Je ae demaade.)
£t in spiritum sauctum.
80 sind das nnr Erweitemngen waA weit getriebene Conseqnemen,
wozn sich der Anfang nnd Anlass in jenem an sieb barmlosen
Signum coiitra Signum der ersten Schale findet, von dem damals
nicht blos Eloy, sondern auch schon Dufay Gebrauch machte«
wie Pietro Aron ausdrücklich zu bemerken findet^).
Der sinnige Dufay unternimmt es mit besclieidener aber so-
lider Kunst Nachahmungen in zwei Stimmen so zu gestalten, dass
die zweite etwas spüter eintretende Stimme wenigstens eine Ittirze
Strecke weit das treue Spiegelbild der ersten darstellt, die Stimmen
also dagentge bilden, was wir heutsutage einen Canon nennen,
was aber den alten Tonlehrem, wie Tinctoris u. s. w., Fnga beissL
So verbindet Dulaj in seinem schöntti swelstimmigen Rnurrfidns
der Messe Ecce ancilla Domiiii die Stimmen an zwei Stellen zn un-
gezwungenen Canons in der Uctave, so gestalten sich ihm in seiner
Chanson ,yCent mille esads" die Naclialimungen wiederholt zu
kurzen Canons in der Uuterquinte. Gesteigerte Uebung konnte es
bald nach Dufay's Zeit wagen swei Stimmen ein ganzes Tonstück
hindurch in soldie BedprodtHt au bringen. Dabei mnsste von selbst
auffallen, dass für zwei Stimmen solcher Art einerlei Notirung ge-
nüge: man deutete nur der Folgestimme die Stelle des Eintrittes
mit einem Zeichen an nnd allen£slls mit einer kurzen Andeutung
Uber das Intervall, wenn der Canon nicht all' unisono gesetzt war.
Der Bass fand dann z. B. nur die Weisung ,Jbn88um guaere im t^ntfrc
Canti cento cinqnanta foL 68.
^ 8. dessen Toacanello in musica I. 38«
uiyiu^uu Ly Google
Dn&y imd tem« SSeit
45d
in hypoäiapente". Aber ancL liier konnte man die Sache in De-
viöenform fa.ssen, z. B. „ejcempluin dedi vobis ut et vos facialis sicut
€t eyo feci" ; man konnte allenfalls noch sonst etwas Räthselhafies
damit yeibinden, sollte s. B. die Folgettimme alle Noten der ans-
geaehriebenen ersten ringen, nnr die schwanen nicht, so diente
der evangelische Sprach snr Devise „qui stquUwr me non ambvHM
«I fsiM^m." Oder man setste der Folgestimme ein zweites Zei-
chen, wenn es ein Canon per augmentationem oder diminutionem
war (so Barbyioau im Plem seiner Messe rirgn parens Christi , so
Uobrecbt im Christe seiner Messe Peti'^us apostolns). Man konnte dann
in gesteigerter Kunst nicht bloss zwei, sondern drei Stimmen aus
einer entwickeln; mau schrieb dann allenfalls devisenmässig „triui'
iaim ta mUate vmsramur'* oder, wie Arnold von Break i&inig in
einer schönen Motette an die „hdlig Dreiueltikeit^* ,jtrwUaB t» mi-
lote". Oder gar vier fikinunen ans einer, wie Fierre de la Rae in
seiner Hesse „0 «oltf^am hosHa". Solche Käthselstimmen oder im-
plizirte Canons waren selten (wie hier bei P. de la Rae) selbststXn*
dige SStze, sondern sie bildeten einen Bestandtheil eines vier- oder
fllnfstimmif:^en Ganzen , wobei die übrigen Stimmen offen nusjro-
schrieben waren. Später spitzten die Meister die Sache bis in's»
Undenkbare zu. So entwickelt Josquin im Agnus seiner ersten
Omme-armi-lAesse drei gleichzeitig anfangende Stimmen aas einor
einzigen mit dreierlei Zeichen. Pierre de la Rae treibt in seiner
rivalisirenden OmiiM^arm^-Messe die Sache (aaeh im Ägtm) bis zu
vier Stimmen und vier Zeichen! In dem Vorstehenden soll hier
vorläufig nur der Nachweis gegeben werden, wie jene so merk-
würdige und eigenthümliche Richtung der zweiten Schule sich
aus {ranz natürlichen, ja einfachen und ursprünglich nichts weniger
als räthselhatt gemeinten Anfängen entwickelte, die alle schon
in der ersten Schule wurzeln. Es wird auf jene Künste erst bei
Darstellung der Zeit und Schule Okeghem's (der meist fUr den
Führer and Bahnbrecher dieser ganzen Bichtang gilt, wKbrend
er and seine Schüler and Kanstgenossen eben nor weiter aaa-
bildeten was rie von ihren Yorglngem überkommen) omstibidlieher
einzugehen sein.
Fassen wir nun die einzelnen der ersten niederlfindischen
Schule angehörigen Tonsetzer näher in's Auge, so ist nach Zeitfolge
wie nach Talent der erste in diesem Künstlerkreise jener Wilhelm
Dufay, ein Hennegauer von Geburt (als sein Geburtsort wird
Chimai genannt^)). Von seinem Leben wissen wir nur, dass er
1) Fetis „Memoire snr cette (iut'sti«»!i ttc." S. 12 und 13. Auf einer
Handschrift aus dem Anfang des 10. .Jahrhunderts fand nämlich Fetis die
Ueberschrift „iSecaudum doctrinam Wilhelmi Dafais Cimacemtia Hann."
Dermal macht F4ltu daranf anfinerksam, oh nieht Dnhj etwa aas Ft^-la-
Ville oder Fl^-le-Ghftteaa (beideB Orte auch im Henaegan) abstanraie. Tiao-
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4d4
Die Entwickeliuig dflt mehrstÜDmigeo OeaMigen
sehon 1380 In der päpsdielieii Kapelle SSngw war; da nur drei
Jabre Torher, ninUich 1877, die Büekverlefaiig dee pl^illielien
Stuhles rom Avignon nach Rom erfolgt war so mag Dnfay yielleicbt
unter den mitgebrachten Sängern gewesen sein. Er starb hoch-
betagt und allgemein verehrt zu Rom 1432. Sein und seiner Mit-
künstler und Landsleute Eintritt in die päpstliche Kapelle war für
die Musik höchst folgenreich und eines der wichtigsten Ereignisse
in der Geschichte ihrer Kntwickelung. Als Clemens V. im Jahre
1305 den päpstlichen Stuhl nach Avignon versetzte, war der Chor
der Sänger, die Sckola Cautamm, nebst ihrem Piimicerios in Bom
snrftckgeblieben, in der neuen Besideas aber wurde ein neuer
8Sngei«bor filr die geistliebe Kapelle gebildet i). Die fransösischen
SXnger, die man an Ort und Stelle warb, brachten ihre Fauxboor-
dons, ihre Verzierungen und Manieren in die päpstliche Kapelle.
Clemens V., der erste Avignoner Papst, hatte zu viel mit den In-
teressen des Königs lMiilij)p, dessen gefügiges Werkzeug er war,
mit dem Prozess der Templer u. s. w. zu thun, um gegen die Neue-
rung etwas einzuwenden. Warf ihm doch Cardinal Napoleon Orsini
toris nennt Dufay einen Franzosen, was bei der geringen Unterscheidung,
welche man damals zwischen NiederlAndern und Franzosen machte, ▼o&
kfiiH in sonderlichen Belang ist. Sebald Heyden in der Vorrede seiner
„Ars cuneudi'' nennt Dufay ehrenvoll, A dam von Fulda spricht von ihm
mit Bewanderang. Auch Joh. Spataro, Franehiniit Oaxor und Aron
sitirenihn als Autorität. Hermann Finck (Heinrich Finows Oronnelfe,
nicbt, wie P'orkel Bd. II. S 517 vcrmuthct, Sohn; er sagt: patruus nieus
magntis) erwähnt Dufay 's kurz, in niciit glücklicher Charakterisirung seiner
Bedeutung. Hawkins und Bumey beobaehten flher Dolay tiefe« l^bÜI-
schweigen, sie scheinen von seiner Existenz «jar nichts gewnsst zu haben.
Walther, der den Namen bei S. Heyden fand, nennt Dufay einen „alten
lirantsOttflchen Mnsicus,'* was Geiber ia wuner gesdunaddosen Manier ri»
„eini r der ältesten Granbftrte imter den Contrapunctisten" wiedergibt
Schilling's musikalicihes Lexikon weiss von Dufay wenigstens nichts mehr
als was schon in Kicsiwetter steht, das Schladebach'sche bespricht den
gnrasen Künstler, den Bpochemann, in zwei ans Kiesewetter abgesehrie»
l)erioti Zeilen. Forkel nu itit, dass von Dufay „nach aller Wahj-scln-iiilich-
keit keine einzige Nute mehr vorhanden ist" ; da irrt er freilich gaj- sehr;
die Aeonernng igt aber oharakteristiieh: „was ihr nicht tastet, liegt euch
meilenfem." Forkel hat nichts von ihm zu Gesicht bekommen: ergo ist
nichts mehr vorhanden. Fetis in seinem Memoire und Kiesewetter in
seiner Musikgeschichte halten über Du Tay wirklich WerthvoUes mitjni-
theilen gewuwt Emen gehaltvollen Artikel (gehaltvoll trota groiier Be-
denken, die man pregen Einzelnheiten desselben ausspreclion muss) brinsrt
Fetis in seiner Biogr. univ. 2. Aufl. iS. 70, 71, 72. Kiesewetter hat durch
seine Verbindung mit Baini Termocht, was filr andere Sterbliche beinahe
eine Unmöglichkeit ist, aus dem Archiv der päpstlichen Capelle Compo-
sitionen von Dufay, Faupues, Eloy u. s w in Ahschrifl zu erhalten.
Wenn Fetis (a, a. 0. 2. Bd. S. 128 ad voc. Busuois) die Veröffentlichong
in Aussicht stellt, so haben wir nur den Wonach aossosprechea, dais
ta» nicht zu lange auf sich warten lassen mAjje.
1) Baini, Vita ed Opere di i:'ieriuigi da Palestrina.
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Dufay und seine Zeit
455
▼or, er wolle die Kiiehe „auf einen Winkel der Oeaeogne reda-
eiren.** Wie bitte er, der ganz und gar frensttaiaeli decbte und han-
delte, etwas dagegen haben sollen, wenn man in seiner Kapelle
auch im französisclHMi Geschmacke sang? Aber schon sein Nach-
folger Johann XXll., der starre, harte, kalte Jurist, der gefiirch-
tete Blutmann", wollte den Gregrorianischen Gesang von jenen
Zusätzen mit energischer Strenge reinigen und decretirte im Jahre
1322 jenes berühmte Verbot der mensurirten Musik. Das Verbot
mag Tielleieht bia an seinem Tode (4. Deeember 1884) reepectirt
worden sein, aber sicber nicbt llCnger. Benedict XII. (1884 — 1843)
war dem Pranke nicbt abgenwgt (er bavfte den präcbtigen Palast
zu Avignon). Clemens VI. (1842—1852) war ▼eilends der Welt
Herrlichkeit nnr an sehr gewogen, sie musste nur eine sacerdotale
Färbung annehmen, wie er es denn z. B. sehr wohl aufnahm, als
seine Schmeichler am Pfingstfeste einen prfichtigon Ruliiti seiner
Tiara mit einer der feurigen Pfinpstziin<;en verglichen. Die Curie
war so arg in üppiges Leben, Geldgier und Prunksucht verstrickt,
dass selbst die Bemühungen der strenger nnd besser gesinnten
Päpste wie Urban V. mit Reformyersncben scbeiterten. Da mocbte
man freilicb an der Askese des nngewttraten Cantut planus keinen
Gefallen finden und dem volltönigen Vortrage der französiseben
Sänger und vollends der Niederländer den Vorang geben. So ge-
schah en. dasH die Avij:;^noner Kapelle mit nach Rom genommen
und mit der Kömischen Kapelle versclnuolzen wurde, als Gregor IX.
im Jahre 1377 bleibend dahin zm iickkehrte.
Gleichzeitig mit Dufay nennen die Documente der Kapelle
eine Anzahl von SXngem, deren Namen auf niederlKndischen, viel*
leicbt anm Tbeil franaOsiseben Ursprung deuten: £gyd Flannel
genannt Penfant Jean Redois, Bartbolomaens Poignare,
Jean de Curte genannt Pami, Jakob Ragot, Qnillaume du
Malbecq, nnd neben ihnen nur einen italienischen Namen Egidio
Lauri, und einen keine Anhaltspunkte gewährenden Arnoldo de
Latinis. Mit den Niederländern kamen auch ihre Compositionen
nach Rom, gegen welche wieder die französischen Decliants als
niedere Kunststufe erscheinen niussten. Es war in der päpstlichen
Kapelle Sitte, neue Figuralcompositionen an Messen, Motetten u. s. w.,
welcbe bei der Probe BeifUl fanden, von eigenen Copisten in grosse
Codices einscbreiben an lassen^). Diese riesenbaften Btleber hatten
dieEinricbtung, dass sie aufs Pult gelegt, von allen SKngem, welcbe
sieb davor stellten, leicht eingesehen werden konnten und dnaelne
1) So wurden z. B. 1561 die von Palestrina (der damals noch Kapell-
meister in Lateran war) den päpstlichen Sängern überreichten Motetten
Beatus Laurentius und Estote rortes in hello, uid die Missa super ut,
ro, ini, fa. so\, 1a prohirend prosun^en und, als sie gefielen, sofort in die
Codices ^io. 3b und M eingetragen.
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456
Die Entwickelimg de« mehrstimmigea Gcnoges.
Anflagstminien eBtbebilieh maditeii. Die pi^idielie Kapelle beeilit
solclio mit gemalten Initialen und Randornamenten an Blmnen,
Arabesken, Menschen- und Tliicrgestalten prfichtig geschmückte
mächtige Pergamentcodiecs, vclil o eine bedeutende Anzahl von
Coinpositionen der ersten nicclcrläudi^clien Schule enthalten. Mit
dem Eintritte der Niedorl.'iüi^cr in iViv ]>Hpstliche Kapelle war ihr
Uebergewicht auch iu llnlicu entschieden.
Dafay'B Ruhm rciclito nicht lange nach seinen Lebseiten so»
gar Uber Italien hinaus; 14C0 bemerkt Adam von Fnldai der
in Jenem Jahre seinen gehaltreichen mnsikaliadhen Traetat in swei
Thdlen sehrieb, über ihn: „Die Compositionen Dnfay's haben un-
seren ToDsetzern einen sehr bedeutenden Anfang geregelter Form
(magmm initium forvialitaiis) geboten, was man insgemein Manier
{manerum) nennt. Mit den bestehenden Kegeln nicht zufrieden,
ging Dufay in der Versetzung (der Tonart) über die Grenzen (des
Guidonisehen Systems) hinaus, was den Instrumenten sehr nützlich
und auch wol um ihretwillen geschehen ist** u. s. w. Adam bemerkt,
dafls Dufay tber das mI* und unter das Gamma^if Guido's nodi
drei Töne snsetate i). Die UamUa, wie der ehrwürdige Adam
sagt, würden wir in nnserer Ansdmckswdie Styl nennen.- Dnlky
war der Erste, dessen Arbeiten wirklichen Styl zeigen, und der den
Tonstticken jene Form, jenen organischen Bau gab, welche auf
Jahrhunderte hin fallordings mannigfach erweitert nnd modificirt)
Kegel und (besetz blieben.
Als Jugendarbeit Dut'ay's gilt die schon erwähnte noch schwär»
uotirte Chanson „Je prends conge". Im Tonsatze schon völlig un-
tadelig und „mit allen Feinheiten der Mensnralmnsik" componirt,
llsst sie bei noch sehr schflchtemen nnd mageren Formen doch in
der Bildung und Ftthmng der beiden gegen den Tenor gestellten
Stimmen unverkennbar schon etwas von jenem melodischen Zug, der
eigenthUmlichen Innigkeit und G efllhlswärme erkennen, wodurch
sich Dufay's reifere Arbeiten auszeichnen. Die Chanson Cmt miUe
escus guant je voeldrai und eine andere auch dreistimmige „De tout
m'estais ahandonn^" (aus einem Codex der Bibl. zu Paris) zeigen
gegen jene frühere den Fortsdiritt des Schülers zum Meister. Be-
deutender aber als alle diese zierlichen Kleinigkeiten sind Dufay*s
Eirchenstttcke. Das Archir der pKpsÜlichen Kapelle besitnt von ihm
die vierstimmigen Messen: 8e la faee ay paU, Tamt je ms deämt,
Lmme arnU und Eece andUa Domini — Arbeiten von geklirtem,
edlem S^l, in denen sich die innige OefUhlswSrme und der reine
Schönheitssinn Dufay's in der anziehendsten Weise ausspricht. Das
erste Kyrie der Messe Se la face bat schon etwas von jenem sera-
phischen" Zuge, wie ihn, bei allerdings weit reicherer und viel
1) Ad. de Fulda, Mos. (IL 1) bei Gerbert 3. Bd. S. 342.
Da&j and •dne Zeit
457
httlierttr Avibildimg deBTonBatsee,Palettriiia*8Gompositioneii zeigen,
y länselne Stellen, mt der Sehlnw des ersten Kyrie der Hesse L'mtM
omni, erheben sieh ra einer gans entwickelten Schönheit Fast dnreli«
gängig ist der Ausdruck einer wundersam süssen Welirauth und
holdseligen Innigkeit über diese Sätze gebreitet; die Messe OmeM
wnini könnte man am besten mit dem Ausdrucke cliarakterisiren, sie
sei ein Lächeln in Thränen. Nirgends wird der Zug und Gang der
Stimmen lebhafter oder energischer, alles liegt in der Verklärung
desselben reinen Lichtes da, und wo jener lieblich wehmüthige Aus-
druck ja einmal zurücktritt, bleibt wenigstens ein eigenthttmlich
mildemster, stillfeieiÜclier Metettenklang übrig. (Das OmcifixäS
nnd Owmna der Hesse JSeee onctOa sind Hanptbeispiele fllr diese
Bichtang 1)). Bei diesem Vorwalten von Firbong und Beleuch«
tang treten die Contourrn nirgends mit jener energischen Schärfe
hervor, wie bei den niederländischen Meistern der folgenden
Zeiten; die Stimmen verschmelzen wie ineinanderspielende Strahlen
milden Lichtes. Dabei ist die Btinirnenfuhning durchgehends sehr
fein belebt, in Sätzen des pcrfVcten Tempus sogar durch genau
ineinandergreifende Syncopirungen n. 8. w. ziemlich complicirt.
Der ideale Zog des Garnen hilft Uber maaehe befremdliehe Wen«
dnng, Uber manchen tersenloeen Leerklang hinttber, welche jenen
Friihselten der Knnst angehören. Selbst der magere iweutimmige
Satz gewinnt unter Dufay's Händen Winne, Firbniig- und Leben
(BenedietoB der Hesse Eoe» aneUla),
1) Wenigstens ein Fragment des Oasnna mag «ine Tontellung geben:
in (
^ — ^
^xcelsis
&
m
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" 1 1 1 1 — hj.—
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t — ^ — « — — * — a-i
— *h
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Alt- -ö-
458
Die Sntwiokehiiig det mehntimmigeft (Ifingfü.
Anaser Rom besitzt nur die k. Bibliothek za Brüssel in «mem
rat dflr Kapelle der Herzoge yon Burgund heirlllireiidea Codex
(Nr. 1555) einige bedeutende Compositionen von Dafay : drei Metsen
in drei Stimmen nnd drei andere m vier BtimlDen; und in
einem Codex der Bibliothek zu Cambray (Nr. 6) findet nch ein
vientininiiges mit Dufay'g Nninon bezeichnetes Gloria.
Der berühmteste Meister der Zeit neben Dufay ist Egydius
Binchois, so genannt nach seinem Geburtsorte Binch, einem St^dt^^
chen bei Möns im Hennegan. £r war in seiner Jagend Soldat:
en sa jpuricsse il fut soadart
d'hoDorable moudauite
pnis a etlu la meilleor pari
tervant Dien en hunilitA
hetsst et in einer enf seinen Tod gedichteten Traaereentate*). Bin-
chois wurde Singer am bafgandisehen Hofe. Nach Doeomenten im
Brüsseler Archive verlieh ihm um 1438 Philipp der Onte eine Prä-
bende bei doi Kirche sn 8. Waudm in Möns, und 1452 wird er als
swdter Kapellan genannt (der erste war ein Messire Nicolas
Dupuis). Im Stande (Status, ('tat) der Kapelle von 1465 wird er.
nicht meiir mit aufgezahlt; er muss also in der Zwischenzeit ge-
storben sein Binclidis wurde nicht blos seines persönlichen
Charakters wegen gcac litet („patron de baute" nennt ihn jene Trauer-
cautate), soudei-n auch um seiner ivunst willen bewundert. Uemiaua
Finck (1556) nennt ihn neben Dufay, Busnois u. a. als einen der
Meister der Tonkanst, welche voisüglich durch „Specnlation** die
Mnsik förderten nnd „viele neue Zeichen erfanden**. Tineloris
rfihmt Binchois «la Tonsetaer, „der dch durch seine angenehmen
Compositionen einen ewigen Namen gemachte* ^ Sein Ruf dmng
1) Siehe: Morelot, Codex Dijon, S. 20.
2) Felis, Biogr. univ. 2. Aufl. 1. Bd. S. 417—419.
8) Ich muss hier nach fremden Urtheilen greifen, da ich von 6. nichts
Vonnc, als das unbedeutende T^ii d Ce niois, welches Kiesewetter mittheilt.
Vergleicht man die ühginalnotiruugmit Kiesewetter'a £ntsifferungf so ist
vor allem tu bemerken, daas der Discant nicht (wie die swei tnderan
Stimmen) ein \f vorgezeichnet hat, sondern ohne Yorzeichnung ist (bei
Dufay's „Je prond conge" ebenso). Kiesewetter hat mit Unrecht das
bupuliren su sollen gemeint Solche ungleiche Yorzeichnungen sind nichts
io UnmhArtes: KiMlaas OonlMit hat bei seiner MMrienmotette mit dem
Motto „Diversi diversa orant" diesen Umstand mit grosser Gteschickli«^
keit zu benutzen gewusst, wovon Kossi (Org. de. cant S. 18) meint: ,.arti-
ficio in vero non cosi facile, come alcuni pensano" (Man vergleiche was
darüber S. 358 gesagt wird). In der Originalnotirung der Chanson sind
vfTHcliii'deue Schreibfehler. Die erste weisse Semibrovis im Discant
muss einen Funkt hinter sich haben. Die letzte Note im zweiten Tempus
des Contratenors hat K. aus c in fr verftndert, * ebenso im Diseant im
dritten Tempus andere NotenquanÜtlten gesetzt! wohl in Yoramnetxung,
dass hier C<)|>iKtenfV})ler zu verbessern Äid. I>er Anfang wOrda sidi
nach dem Ongiuai so guttlaiten:
Dufay and seine Zeit.
