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Full text of "Preussische Jahrbücher"

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Preussische 
Jahrbücher 





Rudolf Haym, 
Heinrich von 
Treitschke., ... 





Harvard College Librarv 


FROM THE BEQUEST OF 
MRS. ANNE E. P. SEVER. 


OF BOSTON, 
Wınow OF CoL, JAMES WARREN SEVER, 


(Class of 1817) 


10 X — 16 Sec 1899 





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Preußiſche Jahrbücher. 


Herausgegeben 


Hans Delbrüchk. 


Achtundneunzigſter Band. 


Oktober bis Dezember 1899. 


Berlin 
Verlag von Georg Stilke. 
1899. 


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hear Yun 


Inhaltsverzeichniß 


98. Bandes der „Preußiſchen Jahrbücher‘. 


Aufſũtze. 


Blum, H., Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Südſeeinſeler 

Brauſewetter, A., Beſprechung von W. Beyſchlag, Zur deuiſch⸗chrift. 
lichen Bildung 

Cauer, P., Beſprechung von Wenzel, Der Zodestampf des aitſprachlichen 
Gymnafialunterrihts . . 

—,— Beiprehung von A. Wernide, Die mathemeiifä- "naturwiffenfdaft- 
lihen Forderungen in ihrer Stellung zum modernen Humanismus 

— ,— Beiprehung von J. . — das er a Prima 
verlieren? . ; 

—,— Beiprehung von a Riedier, Unfre Hodfäulen. und bie An 
forderungen des XX. Jahrhunderis . . 

—,.— Befprehung von U. Riedler, Die — bohhuln und > ie 
wifſſenſchaftlichen Beftrebungen . ; r 

Conrad, H., Die neuefte Shafipere-Riteratur 

Daniels, E, Memoiren der Gräfin Potoda —— ER THESE 

Delbrüd, H. Auffifh-Polen . . . . 

Drews, Belprehung von St. B. Brooke, Glaube und Bifenfäat 

Gallwitz, H., Bom deutſchen Gott Me i 

GleichenRußwurm, 4. Frh. v., Die pflicht zur Schönheit. 

Gothein, M., Shelley i 5 

darnad, D., Zu Goethes gundertundfänfgigftem Geburt ; 

derrmann, D., Voltaire als Friedensvermittler 

Rellen, T. Der Maffenvertrieb der Bolßgliteratur . 

Külpe, D., Die äfthetifche Gerechtigkeit . ; 


IV Anbaltsverzeihriß. 


De M., Der Individualismus in der Hauptfritik 

— „— Belprehung von H. Böhlau, BUND, : 

— „— Theaterlorreipondenz —F 

—, — Theaterkorreſpondenz 

— ,— Buchdramen. : ; 

—, — Beiprehung von M. v. . Megfenbug, | Remoiren euer cal i 

— ,— Zheaterlorrefponden . . .» » - 5 Ei 

Reftle, E., Zwei Bemerlungen 

Neuberg, 8., Hildesheimer Kunft . . 

Nohrbad, P., Sven Hedins und Landors Reifen. in "Onnerafen 

Sandovoß, F., Beiprehung von J. W. Nagl und 9%. Zeidler, — 
Deſterreichiſche Literaturgeſchichte 1.—14. Lieferung 

—,„— Beſprechung von 2. Geiger, Goethe⸗Jahrbuch 

— ,— Beſprechung von J. Vogel, Goethes Leipziger Studentenjahre. 

—,— Beiprehung von M. Meyer, Goethe i 

— ,— Beiprehung von R. Edart, Allgemeine Sammlung niederbeutfeger 
Näthiel . £ 

— „— Beiprehung von 2. ãhnhewdi Boltsthämliches aus dem m Ron: 
reih Sadjen . i ; ; 

—,„— Beiprehung von F. Söhns, Unfere Bilanzen 5 . 

—, — Belprehung von J. W. Bruinier, Das deutſche Voltslied 

—,— Beſprechung von A. Seidel, —— aus der — Volls- 
literatur . . 

Sell, 8, Die wifenföaftihen Aufgaben einer rGeſchichte der Sriftligen 
Religion 

Boigt, P., Befpreung. von D. Stifid, Die englide Agrarkrifis, ihre Aus. 
dehnung, Urſachen und Heilmittel 

— „— Beſprechung von W. Roſcher (W. Stieda) Nationaldtonomie des. 
Handels und Gemerbfleißes f 

— ,— Beiprehung von M. Gantor, voiuuie Arithmetit * die 
Arithmetik des täglihen Lebens. 

— ,— Beiprehung von K. Balder, Geſchichte ber Rationalöfonomie 
und der Sozialismus . u 

— ,— Beiprehung von R. Siegbart, Die öffentlichen Slüdsfpiele 

— ,— Beiprehung von M. Peters, Die Entwidelung der ae Nhede- 
rei jeit Beginn diefes Jahrhunderts. I, . F RR 

— ,„— Beiprehung von ®. Kley, Bei Krupp . 

Wendland, B., Element i . 

Wirth, A, Die Lage in Indien und Iran . 


Beiprodene Werte. 


Adamus, F, Familie Wawroch . 
Asbadh, J. Darf das Gymnafium feine Brime verlieren ? 
Bieberftein, D. v., Memoiren der Gräfin Potoda 


161 


162 


163 
561 


562 
5683 
123 
417 


551 
340 
216 


Inpaltsverzeihniß. 


Blum, $., Neu⸗Guinea und der Bismarlardipel 

Böhlau, H., Halbtiehr! . . . . . 

Brandl, A, Schlegel-⸗Tieckſche Ghaftipenrerüicherjehung, neue Ausgabe 

Broglie, Herzog v., Voltaire avant et pendant la guerre de sept ans 

Broote,-&t. A., Glaube und Wiſſenſchaft ; — RR 

Beyſchlag, W., Zur deutfhechriftlihen Bildung 

Bruinier, J. W., Das deutſche Volkslied 

Bultbaupt, Shalipere . . . 

Cantor, M. Politiſche Arithmelik ER die Aritpmetit des täglien Lebens 

Dähnhardt, D., Volfethümliches aus dem Königreih Sahfen . . « 

Edart, R.,- Allgemeine Sammlung — — 

Faber, H., Ein glüdlides Baar . ; ; 

Geiger, 2., Goethe⸗Jahrbuch : 

Hauptmann, ®., Das Friedengfeft . 

Hedin, S., Durd Aſiens Wüſte 

Ibſen, H., Baumeifter Solnch . i 

Keyjerling, €. v. Ein ———— 

Kley, W., Bei Krupp . ; 

König, 6. Filippo Lippi . —F 

Kranemitier, F. Michel Gais zmayr er 

Laehr, H., Darjtelung franthafter Geifteßzuflände i in Shatipers — 

Landor, H. S., Auf verbotenen Wegen 

Lee, S., A Life of W. . 

Meyer, M., Goethe 

Meyjenbug, M. v., Memoiren einer - gbealiftin 

Ragl u. Zeidler, Deutſch- Defterreihifche Siteraturgefchichte 

Peters, M., Die Entwidelung der deutſchen Rhederei feit en a 
Jahrhunderts. I. . . 

Pfeil, Graf J. Studien und Beobahtungen ans der Suͤdſee 

Richter, H., Percy Byſſhe Shelley 

Riedler, U., Unjere an und die Anforderungen des xx Jahı- 
hunderts 0 ; 

— — Dietehnifhen dochſchuien — ihre wiſſenſchafllichen Beftrebungen 

Rof her, ®., (Stieda) Nationalölonomie des Handels und — 

Servaes, F., Präludien . 

Seidel, A., Anthologie aus der afatifhen Boltsliteratur 

Sieghart, R., Die öffentlihen Glüdsfpiele . . . - F 

Söhns, F., Unſere Pflanzen . . 

Stillich, D., Die engliſche Agrar, ie Ausdehnung, Unfagen ı mb 
Heilmittel . i . 

Strauß, €, Ton Pedro — 

Stryienski, C. Mémoires de la Comtesse Potocke ES 

Bogel, J., Goethes Leipziger Studentenjahre i 

Balder, 8., Geſchichte der Nationalölonomie und des Sozialismus 

Wenzel, Der Todestampf des altſprachlichen GymnafialeUnterrichtes 

Bernide, 9, Die mathematiſch-naturwiſſenſchaftlichen ae in 
ihrer Stellung zum modernen Humanismus . . oo. 


216 
514 
163 
310 


340 


VI Inhaltsverzeichniß. 


Politiſche Korreſpondenz. 


Die Bagdad⸗Eiſenbahn. Paul Rohrbach. 

Die Maßregelung der Beamten Abgeordneten Transvaal. Die Binde 
logie des Dreyfus-Prozeſſes. D 

Aus Defterreih. ) . » 

Der Sozialdemokratiſche Parteitag in Bannover. 8. 

Der Ausbruch des ſüdafrikaniſchen Kriege8 D. » » 2 2 2 200. 

Die Ablehnung des Arbeilswilligen-Geſetzes. Sozialpolitifches. Welt» 
madhtpolitit und Sozialdemokratie ®. . 

Deutfhland, Transvaal und der Beſuch bes Raifers ie England Die 
neue Flottenforderung. ®.. - .» U 35 


heologi — Bonn; 
— einer Be ber 


onus in Dresten: 


ibertrieb der Voltstiteratur 


ndland, Kilmersdort bei Berlin: 


— bei Berlin: 
* — in der Kunſilritik 


(Rorifegung fiche Anmenfeite 





4 - 
Ericheint jeden Monat. 
Hährlid 6 M. — Eingellieft 2 u, 50 Pr. 


be ehren durch alle Buchhandlungen und —— 


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Berlin 


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| Berlag von Georg Stil 


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3u Goethes Hundertfünfzigften Geburtstag. 


Nede, gehalten zu Darmitadt 
von 


Prof. Dr. O. Harnad. 


Deutjchland jühnt in diefen Tagen eine fünfzigjährige Schuld. 
As im Jahre 1849 fich der Tag zum hundertitenmal jährte, da 
Deutjchlands größter Dichter zur Welt fam, wurde die Gedächtniß- 
feter mit weit weniger Antheilnahme, mit weit geringerer Begeifterung 
begangen als der Name Goethe es fordern durfte. Alles war von 
dem leidenjchaftlichen politischen Treiben eingenommen, in dem ein 
jo großer Theil deutjcher Geiftes: und Willenskraft fich damals er: 
tolglo8 abarbeitete und deſſen einzelne Phaſen man in ihrer Be- 
deutung bei Weiten überjchäßte. Politische Leidenjchaft, ſowohl 
im bejiegten Liberalismus wie in der ‚vordringenden Reaktion, er: 
füllte alle Welt, und Niemand ſchwor höher als zur Fahne der 
„Partei.” In diefem Getriebe fonnte die Erinnerung Goethes 
nicht Gejtalt gewinnen, des Genius, der jelbjt ſich nie in heftige 
Tagesfämpfe eingelaſſen, der den Blid jtetS unerjchüttert auf das 
Dauernde, unverändert Werthvolle gerichtet hielt, der ſich davon 
nicht abziehen lajjen wollte, gemäß jeinem furz abweifenden Wort: 

„Warum mic feine Zeitung freut? 
Ich liebe fie nicht; fie dienen der Zeit.” 

Um jo mehr it nun jegt der Anlaß ergriffen worden, 
um nachzuholen, was vor fünfzig Jahren verjäumt wurde. 
Deutſchland hat welthiftorische Ereignifje inzwifchen erlebt, und fich 
eine Form des Dajeins gegeben, in der es ſich befriedigt fühlt und 
der es Dauer wünjcht. Es vermag ſich heute mit freiem Herzen 

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL £eft 1. 1 


2 Zu Goethes Gundertfünfzigftem Geburtstag. 


und flarem Geijt jeiner großen geijtigen Beſitzthümer zu freuen, und 
vor Allem des Mannes, der jeit mehr ala einem Jahrhundert in 
der gejammten Sulturwelt als die höchjte Verförperung Ddeutjchen 
Geiſteslebens gefeiert wird. 

Einen mächtigen Aufſchwung hat in den letzten Jahrzehnten 
die Verehrung Goethes und das Studium jeiner Werfe gewonnen. 
Meimar und Frankfurt find die Hauptitätten diejer Aeußerungen; 
aber in allen deutjchen Landen wird fortdauernd eine gewaltige Summe 
geiftiger SKraff auf die Erforjchung Goethes verwandt. Und das 
Ausland wetteifert darin mit uns; bejonders Frankreich, England, 
Nordamerifa liefert wertvolle Mitarbeit; überhaupt fein Kulturvolt 
iſt daran unbetheiligt. 

Die Nothwendigfeit, jo eindringende Arbeit auf die alljeitige 
Erfenntnig von Goethes Geijtesleben zu wenden, it freilich zum 
Theil durch die Art und Weije gefordert, wie er jelbjt jich der Welt 
gezeigt oder auch verhüllt hat. Wohl fein hervorragender Schrift: 
jteller hat jolche Gleichgiltigkeit dagegen bewiejen, wie er von der 
Welt aufgenommen und gewürdigt werde, wohl Steiner hat jo wenig 
danach geitrebt, ſich ins rechte Licht zu jtellen, Durch die Anordnung 
jeiner Schriften den Zugang zu erleichtern und ein Totalbild jeines 
MWejens zu gewähren. Er vollendete jeine Werfe mit größter fünjt- 
lerijcher Sorgfalt; waren jie aber vollendet, jo warf er jie gleichjam 
auf den Markt, ohne fic) um ihr weiteres Schidjal zu befümmern. 
Wie er vom Bublifum jeiner Zeit dachte, hat er jelbit in der Frage 
und Antwort ausgejprochen: 

„Warum erflärft du's nicht? und läßt fie gehn!“ 
„Geht's mich denn an, wenn fie midy nicht verſtehn?“ 

Aber auf die dauernde Wirkung feines Schaffens vertraute 
er um jo mehr: wer der Nachwelt gefallen wolle, ſprach er aus, 
dürfe nicht der Mitwelt zu Gefallen leben. Und jelbjt Liebes: 
gedichten, den Erzeugnijjen froher, rajch verraufchter Stunden, gab 
er den Wunjch mit: 

„Alem ift Die Zeit verderblich, 
Sie erhalten fi) allein; 

Jede Zeile fol unjterblich, 
Ewig wie die Liebe fein!“ 

Wer jo über die Gegenwart hinausblidte, der lebte natürlich 
zugleich auch in der Vergangenheit; der betrachtete Mberhaupt die 
Welt und ihre Entwidlung unter dem Gejichtspunft einer großen 
Einheit, in der die winzige Spanne, die er jelber durchlebte, nur 


| Zu Goethes Hundertfünfzigftem Geburtstag. 3 


von untergeordneter Bedeutung war. In diefem Sinne war Goethe 
vor Allem die Betrachtung der Natur ein Hohes Anliegen und 
hoher Genuß. In dem fortwährenden Leben, Vergehen, Neu-Sich— 
erzeugen der Natur jah er jene große, im Stern unübermwindliche, 
nur in Erjcheinungsformen wechjelnde, ewige Sraft, in der er jich 
jelber als mitwirfend fühlte. „Natur“, ruft er aus, „sie jchafft 
ewig neue Gejtalten; was da iſt war noch nie, was war fommt 
nicht wieder, Alles it neu, und doch immer das Alte ....... 
Ste baut immer und zerjtört immer, und ihre Werkſtätte iſt un- 
zugänglich!” Troß diejer legten Worte jucht Goethe doch in der 
Arbeit feines ganzen Lebens in die Tiefen der Natur einzudringen. 
Seine Tagebücher laffen uns erfennen, mit welch unermüdlichem 
Eifer er jich den Naturjtudien hingegeben hat. Unter der unend- 
lichen Fülle der Bejchäftigungen Goethes iſt die Naturforjchung die, 
die er am fonjequenteiten betrieben hat, und die ihm am meijten 
unentbehrlich) war. Der dichterijchen Thätigfeit gab er fich nur in 
gewifien günjtigen Stimmungen hin, wenn die poetiiche Ader ihm 
voll und leicht jtrömte; die Bejchäftigung mit der Natur begleitete 
ihn von einem Tage zum andern. Bon den anorganischen Grund: 
lagen des Lebens ging jie aus; mineralogische und geologijche 
Unterfuchungen waren ihm eine notwendige Würze jeder Neije. 
Sie erhob ſich zum vergleichenden Studium der Pflanzenformen, 
ihres einheitlichen Urjprungs und ihrer Umbildungen, endlich zur ver: 
gleichend anatomischen Betrachtung der Thierwelt, um überall nach 
den großen, unveränderlichen Gejeten zu juchen, die in der Fülle der 
Einzelerjcheinungen zu Tage treten. Sie drang über die Schranfe 
unſeres Erdballs hinaus in feinen Studien über die Licht: und 
‚sarbenerjcheinungen und in jeinen meteorologischen Betrachtungen, 
und fand ihre lebte Befriedigung im Anjchauen des gejtirnten 
Himmels. Mit begeiltertem Empfinden alle Einzeleindrüde zujammen: 
faſſend, ruft der Dichter aus: 

Wenn im Unendliden Daſſelbe, 

Sich wiederholend, ewig fließt, 

Das taujendfältige Gewölbe 

Sid fräftig in einander ſchließt, 

Strömt Lebensluft aus allen Dingen, 

Dem Heinften wie dem größten Stern, 

ud alles Drängen, alles Ringen 

Iſt ewige Ruh' in Gott dem Herrn.“ 

Auf der Grundlage diejer Naturbetrachtung erhob jich nun 
jeine Erfenntniß und Würdigung der Menjchheit, ihrer Entwidlung, 
1* 


4 Zu Goethes bundertfünfzigfiem Geburtstag. 


ihres Werdens und Vergehen, ihrer allmählichen Steigerung, bis 
zur Entfaltung aller von der Natur in fie gelegten Kräfte. 
Aber wenn Goethes Naturfinn fich in immer gleicher Weije fund 
giebt, jo hat jeine Stellung zur menschlichen Gejellichaft jich in 
wechjelnden Phaſen entwidelt, und jein eigenes Leben hat dadurd) 
in feinen verjchiedenen Zeiten ein durchaus verjchiedenes Gepräge 
erhalten. Wir jehen ihn in feiner Jugend naturfräftig der Gegen- 
wart leben, in jeinem Mannesalter ſich mit bewußtem Wollen der 
Vergangenheit zuwenden, als Greis mit jeherifcher Ahnung 
in die Zufunft jchauen. 

Mit welch’ gewaltigem Feuer hat ſich der junge Goethe in die 
Bewegung gejtürzt, welche al$ „Sturm und Drang“ jeine litera- 
riichen Beitgenojjen mit ſich riß! Im jener Bewegung, die im 
gejellichaftlichen Leben wie im künſtleriſchen Schaffen gegen alles 
drüdende Formelweſen jich aufbäumte, fonnte er die ganze Gewalt 
jeine8 Genius, die ganze Schaffensfraft rüdhaltlos bethätigen. Er 
lebte im Gefühl, einem glüdlichen, einem jchönen Zeitalter anzu— 
gehören, und von der Anerkennung, der gleichen Gefinnung jeiner 
Zeitgenofjen getragen zu jein. Die jungen Schriftjteller, wie Lenz, 
Klinger, Stolberg, jcharten jich um ihn, ältere, wie Lavater oder 
Herder, jahen in ihm die hoffnungsvolle Kraft, von der nicht zu 
Berechnendes erwartet werden müfje. Ein überjcharfer Stritifer, wie 
Merd, jah in Goethe doc, die Genialität, die in ihren höchiten 
Aeußerungen aller Kritif entwachjen jei. Freilich — wenn wir 
jet zurüdbliden, wie wenig Dauer haben dieſe Verhältniſſe 
gehabt, in deren Gegenwart damals der junge Dichter jchwelgte! 
Wie jchnell entwuch$ er der Umgebung, wie weit blieb jie hinter 
ihm zurüd! Aber wozu brauchte er auch die Umgebung! Er hatte 
ja die ganze Welt für ſich. Mit jeinem „Götz von Berlichingen“ 
hatte er Deutjchland erobert, mit „Werther Leiden‘ eroberte er 
thatjächlich die Welt. In alle Erdtheile drang dies Buch, das 
jelbjt ein Napoleon noch immer von Neuem gelejen hat. Die 
Gegenwart, die ihm jo huldigte, mußte wohl den jungen Dichter 
mit jich reißen. So war denn auch jein Auftreten: kühn, fieges- 
gewiß, lebens und liedesfroh, aber nicht bedrücend für die Um— 
gebung, jondern erfrijchend und erhebend, weil die Dankbarkeit für 
das glücliche Schickſalsloos überall hin von "m ausjtrahlte. 
Ueberreich jind die Zeugnifje für den überwältigenden Eindrud 
jeines Wejens: „Vom Wirbel bis zur Zeche Genie, Kraft und Stärke, 
ein Herz voll Gefühl, ein Geiſt voll Feuer mit Adlerflügeln.“ 


Zu Goethes Hundertfünfzigftem Geburtstag. 5 


Eine wunderbare Charafterijtif hat in neidlojer Freude der bedeutend 
ältere Wieland in glänzenden Berjen gegeben; er jchildert den 
Dichter als Improvijator: 

D melde Geſchichten, welche Szenen 

Ließ er vor unfern Augen erfichn! 

Wir wähnten nicht zu hören, zu fehn — 

Bir fahn! Wer malt wie er fo ſchön 

Und immer ohne zu verfhönen? .... 

Dod wie? was fag’ ih malen? Er fchafft 

Mit wahrer innerer Schöpfungstraft 

Erjhafft er Menſchen, fie atmen, fie leben, 

In ihren innerſten Faſern ift Zeben. 


Bie flogen die Stunden 
Durch unferes Zauberer Runft vorbei, 
Und wenn wir dadten, wir hätten® gefunden 
Und was er fei nun ganz empfunden, 
Wie ward er auf einmal wieder neu! 
Entfhlüpfte plögli dem fatten Blid 
Und fam in andrer Geftalt zurüd 
Lich neue Reize fih vor uns entfalten, 
Und jede der taufendfahen Geſtalten 
So ungezwungen, fo völlig fein, 
Man mußte fie für die wahre halten. 
Rahm unſere Herzen in jeder ein — 
Schien felber nichts davon zu jehen, 
Und wie er immer glänzend und groß, 
Rings um fih Wärme und Licht ergo, 
Sih nur um feine Achſe zu drehn.“ 

E3 war jchon in Weimar, daß Wieland diejen gewaltigen 
Eindrud von Goethe empfing. In anderem Sinne wie in der 
Vaterjtadt lebt Goethe auch hier zuerjt derG&egenwart. Aus dem bloß 
literarischen Leben, von der fchließlich zum Uebermaß angeipannten 
geiltigen Produktivität it er gern dem freundjchaftlichen Ruf des 
Herzogd nad) der Heinen Reſidenzſtadt gefolgt, und läßt gerne 
hier ganz andere Bilder des Lebens auf jich einwirfen, feine Welt: 
fenntniß erweitern. Aber es bleibt nicht beim Beobachten; die 
Zuneigung Carl Auguſts weiß den Dichter allmählich auch jelbit 
für die thätige Mitwirkung zu gewinnen. Aus dem genialen Gajt 
des Herzogs wird allmählich dejjen gewijjenhafter Diener, der fich 
nur durch den kühnen Idealismus feiner Grundſätze von den 
gewohnheitsmichig die Gejchäfte führenden Beamten unterjcheidet. 
Alle Zweige der Verwaltung des kleinen Landes lernt er fennen; 
in allen will er die humanen Ideen des Zeitalters der Aufklärung 
zur Öeltung bringen. Den Herzog jelbjt will er von allem weit 


6 Zu Goethes humdertfünfzigitem Geburtstag. 


und Hoc) jtrebenden Ehrgeiz abziehen und nur auf die gewiſſen— 
baftejte Sorgfalt für das Wohl aller, vor Allem der niedrigiten 
jeiner Unterthanen einjchränfen. Obgleich durchaus nicht völlig 
einverjtanden, jtellt der Herzog ihn endlich an die Spite der Ver: 
waltung und vier Jahre lang leitet der Dichter in wahrer Siſyphus— 
arbeit die Gejchäfte des Landes, nach Idealen, die er jelbjt mehr 
und mehr für unerfüllbar erfennt. Er fühlt, daß er jich einem 
Beruf aufopfert, in dem niemals das wirkliche Ziel jeines Lebens 
gefunden werden fann. 

Aber unter diejen ihn drüdenden Verhältnijjen reift nun aud) 
der entjcheidendjte Entjichluß jeines LYebens. Er erfennt, daß er 
ſich jelbjt und jein Schaffen nie wird zu der Höhe fteigern fünnen, 
die ihm jelber vorjchwebt, jo lange er mit dem Strom des 
(iterarifchen oder des politiichen Lebens geht; er fühlt, daß er jich 
ganz und gar von der Umgebung losreigen, ſich ganz und gar auf 
jeine eigenen Füße jtellen muß. Und das thut er mit jeiner plöglichen 
Reife nach Italien, die fajt wie eine Flucht ins Werk gejegt wird 
und dann Sich zu einem anderthalbjährigen Aufenthalt ausdehnt. 
Und von diefem Zeitpunkt an wendet er feinen Blid von der 
Gegenwart ab, und richtet ihn abfichtlich und Fonjequent auf Die 
Bergangenheit. Es iſt das klaſſiſche Altertum, das er vor 
Allem in Italien jucht, in dem er heimijch werden will, in dem 
er jegt die ihm gemäße Form der Menjchheitsentwiclung findet. 
Was bedeutet das, und wie erflärt es ſich? Goethe war doc) 
jicherlich nicht zur Verſenkung in gelehrte hiſtoriſche oder philo— 
logische Studien gejchaffen. Selbjtzwed waren jolche Studien für 
ihn nicht. Es war vor Allem der Drang, fich durch dieje Ver: 
tiefung in das griechijche und römische Alterthum eine fejte Grund: 
lage für die eigene geiftige Exiſtenz zu jchaffen, einen unverbrüchlich 
giltigen, unangreifbaren Standpunkt, von dem aus er die wechjeln- 
den Erjcheinungen des Lebens betrachten und beurtheilen fonnte. 
Er entnimmt die Maßſtäbe und die Triebfedern jeines Handelns 
dem klaſſiſchen Altertum und joviel e8 möglich, jucht er feiner 
Umgebung und auch jeinem praftijchen Wirfen, 3. B. der Theater: 
leitung, diefen Stempel aufzuprägen. Eine großartige, ſtets Die 
entfernteiten Gefchichtsepochen mit einander verfnüpfende Betrach- 
tung entjpricht dieſem Standpunkt, vor der alle wechjelnden Moden 
des Tages völlig zu Nichts zufammenfchrumpfen. Der Aufenthalt 
in Rom eröffnet ihm zuerſt diefen welthiftorijchen Bid. „Wenn 
man jo eine Erijtenz anfieht‘‘, jchreibt er an jeine Freunde, „Die 


Zu Goethes bundertfünfzigftem Geburtstag. 7 


zweitaujend Jahre und darüber alt it, durch den Wechjel der 
Zeiten jo mannigfaltig und von Grund aus verändert und doch 
noch derjelbe Boden, derjelbe Berg, ja oft Ddiejelbe Säule und 
Mauer, und im Bolfe noch die Spuren des alten Charafters, jo 
wird man ein Mitgenojje der großen Rathſchlüſſe des 
Schickſals“ . . . . „Mir ward bet diejem Umgang das Gefühl, 
der Begriff, die Anjchauung defjer, was man im höchiten Sinne 
die Gegenwart des Elajjischen Bodens nennen dürfte. ch nenne 
dies die jinnlich geiftige Ueberzeugung, daß hier das Große war, 
iſt und jein wird." In dieſer Schätzung des Bleibenden, 
Dauernden, in dem Gegenwart, Bergangenheit und Zufunft in 
eins fließen, findet er jett jeine Befriedigung. Dem gemäß läßt 
er jich, nach Deutjchland zurüdgefehrt, von allem Zwang der 
Antheilnahme an den Gejchäften des Tages entlajten; der Herzog 
gewährt ihm die Freiheit, nur in den Dingen thätig einzugreifen, 
welche ihm perjönlich) werthvoll erjcheinen. Und Goethe beginnt 
nun um jeine Berjon in Weimar eine ganze Reihe von Kräften, 
Einrichtungen, Schöpfungen zu jammeln und zu gruppiren, die diejen 
Ort zu dem erheben, was er noch heute iſt, zur klaſſiſchen Stätte 
Deutſchlands. Literatur, Theater, bildende Kunſt zieht Goethe in 
diejen Streis; jein Hauptmitarbeiter wird Schiller. Die erſte Folge diejes 
Handelns ift eine Entfremdung zwijchen ihm und dem Publikum; 
der Dichter der „Iphigenie und des Taſſo“ ift nicht mehr populär. 
Aber das kümmert ihn nicht; er fchafft nicht für den Augenblid. 
Und wenn er in einem Werf, in „Hermann und Dorothea“, 
durch die eigenthümliche Verfchmelzung von Antifem und Modernem 
auch eine jchnelle, glänzende Wirkung auf das Publikum erreicht 
bat, jo hatte er fie doch durchaus nicht erjtrebt. Dabei hatte er 
jeine Zurüdziehung von der Tageswelt damals an den größten 
Ereignifjen zu erproben. Die franzöfiiche Nevolution erfüllte auch 
in Deutjchland alle Köpfe und Herzen mit Erregung und Leiden- 
Ihaft. Goethe wurde von ihr innerlich nicht ergriffen und empfand 
jie bloß als Störung der organischen Entwiclung. 

„Franzthum drängt in Diefen verworrenen Tagen, wie ehmals 

Lutherthum es gethan, ruhige Bildung zurüd.” 