459
aaeh Italien, obwohl er selbft nicht penSnlich dort gewesen wa sein
•eheint. Franehinns Qafor gedenkt seiner als einer Antoxitit Von
Bei a) ergibt lich dann aber wieder der groeee Hieiitand des ünisoao*
Schrittes zwischen Tenor und Contratenor, und nimmt man im Contratenor
die letzte Note des zweiten Tempaa imperfect and stellt die Sache also:
^
io wird der Fehler um den Pn-is einer harten hässlichen harmonisclu'n
Combination vermiedea; man müsste sich denn erlauben eine Note ein-
■ehalten an wollen, wodurch freilich die Stelle tadelloa rein wfirde:
NB
Femer steht im Oritrinal hinter b) ein Divisionsjiunkt, (h r iirnorirt worden
müsste. Die gmuUi In- Fortschreitung zwischen iJiscant und Tenor im fünilen
Tempoe ist ein Druckfehler: das Original /eigt, das« das /"liegen bleiben
muss (Kiesewetter selbst liat eine verViesserte Entzifferung in die Musik»
beilagen der „Schicksale und Beschatlenheit des weltl. Gesanges^' No. 16 auf-
genommen, WO die Sache richtig gesetzt ist). In der weiteren Bntailferang
hat K. im INsoant zweimal eine Semihrevis gesetzt^ wo im Original that-
sftchlich eine Brevis steht, aber auch eine Semihrevis stehen sollte Tm
vierten Tempus vor dem Schlüsse hat K. einen augmeutircudun Punkt
im Discant unterdrflckt, weil um eine Miniroe zu ▼ielheraoakommt, wenn
man ihn gelten lässt. Ich denke aber, dass von den beiden folgenden
Mininien /" f die eine anf der zweiten Linie stehen muss und ein lei( ht
erklärlicher Fehler des alten Cupisten ist. Der Schluss wäre dann so:
JNIag indessen schon das alte Original selbst noch so arg entstellt sein,
die Stelle „chautons, dansona" allein genügt -'on Biuckois* Talent eine
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460
Di« Entwickeliiog 6m mdintiauugeii Q«MtigM.
den Gompositioneii dieses berühmten Meisters ist nur noch wenig
naehweisW. Die k. Bibliothek wa Brüssel bemtst Ton ihm rine
dreistimmige Hesse in der Yelicana finden sieh drdstimmige
weltliehe firamSsisehe Lieder vnd Motetten ■osammen mit Stfleken
von Dunstable. Ein Manuscript des 15. Jahrhunderts (ehemals im
Besitze des Herrn Reina an Mailand, seitdem Terkanfl) enthält eben-
falls dreistimmige Lieder von Binchois, ebenso der Codex der Pariaer
Bibliothek (zusammen mit ähnlichen Stucken von Dufay, Comago,
Busnois, Ilykaert, Compfere u. a.), aus dem Kiesewetter ein noch
schwara notirtes dreistimmiges Mailied ,,ce mois de May" mitgetheilt
hat^), welches auch darum interessant erscheint, weil es an Dufay
gerichtet ist, der im Texte ,/Mn8sime Dufay'' angeredet wird, was auf
ein frenndschaftliches YerhSltniss der beiden Meister deutet Die
sneeessiven EinsXtse der Stimmen bei den Worten ,^ehatiUms, ätmatmf*
haben viel mnntere Lebendigkeit Jene von einem nnbekannten
Tonsetaer (von Busnois?) eomponirte Tranercantate (dnreh welehe
wirklich eul Ingubrer Klang geht) ist auch darum meritwllrdig, weil
sie die erste Frohe jener Diplorations ist, momit man ^Iterhin
grosse Tonsetzer nach ihrem Ableben ehrte: eine Stimme sinst
lateinisch die Worte des Requiem (Pie Jesu Domine, dona ns re-
quiem), die drei anderen singon dazu in französischen Versen das
Lob des Verewigten. Um Binchois' Werth und Bedeutung würdigen
zu können, liegt vorläufig leider viel zu wenig von seinen Com-
positionen vor.
r Der Knnstweise der ersten niederlVndischen Sehnle gehSren
auch dieArbeiten des Yineens Fangnes (Fanques) an. "Et selbst
gehört schon sn einer sweiten Kttnstlergeneration; seine Compoa-
tionen ersehienen in den sur Zeit des Papstes Nicolaus V., d. i.
zwischen 1447 und 1455 geschriebenen MusikbUchcm der pXpst-
Uchen Kapelle. Unter den Messen befindet sich eine dreistimmige
Uber den Omme am^j(ferner gehört ihm eine Messe „ Unius", eine Messe
Uber das Lied ^yleseni(eHr"{(\as nachmals von Alexander Agricola
ebenfalls zu einer Messe, von Tadinghen und von Martin Ha-
nard zu ven^'underlichen weltlichen Chansons verarbeitet worden
u. a. m.^)). j Vincenz Faugues zeigt einen sehr verwandten Zug
bedeutende Idee zu geben. Um so erwartungsvoller mfissen wir der YtKw
Offeutlichung jener dreistimmigen Messe entgegensehen.
1) Fetis, der den wichtigen Fond gemacht, yerq^rieht „Ce monument
interessant sera publik."
9) F4tis (Biogr. uniT. ad Bmehoit) tadelt Eieiewetter't Bntatffsnuig
äusserst iohsrf „bien qne je connaisse pas Toriginal je n'hösite pas Ik
ddclarcr, que cette traduction mal faite est remplie de faules" u. s. w.
3) Das Lied ,^Le Serviteor'^ ist durch seine Vorzeichuuug zweier j;^ be>
mericenawcatih, mit der es überall wo es vorkommt ausgestattet ist Tnietotis
führt es daher auch ab Prifjiicl an, wie man ühereino Tonnt f in Zwoifel sein
hönne, und iutroduzirt mit naiver Lebendigkeit einen iragenden luterlocutor ;
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Dnfay and «eine Zeit
461
mit Dnfiij in ichttaier, melodiVMr Ftiuning der Stimmen ond in
ensdraeksvollem Gesengt). Im Gensen hat er etwas noeh sarter
Behttehtemes, wenn man will SchwitelilieliereB alt Dnfiftj; gegen die
barten, mannhaften Meister der zweiten Schule Mst es der ent-
schiedenste Gegensata. Im Kyrie Omtne arme kommt der iiito-
reesante Zug vor, dass das Lied erst auf seiner gehörigen Klangstufe,
dann in der Oberquint (etwas innrlifizirt) nach Art eines Mittolsatzes,
dann nochmals in der ursprünfiijlichcn Ijh^k gesungen wird: ein
Beweis, dass die Meister nacli musikalischer Architektonik strebten
und doch ^ schon weiter dachten als nur einen Canttis /irmuÄ wohl
oder übel mit contrapunktircuden Stimmen zu umkleiden. Aller-
dings ist der Tonssla bei Faugues noch sehr mager, magerer als
selbst bei Dnfay, so viel Verwandtes er sonst in der Art der Er-
findung nnd in der melodisch von Absate an Absats fliessenden
Ftthrung des Gesanges mit ihm anch haben mag, nnd so entschie-
den Ii Ii iilich bei beiden joner fast rUhrmide Ausdruck einer eigen-
thtimlich sarten sUssen Wehmuth ist. Fangnes leitet gleich das
erste Kyrie und dann das Christe seiner Omme-armd-Messe mit einem
langen zweistimmigen Satze ein, in den sich erst weiterhin der
Tenor mit dem Liede einfügt. Aber bei aller Ma<::^oikeit und
kindlichen oder, wenn man will kindischen UnbehUlflichkeit des
Satzes (der Schluss des Christe ist selbst für jene Zeiten ein selt-
samer Passusi) leuchtet da und dort ein merkwürdiger Schön-
heitssinn heraus, oder es taucht irgend ein so interessanter Zog
anf, wie s. B. die Syncopinmgen des Soprans gegen das Ende
des Chruto*).
„dicas mihiTinctons" u. 8. w. Faugues, den er sonst schätzt und belobt, wird
getadelt, dass er in seiner Messe einmal „mi contra fa*' gesetzt. Tadinghen*8
ondHanard'sObansons schliessen die Sammlung der Canti ccnto cinquanta.
1) Man wolle die Führung der obern und mittlern Stimme im zweiten
Kyrie Omme armö einzeln in's Auge fassen (die mittlere, der Tenor, ist
das Lied). An swei Stellen bringt P. durch orei sofawarse (sweitheiuge)
Breven in den kUineren dreitheiligen Rhythmus einen grössmea, anch
dreitheiligen, der in breitem Klange bedeutfud hervortritt, wenn er im
Uesauge besonders markirt wird — ein uackmaia oft benutzter Effekt:
1. S. «. t S. 8. t 8. 8. 1. 3.
2) Das Stück findet sich, von mir nach der Originalnoiirung des piptt>
liehen KaDcllenarchivs in Partitur gebracht, unter den MuKiklioila<rpn Das
]S weite Kyrie hat Kieaewetter seiner Gesok, d, Mus. beigegeben ; loh habe
463
Die £ntwickelnDg des mehnttmiiilgea OassngM»
VincensFaug ues* Zeitgenoaie war Jener Bl 07, ,^ochgele]iitiB
Anwendiug des HodiiB**, wie Tiaelofu sagt^), woros Mnie grosse
Messe im pipstliclien Aiehiv dise^^" em bedeutendes
Beispiel gibt Unter den Meisteni der ersten Sehnle niibert sieh
Eloy zumeist dem Erhabenen, woftir freilich der milde Wohlklang
Dufay's ond Faugaes' fehlt Von anderen Meistem derersten Scbnle
wissen wir vorläufig kaum mehr als die Namen: Domarto^, von
dem die päpstliche Kapelle ^) und die Vaticana Geistliches und Welt-
liches besitzt, und den Tinctoris \K('p:('n eines „unleidlichen Ver-
schens in seiner Messe Spiritus a/w/ws scharf tadelt*); Brasart» der
völlig vergessen wäre, machte nicht Gafor gelegentlich eine flüch-
tige Erwibniuig von ibm'^). Jean Consin dagegen, Sänger der
Kapelle KarVs VII. Ton Frankreieb und folgllcb Okegbem's College,
esj um kein blosses ]<^ra^ment der ganzen Kyriegruppe zu bringen, auch
wieder aufgenommen. Das 1? ist nur im Tenor vorgesetcfanet, und es ist
nach dem S. 458 Anm. 2. Gesagten gar nidit selbst verständlich, daas
diese Vorzeichnung auch für die anderen Stimmen gelten solle. Indessen
gewinnt das Stück unendlich an Wohlklang, wenn man das |^ für alle
timmen gelten llsst; oder Yielmebr, es ist siemlich peinllöb, wenn man
solches nicht thut. So mag denn Kiesewetter Rocht haben, wenn er das
P auch fiir den Discant und Baas als giltig annimmt. Der Bass beginnt
gleich dus erste Kyrie mit dem Liedmotive; dieses hat aber uberall die
kleine Ters. Freihch ist im Original das |^ einigemal ausdrfickljtA bai-
jresch rieben, woraus man für die Noten, bei denen es nicht steht, a con-
trario folgern könnte. Indessen, was war damals und noch bis auf die
Zeiten des braven Prfttorius die Genauigkeit in diesem Punkte! Eine
zweifelhafte Stelle im ersten Kyrie habe ich mit — ? bezeichnet. Im«
Ghriste habe ich die Textlegung dorohgeflQlut, weü daa Stflck dadnrch
erst die wahre Färbung erh<.
1) „Eloy, quem in media dootissimnm accepi." 80 si^ anch Oafer
(de modo cup. 7): Eloy in modis docti^^-imus.
2) F^tis meint, er stamme aus der Picardie. Bei Eloy macht Fetia
darauf aufmerksam, es gebe noch Familien dieses Namens im Hemiegau
and in Flandern.
3) Codex No. 14.
4) De Dumarto in Missa Spiritus almus intolerabiliter peccavit u. s. w.
5) In der ]\lus. utr. cant. pract. III. Buch sagt Gafor: „Complurca
tarnen discordantiam hujus modi minimam atque semibrcvem admittebani,
ut Dunstable, Binchoys et Dufay, at(iue Brasart." Ein anderer Brassart
(Olivier), von dem in dem „primo libro de Madrigali a ^uattro vooi, Roma
per Antonio Barr< 1664** etwas an finden ist g^Ort emer sp&teren Zeit
an. Von dem älteren Brasart wüsste ich nichts nachzuweisen, nicht einmal
in der päpstlichen Kapelle. Im Interesse der Sache plaube ich hier eine
Stelle aus Herrn August Beissmaun's neu erschienener Gesch. d. Musik
bervorheben au mflssen. Seite 160 irt wdrtlieh nnd bnehstlblidi Folgendes
zu lesen: „Viel weniger pnU das (es ist vom genial srhaffenden Geisto die
Rede) von den Meistem, die wir der Verwandt.schaft ihres Strt'l»en9 wogen
jenen anreihen müssen: Brasart, Eloy, Faugues und Biuchuis. Die (io-
sänge, welche uns in den Canti oento oinquanta (1503) erhalten sind,
liefern den Bi wcis (!), dass diese Autoren wohl Meister der jenen Zeiten
eutsureuh enden Technik waren, dass sie dieselbe aber nicht genial au
banobabea Terrtandea.** Die GmÜ cmto ewf/uaiiH entbalieii aber
▼on jenen bier lo soharf getadelten Tonaetsern keine Note!!
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Dufay and seine Zeit.
463
Oonponiit ^er von Tinctorit enrihnteii Jüna welche
vennntblich von der Ncia eoUtrakk emen besonden dmueiGheo
Qebranch machte, möelite eben um dieses Kunststaeks willen sebon
rar «weiten 8ehule zu iXhlen sein. Dagegen können Cerontis,
Regit» Bntnois oder gar Hobrecht, in denen Kiesewetter
Ueberlänfer von der erfeten zur zweiten Schtilc erblickt, auf keinen
Fall noch zur ersten Schule gerechnet werden; der Letztere kann
kaum noch als Okeghem's Zeitgenosse gelton. Eher könnte man
Philipp BassiroQ nennen (obschou auch er ohne allen Zweifel
der Zeit um 1470 — 1500 angebbrt), dessen Messe de Frmiza oder
Franzia noch viel&eh an die We&M der ersten Sdiole anklingt
und am besten mit Eloy's Weise sn vergleiehen sein möchte,
triten nicht wiederum an manchen Stellen (s. B. im Onuifiamij
die Eigenhttten der zweiten Schule entschieden hervor.
Ebensowenig als rar ersten Schule gehören die vorhin er-
wähnten Meister sur aweiten, sie stehen zw ischen beiden und ver>
mittcln den Uebergang; wäre blog die Zeit ihres Auftretens mass-
gebend, so müssten sie schon zur P^poche Okeghem's gerechnet
werden. Sie haben mit der ersten Öchule den verhältnisHmhssig
immer noch ziemlich schlichten Satz, wie den Sinn für Wohlklang
gemein, welchen sie nicht, wie später uft genug geschah, der Con-
sequens irgend eines contrapunktischen Obligo opfern ; dagegen sind
bei ihnen die -Umrisse schon weit fester gezogen, die Harmonie
wird kemhafter und enetgischer, als es bei den Heistern der ersten
Schule der Fall war: jenes mttdcbenhaft sarte Wesen beginnt einer
mannhaft strengen Kunst zu weichen.
Anton Busnois, eigentlich Antonius de Busne^) war, wie
die Rechnungen über die Hofhaltung Karl's des Kühnen von Bur-
gund zeigen, im Jahre 1467 Sänger in der Kapelle dieses Fürsten.
Der kriegerische Herzog Karl war nicht blos eifriger Freund der
Musik, sondern selbst auch Tonsetzer, er hatte sich noch als Graf von
Charolois den Sänger aus seines Vaters Philipp des Guten Kapelle,
Robert Morton, eigens fUr seinen Dienst erbeten und brachte es
(wie es scheint unter Horton's Anlmtung) so weit, das« er, wie
Messbre Olivier de la Marche in seinen Memoiren (1563) erzählt,
selbst verschiedene Chansons setzte „5tsii faicUs it "bim wUes."
Die Kapelle war reich ausgestattet, sie zVhlte 24 Slinger, dazu die
Singknaben, einen Organisten, einen Lautenschläger und mehrere
Violaspieler und Oboisten. Karl, vor d«m Tag für Tag eine Figural-
messe gesungen werden musste, konnte den Gennss seine Kapelle
zu hören so wQuig entbehren, dass er sie 1175 soirar bei der Be-
lagerung von Neuss mit sich tührte. £s ist begreiüich, dass er bei
1) Sein Name kommt in flen scltsaniston Entstellnngen vor: nlsBusnoe
(bei Hermann Finck und Sob. Heyden), Buiua ^bci Adam v. Fulda) u. s. w.
464
Die Entwidtölang des mehntimmigeii Oowngefc
seiner Vorliebe flir Musik und seiner ausgezeichneten Bildung in
dieser Knuet einen Meister wie Busnois besonders schilMn nmtste;
verschiedene gleichzeitige Docnmente^) rlihmen «isdrttcklieh seine
guten Dienste (agrMles servtees)» deren Belohnung endfich die
Stelle eines Dumdechaiits Bu Voome war, daher Busnois in der
Uebcr8chrift eines Gedichtes von Jean Molinet als „Monseigneur Je
doyen de Yomes maistre Bugnois^' ln /( lehnet wird. Tinctoris gab
ihm ein besonderes Zeichen seiner Aclitung:, indem er ihm nnd
Okef^liem zusammen 11 7 6 sein Buch „de natura et propriitate to-
iwru))i'* widmete 2), und jener Poet redet ihn an: je te reiids hom-
mcKjt' et irilna nur tous autres, car je cognois, que tu es instnuct et
imbuz en tou.s numcaux eshanois u. s. w. Adam von Fulda preist
ihn als würdigstes Muster. Pietro Aron slthlt ihn sn den Besten
seiner Kunst*). Der Name des aiisgeseichneten Mannes kommt in
den HofhaltnngsrechnungenMaria*s von Bnxgund noch am 26. Oet.
1480, dagegen am 2. Februar 1481 nicht mehr vor, daher sein Tod
Buverlä.ssig in die Zwischenzeit zu setzen ist. Die Compositionen
Busnois' gehören zu den bedeutendsten Leistungen ihrer Zeit; seine
vierstimmige Messe „Ecce ancilla" ist beinahe das Hauptwerk jener
EiK)clie, sie gibt einen eben so sichern als bedeutenden Massstab
fVir die Fortschritte der Kunst, wenn sie mit Dufay's gleichnamiger
Messe zusammengehalten wird. Die Kunst hat an selbstgewisser
Sicherheit, die durchaus reine und klangvolle Harmonie hat an Kern
und Körper gewonnen, sie gestaltet sich frei und selbst kühn;
während sie in der früheren Epoche nicht weiter ging als den Ckmtu»
fimm liebevoll in Wohlklang einsnhüllen, beginnt sie nch jetzt stuf
eigene Füsse an stellen nnd ihre eigenen Zwecke in verfolgen.
Ein kleiner aber bedeutungsvoller Zug sind in dieser Richtung die
bald in flüchtiger Andeutung, bald ausgeführter auftauchenden
regelmässigen Hannoniesequenzen (im Lied „Dieu qud mariage", im
sweiten Tbeile des Liedes „Maintes femmea" u. s. w.) eine Manier^
1) Diese Nachrichten danken wir Herrn Alexander Pinchart in Brflfwel.
Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, dass wir von den Bemühungen des
gek-lirtcii Herrn Smst v. Birck in Wien demnächst etwas Aehnliches für
die Hoflialtung und insbesondere auch die Hofkapelle Maximilian I. zu
hoffen haben. Auf gleichem Gebiete ist Herr Dr. Bacher in Wien mit
aufopferndem Fleisse thätig. Nach dem, was ich durch die Aenndlich-
keit dieser Herren von den Resultaten mrer Forschungen sn sehen be-
kommen, dürfte Neues und T^üpfcahntes in grosser Menge zu erwarten
sein und sollen über Isaak, Arnold von Bruck, Petrus Massenus n. A.
interessante Daten mitgetheilt werden.
2) Die Dedication lautet: Praestantissimis ac celeberrimis artis musicac
professorihns Domino Joanni Okeghem, Christianissimi regis Franconnn
Srothocapellano au magistro Antonio Busnois, illustrisaimi Burgundoruni
ucis oaatori.
8) Ochcphon, Busnois et DufTai . . . perche Busnois et gli altri preno»
minati, gli ouali erauo huomini magni etc. (Aron, Toscanello L 3o).
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Do&y und Mine Zeik
465
wolche die Componistcii bald in noch umfassenderer Weise, immer
aber mit künstlerischer Mässigung und Einsicht verwendeten*).
Die künstlerische Bedeutung streng im Canon einander nach-
abmender Stimmen, die dem Satse zugleioh die Einlidt und Mannig-
faltigkeit geben und bei Dufay nur ent gelegentUch in knnen
Epiioden ▼orkommen, tritt bei Bnsnoia bereitg sehr entsehieden
hervor. In der Bearbeitung jenes Liedes „Dieu qttel wuariofft^ weiss
Bowois der gewählten Melodie doreb einen mit munterer Unge-
zwungenheit fortschreitenden Canon zwischen Tenor und Alt eine
neue, höhere Bedeutung abzugewinnen, während der Bass theils
auf das Thema flüchtig anspielt, tlieils seinen eigenen Weg geht,
im Discaut aber die Melodie eines andern Liedes „Corps digne'' mit
der ersten in so natürliche, zwanglose Verbindung gesetzt ist, als
sei es ein frei und eigens erfundener Contrapunkt. Was bei den
altfiransösiscben Döehanteurs neeiiPtodiikt des barbarisebestenUnge-
schmackes und gedankenloser Bohbeit war, erscheint bier aom an-
sprechenden Kunstwerk geklMrt nnd veredelt*). Solche Doppel-
lieder kommen dann auch b<d den Meistern der sweiten Schnle und
bei den deatscben Meistern (Senfl, Arnold von Bruck) als an-
ziehende, zuweilen geistreicbe Studien vor^). In einem seiner
beiden vierstimmigen Regina coeli führt Busnois den Tenor und
Bass in langer canonisclier Nachahmung, während die beiden oberen
Stimmen sich frei bewegen; auch dies ist für zahlreiche spätere
Meister Vorbild geworden*). Er versteht es gleich gut die Stimmen
iu einfachen Combiuationen , wie in intricat sjncopirten Verflech-
tungen (erster Tb^ des maintes femmes) gegen einander sn ^llen.
1) Im Agnus der Messe Salve diva parens von HobreobL im Schluss des
Ssnetes der Misia festivalia Ton Ant. Bramel, im Oraeimnis der Messe
„Prftlich Wesen" von Isaak, in dessen Lied „Par ung iour de matinße" u. s.w.
2) In den Canti cento cinquanta steht heim Discantus der Textau-
fang: Corps digne, bei den drei andern Stimmen: Dieu quel mariage.
Kiesewetter hat diesen bemerkenswerthen Punkt bei Veröffentlichung
der Coraposition Busnois* ganz fallen gdatssn (Sohiokssle dss weltUoben
Gesangesi Musikbeilage Ho. 18).
8) So hat Ludwig Senfl mit dem Liede Fortona dsspemta (Ober das
Hbbrecht eine Messe von strenger, migestätischer Erhabenheit^ Josquin
eine andere, sehr kunstreiche componirt hat) eine ganze Reihe musika-
lischer Experimente gemacht. Einmal setzt er es mit einer siunreicheu
Spielerei Uber das Hexaohord in yerbindtEmg (Fort sap. voeea masic.
gedr. in ,,121 newe Lieder", auch bei Seb. Heyden S. 46), dann ver-
bindet er es mit der Kirchenmelodie des Pange lingua, und ein ander-
mal mit dem VoIkalieJe „Ea taget vor dem Walde." Letzteres Lied
verbindet Arnold von Bruck wieder mit einem andern „Kein Adler**
(alle diese Compositionen in „121 newe Lieder" etc.).
4) Um aus vielen Beispielen nur Einiges zu nennen: Josquiu's fünf-
stimmiges Veni sancte spiritos (hn Not. et insign. op. mus.) mit strengstem
Canon awischen den beiden tiefiAen Stunmen; sein Lied mit der Devise
„ad nonam canitur bassu«i hie tempore lapso" (Canti cento cinquanta), wo
der Bass gegen den Discaut einen Canon in der Noue bildet, u. a. m.
Anbros, QMomcbte d«r Maalk. II. 80
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466
Die Entwickelong des mohrstimmigen Gesanges.
Die Devise gestaltet sieh flun sehon stiin neckenden Blthsel, wie hm
dem mainUg femme$ die ▼erwnnderltch genug klingende Bdscbrifl
„Odam si prctham teneas diapaton amparilma Ur tmgeai^* und für
den Tenor noch insbesondere: „voces a tiwse mnmuUas usque ly-
canosypatoii recine singulas". So sind in einer vierstimmifjen
Motette an den heiligen Antonius mir drei Stimmen ausf^esehrieben,
die vierte muss nach ähnlich räthselhaft klingenden Andeutungen
gefunden werden. Neben den vorerwShnten Stücken geistlicher
Mu>ik sind von Busnois noch mehrere Motetten zu nennen; eine
Bearbeitung der uralten Sequenz „Victimae pasckali lauäes^*, ein
WeiknachtsUed Nod, nod, ein Magnifieoi $€xH iom (besondefs be-
deutend), em ifVerinmearofaehm'*, sümmtliehTientimmig; tkaUagm»
ficat primi Und^ eine Hotette ,/mima mea", beide dreistimmig: «He
diese Compontionen in einem aus der herzogl. burgundiscben Kapelle
herrührenden, jetzt der k. Bibliothek zu Brüssel einverleibten Codex.
Auch die päpstliche Kapelle besitzt im Codex Nr. 14 eine Anzahl
Messen von Busnois, darunter jene über den omtne arme. Die
Anzahl seiner weltlichen Chansons ist beträchtlich. Die zwei vorhin
erwälmten sind in Petrucci's CarUi cento cinquanta gedruckt; ein
jetzt zu Dijon befindliches, von den Herzogen von Burgund her-
rttkrendes Manascript entthält siebensekn dreistimmige und svei
Tierstinmiige Lieder von Busnou^).
Die Magliabecehiana au Florenx besitst yon ikm in einem Codex
der Fnnd. Btvoiai (Nr. 53 XIX und Nr. 166) vienehn Lieder, und
ein Codex der Pariser Bibliothek die dreistimmigen Lieder , Je Susi
vewä vers moji ami*^ und „cAt dist en pudicite madame ma pfm
grand chh'e^^ Tonsätze von eigentliiiinlicher Feinheit und Elegans.