Und je härter fich die Ereignifje der Außenwelt aufdrängten, 
defto willensfräsfiyer ſchloß er fich in den Kreis feiner ruhigen 
Bildung ein. Nach der Schlacht bei Jena verfiel Weimar der 
Plünderung; Goethe gerieth jelbjt in Lebensgefahr; allgemeine 
Auflöfung herrichte rings umher; die Erijtenz des ganzen Herzog- 


8 Zu Goethes hundertfünfzigſtem Geburtstag. 


thums war in Frage gejtellt. Aber jchon acht Tage nad) der 
Schlacht verzeichnet Goethes Tagebuch: „Verſchiedene Aufſätze ge: 
ſchrieben“ und drei Tage jpäter ift er jchon wieder mit der Durd; 
fiht der neuen Ausgabe jeiner Werfe bejchäftigt. Im weitern 
Verlauf diejer Zeit ward jeine Beſchäftigung mit dem Flafjijchen 
Altertfum weniger eifrig, aber nur weil ihn noch ferner Liegendes 
angezogen hatte; er wandte ich jegt der orientalischen, vor Allem 
der Arabiichen und Perſiſchen Dichtung und Weltanjchauung zu. 
Und als fich die Schwierigfeit und Peinlichfeit der Lage immer 
mehr jteigert, im Jahre 1813, als Sachjen-Weimar noch als 
Rheinbunditaat auf Seiten Napoleons jtand, während die allge 
meinen Sympatbhien fich jchon zu den Verbündeten hinneigten, da 
war ihm in diejen Konflikten die Verjenfung in jene orientalijche 
Sphäre das koſtbarſte Heilmittel zur Erhaltung jeiner Geiftes- und 
Seelenruhe. 

Erſt nachdem die Wirren der Zeit ihren Abjchluß gefunden 
hatten, jehen wir Goethe wieder hervortreten, und zwar nun wieder 
mit voller Theilnahme, mit vollem Interejje an der Entwidlung 
und den Fortjchritten des neuen Jahrhunderts. Das Feſtſpiel 
„Des Epimenides Erwachen“, mit dem er die Befreiung Deutjchlands 
feiert, bezeichnet darin den Umjchwung. Wie Epimenides wendet 
er fich erwachend wieder der Wirklichkeit zu; aber auch wie diejer 
fonnte er von fich jagen: 

„Run aber joll mein Geift enibrennen, 
In ferne Zeiten auszufhaun‘. 

Daß die Art und Weije der Befreiung zu einem bedrüdenden 
Uebergewicht Rußlands in Deutjchland führen werde, jah er jorgen- 
voll voraus. Und diejenigen irrten, die da meinten, Goethe werde 
ji) jegt dem Parteileben, das jogleich nad) den Befreiungsfriegen 
lebhaft erwachte, hingeben. Der ind Greijenalter getretene Dichter 
wurde jeßt zum Seher, der mit weiterem Blick, mit Flarerer Voraus: 
ficht die Dinge überjchaute als die Zeitgenofjen, und der deshalb 
ji feinem Schlagworte fügen, auch jet nicht in die Kämpfe des 
Tages eingreifen konnte. Er lebte nun, da er die Keime der neuen 
Zeit erfannt hatte, in der Zufunft. Manche Anfeindung hatte 
er auch jet wegen dieſer vornehmen Stellung zu erdulden; im 
Ganzen aber wurde fie ehrfurchtsvoll reſpektirt. Goethe hatte id) 
wenige Jahre zuvor durch die Veröffentlichung des erjten Theils 
des Fauſt, wo er es gewagt, die höchjten Probleme aufzuwerfen, 
deren Löſung nun die Welt mit Spannung von ihm erwartete, 


Zu Goethes hundertfünfzigſtem Geburtstag. 9 


ein Anjehen errungen, das jchlechthin unvergleichlicy war. Nicht 
nur in Deutjchland, jondern unter allen Kulturvölfern feierte man 
ihn als den „Patriarchen“ der Dichtung, der Literatur überhaupt. 
Er jelbjt jah darin ein Unterpfand der fünftig immer mehr zu er: 
reichenden geiltigen Einheit der Literatur aller Kulturvölfer, die 
er als die Weltliteratur bezeichnete. Im Uebrigen war er ſich 
freilich dejjen völlig bewußt, daß das neunzehnte Jahrhundert fein 
(iterarifches jein werde. Scharf erfannte er jchon aus den eriten 
Anzeichen den großen Gegenjag zwiſchen dem geijtig gerichteten 
achtzehnten und dem praktisch gerichteten neunzehnten Jahrhundert. 
Die weltumwälzende Bedeutung der neuen Erfindungen erfannte 
er, als jie faum noch gelungen waren. „Reichthum und Schnellig- 
feit“, ſchrieb er jchon 1825, „it was die Welt bewundert und wonad) 
jeder jtrebt. Eijenbahnen, Dampfjchiffe und alle möglichen Facılitäten 
der Kommunifation find es, worauf die gebildete Welt ausgeht.... 
Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeit— 
jtrudel fortgerifjen. . . . alles ijt jegt ultra... . alles transzendirt 
unaufhaltjam ..... von reiner Einfalt fann die Rede nicht jein....“ 
Und daß der Einzelne fi) in diejem verwirrenden Getriebe der 
Konkurrenz meist nicht mehr mit eigener Kraft werde erhalten fünnen, 
daß neue joziale Gebilde und Genofjenjchaften nöthig jein würden, 
in denen Jeder jeine Stelle finden fünne, jah er flar voraus. Sein 
letzter Roman „Wilhelm Meijters Wanderjahre* it im Wejentlichen 
eine phantafievolle, aber doch jehr ernſt gemeinte Darjtellung der 
jozialen Verbände und Gejete, welche die Zukunft fordern würde. 
Daß ihm, dem Sohn des achtzehnten Jahrhunderts, dieje neue Zeit 
ſympathiſch gewejen jei, wird man nicht verlangen dürfen. Aber 
das wirklich Große und Bedeutende verfolgte er mit lebhaften 
Interejje. Hat er doch jelbit den Wunjch ausgejprochen, jo lange 
zu leben, bis er einen Kanal zwijchen Donau und Rhein, einen 
Kanal durch die Landenge von Suez und einen durch den Iſthmus 
von Panama vollendet gejehen hätte; der erjte jet eine Sache 
Deutjchlands, der zweite eine Sache Englands, der dritte eine 
Nordamerifas. Um dieſer drei großen Dinge willen, meinte der 
Adhtzigjährige jcherzend, Lohne es jich jchon, „noch einige fünfzig 
Jahre auf der Erde auszuhalten“ ! 

Und mit nicht minderer Stlarheit beurtheilte er auch die zu: 
künftige politifche Gejtaltung Deutjchlands, die damals joviel heiße 
Meinungsfämpfe, Befürchtungen und Wünjche erregte. „Mir it 
nicht bange*, ſprach er ſich aus, „daß Deutichland nicht eins 


10 Zu Goethes hbundertfünfzigftem Geburtstag. 


werde, unjere guten Chaufjeen und fünftigen Eijenbahnen werden 
ichon das Ihrige thun. Vor Allem aber jei e$ eins in Liebe 
untereinander! und immer jei es eins gegen den auswärtigen Feind. 
Es jei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel! 
Wenn man aber denkt, die Einheit Deutjchlands bejtehe darin, daß 
das jehr große Reich eine einzige große Nejidenz habe, jo iſt man 
im Irrthum. . . Wodurd iſt Deutjchland groß als durch eine 
bewundernswiürdige Volfsfultur, die alle Theile des Reiches gleich: 
mäßig durchdrungen hat? Sind es aber nicht die einzelnen Fürſtenſitze, 
von denen fie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger find?“ 

So jcharf er aber die nothiwendigen Forderungen der Zufunft er: 
fannte, jo fejt hielt er doch mit jeinem Alles umjpannenden Blide 
an dem ununterbrochenen Zuſammenhang der Kultur, an der Wahrung 
der errungenen Kulturgüter feit. In diefem Sinne jprach er es aus: 
„Möge das Studium der griechiichen und der römischen Literatur 
jtet3 die Baſis der höheren Bildung bleiben!” Und ebenjo gab 
er auf dem jittlichereligiöjen Gebiet die Erklärung ab: „Mag die 
geijtige Kultur nun immer fortjchreiten, mögen die Naturwiſſen— 
jchaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachjen und 
der menjchliche Geijt jich erweitern wie er will, — über die Hoheit 
und jittliche Kultur des ChrijtenthHums, wie fie in den Evangelien 
ſchimmert und leuchtet, wird er nie hinausfommen!“ 

Die großartige Klarheit und Feſtigkeit des Greijes hat einen 
gewaltigen Eindrud auf Mit: und Nachwelt hinterlajien. Das 
Bild des „Olympiers“, wie man es gern genannt hat, wie es 
durch Nauchs Büſte klaſſiſch ausgeprägt it, iſt Diejer legten Ent- 
wiclungsphaje des Dichters entnommen. Mit ihm it in gleichen 
Ehren auch das Antlig des jugendlichen, jtrahlenden Siegers ge— 
blieben, auc) dies von der bildenden Kunſt prachtvoll aufbewahrt, 
am jchöniten wohl in Trippels Büjte, die jchon oft mit den 
Bildniſſen des Phöbus Apollo verglichen worden ift. Am wenigiten 
it das Bild der Mannesjahre, jener Zeit jtrenger Zurüdhaltung, 
lebendig und plajtiich anjchaulich geworden. Um jo mehr aber 
lebt der Dichter in den Werfen diejer Periode fort, Werfen höchſter 
Bollendung, die er im Zujammenwirfen mit Schiller gedichtet, vor 
Allem in der entjcheidenden Schaffensthätigfeit am „Fauſt.“ 

Für unjere Betrachtung heute fließen jene einzelnen Epochen 
zujammen in dem Totaleindrud einer gewaltigen Berjönlichkeit, 
deren Sinn jtetS auf das Große und dauernd Werthvolle gerichtet 
war und jich damit über die Wellen des Zeitlaufs erhob. 


Zu Goethes hundertfünfzigftem Geburtstag. 11 


„Sprih, wie du dich immer und immer erneuſt!“ 
„Kannft’8 aud, wenn du immer am Großen did freuft! 
Das Große bleibt friſch, ermärmend, belebend; 

Im Kleinlihen fröftelt der Kleinliche bebend.“ 

Und gerade für unfere in den angejpannten Forderungen des 
Augenblids jeden Einzelnen abmattende, überwältigende Zeit it 
ein wunderfräftiges Heilmittel geboten in der Vertiefung in den 
Geift diefer in fich jelbjt ruhenden genialen Perſönlichkeit. Unſer 
alltägliches Leben gleicht einem mühjamen, jteinigen Pfade, der 
zwijchen zwei hohen Mauern hinläuft und weder Ausblid nod) 
Umblid darbietet. Wohl hoffen wir allmählich zu einem er: 
wünjchten Ziel vorzufchreiten; aber bisweilen iſt e8 uns auch, als 
führten ung die Mauern labyrinthifch an Orte zurüd, an denen 
wir jchon gejtanden. Aber an Tagen, die uns zur Feier des 
Großen aufrufen, da it e8 uns, als ob ſich die Mauern jpalteten 
und freier Fernblick fich aufthäte. Und heute — bliden wir ın 
weite, jonnendurchfluthete Hallen, in denen die freien und edlen 
Geftalten Goethijcher Dichtung jich leicht und heiter bewegen oder 
jiegreich und herrſchend thronen. 

Aber nicht auf einen Tag joll ſich diejer Eindrud bejchränfen. 
Goethe jelbit hat einmal geäußert: „Der Menjch mache jich nur 
irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an der er fich die Luft 
in heitern Tagen erhöhen und die Kraft in trüben Tagen auf: 
richten fann. Er gewöhne ſich z.B. täglich in der Bibel oder im 
Homer zu lejen oder jchöne Bilder zu jchauen oder gute Mufik zu 
hören.“ Wir dürfen hinzufügen, er gewöhne jich, täglich in 
Goethes Werfen zu lejen. Die jchönfte Form, in der die Nach: 
welt den Dichter ehren fann, it die thatjächliche Vertrautheit mit 
jeinen Werfen. Die jchönjte Wirfung eines Feſtes wie e8 Deutfch- 
land jett begeht, würde die immer wachjende Kenntniß von Goethes 
Lebenswerk jein. Ja, möge fich an ihm erfüllen, was er einjt 
dem dahingegangenen Schiller nachgerufen hat: 

Schon längſt verbreitet fi in ganzen Schaaren 
Das Herrlichſte, was ihm allein gehört. 

Es glänzt uns vor, wie ein Komet entſchwindend, 
Unendlid Licht mit jeinem Licht verbindend. 


Die wiflenichaftlichen Aufgaben 
einer Gejchichte der chriftlichen Religion. 


Bon 
Karl Sell. 


Die Aufmerfjamfeit, die der Leſerkreis diejer Blätter zuweilen 
der gejchichtlichen Erörterung religiöfer Fragen gewidmet hat, möge 
den DVerjuch rechtfertigen, gerade hier ein pium desiderium zu be- 
jprechen, das eigentlich zu den Anliegen der theologijchen Zunft ge: 
hören jollte, das aber vielleicht nicht weniger Ausjicht darauf hat, 
auch dem jchlichten Laienverſtand einzuleuchten. Natürlich muß 
dabei auf allen Apparat der gelehrten Theologie verzichtet werden. 
Man jagt den Theologen immer häufiger und lauter, wir lebten 
im Seitalter der „Religionsgejchichte” (vgl. Pr. Jahrbücher Bd. 87, 
Ernjt Troeltih: Chrijtentyum und Neligionsgejchichte) und ſelbſt 
ſtreng Firchlich gerichtete Theologen tragen dem Nechnung durd) eine 
wenn auch oft widerwillige, doch aufmerkfjame Verfolgung der außer: 
ordentlich fruchtbaren Arbeit auf dem Gebiet diejer jüngjten ge: 
ichichtlichen Disziplin, die bis jet im Ausland einen viel reicheren 
Anbau gefunden hat, als im Heimathland der Reformation. Um 
jo befremdlicher iſt es, daß auf Seiten der wijjenjchaftlichen 
chrijtlichen Theologie die allernothwendigjten Vorarbeiten für eine 
gejchichtliche Behandlung unjerer Neligion, und die erjten Anfänge 
einer jolchen jelbjt noch fehlen. 

Ich meine damit: wir entbehren noch völlig eine Unterſuchung 
unjerer chrijtlichen Religion an jich jelbjt, der urſprüng— 
lichiten Formen ihres Glaubens und Lebens, aller jener Er— 
jcheinungen nämlich, in denen Religion zunächſt bejteht und fich 


Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 18 


fortpflanzt: Gebet und Opfer, Injpiration und Glaube, Liebes— 
werfe und religiöje Selbjtzucht, wie Gemeindezucht; der jogenannten 
pathologijchen Erjcheinungen des religiöjen Lebens, des Enthu— 
fiasmus und der Ekſtaſe, der Pijionen und der myſtiſchen 
Grlebnijie noch ganz zu gejchweigen, Die wenigitens von 
Piychiatern regelmäßig berüdfichtigt werden. Wir befiten wohl aus: 
gezeichnete Unterjuchungen über die Gejchichte des Dogmas, der 
Kirchenverfajjung, des öffentlichen Kultus, der Kirchenzucht, mujter: 
giltige Darjtellungen der Entwidelung chrijtlicher Kunſt und 
Literatur, aber das, was dem allem zu Grunde liegt, das innerfte 
perjönliche religiöſſe Empfindungsleben, und die Entfaltung der 
religiöjen Borjtellungswelten, die doch die eigentlichen Motive für 
das religiöje Willensleben enthalten, das ijt meines Erachtens 
noch nirgends zum Gegenjtand einer methodischen gejchichtlichen 
Unterjuchung gemacht worden. Es fieht ja aus wie ein Winf 
auf diefen Mangel hin, wenn A. Harnad dem eriten Band feiner 
Dogmengejchichte das Wort Goethes vorgejett hat: „Die chriftliche 
Religion hat nichts mit der Philoſophie zu thun. Sie iſt ein 
mächtige8 Wejen für fich, woran die gejunfene und Tleidende 
Menjchheit von Zeit zu Zeit fich immer wieder emporgearbeitet 
hat; und indem man ihr dieſe Wirfung zugefteht, iſt jie über aller 
Philojophie erhaben und bedarf von ihr feine Stütze“ (Gejpräche 
mit Goethe von Edermann II ©. 39). 

Was auf diefes Motto folgt, iſt aber grade feine Gejchichte 
der Religion, diejes von „aller Bhilofophie“ und demnach von allem 
Dogma unabhängigen, ihnen beiden weit voraus liegenden jelbit- 
jtändigen „Wejens“, jondern nur die Gejchichte des Dogmas, dejjen 
religiöje Wurzeln allerdings Harnad überall bloß zu legen ſucht: 
aber die Neligion iſt doch wejentlich mehr als das Wurzelgebiet 
des Dogmas, fie iſt der Fruchtboden für das gejammte höhere 
jittliche, metaphyfiiche und äjthetijche Leben der neueren Menjch: 
heit überhaupt. Gerade unjere Zeit beginnt das lebtere immer 
deutlicher einzujehen. Woher die Scheu, diejes innerlichite, zartejte, 
vielgejtaltigjte und mächtigite Syitem jeelifcher Kräfte jtatt ge— 
legentlicher pjychologijcher Analyjen auch einmal in feinem ganzen Um: 
fang gejchichtlich zu unterjuchen? Ein Grund dafür iſt bald gefunden. 
Er iſt aller Ehren werth. Man jcheut ich, auch unter den freier 
gerichteten Theologen, die piychologischen und gejchichtlichen Wurzeln 
aller Religion, aljo auch unjerer Neligion offen darzulegen, weil 
man fürchtet, jie dadurch ihrer Einzigkeit zu berauben, ıhres 


14 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 


„Offenbarungscharakters“, wie man jagt. Und dieje Furcht wurzelt 
in einer gewijlen Laienhaftigfeit der Betrachtung. Das Gleiche, 
was jo oft von ‘gebildeten Katholifen uns Protejtanten entgegen: 
gehalten wird: „euer Prinzip perjönlichen Glaubens und Ddirefter 
Ueberführung von der Wahrheit durch das Wort der heiligen Schrift 
führt zum jchranfenlojen Subjeftivismus, für den es nichts Pofitives, 
nicht8 Allgemeingültige® mehr giebt und geben kann,“ — Das 
fürchtet man dann von den eigenen Glaubensgenojjen zu ver: 
nehmen, wenn man zugiebt, daß unjere Religion zunächjt, jubjektiv 
betrachtet, doch nur aus einem Gewebe von Empfindungen, Bor: 
jtellungen und Urtheilen bejteht, die jich bei jedem Einzelnen mit 
pſychologiſcher Gejegmäßigfeit etwas anders geitalten. Wo bleibt 
da die objektive Wahrheit, an der doch unjer Glaube hängt? 
Als Antwort diene vorerit die Gegenfrage: Wo bleibt die ob— 
jeftive Welt, wenn es doch nachgewiefen tft, daß alle Vorjtellungen 
von Diejer Welt auf der Organijation unjerer Sinnesorgane be: 
ruhen, daß Licht und Schall, daß Drud und Stoß nur unjere 
Empfindungen und Borjtellungen von einem außerhalb unjerer Sinne 
befindlichen Etwas find? Die Welt eriftirt doch auch an jich, wenn fie 
gleich nur durch das Thor unjerer Sinne und Veritellungen uns zum 
Bewußtjein fommt. So mögen wir auc) überzeugt jein, daß das, 
was als die Wirklichkeit aller Wirklichfeiten eriftirt: Gott, uns 
doch nur durch die ein für allemal gegebene pjychtiche Organifation, 
die unjer jubjektives Neligionsempfinden und Neligionsvorjtellen 
regiert, zum Bewußtjein fommt. Und alle Offenbarung von oben 
her wird jich diejes pfychiichen Apparates bedienen müfjen, wenn 
jie auf ung wirken will. Es it, jo will mir jcheinen, ein bischen 
die Angit, in den Augen der Laien den Kredit der Religion zu 
verjcherzen, die unjere braven kritiſchen Theologen davon zurück— 
hält, Ernjt zu machen mit der Anwendung der gejchichtlichen 
Methode auf die Hrijtliche Religion jelbjt und nicht bloß auf 
ihre Außenwerfe: Dogma, Kirchenverfafjung, Kirchendisziplin und 
dergleichen. Daher kommt e8 vielleicht, daß man gewifje Aufgaben 
gejchichtlicher Forjchung, jo weit meine Kenntniß reicht, noch gar 
nicht in Angriff genommen hat, von denen ein wijjenjchaftlich 
denfender Laie meinen fönnte, jie müßten längjt in dicken Büchern 
abgehandelt jein. 

Sc nenne davon hier nur zwei: 

1. Das Chrijtusbild in der Chrijtenheit, die wechjelnden 
Auffafjungen, die die Perjönlichkeit des Heilands nicht bloß in den 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 15 


bildenden und redenden Künjten, jondern in der direkten Neligion, 
im gejammten Borjtellungs: und PBhantajieleben, in den jittlichen 
und jozialen Bejtrebungen und Bethätigungen aller Generationen 
der Chriſtenheit gefunden hat, it uns bis jegt in feinen verjchtedenen 
Geitalten nirgends in einiger Volljtändigfeit gejchichtlich bejchrieben 
worden. Man bedenke, daß ebenjo verjchieden wie das Chrijtus- 
bild eines Paulus, Origenes, Athanafius, Augustinus, Bernhard 
von Elairvauz, Franz von Aſſiſi, Sujo, Luther, Ignatius v. Yoyola, 
Calvin, Scriver, Pascal, Klopjtod, Zinzendorf, Herder, Schleier: 
macher war, ebenjo verjchieden find doc) auch die Chrijtusbilder der 
vielen einander folgenden Generationen von Gläubigen gewejen. 
Was haben denn eigentlich, jo fragen wir, dieſe Chriſten von 
ihrem „Deren“ gehalten, wie und wo hat er ihre Seelen berührt, 
mit welchen Antrieben hat er jie erfüllt? ine methodtjche, be— 
gründete Antwort darauf giebt uns die gejchichtliche Wifjenjchaft 
bisjegt nicht. Nur Kunſt- und Literaturgejchichte berichten Einiges 
darüber. 

Sollte man nicht jagen, dal bier eine Königsarbeit vorliegt, 
die Notabene auch den Borzug hätte, viele Kärrner in Ihätigfeit 
zu jeßen. 

Ebenfo fehlt noch bis auf einige allerdings jehr bedeutjame 
Anfänge: 2) eine Geſchichte der Bibel in der Chriitenheit. 
Nämlich die gejchichtliche Darjtellung der verjchtedenen Auffaſſung, 
Auslegung und Anwendung, die die heiligen Schriften im 
Ganzen und im Einzelnen in allen Jahrhunderten der Chrijtenheit 
gefunden haben. Cine jolche Gejchichte müßte weit hinausgreifen 
über die jeßt jchon oder noch üblichen Mittheilungen der Exegeten von 
verjchtedenen Auslegungen die einzelne Bibeljtellen bei den Kirchen— 
vätern und Theologen aller Jahrhunderte gefunden haben. Sie 
müßte zeigen, wie, ganz abgejehen von dem urjprünglichen Sinn, 
den die heiligen Schriften gehabt haben und allein gehabt haben 
fönnen, zu dejjen Ermittelung die jet jo virtuos ausgebildete, 
philologijche Kritif zweifellos ausreicht, dieje Schriften, entjprechend 
dem religiöjen Geiſt und Bedürfnig der Zeiten der Kirche eine ganz 
verjchiedene Ausdeutung und Umbdeutung erfahren haben. Der 
Zwed diejer Gejchichte wäre feineswegs der, eine Illuftration des 
jfeptiichen Sprüchleins zu liefern: 

Hie liber est in quo quaerit sua dogmata quisque 
invenit quisque sua .. 
jondern der weit größere, zu zeigen, daß die Etappen des Schriftver: 


16 Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der Hriftlihen Religion. 


ſtändniſſes die Etappen der Entwidelung des chrijtlichen Geiſtes find. 
Und wenn dann berausfäme, daß jchließlich die moderne Chrijten- 
heit, bei dem urjprünglichen Wortjinn der heiligen Texte angelangt 
und, überjchauend ihre vielfältige Anwendungsmöglichkeit, jich jagen 
dürfte: es it Syitem in dieſen wechjelnden Gejtalten des Schrift: 
jinnes und es iſt Doch ein organiſches Gewächs, dieſes 
Ganze von Schriftausdeutung und Schriftumdeutung, jo 
würde auch dieſer rein hiſtoriſchen Arbeit ein Licht religiöjer Er- 
baulichfeit entjtrahlen. Eine großartige Apologie der Borjehung! 
Inder die landläufige Apologetif meiſtens in den Eden und Winkeln, 
jozujagen in den Schutthaufen der Gejchichte herumfucht, jtatt jich 
vor die großen geichichtlichen Realitäten zu jtellen, die aller: 
dings in ihren eigentlichen Dimenſionen nur das gejchärfte Auge der 
Wiſſenſchaft überjieht. 

Die Vorausſetzung der Erörterung diejer beiden und jo mancher 
anderen verwandten Aufgabe würde jein, daß man es für einen 
legitimen Gebrauch unjerer gejchichtlichen Wifjenjchaft hält, daß wir 
auch einmal die Vorjtellungen, in denen fich unjer Glaube verkörpert, 
derjelben Betrachtung unterwerfen, wie unjere anderen Vorjtellungen 
alle von der uns in ihrem innerjten Wejen ebenjo unerflärten und 
unerflärlichen „Welt“, ohne dasjenige preiszugeben, wovon alle 
Religion eben nur eine Vorſtellung it: die Wirklichkeit des Göttlichen. 
Das müßte geichehen durch fonjequente Anwendung piychologijcher 
und gejchichtlicher Prinzipien auf das ganze Gebiet der unmittelbar 
religiöjen Erjcheinungen im Chrijtentyum. Es fann aber nur gejchehen 
ohne Schaden der lebendigen Neligiofität, wenn man jid) Darüber ver— 
itändigt hat, da mit „Sejchichte der chrijtlichen Religion“ nur 
gemeint jein fann, was der jtrenge Wortverjtand bejagt: Gejchichte 
des jubjektiven chrijtlichereligiöfen Empfindens und Vorſtellens, nicht 
aber Gejchichte der göttlichen Offenbarungen und Beranftaltungen, die 
dem chriftlichen Glauben jeiner Anjchauung nad) zu Grunde liegen. 
Dieje Dinge gehören in die firchliche Yehre und Dogmatik hinein, 
jie liegen durchaus jenjeitS des Gebiets derjenigen menjchlichen 
Erlebnijje, die das einzig mögliche Objekt gejchichtlicher Forſchung 
bilden. So gewiß es im Gebiete unſerer Sinneswahrnehmung nur 
Erjcheinungen giebt, von welchen aus wir auf ein Ding zurüd- 
ichließen, was uns eben nur gemäß unjerer Organijation erjcheint, 
ebenfo find die Ereignijje (wörtlich, da „ſich eräugen“ bedeutet „ſich 
vor Augen zeigen“, dajjelbe wie „Erjcheinung“), von denen alleın 
die Gejchichte berichten fann auch nur die Erlebnifje, die die Menjchen 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 17 


gehabt haben und von denen wir mit mehr oder weniger Sicher: 
heit auf das zurüdjchliegen müfjen, was wirklich gejchehen 
jein mag. Gejchichte handelt nur vom Grlebten. Jede, auch 
die abjolute Offenbarung Gottes, fann unter uns Menjchen nur 
Boden faſſen in Gejtalt von jeelifchen Erlebnijjen eines menjchlichen 
Individuums. Nur dieje Erlebnijje und nicht was ihnen zu Grunde 
liegt, find Gegenjtand unſerer gejchichtlich-piychologijchen 
Einſichten. 

Ebenſo müßte man darüber einverſtanden ſein, daß man unter 
„Chriſtenthum“ und ſeiner Geſchichte nicht verſteht die durch die 
Propheten, Chriſtus und ſeine Apoſtel der Welt zuerſt verkündigte 
göttliche Wahrheit als ein Syſtem objektiver Thatſachen, ſondern 
die ſubjektive Art und Weiſe, in der Einer ein Chriſt iſt, alſo 
Glaube, Gebet, chriſtliches Leben und Handeln, wie es in ſehr 
verſchiedenen Geſtalten, ſeitdem es eine Chriſtengemeinde giebt, auf 
Erden ſich gezeigt hat. 

Damit bleibt das Gebiet des perſönlichen Glaubens ſeinem 
Inhalte nach von aller Kritik völlig unangetaſtet. Es iſt nicht 
minder ſelbſtverſtändlich, daß man ſich alle verſchiedenen Geſtalten 
chriſtlichen Glaubens geſchichtlich vergegenwärtigt und doch nur in 
einer dieſer Geſtalten ſein eigenes religiöſes Bedürfniß befriedigt 
findet, wie es möglich iſt, alle möglichen Nationalitäten Revue 
paſſiren zu laſſen und ſich doch nur zu einer als der eigenen per— 
ſönlich zu bekennen. Denn jeder neue Tag, der unſere Kenntniß 
der mancherlei pſychologiſchen Formen der Religion vermehrt, lehrt 
uns einſehen, daß es verſchiedene Weiſen geben müſſe, in denen wir 
uns den „ewig Ungenannten“ enträthſeln, da auch die thatjächlichen 
Offenbarungen des Ewigen jich feine anderen Mediums bedienen, 
um mit uns in Verbindung zu treten, als unjeres eigenen religiöjen 
Vorſtellungsvermögens. 

Eine mit religiöſem Takt abgefaßte Geſchichte unſerer Religion 
wird die perſönliche Religioſität eines jeden Chriſten unangetaſtet 
laſſen, ſie wird ſogar vielleicht den, der meint, jeder Religion bar zu 
ſein, daran erinnern, daß auch er noch Etwas von Religion beſitzt. 
Geht man von dieſem Geſichtspunkt aus: chriſtliche Religion als 
Gegenſtand möglicher geſchichtlicher Erforſchung iſt nur das 
Gebiet des perſönlichen menſchlichen Glaubens, Lebens, Hoffens und 
Fürchtens, dann iſt der richtige Anfangspunkt dieſer Geſchichte ſicher 
gegeben. Chriſtliche Religion in dieſem Sinne tritt zuerſt auf im 
Kreiſe der Jünger und Apoſtel Jeſu Chriſti als deren Glaube, nicht 

Breußiſche Jahrbücher. Bo. XCVIII. Heft 1. 2 


18 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlihen Religion. 


früher! Sie iſt in ihrer eriten Geftalt jener Inbegriff religiöfer und 
jittlicher Stimmungen und Vorjtellungen, Grundjäge, Strebungen 
und Hoffnungen, fultiicher Handlungen und Begehungen, die jich 
unter dem Eindrud der Verfündigung jener Männer auf Grund 
ihrer Erlebnifje jchnell oder langjamer entfaltet haben. Der Theologe 
nennt dieje Religion die fides qua creditur. Sehr bald aber ver: 
jejtigt fich das, was fo flüjfig und lebendig aus der Seele jprang, 
aus Gemüthsjtimmungen in eine Borjtellungswelt, der Wille 
zum Glauben produzirt die theoretijche Gewißheit, daß das geglaubte 
ijt: die fides quae creditur, das Syſtem chrijtlicher Gott: und 
Weltanjchauung, der objektive Glaube, die objektive Religion ent— 
iteht. Ihr Inhalt gilt dem Gläubigen als das allein Wirfliche 
und damit lehnt er jede andere Vorjtellungswelt ab. Diejer ob: 
jeftive Glaube aber mit Allem, was daran hängt, unterliegt nun 
einer fortgejegten Umbildung, wie auch der jubjektive Glaube, die 
religiöfe Injpiration, Intuition ſich regelmäßig verändert. 

Es fann durchaus nicht behauptet werden, daß wir von allen 
dieſen Veränderungen die gejchichtlichen Gründe anzugeben wüßten, 
ja auch nur, daß wir alle diefe Veränderungen jemals ganz erfennen 
fönnten. Nur muß ftreng darauf gehalten werden: das, was man 
„Das Geheimniß“ in der MNeligion nennen darf, liegt nicht ın 
dem Gebiete der religiöjen Piychologie, des Empfindens oder Bor: 
jtellens oder Denkens, jondern es liegt in dem Gebiet jenjeits 
der Schranfe unjeres Bewußtjeins, in jenem Gebiet, über 
welches die Metaphyſik ihre Hypotheſen aufitellt und über welches 
der jubjeftive Glaube jich bejcheidet nichtS zu „wiſſen“, jondern 
das er ahnt oder „in einem dunklen Spiegel jchaut‘ und Ddereinit 
offenen Auges zu jehen hofft. 

Was ſich bei gutem Willen von der Weligion mit einiger 
Sicherheit wird erkennen lajjen, das jind wohl die meiſten 
jchöpferifchen oder bejjer gejagt die anführenden Berjünlichkeiten, 
die praftifchen Abjichten, welche den Kultus regieren, die Vor— 
jtellungen, Bhantajiebilder und Vorurtheile, die allmählich immer 
neue Weltbilder gejtalten und jo die fünftigen Dogmen vorbereiten. 
Denn das Dogma tjt das Ergebnif einer ganzen Reihe von einzelnen 
Faktoren. Erſt die Injpiration, dann die Gemeinde der Infpirirten, 
dann der Kultus, dann die religiöje Weltanjchauung, dann die 
Theologie, dann das Dogma. Iſt das Dogma firirt, dann beginnt 
die Legende, die Mythologie, die freie religiöje Dichtung ihr Wert 
und die bildende Kunſt nimmt es auf, bis die unausrottbar im 


Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefchichte der hriftlihen Religion. 19 


Volksgemüth wirkende „natürliche Religion‘ ihre Fäden über das 
Ganze jpinnt und jo jenes auch dem Wechjel der Sahrtaujende 
trogende Wejen einer Volfsreligion entiteht. Es wird noch der 
Arbeit von Generationen bedürfen, bis diefer Prozeh der Religions— 
entwidlung im weitejten Sinne im Einzelnen flar gelegt jein wird. 
Auch geht dieje umfafjendere Aufgabe über das hinaus, was wir 
die eigentlihe Gejchichte der hrijtlichen Religion nennen. 
Denn dieſe ijt ein bejtimmt begrenztes gejchichtliches Gebilde, 
während eine jede Bolfsreligion, wie fie unter uns lebendig it, ein 
aus Natur und Gejchichte zuſammengeſetztes Gebilde Ddaritellt, in 
dem die Fäden der chrijtlichen Religion vielfach nur den Einjchlag 
bilden: der Zettel aber jtammt aus den unvordenflichen Zeiten der 
Bildungsgejchichte unjeres Volkes. 

Die Aufgabe einer Gejchichte der chrijtlichen Religion im 
Unterjchied von Kirchengejchichte, Dogmengejchichte, Kultusgefchichte 
läßt jich ihrem Inhalte nad) in die zwei Worte zufammenfafjen: 
Geſchichte der chrijtlichen Injpiration (fides qua ereditur) und Ge- 
jchichte der chrijtlichen religiöjfen Weltanjchauung in ihrer noc) vor: 
theologijchen und vordogmatijchen Gejtalt (fides quae creditur). 

Daraus ergiebt fich, daß es nicht darauf abgejehen ift, die 
Kirchengejchichte zu bejeitigen oder umzugeitalten, jondern vielmehr 
jie jorgfältiger zu unterbauen. Ebenjo wie die Völfergejchichte und 
Weltgejchichte noch auf abjehbare Zeiten hinaus im wejentlichen 
Staatengejchichte bleiben muß, ebenjo muß die Gejchichte des 
EhrijtentHums abgehandelt werden am Faden der mächtigjten 
jozialen Inititution, die der chrijtliche Glaube hervorgetrieben hat: 
der Kirche. Epoche in der Gejchichte macht immer nur Die 
Kirche. Die Kirche, wo jie einmal it, it unjterblich, d. h. fie 
trägt ich jelbit. 

Es handelt jich vielmehr nur um die gejonderte Betrachtung 
und hellere Beleuchtung der Gebiete des Seelenlebens, in denen 
jich die Wandlungen der Kirche vorbereiten. Aber allerdings würde 
Durch dieje Behandlung der firchengejchichtliche Stoff ein ganz neues 
Interejje gewinnen für Alle, denen das kirchliche Weſen gleichgiltig 
oder zuwider ift, dagegen an der Religion wenigjtens das eigentlich 
Menjchliche und Ehrijtliche interejjant tft. Das unermehliche Material 
für das Verjtändniß der eigentlichen Neligion, das in der 
erbaulihen Schriftjtellereti in allen ihren formen vorliegt und 
das von der zünftigen Kirchengeſchichte bis jetzt faum eines Blides 
gewürdigt wurde, aus dem aber ganze Generationen don Frommen 

2* 


20 Die miffenihaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion. 


ihr tiefites Leben jchöpften, würde nun auch von der Wiſſenſchaft 
ausgebeutet werden müſſen. Genug von diejen bloßen Andeutungen! 

Ein erjter Berjuch der BehandInng diejer Gejchichte dürfte auch 
auf jenes Mittel nicht verzichten, das beim Anfang jeder neuen 
Betrachtungsweiſe feine Dienjte leijtet: auf die Vergleichung. Es 
müßten durch Vergleichung die verjchiedenen Formen der chrütlichen 
Religion gefunden und fejtgejtellt werden. Diejem Unternehmen 
aber jteht bis jest noch unüberwindlich das fonfejjionelle Borurtheil 
entgegen, das nur eine Form der chriltlichen Religion als Die 
wahre gelten läßt und verglichen damit jede andere höchjtens als eine 
untergeordnete Stufe behandelt. Jede derartige Anordnung von 
Stufen der Neligion beruht auf der Anwendung durchaus jub: 
jeftiver Werthurtheile und geht davon aus, daß es eine an jıd 
vollfommene Form chrijtlicher Religion geben müſſe. Das wird 
ji) in gewifien Grenzen von ihren Urjprüngen behaupten lajien 
und es wird jicherlich vom praftifch firchlichen Standpunft 
auch fernerhin fejtgehalten werden müſſen. Denn lebensfräftige 
Kirchen tragen ihre Eriftenzberechtigung dadurch in fich, daß fie 
ji fonjtanten Bedürfnifjen in einer möglichit vollftommenen Form 
angepaßt haben. Stonfejjionen find wie Nationen hiſtoriſche Gebilde, 
die wie Dieje nicht wenig Irrationelles mit ſich führen können. 
Selten jind jie aber die ungemijchten Darjtellungen nur einer 
einzigen reinen NWeligionsform. Umgefehrt: die Neligtonsformen 
fünnen bis zu einem gewijjen Grad ideale, nur gedachte Formen 
jein, Ausprägungen eines organijatorischen Gedanfens, der nirgends 
vielleicht ganz vollfommen zum Ausdrud gefommen it, ebenjo 
wie ja auch die Art als jolche nicht exiftirt, jondern nur in leije 
vartirenden einzelnen Exemplaren. 

Was hiernach die nächiten Aufgaben einer wirklichen Gejchichte 
der chrijtlichen Neligion jein dürften, joll im Cinzelnen etwas 
deutlicher gemacht werden. Sie lajien jich in die drei Worte 
faſſen: Genealogie, Morphologie, gejchichtliche Ent: 
widelung. 


L 
Es dürfte der Verjtändigung über die rein hijtorijche Natur 
unjerer Wijjenjchaft dienen, wenn wir als die erjte der möglichen 
Aufgaben einer chrijtlichen Neligionsgejchichte bezeichnen die Dar: 
legung des Urjprunges der chrijtlichen Religion, nämlich 
ihrer Genealogie, ihrer Ahnenreihe Man hat offenbar zu 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlichen Religion. 21 


unterscheiden Anfang und Urjprung der chrijtlichen Neligion. 
Den Anfang des Chriſtenthums macht zweifelsohne der Glaube 
der eriten Gemeinde von Chrijtusanhängern. Dem genau 
entjprechend heben die meijten „Kirchengejchichten“ ihre Erzählung an 
vom erjten Pfingjtfeit. Mit befonderem Nachdrud hat F. Chr. Baur 
den Glauben an die Auferwedung Ehrijti als die eigentliche Grund: 
lage der chrijtlichen Kirche hervorgehoben. In der That beginnt 
die jelbitändige chrijtliche Religion erjt mit dem Glauben einer 
Gemeinde an Chriſtus. Diejer Anfang aber jegt voraus jene 
ganze VBorgejchichte, die mit einem religiös dogmatischen Ausdrud 
bezeichnet wird als Inbegriff der Heilsgejchichte, oder der Heils- 
thatjachen, die mit einem rein gejchichtlichen Begriffe zu nennen ift 
die Gejchichte des iſraelitiſch-jüdiſchen Monotheismus 
bis zu jeiner abjoluten Bollendung in dem Evangelium Seju. 
Sp gewiß man aljo die Gejchichte der chrijtlichen Religion beginnen 
darf erſt mit dem Glauben der Apojtel; wie die Kirchengejchichten 
thun, man wird Doch dieje Religion wiederum nicht vollfommen 
verjtehen und nicht richtig erflären fönnen, wenn man nicht 
unterjucht hat, welche Ereignijje dieſen erjten chrütlichen Glauben 
hervorgerufen haben und unter welchen religionsgejchichtlichen Vor— 
ausjegungen er entjprungen iſt. 

Wir wijjen, daß die aus der Tiefe der Erde mit einem Schlage 
entjpringende Quelle doch im legten Grunde von den Niederjchlägen 
jtammt, die aus der Luft niedergegangen und nur in der Tiefe 
angejammelt worden find. Dem Anfang einer jeden Quelle geht 
voran die Urjprungsgejchichte eines jeden Wajjertropfens, den fie 
enthält. So liegt aud) vor dem eigentlichen Anfang des Chrijten- 
thums mit dem eriten Befenntnijje zu Jeſus als dem Chriftus das 
weitverzweigte Gebiet der Urjprünge Ddiejer Religion. In Ddiejes 
Gebiet gehört aber nicht nur hinein die Perſon und die Lehre, die 
ganze Religion Jeſu jelbjt, jondern auch die ganze nationale 
Religion, auf deren Gipfel er als ihr Vollender jeinem eigenen 
Zeugnijje nad) erjchienen it, die erjt durch ihn international ge— 
worden ijt. Der Urjprung der chrijtlichen Religion liegt alfo 
jtreng genommen im Gebiet einer anderen Neligion. Die 
Stage, wohin Jejus als gejchichtliche Erjcheinung zu ftellen jei: ob 
an das Ende der ijraelitijch-jüdischen Religion oder an den Anfang 
der apojtolijch-univerjalen Religion, it nad) dem gegenwärtigen 
Stand der gejchichtlichen Erfenntniß nur dahin zu beantworten: an 
das Ende der ifraelitifch-jüdischen Religion. Er bildet ihren „Aus— 


22 Bie mwifjenjchaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der chriſtlichen Religion. 


gang“, d. h. in diefem Falle: er bildet ihren Uebergang in eine 
neue Form der Religion, aber jo, daß er mit feinem gejammten 
gejchichtlichen Wejen und mit jeiner wunderbaren Berjönlichkeit doc 
wurzelt in der nationalen heimijchen Religion jeiner Bäter. Damit 
joll natürlich der religiöjen, erbaulichen Betrachtung, die auch mit 
einem gewiljen gejchichtlichen Necht Jeſus ganz für ſich als ein 
vollfommen finguläre® Wejen betrachtet, ihr Necht nicht ab- 
gejprochen werden. Nur hat die gejchichtliche Betrachtung nicht 
die Aufgabe, das Geheimniß dieſer Perjönlichkeit entweder zu be— 
jeitigen oder zu erflären; jie hat vielmehr dann ihre Schuldigfeit 
gethan, wenn fie es vermochte, es einigermaßen ficher und deutlich 
zu umjchreiben. Es fommt gejchichtlich zunächit nur darauf an, zu 
ermitteln wie Jeſus von fich jelber dachte. Die Stellung aber, die Jeſus 
jich jelber gab, war nicht die eines neuen Anfängers, jondern Die 
eines Vollenderd. Auch der „neue Bund“, den er furz vor jeinem 
Tode verfündigt hat, iſt die modifizirte Erneuerung eines alten 
Bundes, er ijt die Erfüllung einer alten Weijjagung, die Iſrael 
icon gegeben war. In der Bundesidee jchließt fich ja das ganze 
Wejen des nationalen Monotheismus zujammen. Weder jeine 
Perjon, noch jeine Religion fünnen anders verjtanden werden als 
auf diejem nationalreligiöjfen Boden. Niemand vermag zu bejtreiten, 
daß Iejus den nationalen Gefichtspunft der Priorität Israels an— 
erfannt hat. „Das Heil fommt von den Juden“ jo heißt es gerade 
in jenem Evangelium, das Jejus am meiſten über alles menjchliche 
Map hinaushebt. Aber auch jein religiöjer Standpunft ſetzt die 
ganze jüdiiche Vergangenheit voraus. Das jchöpferijch Neue im 
„Evangelium“, in jenem SHeroldsruf an die Frommen in Iſrael, 
der der Sammlung der eriten Chrijtengemeinde voraus ging, war 
nicht die „Religion Jeſu“, für die ſich Jeſus ſelbſt ja auf Gejek und 
Propheten beruft, jondern die Berjon Jeſu als Träger diejer 
Religion. Dieſe Perjönlichkeit aber jteht gerade auf den Voraus— 
jegungen der ganzen religiöjen Gejchichte jeines Volkes als des Volkes 
Gottes und Jeſus jelbjt weiß fich zu diefem Volf gejandt von Gott 
als der letzte aller jeiner Abgejandten, als der Sohn, der mehr tjt 
als ein Prophet, mehr ift als König Salomo, mehr als der Tempel. 
Nur wer alle die Beziehungen, die jeinem Geijte vorjchwebten bei 
diefer Verkündigung überjchaut, nur wer ihn jo in dem Zufammenhang 
auffaßt, in dem er jich jelber erblidte, nur der wird ihn einiger- 
maßen jo begreifen fünnen, wie er wirflih war. Das gejchieht 
aber nur vom alten Tejtament her. 


Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 23 


Es giebt aber noch eine andere gejchichtliche Instanz, um deren 
willen es nöthig it, bei Löſung unferer Aufgabe die Vor— 
geſchichte der chriftlichen Religion im ganzen Verlauf der 
alttejtamentlichen Religion von Moje an bis auf Ehrijtus zu ver: 
folgen. Innerhalb der Ehrijtenheit jelbjt it die Urkunde der alt= 
tejtamentlichen Religion als die eigene Offenbarungs- und Religions: 
urfunde rezipirt, fanonijirt worden: die Bibel des alten Tejtamentes. 
Erit hierdurch hat fie ihre ungeheure weltgejchichtliche Bedeutung 
erlangt. Dabei hat aber die EChrijtenheit mit dem vollen Necht 
einer lebendigen fortwachjenden Religion dieſe Urkunde ausgelegt 
und umgedeutet nach ihrem Sinn. Wir find heute Dank 
unjerer jicheren philologijchen Erfenntniß im Stande, wenigjtens 
einigermaßen den urjprünglichen authentijchen Sinn jener 
religiöjen Schriften ermitteln zu fönnen. Wir begreifen die 
Religion des alten Tejtaments als eine Religion für ſich, die 
nicht zu verjtehen ijt nad) den Ideen des jo viel jpäteren Chrijten: 
thums, jondern nur aus ihren eigenen Vorausjegungen. Und nurin 
dem Maße, als man das originale Berjtändniß der alttejtamentlichen 
Religionsurfunden gewinnt, vermag man jpäter abzujchäßen, was 
das Chriſtenthum aus diefen Urkunden gemadt hat. ES dürfte 
jih dann vielleicht zeigen, daß diefe Umdeutung des gejammten 
Ideenkreiſes der alttejtamentlichen Religion, weit entfernt, eine 
Fälſchung defjelben zu fein, vielmehr hinausläuft auf eine Ampli— 
fifation, auf eine Berflärung, auf die Uebertragung jener alten Ideen 
nationaler Religion in einen größeren Maßjtab und auf Anwendung 
dieſes vergrößerten Bildes auf neue und andere Berhältnijje. Hat 
man die chriftliche Kirche zum Theil mit altteftamentlichem Material 
gebaut — Kanon, Bibel, Prieſterthum, Opferwejen — jo müfjen 
dieſe Baujfteine doch zunächjt in ihrer urjprünglichen Bejchaffenheit 
verjtanden jein, wenn man ihre Verwendung gejchichtlid) beurtheilen 
will. Und doc iſt diefe Aufgabe, wie wichtig auch für die Gejchichte 
des Chriſtenthums, noch von jefundärer Bedeutung gegenüber der 
Wichtigkeit, die die religionsgejhigtliche Erkenntniß hat, 
daß die Urjprünge des Chriſtenthums in der ijraelitisch-jüdijchen 
Religion liegen. Denn dann kennt die Gejchichte überhaupt nur einen 
einzigen religiöjen Monotheismus, aus dem die drei mono» 
theijtiichen Religionen entſprungen find: jüdijcher, chriftlicher, Islam: 
den volfsthümlichen Monotheismus Ijraels, der von Moje jtammt. 

Wenn diejer Monotheismus — wie er es thut — Sich jelbit 
herleitet aus einer göttlichen Offenbarung, nämlich aus Injpiration 


24 Bie wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlichen Religion. 


und Selbjtenthüllung der Gottheit, jo iſt gegen Diejes religiöje 
Urtheil vom gejchichtlichen Standpunkte aus nichtS einzuwenden, 
denn jeine gejchichtliche Originalität, feine Unableitbarfeit von andern 
Erjcheinungen der Religion ift eine Thatjache. Die geſammte alt: 
tejtamentliche Religion bildet jo einen einzigen Gejchichtsfreis, von 
ihren erjten monotheijtiichen Anfängen in der mofaischen Monolatrie 
(Verehrung eines einzelnen Gottes als des der Nation zugehörigen 
Gottes ohne prinzipielle Ausjchliegung anderer (fremder) Götter) an 
bis zum vollfommen fittlichen Monotheismus und zum Univerjalismus 
der Propheten Iſraels, dann wieder von der Verfeſtigung dieſes fitt- 
lihen Monotheismus zur gejeglichen und rituell ausgeprägten 
Nationalreligion des jüdiſchen Befennervolfes und Duldervolfes 
bis auf den Tag, wo Jeſus erjcheint und fie, jedoch noch ohne die 
nationale Hülle abzujtreifen, durch jeinen VBatergottglauben und 
jeinen fittlichen Univerjalismus im Sinne der größten Propheten 
vollendet und verflätt. Die Urfunden diejer Gejchichte find von 
den Drafeln . der Propheten bis auf die Sprüche Jeſu Selbit- 
befenntnifje, religiöjfe Zeugnifje von jubjeftivjter Gejtalt, aus denen 
ji) mit genügender Sicherheit der Stern der Perſönlichkeiten er: 
fennen läßt, die fie verfündigt haben. 

Außerhalb dieſes Gejchichtsfreifes giebt es mur noch eine 
einigermaßen analoge Erjcheinung: die allmähliche Entwidlung des 
philojophiichen Monotheismus in der griechiichen Philojophie, 
Auch fie mündet bei der Berbindung eben diejes philoſophiſchen 
Monotheismugs mit dem nationalen Monotheismug des Judentums 
in dem alerandrinischen Sudenthum in jene allgemeine Bewegung 
ein, aus der das jich über Paläſtina hinaus verbreitende junge 
Ehriftentyum eine wejentliche Kräftigung erfuhr. (Die Frage iſt 
fürs Erſte noch offen, ob eine Berührung Jeſu jelbjt mit dem 
alerandrinijchen Univerjalismus jtattgefunden habe.) Wer aljo 
blog vom geſchichtlichen Standpunft aus urtheilen wollte, der 
würde in unjerer Bibel die vier Evangelien noch zum alten 
Tejtament zählen können als dejjen eigentlichen religiöjen Gipfel: 
punft und der würde das neue Tejtament, die eigentliche Gejchichte 
des neuen Bundes zu lejen beginnen in der Apojtelgejchichte und 
dem, was auf fie folgt. Er würde jo „Weisjagung und „Erfüllung“ 
in einem Zuge lejen und dann im Folgenden die Anwendung. Das ijt 
natürlich nur gejagt zur Verdeutlichung der Sachlage, dieje Ver: 
deutlichung aber nähert jich der von allen orthodoren Kirchen feit- 
gehaltenen Anjicht von. der Einheit der alte und neu: 


Die mwifjfenihaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 25 


tejtamentlichen Religion, wonad) die Kirche und das Chrijten- 
thum eigentlich immer jchon dagewejen find und das Ebrijtenthyum 
feine neue Religion, jondern nur die Vollendung der einen 
ältejten Religion iſt. Diejer Sat jcheint aud) heute noch richtig, 
wenn man ihn jo ausdrüdt: das Chriſtenthum it die Erhebung 
des durch Jeſus perjönlich vollendeten ijraelttijch-jüdischen jittlichen 
Monotheismus zur allgemeinen Menjchheitsreligion.. Das wäre 
aljo die Theorie der Genealogie der chritlichen Religion. 

Darum bezeichnet man auch Jejus in jeinem Sinne faum richtig 
als „Religionsitifter“. Er war fich deſſen jedenfalls nicht bewußt, 
vielmehr hielt er fich nur für den vollfommenen Kepräjentanten 
der längſt von Gott durch alle jeine Propheten gejtifteten einzig 
wahren wirklichen Religion. Er befreite nur die Ausübung diejer 
Religion von den Schranken, die das Judenthum jeiner Zeit ihr 
zog und er fieht in der Zukunft ihre Anwendung voraus aud) auf 
jolche, die Söhne Gottes jein werden in der ganzen Welt. Er 
thut das aber allerdings fraft höchitperjönlicher Machtvollkommen— 
heit, für die fein noch jo hoher Name hoch genug ift: nur der 
des „Sohnes“ genügt ihm. Und dabei bleibt er doch völlig im 
Kreiſe der Ueberlieferung der väterlichen Neligion drinnen, er iſt 
weit entfernt, irgend etwas fundamental Neues jagen zu wollen, 
er jagt und thut nur das Alte, Ewige, Wahre. Das „Evangelium“ 
ijt die „Erfüllung“ von „Gejeg und Propheten“. — 

E3 durfte hier auf irgendwelche Einzelheiten der Gejchichte 
diejer ijraelitijch-jüdijch-evangelijchen Religion jelbjt nicht 
eingegangen werden. Sie liegt, um nur auf einige hervorragende 
literarische Erjcheinungen hinzuweiſen, die verwandten Geijtes jind, 
bereit3 gejchrieben vor in Wellhaujens Iſraelitiſcher und jüdijcher 
Gejchichte, in Smends Alttejtamentlicher Religionsgejchichte und 
in Holgmanng Neutejtamentlicher Theologie. Diejer reife Ertrag 
der jüngjten Phaſe gejchichtlicher Bibelfritif jtellt eine Apologie des 
Anjpruches der biblijchen Religion auf vollflommene Wahrheit und 
göttliche Abkunft dar, die jeden anderen Beweisgang an Kraft 
übertrifft. 

Insbejondere das Werf von Holkmann zeigt, wie das volle 
geichichtliche Verjtändnig Jeſu nur von rüdwärts her zu ges 
winnen ift: vom Judenthum ber. 

Gewiß läßt ſich zwijchen der Neligion der jüdijchen Zeit: 
genofjen Ehrijti einerjeits und zwijchen der der Apojtel andererjeits 
von einer eigenthümlichen „Religion Jeju* reden, und wer dieje, 


26 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 


das „Evangelium“ rein für jich betrachtet, fann daran genug haben 
lebenslang, was diejer aber ihren eigentlichen Werth giebt, it, daß 
fie durchaus in dem perjönlichen Charafter, in der Individualität 
Seju wurzelt, und daß fie ihren treffenditen Musdrud gerade in 
denjenigen jeiner Worte gefunden hat, die am meiſten den Stempel 
der Bolfsthümlichkeit tragen. Dann find wir aber wieder an das 
Studium der ihm vorausgehenden Bolfsreligion gewiejen. Es wird 
zum vollen wifjenjchaftlichen Verſtändniſſe dieſer religiöfen und 
jittlichen Individualität ohne Gleichen des höchſten Maßes eines 
dem Eindrude des Heiligen in menschlicher Gejtalt erjchlojjenen 
Feingefühles bedürfen, wie andererjeits der Würdigung der gejchicht- 
lichen Situation, in der er auftrat. Will man aber jeine abjolute 
religiöje Größe würdigen, dann fann es nur gejchehen, indem man 
jeine Perfönlichfeit vergleicht mit den Propheten jeines eigenen 
Volkes, mit denen er ich jelbit in eine Reihe ftellt als ihr 
Gipfelpuntt. 

Die Reihe der eigentlich jchöpferiichen Individualitäten im 
Gebiete der Religion — wenn diejer Ausdrud ſolchen gegenüber 
berechtigt it, die bezeugen, Alles empfangen zu haben — jchließt 
mit Jeju; nur am Ende diejer Ahnenreihe leuchtet jein Haupt in 
dem ihm eigenthümlichen Glanze. Wenn Jemand jagen wollte, e8 
jet nach ihm überhaupt nichts Neues mehr im Gebiet der Religion 
gefommen, der würde Necht behalten. Die eigentlich produktive Zeit 
der Welt, die alle Formen des geijtigen Lebens: Religion, Sittlich- 
feit, Wiſſenſchaft, Kunſt erzeugt hat, ijt mit dem „Alterthum“ zu 
Ende; die Reproduktion, die im Grunde doch nur unendliche 
Variationen bietet, beginnt. Das „Chriſtenthum“ ijt Die erjte 
diefer Neproduftionen und Kombinationen der im Bereiche Der 
antifen Welt aufgetretenen Originaloffenbarungen. 

Keine einheitliche Worwegnahme einer Skizze der mono» 
theiftijchen Religionsentwidelung, die zum Chriſtenthum 
hinführt, jollten diefe Bemerkungen jein, jondern nur Der 
methodijche Hinweis darauf, daß wir zu jeinem wirklichen Verjtänd- 
nifje des Studiums feiner Genealogie bedürfen. 

Sie lafjen jich kurz jo zujammenfajjen: Es iſt unmöglid), Die 
Berjon Jeſu und fein Evangelium wirklich gejchichtlich zu verjtehen, 
wenn man dabei lediglich von den Vorausjegungen der 
Apojtel und von den Gejichtspunften des Glaubens der 
eriten Chrijtenheit ausgeht, unbejchadet des hohen religiöjen 
Werthes, den dieje apojtolifche Lehre hat. 





Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 27 


Vielmehr fann die wirkliche Individualität des geſchicht— 
lichen Gegenitandes der chrijtlichen Religion, der Berjönlichkeit Jeſu, 
nur begriffen werden auf dem Boden der altteftamentlichen Religions: 
geichichte und des Judenthums. Denn erſt gemefjen an deſſen 
Borurtheilen erjcheint die Größe und die Reinheit von Jeju religiöjer 
Eigenart und die völlig einzige Univerjalität jeiner Gottes- und 
Menjchenliebe. 

Sind erjt durch ihn die prophetiichen Ideen zu einer die ganze 
Menjchheit erlöjenden Religion entfaltet worden, jo iſt es nöthig, 
die einzelnen Schritte, mitteljt deren dieje Neligion jich entwickelt 
hat, abzumejjen, joweit das noch möglich iſt. 

Während aljo im jtrengjten Sinne des Wortes der zureichende 
Grund für die Entitehung des Chriſtenthums nur die Berjon 
Jeſu Ehrijti it, jo it Doch ſein Urjprung vorbereitet durch 
jene ganze Offenbarungsfette, deren eriter noch jichtbarer Anfang 
die Volks- und Neligionsgründung des Mojes ift. Die 
Kirche hat injtinktiv das Richtige getroffen, indem fie das alte 
Tejtament als gleichwerthige Urkunde der chrijtlichen Religion mit 
dem neuen Tejtoment verband. Nur eine wirkliche gefchichtliche 
Wifienjchaft der ganzen Bibel lehrt uns das Evangelium ver: 
jtehen, ihren glorreichen Abjchluß. Die „Kirchengefchichte des neuen 
Teſtaments“, wie die Alten jagten, beginnt dagegen erit mit den 
Apoiteln. 


II. 

Die zweite Aufgabe einer Gejchichte der chriitlichen Religion 
jcheint zu jein die Ermittelung der wejentlichen Formen, die die 
chriftliche Religion in ihrer jeitherigen Entwidelung angenommen 
hat, jo zu jagen ıhre Morphologie. 

Die Behauptung aller ausjchliegenden Kirchen und einzelnen 
Konfeffionen ijt die, daß es im Grunde nur eine Form chrijtlicher 
Religion gebe und geben fünne, die eigene; jede andere jei eine 
Verirrung. 