Indem Busnois die gewählte Volksweise zum Tenor nimmt, weiss
er sie in leichteren oder strengeren Nachahmungen in bald ein-
lacherem, bald kunstreicherem Harmoniegewebe mit den anderen
Stimmen in eine geistreiche Verbindung zu setzen und das Ganze
entweder Bentimental ausdrucksvoll zu gestalten, oder es ist (wie in
1) Der Pijnner Codex No. 295 enthalt folgende mit Busnois' Namen
bezeichnete dreistimmige Chansons: Quuut ce vendra au droit; ma deraoi-
selle ma maitrcsae; bei acueil le sergent d'amours; c'est bien malheur; joie
me ftiit et douleor me qnenrt; ma plus qu'asses et tant bmiante ; je ne pnis
▼ivre ainsi toujours: c'est vous en qui j'ai csperance; je m'esbais de vous
mon cueoT} je quu luy ; vostre gracieuse: quelque pour komme qui je soie;
anne dame j'ay fait veu; en voyant sa dame; au ^rö de me ieolz; quant
vous me ferez plus de bien ; j*ay mains; femer zwei visntimmige: „en toas
IcB lieux ou j'ay cste" und „On a prant mal par trop amer." Morelot ist
geneigt auch jene „Complainte sur la mort de Gilles Binchois'^ für Busnois*
Arben sd hslten. Bas Stfidc bat etwas Dumpfes und Monotones, drflokt
aber düstere Trauer ganz wohl aus, wie es die Aufgabe erheischte. Man
findet dieses jedenfalls merkwürdige Stück in Stephen Morelot's Mono-
graphie „De la musique au quinzieme si^cle, Notice sur uu manuscht de la
bibüoth«quedeD^on."Faiisl856beiI)idronetBlanohet BeikgeNcIIl
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Doükj «nd Mine Zeit.
467
dem Dieu fitd mariage) von einer gewissen leichtbewegten An-
muth, von jenem friumttdseh mmitereii 6^ (daa finmsdrisehe
y^esptU^*^ ist dafür beaeieboender), der die weltlidien Gesänge der
tipäteren Meister Josqniii, Gerton, Gombert n. s. w. oft so erfreulieh
macht. In vielen Beziehungen er8clu>int Busnois Uberhanpt wie ein
Viirlüufer Josquin's* Unter den Liedern des deutschen Ueiiirich Isaak
findet sich eins „parung jowr de «Nrftn^e" völlig eine Palingenesie
des Busnois'schen „Dieu qtiel mariage^), aber im Uchte einer neuen
Zeit, einer entwickelteren Kunst, schwerlich p'llisscntliclu' Nnch-
ahimnifr; es H«'gt eben nur in der Kunstrichtung der Zeit, die
sich hihon in Husnois in so bedeutender Weise ankiiji<liji;t.
Zeitgenosse Busnois' und mit ihm zugleich in der Kapelle
KarPs des Kühnen angestellt war ein von Aren genannter Ayne,
Hayne oder Heyne^), eigentlieh Heinri^cb van Gbizeghem,
der in den Hansreehnnngen KarPs als f^duMtre d vM de ekanulbrt
de Monaeignem** vorkommt Aron erwlthnt zweier Lieder dieses
Meisters: t^dmi§ rndtre amer'' unrl ,,de tom hiens pktine est ma
mailresse". Das sweite Lied beHudet sich in doni vorerwähnten
Dijoner Codex. Es ist eine ganz achtbare Arbeit; bemerke nswerth
igt in der Stimmfilhrung, dass die Stimmen meist auseinander ge-
halten sind, sich nicht durchkreuzen und ühcrsteigen, für jene Zeiten
eine Seltenheit. Andere Stücke llayne's finden sich zusaninien mit
Arbeiten.Iosquin's.Brumers undCrespiere's in einer Handschrift des
britischen Museums^). Petrucci hat von den Liedern liayne's Einiges
gedruckt, im Odheeaton die vierstimmigen Lieder „Atnour, amoiar"
und i,a lee regret^% im Bnebe B. (OtminB n. quinguayinta) ein drei-
1) Cnnfi cento cinqnnnfri fol 51.
2) Es ist bemerkenswert h, dass ein Lied von Johannes Japart (Cauti
cento cinquanta fol. 81) in der Anlage beinahe als direkte ^'achbildung
des Busnois'schen „Dieu quel mariage" erscheint. Eb ist ebenfalls «in
Doppelli(d; das eine Motiv „plus no chnsrcT-ay sans gans" gestaltet sich
in den Mittclstimmen auf eiue lauge »Strecke iun zu einem leichtgefügten
Oaaon im Einklang, im Charakter dem Dien qael eto. sdir tthnnch:
Pins ne
Das andere Lied „pour passer temps" geht (wie bei Busnois das corps digne)
im Discant in gcmeBsenem C4aijge darüber hin. Der Bass begleitet wie er
kann und mag. £s ist ein hübsches, geistreiches Stttok and verlangt, gleich
dem Liede Busnois', einen ziendich raschen leichtbewegten Vortrag.
3) Tratt. della nat. e cogn. de tutti gU tuoni, cap. IV. Heyne ist,
wie nns F^tis (Biogr. xndw. Art. Ghizeghem) belehrt, die altflandrische
Form für Henri.
4) Biime^, Hist. of mus. 2. Bd. S. i89 AjUD. s. Die Handsohhft ist
beseichnet: Bibl. reg. 20. A. 16.
30*
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468
Die Entwickelong des mehrstimmigea GesangM.
•tiiniDigw Lied Ja regrdU^* Anffbllend iit die sehr blufige Aa^
Wendung der alterthlimlichen Cadenz mit der Untwten vor -dem
Schlusstone. Das Lied „de ious Hens" war Übrigens, gleich der
fiFortuna deaperata**, eines der beliebtesten nnd b&ofigst be-
«rbeitetcn
Ein anderer Meister dieser Gruppe von Tonsetzern, Firmln
Caron oder Carontis, reiht sich Busnois würdig au. Tinctoris hat
dessen Chanson „la tridaine^^ in sein Vereeichniss von Mustercompo-
gitionen aufgenommen^),und SebaldHejden nenntihn neben Okeghem
und Bnsnois ele den Dritten, der die von Dnfrj nnd Binehoie über-
1) In den Ouiti oento einqninte findet et rieb §dL Sl von Griipiinu da
Stappen (wobei die erste Stimme erbaulich genug mit einem Viemoten-
motiv immerfort dareinsiiifrt „beati pacifici"; die Zusammenschitiiedung
dieser heterogenen Gesäuge ist durch den Zufall motivirt, dass jene kirch-
liche Intonation wie ein ^obstinater Discant" zu dem Volfailiede passt),
fol. 80 von JohanTi J apart mit dem Räthsplmotto ,,Hic dantur antipodes",
foL 84 von Alexander Aghcola, dann noch fol. 89, III, 143 und 144 vier
Beeriieitoiigen von ungenannten Tonsetzem. Josqnin hat ein Oredo (Patrnn
omidpoteiitein eto.) Aber dasselbe Lied componirt, das nch in der von
Petrucci herausgcffebenen Sammlung „Fragmenta Missarum" findet. Von
dem Stücke Japart's sagt Fetis (Biogr. uuiv., neue Ausgabe 4. Bd. S. 429)
„Le eheaton mmgaite ofie enni ime aingnlaritö remarqueble m ce jn'eBe
peut etre chanUe ä qnatre OH ä einq partiea ä volonti. Le contratenor a pour
inscr^ption ,,hic dantur antipodes". La Solution de cette önigme se trouve
eu prenaut le chant de cette partie par mouvement ritrograde, ce qu'indi-
qneot l« mota Ate dantur antipodes. 8i Ton fait le oeaoii, la dbamon ett d
cinq voix; mais si Ton ne fait pas eile eM simplement ä quatre. Ce morceau
est fort bien fait: j'en ai pri$unecopie ä Vienne et je l'ai niis en partition/*
F^tis musB geradezu im Traume gelegen haben, als er diese Zeilen schrieb;
Mine Angaben sind völlig falschlt Jene Gegenfüsslerstimme ist bflinriie
notengetreu der Tenor, den Heyne bearbeitet hat, sie passt, so genommen
wie sie dasteht, gar nicht zu den übrigen Stimmen, und eben so wenig,
wenn man rie „per notiTeinent rdtrograde" nimmt. Petrnod ist tonii bdl
B&thselstimmen so artig gleich die „Resolatio^' beizusetzen (was beinahe
Usst als nadle ein Schalk einem Yerlarvten heimlich ein Zettelchen mit
Namen und Adresse an den Domino) hier hat er's aber unterlassen. Die
AnflOsang, die iob endlicb nadi ▼ielerlei Hin- and Heiprobiren glfloldioh g»>
fonden habe, ist aber folgende: Erstens muas man den Tenoraobläsael
der TOigeBeiohnet ist| «n sejaem Antipoden, d. b. tum M esBOs ep ra n scfa lfl sse l,
maeben^TE- Dann nwm man alle Schritte Terfalnt nehmen, d. b. fro es
in der Notiru^ eine Terz aufw&rts geht, eine Terz abw&rts ^ehen n. s. w.
(bi Hernumn Iinek*a Aaotica mnsloae findet sich ein Tenor mit dem Canon
„Contraria contrariis curantur," wobei die Auflösung genau dieselbe ist.)
Zum Unglück bat sich obendrein der unselige Setzer Fetrucci's bei der
18. Note vergriffen und eine Brevis statt einer Longa eesetzt. Ueberwindet
man nun alle diese beabsichtigten und niebt beabsiditigten ObttakeL so
ergibt sich ein leidlich klingender, immer aber nur vierstimmiger Sats«
Oder hat F^tis aus Versehen ein gauz anderes Stück bekommen?!
2) Zorn Schlttss der libri de oontnponoto.
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t)nfay und seine 2eiC.
46d
nommmie Knnst erhöhet und verherrlicht Soino Arheiten befinden
Bich zum guten Theile im pXpatlichen Kapellenarchiv (Codex No. 14),
darunter eine Messe Vomme nrm^ welche interessante Verg^leichnngs-
punkte mit jenen Dufny's und Faugues' bietet. Der Zusammen-
klang des (Janzen, die Harmonie, hat hier unvergleichlich mehr
Körper und Consistenz: es ist nicht mehr das weich Zerfliesscnde,
aber auch bei weitem nicht jenes arios Singende der Stimmen, die
bier Tifllau^ ^en gewissen strengen Zug haben ^. Ein drei-
lümiiiiges Lied im Dyoner Codex ,Jiela8 que pomra dmmu" und
«in auch drelttimnilgM „wm m'anttM prü U coeur" leigen des Mdsten
Tfichtigkeit aneli anf dem Oebiete welüiehen Oesanges; Ider ent-
wickelt er eineichttne freie Stimm ftihrung voll feiner Wendungen ^.
Von Johannes Begis (du Roy) hat Petmcci Mehreres gecbrackt:
die rünfstimmigen Motetten: Sähe .tpon.fa, lux solempniSt clangat
plehs flares (letztere von Tinctoris als Mustercomposition genannt)
und ein Ave Maria in den Motetti a cinqiie, ein Fat rem in der
Sammlung „Fragmenta missarum"^) und ein weltliches Lied „Sil vmis
plaisist'^^)'m den Canti cento cinquanta. Letzteres eine Composition,
die durch kühne, energische Harmonie mit wohl motivirten Aus-
weichungen, Trugsehlttssen, und durch eichere, effeetvoUe Behand-
lung der Dissonansen frappirt Der Discant beantwortet das Lied-
motiT des Tenors gani Ingengereeht in der Oberquinte.
Dass sich von diesen ausgezeichneten Meistern keine eigene
Schule absweigte, ist ganz natürlich. Sie selbst bildeten den lieber-
gang tnr zweiten Schule, und ihre eigenen Schüler (über welche
anr Zeit alle Anhaltspunkte fehlen) gingen dann ohne Zweifel
vollends zur Okeghem-Josquin'schen Richtung Uber, sobald diese
einmal das Uebergewicht erlanf^t und die öffentliche Meinung für
sich hatte. Dass unter den nicht mit Autornamen bezeichneten Chan-
sons der Canti cetUo cinquatUa gar Manches dieser Uebergangsschule
angehört, steht wohl ausser Zweifel, wie das vierstimmige Cent mUU
§euB, das einer Umarbeitung der Iflteren Arbeit Dufay^s gleicht, wie
das vierstimmige anonjme Fortuna dapetaia (es ist auch noch eine
swMte Bearbeitung von Pinarol da) mit seinem noeh sehllehten Ton*
1) A Gallis Dufai et Binchois celebriortirn quidem redditum, donec
a Johanne Okgeghem, Busuoe ac Carunte ceu per mauus acccpta magis
atqne magis inclaresoeret (De arte canendi, Vonrede).
2) Gleich im fünften Tempus des Kyrie muss der Bass über nur drei
Stufen von S bis c herab ; das Lied im Tenor mit dem monotonen Herum*
schlagen auf 3 g ist nicht eben glücklich arrangirt u. g. w.
3) Ft^tis bemerkt: „on trouve daus ces morceaux de tracoii d'elügance
dans le moavement des partieis soos ce rapport Caron est sup^ienr ^
Ok^hem et U Busnnjs.
4) Ein Exemplar (leider fehlt der Bass) in der Wiener Hof bibliothek.
5^ Bei Kiesewetter in den Scbioks. des welÜ. Gesanges als Musikbeilage
No.l9. Nur redndremta die von K. im Uebermasse angebrachten! und I?.
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470
Die Bntiriokeliiiig &m mAnlthmS^ flewnggt.
satz, den Übrigens an einigen Stellen ungeschickte Hfirten (einmal
Parallelquinten von d zu es!) perturbiren u. a. m.
Eine eigenthümliche, in ihrem evidenten Zusammenhange mit
der niederltfudischen Kunst noch nicht genugsam aufgeklSrte Stel-
lung nimmt England ein. Dieses» nach 8hak e^) e are*s stolzem Aas-
dfnck „durch die Silhersee vor minder beglllekter Linder Neid" ge-
sehtttate Reich hielt sich die l^ederllnder seihst an einer Zeit fem,
wo sie ftir «aller Herren Länder als Musiker gesucht wurden. Kein
niederlündischer SSnger, kein niederlfindischer Kapellmeister passirte
je don Kanal; dass man aber umgekehrt in der Heimat der Musik,
/ den Niederlanden, englische Sänger zu schätzen wusste, beweist der
schon erwähnte Robert Morton und ein gewisser John Stuart
öder Stewart, auch Sänger in der Kapelle Karl'sdes Kühnen. Wie
England seine eigene Kirclienbaukunst im romanischen wie im go-
thischen Slyl/ und im letstem seine gegen einander oppositionellen
Idiotismen des spitsen Lanaettbogens und des breitgedriiekten Tudor-
bogens, sein Lattenomament n. s. w. hatte, so wollte es auch in der
Musik nur auf sieh seihst gestellt sein. Nun sind aber die Prinai-
pien des Tonsatzes dort im Wesen doch ganz dieselben wie in den
Niederlanden, und die Niederländer haben nicht nur die PrioritHt
des Besitzes derselben, sondern auch die grosseren Talente für sich;
noeh zur Zeit Heinrich \'1II. lassen sich die englischen Contra-
punktisten in keinem Sinne den niederländischen an die Seite setzen.
Es ist ein sonderbarer Umstand, dass sogar die Ehre der Erfindung
des Contrapunktes (der freilich in der That gar nicht ,, erfunden'*
worden, sondern sich naturgemäss aus rohesten Anfängen alhnälig
entwickelt hat) gerade ^on dem gelehrtesten aller niederllndischen
H nsikschriftsteller, von Tinctoris, nicht seinen Landsleuten, sondern
den EngiSndem angesehrieben wird. Er ssgt an einer oft er-
wähnten Stelle seines „Proportionale Mndces*^ (In welches er Aber-
hanpt mancherlei historisirendc Notizen aufgenommen hat), daaa,
„wie man versichere, die Quelle und der Ursprung dieser neuen
Kunst bei den Engländern gewesen sein solle, als deren Hanpt
Dunstaple hervorragte, der Zeitgenosse Dutay'sniid Binchois', auf
welche dann unmittelbar die moflornen Okenheini, Husnois, Kegis
nnd Carun folgten, die vorzüglichsten Meister des Tonsatzes, von
denen je zu hören gewesen
1) Cujus, ut ifa (licani, iinvae artia fons et origo apud Änglos^ quonun
caput Diiiisfaple rx^t itit, l'uisse perhibetur. Et huic conteniporaiuM fuerunt in
GalliaDulai i l Binchois, ({uibus immediate successeruut moderui Okeuheim,
Busnois, Regis et Caron, omniam, quos audiverim in compositiotte pTaestaas*
tissimi : nt-c Augli nunc licet vulgariter jubilare, Gallici vero cantare dican-
tur, veuiunt coufercndi. Uli cnim in dies uovos cantus novissime inveniunt, at
isti, quod miserrtmi si>rnura est ingenii, una Semper et eadem compoaitione
ntlUltar (J.Tinotoris, Proportionale muRices). Man sieht, dass Tinctoris auch
nuTTomHörenssgeu (perhibetur) redet. Nichts destoweoiger hat e« ihm einer
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471
Dieser von Tinctoris erwähnte Dunstaple hiess ei^cntlicli Jo-
hann Dunstaple oder eigentlich J ohann vou Duuötaplc (John
of Dunstable), also genannt nach seinem Geburtsorte, einer Stadt in
der Grafscbaft Bedford Dam er wirklich ein Musiker von einigem
Bnfe war, beweist der Ümstand, dais sicli Franckinus Gafor, der
berttbmte Lehrer sn Mailand, auf ihn nnd auf die Art und Weise be-
ruft, wie er in seinem Veni Sande Spiritus im Tenor den sogenannten
Modus major notirt habe') und ihn golon:f>ntlich noch ein andermal
als Autor eines Tractates „de menswabili musica^^ nennt 3). Sogar
Martin le Franc nennt ihn zusammen mitDufay und Biiulinis, nm die
Besten der Zeit zu bezeichnen*). Ziemlich grob bthaiulclt ihn da-
gegen sein Landsmann Thomas Morley, Musikus der Königin Elisa-
nach dem andern nachgeschrieben: so Sebald Heyden 1540 in der Epistola
nnneapatoria seiner arseanendi und Johannes Nucius IG 13 in seinem Werke
„Praeceptiones musices poeticae." Die Stelle bei Seiiald Heyden ist zugleich
eine lehrreiche Probe, wie der Irrthom im Nachsprechen vou Mann zu Mann
wftehst Er beruft sieh ausdrfloklioh auf Tinctoris und dessen Proportionale;
nun höre man aber selbst: „Quam musicam Johannes Tinctoris in libris Pro-
portinnarum suarum fquorum mihi copiam nu])er fecit Ueorgius Forst ♦>rnB, vir
ut litcrarum et mediciuue, ita et 3Iusicae peritissimus) novam artem appellat,
et esm in Anglia a qwtMm Dunaiajdi (so, nicht wie Forkel 2. Bd. S. 484
citirt ,,Dniis(al)li") prituo excogitatam affirmat." Hier wird also Dunstable
gar schon selbst „Erfinder des Contrapunktes. Johannes Nucius aber lägst
sich Temehmen: „Duxtapli (so!) Anglus, a quo primum figuralem musicam
inTentam tradnnt.'* Dass Nucius wieder dem alten Heyden nachgeschrieben
hat, zeigt das «rctroue Wiederbringen der von Heyden ganz fehlerhaft ange-
wendeten Geuitivlorm „a quodam Dunstapli'* statt „Dunstaplo/' Franz
Lustig in s^ner Musikkunde Terweehselt der blossen (entfernten) Nsmens-
ähnlichkett wegen unsem Johann Dunstable gar mit dem heü.Dun8tan, En-
bischof von Cantor1)iiry (starb 988). Aehnliche Verwechplung-en wurden
Anlass, dass Buddaus, Printz, Marpur^ u. a. dem heil. Duustau die Erfindung
des mehrstimmigen Gesanges zuschrieben, wobei denn Argumente vorge-
bredit wurden, wie „dass man St. Dunstan auf der Harfe mit beiden Händen
spielend abbilde." So wurde aus der von TiiK toris beiher und zweifelnd pege-
!)enen Notiz ein wahres Monstrum von Irrthüraem. Burney, obwohl mit Leib
und Seele Engl&nder, dachte viel zu rechtsohaflen, um seiner Nation einen
Ruhmzuvindiciren, der ihr nach seiner Ueberzeurnmpr nicht{]re1ȟhrte: erpole-
misirt in seiner ruhigen, ernsten Weise dagegen (Uist. of m. 2. Bd. S. iOO a. 449).
Mit noch sohwerer in*sGewieht fkUendeuGmlnden trittForkel(Gesob.d.Mus.
2. Bd- 8. 484) auf. Kiesewetter (Gesch. der Mus. S. 47) erwähnt dt r Sache
ganz kurz und weist auf den schlntrrndenGegenbi'wiisliin, der in den Arbeiten
i>ufay'8 liegt, womit freiUch die Frage ein- für allemal erledigt ist.
1) John of Dunstable, so called from the town ofthat name in theeounty
of Bedford, wherc he was boin (Hawkins, Hist. of m. % Bd. 8. 298).
2) Pract. niu8. IL 7.
3) A. a. O. III. 3. Franchinus schreibt Donstaple. Der Tractat wird
auch von Morley und Uavenscroft citirt.
4) Guillriume Dufay et Binchois
Car ils ont nouvelle pratique u. s. w.
Angloite et entwy DuntMU
Pour quoy merveflleuse playsance
Bend leur chant joyeux et stalle. (Le Champion v. Martin le Franc.)
472
Die Entwickelong des mdmtimiiufeii OetaagM.
beth, der (m seinem Bliebe „a plakiM and eatU MroAuHim to pndieaU
Ifttficfte** 1597 8.178) ibn mit einer Antplelvng auf s^en Namen
za den „Dunsen" reebnet. Wenn sein Ruf aber aneb von England
hxf^ Mailand reichte, von Daaer war er wenigstens nicht; schon
Heyden nennt ihn einen „gewissen" Dnnstable, und auch Morley
braucht die Wcndiiiif,' „O"^, whose iianic is Johannes Dunntahle."' Er
war nohHtl)t!i (oder vielleicht hauptsächlich) Mathematicus, Astronom
und, wie es die Zeit mit sich brachte, Astrolog. In Weewer's Samm-
lung von Grahschriften {Funer al-Monnmenta) wird er der Mann ge-
nannt, der den ganzen Himmel in die Brust schloss, der Mitwisser
des Kecbtes der Sterne, was aber Musik betriHl, „ihr Lob, ihr Ucbi
nnd ibr Fttnt" (Ate vir erat Iva tot», Uia nrnsica^ princeps). Die
Grabscbrift in FuUer^i Wortbies, Terfaset von Jobann Wetbamated,
Abt von St. Albans^ erscliöpfl sieb gleichfalls in Lob: sie nennt
Dunstable den Streiten PtolemKus, den jüngeren Atlas, dvt den
Himmel getragen, lässt aber seine musikalischen Verdienste unor-
wfilint Als Dnnstfthle's Todesjalir wird vom Bischof Tanner 1453
angegeben 2), anderwärts 1455 3) oder gar 1458*). Begraben ist er
in der St. Stephanskirche, Walbrook in London. Der ( irund jener
unliöHicheu Bemerkung Morley's ist eine allerdings selbst fiir jene
Zeiten grosse Unschicklichkeit. In seiner Motette „nesdens virgo^^
ibeilte Dnnstable das Wort „Angelomm" im Texte so ab, dasa
Btriseben die vorletate nnd letate Sylbe vier Tempuspansen (im im-
perfeeten Tempns so viel als aebt Taktpansenl) fallen^). Ausser
diesen wenigen Noten bei Morley nnd jenem Itorsen Beispiel bei
Francbinus, die um so weniger bedeuten, als es herausgerissene
Fragmente einer einzigen Stimme sind, scheint von Dnnstable nichta
erhalten als einige dreistimmige Gesänge in einem Manuscript der
Vaticana. Auch sein Tractat ist verloren. Hätte er jene Vorzüge
besessen, die seine Epitaphien an ihm preisen und wovon, wie Füller
1) Man findet die Grabschriften bei Hawkins 2. Bd. S. 299 und bei Forkel
2. Bd. iS. 4H1. Füller selbnt nennt die luRchriften „hyperbolical epitiphs.**
2) Bibliotb. britauuico hibemica S. 2öi^.
8) Hatrkina 2. Bd. 8. 298.
4) Bumey 2. Bd. S. 401.
5) Bumey (8. 399 und 400) erblickt darin einen Copisteofehler; aber
die Zahl der ^oteu zeigt, dass es keiner ist:
ip - sum re - gem An-ge*lo • rum
Burney's Verbesserung ist nichts werth, er flickt für das „rum" noch eine
Brevis ein, waa in der einzelnen Stimme angeht, im Zusammensing^u aller
Stimmen aber natfirlioh alles Ober den Haufen werfen trflrde. Aeimliche
Dinge sind bei den ftltcrn Gomponisten nicht unerhört, freilich nicht so
ffrell, wie in jener Composition DutiHtablc*». So setzt s. B. selbst Joiqnin
in seinem Miserere: Audi- (Tempuspause) uuditui meo.
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Bu^ ud Mine Zeat
473
sehr richtipr bemerkt, ein Drittel zu einem grossen Manne hinreichen
würde, so hätten gewiss seine Arbeiten nicht so völlig der Ver-
gessenheit anheimfallen können. Burney, der fleissige, gründliche
Forscher, der fUr die musikalischen Alterthümer seines Vaterlandes
das grössto Interesse halte, war nicht im Btande auch nnr das Ge«
ringste Ton Dnnstable^s Compositionen anfirofinden. Dnnstabie hat
21 oder gar 26 Jahre ISnger gelebt als der in hohem Alter ge-
storbene Dufny; er ist also jedenfalls der bei weitem Jüngere. Bei
Lebzeiten Dufay's stand es mit der Kunst des Tonsataes in England
nicht eben glänzend.