Natürlih Habe auch dieje Form jic) gejchichtlich entwidelt, 
aber dabei verändere ſie ſich nicht. Man gejteht aljo nur neue 
Spielarten des Chriſtenthums zu, die Entjtehung neuer Arten 
wird geleugnet. 

Hierüber ift a priori nichts zu entjcheiden. Der Beweis des 
Gegentheil3 fann nur von der Gejchichte erbracht werden. ber 
eine pjychologifche Erwägung dürfte doch dabei behilflich jein. 


28 Die miffenfhaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 


Die wejentlihen piychologijchen Elemente der Neligion im 
Chriſtenthum jind einerjeit8 die Injpiration, das perjönlice 
Innewerden des Göttlichen, der Glaube als fides qua creditur, 
andererjeit8 die religiöjfe Intuition, das religiöje Anſchauungs— 
ganze die fides quae creditur. Gemeint ijt mit dem leßten Aus: 
drud ein Analogon zu dem, was die Philoſophie intellektuelle An: 
ichauung nennt: das Entwerfen einer Gejammtanjchauung der 
objektiven Welt von einem Punkte des jubjeftiven Fürwahrhaltens 
aus. Der Vorgang bei dem Entwerfen diefes Ganzen einer An- 
ſchauung hat viel inftinftives an jich. Das jo entworfene Weltbild 
ruht nicht auf empirischen Wahrnehmungen oder auf methodijcher Be- 
obachtung oder auf disfurjiver Begriffsentwidelung, jondern es ijt ein 
wejentli” mit den Mitteln der Phantaſie aber auc mit Mitteln 
des fombinirenden Denkens nach religiöjen Gefühlsmaßſtäben ent- 
worfenes Gebild, in dem die jubjektive religiöje Ergriffenheit ſich 
befriedigt, weil jie darin überall ihr Spiegelbild wiederfindet. 

Injpiration und Intuition bilden, formal gejprochen, den Inhalt 
der Religion. 

Nun ijt Klar, dag, wie mächtig auch der religiöje Genius, der 
irgendwo auftritt, hinein leuchten möge in die gemeinjame Ueber: 
lteferung und die Borjtellungsmafje jeiner Zeitgenofjen, wie viel 
neue Ideen und Ziele er aufjtellen möge, er doch abhängig it 
von der Kulturart und Kulturjtufe jeines Volkes, jeiner Zeit. Und je 
länger eine von einem Cinzelnen vorgetragene religiöfe Welt: 
anjchauung fich erhält, je mehr unbewußte und bewußte Anpafjung 
an geltende Begriffe und Vorjtellungen erfährt fie, um jo mehr wird 
jie in den allgemeinen geiftigen Entwidlungsprozeß bineingezogen, 

So wird eine auf originaler Injpiration und Intuition be 
ruhende Religion auch unter verjchtedenen Verhältniſſen verjchiedene 
Ausdrudsformen annehmen müſſen. Dieje Verjchtedenheit wird ji 
nicht nur auf die intelleftuellen und künſtleriſchen Ausdruds 
mittel beziehen, jondern auch auf die religiöfen, die jittlichen und 
die jozialen Ideale. Cine und Ddiejelbe Neligion wird fich unter 
veränderten Verhältnijien al8 diejelbe nur behaupten fünnen, wenn 
jie, ohne ihre jchöpferischen Grundlagen zu verleugnen, doc) ver: 
jchiedene Formen ihrer gejammten Selbjtdarjtellung annimmt. 

Eine innere Einheit diejer Formen fann ſich dennod) 
bewähren in übereinjtimmenden Zügen des Grundtypus. 

Gelingt ed nun, eine Reihe von Typen aufzujtellen, in denen 
das Chriſtenthum ich charakteriſtiſch verjchieden darjtellt und zugleid) 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 29 


in jedem Typus ein fonjequent einheitliche8 Gepräge nachzuweiſen, 
dann wäre ein Faden gefunden, an dem ich vielleicht auch die 
Genealogie diejes Typus Far machen läßt. 

Schon die jeither angenommenen Typen, etwa Urchrijten: 
thum, katholiſches, protejtantijches Chriſtenthum weijen auf 
genealogiſchen Zujammhang hin. „Katholiſch“ nennt man Alles, was 
direkt von deraltfatholischen Kirche des dritten Sahrhundertsabjtammt, 
„proteitantijch“, was aus der Reformation des ſechszehnten Jahr: 
hunderts fommt. Aber man hat dann doch nöthig gefunden, 3.8. 
von „Neformatoren vor der Reformation“ zu jprechen und von 
„protejtantijchen Anmwandlungen“ innerhalb des „Katholizismus“, 
und damit gezeigt, daß es auch außerhalb des genealogijchen 
Zujammenhanges dody verwandte Erjcheinungen geben fünne, 
man hat aljo die Typen im Prinzip wenigitens anerkannt. 

Nimmt man noch Hinzu den „chriftlichen Individualismus“, 
von dem in letter Zeit öfterd die Rede war, jo it damit wohl 
Alles angegeben, was man meines Wijjens jeither an allgemeinen 
Typen chrijtlicher Religion aufgejtellt hat. Irgend eine methodijche 
Ableitung jolcher Typen it mir nicht befannt geworden. Das 
aber dürfte das erjte Erforderniß einer Morphologie jein. Es 
müßte gezeigt werden, nach welchen Merkmalen fich die verjchtedenen 
‚sormen chrijtlicher Religion unterjcheiden. 

Hier ein Berjuch diejer Art. *) 

Für alle Formen chrijtlicher Religion lajjen ſich vier wejent: 
lihe Merkmale aufitellen, wofür die Berechtigung jofort erwiejen 
werden joll: 

1. Die eigenthümliche Injpiration, die Art und Weiſe wie 
man Gottes inne wird; 

2. die eigenthümliche Intuition, der Glaube, die religiöſe 





*) Die der ganzen Darftellung zu Grunde liegende Borausfeßung, von deren 
Annahme oder Ablehnung alles Weitere abhängt, ift, um es bier kurz 
zujammenzufafjen, die: In den führenden religiöfen Geiftern entſteht kraft 
der ihr ganzes Geiftesleben beherrſchenden Energie der perſönlichen 
Religion eine eigenthümlihe Gejammtverfafjung (Gefammtitimmung), 
Gejammtanihauung und Gefammtmwillensrihtung von einer hinreißen— 
den und durch jeden äußeren Erfolg gefteigerten Kraft. Dieje Anfhauung 
ift weder eine auf Schlüffe gebaute Metaphyſik noch ein bloßer Seelen- 
traum mie e8 die fünftleriihen Zdeale find, wenngleich fie die metaphyſiſche 
Betrachtung nicht vermwirft und ſich reichlich auch künſtleriſcher Mittel 
bedient; ſie iſt vielmehr im Weſentlichen ein Weltbild, das die natürliche 
Wirklichkeit, ſo wie fie den anderen Menſchen erſcheint, aus ihrer Stelle 
verdrängt, fie ijt eine Reihe von Schauungen, die für den Schauenden 
objektive Giltigkeit Haben. Sie ſchöpft, ohne durchaus daran gebunden zu 


30 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion. 


Weltanjchauung, die unter der Inſpiration ſich gejtaltet, die 
religiöje Vorjtellungswelt; 

3. das Saframent, die Art und Weiſe, wie man jich mit 
Gott am wirkjamjten verbunden weiß; 

4. das Lebensideal, der Lebenszwed, den man jich durch die 
Religion gejegt ſieht. 

Bedient man ſich dieſer Kriterien, jo laſſen ji) aus der 
Stammform des Chrijtenthums, aus dem urjprünglichen Ehriften- 
thum bis jeßt vier charafterijtiich verjchtedene Formen entwideln. 
Dieje find Sproßformen: eine jede entwidelt ſich aus der ihr 
unmittelbar vorausgehenden. Demnac würden die morphologischen 
GSejtalten des Chrijtentyums zu bezeichnen fein als 1. urſprüng— 
liches Chriſtenthum, 2. Satholizismus, 3. Protejtantismus, 
4. Pietismus, 5. chrijtlicher Humanismus. 

1) Das ältejte urjprüngliche Chriſtenthum umfaßt alle jene 
Erjcheinungen, die man als vorfatholiich bezeichnen fann, aljo die- 
jenigen, die zwijchen der Auferjtehung Chriſti und der erfichtlichen 
Bildung einer „katholiſchen Kirche“ liegen. Alſo die Zeit ungefähr 
von 30—150 nad Chriſto. Man pflegt jie in firchene und 
dDogmengejchichtlicher Beziehung zu trennen in die apojtoliiche und Die 
nachapojtoliiche Zeit. Dieje Trennung iſt aber vom gejchichtlichen 
Standpunft aus fraglid. Sie beruht auf dem protejtanttichen 
Borurtheil von der Mujtergiltigkeit des apoſtoliſchen Zeitalters, Die 
doch ebenjo auch dem folgenden Zeitalter eignet. Denn die meijten 
Merkmale haben beide Zeiten gemein, und die Quellen, aus welchen 
man jie erkennt: apojtolische und nachapojtoliiche Schriften ge— 
hören nach den Anfichten der gegenwärtigen Kritif zum größeren 
Theil der gleichen Zeit an. 

Die ältejte Kirche, die theilweije Schriften der jogenannten 
apojtolischen Väter, den Brief des Klemens, den Hirten Des 





fein, aus Schrift, Ueberlieferung und allen andern Mitteln, behauptet fich 
aber auch in jedem Kampf mit entgegenjtehender Wiſſenſchaft, Politik, 
Nationalität. Sie begründet eine moraliihe Ueberzeugung,. die fi in 
fittlihdem Urtheil, Handeln und Bilden äußert. Während ihr Urfprung 
meijt verborgen ift, legt fie fich deutlih dar in Gebeten und erbaulichen 
Ausfprachen jeder Art, in Dichtung und fünftlerifhen Schöpfungen, im 
Rhythmus des perjönlichen fittlihen Lebens und in Der Inneren 
Stellung des Individuums zu allen Fragen des Tales und Gewiſſens. 

ALS befonders deutliche Beijpiele deffen, was bier gemeint ift, fei 
verwiefen für den Katholizismus auf Auguftinus, Dante, Ignatius 
v. Loyola, für den Proteftantismus auf Calvin, Milton, für den 
Pietismus auf Zinzendorf, für den chriftliden Humanismus auf Binet, 
Robertſon, Kingsley. 


Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hrifilihen Religion. 31 


Hermas, die Lehre der zwölf Apojtel u. a. in ihrem Kanon 
heiliger Schriften las, hat auch feineswegs jo jcharf gejchteden. Jeden— 
fall it des Zujammengehörigen mehr als des Trennenden. 
Dieje erjte Form des Chriſtenthums iſt grundlegend. Sie 
hat vor allen jpäteren voraus, daß jie beruht auf der perjönlichen 
Belanntjchaft der eriten Jünger und Apojtel Jeſu mit ihm jelbit. Der 
Eindrud, den Jejus gemacht haben muß, jpiegelt fich für 
ung jeßt nur noch wieder in dem Glauben an ihn, den gerade 
jeine perjönlihen Schüler hatten und verfündigten. Schon der 
Glaube des Paulus jchließt ein Clement des Nefleftirten, der 
Theologie, der Schlußfolgerung aus anderen Glaubensjäßen in jich, 
der Glaube der Urapojtel allein zeigt und das, was man 
in neuerer Zeit Die „Ueberwältigung durch die Perjönlichkeit Jeſu“ 
genannt hat und was im buchjtäblichen Sinne nur da jtattfinden 
fonnte, wo man ihn perjönlich gefannt hat. In der auf jie 
folgenden Zeit hat jich einer der merfwürdigiten religiöjen Vor— 
gänge, die die Gejchichte kennt, vollzogen: die Befreundung der 
antifen Menjchheit mit den Ideen der alttejtamentlichen Welt und 
Literatur. Diefer Vorgang vollzog jich aber halb unbewußter 
Weiſe, während die Augen der eriten Gläubigen an jenem wunder: 
baren Bilde hingen, das die Apojtel der Welt vor Augen geitellt 
hatten, von Jeſus dem Menjchen und dem Gottesjohn, dem Ge— 
freuzigten und doch nach feiner Auferwedung vom Himmel her in 
verflärter Gejtalt Herrjchenden, der jeine Jünger erhebt zu Mit— 
herrjchern in einer fünftigen Welt. Die Gemeinde jener eriten 
Zeiten jieht fi) an als eine Schöpfung des heiligen Geiites. 
Der heilige Geiit, wie man ihn damals faßte, it eine übernatürliche 
Kraft, die das geſammte Seelen:, Geiſtes- und Willensleben derer, 
die er erfaßte über das gewöhnliche menjchliche Maß erhöht, ohne 
es Doch prinzipiell zu alteriren. 

Demgemäß trägt der Glaube jener eriten Zeit (die fides qua 
ereditur) das Siegel der Gewißheit in jich jelbjt. Gr bedarf 
feiner äußeren Autorität. Die heilige Schrift, die allgemein ans 
erfannt wird, ilt das alte Teftament. Aber es wird verjtanden 
und ausgelegt im Sinne dieſes heiliges Geiſtes. Es iſt Das 
Weiſſagungsbuch der Ehriftenheit und dieſe Weifjagungen legt 
der heilige Gert Chriſti aus. Die perjönliche Erinnerung an 
Ehriftus beherrſcht noch Alles. Seine Worte werden als bindendes 
Geſetz überliefert, aber erſt ganz allmählich fommt es dazu, daß 
fie Jchriftlich aufgezeichnet werden. Was wir noch weit über Die 


32 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 


eriten beiden Generationen der „Ehrijtianer” hinaus dauernd er: 
fennen fönnen, it im jittlichen und jozialen Leben jener durch— 
gehende Ernſt der Heiligung und Sittenreinheit, jene brüderliche 
Hilfleiftung und gegenjeitige Unterordnung, jene ungeheuchelte 
Demuth und Weltabgejtorbenheit, die am mächtigiten Zeugniß ab- 
legen für die außerordentliche Gewalt des perjönlichen Borbildes 
Ehrifti. Nicht mit Unrecht hat man dieſe Zeit die „der erjten 
Liebe“ genannt, wenn man dabei nicht überjehen will, daß zu 
jeder Liebe auch eine gewiſſe Einjeitigfeit, ein Haß des Fremden 
gehört. Dem entjpricht die eigenthümliche Literatur der Zeit: die 
neutejtamentlichen und nachapojtoltichen Schriften, die das reichite, 
reinjte und adeligite Neligionsbuch find, das die Welt befigt, voll 
des fühnjten und des findlichiten Glaubens, den wir fennen. Wer: 
hältnigmäßig jchnell find die einzelnen Schriften, aus denen all» 
mählich diejes Buch ſich bildete, in den gottesdienjtlichen Gebrauch 
einzelner Gemeindegruppen der jungen Chriſtenheit genommen 
worden und damit erlangten fie gleichen Rang mit dem älteren 
gottesdientlichen Buch, dem alten Tejtament, das man im All— 
gemeinen als prophetiiche WBorausdaritellung der evangelijchen 
Dinge anjab; aber nicht aus den Schriften quoll die Neligion, 
jondern die jtrömende Religion trug die Bücher und Schriften in 
die Höhe. 

Einen prinzipiellen Unterjchied zwijchen jchriftlicher und münd- 
licher Ueberlieferung giebt es noch nicht: was als Wort des Herrn 
gilt, it Gebot, man it aber weit davon entfernt, zu meinen, nur 
einige bevorzugte Berfajjer hätten dieje Orafeljprüche (logia) des 
Herrn aufzeichnen fönnen. 

Es gilt weiter die Autorität des jchriftlichen Wortes Der 
Apojtel, und die Autorität der noch im zweiten Jahrhundert auf: 
tretenden wandernden „Apojtel“ und „Propheten“ für ihre münd— 
lichen Befehle. 

So haben wir es in diejer neuen Neligion mit einer Bildung 
zu thun, die mit dem mütterlichen Schooß, der fie getragen hat, nod) 
in Direfter Verbindung steht, während doch das fie begründende 
und das in thr vorhandene perjönliche Leben etwas thatjächlich 
Anderes und Neues ilt. 

Die Injpiration diejes urjprünglichen Chriſtenthums bejteht 
in der von den Lleberlieferungen der apojtolijchen und nachapoſtoliſchen 
Zeit bezeugten Begabung mit dem „heiligen Geijt“. Dieje tritt 
ein in Folge des Glaubens, der durch die Verfündigung Der 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlichen Religion. 33 


chrijtlichen Miſſionare erwedt wird. Sie äußert jich in der Bereit: 
willigfeit zum feierlichen Bekenntniß des chrijtlichen Namens (nomen 
Christianorum. Plin. Sec. Ep. X, 97). Die Begabung mit dem 
heiligen Geiſt iſt begleitet von bejonderen meijt wunderbaren Eigen 
ihaften Einzelner: Prophetie, Zungenreden, Stranfenheilung, Erorzis- 
mus, u. j. w. — fie vermittelt Allen gleihmäßig die Neberzeugung, 
zu Gott in einem abjolut übernatürlichen VBerhältnijje der Kind» 
ſchaft zu jtehen, die man ſich als eine Adoption durch Gott gedacht 
haben muß. Die aljo Geweihten find den Einflüfjen der Dämonen 
und des Heidenthums entrüdt. Sie fühlen ſich auch in ihren intel: 
leftuellen Fähigkeiten erhöht, ebenjo wie in ihrem gejammten fitt- 
lichen Habitus und beweiſen das in der Bereitjichaft zu über- 
menjchlicher Aufopferung und außerordentlichen Leiden „um des 
Namens willen“. 

Die Intuition, die im Glauben feitgehaltene Vorſtellungs— 
welt des urjprünglichen Chriftentyums iſt außerordentlich ſchwer zu 
zeichnen, weil, abgejehen von der „paulinijchen‘ und „johanneifchen 
Theologie‘, die beide eine jinguläre und feine allgemeine Geltung 
haben, nur bruchjtücdhweije Ueberlieferungen darüber vorliegen, 
nirgend3 in einer zujammenhängenden Darftellung und weil das 
Wejentlichjte diejer Borjtellungswelt bejteht in jenen überjchwänglichen 
Hoffnungen, Ahnungen und Stimmungen, die den Hintergrund des 
perjünlichen und des gemeinjamen Lebens bildeten, naturgemäß 
aber jich aller abjichtlichen Ueberlieferung entziehen. Wir dürfen 
auch nicht hoffen, hierüber jemals ausreichend unterrichtet zu werden 
und fönnen darum die etwa vorhandenen Analogien von jpäter 
auftretenden Injpirationsgemeinden (bei Wiedertäufern, Sevennolen, 
Separatijten und Seltirern) faum benugen. Es fehlt uns die 
Möglichkeit, lebendig zu vergegenwärtigen ſowohl was die perjün- 
lihe Verfündigung der Apojtel an anjchaulicher Schilderung des 
„Herrn“ enthielt, als die konkrete Anjchauung des ganzen über: 
Ihwänglichen Stimmungsgehalts jener Generationen, die das 
Wunderbarjte und NAußerordentlichjte täglich zu erleben glaubten. 
Doc läßt fich vielleicht der Unterjchied der religiöfen Glaubenswelt 
des urjprünglichen Chriſtenthums von der Jeſu jelbjt an— 
nähernd bezeichnen. Ber Iejus jelbjt die wundervoll einfachen 
Anjhauungen des alten Tejtaments, verflärt durch das, was jein 
eigenjter Beſitz war, durch die Ueberzeugung von dem Vatergott 
und die Gewißheit, dab Alles, was in der heimischen Religion nod) 
Verheigung war, durch ihn jelbjt fich erfüllen werde — eine über 

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 3 


34 Die wiffenjhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlihen Religion. 


alie Theologie und Schultradition hinaus gehobene, im Aether 
eined ganz und gar volfsthümlichen, bildlichen, anjchaulichen Bor: 
itellens und Denkens jchwebende fonfrete Gejtaltenwelt — während 
der „Glaube an ihn‘ jofort einige Säße feititellt, die gegen Wider: 
jpruch und Mißdeutung vertheidigt, begründet und befejtigt werden 
müfjen. Dieje Behauptungen drüden das veränderte Verhältnik 
aus, in dem die Chriſten jich fühlten zu der jüdiſchen Glaubens: 
welt, aus der fie im MUebrigen jich erit langjam herauswinden. 
Da it erjtens das Kreuz: der gewaltjame Tod und die ıhm 
folgende Auferjtehung des Meſſiaskönigs bilden ein die ganze ſeit— 
herige Weltgejchichte ſozuſagen durchkreuzendes Faktum, das auf 
göttlicher Beranjtaltung beruht, eine Heilsthatjache (nach dem Sprad)- 
gebrauch diejes modernen Wortes); 2) Die Wiederkunft diejes Chriftus 
zum allgemeinen Weltgericht und zur Aufrichtung jeines Reiches 
auf Erden jteht noch bevor; 3) Die gegenwärtige Weltzeit, jo kurz 
jie auch noc) dauern mag, jteht unter der Herrichaft der Dämonen, 
die die Kraft des Heidenthums bilden, jeder Steg über jie arbeitet 
dem endlichen Triumph des Neiches Chriſti vor. Das thut bejonders 
die Berfündigung von dem auferjtandenen Sohne Gottes durd) 
die von ihm jelber ausgerüfteten Sendboten, die Mijjion. 
Hiermit hat die aus dem Kreije der jüdischen Religion jtammende 
Weltanjchauung der erjten Ehrijten ein Element des Dramattjchen 
und des Gejchichtlichen in fich aufgenommen, das ihre ganze zu: 
künftige Entwidlung bejtimmen wird. Im Mittelpunfte des Kampfes 
zwijchen Gott einerjeitS und dem dämonijchen Reiche anderer: 
ſeits jteht der gejchichtliche Jejus von Nazareth in der völlig über: 
natürlichen Würde eines Sohnes Gottes. In ihm ift in menjd: 
licher Gejtalt ein göttliches Weſen erjchienen, jei es der vorher im 
Himmel befindliche Chriſtus, jei es der Gott Logos ſelbſt. Die 
Welt, um deren Palingeneſie es jich handelt, it einjt durch ihn 
in jeiner göttlichen Stellung gejchaffen worden, er hat ihre Ent- 
wiclung geleitet, er jegt ihr auch das Ziel. Die Erjtlinge der 
fünftigen durch ihn einzurichtenden gereinigten und verflärten Welt 
Jind jeine Gläubigen, die Bürger eines himmlischen Gottesreiches. 
Als das Saframent des urjprünglichen Chrijtentyums, als 
das, wodurch die lebendige Verbindung zwijchen Gott und Menjchen 
hergejtellt wird, ijt zu bezeichnen die Verſammlung der Gläubigen 
(Heiligen, ecclesia, wörtlich berufene Volfsverfammlung der Voll: 
bürger). Wo dieje Verſammlung iſt und wären auch nur drei „in 
dem Namen‘ Jeſu verjammelt, da iſt in ihrer Mitte der „Herr“ 


Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 35 


wirfjam mit feinem Geiſte. Die Verjammlung vollzieht die „Er: 
bauung eines heiligen Tempels“, in dem die Gottheit wohnt, in 
ihrer „Dankjagungsfeier‘ knüpft jie denjelben innigen Bund mit 
Gott, wie ihn Iſrael in feiner jährlichen Pafjahfeier ſtets neu be— 
jtätigte, jtellt fie ji) dar als der Anfang eines neuen und ewigen 
Gottesvolfes. Das Wichtigjte, was in diefer Verſammlung vorgeht, 
ijt nicht der einzelne Ritus, den man vollzieht (als bevorzugte 
Niten bilden fi) aus Taufe und Herrnmahlzeit), jondern die Ver: 
einigung der Ehrijtusjünger, wie und wo fie jtattfindet, it ein 
Gegenjtand des göttlichen Wohlgefallens, jie bildet den eigentlichen 
Augapfel Gottes,*) das Lieblingsaugenmerf der Vorjehung. 

Der Lebenszwed der Gläubigen des urjprünglichen Chrijten- 
thums ijt die perjönliche Vollendung zu Bürgern des fommenden 
Gottesreichs, die aftive Heiligung. Nicht bloß die rituelle pajfive 
Heiligung, mit der jich Judenthum und Heidenthum begnügten. Gie 
beiteht in der Hingabe des ganzen Menjchen an den Willen Gottes. 
Darunter ijt verftanden jowohl der religiöje Berfehr mit Gott im 
Gebet, vor Allem im gemeinjammen Gebet, als auch die Unter: 
ordnung aller Yebenspflichten unter die Zugehörigkeit zur Gemein— 
ichaft, nämlich die Umgejtaltung aller bejtehenden Berhältnifje des 
Individuums in Ehe, Familienleben, Kindererziehung, Freund: 
ichaft, Gejelligfeit, Erwerb, Verkehr, Handel, Dienſt und bürgerlicher 
Stellung in diefem Sinne Was hierin die Gemeinschaft hindert, 
ijt nicht als Inſtitution zu bejeitigen, aber von dem Gläubigen 
perjönlich völlig zu meiden. 

Sodann aber gehört zur Vollendung der Heiligung die be— 
jondere Hingabe Einzelner und zwar nicht Weniger an Gott in 
einem der Mijfionsberufe, die alleın Gott dienen: als Apojtel, 
Prophet, Wunderthäter oder in einem Gott in der Gemeinde be- 
jonders dienenden Stand ala Lehrer, Aufjeher, Aelteſter, Diener, 
als Wittwe oder jungfräulicher Asfet. (Dies iſt die eigentliche 
„Nachfolge Ehrijti“.) 

Neben diefem bejonderen Xebensopfer an Gott wird allen 
Chrijten zur Pflicht gemacht die Uebung jener Tugenden, durch 
die man Chriſto prinzipiell, nicht perjönlich gleichförmig wird: der 
Geduld im Leiden, der Freigebigfeit und Mittheilſamkeit, der Ber: 
Jöhnlichkeit, des Verzichtes auf perjönliche Nechte, der thätigen 


») Diefer Deuteron. 32 entnommene Ausdrud it m. W. nicht in Der 
älteften Zeit verwendet worden, fondern nur bier zur Berdeutlihung 
gebraudt. 


3* 


36 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 


eindesliebe, des Gehorjams gegen die Obrigkeit. Die jpezifiich 
chrijtliche Ethik ift die Uebung der von Chriſto vorgejchriebenen 
und geübten Tugenden zu jeiner Ehre und zu feinem Dienſt, aljo 
als Fortjegung feines Wandels auf Erden. Die Menfchenliebe, 
wie Chriſtus fie jelbjt geübt hat, verwandelt fich damit in Chriſtus— 
liebe, in Ehrijtusnachahmung. 

Diejes Chriſtenthum war eine neue Religion und hatte jich 
zu behaupten neben anderen fonfurrirenden Religionen, außer dem 
Sudenthum, neben der weit verbreiteten ſynkretiſtiſchen Religion 
des Gnoftizismus und neben dem Stoizismus. 

Sein fundamental Neues läßt jich in die wenigen Worte faſſen: 
1. Ehriftus, Den eine ausreichende Ueberlieferung als wirkliche 
gejchichtliche Perjönlichfeit beglaubigte, it ein Menſch, der in gött- 
licher Weiſe gewirkt hat und fich nun in göttlicher Stellung befindet. 
So ijter das Hauptobjeft des Glaubens. Der Glaube beiteht 
darin, daß man feine Wunder anerkennt und ihn allein als den 
Zugang zu Gott verehrt. Hierin wurzelt das ganze Dogmen- 
ſyſtem der Kirche, dejjen Mittelpunkt die Gottheit Chrijti iſt. 
2. Die neue Aufgabe jittlich religiöjer Art, die den Menjchen 
erwächjt, it die Seeljorge, die Sorge für den einzelnen Menjchen, 
daß er zum Heil gelange. Wie hieraus die ganze neue hriitliche 
Ethik erwächit, jo die neue Würdigung der menschlichen Berjönlichkeit 
überhaupt. 3. Das „Saframent der Gemeinjchaft“, die Uebung 
heiliger Handlungen, hat die Aufgabe, als Unterpfand ein fünftiges 
Leben zu verbürgen. Hieraus it die ganze Liturgie der Kirche 
erwachjen, einjchlieglic) der Nemter, die zu ihrem Vollzug noth- 
wendig jind, aljo die Kirchenverfajjung. Diejes gejchichtlich Neue 
im Chriſtenthum hängt überall, wie ji) von jelbjt verjteht, mit 
Worten und Abjichten Jeſu zujammen, bildet aber eine neue 
eigenartige Religionsjtufe. — 

Es wird wohl niemals gelingen, vollitändig alle Einzelheiten 
ihrer Bildung zu erflären. Aber nicht in dem, was unerflärt 
bleibt, nicht im Geheimniß ruht ihr Werth, jondern in dem, was 
jie von Iejus bewahrt als Offenbarung jeines Wejens. 

Ihr Werth bejteht darin, daß das, was Jeſus perjönlich war, 
und was er brachte, hier eine unendlich entwidelungsfähige Form ges 
funden hat, in der es in der Welt und Gejchichte eine neue Zeit 
heraufführen mußte. — 

2) Die erjte Form, die ſich aus dem urjprünglichen Ehrijtentyum 
entwidelt, nicht mit einer inneren organijchen Nothwendigfeit, jondern 


Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlihen Religion. 37 


unter dem Einfluß zwingender äußerer VBerhältnijje, die natürlich 
hier nicht erörtert werden fünnen, it der Katholizismus, die 
chrijtliche Religion unterm vorwaltenden Gefichtspunft der Kirche. 
Die Hauptformen de3 Katholizismus dürften fein: der Alt— 
fatholizismus (Kirche vollfommen unabhängig vom Staat in 
einem gegen die Kirche gleichgiltigen oder feindlichen Staat), 
Katholizismus als römische Reichs- oder als Staatsfirdhe, 
mittelalterlicher, römijc = abendländifcher Katholizismus, 
Nationalfatholizismus, (griechiicher, ruffischer, gallifanijcher, 
anglifanijcher) moderner Bapismus. Es handelt fich Hier um das 
allen Ddiejen Formen Gemeinjame, um den Artbegriff des 
Katholizismus. Es ijt: Glaube an die Kirche als von Gott 
geitiftete Heilsanitalt. 

SeineÖrundlage ward bereits gelegt im urjprünglichen Chriſten— 
tum. Aber dort ruht das ganze religiöfe Syftem auf der Gewiß— 
heit des Heilsbejiges, man fommt nicht durch die Kirche zum 
Heil, hier zielt Alles auf Heilserlangung. Der Befit des Heiles 
verfündigt ſich im heiligen Geil. Die Heilserlangung wird ver- 
bürgt durch Heilsgarantien. 

Das „Syitem der Heilsgarantien“ ist der Katholizismus. Sein 
tragender Pfeiler ijt die von Gott gegründete priejterliche Amts: 
genojjenjchaft. 

Die Entjtehung diejer das Heil vermittelnden Träger fultijcher 
Aemter aus den Ordnungen der Urgemeinde bildet ein noch nicht 
gelöftes Problem gejchichtlicher Forfhung. Aber feine Löſung darf 
erhofft werden von der wirflichen Ergründnng der religiöfen Be— 
wegungen jener Zeit. 

Bon Injpiration fann im Katholizismus nur mit einer 
gewifjen Zurüdhaltung gejprochen werden. Denn die in ihm vor— 
bandene Gewißheit des Heiles beruht nicht auf perjönlicher Er- 
leuchtung, jondern auf dem Vertrauen auf die Autorität. Nämlich 
auf die Autorität der bijchöflichen Nachfolger der Apoftel. Sie 
vermitteln den direften äußeren Zuſammenhang mit Chrijtus. Der 
Episfopat ijt die Fortjegung des Dienjtes Chrijti auf Erden, den 
zuerjt die Apojtel leiſteten. Wer fich ihm unterwirft, Huldigt Chrifto. 
Der Glaube it aljo gehorjame Unterwerfung unter die Kirche 
als göttliche Stiftung. 

Dieje Stiftung ruht auf folgenden Stüßen: auf dem Kanon 
apoſtoliſcher Schriften; auf der Glaubensregel, als deren authentijcher 
Auslegung; auf dem bijchöflichen Amt als dem Depojitorium der 


38 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefchichte der chriſtlichen Religion. 


überlieferten Wahrheit. Dieje unzerreißbare Kette von Heil 
bedingungen bildet die gewaltige Stärfe der Kirche, die allen 
im vollen Sinne des Wortes „Kirche“ it und fich zu ber 
großartigjten. jozialen Schöpfung ausgewachlen hat, Die die 
Gejchichte fennt. Sie ift etwas Anderes wie die apoſtoliſche 
„Berjammlung“. 

Sie hat den Lebensabend der hinjterbenden antifen Welt mıt 
einem milden Schein verflärt, fie hat ihre koſtbarſten Kulturgüter 
für die Nachwelt gerettet, fie hat dann die fräftigjten Völker und 
Stämme der neueren Gejchichte: Germanen, Romanen, Slaven 
erzogen und unterwiejen, als die große Mutter aller neueren 
Zivilifation. Daß nicht ein politijches Neich, fondern ein geiſtliches 
Reich die erite umfaſſende Gemeinjchaft war, in die dieſe Völker 
halb mit Scheu, halb mit Liebe eintraten im Beginn des Mittel: 
alters, it von größter Bedeutung für ihre Zukunft geworden. 
Niemals können dieſe jungen europätjichen Nationen (das find je 
im Vergleich mit den früheren Einwohnern) e3 verleugnen, daß 
über ihrer Wiege vom achten bis elften Jahrhundert der chriftlihe 
Weihnachtsgefang der Kirche erflungen it, der fie zu einem höheren 
als bloß irdiſchen Dajein weihte. Die größte Leitung des Katholi 
zismus iſt Die durch viele Jahrhunderte fich eritredende Ausbildung 
jener zujammenhängenden Weltanſchauung, die die biblichen 
Religionsideen mit der antifen Wijjenjchaft und Philojophie und 
mit den halb chriftlich asketiſchen, halb heidnijch-germanijchen Lebens— 
idealen zu einem Ganzen verbindet, das auch heute der europätichen 
Kulturarbeit zu Grunde liegt und insbejondere unjer ganze 
äfthetiiches Empfinden, unjere Phantajiewelt beherrſcht. Nicht nur 
Dogma, Liturgie und Kirchenverfafjung, jondern auch „Diesjeits“ 
und „Jenſeits“, unjere Logik und unjere Ethif hat ung der 
Katholizismus gegeben, unjere Bolitif jtammt von ihm. Aus der 
Antike ſtammt fein Gottes: und jein Weltbegriff, weniger aus der 
Bibel. Beides wirft tief hinein in die kirchliche Praris. Gott üt 
der abjolut über die Welt erhabene Geiſt, jtreng übernatürlid 
gedacht und unnahbar. Er offenbart jich in abgejtufter Weiſe ım 
Sohn. und Geift. Der Batergott des erjten Chriſtenthums ver 
wandelt ſich in den dreieinigen, aber in diejer Verwandlung bewahrt 
er unter völlig veränderten Verhältniſſen des begrifflichen Denten: 
jeinen tiefiten Charakter, den jittlichen. Denn die Beziehungen 
der drei Perjonen des göttlichen Wejens untereinander jtellen eine 
Art von ſittlichem Verhältnig dar und jichern dem chrijtlichen 


Die wiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 89 


Gottesbegriff die Erhabenheit über Heidentyum und Judenthum, 
über Bolytbeismus und Pantheismus. 

Der antife Kosmos, das Kunjtwerf ordnender Vernunft wird 
nun zur Schöpfung, zum freien Gebilde eines liebevoll ent: 
werjenden Geijtes, das, aus den Händen des Meijters entlajjen, 
jeine eigenjtändige Entwidelung nimmt nach eingeborenen Gejeßen. 
Aber diefe Welt ift nur ein Proviforium. Sie geht einer Um: 
wandlung entgegen und einer Vollendung. Die religiöfe Zukunfts— 
hoffnung des urjprünglichen Chrijtenthums jegt ſich um in den 
neuen Gedanfen der jenjeitigen Welt, des „Himmels“. Und 
das Chriſtenthum it jenes „Prinzip des Fortſchrittes“, das bewirkt, 
daß die ganze irdijche Welt, das Diesjeits, dieſem Ziele entgegengeht. 

Die Entwidelung der Frömmigfeit wird damit die eigentliche 
Unruhe in der Uhr der „Weltgejchichte*. Es würde zu weit führen, 
wollte man darauf hinwetjen, wie jehr alle abendländijche Meta- 
phyjif und Myſtik, Ethif und Politik, Kunft und Technik mit diejem 
religiöjfen Grundgedanken zujammenhängt, die eine höchjt mannig— 
faltige, wijjenjchaftliche Ausprägung zulajjen. Die Welt, in der 
der fatholijche Glaube jich, bewegt, ijt eine vernünftige, rationell be- 
greifliche Welt: Glaube und Wiſſen jind hier jo verjühnt, daß fie 
jic) gegenjeitig aushelfen können. 

Als das Saframent des Katholizismus dürfte in dieſem 
Zufammenhange, wo es jich nicht um jein eigenes Dogma, jondern 
vielmehr um rein objektive gejchichtliche Betrachtung des thatjächlich 
Borhandenen handelt, wohl am richtigiten das Prieſterthum be- 
zeichnet werden. Sein Urjprung ift dunfel. Es jcheint, daß aus dem 
Bedürfniſſe, die;heiligen Handlungen der Ehrijtenheit, das gemeinjame 
Gebet u. j. w. richtig vollzogen zu jehen, die Ausjonderung von 
bevollmächtigten Kultusperjonen ſich entwidelt hat und deren hervor: 
ragende Stellung hat dann wieder ihre Verrichtung gehoben und 
mit dem Charafter des Heilvermittelnden gejtempelt.*) Aus diejen 
Anfängen aber hat ſich dann jenes Syitem von Hultushandlungen 
entwidelt, das man in feiner höchiten Vollendung als die fichtbare 
und fühlbare Weltherrſchaft des eucharijtiichen (in der 
Eucharijtie wirfjam gegenwärtigen) Chrijtus bezeichnen fann, als 
die Gegenwart des Himmels auf Erden. 


*) Nach diefer Bermuthung wäre nit da8 Opfer, fondern das Saframent, 
das Bedürfnig nad wirkſamer Gemeinfhaft mit Gott der Anlaß jur eigen» 
thümlichen Geftaltung des Gottesdienftes und zur Ausbildung eines chriſtlichen 
Prieſterthums gemejen. 


40 Die wiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Kriftlihen Religion. 


In diejer Gewißheit, jederzeit die volle Kraft der himmlischen 
Dinge zur Verfügung für ſich zu haben, wurzelt die unausiprech- 
liche Sicherheit, Freudigkeit und ZJuverfichlichkeit des echten Katho— 
lizismus, jeine befriedigt in jich jelbjt ruhende Wiljenjchaft, Kunit 
und Politik. Daher jtammt die feierliche Pracht jeines Gottes- 
dienites, das jelige Genügen, das jeiner Malerei und Mufif inne: 
wohnt. Der im Katholizismus fejtgehaltene Lebenszweck ijt Die 
Vorbereitung der Gläubigen im DiesjeitS auf das Jenjeits. Aber 
dabei giebt es verjchiedene Stufen der Neligiojität, auf denen das 
Jenſeits jchon vorweggenommen wird im Diesjeitt. Das 
fontemplative Leben der Andacht, des religiöjen Denfens, Des 
Gebetes, der Myitif, das höher jteht al8 das thätige Zeben und 
des Leben der ganz dem himmlischen Beruf gewidmeten Mönche 
(Nonnen) öffnen den höher Strebenden jowohl im Neligiöjen wie 
im Sittlihen eine freie Bahn der eigentlichen chrijtlichen Boll: 
fommenheit. Und eben darum, weil jie allen Bedürfnifjen gerecht 
wird, weil jie neben dem Marimum religiögsfittlicher Letijtung, das 
jie prämiirt, auch ein recht bejcheidenes Mınimum noch anerfennt 
und gelten läßt, it diefe Religion zur Erziehung unreifer Völker, 
zur Disziplinirung der Mafjen am meijten geeignet. Sie ijt eine 
patriarchalifche Religion. Sie iſt die geborene Weltpädagogin und 
fie wird diefen Ruhm noch Jahrhunderte lang über die Zeit hinaus 
behaupten, wo jie wirklich noch neue Bölfergruppen erzieht. Sie 
hat ſich behauptet inmitten feindlicher Religionen: Neuplatonismus, 
Islam, keltiſchem, germanijchem, ſlaviſchem Heidenthum, ketzeriſchem 
Dualismus und PBantheismus im Mittelalter und gegen die ge: 
waltige Stonfurrenzreligion, die mit dem PBrotejtantismus wider 
fie aufgetreten find. Welche Ahnenreihe, wenn man nur die aller- 
größten Vertreter des Katholizismus aufführt: Ignatius von 
Antiochien, Irenäus, Eyprian, Leo der Große, Chryjojtomus, 
Ambrofius, Augustinus, Gregor der Große, Photios, Karl der Große, 
Gregor VII. Thomasvon Aquino, Dante, Ignatius von Loyola, Bofjuet, 
Benedikt XIV., Möhler, Döllinger, Newman, Pius IX.! Daß alle 
dieje unter fich jo verjchiedenen Geilter in der angedeuteten Grund: 
anjchauung übereinjtimmen, in Diejem gejchichtlihen Sinne 
Katholiken find, dürfte nicht bejtritten werden. — 

3) Der Protejtantismus it in jeiner Entjtehung von allen 
Punkten abhängig vom Katholizismus. Er jett jich zu ihm darum 
nur in einen relativen, nicht in einen abjoluten Gegenſatz. Kirche, 
Dogma, jenjeitiger Lebenszweck werden auch von ihm fejtgehalten. 


Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chrifilihen Religion. 41 


Er tritt zwar mit dem Anjpruche auf, das Urchriſtenthum zu er: 
neuern, aber er hat doch nur mit einer jehr wejentlichen Ausnahme 
(der urjprünglichen Reformationsbewegung) den Altkatholizismus 
erneut und ijt dann allerdings durch den Zwang der gejchichtlichen 
Lage in ganz andere Bahnen geführt worden. Auch er zerfällt in 
eine ganze Reihe von Unterarten: deutjch-lutherijcher, jchweizerijcher, 
franzöfiichscalvinischer Protejtantismus, bijchöflicher (anglifanijcher, 
ſtandinaviſcher), orthodorer, aufgeflärter Protejtantismus. 

Die jehr wichtigen Unterjchiede aller diejer Formen bleiben 
hier außer Betracht. Der Name Protejtantismus wird oft bean: 
jtandet, weil er nur eine Negation auszudrüden jcheint, während 
dieſe Bewegung jelbjt, obwohl ſie eine fritifche iſt, doch jehr pojitive 
Wurzeln und Ziele hat. Wogegen jie protejtirt, das ijt nicht Die 
Kirche, jondern die Katholizität. Es fommt ihr nicht mehr an auf 
das allgemeine, einheitliche, die ganze Welt beherrjchende Chriſten— 
thum, jondern auf das wahre Chrijtenthum, gleichviel ob es ſich 
bei Wenigen oder bei Bielen findet. Gleichwohl hat der 
Proteftantismus etwas weniger Beitimmtes an jih. Es giebt in 
ihm viel mehr Uebergangsformen, halbe Formen. Er fann darum 
auch unter der Hülle eines anderen Kirchenthums regieren und er 
bedarf zu jeiner Durchführung nicht mehr allein des Kirchenthums. 
Protejtanten innerhalb des Katholizismus waren vielleicht ein 
Arnold von Brescia, Abälard, Dccam, die aufgeklärten Statholifen 
an der Wende dieſes Jahrhunderts, wie Dalberg, Wejjenberg u. A. 
und innerhalb des äußeren Rahmens des Protejtantismus leben 
und bewegen fich, meift unangefochten, alle anderen formen chrijt- 
(icher Religion. Das fommt von den gejchichtlichen Urjprüngen 
des Protejtantismus, der zujammentraf mit der Epoche einer neuen 
Weltentdedung, einer neuen Bildung und einer Sonjolidirung 
nationaler Staaten. Der Protejtantismus iſt nicht bloß Kirchen 
form, jondern ebenjo Kulturform, vor allem Staatsform. Die 
Injpiration des Protejtantismus iſt der perjünliche Glaube an 
die göttliche Heilsoffenbarung. Der Einzelne gelangt zu Gott nur 
durch eigenen Glauben. Diejer it conditio sine qua non. 
Verworfen wird darum die fides implieita, die gläubige Unter: 
werfung unter Alles, was die Kirche lehren mag. Er erfennt nur 
an die fides salvifica, den erlöjenden, rechtfertigenden Glauben. 
Diejer Glaube ijt eine Gabe der Gnade, aber er iſt auch ein Werf 
des Menjchen. Er ift die höchjte von den Menjchen verlangte und 
von Gott gewirkte Leitung. In dieſem Glauben jpricht jich aus 


42 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 


das lleberwundenjein des Chriſten von der ihm entgegenfommenden 
Gnade, jein unbedingtes Zutrauen auf jie. Alles was man im 
Brotejtantismus Myſtik nennen fann, liegt in dieſem Akt Des 
Glaubens. Denn er iſt feine momentane Injpiration. Er ijt ein 
geheimnigvoller, aber an bejtimmte göttliche Organe gefnüpfter 
zujammengejegter Borgang. Er ijt fein Einswerden mit Gott, fein 
Emporgerafftwerden zu Gott, vielmehr könnte man ihn nennen 
ein großes Aufthun des inneren Gefichtes, dadurch) man nun 
Gottes Offenbarung erfennt. Der Tiefe diejes Vorganges entjpricht 
jein wejentlicher Inhalt: Chrijtus. Diejer, wie die Bibel ihn 
zeigt, iſt die gejchichtliche Perjönlichkeit, in der Gott ſich erjchliept. 
Sein Bild als das des „Gottverſöhners“ macht eigentlich den wejent: 
lichen Inhalt der Bibel aus. 

Der Katholizismus hat zwar die „Bibel“ gejchaffen und hat 
ihr den Weg geöffnet, aber er fonnte jie in ihrem tiefiten Sinne 
nicht verjtehen, weil er jie, jeiner in der Antife wurzelnden Welt: 
anjchauung nach, jozujagen als eine Topographie der Kirche, 
ihrer Lehre und ihrer Heiligthümer anjah; dem Brotejtantismus 
dagegen hat die Bibel die Bedeutung einer Photographie des 
ji) offenbarenden Gottes. Glaube, Ehrijtus und Bibel 
jind jeine drei Stüßen. 

Man darf die Annäherung dieſes Standpunfte8® an den Des 
Urchriſtenthums nicht überjchägen. Denn im Protejtantismus tit 
alle göttliche Erleuchtung bejchränft auf den Inhalt der Bibel. 
Der heilige Geiſt legt nur die Bibel aus. 

Im Urchriſtenthum dagegen hat der heilige Geijt eine durchaus 
jelbjtändige Bedeutung. Der Brotejtantismus macht allem ‚Propheten 
thum‘ ein prinzipielle Ende, das doch noch im Katholizismus jeine 
Stätte fand. Die Bedeutung des proteftantiichen Bibelglaubens mißt 
man am bejten im Bergleich mit dem Stirchenglauben. Beide Male 
wird an eine Autorität geglaubt. Aber die Bibel iſt eine redende, eine 
ſich jofort ausjprechende, aljo eine lebendige Autorität, jie tt 
perjönlihes Wort des „perjönlichen Gottes", während Die 
Ktirchenautorität eine unter Umjtänden blinden Gehorjam fordernde 
Macht, eine injtitutionelle Autorität it. 

Die religiöje Vorjtellungswelt des Wrotejtantismus iſt 
urjprünglich die gleiche wie im Katholizismus. Gefliſſentlich hat 
man das trinitarische, das chrijtologiische Dogma mit allen 
Ktonjequenzen übernommen. Ebenſo die Vorjtellung von Welt, von 
Diesjeits und Jenſeits. Dennoch modifizirt fich jehr bald durch 


Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 48 


die veränderte Würdigung der Erfenntnigquellen des Glaubens 
auch die religiöje Gedanfenwelt; das jeitherige Syitem, das 
einheitliche Weltbild zerbricht. Denn Alles, auch das Dogma unter: 
wirft man der Kritik durch die Bibel. Und dadurch ändern 
ſich Gottesbegriff, Weltbegriff und alle Werthbegriffe. 

Iſt die Bibel Gottes Wort, ift fie der fich über ſich ſelbſt aus— 
iprechende Gott, dann tit der aljo ſich offenbarende Gott Geiit, 
Wille, That in ganz anderem Grade wie jeither. Seine Macht 
und Größe, jein abjtraftes Wejen tritt zurüd hinter jeinem 
fonfreten Willen. Gerade ın dem prädejtinatianijchen Determinismus 
der Reformationgzeit erjcheint die Gottheit als Wille, aber nicht 
als blinder Machtwille, jondern als barmberziger, unmwider: 
jtehlicher Heilswille. Diejer Wille jtimmt nicht überall mit der 
Vernunft. Er iſt überrationell, geheimnigvoll. Die Natur tritt 
vor dem Auge des Protejtantismus zunächſt zurüd. Sie iſt nur 
Schauplag göttlicher Thaten, nicht Medium göttliger Enthüllung. 
An ihr interefjirt nur noch die Ordnung, die Gleichmäßigfeit, das 
Geſetz. So liegt im Protejtantismus ein Zug zum Spiritualismusg, 
zum Idealismus, aber auch zur Annahme der Srrationalität der Welt. 
An der Stelle, wo im Katholizismus die Kirche jteht, jteht bier 
Chriſtus. Alle Theologie wird zur Ehrijtologie. Die Nöthigung, 
das alles zu vertheidigen, führt zur Wijjenjchaft der Philologie. So 
liegt ein Zug zur Sritif, auch zum Nationalismus in der 
Stimmung des Protejtantismus, andererjeitS aber liegt ihm viel 
mehr an der Trennung der Bibelwiljenjchaft von aller andern 
Wiſſenſchaft, an der Trennung von Glauben und Willen ald an 
ihrer Verföhnung. Darum fann der Protejtantismus auch eine 
jelbjtändige Wijjenjchaft neben fich dulden, jowie er jelbjtändige 
nationale Ausprägungen des Chriſtenthums dulden fann. 

As das Saframent des Protejtantismus ijt zu bezeichnen 
die Bibel. Wermitteljt ihrer allen wird Gott gefunden, erfannt. 
Sie ijt der Wort gewordene Gott, der allgegenwärtige Gott Jedem, 
der lejen oder hören fann. Die Bibel legt ich jelber aus, jie 
bedarf feines bejonderen Lehrſtandes. Trotzdem nehmen die von 
der Gemeinde berufenen Ausleger der Bibel, die Prediger, eine 
Ausnahmejtellung ein. Im rationalitischen Protejtantismus wird 
geradezu die Predigt, die erbauliche oder aufflärende Rede das 
Saframent. Erſt durch den Protejtantismus hat die Bibel ihre 
heutige geifterbeherrjchende Ztellung erhalten. Die Bibel als 
Buch ruft von jelbjt die Schule hervor, die Schule die Bildung, 


44 Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der chriſtlichen Religion. 


die Bildung die geijtige Befreiung auch der niederen Volksklaſſen. 
Es wäre unerflärlih, woher im Protejtantismus, der jich Doc 
Anfangs überall verbunden zeigt mit einer mehr oder weniger ab- 
joluten Monarchie oder mit der Ariftofratie ein jo gewaltiger Zug 
zur Befreiung des niederen Volks gefommen ijt, wenn nicht auf 
diefem Weg. Die Bibel hat die Individuen freigemadt. Der 
Lebensz;wed im Protejtantismus jcheint zunächit der gleiche wie 
im Katholizismus: Grlangung der Seligfeit im Jenſeits durch Die 
Führung im Diesjeits. 

Aber jeiner aftiven und nicht fontemplativen Art nach, jeiner 
fritiichen und nicht gefügigen, jeiner willenshaften und nicht phantafte- 
vollen Art nach verzichtet der Protejtantismus auf jede Vorweg— 
nahme des Jenſeits im Diesjeits. Das wejentliche Mittel, um Die 
Seligfeit zu erlangen, ijt das Befenntniß des Glaubens auf Grund der 
errungenen Erfenntniß, ein Befenntnig mit Wort und That. Dieje 
Forderung gilt für Alle gleich. Es giebt fein privilegirtes Chriſten— 
thum mehr (Klerifat) und Fein höherwertiges (Mönchthum). Die 
Erfüllung aller Pflichten gilt gleich, wenn fie im gleihem Sinn 
und Geiſt des Gottvertrauens geübt werden. Damit tritt das 
natürliche Leben des Volkes in allen feinen Beziehungen in den 
Vordergrund. Zum eriten Mal jenkt jich jo die volle Weihe der Ne- 
ligion auf das gejammte sirdiiche Tagewerf des Menjchen. Der 
Fluch der Arbeit verwandelt jich für ihn in Segen und unter 
diejem Segen erwächjt der fühne Glaube, daß es nirgends mehr 
auf das Was des menjchlichen Thuns anfomme, jondern nur auf 
das Wie? Die Bejeitigung von Hierarchie und Mönchthum entwerthet 
das firchliche Leben überhaupt und das politische Leben tritt an 
jeine Stelle. Der Protejtantismus wird Nationalreligion, er wird 
in Norddeutjchland, Skandinavien, Holland, Schottland National: 
charafter. Nur vorübergehend hat der Calvinismus eine internationale 
Belenntnißficche gründen fünnen, jein eigenjtes Wejen hat der 
Protejtantismus in gejchlojienen Nationalfirchen gezeigt. Er um: 
fleidet die politifchen Pflichten mit religiöjer Weihe. Die Unter: 
thanentreue ift nur eine Seite der Gottesfurdht. Dabei gejtaltet 
jich der Begriff der Kirche im Lutherthum, im Galvinismus ganz 
verjchteden: gemeinjam iſt allen Richtungen, daß man nicht durch 
die Stirche zum Glauben fommt, jondern durch den Glauben zur 
Kirche. Denn auch die lutheriſche Lehre von der Taufgnade jest 
doch einen Keim perjönlichen Glaubens voraus. Der erite aus: 
geprägte Protejtantismus tritt auf in Wiclif, während man mit 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 45 


Unrecht die noch auf dem Standpunkt fatholischer Weltanjchauung 
verharrenden Seftenfirchen, Gegenfirchen: Waldenjer u. U. als 
Borläufer des Protejtantismus bezeichnet. 

Der religiöje Protejtantismus, jo wie er im jiebzehnten Jahr: 
hundert um jein Yeben focht, erijtirt nicht mehr; auch im Dogma, 
auch in der Stirchenform hat er die eingreifenditen Wandlungen erlebt. 
Dennod) lebt der Projtantismus fort ala Gefinnung, als Bibelglaube, 
als Nationalreligion. als politische Religion, als wijlenjchaftliche 
und technijche Triebfraft. Er iſt das Ethos und Pathos der 
germanijichen Bölfer geworden, der Deutjchen und Angeljachjen. 
Aber deren eigentlich religiöjes Leben hat längjt noch andere 
Elemente in jich entwidelt. Was man heute Protejtantismus nennt, 
iſt nicht mehr ein gejchlojlienes religiöjes Syitem, jondern ein 
fomplizirtes gejchichtliches Gebilde, nur zum Theil „protejtantijchen“ 
Urjprunges. — 

4) Biel jchwieriger als die Abgrenzung des Protejtantismus dürfte 
die des Pietismus fein. Diejer Name hat ſich bei uns eingebürgert 
für eine bejtimmte einzelne Erjcheinung des deutjchen Lutherthums: 
für die Spener— rande— Zinzendorfiiche Bewegung. Aber man 
hat ihn hie und da auch in einem weiteren Sinne gebraucht, mit 
um jo größerem Recht, als es fich gezeigt hat, daß jene lutherijche 
Bewegung zuerit ihre Vorbilder im reformirten Gebiet gehabt hat 
und als eben jene Vorläufer ihren Stammbaum wieder auf ältere 
Vorgänger mitten in der fatholijchen Kirchenzeit zurüdgeführt haben. 
Der Pietismus ijt nächſt dem Mönchtum die erjte religiöje Be: 
wegung in der Ehrijtenheit, die für fich um ihres inneren Gehaltes 
willen die Anerkennung der offiziellen Stirche gefordert hat, die erjte 
Bewegung, die den nur relativen Werth alles Kirchenwejens be— 
hauptet hat. Man wird darum jprechen dürfen von einem noch) 
unvollfommenen PBietismus. Diejer tritt vielleicht jchon im Monta— 
nismus auf, dann im Mönchthum. Schon beinahe entwidelt 
pietijtiiche Züge zeigt das reformirte abendländijche Mönchthum, 
bejonders das des Bernhard von Clairvaur. Aber auch Suſo, Tauler 
und die Gottesfreunde, wie nicht minder Savonarola gehören hierhin. 
Pietiſtiſche Kirchen find dann jowohl Wiedertäufer und Mennoniten, 
Independenten wie Herrnhuter, Methodiiten, Baptiiten und die ver— 
jchiedenen freien Kirchen unjeres Jahrhunderts. Die vollfommenijte 
Kirhenjhöpfung des Pietismus ift die Brüdergemeinde. 
Daran reihen fi) die großen internationalen und interfon- 
fejfionellen pietijtiichen Unternehmungen: das gefammte Vereins» 


46 Bie wiffenfchaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 


wejen der äußeren und inneren Mijjion, die evangeliiche Alltanz, 
die Heildarmee u. j. w. Aber auch) von einem fatholijchen Pietis— 
mus wird mit einer gewijjen Grenze gejprochen werden fönnen. 
(Quietijten, Ianjeniften, die Gruppe Satiler— Goßner— Boos). Die 
ruſſiſche jeftireriiche Bewegung iſt ertrem pietiſtiſch. 

Es dürfte möglich jein, die gemeinjamen Züge der Piyfiogno- 
mie des Pietismus bei diejer Fülle von religiöjen Erjcheinungen 
nachzuweijen. Erſt der Pietismus als Neligionsform bildet den 
direften Gegenjag zum Katholizismus. Gr leugnet, was Ddiejer be— 
hauptet, daß man durch die Kirche zum Glauben fommt. Seine 
Injpiration it Heilsgewißheit aus perjönlichem Glauben, auf 
Grund der Erfahrung der Wiedergeburt, der Befehrung, der Heili— 
gung. Hierin gehter über den Protejtantismus hinaus und fnüpft 
an das ältere Chrijtentyum an. Die perjönliche Belehrung iſt feines: 
wegs ausjchlieglich an das Wort der Schrift gefnüpft. Sie fann 
überall her fommen. Während im Protejtantigmus zujammen ge: 
hören: Glaube, Chriftus, Bibel, jo gehören hier zujammen: Gefühl, 
Ehrijtus, Liebeswerf. Auf Grund einer Spezialoffenbarung wird 
Chriſtus erfannt, das aber treibt dann aud) zur Bethätigung des 
Bundes mit ihm. 

Die Weltanjchauung des Pietismus entbehrt zunächit eines 
eigenthümlichen Gottes: und Weltbegriffes. Aber fie verzichtet aud) 
ausdrüdlich auf das Dogma. An dejjen Stelle tritt die jprudelnde 
Quelle der Religion jelbjt, die Bibel. Aber nur jcheinbar ijt der 
Pietismus bibliiche Weltanjchauung. Der ſog, württembergijche 
Bibelpietismus dürfte wejentlich noch unter die Kategorie Prote- 
itantismus gehören, oder er geht aus dem Biblischen ins Theoſo— 
phijche oder Humaniſtiſche über. In Wirklichkeit it dem Pietismus 
Eins und Alles in der Bibel Chrijtus. Der Gottesbegriff des 
Pietismus iſt gegeben mit jeiner Chrijtolatrie, mit der ausjchliep- 
lichen Verehrung Ehrijti als Gottes und Herrn. Es ijt befannt, in wie 
ausjchlieglichen Sinn die Bietiiten Chrijtus al® den „Herrn“ anrufen 
und prädiziren. Die dem entjprechende Weltanjchauung ergiebt: Die 
Welt ijt das Herrjchaftsgebiet Chriſti, das Objelt der Chrijtofratie. 
Chriſtus iſt der verborgene Weltherricher und ſoll auch als jolcher 
offenbar werden. Hier liegt die Anfnüpfung des Bietismus an 
die Politik, die jich bei ihm wie bei jeinem eigentlichen prinzipiellen 
Gegner, dem Katholizismus, immer wieder findet. Dann muß aber 
die Welt doch anders gedacht werden, wie jeither. Das eigentliche 
Leben der Welt iſt Willensleben, das eigentliche Organ, um die 


Die mwifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 47 


Welt zu erfafjen, tt das Gemüth. Es tritt der nachmal3 von der 
Philoſophie wieder verarbeitete Gedanke der „inneren Welt“ als 
der eigentlichen Welt auf. Dieje Welt findet man, wenn man nur 
einfehrt bei jich jelbjit. In diefer inneren Welt da herrjcht Chriſtus 
allein. Er iſt der König Ddiejes inneren Reiches. Damit ijt Die 
Kirche erjegt und übertroffen. Auch der einjame Separatiſt 
fann jeinen Gottesdienjt halten in diejer inneren Welt mit Engeln 
und jeligen Geijtern im Bunde. 