Nacli dem Siege bei Azincourt 1415 wurde eine Art ranfate^
ein Danklied gesungen, dessen Notirung im Map^dalenen-Colle^^iiun
zu Cambridge in der Pej)ysian-(^ollection anfbewalirt wird 1). Eine
Stimme intonirt eine Art (janto ftirnio, der nicht notengetreu, aber docii
in aualogen Gängen, auch dann die Grundlage bildet, wo die zweite
nnd im Chorrefirain die dritte Stimme „Deo groHas Änglia^* hinsntritt.
Die Composition zeigt bestimmte Cadenseinschnitte nnd ttber-
hanpt eine gewisse planmSssige Disposition, im Uebrigen ist sie
aber ron sehr roher, fast barbarischer Einfalt^.
Wenn nun bei einem grossen Nationalereigniss, welches noch
nach beinahe zwei Jahrhunderten einen Shakespeare zu einem smner
glänzendsten nnd reichsten Gemälde anregen konnte, nichts Besseres
gesungen wurde, so stand die Kunst des Tonsatzes in Eiifrland vor-
länfig noch bei iliren «Tsten Anfangen, während die Niederländer
sclion fertige Meister und eine ausgebildete Tonkunst besassen.
Um SU weniger dürfen wir also dort die Ueimut der Contra*
punktik snchen.
Eine in ihrer Art sehr merkwürdige altenglische Composition
ans der Mitte des 15. SXenlnms findet sieh im Manuseript No. 978
der ColUäio Harleiana im britischen Hnsenm. Es ist ein altes
englisches Volkslied „Sumer is cumm**^ tu einem Canon im Unison
umgeformt. Später wurde unter den ursprinifrlichen weltlichen Text
ein geistlicher geschrieben ^,Perspice Christ irohi^' u. s. w. 1 )er Catalog
der Harleian-Manuscripts bemerkt dazu: Antiphona PERSPICE
XP'TICOLA miniatis Ulteris scripta, supt a iiiiam tot syllabis nigro
ntyameido neu rovnnuiii cemuntur verbn am/Iica <um notis wn.Klns
a (puituor caidoribu^ aernatim atque simid cuticnda. Hoc yeuua con-
trapumtionis sive composUunds canonem vocatU musici rnodemi,
Angliee (cum verha aieid tn praesenH conte aud omiitiio hidicra)
1) Bnmey, Hist. of m. 2. Bd. S. 3Ö3.
4 Bomey, der diesen Gesang als „venenthle reite of oar natioiiB
prowess and glory" bczfichrut, findet doch (Wo rnmposition desnelben
„v*<ry iiicorrcct'' und nimmt besonders an drei (t^uiuteu in der zwei-
Bti nun igen Part ie gerechtes Aeivemiss.
3) In der ursnrüiiLdiclien Volksweise findet es sich in dem kflRlich
erschienenen Werke: ropnlar songs eto.
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474
Die fintwicketnng 4et malintlBiiii^pen Q«Miiget.
a Catch, vctKstioribus vero^ vti ex praesmti roih're virlere r.cf,
imiuujtabatur Rota" Zn der Ilatijitmelodie der vier Siinger singen
zwei andere mit Anspielung auf »Icn Text des Friihlingsliedes eine
Art Kukuksruf in einer kurzen stets wiederkehrenden Phrase, welche,
wie es dann bei Khnliehen sinnreichen Spielereien gelnrStichlieh war,
alt Pes (FasB) beseiehnet wird. 0ie Kotimng jener ,^B/iiM* Qin.
aehwanen Noten) ist in einsr einsigen Zeile begriffen, mit bei-
gesetsten Krenscben als Zeichen des Eintrittes ftir die einzelnen
Btinimen. Die Benennung£ofa(l^ad)ist bezeichnend gewählt, nin die
stete Rückkehr der Stimme auf denselben Punkt, die 8teteBewegnn|p
der Stimmen in demselben Umkreise anzudeuten. Hier wird dieser
Ausdruck zweifellos im Sinne eines Canons angewendet. Die oft
zitirte St«'ll(' von de Muris „Scienänm est noiahiliter ^ quod non
j)ossumui> (}i(as mtas iiourre in rota vel in una liiiea, vel i)i uvo
spatio^ ei eod^n modo duas odavcm^' ist nicht so ganz deutlich und
klar, obschen die ErklKning allerdings die stiehhaltigsle ist: Mniia
habe sagen wollen, man dl^e in einem Canon nicht iwei Stimmen
im Einklänge oder in Octaven fortsehrdten lassen. Dieselbe
Hand, welche den geistlichen Text beigesetst, hat eine sehr um-
stXndliche ErklXmng Uber die Art der Ausfülining beigeschrieben:
lyAoNS Bot am cantare possunt quaJtwjr socii, a paucioi-ihm ouieM
quam a hibm vel saltem duobiis non debet dici. Praeter eos
qtd dicunt pedem. Canitur nutem sie: tacetdibus caeto'is umts
inrhoat cum his qui tenetd pedem et ann venerit ad piHmam notam
poat cmcem, ivchoat alius et sie de cetcris. Singtdi vei'o rejuiusf i.t
ad pauaaciones aeriptas et non alibif spacio tmius longae uotae."
Und der oberen Stimme des Pes ist beigeschrieben: tMcrepeüi
mm qmeieiis epi» eti faeiens pmuaeionm ta /Ine,** der unteren
Stimme: „Jkoe dieti alk» pamtaiu i» meäio et non tu /Ine, «sd tm*
nudiaie repetenn principitm*^. Diese weitlKufige ErUlnmg sdgt
deutlich« dass damals Compositionen dieser Art eine gans neae
Erfindung nnd eine ungewöhnliche Sache waren. Befolgt man nun
diese Anweisung, so ergibt sich ein reclit sitinreich combinirtes
sechsstimmiges Ganze, welches trotz der mehrfach ungeschickt
zusammensto.ssenden Harmonie zeigt, dass sich in kurzer Zeit,
vielleicht durch die Bemühung tüchtiger Lehrer wie Dunstable, die
Coutrapunktik in England nicht unwesentlich gebessert hatte. Die
vier Hauptstimmen bilden einenCanon im Einklänge, der ohneBnde
fortgesongen werden kann nnd folglich, wie Shakespeare sagt,
„einem Leineweber drei Seelen ans dem Leibe haspeln kSnnte.**
Die knne Phrase des Pes bildet selbst wieder in den beiden
Stimmen eine eanonische Lnitation*). Das Ganse seist schon
1) Man findet das Stüök bd Bmney 2. Bd. 8. 407, bei Hawkins S. Bd.
8. 96, bei Forkel 2. Bd. S. 492, und sogar bei Busby (1. Bd. & 884 der
bei Baumgiyrtner in Jjeiprig ersohieneaen UebersetsuBg).
Jhahj und eefne ZtItL
475
eine wohldurchdachtp. Berechnung? des Zusammentreffens der Töne
voraus und ist ein beachtcn8\vertli08 Denkmal ältester englischer
Kunst, die sich hier auf einem Gebiete zeigt, welches Glarean
vonagfweise für Okeghem und Josquin in Anspruch nimmt,
iiKmUch «ni „einer Btfanme mehrere ni entwickeln^".
In DentBohland, welches prldestinirt war (gerade in der
Hiuik eine der allergHtnsendsten Seiten seines geistigen Lebens
SU entwickeln, lag im 14. und bis lief in's 15. Jahrhundert hin«n
ToUends so ziemlich alles brach. Wenn uns Stttdte wie NUmhoi|f,
Augsburg, Cöln, Lübeck u. a. m. ein anziehendes Bild tUchtigen
mannhaften Bürgerthums zeigen, wenn Gewerbe und Handel gediehen
und Wohlstand das Leben erfreulich maehte, wenn herrliche Dome
und Rathhäuser noch jetzt jenen Zeiten ein schönes Zeugnis« geben:
80 sollte man denken, hätte wohl unter ähnlichen Verhältnissen wie
in den Niederlanden die Musik, und insbesondere die gesellige
Mnsik, IduiUehe Bluten wie dort treiben sollen. Aber es fehlte das
fireiei firöhliche Leben, das die belgischen Stüdte unter einender
▼erbend; Separatismus lastete schon damals wie ein Fluch auf
Deutschland, jede Stadt war in ihre Spezialitäten eingefangen, WO
sich „Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit forterbten**, wo
Patrizier und ZUnfte einander oft genug scheel ansahen, und wo die
Kunst, von kleinen und kleinlichen Verhältiiinsen eingeengt, es mit
Mühe und kaum über den Standpunkt eines liildiclien Handwerkes
hinausbrachte. Nimmt sich doch der herrliche Albreeht Dürer in
dem Nürnberger Wesen wie ein Adler im Käfig aus. Während
man in den Niederlanden fUr die Sfinger Belohnungen aussetzte '■^) ,
durften in Deutschland die Musiker durchaus auf keine glänsende
Versorgung rechnen, sie standen in sehr geringem Ansehen und
verdienten oft kaum ihr Brot. Noch Heimann Finck beklagt sich
lebhaft darttber^. Solche Verhältnisse madien es begreiflich, wie
«in solches trostloses, ja leblosesKnochenprttparat von sein sollender
1) „Amavit Jodocus ex uua voce plures deducere, quud post eum
molti «CTomlati sunt. Sed ante eum Joannes Ockenheim es in exeroita*
tlone clanierat (Glareani Dodecachordon S. 441).
2) Adrian Petit-Cüclius sagt : „luurbibusBelgicis ubi cautohbus praemia
dantur ac ob praemia adipisceudo nollus non modus et labor adhibetur" etc.
3) £r sagt: „His" (näiolioh den Musikern in den Niederlanden, Italien
u. s. w) stipendia amjjla decomuntur, rpditi])U8 et dignitatibus locuple-
tautur (ein öeitcublick auf die Domherrenstelieu Buanois', Jo«quin's,Pierre*8
de la Rae u. s. w.) „quae quidem praemie non pomnnt non ezdtare liber-
alia iugenia et currenti calcar addere quam maximum. Apud uos Tero
excellentes artifices (ut nihil dic^am amplius) in tanto honore et pretio
non sunt, imo saepe periculum famis vix cBugiuut" (Herrn. Finck, Pract.
mut. Lib. V. de arte eleganter et suaviter cuiendi). Anoh Adrian Petit-
Coclius khi^i, dass die „Hch^ne Kunst des (improvisirten) rniilr;i])uiiktes
in Deutschland so gar selten gefunden werde, und nur äu^sernt wenige
dieser nur durch lange Uebung su erlernenden Geschicklichkeit Zeit
und Mflhe snwenden (Vergl S. 388 Anm. 1).
Die Bntwickelimg ^ melintammlgeii (SknuigM.
Poesie and nein sollendem Gesang, wie die Meistersingerei, die
leliendei blflhende Dicht- und Tonkunst ersetsen mochte. Als gegen
1500 hin nnd spitter eine_ grosse Ansah! hrayer dentscher Meister
des Tonsaties mftrat, ein Heinrich Finek, Isaak, Stephan Mahn,
Senfl, Panl Hofflieymer, Arnold von Bmek^), Breitengasser, Sixt
Dietrich n. a* m., würde freilich alles reichlich eingebracht, eine fast
nnUbersehbare Menge melirstimmiger deutscher Lieder, die, echt-
deutsch im fharaktor, an Trefflichkeit des Tonsatzes mit den besten
niederländischen wetteifern, kam in Nürnberg und Augsburg unter
die Presse und beweist, wie gross die Freude daran nnd die Nach-
frage war; jene Verhältnisse trugen hier eiulliili doch ihre Frucht,
his dahin aber sah es öde genug aus. In den Kirchen blieb mau
ein^Mh heim planen, unisonen Gregorianischen Oesang. Warden
doch seihst in der kaiserlichen Knpelle sn Wien erst 1498 Sünger
gestiftet, welche, wie es in der schriftlichen Urkunde darfiber
heisst, „auf Brabandisch su discantiem" hatten, d. h. die niederlia-
discheKnnstweise einftlhren sollten. Indessen fehlt es doch nicht an
Andeutni^en, dass man von der künstlicheren Musik der Nachbar-
länder einige Notiz genommen hStte. Schon Kbcrhard Oersne von Min-
den spricht 1404 in seinen „Miuneregeln^^ von künstlichem Gesang:
DUeant^ bymol semiton
Tetior SV da by machten.
— Dy tlores in naturalihus
Mid Quinten vndo Quarten
Tercien vnd Octaven
— der bardunen Chor
mit iren Semitouen
worin die „Quinten vndo Quarten*' des Organums, die Zflge des
firansösischen Döchant bis seihst auf seine Florataren leicht wieder-
zuerkennen sind. Eine Parallclstelle dazu enthält der zwar erst
1511 in Druck gekommene, aber schon 1474 verfasste „Spiegel der
Sitten" von Albrecht von Eyb, wo in der Vorrede vom „Gesang
mit Tenoriren, Discantiren und Hurdaumen" die Rede ist^.
,, Burdaumen" erinnert an den Bourdoti , die tiefste Stimme, die
Brummstimme, die in ihrer rohesten Fassunpr, wie Job. de Muris
sagt, auch bei den französischen Säugern nicht allein bei der so-
genannten Diaphonia bas-ilica'^), sondern auch bei der Triphonie in
1) Die (rründe, warum icli Arnold von Bruck nicht für einen Xieder-
lindtT aus Brügge, sondern für einen Schweizer aus Brugg halte, werde
ich bei Besprechang dieses grossen Meisters darlegen. Dass er nieht mit
Amoldus Flandrus zu vorwechscln ist, hat schon Fetis nachgewiesen
2) Selbst die Reihenfolge, in der die Stimmen genannt werden, ist
charakteristisch. Erst der Tenor aU Unuptätimme, dann der sich ent-
gop^en stellende Discant, snletst die n den beiden noch antretende tii^
hounionironde Stinimo.
Ii) Siehe oben S. 33 Anm. 1.
Dttfay und seine Zeit.
477
einem orgelpnnktaxtig feitUliieaden Banton bestandi). Sebandan
Bnmd fedet im Nanenacbüf vom „Qmntiroii**. Ein firtther, freilieh
nodi sehr roher Venmeh eines gearbeiteten (nicht hloBsupra librum
improvisirtcn) Tonsatzes in Deutschland ist ein auch noch drei-
stimmiges mit der Jahreszahl 1459 bezeichnetes Regina coeli laetare
in einem Codex der Strassburger Bibliothek^). So ungeschlacht hier
die Stimmen noch auf einander stossen — gegen die um ein Jahr-
hundert filteren völlig barbarischen (auch oberdeutschen) Biscante^)
ist hier doch schon einiger Fortschritt wahrzunehmen. Sehr be-
merkenswerth aber ist es ohne Zweifel, daas dorch alle Rohheit und
Plmnpbat liindwdi ädi dodh achon gana unTerkennbar der die echt
dentaeben Meister, wie Fiiiek, Hoffbeimer, Stoltaer n. a. w., und
dnrcb aie die denlaebe Bdinle, gegenttbor der mederUndiseben
individaalisirende Zug ankündigt^). Ein in aeiner Art interessantes
Stück aus derselben Zeit enthält der schon erwähnte Codex Nr. 2856
der Wiener Uofbibliothek, ein Lied „zart liebste Frau" („wertlich'*
wie die Beischriflt sagt), dessen armselige Melodie auf keinen Fall
eine Volksweise, sondern (vielleicht vom Dichter selbst) frei er-
funden ist. Was dieses an sich ganz unerfreuliche Stück bemerkens-
werth macht, ist der Umstand, dass trotz seiner sehr naturalistischen
Factur doch in der (noch schwarzen) Notirung von den Regeln der
Menaoralmnalk in Impeifiaimng, Alterimng und Ligatur aebiil-
riebtiger Gebraueb gemaebt wird, nnd daaa eine tiefe Stimme, ein
BoHrdm, naeb Art einea Batso eaiifjmio daangeaetst ist mit der
beigesclniebeuen Bemerkung: „das ist der Pumhart darzu^S Dieser
„Pambart*S ein dem „Bardaumen*' analogea Wort, aagleich an das
grosse oboenartige Instrument Pommer, Pummer oder Bombard
erinnernd, ist wiederum äussert armselig, fast nur Tonica und
Dominante. Das Ganze trägt die sonderbare Ueberschrift: ,,das
Nachthorn vnd ist gut zu blasen", was unmittelbar an den üblichen
Beisatz aufTituln der späteren deutschen Liedersammlungen erinnert:
„&uS die Instrument dienstlich" (schöne auserlesene Lieder des
boebberttmpten Heiniid Fineken 1536), „auff allerlei Instrument
an gebrancben** (ESn Ansabond scböner teutscber Liedlein, beraus-
geg. von G. Fonter 1589 nnd 1560 u. a. w.), ein Beiaata ttbrigens.
1) De Maris, Soauna mnaioae oap. XXIY, (Herbert, Scriptores 3. Band
S. 240.
S) Uandsohr. B. IL 15.
3) In Gerbcrt's De oaato.
4) Man erlaube mir ein (rleichniss! Jenes Rt qrina eooli verhält sich
z. B. zu Finuk's „Christ ist crbtaiiden" und „in üultcs uam so iarcu wir'*
(No. 1 and 2 in den f,iobOnen aosserlesenen Liedern des boohberfimpten
Heiiirici Finckon") wie etwa ein erst aus dem Rohcstoti au-^j^ehauenes Stein-
bild zu di r voll ausgearbeiteten Statue: es ist kaum noch menschenähnhch
und enthalt doch »cbon alle wesentlichen Züge des fertigen Kunstwerkes.
478
Die Ebtwiokdoiig des mdintiiimiigeii Oniingfw.
den die gro8};e Chanson-Sammlang Tylman Ba8«to*s auch macht
t^owenables tatd 4 la vaix cmme antx itutrummilt*.
(Codex No. 8856. der k. k. HoflnbL m Wien IbL 185b~186 a.)
Das Nachthora vnd ist gat zu blasen.
Wertlirli
l
Zart liebste fraain lie • beraubt
Bas ist der ^nliart dann.
i
I g ^ fl> I
lieh frö-lich naöhtwamiao meta herei ddn trew be • tradit
i
* — ^
das freut all
Icrafttndnaolit anf sta-taa
1
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2:
syn so ich uu piu da - bin el - leod vnd aiu vnd
9: 1
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1 — 9 — 9 — 6? i
1 ^ 1
i
— ^
fd-mand main ra tr& - sten midi wen didi mit se •> nen
1
-Ä» » ^
1" '
-Ä»
-6» — ^
1) Ob dieser Satz anstatt des Chroma vor £ nie Ambros vorsohUgti
nicht hesser mit eiaeni h rotaadnm ao Teraeheii ist, lasse ich dama
gestellt
Kada.
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Dufay und seine Zeit.
479
m « -
(S*—
i
ich den slaf bekrenk daz ich d^ nacht gar TÜ
-49-
i
—
dioh gedenk
min tremn dich maeheiitniidi fo gtll du
1
1
<9-
ich mir voinsch daz hail
daz ich sla - fen 8olt an
1
1
1
1
2:
I
•Inf • fen
•ol • eher Ii - her nuah ay end
I
•49-
-49-
(fdgmtara oppotit«*
pr^rieUiit.)
Gleichzeitig mit der eng^ieelien Bota „iSumer w ctmten" und
tinter der gleichen Bezeichnung, nXmlich ah „ain Rädel von
drein Stirnen" taucht ein in einer einzigen Zeile pesclnipboner
Canon auf mit dem Texte des deutschen alten Martinslicdes „Martin
lieber Herre mein" ^ in einer Handschrift aus dem Kloster Lam-
bach in Oberösterreich (jetzt in der k. k. Hofbibliothek au Wien),
1) Rädel, süddeutsches Diminutiv von Rad, so viel als Rotnla, Rftdchen.
2) Btä Förster (2. Thoil No. V) kommt oin im Texte (nicht in der
llusik) ähnliches MartmsUed vor: ^^artine, lieber Herre mein, na schenk
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480
Die Entwickelung des mehrBÜmmigen Gesanges.
auch für jene Epoche in Deutschland eine bemerkenswerthe und
fast räthselhafte Erscheinung. Es ergeben sich freilich noch sehr
ungeschickte, ja horrible Combinationen « es treffen stellenweise
die Stimmen in Unisonoschritten, in Quintparallelen, in unzu-
lässigen Dissonanzen u. s. w. zusammen.
-C-
(Lambacher Handschrift fol. 170.)
Ain Rädel von drein Stimmen.
♦ \ —
Martin Ii - ber her - re uu lasz vns frö • hch sein heint zu
-C— 4-
dei-nen e - ren vnd durch den wil • len dein di genns solt du
VQB me>ren und auch kuelen wein ge - sot - ten vnd ge - bra-
-C-
zfz
ten sy muessen all herein.
Gleich der englischen Rota dreht sich dieses deutsche „Rädel"
ohne Ende fort, freilich noch sehr viel holpriger:
(Versuch einer Auflösung.)
JZ
-et
1
l?? 5 -
:=p:
vns nur gar dapfer ein, ja heut in deinen ehren, wöllen wir alle fröhlich
sein, o Martine, o Martine." Forster sagt in der Vorrede, dass „die
schlechten singer, so hin vnd wieder auff den schulen mit der Lieben
Gans vmb Martini vnd Weihnachten oder zur andern zeyt herumb recor-
diren," mit gutem Erfolg und Beifall zu singen pflegten. Ueber jenes
sogenannte Rädel sehe man auch Ferdinand Wolfs Mittheilung in den
altdeutschen Blättern von Moritz Haupt und Heinrich Hofmann 2. Bd.
8. 311. Ich gebe es oben im Texte nach dem Original. Die Auflösung
des Canons überlasse ich billiger Kritik. Einige gar zu schlimme Con-
flicte der Stimmen Hessen an der Richtigkeit zweifeln, gäbe es nicht auch
sonst ähnliche Barbarismen genug.
Google
Dufay und seine Zeit
481
wi _ ..ir^..^ - -0 - — 1 M- — r — r
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1^"' 'Tri r-r^r i-^r-f^
3:
rrrm
ünison
3
r-t--
i
?! Unison
i
1) Der von Ambro« gegebene Versuch einor L<\su»ig dieses Canons
gibt zu manchen Bcdmkcn Veranlassung. lusbesoudcre scheint die
Avbroa, QM«Jilolite der Miuik. IL 31
482 Die Entwickelung des mehrstimmigen Gesanges.
n
Mar-tin
Ii - her
her
ro nu
lasz vns
frö- lieh
sein
sie?
Mar'tin Ii - her her-
—
hcintzu dei-nen e - ren vnd durch den wiUlen dein
die
- ^^ —r,
o
^^^^
—z^ — 1
re nu
laez vns
frö • lieh
sein
päf
r — a -1
»
Martin
U-ber
her
-fj f9-
p — r — ^
X — r
genns solt du vuh nie • ren vnd auch kuelen wein ge-
heint zu dei - nen o • ren viitl durch dcu wil-Icn dein
die
:3
ro nu
4V
22:
lasz vns frö
üch
sein
Fassung in Gruppen von je drei Takten gewiss verfehlt zu sein. M/ip^e
darum eine atidere Losung hier folgen, die mit Ausnahme einer einzigen
mit sioV bezeichneten Stelle eine ganz leidliche Harmonie ergiebt. Ivade
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Dofay und seine 2eit
483
sot - ten Tod ge - bre - ten 17 mnee-Mn all her - ein.
n
gciins soll du vns me - reu
vud auch kue-len wein.
heint sa dei - nen • • ren vn
öl
nen • • ren vnd doroh den wU • len dein.
DietellMHuidaelirifteathllt Jenes iweistimmige Lied von f^sant
maitins firewden'*; die eine Stimme bt eis „der Tenor** beieiehnet^).
Wie die englische Beta in OberOeterreich, so tritt mit einem
Spränge Aber gans Dentsehlaad weg, nnd eben so flberraschend in
l^iihmen der französische Rondellus auf. Vermiithlich kam diese
Kunetfoim durch Guillaume Machaut dahin, der den König Johann
(von Luxemburg) als SecrctÄr nacli l^rag; begleitete und viele Jahre
dort verweilte (gerade wie der von Johanns Sohne Karl IV. n)it-
gehrachte Matthias von Arras den pragor Dom nach iVanzösischcm
Kathedralcnsy Stern baute, eines so exotisch wie das andere). Di»^
prager Universitätsbibliothek besitzt in einein Codex^) einen zu
Anfang des 15. Jahrh. geschriebenen Rondellus mit schwarzen
spitzen Noten im Diseant nnd derben Ligaturen im Tenor, welche
Notimng in derBeischrift ausdrücklich die „fransttsische** sowie dies
Stttclc ein „sehr 8ch5ner Bondellus" oder „Bondellinus** genannt
wird^. Nach französischer Weise sind iwei einander fremde Ge-
sänge mit zweierlei Text Busammengekoppelt: der Diseant enthXlt
einen lateinischen Lobgesang, der, wie es sclieint, die heil. Agnes
angeht, im zweitenTheil aber plötzlich die heil. Maria apnstrojiliirt ^),
Der Tenor hat den deutschen Text t,ach du getruys blut vou aldea
1) Die Anflfltting hat mir nicht glOcken wollen. Das Motiv liat
einige Aehnlichkcii mit dem Ra>lel:
All ±1
e e il e e d 9 de
2) S. oben S. 3K7 Anm. 2. Der Codex enthftlt die Sophismata einet
ISf Albt'rtua und einen Traktat ^^Oonsequentiae" eines gewissen F. Forgbrey.
Auf dem vorderen Deckel ist geschrieben; raoy wyborny sokolyku („mein
trefflicher Falk"). Dieser Sokolik spielt in der sJtbfthmischen Dichtung
seine Rolle; auch die si-hr alterthiimliche Fomi ^moy" deutet an. »lass
der Codex von Alteraher in Böhmen war. Die «Schrift des Koudollns
gehört ih r Zeit von 1400 — 1420 an.
H) ,Ji)si.ice notas gallicaiias ' und „Tenor htgos pnlorimi rundelli."
4) DiT Tf^xt lautet : Fl >s floruni iiifer lilia. quae spernit mundi \
«eoaturifl nata (soll wohl huiöseu „tilia," dauiit es reimt). Es ist vemiuthlioh
8l»
n. s.
484
Di« Entwickelnng des mehntiiiiiiiigen GeMogei.
•oln". 1>M Ganse ist Tennaihlicli die Arbeit eines in dnem b6li-
mischen Kloster lebenden Hönebes, vielleicht eines Gonndus de
Egra (von Eger), der auf dem Anssenblatt seinen Namen bei-
gcschrieben hat Die Melodieflihrung im Discant hat eine leichte
wiegende Sech8achtelbewo<!;ung, yöllig im französischen Rondellua-
8^1; der Tenor schreitet durchaus nur in gehaltenen Noten einher.
So besitzt dieselbe Bibliothek auch einen Tractat, den sich ein
p^ewisser W e n z e 1 von Pracbatiz, vielleicht ein Student oder Ma-
gister der von Karl IV. nach dem Muster der pariser 1348 pestifte-
ten pragcr Universität, nach den Principien des Johann de Muris
(wie ausdrücklich bemerkt ist) zusammengeschrieben hat^. Die
durch die luxemburger FUrsten vermittelte innige Verbindung »wi-
schen Frankreich nnd BQhmeii bitte b« dem bekannten natOf liehen
Tonsinne der Böhmen Tielleicht eine Entwiekelnng der Mnaik her-
Torrofen kSunen« welche ein Gegenttllck der niederllndiielien ge-
worden wäre, hätte das glänzende Leben, wie es unter Karl IV. Prag
zur fröhlichsten deutschen Stadt" machte, nnd der mfichlige Cultur-
aufsehwung, der s. B. gleichzeitig die so äusserst merkwürdige böh-
mische Malcrschule hervorrief, fortgedauert. Unter Karls Sohn und
Nachfolger Wenzel brach 1419 der Hussitenkrieg aus und verwüstete
alle die hoffnungsreichen Keime. Jetzt erklangen nur noch jene
Choralinclodien voll wilden Glaubensfeuers, die noch jetzt in den
verschiedenen im prager Museum, der dortigen Univerbitätsbibliothek
n. s. w. aafbewahrten utraqniatisehen Cantionalen und anderen
gleichseitigen Anfreichnvngen in grosser Menge erhalten sind*).
St. Agnes gemeint, die Patronin der in Böhmen hochverehrten Aebtissin
Agnes (Vaters Schwester Otakar des U.). Der Text des zweiten Theiles
ist: tfkye quae laetaris, cum ab ipsa (nlinlieh von 8t Agnes) adorsrii in
ooeli palatio." Ich bemerke, dass dieses „adoraris" der Lehre der katho-
lischen Kii die völlig entgepen ist, obwohl es auch sonst vorkommt, z. ß.
Heinrich Isaak s grandiose Motette zu sechsStimrocn „Virp;o prudeutissima"
(er hat auch eine kleinere Tierttimmige) endet im Ongimd den ersten
Theil mit der Wendung: „cujus numei modo spiritus omnis et gcnus
humanum merito vencratur et adorat'' (Liber seluct. cant. miaa vulgo
mutetas appellant 1520). Hans Ott, der das Stück in das Movum et
insignc opus mus. auch aufgenommen, hat daher den Text geändert.
1) I)er Notirung ist beip« srlirieben: P'ratri suo praedilecto notavi
hunc rundellinum in memoriam Iratcmitatisj" dieser Bruder dürfte wohl
eis Orden^nider gewesen sein. Des gaai devtUch geschriebene Wort
„•oln* weiss ich nicht sn erklären. Die angrsmmaüadhe Wendimg:
itSao . . . notavi" steht so im Original.
8) Zum Schlüsselst beigesetzt: „et hic finitar musica Magistri Johannis
de Muri« secartata (?) de Masioa Boethii. Scripta est hee per Wenoeslaam
do Pnichatiez." Ein anderer Musiktractat in demselben Codex ,,por raanus
Stanislai de Gnezna'' (von (IneFien) ist mit der Jahreszahl MCCCCXXXI
bezeichnet. Der Codex tnigt die Signatur V. F. 6.
3) Eine zahlreiche und interes8ant (> Sammlung solcher Melodien ist 1554
zuWiftcnberg bei den Erben GeorpRhau's gedruckt worden unter dem Titel:
Canüoues ovangelicae ad usitatas harmonias, quae in eocleaüs boemigis per
Dil&y und Min« Zatt
485
Indessen begannen nach Deutschland die glänzenden Vorbilder
der niederländischen Meister hcrüberzuw irken. Adam von Fulda
bekennt sich aU begeisterten Verehrer Dufay's und Auton Busno^s
imd erUlit sie Air seine Vorbilder, denen er nacheifere. Jene vor-
erwXlmte Einfthrang des «»brabantSsehen Diacants" ; in der wiener
Hofcapelle ist aber sicherlich nicht gana allein auf Beehnnng des
steigenden Ansehens der niederlündisehen Mnsik sn setsen, sondern
zuverlässig doreh die VermJihlung Maximilian*s L mit Marie, der
Erbin von Burgund, Tochter Karls des Kühnen, yermittelt worden.
Der kunstfreundliche, ritterliche Max hörte am burgander Hof die
Gesänge der vortrefflichen Kapelle und wünschte fUr seine eigene
Kapelle etwas Aehnliches. So fasstc die niederländisclie Kunst
nicht allein durch ihren Werth, sondern auch unter Beg;iinhtigung
politischer Ereignisse in den Kapellen der höchsten geistlichen
nnd der höchsten weltlichen Autorität, in der päpstlichen und in
der kaiserlichen Kapelle, festen Fuss. Bald soUten in letsterer
KttnstlerwieHeinrich Isaak, PanlHoffhoTmer, LndwigSenfl, Arnold
Ton Brack glltnaen. Als Philipp der SehSne Ton Bnrgand den spa-
nischen Thron bestieg, nahm er niederUtndische Singer (unter ihnen
Alex. Agricola) mit nach Spanien. Die Kapelle von Valladolid
wurde hernach unter Karl V. eine der ersl^ in der Welt uud
glänzte durch niederländische Künstlernamen ersten Ranges. Noch
Philipp II. meinte 1564 ohne einen niederländischen Kapellmeister
gar nicht fertig werden zu können; seine brieflichen Verhand-
inngen darüber mit Marjrarethe von Parma, der Gouvernante der
Niederlande, werden noch im Archiv von Simancas aufbewahrt.
Italien schien einen Augenblick lang seinen eigenen Weg
gehen sn wollen, aber es konnte sieh anch d«n aUgemeinen Loose
nicht entsiehen. In Italien, nnd awar in Florens, hatte sich nm die
IGtte des 14. Jahrhonderts allerdings eine in ihrer Art nicht unbe-
deutende eigene Schnle von Tonsetzern gebildet, deren Werke
trotz ihrer „biaanen nnd unregelmässigen Harmonie** fUr die
Kunstgeschichte von bedeutendem Interesse sind. Denn wenn sie
einerseits ihre so bestimmt ausgeprägten Eigenthümlichki-iten haben,
dass sie als von der damaligen durch H. de Zeelandia und die
französisclien Chansons der anonymen Tonsetzer repräseutirten
niederlandisclien Tonsetzkunst unabhängig erscheinen, so zeigt
andererseits der Zuschnitt, wie schon vorhin erwähnt worden, die
grösste Aehnliehkeit. Die Notirong ist hier wie dort die schwane
totius anni circulum canuutur, accommodatae, praccipue Christi beneücia
breviter oompleoteirtea. Antore Vencenlao Xicolaide Vodniano, Reipnblicae
Satecensis Notario." In der Vorrcile lielolit Xicolaidcs die Mcloclien: sie
seien ,,n innjoribus uostris raira arte compositae, pro circumstantia tem-
poris üiultuni gravitatis, maiestatis, immo etiam snavitatis in 8« continent
. . . unde apparet veteres Boemos inusicae vakle Htudiosos fuisse." Die
Bibliothek des Klosters Strabof in l'rag besitzt das Werk (U. V. 1).
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486 Di« Entwidnlmig dM mehntunnugea GeftagM.
(auf einem System von sechs Linien), der Gebrauch der Ligaturen
in den Hauptzügeu derselbe. Die Cnntüene wird hier wie dort statt
in den Tenor auch wohl In die Oberalinune veilegt An einen £in«
flosB der NiederlXnder Igt In to früher Zeit nicht wohl m denken«
Der als Gegner Marehetto's und als ^lusikgelehrter bekannte
KarthäuBer Johannes von Mantua (Joannes Carthuaianna odwCarthn-
unus Mantuae, bei Gafor Joannes Carthusinus) war, wie er uns selbst
er/ä1ilt, aus Namur, also ein Niederländer, und ging doch nach
Italien, wo er, nachdem er sich daheim zum Sänger gebil-
det, die Musik, das heisst also wohl die gelehrte musika-
lische Theorie, bei Victorinus van Feltre lernte^). Die
praktische Musik erlernte er also daheim, aber die eigentliche
mntikaltsche Gelehrtheit glaubte er sich In Italien holen in mflasen^).
Auch die Paduaner Marehettns und Pioadoeimns von Beldoninndo
können nicht als Abkömmlinge ttner niederllndischen Schule enge-
sehen werden, und wie Prosdocimus die Mensnrallebre gans aos-
drttcklich nach „italienischen Grundsitien*' {secundum morem Ttali-
corum) behandelt, so sieht man, dass man die Unterschiede und
Eigenheiten der verschiedenen nationalen Musikschulen sehr wtdil
erkannte, l'adua, die alte Universitätsstadt, die noch heute dareiii-
sieht ,,als stünden grau leihhafti«; da Physik und Metaphysika", war
die Stadt der f^elehrten Theoretiker, aber das lebensfrohe Florenz
hatte, gleich den Niederlanden, »eine Componisten geselliger mehr-
stimmiger Litider. In der Stadt, deren Edle es Torzogeu, während
in Deutschland der schwane Tod blutige Judenverfolgungen oder
wahnsinnige Bussflbungen hervorrief, sich vor der Pest (wenn wir
dem Dichter Boccaccio und dem Maler Oreagna glauben dürfen) in
die sichere Ferne reizend gelegener Landhäuser zu flüchten und
dort die Zeit mit Erzählungen, Tänzen, Saitenspiel und Gesang
bestens 7m vertreiben, konnte es ancli nicht anders sein. Die Zahl
der erlialttMicn Compositionen dieser Horentiner Schule ist bedeutend:
ein Codex der Bibliothek zu Paris (No. 535 Suppl.) enthalt 199
TiiedtT zu 2 und 'A Stinimcn von Francesco Landino, Maestro
J aco po da Bologna, I lateGuglieluio de Francia^Franzose?),
S. Feo, ^laestro Giovanni da Pirenüe, Giov. Toscano',)
1) In genauem Zusammenhange damit steht, was noch Adrian Petit-
Coclius schreibt: In belgids urinlras, nbi nullns noa modus et lahot
adliihetur, QUO ad soopum henc canendi perveniant, nulla scribitur aut
dictatur musica, d. h. man »chrieb dort keine gelehrten Tractate, sondcm
griff die Sache praktisch au.
9) Br u^: „Gallia namque me genait et fedt OofllorWM, Itslia vsro
qualfincum<iue sul> Victor. iio Feltrcnsi, viro t;im literis graecis quam latinis
alTatim inihuto, Gramtnatioum et Multicum, Mantua tarnen Itaiiae civitas
indignuni Ciirthusiae raonachum (Joann. Carth. libellus nius. pars 1. libr.
8. Mscr. No. 5904 der Vaticana).
3) F<'tis fRev. mu8. 1. Bd. S. 109) ist K'oneifrt, Giov. de Fireasa und
Qlov> Tottcauu für eine und dieselbe Bersuu zu iiultuu
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Dn&y und Mine Zeit
487
Don Paolo Tenorista da Firenze, Don Donato da Cascia
(Casciano bei Fioreaz), Lorenso di Firenze, Gherardetto,
Nicholo di Proposto, Frate Bartolino, Frate Andrea,
l'Abbate Vineensio da Imola. Der bekannteste nnter diesen
Tonsetsem ist Franceseo Iiandino, aneh Franeesco degli
Organi oder i1 Cicco (der Blinde) genannt, Sohn eines florentiner
Malers Jacopo Laudino, um 1325 zu Florenz geboren. Die Blattern
raubten ihm schon aU Kind sein Augenlicht, wie zum Ersätze zeigte
sich ihm die Musik und die Poesie günstig; man rühmt ihm nach,
er habe alle Instrumente gespielt und einige neu erfunden; die
grösste Kunstfertigkeit entwickelte er aber auf der Orgel. Seine
Gedichte kommen hin und her in Manuscripten unter der Ueber-
schrift vor „versus Franciscif organistae de Flarentia." Er wurde
von den Zeitgenossen viel bewundert, an Venedig wurde er von
dem König von Cypem mit einer Lorbeerkrone gekrttnti). Er
starb 1990 nnd wurde in St Lorenao an Florens begraben. Unter
den oben genannten Tonsetzem ist er der bedeutendste; ibm an-
nKchst steht Jacopo da Bologna 2) und Giovanni da Firense. Dass
diese Meister auch geistliche Compositionen lieferten, beweist ein
erhaltenes zweistimmiges Gloria von Gherardetto, ein Credo von
Bartolino und ein künstlich vocalisirendes Sanctus, Agnus und
lii'iiedicamus Domino von Frate Lorenzo^). Die weltlichen Lieder
haben italienische Texte, Liebesgedichte u. b. w., wie sie dann
bis fast auf unsere Zeiten als willkommener Vorwurf für Com-
ponisten ibre Physiognomie unyerSndert behalten haben. Allerdings
haben wir es hier noeh nut nnbehilflichen Anftngen lu thnn.
Parallelfortschreitnngen ▼ollkommener Consonanien, Quinten, Oeta-
veu (auch selbst Einklänge) werden so ziemlich unbedenklich ange-
bracht, dafUr wird in den TonschlUssen der Tera, wie einem bösen
Geiste, ausgewichen. Der Gebrauch der Dissonanzen ist völlig unge«
regelt. Das Bizarre des Tonsatzes wird durch Syncopirungeii jeder
Art erhöht, durch welche der Tonsatz etwas Schiefes und Schwankeu-
des annimmt und unangenehm schluchzend wird, wie denn diese Syn-
copirungen eine Aliart des Ochetus nnd ans ihr durch Unterdrückung
der Zwischenpausen entstanden sind. Zwischen air dem Schutt uud
OeröU tauchen Fragmente gesangvoller Melodie auf, aber ihr Reis
erstickt unter der ungeschickt sntappenden Contrapunctimng. Die
1) S. Filipi)o Villani, vite d'illustri Fiorentini S. 84. Oaffi (Stör, della
inuä. uella cappella ducale di S. Marco) erzählt: Laiidiuu habe mit dem
Organisten von S. Maroo, Prancsesoo da Pesaro, einen Wettkampf be-
standen, der unentschieden geblieben sei. Leider hat der sonst SO g^
wissenhafte Caffi die Quelle nicht an<xt'geb€n.
2) Von Jacopo da Bologna heis.st es, er sei auf Veranlassung eines
Hersogs von Amalfi erdolcht worden. Eiftnnrocht soU die yeranllMsung
gewesen sein. S. Ft-tis a a. 0. S. 110.
3) In dem Pariser Codex No. 535 Supplem.
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488
Die Entwickftlnng de« mehntiminigeii Gesanget.
Notirnng macht Ton den Feinheiten der Menfoiellehre, welche die
Niederlltaider so tinnxeich sa Tenrerüien wisseii, nur sehr misrigeii
Gebrauch. Die Imperfection, der Divulonipmikt, die AngmentelioB,
nnd die einfachen Formen der Ligatur werden angewendet.
Wenn sich die feine, geistreiche, in den übrigen Kttnsten an
Gutes und Bestes gewöhnte florentiner gute Gesellschaft an so uner-
quicklichen Tonsätzen zu erfreuen vermochte, so war es wohl nur
deswegen, weil sie vorläufig nichts Besseres kannte. Der Wunsch,
eine der Blüte der übrigen Künste würdige Musik zu besitzen, war
übrigens in den Florentinern lebhaft genug. Der Organist Antonio
Sgnareielnpo , genannt degli Organi (etwa 1480 — 1470),
welcher sie, wie es faiB^em Epitaph heisat, au „süsser Bewnndemn^
hiniiss", war ihr Btolt; mit lebhafter Genngthanng enihlt Christoph
Landino, der Commentator Dante's, dass, sowie einst Leute von Gadiz
nach Born eigens deswegen kamen, am den ffistoriker Livios sa
<:<^->ien, so seien Reisende, darunter sehr angesehene Mosiker ana
England und den entlegensten Gegenden des Nordens über die See,
die Alpen und Apenninen gekommen, um den Meister Antonio sn
hören. Die Florentiner fanden, er habe „die Musik zur vierten Grazie"
erhoben; Lorenzo der Prächtige selbst soll ein Lobgedicht auf ihn
verfertigt haben Die Flurentiner weihten ihm im Dome St. Maria
del Fiore neben Dante und Giotto eine denkmal verzierte Grabstitte^
als dem ReprSsentanten ihres Bnhmes in der Mnsik, wie jenen beiden
1) Ploscoe erwähnt es zweifelnd im Leben Lorenzo's Cap. VII und
beruft sich aof Tenho?e, M^m. g^n^al. de la Maison de Medicis üb. X.
S. 99. Dam Antonio bei Lorano in Gnaden stand, erwihnt aach FQippo
Valore, vergl. Bumey 3. Bd. S. 243.
2) Das^foninnontSguarcialupo's steht dem durch die Thüre der Fa^^de
Eintretenden zur Linken, es ist gleich das erste der dort angebrachten Denk-
male. Et ist von Beoedetto da Migano (der aach Giotto*i Denkmal arbeitete)
verfertifTt und in seiner Anlage höchst einfach. In einer kreigrunden ver-
tieften Nische sieht man in kräftig herausgearbeitetem Relief daa Brustbild
des Meisters völlig en face. Es ist ein unschönes Gesicht, gans bartlos ; das
siemlich lang und schlicht herabwalleude Haar ist nach damaliger Tracht
perückenartig zugeschnitten. Hart unter dem Bild ist eine mässig hohe, aber
sehr breite viereckige Tafel mit der Inschrift angebracht, die ich hier nach
an Ort and Stelle genommener Absohrift diplomatisch trea mittbeile:
MTltom profeoto debet masica Antonio
sqvnrcialvpo organiste is enim ita arti
gratiam conivnxit ut qvartam sibi vide
rentur charites musicam ascivisse so-
rorem florentina eivitas grati aaimi
oficivm rata eiva memoriam propagare
GvivB mauvs sepe mortales indvlcem ad-
mirstionem addvzsrat wn sfo mon?-
mentvm point
In Walther's Lcxicon ist sie S. 575 und bei Bumey 3. Bd. S. 243 zu finden,
aber mit einzelnen Abweichungen in der Orthographie und sogar im Texte,
2. B. statt „posmt" ist dort das letzte Wort „donavit." Gerber hat sie für sein
Bu&y und aeiiie Zeit
489
an<leien in der Poesie und Malerei. Meister Antonio's Orgolplian-
tAsieeu sind laugst verhallt; es wird ihm aber schwerlich Unrecht ge-
schehen, wenn wir uns seine Kunst, trots aller Bewandmng, di«
fie erregte, riemlidi beteheidan oder vielmehr ziemlich primitiv vor^
stellen: wir bnmehen nar die fatt ein Jalirhandert jüngeren ,^am-
tone e Skereari äaU eeedUnHuimo Air. Vuigliart (Willoert) •
Oipriano Bore uto dudpclo a quattro e cinque die 1549 zu
Venedig in Druck erschienen, in Betracht zu ziehen Wie sehr
sieh die Florentiner an der Kirchenmusik in ihrem kolossalen Dome
erbauten, zeigt die schöne Schildernnf:^, welche Leo Battista Alberti,
der berühmte Architekt und erste namhafte Förderer der Keuaissance
(St. Spirito in Florenz, St. Francesco in Perugia), in seiner Schrift
„über die Zuflucht vor den Sorgen" von dem tiefen Eindruck gibt,
den die Musik in den Hallen von Santa Maria del Fiore auf ihn
geBiMiht.
Die gute Oesellscheft in Flerens tthte nneh noeh andere, minder
knnitreiehe, aber ohne Zweifel mehr anspreehende Moink als die
holprigen eontrapnnelisehen Singestttcke eines Landino. Im De-
camerone wird nns oft von Liedern erzählt, welche einer der Herren
oder eine Dame aus der heitern geistvollen Gesellschaft singt; zum
Theil sind es Tanzlieder, wie denn gleich der erste Tag damit be-
schlossen wird, dass Emilia eine reizende ,,Canzone'* oder ,,Balla-
tetta'* singt ,,?o so?i si vaga della niia bellezza'\ wozu die Andern
fröhlich tanzen und im Chor in den Kefrain antwortend einstimmen,
der hier durch den stets wiederkehrenden Rundreim „vayhezza" ha-
zeichnet ist^). Ein andermal fordert die Tageskönigin Ehnilia den
Dioneo anf ein laed {una eaiuone) zu singen. Der Schalk neckt
die Damen mit Anftngen von damals bekannten Liedern, deren wei-
terer Yerlanf sehr arg gewesen s^ mnss, weil die Damen, welche
in den Novellen überaus starkes Gewürz vertragen, dagegen so leb-
haft pfotestiren. Dioneo bemerkt io avessi un cembalo io direi**
u. 8. w., womit kein Ciavier, sondern eine Schellentrommel, ein Tam-
bourin gemein ist 3). Die Königin des ersten Tages Pampinea Ittsst
neaei TonkOntilerlesicon Bd. 4 8. 944 herflbergenommen. Kandier <F^e-
strina*8 Leben) behauptet: „Die Büste sei nicht mehr auf dem Monument"
— wo er nur die Augen gehabt hat? Beiläufig sei bemerkt, dass Dante's
Monument im Seitenschi£f, eben so wenig wie sein Kenotaph in S. Croce,
des grossen Dichtm Qraomal ist, der Mkanntlich in Savenna ruht.
1) Niedergeschriebene, gearbeitete Compnsitionen Sguarcialupo's
finden sich noch iu Florenz. Es wird von ihnen im 3. Bande die Rede sein.
2) Auch im Roman de la Rose V. 743 ist die Rede vom Refrain
Sur Can.le.
3) However ihe harpsichord is certainly of later invention than the
time of Boccaccio, who in the passage where the word Cctnbalo or Otem-
iolo is nsed, probably meant onty a Idnd of Tawhowr de Basqutj or
dnua in the shape of a sieve, with small bell» and bits of tiu jmgling at
the Ildes of it: a tinkling Cymbalf but not the modern harpsichord a. s. w*
490
Dm EDtwiokatiiog dM mehntiminig«!! G«itiiigiM.
musikalische Instiumente herbeiholen, Dioneo nimmt die ^mito
(liuto) Fiametta die Viele (viuola) sur Hand und sie spielen einen
Tana, eine langsame Carole (um earola eo% Mo passo). Daam
werden frohe Lieder gemmgen, spKter singt Enulia anf Verlangen
der KVnigiti jene Torliin schon erwidmte Cansone, wem Dioneo anf
der Laute bcp^leitet 1). Die Lante mius schon an Ende dea 13. Jahr*
hunderts in Italien ein durchaus populäres Instmment gewesen sein,
denn schon Dante braucht sie als Gleichniss, um im achten Uöllen-
kreise die Missgestalt dea MttnafiÜschers Adam vonBrescia anachnii-
Uch an machen:
io vidi im Iktto a gvlsa di Itufo
pur ch' egli avesse avuta rangfui'naja
tronca dal lato, che Tttomo ha lorcuto^
Die Sltnger rar Lante ^^eamicri a UM' bildeten eine eigene
Klasse. Ihr standen die „GaR^ort a Ubr^* die Singer ans Bneh nnd
Note, gegenüber, welche knnstreiehe mehrstimmige GesXnge ana*
führten, während der Cantore a Ihäo als Solist zu seinem Gesänge
nar der Laute bedurfte. Man darf sich unter den Caniori a liuio
nicht gerade unp-eschickte Naturalisten vorstellen, welclie nach dem
Gehör etwas zusaiinnenstilnijtorten, so gut es eben gelien wollte.