Durch dieje völlige Umgejtaltung des geiſtigen Horizontes giebt 
der BPietismus die Wiffenjchaft frei, nicht ohne ihr eine gewiſſe 
GSeringihägung zu widmen. Much der Philologie bedarf es nicht 
mehr. Die Bibel muß jeder Laienchrijt von fich aus und aus ihr 
jelber verjtehen fönnen. Aber der Pietismus feindet auch Die 
Wiſſenſchaft nicht an, jo wenig wie die Politif und die Technif; 
er hofft vielmehr, fie ji alle zu Nutze machen zu können. Je weiter 
die Wiljenjchaft abliegt von den göttlichen Dingen, deſto genehmer 
it jie ihm. Demnach befreundet er ſich am metiten mit Mathe: 
matif, Naturwifjenjchaften, Technologie, Geographie, Sprachenfunde. 
Er jchafft die NRealjchule. 

Als das eigentliche Saframent des Pietismus, mittels deſſen 
er die Verbindung mit „dem Herrn“ vollzieht, jtellt ich dar das Gebet, 
vornehmlich das Bittgebet. Im Gebet vollzieht jich die Gemein: 
Ichaft mit Chriſtus. Dieje Gebetsübung, vornehmlich die gemein: 
jame Gebetsübung, jet voraus die Gebetserhörung. 

Diefe liefert den jicherjten Beweis für die Herrichaft Chriſti 
über die Welt. Die Gebetserhörung bejteht in der inneren Gewiß— 
heit und in einem äußeren Ereigniß: Eintreffen des Grbetenen, 
Heilung einer Krankheit, Abwendung einer Gefahr oder Noth, einer 
Geldverlegenheit u. dergl. Eine andere Form des Gebetspietismus 
hat vornehmlich der Katholizismus fultivirt (Molinos, Frau von 
Guyon, zenelon), den Quietismus, das wortloje und wunjchloje 
Gebet, das Aufgehen in Gott. Aber daran zeigt ſich, wie alleın der 
protejtantijche Pietismus fonjequenter Pietismus iſt, indem er überall 
auf ein Werf dringt, nicht auf die bloße Gottgelajienheit. Denn tm 
GSebetseifer jteht der fatholijch geartete Pietismus gewiß nicht nad), 
nur iſt das Ziel jeines Eiferd ein anderes, nämlich das gleiche Ziel, 
das auch die katholiſche Kontemplation eritrebt, das pajjive, 
leidentliche oder efitatijche Einswerden mit Gott. Dagegen tritt 
bei Pascal, aber auch bei Fenelon die Chriſtokratie deutlich zu 
Tage. Mit diefer Gebetsübung ijt der volle Yebenszwed des 


48 Die mwilfenshaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der chriſtlichen Religion. 


Pietismus noch nicht erreicht. Diejer muß in einem gemeinjamen 
Werf bejtehen. Es iſt die Nachfolge Chriſti, genauer die 
Nachahmung Ehrijti in jeinem eigenthümlichen Lebenswerk. 
Die Lojung der Nachahmung Chriſti iſt befanntlich mit bejonderer 
Energie ausgegeben von den Minoriten als Nachahmung der 
völligen Armuth Ehrijti, alſo als Kopie der äußeren Lebens- oder 
jogar Leidensgejtalt Chrijti. Daraus entwidelte jich das Ideal der 
„geiltlichen Armuth“, was wieder abbiegt in die fatholijche Gott: 
gelajjenheit. Erjt nachdem der Protejtantismus jeine Entwidelungen 
erichöpft hatte, trat eine neue Form der Nachahmung Ehrifti auf, 
die e8 auf eine Direkte Fortſetzung jeines Lebenswerfes abjah, 
nämlich auf Miſſion, auf äußere und innere Mifjjion. Der 
Weltheiland wird gedacht ala Weltmiffionar. Seitdem ift das ge 
jammte Miſſionswerk das eigentliche Erfennungszeichen und Lebens: 
ziel aller Pietijten geworden. Bezeichnet wird dieſes Ziel gewöhn— 
li) mit dem Namen Reich Gottes, oder „Neid Ehrijti*. 
Die Hauptmittel zur Erreichung diejes Zieles find Gebet und Für: 
bitte, Geldjammlung für Mifjionszwede und perjönlicher Miſſions— 
dienjt. Diejer legtere verleiht einen außerordentlichen Charafter. 
Ebenjo wie im Katholizismus die Mönche, find im Pietismus die 
Berufsarbeiter in jeder Art von Miſſion die eigentlich vollfommenen 
Chriſten. Das Ziel der Welt iſt Weltbefehrung, möglidjit 
jchnelle und dann das Weltende. Der Chiliasmus ſchließt jid 
häufig, wenn auch nicht nothwendig, dem Pietismus an. 
Thatſächlich iſt mit dieſer Religion ein Schritt über die 
jämmtlichen jeitherigen „Konfejjionen“ hinaus gethan. Die in der 
gleichen Gejinnung ftehenden Frommen aller Konfeſſionen erfennen 
einander an, treten in gemeinjame Verbindungen und Vereine ein, 
denn überall, wo die Saat der gleichen Frömmigfeit und Liebes 
übung aufgeht, erblidt man bereits die Anfänge des Neiches 
Gottes, hinter dem die Kirche al3 eine mehr politifche tranfitoriide 
Sache verjchwindet. Das Kirchenthum ijt nicht mehr wejentlid) 
für das Chrijtenthum. 
Die pietiſtiſche Hoffnung lautet: 
Es kann nicht Ruhe werden 
Bis Jeju Liebe fiegt, 
Bis dieſer Kreis der Erden 
Zu feinen Füßen liegt. 
Mit diefer Looſung jucht die Brüdergemeinde ein Volk Gottes 
aus Gliedern aller Ktonfejjionen zu jammeln. — 





Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hrifilichen Religion. 49 


5) Vielleicht am meiften Widerjpruch erregen dürfte, was dem 
Verfaſſer am gewifjeiten zu fein jcheint, daß es nothwendig it, 
noch eine weitere Form chrijtlicher Religion abzugrenzen, die jich 
im Laufe der legten Jahrhunderte immer deutlicher aus dem Pietismus 
berausentwidelt hat: den chrijtlichen Humanismus. 

Sp wenig wie beim Pietismus jei hier Werth gelegt auf den 
Namen „Humanismus“ Wenn man nur findet, dat die Sache 
richtig erfannt und umſchrieben fei, jo möge ein geeigneterer Name 
gejucht werden. 

E8 handelt ſich um eine Form chrijtlicher Neligion, die noch) 
in ihren Anfängen ſteht und, mit einer Musnahme, feine eigene 
joziale Organtjation gefunden hat, aljo um etwas noch nicht politisch 
oder doktrinell Greifbares, während der Pietismus die Seele des 
ganzen chrijtlichen Vereinslebens zu jein jcheint. Dieje joziale 
Irganijation tjt die Gejellichaft der Freunde, der. Quäfer, und aud) 
nur, jofern dieje jich das Werf der Menjchenliebe zur Aufgabe macht. 
Dennoch dürften jene Anfänge durchaus unter einer anderen 
Rubrik nicht untergebracht werden fünnen, denn jie unterjcheiden jich 
deutlich von dem Pietismus, an den jie doch unmittelbar angrenzen. 

Der hier vorgejchlagene Name erinnert natürlich an Die 
HDumanitätsbewegung des vorigen Jahrhunderts. Dieje jtand, joweit 
jie von Rouſſeau ausging, im Gegenjat zu jedem pofitiven Chriſten— 
thbum. Aber fie führte in dem „humanen Chriſtenthum“ Yejlings, 
Herderd und auch Kants zu dem Gedanken der Verwirklichung des 
eigentlichen „Chriſtenthums Chriſti“ jelbit, zur angeblichen Wieder: 
entdedung der „Religion Jeſu“. 

Niemand wird jich noch mit dem Gedanken täujchen, es ſei 
unter den gegenwärtigen Berhältnijjen eine einfache Nachahmung Jeſu 
oder der Apojtel möglich und das allein fünnte doch die thätige 
Religion Jeſu wollen — aber darum liegt doch etwas Unverlierbares 
in dem Wort „Humanismus“, nämlich ein Ziel für die Bewegung 
des Chriſtenthums, das nicht in der Kirche liegt, nicht in den chrift- 
lichen Vereinen, nicht in den Individuen allein, jondern in einer 
chriſtlichen Menjchheit. 

Sit die einfache Nachahmung Jeju undurchführbar, jo iſt doch 
nicht undurchführbar die Abficht, jein Lebenswerk in einem viel 
weiteren Umfange fortzujegen, aber in dem gleichen Glauben, den 
er begte, in dem Glauben an das Neid, Gottes. 

Was Paulus vorjchwebte: daß der „zweite Adam“ der ganzen 
Menjchheit als ihr Heiland zugeeignet werde, das ijt ein unverlier: 

Breußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 1. 4 


50 Die mwiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 


bares Ziel. Es würde auch dann jchon hier auf Erden erreicht 
jein, wenn die Völfer der Erde chriftianifirt und zivilifirt, eine 
Familie von Gottesfindern bildeten, die jämmtlich in Chriſto ihr 
Haupt anerfennen und darum in Ddiefem Glauben eins, möglidjit 
nach den Grundjägen der Liebe, der Gerechtigkeit und der Humaniät 
ihre Beziehungen regelten. So viel Schwärmerifches bei der Aus: 
malung dieſes Gedanfens im Einzelnen unterlaufen mag, das Prinzip 
der Menjchenwürde, der Anerkennung des Nechts einer jeden jitt: 
lichen Individualität auf Ausbildung, das Necht jedes Menjchen 
auf Chriſtus gilt unter Chriften und daraus folgt die Anjtrebung 
eines jolchen allgemeinen und öffentlichen Zujtandes, in dem dieſes 
Prinzip verwirklicht werden fann. Die Miſſion jtrebt nicht jo 
weit. Ihr genügt die Verbreitung des chriſtlichen Glaubens, 
dann mag das Ende fommen. 

Das „Reich Gottes“ iſt ihr fchließlich doch nur ein Glaubens: 
reich, eine Bekenntnißkirche. Was Jejus als Neich Gottes ver: 
fündigt hat, jcheint aber weiter zu reichen und mehr zu fordern. Und 
diejes Mehr ijt die treibende Kraft in dem, was wir „chrijtlichen 
Humanismus“ nennen (nicht humanes Chriftenthum). 

Er hat jeinen erjten Anfang vielleicht genommen in Fran; 
von Aſſiſi. Bei ihm gehen freilich noch neben einander her die 
rein Ddemonjtrative heroijche Nachahmung Jeſu in feiner Bettel- 
armuth und die hilfsbereite Liebe, die Werfgemeinjchaft mit dem 
Werke, das Jejus Chriſtus getrieben. Das Legtere liegt vor in der 
aufopfernden Hingabe an Kranke, Ausſätzige, in feinem hilfreichen 
Wejen. Das wiederholt jich dann in manchen Erjcheinungen der 
Krankenpflege und Liebesübung im Mittelalter. Das Charafterijtijche 
dabei ijt die hervorbrechende humane Gejinnung. Man will das 
Ebenbild Chriſti im leidenden, bedürftigen Menjchen retten. 

Die Reformation verfolgt in ihrer Liebesübung ein enger 
begrenztes Biel. Sie gilt dem Landsmann, dem Glaubensgenojjen. 
Die Liebesübung tritt in den Dienjt der Glaubensgemeinjchaft. 
Der Bietismus fordert das Liebeswerf ala Beweis des Glaubens 
und er individualijirt die Werfe der rettenden Liebe. Aber erjt dıe 
Aufklärung jtellt das andere Ziel auf: Rettung des Menjchen um des 
Menjchen willen und verbindet damit den weiteren Zwed der völligen 
Ausgejtaltung der Menjchheit nach dem Ebenbilde Gottes, nach dem 
jie gejchaffen tft. Die Aufklärung hat befanntlich die Liebesthätigfeit 
vom Bietismus übernommen und hat fie dann wieder an Diejen 
abgetreten, nicht ohne daß der Pietismus jich jelber Humanijirt hat. 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion, 51 


Der Glaube dient nun der Liebe und der Wetterfer der auf 
rein humanen Abfichten ruhenden „Philanthropie“ mit den auf 
dem Glauben ruhenden chriftlichen Liebeswerfen fördert dieje Ent: 
widelung in jeder Weije. 

Hand in Hand damit macht fich eine in praftiichen Idealen 
wurzelnde Weltanjchauung geltend, die, aus Glauben und Hoffnung 
entworfen, der Weltentwidelung fein dogmatifches, jondern ein 
jittliches Ziel jegt und dabei evangelifche Gedanken in größerem 
Umfang verwerthet, als es jeither gejchehen ift. 

In dieſen Grundanjchauungen jtimmen dann Männer und 
‚rauen der verjchiedenften firchlichen Denominationen, theologischen 
und philojophijchen Wichtungen, Vertreter aller gejellichaftlichen 
Stände überein. Sie alle einigt das „praftijche Chriſtenthum“. Man 
unterjchäßt doch die Bedeutung diejer gemeinjamen Looſung, in der 
jic) jo Viele vereinigen, die ganz getrennten Lagern anzugehören 
jcheinen, wenn man vorgiebt, e3 handle jich dabei nur um eine 
vorübergehende Bundesgenofjenjchaft. Bekanntlich) weijen alle jtreng 
firchlidy Gefinnten dieſe Gemeinjchaft der Liebe bei abweichendem 
Glauben ganz fonjequenter Weife ab. Denn es handelt ſich um 
ein Biel, das dieſem Glauben vorjchwebt und das über alles 
Kirchenthum und alle SKonfejfionsgrenzen hinausliegt, um 
jenes Biel, dem die erleuchtetjten chrijtlichen Denker, die eifrigjten 
Menjchenfreunde, die begeijtertiten Prediger, und die innigjten 
Dichter und Künjtler eingeftandenermaßen entgegenjtreben. Wer darauf 
achtet, zum Beiſpiel welche Gedanfenreihen in der Predigt der 
Gegenwart allein noch wirflihen Eindrud machen, der 
wird zugeben: Nur die Predigt einer aus dem Glauben jtammenden 
und nach dem Bilde Jeſu Chriſti geitalteten unbejchränften Menjchen- 
liebe in Wort und That gilt den Menjchen von heute noch 
als das unverfäljichte Evangelium.*) Und das darum, weil 
dieje Zeit wie feine andere den wirklichen Ehrijtus ſich zu vergegen— 
wärtigen gelernt hat. 

Als Vertreter diejes „Humanismus“ ſeien hier beijpielswetje 
mit Ausjchlug aller Derjenigen, deren religiöjes Leben direft aus 
der Aufklärung jtammt und die darum jelbjtverjtändlich, jo weit es 
chriftlich ift, in Ddiefer Bahn gehen und unter Hinweglafjung der 
nicht ganz hierher pafjenden Erſcheinungen in romaniſch-katholiſchen 
Ländern, genannt: Klopſtock, Lavater, Jung Stilling, M. Claudius, 





*) Man, Be 3. B. das Chriſtenthum, das Nietzſche zu bekämpfen 
wert 


4% 


52 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 


Peitalozzi, Wilberforce, L. Howard, Chalmers, Jean Paul, I. alt, 
Elifabeth) Fry, Fichte, Vinet, Rothe, Bunjen, E. M. Arndt, 
K. Nitter, H. Loge, Fechner, Caird, Wordsworth, F. Nüdert, 
Carlyle, Nobertjon, 3. D. Maurice, Ch. Kingsley, A. Bitzius, 
E. Frommel, 8. Gerok. 

Man nehme dazu die internationalen und interfonfejjtonellen 
Agitationen für Sonntagsfeier und Sonntagsheiligung, für das 
rothe Kreuz, für Mäßigfeitsbejtrebungen, Arbeiterjchuß, Gefängniß— 
reform, die alle einen gewiljen religiöjen Hintergrund haben. 

Die religiöfen Grundgedanfen diejes Humanismus finden jtd 
aber auch bet den Theojophen: I. Böhme voran und Detinger, dann 
in der deutjchen theojophijchen Naturphilojophie von Schelling, 
Steffens, Baader, Görres, in der theojophiichen Theologie von 
Hofmann und Bed, theilweije bei Ch. H. Weiſſe und Nitzſch, bei 
Ritſchl und Frank, bei Biedermann und Lipfius. 

Als jolche religiöje Grundgedanken dürften zu bezeichnen jein: 
die Anjchauung von der nothwendigen Bajis, die jede Religion 
haben muß in individueller religiöfer Ueberzeugung, gleichviel, ob 
dieſe Erwerb der Erziehung tjt, oder auf direkter Erleuchtung und 
erfahrener Wiedergeburt beruht. 

Das die Injpiration dieſer Neligionsform. Zum Beweis 
jei auf zahlreiche Biographien neuerer Zeit verwiejen. Zu jener 
„Wiedergeburt“ würde auch eine jolche fittliche „Befehrung“ gehören, 
wie fie 3. B. Garlyle erlebt hat, oder wie fie Fichte verlangt. 
Gemeint ijt damit jener Gemüths- und Willensentjchluß, aus dem 
ſich folgerichtig eine neue religiöſe oder jittliehe Vorjtellungswelt 
entfaltet, für welche alle Schrift: und Stirchenlehre nur noch Hilfs 
mittel tt, aber nicht mehr zwingende Autorität. 

Natürlich it die gefammte Weltanjchauung bei Perſönlich— 
feiten, die auf jo verjchiedener Kulturjtufe und Erfenntnißjtufe 
itehen, verjchieden, für Alle aber it die wirkliche Welt, in der 
wir leben, eine Offenbarungsjtätte Gottes und dadurch geweiht, 
daß auf ihrem Boden jich das Reich Gottes vorbereitet. Die jtrenge 
Trennung des Diesſeits vom Jenſeits fällt weg, denn auch im 
Diesjeits ijt Gott gegenwärtig und wirkſam. Dieje Welt ijt eine 
Gotteswelt.e Das führt bei Einzelnen zu einem fürmlichen 
Naturfultus,*) überall zur innigen Befreundung mit der ganzen 
Schöpfung, bei nicht Wenigen zur Naturforjchung.**) Cs bejteht 


*) Franz v. Aſſiſi, Wordsworth, Rüdert. 
**) Howard, Ehalmers, Kingsley. 





Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlihen Religion. 53 


ein inniger Zujamenhang zwijchen der Naturordnung und der 
menjchlichen Gejchichte: die Natur it eine Uebungsjchule der Geijter 
und im Mittelpunkt der Gejchichte jteht Chriſtus als der Träger 
der Abjichten Gottes.*) Beides zujammen jtellt- eine Weihe 
göttlicher Offenbarungen dar. 

An Stelle der dogmatijchen Betrachtung des Zujammenhangs 
der Dinge tritt die Würdigung ihrer empirischen Wirklichkeit, von 
welcher auch das richtige Verhältnig der Menjchheit zur Natur 
abhängt. Eine jolche Betrachtung fann ohne Weiteres die Gejeß- 
mäßigfeit des irdijchen Weltlaufs zugeben, die die Bajis aller 
Naturerforjchung it. 

Der höhere Gedanfe Gottes, dem die Welt dient, iſt in per: 
jönlicher Gejtalt verförpert in Jejus Ehrijtus. In ihm wird eben 
jowohl die Gottheit wie die Menjchheit angejchaut. Der eigentliche 
Beweis für jeine Gottheit bejteht in jeiner heiligen Menjchheit. 
Seine Gottheit ift die eines Menjchen. Während der Pietismus 
vorwiegend die leidende Menjchheit Jeſu ins Auge faßt, tritt hier die 
gejammte Berjönlichkeit, die im Thun und Leiden jich vollendet, 
in ihrer vorbildlihen Wollfommenheit in den Vordergrund der 
Verehrung. 

Demgemäß ijt al8 das eigentliche Saframent des Humanis— 
mus zu bezeichnen das Chrijtusbild. 

Der in jeiner vollen Menschlichkeit und Gejchichtlichfeit auf 
Grund der biblifchen Ueberlieferung vorgeitellte wirkliche Jeſus 
Chrijtus it die eigentliche Bürgjchaft unjerer Verbindung mit 
Gott und das perjönliche Lebensideal der Chriſten. Diejem Zug 
muß auch die auf die Erforfchung jeiner gejchichtlichen Wirklichkeit 
gerichtete Wifjenjchaft dienen. Die „Gemeinſchaft“ mit ihm iſt 
jowohl religiöjer, durd) das Gebet vermittelter, wie fittlicher Art. 
Insbejondere die jittliche Herrjchaft, die er über die Gemüther und 
durch dieje auf die Welt ausübt als der „Herr“, iſt die eigentliche 
Bethätigung jeiner Gottheit. Indem fein Vorbild maßgebend wird 
für das gejammte Leben, wird er erit aus einem Gott der Kirche, 
der er jeither vornehmlich gewejen war, der thatjächliche „Herr“ 
der Gejchichte, die ihm dienen muß. 

Eine wirflihe Chrijtofratie, eine geitige und fittliche 
Herrjchaft Ehrijti beginnt. Es hat wohl feine Zeit in der Chrijtens 
heit gegeben, in der jeine Perjönlichkeit jo jehr im Worderarunde 


*) Bgl. bei. K. Ritter. 


54 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 


gejtanden hat, die Erinnerung an Jeſus eine jolche Rolle gejpielt 
hat wie die, jeitdem dieſer chriftliche Humanismus eriftirt. 

Der Lebensz;wed des Humanismus ijt nicht mehr der rein 
oder vorwiegend religiöje wie noch im Pietismus, jondern der zus 
gleich religiöfe und fittliche der „Verwirflihung des Reiches 
Gottes“. 

Man denkt diejes Reich Gottes, in einer zuerjt von Leibniz 
geltend gemachten Weiſe nun als die vollfommenc zugleich religiöje 
und jittliche Menjchheitsgemeinjchaft, als eine Gemeinjchaft der 
befreiten und verflärten Perjönlichkeiten. Damit foll die Ueber: 
weltlichfeit Ddiejes Reiches gar nicht in Abrede gejtellt jein, aber 
indem es jchon auf Erden fich zu verwirklichen anhebt, gilt aud) 
für jeinen Fortgang im Jenſeits, daß es nicht ein Neich der bloßen 
Beichaulichkeit, jondern fortgejegter Entfaltung und thätigen Wachs— 
thums jeiner Glieder iſt. Die nationalen wie die firchlichen Gegen: 
jäße verschwinden in diefem „Reich“. Das Weich Gottes tritt jo 
al3 das gemeinjame Ziel aller chriftlich- fittlichen Bejtrebungen an 
die Stelle der Kirche. 

Die religiöje Gewißheit, bejtehend in perjönlichem Glauben, 
die von Gott geleitete Menjchheitsgejchichte als die eigentliche 
religiöje Welt, das Chrijtusideal die wirffame Verbindung mit 
Gott und das Reich Gottes das Ziel aller Beitrebungen — man 
wird zugeben, daß dieje vier Punkte, wenn auch vielfach halb ver- 
hüllt, den eigentlichen religiöjen Gefichtsfreis einer großen 
Reihe der einflußreichiten Vertreter des Chriſtenthums in der 
näheren Vergangenheit und in der Gegenwart umjchreiben, und daß 
innerhalb diejer Gejichtspunfte eine Fülle jpeziellerer Aufgaben 
ihre Löjung finden fönnen. Wir find damit noch durchaus im 
Kreife chrijtlicher Anjchauungen geblieben, außerhalb deren der 
rein weltliche, der (Comtijch) poſitiviſtiſche oder auch der 
jozialiftifche Humanismus jich bewegt, allerdings nicht ohne 
mancherlei Einwirkungen dem chrijtlichen Humanismus zu geben oder 
zu verdanken. Der Humanismus hat zwei Gedanken in den Vorder— 
grund gejtellt, die zu den urjprünglichiten Zielen des Evangeliums 
gehören: 1) die chrijtliche Perjönlichfeit und 2) das Reich Gottes, 
ein Ideal der Individualität und eins der Gemeinſchaft. 
Aber eine eigene joziale Gejtalt hat der chriftlihe Humanismus 
nicht angenommen. Er it bis jet mehr ein Stil des 
religiöjen Empfindens, Handelns und Denfens als eine 
eigene Gejtalt religiöfer Vergejellichaftung — aber ein Stil, der 


Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlichen Religion. 55 


ſich ebenjo bemerkbar macht im fleinjten wie im größten Streije, 
den er bejeelt. Am deutlichiten prägt er jich aus in einzelnen 
Perjönlichfeiten. Die großen Jndividualiten, von denen es 
eine Ueberlieferung giebt: J. Denk, ©. Frank, Schwentfeld, 
George For und William Penn, 3. Böhme, Detinger, Lavater, 
Fichte, DOberlin, Kierfegaard, Garlyle, J. T. Bed, Lagarde 
zeigen vielleicht am meijten dieſen Stil. Man würde faum 
zweit von dieſen auf eine einheitliche Lehre oder eine überein- 
jtimmende Handlungsweije verpflichten fünnen, aber im inneren 
Rhythmus eines ausjchließlich vom religiögsfittlichen Ideal geleiteten 
Lebens gleichen fie einander doc) jehr. Und derartige Gemein 
jamfeiten wollen auch von der vergleichenden gejchichtlichen Be: 
trachtung anerfannt jein. Denn nicht darauf fommt es an, in wie 
vielen Eremplaren eine Art verbreitet ijt, jondern welche innere 
Bedeutung jie in jich trägt. Dieje Bedeutnng aber bejteht darin, 
daß der hier jo genannte chrijtliche Humanismus ein Stil chrijt- 
liher Religion ijt, der ſich mit jeder intelleftuellen 
politijhen und jozialen Entwidlungsjtufe verträgt, weil 
er jich prinzipiell auf das eigentlich religiös-fittliche Gebiet be- 
ichränft. — 

Dieje Stilarten chrijtlicher Religion fonnten hier nur in wenigen 
Strichen gezeichnet werden, wo es allein galt, darauf hinzuweiſen, 
daß es jolche ideelle Typen giebt. Dabei ijt die Religion der 
breiten Maſſen in der Chriftenheit, in der noch ganz andere Ge— 
danfen lebendig find, theilweije jolche von unvordenklicher ältejter 
Brovenienz aus der urjprünglichen natürlichen Religion der Kind- 
heit unjeres Gejchlechtes völlig unberüdjichtigt geblieben. 
Diejes Element der Volfsreligion, das in Sitten und Bräuchen, 
in der Bolfsethif, in Aberglauben aller Art fich mächtig erweiſt, iſt 
gejchichtlich relativ unbeweglich. Es bildet thatjächlich eine Art 
Schwergewicht, Ballaft, und greift nur dadurd) ein in die Entwid- 
lung. Hier durften nur Typen perjönlicher Religion aufgeführt 
werden. Aber Typen wirklicher und lebendiger Neligion. Die 
lebendige Religion im Unterjchied von dem, was die Piychologie 
Religion nennt, jchließt immer aud) eine Art von Sittlichkeit in 
ſich, fie it voll von Vorjtellungen, die dem Gebiet der Phantaſie an— 
gehören und theils zur Wifjenjchaft, theils zur Kunſt hinüberneigen, 
fie hat jtetS den Drang zur Bergejellichaftung. 

Sodann wurden nur jolche Typen aufgejtellt, die in direktem 
Zujammenhang mit dem urjprünglichen Chriſtenthum jtehen, als 


56 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hrifilihen Religion. 


der erjten Form einer höchjtperjönlichen Religion, die ſich vermißt, 
die völlig univerjelle Religion zu werden. Denn dieje Typen zeigen 
wie das „Chriſtenthum“ es verftanden hat, jich den wechjelnden 
Bedürfnifjen der fortjchreitenden vornehmlich der abendländijchen 
Menjchheit anzupafjen und dabei die eigentliche ideale Leitung diejer 
europätjchen Kultur zu behaupten. Wie alle Typen, jo erjcheinen 
auch diefe nur verhältnigmäßig jelten in ganz reiner unvermijchter 
Ausprägung. Verglichen mit der jo viele Jahrtaufende umfafjenden 
Vorgeſchichte unjerer Religion iſt dieſe ganze Entwidlung innerhalb 
der Chrijtenheit nur eine Reihe von Metamorphojen, die der 
vollfommene chriſtliche Monotheismus durchgemacht hat, in 
jeiner Verbindung mit dem Geijt der antifen, der germanijchen, 
der romanischen und jlavifchen Völker. Und ficherlich‘ ift dieje Reihe 
noch nicht abgejchlojjen. 

Erſt wenn Die eigentlich religiöje Seite dieſer Erjcheinungen 
deutlich abgegrenzt jein wird, wird man im Stande jein, das 
nationale Element und die jonjtigen in Betracht fommenden Faktoren 
der chriftlichen Religionsgejchichte genauer zu bejtimmen. 