Ein gelehrter Mann, eine Musikautorität ersten Ranges wie Vietro
Aron würde sonnt dieser Klasse von Musikern nicht so ehrenvoll
J^lrwiihnung machen, wie er in seinem Lucidario thut. Er beruft sich
ausdrücklich auf sie, nm der „httswilligen Veranglimpfung'% daas
man in Italien nicht singe, sondern nach Ziegenait meckere 9fi
Boliam cajirixano"), durch eine Thatsache au antworten. Er nennt
unter den LautensSngem einige vornehme Dilettanten, wie den
Grafen Lodovico di Martinengo, einen ▼enezianisclien Magnifieo
Messer Camillo Michele, den Archidiacon von Como Marcauton
Fontaiia, aber auch zwei Namen von Musikern, von denen ge-
«Iniekte iiielirstiniiiiige C\)ni])()sitioneii zum (ielirautlu' der Cantori a
Itbro vurliegeii: Hartolotiieo Trombonci no von Verona, von
welchem Petnieci in den 9 Büchern Frottolc zahlreiche Nummern,
ausserdem sogar Kirchenstücke (dreistimmige Lamentationen und eiu
Benedictus) druckte,^ und March etto von Mantna, von dem sich
(Bumey bist. o£ mos. 8. Bd S. 344). Bumcy h&tte nicht nOthig gehabt
„probably" zu spredien; er hat übersehen, dass eim* andere Stelle im
Decamerone seine Yurmutbung vollkommen bestätigt: „E iu iscambio
delle cinmie lire le &ce il prete rincartare ü oembal tuo, e appicarvi
un sonagliuztc^* (CKom. VIII. Nov. 2).
1) . . . conmndi) la Reina che. Kinilia caiitasse noa canxone dal leuto
di Dioneo aiutata (Decam. Giom. 1. in Hue).
2) Diy. Gorom. inHamo XXX.
3) Im ,J.;inii-iitationuTn lihcr tecnudus". Bin Exemplar im Besits
des Liceo filarmuuico zu Bologna.
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I
Dofay and aeinft Zeit» 491
mn Stück ^^angea la doma mtV in den 1526 zu Rom gedmcktea
Camoni Frottole und Capitoli (geaaimt de la Croee naeh einem
Krense anf dem Titelblatte) findet. Auch Damen aeichneten sich
als Sän^rinnen anr Lante und angleich nach dem Notenbnehe
(Dome a liuto a libro) aas. Aren nennt ihrer eine ganze Reihe,
es sind Namen edlen Klanges darunter Da die Erfindung der
eigenthlimlichen Notirung für die Laute (der sogenannten Lauten-
tabulatur) erst in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts fhilt, so
scheint bis (Inhin das Lautenspiel eben nur auf Gehör, Gedächtniss
und Uebung beruht zu haben.
In diesem Sinne fand gerade im Lantenspiele und Gesang zur
Laute eine eigenthUmliche Seite des italienischeu Wesens das p:is-
sendate Mittel sieh sa lussem, nimlieh die Lust und Freude an der
Improvisatieii, an der Fihigkeit der ^Gelegenheit das Gedicht an
schaffen/* die Anregung des Angenblicks in kttnstlerisch schöner
Form sogleich auszusprechen. Gegen die Canhri a libro, die ihr
kunstreich vierstimmiges Tonstttck auf das genaueste in Noten nieder-
geschrieben vor Augen haben mussten, bildeten anf diesem Gebiete
die Cantori a liuto den vollsten Gegensatz. Der grosse Maler Lio-
nardo da Vinci pflegte in solcher Weise zu allgenioiuoni Entzücken
singend zu improvisiren, wobei er seinen Gesang mit der Laute oder
der Viola begleitete '^). Aehnliches wird von dem um ein Jahiliuudert
älteren Meister Andreas Orcagna belichtet^). Neben der Laute
diente nSmlich audi die l^ole sur Begleitung des eigenen Gesanges,
insbesondere der Improvisation (eatttar ol vMtno); mit solchem Ge-
sänge etrrang in Rom Andrea Marone von Breseia, den Leo X.
sehr sehXtste, bei einem von diesem Papste veranstalteten dichte-
rischen Wettkaniiife den Preis. Man will in dem 1518 gemalten
„Violinspieler**lUpliael Sanaio's in Rom(im Palaste Sciarra)sein Bild-
1) „La signora Antonia Aratrnna in Napoli, la signora Castan/n de \uvo-
lara, Lucruzia da Corregio, Frauoeschina Bellaman, Ginevra Palavi^n'na,
Barbara Palavigina, Susanns Ferra Ferrarese, Girolama de 8. Andrea,
ISIarietta Bellamatio, Helena Vinitiana, Isabella Bolo^cse (F. AronLnoi-
dario a. a. 0). Di»'.se Dämon iri-hörfu lU-r Z«Mi vm 1 l!)0 -1510 an.
2) Dette alquantod'opera aila musica, ma tosto si risolve imparare a
Bonsre laVra, oome qnello, che della nainra havea spirito eleratissimo e pieno
di leggiadria, onde sopra qm lla canth divinamente all' improviso ( Vusuri,
2. B(i . Loben des Lionardu da Vinci). Unter „Lira" ist hier ontwcili t die
Laute oder die Viole zu verstehen. Die italicuischeu Maler waren oft
gute Musiker, wie Giorgione, Pordenonej Lmndro da Ponte u. a. m.
3) Bullurt, A<-adern Theil 1. S..TJ!». Von Orcagna rührt bekanntlich der
Bau der IiO«;<;ia de Lanzi, das Altartubei iiakel in ()r S. Micchele in Florenz
her, ferner die herrliche Darstellunir des Parudicsea (Wandgemälde) in der
Kapelle Strozzi der Horcntiner Kirche S. Maria Novella, die grossen
Wand^eniiilde „il trionfo della morte" und das Weltgericht im Campo
Santo zu Vna,.
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49S
Die Sotviokeliiiig dM mfllintiiniiugw OMtBgei.
niss erkennen; es ist ein schönes blasses Jünglingsgesicht mit
tiefernsten, geistreichen Augen, ein grllner pelsrerbiimter Uebef^
wmf scheint efaie nrle Gestali la hergen, die Üringefoimte Hand
bllt den Geigenbogen nehtt einem Stranss von Veflehen und
Lorbeer, eine Andeutung des Sieges in einem Wettikampfei). So
wurde auch Giulio Cesare Bottifanga von Orvieto (ein höchst
absonderlicher Kauz und Tausendkfinstler) als singender Dichter
gepriesen*). Wie sich dabei Gesang und die Begleitung der Laute
oder Viole einten, ist nicht sicher zu bestimmen. An die uns
geläufigen Formen der Arpeggirung, des vorschlagenden Basses
und nachschlagender Accorde u. b. w, darf man nicht denken,
davon wusste man noch weit später nicht das Geringste. Ueber
die Art der Melodie können uns Baitolomeo Tromboncino^s, des
gesehlttiten Cantote a Linlo, noeh vorhandene BVottoIe euiSge
Vorstellnng geben, wie sie Ton Franelscns Bossinensis ftr
eine einselne BmgsCiinme mit Lantenbegleitang eingeiiehtet wot*
den smd*).
(Bartolomeo Tromboncino (Frottole, Buch Vll foL 2.)
Af^litti q»irta . nie! sia-te eonten • ü
■pir • timieisi • a*tsoon • tsii*ti
1^. ^
Af.flii
wgur
Ü ni • ei sia-te
coaten-
Af
flit
iL L " I
qpir
mieiiiate
eon- ten-
1) So glaubt wenigstens Fsssavaai, s. dessen „Baphael Ssnsio'' 1. Bd.
S. 299 DTul 2 Bd. S. 335.
2) Erythr&oa (Bossi) sagt von ihm; „non solnm fidibos praeclare
canebat, atqne ad earom sonnm vocem aeeonmodabat, Teram etiam ▼ei^
aibus, qao8 oantabat, modos llkciebat (Pinacotheea tL 8. 68). Dissss
Universalgenie nRhte sogar seine Kleider selbst.
3) Der Titel ist: Tenori e contrabassi intabulati col sopran in canto
fignrato per osntar e sonsr ool laato. Libro primo. Fraaoisoi Bossinennt
opus. (Gedruckt bei Petmcci 1509.) Das obige Stück steht folio 3. Es
und Stocke auch noch anderer Meister als Tromboncino's au%eaoiameii.
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Dsfay und seine Zeit
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493
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SO - glio.
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Die Aehnlichkeit und der Unterschied ist klar. Die melo-
dii'fiilin'ude Oberstimme ist unverändert beibolialten und wird
von der Sin^^stimme solo ausgeführt, die andern drei Stimmen
sind der Laute in solcher Art zugewiesen, dass sie die wesent-
lichsteu Intervalle und Gänge des Original» ausfuhrt. Es war
di€>sM £e allgemeine Art solehw LaBtenarrangements. Als ein
gewisser Gnillanme Morlaye die ursprünglich vierstimmigen
Psalmen Pierre Certon's für Sologesang mit Lantenbegleitung be>
arbeitete, geschah solches, wie gleich aaf dem Titel dieser 1554
bei Michel F^zendat zu Paris erschienenen Sammlung bemerkt
ist, „reserve la partie du deuHS, gut est notee pour chanter en jauant^).
I'iino Lantenbegleitung, welche nur die Umgestaltung eines ordent-
lichen polyphonen Satzes ist, dürfen wir im 14. Jahrhundert
noch nicht sudien; aber el)on so wenig ist zu denke«), dass der
Lautenist nur die blanke Verdoppelung der Singstimme hätte auf
seinem Instrumente hören lassen. Muthmasslich schlug er zu der
Melodie die tiefere Oktave und die Unterquarte, auch wohl zwischen-
durch die Unteraezte, d. L volle Dreiklänge an, wie sie ihm auf
dem Griffbrette völlig bequem in der Hand lagen. Hitte er
Ton für Ton der Melodie also begleitet, so ^wMre freilieh das
alte barbarische Organum wieder in's Leben getreten. Er mag
also diese VoUklänge nur bei passenden Einschnitten haben hören
1) 1). h. die Singstiinme ist, wie in dem gogfehcncii Beispiel, in Noten
geschrieben, wiUirend die i^ugleitong in Lautentabulatur übertragen iat.
t
496
Die Entwickelung des mehrstimmigen Qesangcs.
lasBon, dann einige Töne des Gesanges einfach verdoppelt, dann
wieder einen Vollklang angeschlagen haben u. s.w. Die italienischen
Tanzmeister begleiteten noch gegen den Schluss des 16. Jahr-
hunderts hin Tanzweisen in dieser naturalistischen kunstlosen
Manier, und man wird in jenen filteren Zeiten auch die Lieder-
mclodien kaum reicher und kunstvoller begleitet haben. Elin
Beispiel dazu mag eine Pavaniglia (kleine Pavana, Padaanertanz)
geben, aus dem der schönen Bianca Capello gewidmeten, 1581
in Venedig bei Francesco Ziletti gedruckten Buche des berühmten
Tanzmeisters Messer Fabritio^) Carobo da Sermoneta, be-
titelt „il Ballarino",
Pavaniglia von Fabritio Caroso.
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Eiitzifferung.
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1) S[)rich: Fabrizio, Man wird
auB Aron u. b. w. dio aliitaUenisuhe
xto) beibehalten habe, weil ich mich
MeiBtom das Pensum zu corrigiren.
bemerkt haben, das9 ich bei Zitaten
Schreibweise tio (für das moderne
nicht für berechtigt halte den alten
' Google
Bvfiqr und seiiie Zeit. 497
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PIr «ind uns schon aus dein 14. Jahrhundert einige Namen
von Tonkünstlern überliefert, die als wahre Cantori a Uuto an-
gesehen werden müssen. Dante begegnet vor dem Fegeteuerberge
dem Schatten seines Freundes Casells, eines ausgezeichneten
Mniiken, er bittet ihn su singen. Casella stimmt sogleich eine
Canione an, deren Worte von Dante gedichtet sind:
»Amor che ueLIa mente mi ragiona"
Ocmindb allor A doloemeate
CShe la doloena anoor dentro mi sona.^
In der Vaücana findet sich ein Gedicht des Lemmo yon
Pistoja mit der Bandbemerkung: ,fCaMa diede ü mom". Wie
Dante*s Cansone hatte er also auch dieses Gedieht in Mnsik
gesetst. Dies imterscheidel diese italieniaehen Musiker von den
firansösisehen Trouv^res. Letztere waren hauptsächlich Dichter
und sangen ihre Verse nach eigenen oder fremden Melodien ab;
jene dichteten nicht selbst, sondern erfanden zu fremden Versen
passende Melodien: sie waren Musiker, Componisten und zugleich
Sänger'-^. Das Verhnltniss wird besonders in einer der schönsten
Erzählungen Boccaccio's anschaulich gemacht, in welche die histo-
rische Person eines solchen Musikers eingeÜochten ist, des M i u u c c i o
von Arezzo, der damals den Ruf eines überaus feinen Sängers und
Spielers hatte nnd vom Könige (Peter von Aragon, dem Behenscher
Sieiiiens) gerne gesehen wurde'). Binjonges ICXdchen aus Palermo,
für den König in heftiger Liebe enibnumt, bittet den Minueeio um
1) Pai^torio, C^to n.
2) Italien hatte alier auch seine Troubadours (Trovatori). So wird
ein edler Venezianer Bartbeiemi Zorgi genannt, der den Tod des
unglücklichen Conradiu von Schwaben besaug (»iehe v d. Hagen, Minne-
smger 4. Bd. S. 9).
3) Era in quö tempi Minueeio tenuto un fiiiissimo cantatore e tona*
tore, c volontiöri dal re Pietro yeduto (Ducam. (iiom X. No. 7).
AmbroB, Oeacbicbt« d«r MuUc iL
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498
Die Eniwickelung dM mehntimmigen Geaangeai
Trost und Hilfe; er selbit ift nicht im Stande ein Gedieht sn
machen, er eilt in dem Dichter Mico von Siena, der eine Canione
dichtet, in welcher der Gernttthssnatand der Liebenden geschil-
dert ist. Diese Worte setzt Minnecio sogleich mit „sanfter und
licrzbowegender Melodie, wie es der Gegenstand erfa«sehte*S in
Musik 1), singt sie dann vor dem Könige zur Viola u. s. w. Das
Getiifht Mico's oder Boccaccio's hat eine Einleitung von vier
Versen und dann drei Strophen von je zehn Versen; natürlich
ist Minuccio's Melodie dazu als fönuliches Strophenlied zu denken,
so gut wie Thibaut von Navarra seine melodischen Strophenlieder
sang. Dass Minuccio seinen Gesang jedesmal mit der Viele
(Viuola) begleitete, wird im Laufe der ErsXhlnng wiederholt er-
wähnt^, auch wie sein Gesang die Hörer inniglich bewegte.
So fesselt auch Gasella's Gesang nicht blos Dante, sondern die
ganse begleitende Schaar:
Lo ndo man^ ed io, e qoeUa genta,
Ch'eran con lai, parevan 8\ contenti,
Come a nessun tocasse altru la me&tC,
Noi eravam tuiti hssi od attouti
Alle soe note n. s. w.
Es war also die grösste Empfänglichkeit fUr schöne Musik,
fUr henbewegenden Gesang in Italien schon damals in reichstem
Masse in finden. Aber eben weÜ man gemessen wollte, mochte
man den beschwerlichen Weg, welcher durch die Wüsten einer
trockenen Oontrapunktik zu einer höheren Kunst führte, nicht
gerne gehen. Aus jenem liebenswttxdigen Naturalismus konnte sich
eine eigentliche Tonkunst so wenig entwickeln, als in Frankreich
aus den Gesängen der Trouv6res, in Deutschland aus jenen der
Minnesinger. Eine bedeutende Anreo^ung erhielt Italien jedenfalls
ernt durch die Niederländer. Der Ruf und das Ansehen der vor-
tret'Hichen paphtliclien Kapellsänger {celeberrimi catUorea nennt sie
Gat'or)^) scheint ganz vorzüglich mit darauf eingewirkt zu haben,
dass der „Vater der Künste und Wissenschafteoi" , Lorenio der
PfXchtige, in Floreni niederiSnduche und niederltndisch gebildete
Meister der Tonkunst um sich venaiBmelte, (wie sieh denn Anm
rühmt in Florenz mit Josquin de Pr^s, Jakob Hobrecht, Alexander
Agricola und Heinrich Isaak Umgang gepflogen zu haben)^); daaa
1) Le quali parole Minuccio prestanieute intonb d'uu suoao soave O
pietoBo, s\ come la materia di quelle richiedeva (a. a. O.).
2) Vincenso Galilei liess seinen in der Kunstgeschiciite so berühmt
gewordfncii «Tosaiipmilssifjcii Vortnit: cinor Ei»isode der Divina Commedia
auch von Violen (nicht, wie es gewöhnlich heisst, mit der Laute) begleiten.
Doni ersihlt davon: „Cantb molto soavemokte sowa un conowto de
Viola" (Werke, Ausgabe von 1778. «. Bd. S. 94).
3) Siehe Anm. 1. S. 411.
4) . . . Joät^uiuus, Obret, Isaac et Agricola cum ^oibos mihi Florentiae
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Dnfifty und aeioe ZeiL
499
in Neapel, welches die Aragoaesen aa einer Art Hochschule der Mu-
sik nacliem an wollen aeliienen, um 1480 gleMunitig dfei berühmte
niederlSodiBohe Lehrer lehrten: Johannes Tinetoria von Nivelles,
der Gllnsding der HerrseherfanüBe^), Bernhard Hjkaert oder
Tcart, und Wilhelm Gnarnerii eigentlich Gaarnier (wie denn
dort auch 1478 der hernach selbst hochberiilnnte Lehrer Fran-
chinus Gafurins [Gafori, Gafor] von Lodi auf Veranlassung eines
Kunstfreundes eine i)ffentliche Disputation über Musik hielt): ja dass
selbst kleinere Herrscher, wie Looncllo von Este (re^:;. l i il — 1450)
in ihre Hofkapelle Niederländer beriefen 2) und am kunstliebenden
Hofe von Ferrara niederländische Meister fortwährend beliebt
blieben (Johannes Japart^), wie es scheint eine Zeit lang auch
Josqnin de Pkt&s^), ehe er in die päpstliche Kapelle unter Sixtus IV.
eintrat, gegen die Mitte des 16. Jahriionderts der niedeilSndisch
gebildete Franiose Johann Gero, genannt Mestre Ihan)*). In
fiuniliaritas et consuetado samma fuit (Aron, Libr. tres de inst. härm. HL
osp. 10).
1) Der lirave Tinctoris äussert mehrmals seine tD uo Anhänglichkeit
an sie. Sein DifBnitorium (das einzige seiner Werke, das in Druck f^-
kommen) widmet er der Prinzessin Beatrix von Aragonien und seinem
Baohe Ab natura et proprietate tonoram hii er die Bemerkung: beige fü^'t:
„Neapoli incepit et complcvit anno 1476 die 6. Novembris, quo quidem anno
15. Novembris diva Beatrix Arraponiao TTucrarorum rep^ina coronata fuit."
2) . . . Cautores ex tiuiUa accersiri jussit, coram suavissimo coni eutu
divinae laades mirifice jugiter cdebrabantnr. (S. des Minoriten Johannes
von Ferrara Libri Aiiimlium illustr. famil. Marchionuin Estensium, bei
Muratori Scriptor. XX. Bd. S. 456.) Dass unter üailia hier die flandrisehen
n. •. w. Provinzen gemeint sind, ist nach den Zeitverhftltnissen sicher. So
sagt auch der Karthäuser Johannes aus Namur: GuUia me g(>uuit.
3) So behauptet wenigstens F6tis (Biogr. univ.) — ich weias nioht, auf
welche Autorität hin.
4) Dais Josqnin eine Missa Hercnles duz Ferrariae coinponirt hat, ist
dafür kein verwerflicher Beweis. Eine andere Messe mit d« ias< Iben Titel
von Lupu8 ist dagegen (»fl'eiibar nur ein Eeho der .los(iuin*M lieu. Uebrigeiis
ist es eine kleine Unrichtigkeit, weuu Fütis ad vuc. Lupi sagt: „sur le
mime ehani qoe celui de la metie de Josquin.*^ Man TrerglMohe selbst:
Joeqnia.
Lupus.
Joe^uin hat sein Thema nach den Yocalen der "Worte BureuleB dux Fer»
ranae gebildet. B^-i Lupus i^t eine solche Beziehung nicht zu ünden.
5) F^tis (Biogr. univ. 3. Bd. S. 403) sagt: Gero (Jean de) eompositenr
32*
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ftOO
Die Bniwickelung dos muhrrtimmig» OenngM.
Mailttid Btaud bis 1490 die Kapelle Johann Galeazzo Sforza*^
unter LeitaDg des traffiieben Ifeisten GaBpar (van Weerbeke)
▼on Oudenaide^. Venedig und was dasn gebSrte (Padua n. s. w.)
behauptete eine Zeh lang seine SelbststSndigketl g^gen die Nieder-
länder; die nenn Bttcber Frottole, die Petraed 1504 — 1608
dnickte (keineswegs verächtliche Werke, aus denen sich das
Madrigal entwickelt hat), sehen wie ein Protest der zahlreichen
oberitalienisclu'ti Tousctzer gegen die Kunst der Niederländer
aus2); insbi'HuiuU're seinen man in Venedig mit einer Art Eifer-
sucht darüber zu wachen, dass die Organisten- und die Kapell-
meisterstolle bei S. Marco nur Venezianern verliehen wurde, bis
endlich 1527 ein Mutuproprio des Dogen Andrea Gritti den Nieder-
länder Adrian Willaert aus Brügge, sehr gegen den Wunsch
und Willen der Proenratoren, an dieser Würde berief nnd nieder-
llndisehe Kunst auch in Venedig die Obeihand gewann.
Der König des fröhlichen Franlueichs bitte nicht der nächste
Nachbar der Niederländer sein dttzien, um ihnen nicht den Ein>
tritt in seine Kapelle zu gewähren. So begegnen wir denn in
der Kapelle Karl VII. und Ludwig XI. dem berühmten Meister
Jobannes Okephem (auch Okegara , Okekem oder Ocken-
heim genannt), tieni Patriarchen der Musik, der so ziemlich alle
folgenden Tonsetzer als seine geistige Nachkommenschaft in An-
spruch nehmen darf. Er steht au der Spitze der Schule, die
man als die zweite niederländische zu bezeichnen pflegt.
UaUttL Nicht allein die ganz französische Form Metre oder Hestrc Ihao
oder Jchan widerspricbt dieser Annahme, Bondeni luicli j^nnz direkt die
endliflneDen Sammlung Motetten dieses Meisten. Der Titel des Sopran-
heftes lautet: Cantus. Symphonia quatuor modulata vocibos exceUen-
tissimi musici Joaunis Galli, alias Chori Ferrarine ^lagistri quae vulgo
flUotecta Metre Jehan) nomiuautur, uuper in lucem edita (darunter eine
Vignette in Holzschnitt, ein Schiff im Sturm). Das Tsnoibeft sagt bloss:
SKCelleniissimi Musici, vuljro uuncuj)uti Metre Jehan.
1) Herr Vanderstraat hat die Nuchvveisinifi:en darüber aus dem Stadt-
archive der Stadt Oudeuarde geUefert. Beriiardino Corio (hi»t. dulla orig.
dl MUano, 1554) enililt: „il duca Oaleazzo ttipendiava trenta Miisiet
oUramoutani con grosse TinTcrdi."
2) LHese BOgeuannteu Frottole »iud nichts weniger als „Qassenhaaer,"
wie Kiesewetter tibersetzt. ISs sind mehrentheas höchst sentimentale
Foenen mit entH]ire(-lieiuler, oft cdlur, aber etwas monotoner Mu!>ik.
Einzelnes ist scherzhaft und iMjjiulär. Ein sehr hühschcs Stück „Che fa
la ramaciua'' ist übriguus von Compöre. Es wird weiterhin umständlich
dayon die Rede sein. Doch gab es unter den Frottoliaten schon einzelne
Ueberläufer zum niederländischen Styl. Die IMotette „Tulerunt Dominum
meum" (Mot. della corona) von Pr^ Micchael da Verona (mit dem Mi( < hicl
Peseutos Veroneusis der FrotoUeusumndung zuvcrlftssie ein und dernelbe)
ist im richtigsten Niederlladerstyl mit allen seinen Idiotismen compouirt^
Hieronymus Scutto in Venedig
ZuflfitBe und Naehträge.
Zu Seite 12. Die Gründung der Schola cantorum zu Rom dturoli
Papst Silvester I. steht in den nonerou Musikgescliiditen wie ein un-
zweifelhafbea Factum da, dennoch aber schüttelt die Kritik den KoplL und
nr nicht ohne Gnmdl Gerbeit hat durch sem Werk De oantn etc. OL« Bd.
S. 3.5 und 36) diese Notiz eigentlich erst recht in Anfhahme gehrachi,
redet aber selbst nur selir zweifelnd: „Konioc scliola»< cantorum Hilnriiim
Pontiiicem instituisse scribit Anastasius. Sunt qui prae/ornuiifse Jam S. SU-
vettrvm vclwU. Onnphrint id imrait" u. s. w. Bei einem Zeugen aus so
später Zeit wie Onuphrius muss man billig fragen, woher er die Sache
wusste. Onuphrius Panvinius, Eremitanermönch, geb. Iö29jge8t. 15G8,
allerdings ein grundgelehrter Mann, konnte, wenn er über Thatsachen
aus der ernten Hilfte des 4. Säculums redet, solches nur auf Qrundlage
alter Zeugnisse oder auf haltbare Conjecturon hin thun. Nun aber sieht
es damit schlimm genug aus. Von wirklich alten Zeuffnissen zu schweigen,
•elbat Platin a (geb. 1421, gest 1481, alio um ein Jahrhtindert lUer als
Panviniua), welcher in der Biographie der Päpste Silvester und Hilarius
alle erdenklichen Stiftungen an Kirchen, Bibliotheken u. b. w. aufzählt
und sehr genau die gespendeten Schätze, die Kunstwerke und Kostbar-
ketten, womit die Kuchen damals geschmfiokt worden, besdureibt, ai^
von der Stiftung oinor Sängerschule kein "Wort (man sehe die betreffenden
Stellen in „De vitis Poutif.," in der mir vorliegenden Cölner Ausgabe vom
Jahre 1568 Seite 45 — 48 und 66). Ja, Pauviuius zeugt selbst gegen Pan-
yinius. Obschon er in seiner Schrift „De Interpretation e vocum eccle-
siasticarum" Buch 2 Cap, 6 jene Notiz gegeben, die man bei Gerbert
a. a. 0. in der Urgestalt, im Texte meines Buches S. 12 in Uebersetzuug
nachlesen möge , erwifant er mder in seinem Ohromeon eecleeiaatioum,
noeh in seinem Chronicon pontificum roinanomm (zwei allerdings sehr
knapp gehaltenen Werken in Tabellenfomi) bei Papst Silvester die Stiftung
einer Singeschule, die denn doch iedeufalls für ein bedeutendes Ereigniss
tu gelten hfttte. Herr B. Seh eile sagt in seiner in der „neaen Zeit*
schnft für Musik" Jahr^. 1864 No. 10 veröffentlichten Kritik der Reiss-
mann'schen Musikgeschichte: „Die Mönche Onuphrius und Panvinius"
(ist wohl ein Schreib- oder Druckfehler, denn Onuphrius ist mit Panvinius
eine Person) „haben sich im 16. Jahrhundert das Verdienst erworben,
diese Fabel mit dem Charakter traditioneller Ueberlieferung in Cours zu
bringen, verleitet durch die Geschichte der Chnstenverfolgung unter der
Vandalenherrschafb in Karthago vom Bischof Victor, wo eine Stelle auf
die Ibdstenz einer grösseren Singschule in Karthago hindeutet und ver*
worren dieselbe mit Rom in Verbindung zu setzen scheint. Der Wider-
spruch dieser übrigens selbst aller scheinbaren Beweise entbehrenden
Annahme n^ den Zostftnden Boms nnter jenem Papste hatte sogar dem
letzten Chronisten der päpstlichen Capelle Fornaj, einem einfachen
Sänger und keinem Musikhistoriker von Fach, eingeleuchtet, dass er, dem
doch daran liegen musste sein Institut in das äusserste Alter hinauszu-
rflcken, de kopfrehttttdnd als eine Sage zurfickweist." Ich citire die
Stene. weil mir jenes karthagische Martyrologium niclit vorliegt, und hier
tpeeiell erkittrt ist, wie Onuphrius auf seine Behauptung kommen konnte.
602
Nftohtriga.
Gleichwohl ist die Sache, wie mir seb«iiit, docli m bedenken.
Die Zeit Silvester's ist recht eigentlich die Epoche des Anfangrs der
Srächtigen Ausstattung des Gottesdienstes. Lese man doch bei Piatina
ie Beschreibung der kostbaren Bildwerke in edeln Metallen, dieser
Bninueu mit wasserspeienden Hirschen und Lämmern, u. s. w. Die befreite
Kirche konnte ihre Gesftnge frei und laut aii«^tininion. "NVns ist natürliche r,
als dass jetzt die Personen , welche die Kircliengesänge bei dem reich
und feierlidi gewordenen Ootteidienete «iimifttlinn Imtteii, wamamm^
kamen und die IntoTiationen gemeinschaftlioli einübten? Iloui so od
nicht etwa wie ein Conservatorium oder eine Singakademie mass man
sich die Schola Cantorum in ilirer Urgestalt denken. Und wieder ist es
natilriidii dait nch der Papst die Oberanftieht Aber ^eae Siagabnnfmi
VürV)ehielt. Von diesem Gesichtspunkte aus spricht sogar Mehr für Sil-
vester als für Hilarius, der erst 401, also ein volles Jahrhundert später
den päpstlichen Thron bestieg. Und so könnte trotz der mangeln-
den direkten Zeugnisse jene Sage am Ende doch das Wehre
getroffen liahcn, und ich habe eben deswegen kein Bedenken tr<'fra{:< ii
die Notiz in den Text meines Buches einfach aufzunehmen und die kurze
kritische Erörtemng, die dort eu viel Raum in Anspruch genommen bitte,
wenigstens hier nachzutragen.
Zu Seite 17. Der Tt xt bei Tinctoris (Anm. 2) ,,ut tritoni durities
excitetur'' ist wohl durch den alten Copisten entstellt, e« muss sweifels-
obne heiMfln evitefur."
Zu Seite 54. Omitoparchus gibt für die Reneroussion der einzelnen
KirchentOne in seinem INIicrolog (1. Buch Cap. 1 v. Abth. de repercussio-
nibus tonorum) dieselben Verse und Notenformeln wie Hermann Finck.
Letsterer definirt: Repercnario antem est Sind propriam intenrallom,
quod saepe repetit quilihet tonus, quarum octo sunt, quae a VOoe finali
indpinnt, atque sursum tendunt, ad eainque rursus redeunt . . .
/Primi
I Secuiidi
I Tertii
IUP«.«« T«» \ ^
Sexti
Septimi
Octavi
est de
re
re
mi
mi
nt
fa
ut
ut
la
fa
mi
la
sol
la
sol
&
per
Quintem
Tertiam
Quintam
Quartam
Quintam
Tertiam
Quintjun
^Qnartam
Anderwirt« wird die Reperenerion im dritten Ton abweichend mit mi-Ca
angegeben. Sebald Heyden (de art oem S. 186) md Adrian Pletit-Coclioe
bringen nadiatehende Formel:
L Ton
s.
4.
6.
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8.
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Wae in monströsen Atedächtnissversen eingeschärft wird:
Pri re la, Se re fa, Ter nii fa, Quar quoque mi la
Quin fa fa. Sex fa la, Sip ut sol oc tenet ut fa.
(Die Verse hei Rossi. welche S. lA Anm. 1 mitgetlu ilt sind, klinpen etwas
besser.) Furkel (Uesch. d. Mus. 2. Bd. S. 172) hat dafür ein Schema ent-
Kaohftiigt. 503
werfen nteh Art des obfgen yon Hermaon Finok inaammengettettten; ee
mB'^r zur Vergleichang hier eine Stelle finden:
im ersten 1) — a eine Quinte
im zweiten l) — f eine Terz
im dritten E— c eine Sexte (beiOrnitopendi und Findk B— h, eine Quinte)
im vierten E — a eine Quarte
im fünften F — c eine Quinte
im »echsten F— a eine Terz
im siebenten (t — d eine Quinte
im achten (i — c eine Quart«'.
Virgil Haag (Erotemata nms. ]>ract. 1545) lässt für den dritten Ton sowohl
mi mi als mi fa gelten: De mi ad Mi, diapentes tntervallo, yel de mt ad
fa spatio quod diapente cum semiditono conficitur. — W» r sich über das
Wesen der Psalmenintonationen, das Evovae, die Final- und Confinaltöne,
die verschiedenen Ausgänge (Dififereuzen) der einzelnen Fsalmentöue und
was sonst dahin gehört, gritaidlieh belehr«! wiD, findet alles in klarer
und dabei prftziser Darstt llnng in dem „Handbuch des rflmischen Clioral-
gesanges'* von IT. L. Kinibi'rfjt r (Landsbut 1858), S. 16 u. f. Virj^il Hiiua
ist auf die „Ditierenzen" übel zu sprechen, er nennt sie „fnvolum (juod-
dam inTentam." Im Laufe der Zeiten haben sich auch hierin Veränder-
ungen erpfeben. Die Differenzen bei Kimber<;er weichen z. B. sehr
wesentlich von den Differenzen ab, wie sie in der Musica Nicolai Listeuii
(Wittenberg bei Georg Rhen 1547) vorkommen. Mit den Differenzen bei
Lucaa-LoeeinB (Erotemata 1570) stimmen sie besser, aber doch auch nicht
viillig zusammen. Heutzutage versteht man unter Differenzen nicht mehr die
Varianten der Psalmenaus^^ge, sondern die Kepercussionstöne, inaofeme
aie die erste Note des Evovae bflden nnd tnsammen mit der SeUnssnoie der
Antiphone den Psalmentim erlminen lassen (Zu vergl. Eimberger a. a. O.).
ÄU Seite 170. Das Lesen und Verstehen der Nagel- und Hufeisen-
schrift hat keine Schwierigkeit; mau muss nur immer sehen, wo der Kopf
der Note, der immer etwas stärker markirt wird, sittt, nnd die dicken
Stiele eben nur für den hernl)f?('brn(1(>n Strich nehmen. Am mindesten
deotUch ist die Sache bei der Hufeisenform, doch immer noch k<'nntlich:
Melodia versuum in responsohis octavi toni (aus Urnitopurchus).
In Ulenberg*s Psalter vom Jahre 1584 findet sich eine Anleitung, wie man
„die Signatur vnd noten musicae figuralis" in „Chomoten" umschreiben
könne. Da heisst es denn: „Schreibe für die vierecketen ♦ auch für die
gesohwentcten ein solche ^, für diese gebnndene ^ eine sölche ^
für diese ein sölche , für die letzten 1 ein sölche \ , so hat,
er die melodeicn in chomoten" (S. daa kath. deotsche Kirohenlied von
Karl Severin Meister S. 91).
Zu Seite 178. üeber die Hntation, diesen eimt ao wichtigen, jetzt
uns so fremd gewordenen Clegenstand, mag kier einiges Ausführlichere,
das im Text des Buches zu viel Raum weggenommen hatte, eine Stelle
ünden, es wird vielleicht nicht unwillkommen sein. Man muss swei
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504
Kachtrftgfo.
Syrteme rniterscheiden : das Ältere, welches das CJenus molle, durnm
ond naturale arjwcndet, und das neuere, das sich auf das Genus molle
uud durum beschränkt. Tinctoris in seiner „£xpo8ilio manas^^ (es ist
bezeichnend f dass er sie einem Schüler gewidmet hat ^^oribus optimia
et plerisque ingenuis artibus omatissimo juveni Joanni de Latinis, während
seine anderen Traktate fertigen Meistern wie Okeghem, Busnois, Hanard
dedioirt sind) geht die Ttrsdiiedenen Ck»mbinationen durch alle drei Ge-
schlechter durch. Z. B. die Mutationen der Svlbe Be:
B» Vt est mutatio, qaae Rt in ntroqne Q §ol rmU ftd Meendendani de
b moUi in ^ durum.
Jfe Ifi est mtitatio, quae fit in ntroqne a 2a mire ad tscendendnm a t|
duro in b molle.
Re 8ol est mutatio, quae fit in D aol re et d la hoI re ad descenden»
dum de natm-a in ;J durum et in utroque Q-sol re-ut ad des*
oendendiim de 6 molli in nattmm.
Se La est mutatio, quae fit in utro(jue a-la-mi-re ad descendt-ndum
de ^ duro in naturam et in d ia aol re ad asoendeodum de
natura in b molle.
Und BO alle andern Conjunctionen.
Auspfrdoin stellt er sie, Tim für Ton von C fa ut bis d la-aol-re. in
ein überschauliches Tableau zusammen, wie solches S. 178 des Textes
für Alami re beispielsweise gegeben irt. Znlefcst fllnstrirt er ^e Sache
durch die S. 179 mit^ctheilte Zeichnung. Der eminente, überall nach
Licht und Ordnung strebende Geist des treffliehen Tinctoris zeigt sich
auch hier. Will man das recht erkennen, so sehe man nur, wie der brave
Ornitoparchns (1517) den Schüler mit sehn Mntationsregeln entliast, die
ihm ohne Lelirers Commentar gans dnnkel bleiben roflssen, und wie er
ihm auch eine Zeiehnunff mit auf den "Weg cribt. die auch ihrer Erklünmg
bedari, dann freilich al-^ nclit sinnreich an/iu ikcnuen ist.
dirrrtoriuni mutattonu.
Forkel (Gesfh. d. Mus. 2. Bd S 284) bemerkt: ,, Diese Mutationen oder
die vielfache iieucuuuug eines einzigen Tones, nach dem seine Lage
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Ntohtvig».
505
geg^en das Scmitoninm beschaffen ist, hatte schon in der ftltesten ZHt,
da nur noch die chromatischen Töne b und ^ im Systeme vorhanden
wurea, gr o n e Sdiwierigkeiteii; wie yiel grOner manten diese Schwierig«
keiten nicht erst werden, nachdem allmtuig mehrere chromatische Inter-
valle eingeführt wurden, und überhaupt das Tonsystem nicht nur mehrere
Erweiterung, sondern auch eine ganz andere Art von Einrichtung bekam?
Die Versuclie, die man machte, solchen Schwierigkeiten almbelfen und
dor Jugend die Krlemung der Musik durch einfachere weniger vcrwicki lte
Mittel zu erleichtern, sind daher sehr zahlreich durch verschiedene Jahr-
faandefte gewewa. Aber eile diese Vertnehe blieben im Grande fraohtloa,
bis man endlich Muth bekam, diese ehrwürdige, so lange Zeit bewunderte
und fast angebetete Reliquie gänxlioh absuaohaffan, und sor nlten Buch«
tUbenbenennung zurückzukehren.^*
Anf die ,,d&ometiMben LitOTvaUe*' kommt sehon Hermann Fmck ni
sprechen: ,fVoce8 autem omnes distant ab invicera per sccundam porfec-
tam, seu tonum, praeter nii et fa, quae per imperfectam secundani seu
per semitonium distant. Exc-uipli causa, pro^ouas tibi has duas clavea
O^l'fa-ut et D'la-8ol-re: in his duabns clavibuB poteris canere: re,
re mi, fa sol, sul In; hic ubitjue liabes perfectam secundam ex priore
Bono, propterea quod hae duae per imperfectam tantum, illae vcro per
perfectam secundam ab invicem distant Amm8 igiimt ei«, quod Musici
instrumentales sie signant (M, clavis quae medium sonnm int»T C et D
reddit, ita habebis ex C iu C-^ mi in /a, ex CM in i> iterum mi in /a*),
nbi Tidee dnat imperfeetas teonndaa eonatitnere nnam perfectam** (Aiict
mus. Abth. de voctbua). Sebald Heyden (de art. can. S. 19) bemerkt«
dass manche zu dem genus durum, molle et naturale noch ein viertes,
ein genus fictum, fügen. £r selbst billigt das nicht nur nicht, sondern
will Mgar nur das genui h molle und |l| duram >nr Anwendung bringen,
das natürliche alx r nicht: „nani illius nomenclatione obmissa tum multo
evidentior et coniniodior divisio umnium cantionum per b ab initio aut
adscriptum aut non adscriptuni eiticitur. Deinde et solmisatiouia ars, ob
illnm intermissum tanto paucioribus ao pnerili captni fitdlioribus regulia,
tum rectissime descrihi poterit. Neqne quidquam scrupuli facit, quod
natural! cantui quiddam peculiare prac aliis duobus esse constet: prae-
•ertim cum neque illud ita unquam se habeat, quin aut in cantns il| duri
aut b mollis septa coincidat: nisi forte Diapente non egrcdiatur, qualem
tum nihil jilane vetat b duri et nomine et regulia censeri" (a. a. 0. S. 20.
Auch Ornitoparch sagt: Voces naturales et in |;| durales et in 6 moUes
mntantur quia ancipiU» mmt). Das ist schon ein sebr wesentlieh«r Sim-
pHfizirungsversuch ; mit ihm entfallen alle von Tinctoris für das Mutiren
aus dem natürlichen oder in's natürliche Creschlecht aufgezählten Sylben-
wechsel. Wenn daher Tinctoris z. B. die Mutation ex b molli in genus
naturae deseendendo auf p-#ol-re-wt mittelst sol gemaobt wissen will u. s. w.,
so erblickt Heyden hier nur einen Ucbcrgang ex gen. b molli in genus
ij durum und schreibt vor (wie auch Tinctoris für diese zwei üeschlechtcr
lehrt) auf a-la-mi-re durch la zu mutireu: „in a lamire si cantus ultra
ipsum scaaditf b preescripto mi, non praescripto re oanatnr. At si plus
ditono descendat, perpctiio hi. Plus ditonn dico; nam si tantum per
ditouum aut minus eo descoudatur, nihil opus erit la, cum per mi re ut
perfid desoensio possit. (Der Gesang bleibt dann nftmiioh innerlialb des
*) Qnot tust TOeei flctaet Duae, mi et f», qnae in omnihn« clavibns poni powfiuiit.
clave
cani non possunt hoc siniili
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"1
606 Nacfatrige.
hexach. moDe.) Lnoas Lottittt ndutfari die Mvtelioneii «nf den
nohtsponkt, dan durch zwei Sylben zu mattrai sei, darch Re im Auf*
tteigem, durch La im Absteigen; er bringt es sogar m fl ^a^hfaMf ff — =
Voci))U9 utaris solum mutando duahus:
Per Re quidem sursum mutatur, per la deorsum
Er führt es sofort aus: „In cantu )^ durali suTnimufl Re in D ei a ascen-
dendo, descendendo vero la in E et a. In cantu b mollari ascendeudo
■mnimus re in rut, O sol reut. Descendendo la in D-foZ-re, A-la-9oi^
et dd-la-sol: Are, n lamire, et aa-lanüre. De octavis cnim idem est
Judicium.'^ (Lossii Erotem. neue Ausgabe mit Zusätzen von Christoph
Prfttorins 1570.) Anf so engen Raum ist hier in weni|^ Zeilen susammen-
gi-draii^ , was ein JahrliQnderl vorher den grflndlidien Tinetona eine
Abhandlung kostete!
Auch Hermaim Finck (Pract. mos. 1556) lehrt die Mutation anf lU
aaeendmäo und La de9oa»da»do. Br iftelli Saehe in folgendaa Aber-
■dianlioke Schema, soMiuDflii:
, Jn caatn ^ duraK mntamna tnbiis^ olavibuti tciUeflt e ei «1
in deieeiideiido anmimiis La in
clavibot
tn aaoenoenao sonumiii jh in |^ ^
Cantus ^ dnrelit.
in ascendendo sumimus in{J f ff.
E e eef
in omta h moUi linuliter tribus davibot mntamoa, sdHoei ^ a «t «
aaoendendo somimiit B» inlj^ > ^ ,^
» deecendendo mmimnB La i»
A. a aat
ut re mi fa re mi la sol re mi fa mi la sol la la sol ia mi re at
nt nt mi le ut
Cantus b moUaris.
nt re mi fa snl re mi fa re mi fa la sol & mi In aolikniiinnLr
ut re vt.
A. Petit-CoclicuB nimmt wieder alle drei Genera an, folgt aber der Muti-
rungsart Heyden's. Sonst hatte die Sulmisation auch noch allerlei Idio-
tismen: I. B. die Tonreihe galkt wmrde, obschon sie gans dem hezaoli.
durum angehArti nicht ui re mi fa solfeggrirt, Bondem sol re nn fa; ea
wurde das g al^o nicht al» erster Ton des harten, sondern ab letzter des
natürlichen Hexachords genommen.
Zn Seite 181. Es inrd nicht flberflflssig sein an bemericen, daas die
zweite Xotenzoile nicht etwa einen Tonsats vorstellen soll, sondern IVagf-
mente zweier gegen einander gestellter Hezachorde, um das Znsammen-
stossen des mi contra fk anschaBlieh ni maehen.
Zu Seite 188. ,fAuB einem fiagirten Tone z. B. /I« oder ais", d. h.
in einer Tonlage, welche diesen Tönen entsprach. Als Ton blieb ais so
unbekannt, dass sogar noch Walther in seinem Lexicon sagt: «Ais könnte
nnd sollte man billig das mit einem ^ bezeichnete o, aastett dasa ee ine»
gemein sich muss h schelten lassen, nennen."
Za Seite 200. Die Uebergangsform swischen Psalter und Ciavier
i.y Google
Kaolitr&ga
507
ist durch ein sehr interessanfps Kmistdenifmal des 15. Jahrhundorts or-
balten. Am Sockel der Kirche der berühmten Certosa bei Pavia (be-
Iniuitlich ut sie Ton Ambrogio Fotsano Im Jahre 1479 erbaut mid ehiet
der allerbrillantesten Muster edler FrQhrenaissance) sind in Nischen
sitzende Statuen angebracht, darunter ein Könip David, der sein Psalter
spielt. Der Form nach ist letzteres das bekannte Istroniento da porco,
ein TrapeXf aiu einem gleichiGhenkligen Dreieck durch einen Qoeriohmtt
nnterhalb der einen Spitze gebildet. David hat das Instrument im
Schoosse liegen, die breite Seite dem Leibe zunächst, die Spitze nach
Aussen gewendet. Gegen die rechte Hand des Spielers ist das Corpus
des Inatrumentes seitwärts nicht verschalt, sondem offen, und zeigt im
Innern acht nebeneinander lie<rende ClaNnertasten , welche den aeht in
gleicher Richtung laufenden Saiten entsprechen. Unter Ivtztem zeigt
sidi die Sc^aUroae. David rührt die Tasten mit der rechten Hand, die
linke Uegt, wie es scheint aU Dämpfer, auf den Saiten. Bekanntlich war
es beim gewöhnlichen Psalter die grösste Schwierigkeit, das Nachtönen
der Saiten mit derselben liaud zu dumpfen, mit welcher sie auch mit
Hilfe ehies Fleetmme oder eines Federkiels gerthrt worden. Dieser
technischen Schwierigkeit ist durch den Apparat der Tasten, der die
linke Iland zum Dämpfen der Saiten ganz frei lässt, während die rechte
ganz bequem auch Doppelgriffe anschlagen kann, in einfacher Weise ab-
gehoUira. Diese praktiscn-verständige Constniction ist anoh eine aiemlioh
sichere Bürgschaft, dass nicht etwa Ambrof^io Fnssnnn, oder wer von
seinen Kunstgehüfen jene Davidsstatue verfertigte, hier nur ein Phan-
taiidastniment gebildet; ein solches wäre ohne Zweifel viel abenteniw-
lieber ausgefallen. Der glückliche Zu&ll, dass der Künstler die Reminis-
cenz an ein solches Instrument, das er irgendwo gesehen haben mag,
hier verwerthete, ftült eine merkliche Lücke in der Entwiukelungsgeschichte
dea Olaviers aat. Stellt man die Formen vom einÜMhen Finlter bis mm
ältesten Ciavier nebeneinander, so stellt der Angensdiein die Sadhe wohl
ausser Zweifel.
Zu Seite 218. Die altfranzösische Orthographie schrieb für „Trouveor"
(der Finder) TVoviohre. Ein neuerer firansteisoher Aotor hat neht witsisf
bemerkt: Die Dichter hätten bei den alten Griechen „lUsenrs" (;ro<i7rif^
geheissen, im Mittelalter „Trouveurs". Die neuen, experimentirenden
Poeten aber könne man mit gutem Grunde „Cbercheurs'^ nennen, lieber
die medeiiandisehen Tronvenrs vergl. man „Les tronv^res braban^ons,
hainuyes, liegeres et namnrois" par Arthur Dinaux, BrQBsel 1863.