L 


Mit der Anerkennung Diejer religiöfen Spyiteme im 
Chriſtenthum als einer morphologischen Klaſſifikation jeiner 
wichtigjten Erjcheinungen wäre ein neues Prinzip der Vergleichung 
nicht bloß jondern auch der Erklärung gefunden. Man würde 
nun Die firchenpolitiichen reignijje jowie die dogmatiſchen, 
fultiichen und fittlichen Erjcheinungen bis auf dieje Urjprünge zu 
verfolgen haben. Man würde dann weiter zeigen, wie jich in den 
Wechjelwirfungen aller dieſer Potenzen die geſammte Kirchen— 
geſchichte vollzogen hat. Das aufgefundene morphologiſche Geſetz 
würde einen ähnlichen Dienſt leiſten, wie der von Hegel beſtimmten 
Geſchichtsbetrachtung die „Dialektif der Idee“ ihn leiſtete. Nur werden 
hier die Menjchen nicht von einer über ihnen jchwebenden Idee 
geleitet, jondern die eigenthümlich gejtaltete Religioſität wirft als 
eine organijatorische Triebfraft in ihnen ſelbſt. So gut wie die 
Naturforjchung in kleinſten Yebewejen von jcheinbar faſt völlig 
gleicher Struktur doch einen funktionell verjchiedenen Typus an- 
erfennen muß, jo gut fann es aud) funktionell verjchiedene Kraft: 
mittelpunfte religiöjer Energie geben, die dann aud) neue Er: 
jcheinungen hervorrufen. 


Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion. 57 


Die perjönliche Entjtehung und allmähliche Entfaltung dieſer, 
um einen rezipirten Ausdrud zu brauchen, religiöjfen „Energiden“ 
zu zeigen, das würde die weitere Aufgabe der eigentlich dar— 
jtellenden Gejchichte der chritlichen Religion jein. Hiervon auch 
nur eine Umrißſkizze zu geben iſt unmöglich. Ein Berjuch derart 
in einer afademijchen Vorlefung wurde gemacht. 

Gelänge das Unternehmen zunächſt auch nur in bejcheidenem 
Mape, jo würde die Kulturgejchichte um ein wichtiges Element 
bereichert jein. 

Die Kulturgejchichte hat nämlich bis jest ich in ziemlich plan— 
lojer Weije damit begnügt, einerjeitS die Mafjenerjcheinungen 
der Religion, ihre volfsthümlichen Ausprägungen zu bes 
rücdjichtigen und dann einige meiſt abjonderlidhe Er: 
jheinungen perjönlicher NWeligiojität vorzüglich „wunderlicher 
Heiligen“. Für die planmäßige Beobachtung religiöjer Strömungen, 
die oft die politiichen, jozialen und fünjtlerijchen geradezu be— 
dingen, fehlte e8 an Vorarbeiten. Dieje liegen auf dem Gebiet 
der hier entwidelten Mufgaben, die Religion in ihren perſön— 
lihen Trägern und ihren innern Zujammenhängen uud dann 
erit in ihrer Wechjelwirfung mit dem gejammten Kulturleben dar: 
zujtellen. Denn was wir mit einem jo zu jagen mythologijchen 
Worte „Religion“ nennen iſt doch ebenjo gut wie „Ehriltenthum‘, 
„Kirche“ u. dergl. feine jelbjtändige erijtirende Größe, 
jondern eine Folge innerer und äußerer Zujtände im ein- 
zelnen lebendigen Menjchen jelber. Die Religion iſt der 
Menſch jelbjt in einer bejtimmten Poſition ſeines innern und 
äußeren Lebens. Demnach fann die Gejchichte der Religion ung 
auh nur die Kette der religiöjen Menjchen und ihre 
Wirfungen auf andere zeigen. Die Zeit zum objektiven ge: 
ichichtlichen Verſtändniſſe dieſes Phänomens jcheint gefommen. Es 
wird nur gelingen bei voller. jubjeftiver Sympathie mit der Re— 
ligion, die nicht ausjchließt, daß man ihre nothwendigen Schranfen 
erfennt. Denn höher als die Neligion jelbit it das, wovon fie 
zeugt: die Welt des Göttlichen. 

(Gejchrieben im Juli 1899) 


a. — 


Hildesheimer Kunft. 


Von 
A. Neuberg. 


E3 dürfen zwei Städte um die Ehre jtreiten, das „norddeutjche 
Nürnberg“ zu heißen: Danzig und Hildesheim. Die erjtere fann 
mit der alten Noris allerdings wetteifern in der Berförperung eines 
jtolzen Kaufherrengeijtes, darin ragt an die beiden die niederſächſiſche 
Nebenbuhlerin nicht heran, ihre Gejchichte ift die typiſche einer 
geiftlichen Stiftsherrjchaft, in der etwas den jtädtijchen Geiſt 
Hemmendes, Niederdrüdendes lag. Aber überlegen ift fie den 
anderen darin, daß in die Spuren einer gejchmadvollen und herr: 
lichen Renaifjance gejtaltend und bejtimmend die Nefte einer weit 
älteren, in jich gejchlojienen und doch mächtig nachwirfenden Kunit- 
epoche hereinragen, und zwar einer der ältejten auf deutſchem Boden. 
Noch heute wird mir warm ums Herz, wenn ich der Tage gedente, 
in denen Alt-Hildesheims Herrlichkeit mir aufging. Nirgends, außer 
in Nürnberg, haben mich die Erinnerungen deutjcher Renaiſſance 
jo umfluthet wie in den Straßen Hildesheims mit ihren zahllojen 
charakteriftiichen Wohnhäujern aus dem jechszehnten und fiebzehnten 
Sahrhundert. Goslar ift ähnlich, aber es ijt kleinſtädtiſch, und ein 
Vergleich würde noch nicht einmal jo ausfallen, wie wenn man 
Nürnberg und Rothenburg vergliche, Das ift beiden gemeinjam, 
daß jie, wie baugejchichtliche Muſeen, die zierlichjten Mujter nieder: 
deutjcher Fachwerfbauten anfbewahrt haben. Hauftein ijt jelten 
und theuer im Niederlande, daher der fait durchgängige Ziegelbau, 
aber mit jichtbarem Fachwerk der eichenen Balken und Pfoſten, 
und, was man in den deutſchen Seejtädten jelten findet, mit viel: 
jachen, funjtvollen Schnigereien oder Neliefs an den Holzgallerien 








Hildesheimer Kunit. 59 


und Frieſen. Man denke ſich jo ein Haus in zarten Farben, Die 
höchjt wirfjame, anmuthige Gegenjäge und Harmonien ergeben, 
meiſt in dunklen Tönen, tief dDunfelbraun oder röthlich; durchbrochen 
mit zahlreichen Eleinen Fenſterchen; überbaut von einem jcharfen 
Spitgiebel, der meiſt ebenjo hoch ijt, wie der Vertifalbau; oft jo 
fonjtruirt, daß jedes höhere Stodwerf etwas über das niedere 
heraustritt, jo daß eine drei- bis vierfache Ueberfragung entiteht, 
die durch ihre Schattenwirfungen das plajtiiche Bild wejentlich hebt. 
Den Formencharakter hat die deutſche Renaifjance geliefert. Zopf 
it nur jelten zu jehen, wie verirrt in dieje älteren ‚sormen. Mit 
dem Dreißigjährigen Kriege jcheint die Fähigkeit, luxuriös zu bauen, 
verloren zu jein. Wer von den Drangjalen weiß, die die Stadt 
von 1632 bis 1634 auszuftehen hatte, fann das nur mit Trauer 
bemerfen. Eine Zeit, in der man an die 300 alte Häuſer nieder: 
reißen mußte, um Brennholz zu haben, mußte für lange Zeiten ihre 
Spuren hinterlafjien. Um jo erfreulicher die Epoche, in der jeder 
halbwegs Wohlhabende jein Häuschen ſich anjehnlich gejtaltet hatte 
und „lujtig anzujehen“; oft mit wenig Mitteln und jpärlicher Kunit, 
aber doch zierlich. Hier vielleicht etliche gefehlte Balken mit ge: 
Ihnigten Köpfen, dort nichts als eine harmonische Stellung des 
Balfenwerfs gegen einander — etwa in gefreuzten Barallelen —, 
und da wieder irgend eine anziehende Stleinigfeit, faſt unbeachtet 
in dieſer Fülle interefjanter Einzelformen, etwa eine ſchöne Linien— 
führung an einer Thür oder ein feiner Holzfries unterm Dache, 
oder ein leichtes Relief am Thorrahmen im weichiten, techniſch 
gebildetſten Fluſſe: o man fünnte Wochen lang jtudiren an diejen 
anziehenden, einen hohen Kunjtgejchmad beweijenden Formen. Wer 
ganz wenig anzuwenden hatte, lie doch immerhin die Schnigereten, 
z. B. das befannte Fächerornament der Renaiſſance, täufchend auf 
jeine Faſſade malen. Der Wohlitand aber it an reichen Schnigereien 
fenntlich, die zuweilen, wie am „Deutjchen Kaiſer“, jogar mit Gold 
grundirt find. Dabei ijt es für die Macht der Tradition recht be- 
zeichnend, daß der Gedanfenfreis der Daritellungen in gewijien 
typischen Grenzen bleibt. Es fehren immer diejelben Gegenjtände 
wieder, entweder biblische oder antif-allegorische. Für den eriteren 
all find mir bejonders die reizenden bunten Reliefs an den Erferchen 
eines Haujes in der Judengafje erinnerlich: der Traum Jakobs 
von der Himmelgleiter, an der die Engelchen behende Fflettern, 
Bileams Ejelin, die ſich altflug umwendet und auf den Seher ein: 
jpricht, und Anderes mehr, Alles mit jehr Schöner Fernwirkung, 


60 Hildesheimer Kunft. 


jelbjt in diejer engen Gaſſe. Im anderen alle, wenn die Zauber 
der Antife wieder erweckt wurden, jind es wohl die allegorijchen 
GSejtalten der Haupttugenden oder der jieben freien Künſte oder 
der fünf Sinne oder der vier Elemente oder der neun Mujen; und 
immer diejelben, halb liegenden, halb fitenden Figuren, oft hand: 
werfsmäßig nachgeahmt, zuweilen auch ſcheußlich Schlecht, aber doch ſtets 
einen Zug von Bildung an großen Vorbildern verrathend und eben 
dadurch Höchit bedeutungsvoll für die Macht der Ueberlieferung über 
ganze Generationen. Hier lebte offenbar eine Alles mit ſich fortreißende 
Tradition. Beachtenswerth iſt auch das Serienhafte der Bild: 
nereien, die nicht einzeln gedacht jind, jondern ſtets einen Ju: 
jammenbang bilden. Das tjt wohl als direfte Schulung an den 
Zeiten der Bernwardsfunjt zu verjtehen. An der feinen Hol; 
ornamentif der „Neujtädter Schenke“ heben ſich aus den tier 
dunflen Holzfarben in drei Reihen die neun Mujen, neun heid— 
nische Gottheiten mit ajtronomijchen Beziehungen auf die Planeten, 
und die neun „Itarfen Helden‘ heraus; unter letteren Alerander, 
Cäſar, Hektor der Trojaner, Carolus Magnus, Gottfried 
von Bouillon — jehr interefjant für die Gedanfenwelt damaliger 
Yıldungz. Was man aud) nicht überjehen darf, it die jicher be 
rechnete malerische Frontwirfung. Am Sims des jogenannten 
Rolandhoſpitals in der Edemäderjtraße läuft z. B. ein langer 
Spruch hin: „Simon Arnholt von Hirjfelt bin ich gnant. Das 
landt zu hejen tft mein vatrlant. Auff den leibn Gott thu id 
vertrawn. Der woll gnedig dis mein Thun bawn. Der jelb woll 
mihr dis helffn vollendn. Leib undt jeel begnadn an letztn endt“. 
Diefer Spruch jett jedesmal dort ab, wo aus der Front ein Erfer 
vortritt, und läuft nicht am Erferfims weiter, jondern jet, dieſen 
ganz fahl lafjend, erjt jenjeits wieder an. Der Künſtler hat aljo 
das ganze Spruchband als vollitändig von einem Gejichtspunft 
zu lejen gedacht, alles auf rontwirfung berechnet. Das Male: 
rijche ging ihm über die pedantijche Nichtigkeit. Solche Sprüche 
finden ſich übrigens majjenhaft, lateinische und Ddeutjche, hoch— 
deutjche und niederdeutjche, gelehrte und volfsthümliche, philojo: 
phijche und gemüthliche, Zitate aus den klaſſiſchen Boeten und bib: 
lijche Sprüche. Hier jpricht die Volfsweisheit: „Mancher ijt arm 
bej grojiem Gut, Und mancher it reich bej Armuth“, dort bib- 
liſcher Troſt: „Wir han nur Herberg hie auff Erdn, Im Himel 
wir ewig wohnen werden“, da eine fräftige Dogmatik: „Dord 
dinen hillgen dodt leve id, Und werde nicht jteruen ewiglid. 


Hildesheimer Runit. 61 


Diner uperitandingfe (Auferſtehung) erfreie id mich. Das for— 
dreujch (verdrießt) den jatan jederlich”, oder die befannten Sinn 
jprüche: „Wer Godt vortrowet hefft woll gebowet, dat ihme nicht 
rowet (reuet)“. ,„Wath der Leiffe Godt Bejcheret, dath blifft alles 
ungewebreth (ungefährdet)'. Dort wieder ein feder Humor: „Wer 
bawen wil an ?sreier Straßen, Mus fich viel Unnüß Gejchweg 
nich Irren Laßen“ (übrigens ein Zeugniß für die übliche Kritif 
an Neubauten, die ein reges Wolfsinterefje beweiſt). In den 
reformatorischen Wirren, noch vor öffentlicher Zulaſſung evange— 
liſchen Bekenntniſſes, 1539, jchrieb ein muthiger Bürger an fein 
Haus (im Kläperhagen): „Virtus cessat, ecclesia turbatur. cle- 
rus errat, demon regnat, simonia dominatur“. Die Pracht: 
eremplare der alten Häujer jtehen am Markt, vor Allem das welt: 
berühmte Amthaus der Knochenhauer, d. h. Zunfthaus der Fleischer. 
Es iſt bis zu dem hohen, jpiten Giebel, der dem Markte zugefehrt 
it, nicht weniger als fünfmal fräftig überfragt und von oben bis 
unten bemalt und mit reichiten Schnitereten bededt; dabei aber, 
in dem Gewirr der Balfenköpfe und Sodel und Reliefs und Frieſe 
von einer Harmonie, Abtönung und Ruhe der Farben, die höchit 
bewundernswerth it. Ernſter jchauen an der andren Marftjeite 
das Wedekind- und das Templerhaus drein, beide dicht nebenein- 
ander und nur durch das Judengäfchen getrennt; eriteres jehr 
tenjterreich, mit drei Giebeln jchön errichtet; letzteres einer der 
jeltenen Haujteinbauten der Stadt, mit jeinem grauen, todten Stein 
jeltjam zu den bunten Tönen ringsum fontrajtirend, eine Art 
Kajtell, dem Nafjauer Haus zu Nürnberg ähnlid), mit mächtiger, 
wagrecht abgejchlojiener und thurmgefrönter Faſſade, aber durch 
den jchönen Erfer, durch mancherlei Reliefs und Ornamente doch 
ins Allgemeine eingepaßt. Die drei Häufer und auch die übrigen, 
ferner das Rathhaus und der Stadtbrunnen davor, der die übliche 
Nolanditatue trägt, geben dem Marftplag ein Ausjehen von jo 
jcharfem, bejtimmtem Charakter, jo erniter Würde und doch jo 
malertjcher Gejtaltung, daß er wohl jeines Gleichen fucht. Das, 
übrigens trefflich rejtaurirte Rathhaus mit einem romanijchen, zwei 
gothijchen Giebeln und einem dunfel gehaltenen Fachwerfanbau it 
wie eine Stilmujterfarte, dabei burgähnlich und doc) nicht jtörend. 
Auf drei fräftigen Strebepfeilern jtehen in ziemlicher Höhe die drei 
ihönen Steinjtatuen eines Bijchofs, eines Kaiſers und eines Bürger: 
meijters. Anmuthiges Leben bringen in die Steinmajje die grünen 
Yinden vor dem Nathhauje, hinter deren Zweigen man in dem 


62 Hildesheimer Kunft. 


tief eingezogenen Yaubengang des unteren Stocdwerfs das geſchäftige 
Treiben der Leute jieht. Wer das Innere des Baues bejucht, wird 
jih an der Schönheit und Stattlichfeit des großen Prunfjaales 
erfreuen, eines der prächtigjten, die deutjche Städte aufzumeijen 
haben. Er erjtredt jich durch drei Stodwerfe und gewährt mıt 
jeinen dunflen Dolzdeden, jeinen Yauben, jeinem jchönen Gejtübl, 
jeinen Fresken und vor Allem mit dem mächtigen Fenſter der einen 
Wand, durch welches eine Fluth von Licht jtrömt, das lebensvolle 
Bild der Nathsherrlichkeit einer alten Sladt jtolzen und fraftvollen 
Geiſtes. Die großen Wandfresfen, von Hermann Prell gemalt, 
erinnern die Epigonen fräftig an die Höhepunkte der Hildesheimer 
Gejchichte, an Biſchof Bernward, an den Sieg bei Bledenitedr, 
den 1493 die jtädtiichen Schaaren unter Führung ihres Bürger: 
meiſters Henning Brandis über den Herzog Heinricd von Braun- 
jchweig erfochten („It was eyn jtridfid mangelinge“, d. h. ein ftreit- 
bares Gefecht, jchrieb Brandis in dem Briefe, den er am Abend 
der Schlacht „mit hajte gejereven“; „de allmechtige ewiae god unde 
unje uterforen Hilgen (auserforenen Heiligen) unde patronen be: 
jchermeden uns, dat wij den famp behelden, greppen (griffen) vele 
fangen, wunnen (gewannen) reyfige have, des hertogen twe jlangen 
(zwei Feldſchlangen) unde I jteinbuffe (Steinbüchje), od ander 
boigkbuſſen (Bodbüchjen, aufgelegte Geſchützrohre), vele waghen mit 
provanden (Proviant), V tunnen crudes (traut, Pulver), jo dat 
id in grote ere unde erlicheit (Herrlichkeit) lopt (verlief), god ſij 
ewich gelovet.“). Auch Bugenhagens Einzug in die reformirte 
Stadtkirche, die Erjcheinung der heiligen Jungfrau vor Kaijer 
Yudwig dem Frommen, dem fie im Rofenjtrauch das Modell des 
Domes zeigt, und zulegt Kaiſer Wilhelm I. find dargeſtellt; es iſt 
etwas pathetiiche Hijtorienmalerei, ähnlich der im Goslarer Kaijer: 
haus, aber nicht ganz ebenbürtig, jedenfall® aber an ihrer Stelle 
höchjt wirkungsvoll. — Unter den interefjanten Häufern der Stadt 
will übrigens eins nicht vergejjen fein, das ſogenannte „Kaijerhaus“ 
am Langenhagen, ein gejchmadvoller Nenaifjancebau nach italientjcher 
Art, an dem in hohen Steinfiguren und in gegen fünfzig Medaillons 
die römischen Kaiſer und Helden angebracht jind, eine gelehrte 
Spielerei, die den Gedanfeninhalt wie den Formenſinn des jeche- 
zehnten Jahrhunderts vortrefflich wiedergiebt; an der Hoffafjade 
hat der Künſtler jic) eine Güte gethan in dem reichen, neuen 
Formenſchatz der Nenaifjance, hat aber auch dem deutjchen Bau: 
material mit feinem Zinn jchöne Formen verliehen — man muß 


Hildesheimer Kunft. 63 


3. B. die Eleganz der Dachziegelfaltung bewundern. An anderen 
Häujern find es Gejtalten aus der firchlichen Vergangenheit der 
Stadt, die man angebradht hat. So hat 1616 an der Straße 
„Hückedahl“ einer die Jungfrau Maria, den Evangeliiten Yufas 
(als jeinen Namenspatron) und die großen Bijchöfe Bernward und 
Godehard anbringen lafjen. Ein jchönes Zeugniß der Ehrfurcht 
vor alter, großer Zeit; der Kunſtſinn vergaß nicht an feine Quellen 
dankbar zurüdzugehen. Dieje Quellen lagen in der Zeit des großen 
Bernward. 

Um den Geijt Ddiejer älteren, fonjtitutiven Epoche auf uns 
wirfen zu lajien, wandern wir am beiten nach der Nordweitjeite 
der Stadt. Dort steht am hohen Wall die Michaelsfirche. 
Als Kaifer Otto III. ihm eine Bartifel des heiligen Kreuzes ge- 
ichenft hatte, jtiftete dort auf der Höhe Bilchof Bernward eine 
Kapelle und fiedelte 996 ſechs Benediftiner an. Er wollte aber 
noch höher hinaus und legte „anno dujent ein“, von Rom zurüd- 
gefehrt, den Grunditein zu einer der bedeutenditen Kirchen, die in 
deutjchen Gauen jtanden; ıhre Weihe hat er 1022 noch jelbit voll- 
zogen. Die Anlage mit Doppelchor und flanfirenden Thürmen 
war an dem alten Plan von St. Gallen orientirt, aber jie war 
noch monumentaler gedacht durch zwei Querjchiffe, die das Längs— 
ichiff vor den beiden Chören freuzten und den Grundriß jo zu 
einem Doppelfreuze erhoben. Zwei Thürme über den Kreuzungen 
und vier an den Eden gaben ein impojantes Anjehen — jo zeigt 
noch ein altes Modell die Ktirche. Leider ift jie durch Umbauten, 
Brände und rohe Eingriffe wejentlich zeritört — der Oſtchor iſt 
ganz abgejchnitten worden; anfangs unjres Jahrhunderts wagte 
man es, das ehrwürdige Denkmal zum Teile abzubrechen und zu 
der in den angrenzenden Klojterräumen (noch heute) untergebrachten 
Srrenanjtalt zu ziehen; damals war in dem einen Seitenjchiff eine 
— Kegelbahn. Tritt man jet von Oſten heran, jo jteht man 
vor den beiden noch übrig gebliebenen Bernwardsthürmen, die in 
ihrer verwitterten, dunklen Steinmaſſe und ihrem feitungsartigen 
Charakter höchſt ernit, faſt düſter dreinjchauen; es redet ein über: 
mächtiger, jtarfer Geift aus diefen Gebilden. Wenn fic) aber die 
Pforte ins Innere erjchlojjen hat, jo umfängt uns auf einmal der 
herrliche Eindrud feierlicher, ruhiger, aber durch überaus jchöne, 
weiche Farbenverbindungen belebter, fait anmuthiger Verhältnijie. 
Wir jtanden zum erjten Male unter dem Eindrud einer 
romanischen Kirche altjächjiichen Styls, der flachgededten, 


. 64 Hildesheimer Kunft. 


freuzförmigen Bafilifa. Hier iſt unmittelbare Anlehnung an Die 
altchrijtlihe Bauweije, allerdings ein Nücdjchritt Hinter Die 
farolingiiche, die bereit3 an den Problemen des Wölbungstechnit 
gearbeitet hatte, ein Zurüdbleiben auch hinter der wejtdeutjchen 
Baufunjt, die jich fonjtruftiv weiter wagte, aber andrerjeitS ein 
feiner Sinn für die altchriftliche Harmonie und äjthetiiche Wirkung 
des Gotteshaujes, der um jo bewunderungswürdiger tt, als er 
mit für damalige Zeit Fühnem Griffe die Schönheit jüdlicherer 
Formen erfaßte und in dieſes nordiſche Yand verpflanzte. Es fehlt 
noch ganz das Empordrängende jpätromanijcher und gothiicher 
Kunſt, es fehlt die Kühnheit des von Gedanfen getriebenen Hoch— 
baus, es herrjcht nur die ruhige Schönheit, die jozujagen abjolute 
Schönheit. Was Mozart in der Muftf it, das redet aus Diejer 
Kunſt. Mit jchöner Behaglichkeit, Wärme, Feierlichkeit it ein 
Haus gebaut, in dem man fich wohl fühlt, ein Haus der Ruhe, 
in dem der äußere und innere Friede garantirt erjcheint, in 
dem noch nicht vom unruhigen Geiſte gothiicher Bauart das Ge: 
müth aufgerüttelt und mit ungejtümer Macht nach oben gedrängt 
wird. Gänzlich auf Säulen zu bauen, das wagte man allerdings 
nicht mehr in dieſen großen Verhältniſſen. Zwijchen die Säulen, 
die das Mitteljchiif jtügen, ſind Pfeiler eingejchoben, aber noch in 
der Minderzahl. Dem reinen Säulenjyjtem traute man offenbar 
nicht mehr, aber man veritand es auch noch nicht oder man ver: 
ſchmähte es auch, nur mit Pfeilern zu bauen und dieje kunſtvoll 
zu gliedern. Die vier Pfeiler in St. Michael find jchlicht, ſchwer 
und jteif, man nahın fie als Nothbehelf hin und wandte umjomehr 
Kunſt auf die Säulen. Die meijten diejfer vor uns jtehenden, mit 
mächtigen, prächtig, ja üppig verzierten Stapitälen gefrönten 
Säulen gehören allerdings erit dem 12. Jahrhundert an. Aber 
die beiden erjten zur Nechten jind noch Nejte Bernwardjcher Kunſt. 
Sie find jchlichter, aber überaus jchön durch jenen Wechjel des 
gelblichen und des zartrothen Tones, der nach alten Zeugnifien 
eine bejondere Kunjt Bernwards war (er ließ in demjelben Farben: 
jtil auch die Mauern und Thürme der Stadt errichten). Antike 
Bildung beweifen die einfache attiſche Bafis und der feine Berl: 
jtab am unteren Rand der Dedplatte ; germanischen Fortjchritt 
zeigt das Kapitäl, dejjen nach unten geſchickt abgerundeter Würfel 
den durch die deutjche Kunſt erfundenen Uebergang der Rundjäule 
in den quadratiichen Durchjchnitt der Bogenmauer bildet. Man 
jteht mit einer Art Ehrfurcht vor diejen fait neunhundertjährigen 


Hildesheimer Kunſt. 65 


Zeugen einer kraftvollen, das „Strenge mit dem Zarten“ verbindenden 
Bauart. Aeußerſt interejjant ift, daß man an den Würfelfapitälen 
Namen entdedt hat: Si. Yppoliti Martyris,Si. Audentii Confessoris, 
Sae. Agathae Virginis, Sae. Teclae. Ob die Säulen wirklich, 
wie alte Zeugniſſe berichten, Neliquien diejer Heiligen enthalten 
oder ob jie ihnen nur geweiht waren, haben wir nicht erfahren 
fönnen. Neuere Gelehrte (z. B. Dehio) meinen, in diejen Zuthaten 
ein ängjtliches Mißtrauen in die Tragkraft des Säulenbaues, ein 
Suchen nach jichernden, höheren Gewalten jehen zu müſſen. Es 
fönnte dem entjprechen, daß man St. Agathe, die Patronin wider 
‚seuersbrunit, St. Thefla, der das Feuer nichts anhaben fonnte, 
u. dergl. auserlas. Aber man fann auch eine mehr ideelle Er- 
flärung darin juchen, wie uns jcheint, daß, dem jymboltjchen 
Charakter altromanijcher Kunjt gemäß, ein NAusdrud des Vertrauens 
der Kirche überhaupt, der Kirche als einer geiltigen Macht, auf die 
hohen Nothhelfer für ihr ganzes inneres Sein und Wejen gegeben 
werden jollte; der Zug in die Höhe war da, aber man fonnte ihn 
noch nicht technijch zum Ausdrud bringen, und jo that man es durch 
ideelle Mahnung. Diejem verborgenen Zug in die Höhe entipricht 
auch der wundervolle Abjchluß der Kirche zu Häupten der Gemeinde: 
die außerordentlich jchöne Malerei an der Holzdede. In edler, 
erhabener Zeichnung und mit klaren Farben, die ſich bei aller 
Yebhaftigfeit zu einem würde: und rubevollen Eindrud vereinigen 
(im Gegenjat zu den jonit jo zerjtreuenden, abziehenden Decken— 
malereien), hat im zwölften Jahrhundert Abt Rathmann den 
Stammbaum Chriſti gemalt, die im Mittelalter beliebte „Wurzel 
Jeſſe“ (noch heute in Hildesheim „Ielle-Boom‘ genannt), indem er 
auf acht großen, roth oder blau grundirten ‚zeldern Adam und Eva, 
Jeſſe, David, Salomo, Hiskia, Joſia, Maria und Chriſtus, Yebteren 
als den Berherrlichten, Thronenden, in feterlichiter Haltung malte 
und jie auf fleineren Feldern mit den Propheten, Evangeliten 
u. j. w., jowie mit allerlet Allegorien und Arabesken umgab. Es 
ijt wie eine Uebertragung der Bücherminiaturen ins Große. Eine 
ſchönere Dedenmaleret haben wir nirgends gejehen. Wandert man 
weiter, jo erjchließt jich, bejonders von den Zeitenjchiffen und vom 
Chore aus, immer reicher und jchöner das Bild der freien, groß: 
artigen Halle mit ihren prächtigen Säulen, und man bedauert nur, 
dat der Bau durch Einbauten (jogar ein Stüd Kreuzgewölbe in 
der Vierung) zerjchnitten und gejtört it. Das nördliche Querjchiff 
iſt noch in der ältejten Anlage erhalten; es zeigt drei Säulen 
Preußiihe Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 5 


66 Hildesheimer Kunſt. 


arfaden über einander, die jedenfallS den Frauen im Stloiter 
angewiejen wurden; denn wenn auch nach den alten Statuten nur 
„ſieben bejahrte“ ich darin aufhalten durften, jo willen wir doch, 
daß deren um 1247 eine Menge war, die ebenjo das Budget wie 
den Ruf des alten Benediktinerflojters gefährdete. Der Chor üt 
vom Querjchiff durch eine hohe Steinjchranfe abgejchlofien, die 
allerlei plaſtiſchen Schmud trägt: innen zwei feine Frieſe mit 
Engelchen und fabelhaftem Gethier, außen die größeren, früher 
vielfarbigen Statuen der Maria, vierer Apojtel und der Bijchöfe 
Bernward und Godehard, in einem gewiſſen freien Stile, aber nicht 
an die jchönen Werke romanijcher Plajtif reichend, wie ſie ın Bam— 
berg, Naumburg, ‚Freiberg, Wechjelburg entitanden. Was jonit ın 
der Kirche zu jehen it, gehört jpäteren Zeiten an und iſt nicht jo 
bemerfenswerth, bi8 auf das Chorgejtühl des jechszehnten Jahr: 
hunderts mit jeinen unruhigen Schnigereien und einen jchönen 
‚slügelaltar von dem Wejtphalen Naphon (1509). Unter dem Lit: 
chor ijt die alte Bernwardsfrypta, für ſich zugänglich, weil katholiſch 
geblieben. Nachdem er über zwanzig Jahre an jeiner Lieblings: 
firche gearbeitet, gejonnen, geopfert hatte, wollte der Biſchof an 
ihrem Fuße begraben jein, und jo meißelte er dort neben einer 
Duelle jelbit jeinen Sarfophag, den er mit allerhand apofalyptijchen 
Figuren zierte; die lateinische Inschrift ſchließt demüthig: 
Ah, das gewaltige Amt hab’ ich nicht würdig verfchen: 
Ruhe ſchenke mir Bott: finget ein Amen für mid! 