Zu S. 219. Roscoe im Leben Lorenzens von Medici (Cap. V) envfthnt
unter Berufung auf Muruturi's autiq. ital. vol. II S. 844, dass im 13. Jahr-
hundert die italienisäien Grossen proven^ische Trobadors an ihre Tafeln
sogen und dass sclifui im 12. Jahrhundert das Volk in Bolopna auf öffent-
licher Strasse durch „Cantatores francigen ar um" ergötzt wurde; ferner,
dass provencalische Jongleurs (Jocnlatores ex Provincia) schon 1227 zu
Genua ihre Künste zeigten. Er weist darauf hin, dass Muratori (della
perfetta poesia ifal. Iii». I. S. K». 17) den Einfluss der Provenralen auf
Dante und Petrarca, der ihnen durch Guido Cavalcanti, den Dichter des
Terreno amore, vermittelt wurde, keineswegs gering anschlägt. Iis wird
kaum völlig unbegründet sein, wenn man das Wohlgefallen an den „Can-
tatoribus francigenarum" und das Anhören ihrer (tcsänge in fremdem
Idiom als eine Art Vorbereitung ansieht, die nachmals den weltlichen
Gesftngen der Niederlftnder den Weg bahnen half. Es ist sieher, dass
Petnicci 1503 seine drei Bücher niederländischer Gesänge (Odhecaton
vel cantus centum signati A, Cantus B numero quin(|ua{rinta, und Canti C
centocinquanta, somit zusammen 800 Compositioueu) nicht für den Yex^
trieb naon den Niederlanden und nach Fiankreidi, sondem üb* Venedig
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1
t
508
Kachtrflgfe.
und Italien drackte. Diese Sammlang enthält aber nicht nur Composi-
tionen von Niederländern, sondern aach (mit ganz wenigen Aasnahmen)
Gesänge, deren Texte französisch sind, die sogar in Italien sehr bekannt
gewesen sein mübsen, weil Petrucci sich (leider) begnügt hat immer nur
die Anfangsworte des Textes beizugeben. Die Canzoni francesi, wie sie
hemachmals von Certon, Gardane, Hesdin, Clement Jannequin, Schier,
Longueval, Claudin Sermisy, Gascogne und andern französischen, der
niederländer Schule entstammenden Meistern componirt wurden, haben
sich ganz eigenthümlich folgenreich bewährt. Man spielte nämlich solche
Stücke in Italien mit Vorliebe auf Orgel und Ciavier und ahmte sie in
selbstständigcn Instrumentalsätzen nach, welche als die ersten Versuche
in der Instrumental fuge gelten dürfen. Bernhard Schmid der jüngere,
Organist im Münster zu Strassburg, hat in sein Orgeltabulaturbuch eine
Menge Fugen italienischer Meister, wie Adriano Banchien, Christofano
Malveggio, Andrea Gabrieli u. s. w., aufgenommen und bemerkt, dass
solche „Fugen" von den Italienern „Canzon Francesi" genennet wenlen.
Das Charakteristische ist, dass das Thema sich mit dem für die Canzon
Franccse charakteristischen Rhytlmius
J J JIJ J /TT]
und dgl. einführt. Wenn, um ein bestimmtes Beispiel zu geben, schon
Loysft Comp^^re seinem köstlichen fugirten Liedchen in den Canti ceuto
cinquanta „mon pöre m'a donn^ man" das Thema gibt
rü -^ r-t :-i
-fit
. . .
oder der spätere Jannequin das Lied „ung iour que madam dormait" (im
3. Buch fol. 12 von P. Attaignant's grosser Sammlung) im Tenor so anlegt:
Ro leitet AdHiUM) Haiichieri in seinem Organo suonarino 1605 eine „Sonata
in Aria Francese" also ein:
4Tr
und ganz ähnlich gestalten sich die Fugen:
Giacomo Bri^noli.
1
m
Antonio Mortaro.
Orfeo Vecchi.
rry.
^^^^
y Google
Kaohirftge.
509
Andrea Uabrieli.
Hehr über diesen höchst merkwürdigen Punkt an gehöriger Stelle.
Zu Seite 237. Der Dirhtor der Minnerogcln des Eberhanl Cersne
(140i) nimmt in dem einen Abschnitte „wy der fogel sang suszir vud beszir
dameligen Spielern m Oebnmoli ttehendeii Lutromente enfinufthlen:
Nocb cymbel mit geclange
Noch harffe edir svegil
Noch sckachtbret monocordium
Noch stegereyff noch hegU
Noch rotte elavicoriiimn
Noch witdiciruUe
Noch pwrtatiff psdlterivm
Noch figel samm canale
Noch lüte clavtcymbohim
Noch dan quintema gyge vidde lyra rubeba
Koch phife, floyte noch m^lmey
Noch allir leye Horner lüd. —
Ein ähnliches Orchester wird in den Gedichten des Königs von Navarre
(am beschrieben (Manuscript der k. Bibliothek zu Paris No. 7612):
La Je vi tout un ceme
"mue, B«M^)t €hiii9ni§
Venmorache, Micamon
Cytolle et Fsalterion
Marpe, Tabours, Trompes, Naqwiret
Orgwet, Comes plus dex paires
Coryiemuses, Flajols et Chevretis
DouceineSf Simbales^ Clocettes
Oimbre la FImtte Brehaigue
Bt le mnd Cormi d'AUemagne
Muse a'Aussay, Trompe petitt
f MtMine, Elia, MouBcorde,
On ü n'e e'nne lenle oorde
Et mute d^Ebkt tont ensemble.
Zur intorcssanton Vergleichung marr aiicli noch ein 8])anischos Godicht
ähnlichen Inhaltes folgen. Dieses Gtdiclit des Arcipreste de Hita .luan
Kuiz (um 1350) benennt die Instrumente, deren sich die Joglai-es bedienten,
in einer, wie ee Mheint, genanen nnd voUitändigen AnfSLhInng:
JNft en muy santo de la Pascua mayor
El Sol salia muy claro et de noble color
lios omes et las aves et toda noble flor
Todes vAn reoebir cantando al amor.
Kecibenle las aves, Gallos et Royscnorcs
Calandras et Papagayos mayores et menores
D^n cantos plasentores et de dulces sabores
Mas alegrias fasen, qne loa que ton meyorea.
Ricebenlc los arlioh^i con ramos et con flores
De diversas naturas et de hennosas oolore«
*) nickt aHaNlto", wi« naa fmOtaUek Uert.
was
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510
JKachtrftg«.
Rioebenle los ome« ei duefiaa oon amores
Clin muchos estormentos satian los Atamb4nt9
Alli salian gritando la Qüitarra Morisca
De las voces af^uda et de los puntos ahsca,
El arpudo Laud, qne tiene panto 4 la triaoa
La Guifarra ladina GOn estos se aprisoa.
£1 Mabe Kritador con Ift bu alta sota
Oab' ^1 agaravi taiiendo U am noU,
£1 Salterio con cllos maa alto que la mota
La Vikuela de pmola con aquellos aqui sota.
Medio cano et Uarpa, con el ßabe Morütco
Entre eUoa alegranza al OoXope Franeiteo
La Rota dis con ellos mas alta que un risco
Con flla el Tarbote sin ^sta no vale un prisco
La Vihuda de arco fase dulzes bayladas
Adormiendo ö las veses, mny alto ä las vegadas
Voces dulces, sabrosas, ciaras et bicn puntadaa
A las gentes alegra todaa tiene pacadas.
Dulce caBo eatero nl oon el PofMMrete
Con SonajoM de acofi» &ae doli *' souctc
Los Orgnnos, que dicen canzonctas et moteto
La Citola albordana entre ellos se entremete.
Oayia et Exabeva et el finöbado Albog&n
Cinfonia et Badosa en esta fiesta son
El Francis Odre»illo con estos se compon
La ueciancha Bandurria aqui pone su sbn.
Tron^pa» et Äüafiiea salen con Atabale$
Non fueron tiempo h& plafsenterias atales
Tun grandes ale^ias, nin atau comanalcs
De Juglares veman llenas ouestas et vallea.
Za Seite 431. In aebr komiach treohernnr Weise flbenetat MarÜn
Agricola (Musica instnimentalii deadsah 158^ die V«ie prima carane
cauda eto. also:
Vo7i deti ersten Noten der Ligatur tn
Die Erste one ächwantz ist Longa vorwar
8o die andere unter sieh steiget gar
Die Erst one schwantz ist Brevis genant
So die andere hynauft' steigt zur hatit
Die erst niddergescliweutzt an der liucken
Thut allseit nadi einer Brevi winckenj
Wenn der ersten Schwantz lincks auff thut wandem
So ist sie Semibreff mit der andern.
Von den mitteUten.
Die werden alle mittelste pffaclit
Zwischen der ersten und letzten gemacht
Iglidie Nota ym mittel gesatzt
Wird von den Sengem ein Brevis geschätzt
Ausgenommen wenn die erst geschwentzt ys
ist sie und die andere Semibrevis
Wie oben im vierten regel gemelt
Meroks an allen regeln hemacb geetelt.
Von den letzten.
Die letzt qundrat, so sie nidder steiget
Wird für eine lang angeseiget
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Naehttftg«.
511
Ist die letzte quailrat hinauff gemalt
So wird sie för eine Brevem gexablt
Brevis ist igliche letzt Obliqua
Ein ding ob sie auff oder nidder ga
Maxima dieweil sie ist die gröste
Bleibt sie allxeti jmi yhrem gerOsie.
Zu Seite 383. Eine seltsame Spezialit&t sind jene Signa interna oder
intrimecay die jedoch in der kltesischeu Zeit des niederlaiidischcn Styles
nicht mehr in Qebraadi waren. Das Beste darüber hat OmitoparchoB:
D» njfni$ mfrtNMCM.
§. Signa intrinseca sunt, quibus graduum musicalium perfectio in
figuris denotatur, circa extrinseoorom si^uorum appositionem. Qaorum
tna ■imt: triam soiUcet temporam Panse inTentio. Qnando enim in oantn
repentor pausa, tria tangana qiatlA, modam indicat minorem perfectum.
Inqnit enim Franchinus: non incongrue esse maiori modo duas triam
temporum pauaas apponi, si minori una apponatur. ^. Notarum deuigratio.
Qnoties enun invounntiir tres longe ooloratef modoi minor perfeotos deno-
tatur. Quando tres breves, terapus perfectum. Tribns autem semibro-
vibuH coloratis prolatio major demoiistratur. §. Tertium est quarundam
pausarum geminatio. Quoties euim due pause semibreves cuui scmibrevi
nota odlooantor tempos perfectum designatur. Per dnai antem minimaii
eom nota minima prolatio maior declarator, hoo modo
Modna maior. Modnt minor. Tempos p er fec tum .
Prolatio major.
Man sieht, dass diese Zeichen nur in der Perfection angewendet wurden.
Femer, dass die Geminatio pausarum keine willkürliche Bezeichnuuffsart
war, denn sie bilden snsammen mit der naehfolgenden Note
gleicher freit ung ein dreitheiligee Ganze, sie sind eben zwei leere
Theile. Bei Hermann Finck ist nur die Rede von zwei Pausen ohne die
nachfolgende Note, und da hat es freilich keinen tSiuu. Die drei ge-
Bchwftrzten Noten brauchten nidbt etwa sn Anfang zu stehen; es genügte,
wenn sie im Laufe des Stücks vorkamen. Sebald Heyden nennt diese
Bezeichnungsai-ten veraltet; Siquidem vetustiores rausici modum majorem
perfectum ab initio fere uon aliter signabant, quam tribus paasis longae
perfectae aeqnaliter positis. Imperfectnm rero geminis. Qnae panne li
extra sipnum temporis ab initio scriptae essent, tantum nif^na erant, non
etiam numeh, id est, in caueudo uon numerabantur. Si vero post signa
temporis starent et signa et nnmeri pariter erant hoo modo:
■n 11 1 r^=a=
Modus mtgor per- Modus mtyor per- Modus major im- Modus major
fectos cum tem- feotns onm tem- perfecta* com imperfectus
pore peifecto. pore imperfeoto. tempore perfeeto. cum tctn])ore
imperfecto.
Jfodttm minorem perfectom nnioa paosa longae perfe<}tae,'nonn]uiqiiam etiam
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512 NaobtHge.
geminis aequaliter aut pluribus sed inaoqualiter poritis signaliani hoc modo:
Med. minor Mod. minor Mod. min. perfect. Med. min. perfect.
perfeotm oom perfect omn onm ienpore per- com temp. imper£
temp. perfecto. temp. iraperf. fecto.
Imitcrfectum intt'lli},M volebant, ubi nnlla pausa lonpae perfectae ab ini'tio,
vei etiam nuUae teruae iongae denigratae in medio cautus conspiceren-
tur. Atqoe adeo apnd illos per circmnni cam nomero Innsrio C)2, contra
Sriores canones non moduB ullus sed solum tempos cum proportione
npla sig^ificabatiir. Quod simplices circulos non modis sed temporibus
designarent. Integrum perfecto, dimidium imperfecto. Nisi forte dupli-
cem circulum ita pingerent, quorum exterior modum, interior vero
tempns: integri atriasque pedeotumem, dimidü @ (§ imperlei»-
tionem indicarent. Numeros vero, ubi circnlie pone adscriberent, non
de temporibus sed de proportionibus, temarinm de tripla, binarinm vero
de dupla intelligendos volebant."
Es ist nicht willkflrlich, dass drei gleichgestellte ModaspanMB filr
den Modus major, drei uiipleicb gestvllte für den Modus minor galten.
Die Nebeneinanderstellung deutete das Zusammengehören dieser Pausen
als Ganses an, die Summe von nenn Breren, gleidi Arei Longen, gleich
einer Maadma d. i. den Modus major. Die inigleidie Stellung deutet die
Trennung und Selbstständigkeit der Modaspau^sen an, jede fta sich glnoh
drei Breven, gleich einer lionga, d. i. den Modus minor.
Johann de Mnris, in denen Schriften yon „Zeiehen" noch nielil die
Bede ist, lehrt das Erkennen der Pcrfection oder Imperfection nach
blosser Notenstvllung: Ubi possunt haec discerni? In situ vel in ordine,
qui ponitur in tiguris. Quot modis cognoscitur perfectum? Quinque.
Qnibns? Onm ant ngnra similis sibi ipsi, ant dnalras rel tribns sni pMÜ^
bus, vel puncto, vel pausae sui valor praeponitur, perfectum est. Quot
modis cognoscitur imperfectum? Duobus. Quibus? Quando fignrae sui
tertia pars praeposita vel postposita est, sive valor (d. i. eine gleich gel-
tende raus^. Von einer eigentUdi diirchgeftihrteu imperfecten Qeltuog
durch ein ganzes Stück ist, wie man si« lit, keine Aede. Die DreiÜieilig"
keit ist das selbstverständliche Gruuduiass.
Zv Seite 265. Heinrich von Lanfenberg oder Lonfenberg
als Dichter mag man bei Wackemagel kennen lernen, wo No. 746 bis ein-
schliesslich No.7<)7 Gedichte von ihm mitjrcthfilt sind, die theils den reinen
Miuuesiugertou anschlagen, theils jener weniger pedantisch als naiv aus-
sehenden Mischgattnng ans Latein nnd Deutsch angehören, als deren
Begründer Heinrich gilt. Musikaliscli ist ea sehr interessant, bei dem
„Salve regina" (S. *Jö()) die volksgesangmässige Umgestaltung der
Melodie dieser Antiphone mit der contrapunktischen Behandlung
derselben von Nie. Gombert (Motetten l>ei Gardano 1542 No. XVII) zu
vcrgli'iclien. Noeli sei liirr htMnerkt. <1:h«; die S. 2.')«; mitgetbeilte Mdodie
aus Feld. Woll's Buch über die Lais genommen ist.
Zu Seite 261. Unser braver Hent Sachs, den Oothe mit Becht
in einem unvergleichlich schOnen Gedicht (,,Hans Sachsens poetische
Sendung") {gefeiert hat, verdient auch in der Geschichte der Musik einen
riats. In seiner gereimten Lebeusbesclu-eibung, die er im Greisenalter
als AbsoUnss seines Dichtens nnd Lebens Terasste, rdhmt er sidi nie
Meistersinger eine Anzahl von „Tönen" selbst erdacht zu liabcn: ,,wan"n
gieUt in iwcgrhondert lohOnen vnd fiOnf vnd libniiig MeistertbOnao, dnr-
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ooter nnä dreliehen mein** . . . pin TbOneo idiledit md Ifur gemein,
der Thön sechtzchn mein eigen sein".
Zu Seite 303. Das „Ascendo ad patrem" ist in der einen Gestalt
die Abkürzung^ in der andern die Erweitenmg der Intonation, welche in
feito ucenBiom« Domini der Priester dreinud mit eiiil^ter Stimme singt.
Man mag sie in Kiinberger't ,3*n<n>Qch des rtmiMhen CfaorelgeMuiges**
8. 80 nachsehen.
Zu S. 350. Wenn die alten Tonsetzer su swei fertigen Stimmen erst
Unterdreiii die dritte Mizten^ weU eie damit eben nicht beeter fertig sn
wcnL Ti wussten, so findet sich bei den Meistern der fol(?cnden Zeiten
diese Praxis zuweilen mit bewusster Absidit zu etwas ganz Interessantem
verwendet. Josquin de Pr6s hat ein Ave verum componirt (es stvht
in Glarean*8 Dodecachordon Seite 888, und ist nieht mit dem grossen,
dreisätzigen Ave verum, quinque vocum sub quatuor, in den voti Sigis-
mund Salblin^cr herausgegebenen „Concentus oute sex etc. vocum omui-
om jncnndissimi, Augsburg, Ulhard 1545'* zu verwechseln), in welchem
die erste Strophe zwei hohe Stimmen idt wohlklingendes, vollkommen
befriedigendes Duo singen. Bei der zweiten Strophe wiederholen die
beiden Stimmen ihr Duett, aber es gesellt sich ihnen eine dritte Stimme
hl der Tenorlage. Wfthrend bei den Alten die anfffeswangene dritte Stimme
meist mehr oder minder holprig ist, fliesst sie bei Josquin im schönsten
Gesänge wohllautend hin und hat ganz jenen schwännerisehen, jflngling-
heft überschwenglichen Ausdruck, jene süsse Wehniuth, wie Josquin ins-
besondere seinen Tenoren snweilen dergleichen gibt. Bin sehr sonder-
bares aber geistvolles Zusammen setzespiel mit Stimmen treibt AI ex nn der
Agricola in einer (Jomposition der Cauti cento cinquanta fol. 105. Zwei
Stimmen, der Discant und Tenor, singen hier das Lied »Qi^o ^ons Ma-
dame**. Agrioola findet, dass es mit der Psalmodie ffik peoe in id ipsom
dormiam et reqin'escam" (Worte des 4. Psalms) gans mgezwungen nnd
wirklich vortreÖ lieh zusammengeht : er müsste nicht Alexander Agricola
sein, mn diese Bntdednmg nicht sn benntzen: der Bus intonirt also
seinen Psalm, wodurch das Stück jenen altfranzAsischen halb geistlichen,
halb weltlichen MischgesÄngen Ähnlich wird. Dazu gesellt sich nun noch
ein Contratenor und das Stück ist vierstimmig. Aber der Contrateuor
ist laut Beisehrift „Ad plaoitnm**. Er kann behebig weggelassen werden.
Sieht man n&her zu, so bemerkt man, dass auch die Psalmenworte im
Bass Darüber werde ich in Frieden schlafen und ruhen" ihre Beziehung
haben; der Bass kann, wenn er will, seine Mitwirkung unterlassen. Das
Stück kann also ausgeführt werden: als Duo, als Trio, und in diesem
Falle wieder in zweierlei Gestalt : nftmlich entweder mit dem Contratenor
oder mit dem Bass, oder endlich als (Quartett. Es hat in allen diesen
Tier Bedaotionen kOmige, kr&flige Harmenie. Stimmen, die ad Ubitom
gesungen oder weggelassen werden können, kommen loweil« n vor, z. B.
in Ludwig Senfl's brillanter Motette zu sechs Stimmen,, Alleluia mane
nobiscum" (Cantion. selectiss. nec non famüiahssimae ultra centum No.IV.),
wo der sweite INseaat mit dem Beisätze „ad beneplacitum** bezeichnet
Ist, in Johannes "Walther's zweistimmiger Bearbeitung des Chorals
,,Vom Himmel hoch da komm ich her" (Bicinia gallica. hitina ete 1. Tbl.
No. LXXXVU), der sich eine dritte Stimme „tertia vox ad pbicitum"
beigesellt. Zu der ausserordentlich beliebten „Bataille** von Clement
Jannequin hat nachtrftglich Verdelot mit bewundemswerther (»escliick-
lichkeit eine „Quinta pars si placet*^ beigesetzt. (Man findet dieses im
16. Jahrhundert oft abgedmckte Stück auch in Gommerns Sammlung
l«. Bd. No. xxvm).
Zu Seite 463. Okeghem und Hobrecht können kaum noch als Zeit-
genossen gelten. Hobrecht trat seine gl&nzendste Stellung als Kapell-
▲mbrof, Qatctiickt« dar Miuik. U. 83
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514
Naohtrige.
mcister der Kiiolie Nolve Dune in Antwerpen neeh jMob BertHrenn*«
Tode U92 ftn, and entwickelte in diesem seinem Amte eine sehr ener-
gische Thätigkeit, machte wiederholte Reisen u. s. w., während gleich-
zeitig Okeghem wegen seines allzusehr vorgenlckteu Alters sogar auf
die Stelle des Tresorier von St. Martin zu Tours verzichtete, die
ein gewisser Errars, Sänger und Organist der königl. Kapelle erhielt,
während dem alten Okeghem blos der Titel ad honore» blieb (Die Aae-
ftthrong and NachweUang sehe man bei F^tis in dem sehr tnt«ree-
aanten Artikel „Okeghem" der 2. Auflage der Biogr. nniv.). Auch Ho-
brecht's Compositionen zeigen im Vergleiche zu denen Okeghem's schon
eine mannifffach entwickeitere, minder herb alterthümliche Knnati man
branölit s. B. nnr die Ohentons der beiden ehrwflrdigen M^iter in den
Canti ccnto cinquanta untereinander za vergleichen. Sieht man auf diA
blosse Ziffer des Geburts- und Sterbejahres, bo war Okeghem allem An-
schein nach um etwa 20 Jahre älter ai» Hobrecht und überlebte ihn um
einige Jahre. Hobredit ttarb auch im Greisenalter, aber IMitii Okeghem
scheint mehr als ^M), wenn nioht gegen 100 Jthre alt geworden n sein.
Mehr darüber im 3. Bande.
Zu Seite 494« Eine nicht uninteressante Andeutung über die Aus-
führang kunstvoller Vocalcompositionen ab „Transscriptionen" für die
Laute enthält eine von Guillaume Dubois, genannt Cr^tin oder Crestin,
einem franz. Poeten, der lö2ö starb, gedichtete ,^eploration de Cr6tin
aar le trepas de fea Okergan (so!) trösorier de Sunct Martm de Toors".
Hier wird enihlt, wie ausgezeichnete Musiker Messen des vetvwigten
Meisters sangen: die berühmte Missa cujusvis toni, die Misse mi-mi. die
AIossc au travaü sois and (,1a messe aussi exquise et tres parfidcte de
Requiem", dann aber heisst es:
Harne en la fin dict avecqaei son Inci
Ce motet: ut hermita solus
Che chascun tint une chosc excellento.
Diese Motette ist in Petrucci's „Motetti C'^ (nicht ^,C«nto'', denn es sind
ihrer nur 47, sondern „drittes Bnoh*\ gerade so wie die Genta eento ein-
qoanta als (^anti C bezeichnet erscheinen) fol. 14 gedruckt, und ausser-
dem die eine ihrer beiden Abtheilungen als Beispiel eines seltsamen
Canouräthscls mit aubluhrlicher Erklärung in H. Fiuck's Pract. mus. ; zwar
nennt weder Petrucci noch Finck den Gomponisten, aber die sehr kenntp
Uchen Eigenthümlichk» it» n Okeghem's sprechen sich auf das deutlichste
im Tonsatze aus, und der Tenor, bei dem ein Theil der Noten der Sol-
misationssylben zu errathen ist, gehört zu den sonderbarsten Binftllen,
womit je ein Niederländer die Sänger geneckt hat. Die Motette selbst
ist wirklich „une chosc excellcnte" und würde allein genügen, Okeghem
als grossen Meister zu legitimiren. Hat nun Harne es vermocht, dieses
vielkOnsÜiohe Tongewebe aof semer Laote in rewodnoiren, so mmse er
in seiner Art ein wahrer Virtuos gewesen sein. Vielleicht sang er den
aus lauter langen Noten bestehenden Tenor and spielte die drei andern
Stimmen, aber auch dann war es noch eine Aafgabe, deren Lösung einen
Meister erfiunierte.
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Musikbeilagen.
Wilhelm Dufay: Chanson.- Cent mille rsnis.
Ky r iCy ' ) Ch t iste und zweites Kyrn-
aus der Messo omme atme\
Vincenz Faugues: Kyrie, Christe, und zweites Kyrie ^)
aus der Messe omme arme\
Antun Busnois: Chanson: Je suis veiuil vcrs inon ami.
Hayne odor Ayne ( Heinrich van Gizeghem ): Ch ohsoh.»
De tous biens.
John Dunstable: Chanson,- 0 rosa bella.
Firmin Caron: Kyrie aus der Messe omme arme'.
1) und 54) Diese bpiden Nummern llieilf auch sthon Kiesewellei in sei-
ner Musik/fes(hi<h(e mit. Da jiMlrtch dci- Kiiulrink d«'s CA/As^r und nndern
Kt/tif wesentlich durth si«« milbedin^l i>i. >(» sind sie hier, nneh vor^enuut-
inener neuer Kedui-tion (inshettondere in den Accidenii«n), wieder niifg*« -
noDinwn» und die giinxe JCftie^ («ruppe i»t voÜHlindl^ gegeben. Dara die
Toiifief/er den (^esnmmlefreet dieser Sätze wohl berechneten^ erwähnt Gla-
rean ausdrücklich (//of/tfw^atffyif S. %0H).
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Siehe: Seife 4U7.
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