Sn Frieden ruhen bleiben durfte er freilich nicht, denn der 
heilig gejprochene Yeib wurde erhumirt und in St. Magdalenen 
aufbewahrt — einen Arm und das Haupt erhielt die Domfirche. 

- Man jollte übrigens nicht verjäumen, den noc) erhaltenen Theil 
des nördlichen Kreuzgangs (von der Jrrenanjtalt her) aufzujuchen. 
Er gehört zu den jchöniten jeiner Art und bietet in den Weber: 
gangsformen des dreizchnten Jahrhunderts, in malerijchen Blend: 
bögen und jcehmudvollen Arkaden, in romanischen Ornamenten an 
bereits gothiſchen Konitruftionen und in prächtigen Berjpeftiven ein 
überaus malerijches Bild, 

Nach der jchönen Architektur von St. Michael bringt die An- 
jchauung des berühmteiten Gebäudes von Hildesheim, des Domes, 
zunächit einige Enttäujchung. Das Aeußere defjelben it durch 
prinziploje Zuthaten verunjtaltet und unwirkſam geworden; man 
fann nicht einmal die Gliederung flar erfennen. Nur die, freilich 
erſt vor fünfzig Jahren erneuerte, doppelthürmige Weſtfaſſade wirft 


Hildesheimer Kunft. 67 


Durch ihre ruhigen Berhältnifje, durch reinjte und edeljte Gliederung 
und durch eine gewiſſe Pracht romantischer Formen jehr wohlthuend 
auf das Auge des Beſchauers; es ijt, im Vergleich zu den majfigen 
Ihürmen von St. Michael, ein reinerer, mehr deforativer und 
reiferer Formenſinn in dieſer hellglänzenden, leicht emporgeführten 
Ktonitruftion. Betritt man nun durch den Vorbau, das „Paradies“, 
des Domes Innere, jo naht die zweite, noc) ärgere Enttäujchung: 
das an ich Schöne romanische Syjtem — wieder in dem jchon in 
der Michaelsfirche bemerkten Stügenwechjel — it jchaurig verzopft 
und vertüncht, ſodaß jeder Blid weh thut, wiewohl man zugeben 
muß, daß die Verzopfung nicht jo gänzlich tödtend wirft wie etwa 
an gothiichen Bauten. Hier dringen doc) das edle Arkadenſyſtem, 
die jchöne Säulenordnung und die jtattlichen Oberwände kräf— 
tiger durch. Innerhalb diefer Räume nun erwartete uns zu reichjtem 
Genuß eine Fülle hervorragender Kunſtdenkmäler. Das erite find 
die hohen Erzthüren, die das Paradies vom Langichiff trennen: 
des heiligen Bernward berühmte Bronzethüren, die er mit jeinen 
Gehilfen 1015 anfertigte. Sie find verwandt mit dem Erzportal 
am Augsburger Dome, aber jie jind höheren Alters, daher auch 
primitiver in Technik und Kunſtform, und dennoch weit wirkungs— 
voller. Der funftfinnige Bischof hat, wie ſonſt öfters, die Idee 
gehabt, eine Art bibliiche Gejchichte für das Volk, eine Art biblia 
pauperum, zu jchaffen, aber nicht naiv erzählend, jondern, ganz 
im Sinne jeiner refleftierenden Zeit, geheimnißvolle Zuſammen— 
bänge gebend. Das Drama von Sünde und Erlöjung bewegte 
ihn, und jo jtellte er die Urgejchichte der Menjchheit und die Ge- 
Ihichte Ehrifti auf je acht Feldern unter geiltvollen Gegenüber: 
itellungen dar. Seltjam plumpe Figuren mit häßlichen Gefichtern 
und unrubigen Bewegungen, jcheinbar ohne jeden Sinn für Grup: 
pirung, dem ungeübten Auge gewiß wunderlich! Und doch wird 
nähere Betrachtung finden, wie jchön Dies und jenes gedacht iſt, 
jo die Familienſzene des hadenden Adam und der jäugenden Eva, 
die unter einem an den Baumäjten verjchlungenen Mantel jißt, 
oder die Verkündigung Mariä, das Ave Maria. Die beiden Ge— 
italten des Engel® und der Jungfrau gleichen ja zwei buclichen 
alten Weiblein, die mit tief gebeugten Köpfen von unten ber eins 
nad; dem andern jchauen, und doch, welche gemütbliche deutjche 
Auffaſſung, welches eigenthümliche Leben in diefer Gruppe! Oder 
man jchaue die Kreuzigung an: welch feiner Sinn für Symmetrie 
bat die beiden Striegsfnechte zur Nechten und zur Linfen ans 
5* 


68 Hildesheimer Kunft. 


geordnet, den einen mit der Lanze, den anderen mit dem Eſſig— 
ihwamm am Stabe, die nach dem Haupte des Gefreuzigten 
fonvergiren, und noch weiter nad) außen hin, aljo ganz gegen Die 
jonjtige Anordnung, Johannes und Maria. Auffallend ift die ganz 
betjpiellos freie Behandlung des Neliefs: während die Unterförper 
fait unmerflich jich vom Grunde heben, treten die Oberleiber und 
Ktöpfe ganz frei heraus, eine unebenmäßige, unklaſſiſche Art, Die 
das Wejen des Reliefs noch nicht erfaßt hat. Nach welchem Bor: 
bild Bernward hier gearbeitet hat, it lange dunfel gewejen. Wor 
jieben Sahren hat ein eingehendes Studium der inhaltlich merf- 
würdig ähnlichen, aber freilih in Holz gejchnigten Thüren der 
alten Bajilifa San Sabina auf dem Aventin zu Nom etliche 
Forſcher zu der VBermuthung der Abhängigkeit geführt — Thatjache 
it jedenfalls, daß Bernward, als er 1001 in Rom weilte, im 
faijerlichen Balajt auf dem Aventin wohnte und jeden Tag das 
Kunſtwerk von San Sabina vor Augen hatte. Die Uebertragung 
in Erzguß fommt immerhin auf feine Nechnung. Darin war er 
ein echter Sohn jeines deutjchen Volkes, das, wie befannt, von 
jeher eine große Vorliebe für die Metallfunit zeigte — wird Doc 
in alten Sagen die Schmiedefunft jelbjt des Helden für würdig 
erachtet. Ein andres derartiges Gußwerk it im jüdlichen Kreuz: 
ſchiff aufgejtellt, die Bernwardjäule. Er hatte in Nom die 
Trajanjäule gejehen, und ihm war fein Stunjtgedanfe zu groß. 
Sp machte er jich daran, das achtfach gewundene Erzband einer 
etiwa fünf Meter hohen Säule mit 28 Neliefs zu jchmüden. Das 
Leben Chriſti war der Stoff, aber diesmal von der Taufe bis zum 
Balmeneinzug, alſo die große Lücke zwijchen den nur Jeſu Kind: 
heit und Paſſion daritellenden Tafeln der Erzthüren. Soweit 
nicht die Spuren abjichtlicher Bejchädigung (bejonders im Bilder: 
jturme 1544) zu jehen find, iſt das Werf trefflich erhalten und 
durch die Schöne grünliche Patina belebt, das Relief ift merklich 
gejchiekter behandelt ; überhaupt ein nach Größe des Gedanfens 
und Trefflichfeit der Ausführung bewundernswerthes Werf. Die 
gleiche Kraft der Konzeption beweiit auch der mächtige Kronleuchter 
des Domes; er iſt auch eine Idee Bernwards, wenn auch erit 
nach jeinem Tode vollendet. Es giebt nur vier derartige alt: 
romanische Nadleuchter in deutjchen Yanden, und unter diejen it 
der große Bernwardleuchter der größte und jchönjte. Er mit 
nicht weniger als jieben Meter im Durchmejjer, neunzehn im Um: 
fang, und trug einjt in jeinen Ihürmchen und Sinnen aus ver: 


Hildesheimer Kunſt. 69 


goldetem Kupferblech und getriebenem Silber 72 Sterzen. Es 
jollte das himmlische Ierufalem jein, die Stadt der triumphirenden 
Kirche, die über der im Schiffe ſitzenden jtreitenden Gemeinde 
leuchtete ; daher Ddieje goldenen Mauern, Zinnen, Thürme und 
Berlenthore. Die Silberjtatuetten der zwölf Apojtel haben die 
ichwedischen Soldaten im großen Striege ausgeführt. Die lautere 
Schönheit des ganzen Werfes muß jeden ergreifen. Wie hat es der 
gentale Künftler veritanden, die großen Gedanfen feiner Kirche zu 
wundervollem Ausdrud zu bringen! Jahrhunderte haben fich 
daran erquidt und gebildet. Und noch viel mannigfaltiger foll 
jeine Kunſt fi) uns erſchließen. Wir erwähnen deshalb nur bei- 
läufig das ſpätromaniſche Taufbeden im wejtlichen Seitenjchiff, jo 
herrliche Gußtechnif — nach Bernwards Vorbild — und jo aus- 
drudsvolle Schönheit der plajtiichen Darjtellung es zeigt, und 
werfen nur einen Blick auf die jehr problematifche Irmenſäule 
vor dem (übrigens äußerjt funjtvoll in Stein gearbeiteten) Lettner 
— es joll das Gößenbild des Arminius jein, dem als dem Kriegs— 
gott die Sachſen Opfer brachten, bis es Karl der Große auf der 
Eresburg niederlegte ; indeß das jchmudloje, marmorähnliche 
Säulengebilde wird wer weiß woher geholt jein. Wir juchen die 
Domjchagfammer auf, in der uns der Küfter Wichtiges zu zeigen 
hat. Da iſt der Goldfeld, an deſſen Fuß und Knauf 
gewiß Bernward jelbit die jchönen Edelſteine, bejonders den föjt- 
lichen Topas, und die Gemmen und Steinjchliffe befejtigt hat, 
übrigens mit jo unbefangener Freude an der antiken Kunit, 
daß er eine Gemme mit den drei Grazien in befannter 
Nadtheit unbedenklich in das Weihgefäß fügte. Da it Bernwards 
Krummſtab, dem aber ein großer Meijter jpäterer Zeit den Schmud 
glänzender Gothif verliehen hat, des Biſchofs jeidengewobenes grünes 
Kleid, das man in feinem Sarge fand, eine funjtvolle Weberei voll 
feiner Ornamentif, jein geometrijcher Koder, der vor ihm lag, 
wenn er den jungen Kaiſer Otto unterrichtete, auch herrlich ge: 
ichriebene und reich gezierte Meh- und Evangelienbücher aus feiner 
Zeit (eins übrigens vom Abt Rathmann an St. Michael, deſſen 
Kunſt wir jchon bewundert haben). Da jind auch Kopien jener 
drei berühmten Erzeugnijje Bernwardjcher Kunſt, deren Originale 
in der fleinen Magdalenenfirche aufbewahrt werden (die Kopien 
im Domjchag erjegen die Betrachtung dieſer Originale): des 
goldnen Bernwardsfreuzes, mit dem er 994 jene Kreuzpartifel um: 
jchloß, und der beiden Standleuchter, die man auch in jeinem 


70 Hildesheimer Runft. 


Sarge fand. Das Kreuz ijt einen halben Meter hoch, in Gold 
getrieben und mit über zweihundert Edeljteinen und Gemmen 
verziert; es ijt jein Attribut geworden, faſt das Wahrzeichen von 
Hildesheim — die Aebte des Klojters, die Goldjchmiedzunft führten 
es in ihren Siegeln, und faum iſt ein Bernwardsbild ohne Diejes 
Kreuz zu finden. Die Leuchter, ziemlich ebenjo hoch, jymbolifiren 
aufs Schönjte den Zug zum Lichte — die Blide der Eleinen Figuren 
jind aus der Tiefe nach oben gerichtet. Eine Injchrift bejagt, daß 
Bernward die Stüde durch einen Gehilfen (puer) „nicht aus Gold, 
auch nicht aus Silber, und doch aus Gußmaſſe herſtellen lieh,“ 
aljo in einer neuen Legirung. Man wird nicht müde, Die Er: 
zeugnifje dieſer ebenjo prächtigen wie feinfinnigen Kunſt des großen 
Biſchofs zu bewundern. Was jonjt im Domjchag it, das alte by: 
zantinijche Serufalemfreuz, ein Gejchent Ludwigs des Frommen, 
ein herrliches Flügelaltärchen mit einer Verfündigung von Fieſole, 
ein Stüd eines Kruges von Cana, dergleichen man auch jonit 
findet (3. B. in Quedlinburg) — in Wahrheit wohl ein Ueberreſt 
jener großen Weingefäße, die die alten Chriltengemeinden für ihre 
Opferjpenden brauchten —, tritt in zweite Linie. 

Bon der Domjchagfammer führt der Küſter gewöhnlich in den 
benachbarten fleinen Domhof. Das ift wie eine Welt für fich, ein 
nicht eben großes Stück Erde, unter deren grünem Raſen die ver: 
jtorbenen Domberren alter und neuer Zeit ruhen; auf der einen 
Seite die Dftapfis des Domes, auf den übrigen drei die Doppel: 
gejchojjigen Kreuzgänge, aljo ein vollfommener Abjchluß gegen die 
Welt, wie ein Bild der treuga Dei, des Gottesfriedens ım 
Schatten der Kirche. Hier it an der Domapjis der weltberühmte 
Rojenjtod zu jehen, der angeblich) taujendjährige, in Wahrheit 
faum viel über Ddreihundertjährige; an jeinem gebrechlichen Leibe 
doftern jeit Jahrzehnten die Gärtner, er jcheint doch altersjchwad) 
zu werden; im Herbſte, als wir ihn jahen, war es ein jchmächtiges, 
dürres Gewächs; aber ehrwürdig it es Durch jeine Sagenmwelt. 
Kaiſer Yudwig der Fromme, erzählt Frau Sage, ließ einjt bei der 
Sagd im Walde ſich Meſſe lejen, das heilige Gefäß ward an 
einem Strauche aufgehängt, dann ruhte der Kaiſer. Als er er 
wachte, war ein Wunder Gottes gejchehen. Ringsum, mitten im 
jommerlichen Blühen und Grünen der Büſche, war heiliger Schnee 
ausgejtreut, und das Goldgefäß am wilden KRojenjtrauch war jo 
jejt mit den Zweigen zujammengewachjen, daß feine Hand es löjen 
fonnte. Da erfannte der Kaiſer des Himmels Fügung und lieh 


Hildesheimer Kunit. 71 


in den Mejten des Wunderjtrauches einen Altar und darüber Die 
Domfirche des Bisthums errichten, das er von Elze hierher ver: 
legte. Schöner als der Strauch it das unvergleichlich jchöne 
Architefturbild der Kreuzgänge mit ihren Ddoppelitöcdigen Rund: 
bogenarfaden und der anmuthigen Fülle von wildem Weine. Eine 
Harmonie und eine Stimmung ift in Ddiejen Xinten und Ber: 
hältnifjen, die ergreifend wirft. Die lebendige Staffage von Male: 
rinnen, die von allen Seiten das jchöne Bild zeichneten, war mir 
ganz begreiflih. Schön find auch die ehrwürdigen Grabjteine in 
den unteren Kreuzgängen, zum Theil jogar außerordentlich jchön, 
bejonders der des Biſchofs Adelog aus dem zwölften Jahrhundert, 
jenes thatfräftigen Bijchofs, der mit Erfolg jeine Rechte jelbjt 
gegen den gewalttätigen Herzog Heinrich den Yöwen wahrte. Der 
Künstler hat ihn in einem prächtigen, weihevollen Hochrelier ab- 
gebildet, um welches die weltflüchtige Injchrift geführt iſt: Gloria, 
forma, genus, mundana, probabilis, altum transit, mancet, abit. 
Haec modo clamo tacens. Ora pro me! (Srdijcher Ruhm gebt 
dahin, liebliche Schönheit verblüht, hoher Adel vergeht; dies nur 
predige noch ich jchweigjamer Mann; bitte für mich!) Ein andrer 
Grabjtein rühmt die Barmherzigkeit des Priejterd Bruno, den Die 
Armen laut beweinten. Aus dem Streuzgang führt ein „vers 
Ichwiegenes Pförtlein“ in die nahe Domſchenke, wo jich einjt gegen 
Abend die Dombherren mit ihren Freunden aus der Stadt zur 
„Bapenjtunde“ zu verjammeln pflegten. Der Weltruf des Lokals 
gleicht dem des Nürnberger „Bratwuritglödle*, bejonders jeit 
Sulius Wolff in jeinem Epos „Renata“ den Ruhm des „hochge: 
giebelten Weinhaujes* gejungen hat. Nein Fremder wird an 
diejer alten caupona vinaria ecelesiae cathedralis vorübergehen, 
obwohl darin faum etwas mehr zu jehen iſt als eine Roſe im 
Glaſe auf dem Stammtifch, über dem einjt an der Dede die Roſe 
gemalt war, damit „zu verjchwiegener Berathung“, im traulichen 
Erfer man sub rosa jich bejprechen fonnte, und, was nicht zu ver: 
gejjen, ein gutes Weinchen im Glaje, „denn auch heute noch ver— 
zapft man dort recht achtungswerthe Tropfen.“ 

In einer Nebenfapelle des Domes werden Nejte eines hinter 
dem Hochaltar aufgefundenen merkwürdigen Zußbodens aufbewahrt; 
der funftjinnige, um Hildesheims Kunſtdenkmäler hochverdiente 
Dr. Römer trat 1850 zufällig unter die Arbeiter, die die Dielen 
im Oſtchor erneuerten und die darunter herausgebrochenen Gips— 
platten achtlos bei Seite warfen; er erfaniıte mit Stennerblid, was 


72 Hildesheimer Kunft. 


bier im Spiele war, und rettete die Nejte, aus denen ſich noch ein 
Bild des alten Gefüges ergiebt. Man hat zu wirklicher Mojatt, 
als Bijchof Hezilo 1077 die Chorapfis ausbaute, feine Mittel gehabt 
und deshalb eine Art Nachahmung erjtrebt durch ein Verfahren, 
wie man es jonjt nirgends gefunden hat (neuerdings übrigens in 
der Godehardificche nachgeahmt): man jchnitt die Konturen der 
Zeichnung in Gipsmafje ein und gab ihnen mit Holzfohle und 
Röthel Schwarze und rothe Färbung. Die Zeichnungen jtellen Iſaaks 
Dpferung und Melchijededs Opfer — fein gedacht für den Plat 
hinter dem Meßopferaltar — und verjchiedene Allegorien (3. B. die 
„Zeit“ als ein Haupt mit drei Gefichtern, äußert gejchidt, ja 
raffinirt fomponirt) dar und erinnern an pompejantijche Künite. 
Das Werk ift ein neuer Beweis für die alljeitige Triebfraft und 
Erfindungskraft, die Bernward in die Kunſt jeines Jahrhunderts 
gelegt hatte. Man tritt nad) Verlajjen des Domes gewih in ehr: 
fürchtiger Bewunderung vor jein Denkmal unter den jchönen Linden 
des großen Domhofes. Es ijt 1893 bei der großen Bernwarbd: 
Jäfularfeier aufgeitellt worden (wo einjt die Bernwardjäule jtand). 
Harter hat den Bijchof mit Krummjtab und zum Segen erhobener 
Nechten dargejtellt, zu den Füßen das Modell feiner Lieblings- 
Ihöpfung, der Michaelskirche, und eine Nachbildung des Goldfreuzes. 
Drei Reliefs charakterifiren den Bijchof, den Lehrer, den Künſtler. 
Diefer Bifchof muß ein Univerjalgenie gewejen jein. Was die 
Künſtler erzählen, übertreibt gewiß jeine perjönliche Handfertigfeit. 
Danach wäre er Architekt, Maler, Bildner, Schniger in Holz und 
Elfenbein, Rothgießer und Goldjchmied gewejen; dazu fommen die 
chroniftischen Angaben, daß er auch Arzt war, ferner, daß er Dad} 
ziegel erfand („nach eigener Erfindung ohne Anweifung‘‘, wie jein 
Biograph IThanfmar erzählt) und überhaupt den Ziegelbau in 
Deutjchland einführte. Seine perjünliche Thätigfeit an den wid) 
tigiten Werfen unbejtritten lajjend, mögen wir doch wohl mehr 
glauben, daß der bedeutende Mann die neuen Ideen angab, den 
neuen Geijt fand und mit jouveräner Gewalt Hildesheims Kunit- 
leben jo erregte, daß die Bewegung noch heute nachzittert. Et 
gehörte zu den begnadigten Menjchen, die die befruchtenden Waſſer 
verjchtedener Quellen in jich aufnehmen und zu einem vollen, jchönen 
Fluſſe vereinigen, der von ihnen aus Leben jchaffend durch Land 
und Volk ich ausbreitet. Was er in fich aufnahm, waren zuerſt 
die Schönen Vorbilder der alten Kunſt — jeine Nomreije war eine 
geichichtliche Zügung —, dann die Nunjttraditionen der deutjchen 


Hildesheimer Kunſt. 73 


Heimath — ein gut Theil deutjchen Wejens it in ihm (vgl. was 
wir oben über jeine Metalltunit bemerften), ferner der reiche firch: 
liche Gedanfenkreis, die Myſtik, das Grübelnde jeiner Zeit, und vor 
Allem auch das ejchatologijche Wejen, das durch die Erwartung des 
Weltendes um 1000 bewegte Nachjinnen über die Wunderereignijie 
der Zukunft. Er it zugleich ein tüchtiger Biſchof gewejen, der Die 
Hechte feines Sprengel® gegen den Mainzer Erzbijchof im Streit 
um Gandersheim fräftig zu wahren veritand, und jo jteht er in der 
Erinnerung als das bedeutendite Beijpiel jener Männer in Stola 
und Kutte, die jorgenden Sinnes die Kunſt durch unruhige Zeiten 
leiteten, während, was jonit an der Spitze des Volkslebens jtand, 
der Jagd und dem Waffenhandwerf nachging. 

Wie in den Bautraditionen jeine Gedanfen weiterledten, 
dafür iſt das glänzendite Beijpiel die dritte bedeutende Kirche der 
Stadt, St. Godehardi, am Südwall gelegen. Godehard jelbit, 
ſein Nachfolger, mußte in jeinen Spuren gehen. An fich engeren 
Geiſtes, wiewohl ein jittlich und religiös rejpeftabler Charafter, 
asfetiichen Mönchsinterejjen lebend und auf nichts jo jehr bedacht 
als auf jtrenge Reform der verwilderten Klöſter in Eluniazenfijcher 
Richtung, daher viel angefeindet in Tegernjee, Hersfeld, Krems— 
münster, wo er, der geborene Bayer, vorher wirkte, fonnte er doc) 
dem angebahnten Kunftleben nicht ausweichen und it mit den 
dreißig Kirchen, die er angeblich gegründet hat, ein Vertreter des 
ganz außerordentlichen Baueiferd jeines Jahrhunderts geworden, 
jenes fajt fanatischen Baueifers in Sachjen, den der Mönch Rudolph 
von Cluny jinnig aus dem Jubel erklärt, der die Menjchheit 
durchdrang, als der gefürchtete Weltuntergang nicht eingetreten 
war. Godehard wurde 1131 heilig gejprochen, und bald danadı 
begann Bijchof Bernward den Bau der großen Kirche zu Ehren 
jeines Namens. Er brachte aus Rheims, wo er der Heiligiprechung 
Godehards beimohnte, neue Baugedanfen mit, die die altjächitiche 
Weiſe wejentlich abändern jollten. Das iſt die in Frankreich jchon 
längere Zeit beliebte, auf die Gothif hindeutende Erweiterung der 
Titchoranlage. Sie wird an der Godehardsfirche darin sichtbar, 
dab die Seitenjchiffe am Kreuzarm nicht enden, jondern um die 
Apjis geführt werden und einen Chorumgang bilden; ja jie treiben 
no drei Fleine Kapellchen aus jich heraus. Wir jtehen aljo vor 
den eriten Spuren des nachmals jo mächtigen Einflufjes der fran- 
zöſiſchen Architektur. Dem Ditbau it ein überaus gefälliaes Aus: 
iehen gegeben, dem dann der herrliche Achtedsthurm über der 


74 Hildesheimer Kunft. 


Vierung die nöthige Würde verleiht. Auch die Ornamentik — 
jelbjt der übliche Rundbogenfries — it freier und zierlicher, und 
die Gliederung der Yanghausanlage mit dem fräftig ausladenden 
Querſchiff und der jchönen Lijenenverzierung zeigt einen reiferen 
Sinn, der jchon an die Schönheit des Bamberger Domes erinnert. 
Die freiere Ornamentif zeigt am jchönjten das Nordportal, an dem 
auch drei Figuren gemeißelt find (Chriitus, Godehard, Epiphanius), 
jo jchön und edel, daß man an die herrliche Blüthe romanijcher 
Plajtif im zwölften Jahrhundert, an die Naumburger und Bam: 
berger Skulpturen erinnert wird. Gntzüdend iſt die Wejtfajjade 
der Stirche, jchöner und in gewiſſem Sinne reicher als die des Domes, 
Mächtig tritt die runde Apſis vor, durch zwei Frieſe gejchiekt, mit 
deforativem Sinne gegliedert, das Yanghaus darüber ijt nicht mehr 
horizontal abgejchlojjen, jondern gegiebelt, und die beiden Thürme 
itreben, erjt quadratijch, dann oftogonal, jchon gewaltig aufwärts. 
Man muß die Anjtrengung bewundern, mit der die Maſſenhaftig— 
feit, der jteife Ernit, das fajt finjtre, unheimliche Moment des Alt: 
ſächſiſchen (wie es am deutlichiten die Gernroder Kirche zeigt) Durch 
die und jene neuen Glieder belebt und gebrochen und auf eine 
feinere Ddeforative Wirfung bewußt, aber noch mühjam hinaus- 
gearbeitet wird. Die Kirche ijt übrigens berühmt durch die funjt- 
volle Reitauration jeit 1848, durd) die vor Allem die höchit noth— 
wendige jichere Fundirung erreicht tt; denn die alten Baumetjter 
haben darin leichtfertig gejchaffen, haben jo liederlich gegründet, 
daß die Tragjäulen und Wände bedenflich ausgewichen jind; auch 
vom Dombau weiß man aus alten Zeugnijjen, daß er unter Azelin 
im elften Jahrhundert deshalb nichts vorwärts fam, weil Säulen 
und Mauern immer wieder auswichen oder gar einjtürzten. Das 
Innere von Godehardi zeigt überaus jchlanfe Verhältniſſe, pracht: 
volle Säulenfapitäle mit jchön jtilifirten Schuppen oder funjtvoll 
verjchlungenen Bändern und Berlenjchnüren, und vor Allem eine 
äußerjt wohlthuende farbige Ausjtattung; Welter hat an den Ober: 
wänden das Leben Godehards gemalt. Die Ausmalung der Apfis 
zeigt den vollen ſphäriſchen Glanz der Bafilifa, den die alte 
Ghrijtenheit liebte, um aus des Yebens Kampf und Noth in Die 
begeiiternde Herrlichkeit der heiligen Welt zu jchauen. 

Ktehren wir vom Wall an Godehardi wieder in die Stadt 
zurüd, jo jteht ein alter Ihurm im Wege. Er erinnert an die 
junge Maid, die einjt im Walde den Geliebten juchte und durch 
die Wälder und Schluchten den Rückweg nicht fand, bis eines 


Hildesheimer Runft. 75 


Glöckchens Läuten ihr die Richtung wies; jterbend weihte jie eine 
Glocke für die im Walde Irrenden, die allabendlich (für einen 
Schuh und einen Gulden pro Jahr) vom Thurme geläutet werden 
jollte. Solches ijt bis in neuere Zeiten gejchehen, und „Kehr— 
wiederthurm“ heißt der alte Herr noch heute. In der anſchließen— 
den Wollenweberitrage bat ſich Julius Wolff das Haus jeines 
Goldſchmieds Rotermund gedacht, in deſſen Erfer des Meiſters 
blonde Tochter Renata als verjtohlene, treue Gehilfin am Arbeits- 
tijche jaß und den Maigrafenbecher Hämmerte nach der neuen unit, 
die „nichts von Ihürmchen mehr und Streuzen, jpigen Bögen, 
Map: und Stabwerf, nichts von Heil’gen und Madonnen, und 
was jonit von Stirchenbauten wir entlehnten“, wußte, jondern 
wiedergab „all den Meiz und Bildwerf, womit Griechen einjt und 
Nömer ihre Säulen, Ktapitäle, Tempel, Vajen, Sartophage jchön 
umfleideten und jchmücten“: in dem jonjt wenig bedeutenden 
Epos eine ganz gejchidte Darjtellung des Einzugs der Nenaijjance, 
der neuen Kunſt, die bei den ängitlichen, altmodijchen, in gothijch- 
firchlichen Schablonen befangenen Zunftgenojjen Wergerniß und den 
Vorwurf teufliichen Zaubers erregte. 

Ziehen wir einen Gang ins Freie vor, jo laden im Weiten die 
netten Anlagen des Bergholzes dazu ein. Port jtand vor grauen 
Zeiten die Burg des Nitters Benno, dort feierten jpäter die Städter 
ihre Maifeſte und feiern jie noch jeßt ihre Vergnügungen. Ein herr: 
licher Blick erjchließt jich über das weite janft gebildete, fruchtbare 
und gewerbreiche Thal der Innerjte. Im Norden die Höhen, hinter 
denen einjt die alte Zwingburg „Steuerwalt“ lag. Im Südojten 
die fernen Waldberge des Harzes und wie eingebettet im grünen 
Rahmen das jchöne Bild der vielthürmigen Stadt, vom grünen 
Gürtel der Wallpromenade umjpannt und jchöne Alleen herauf: 
jendend nad) unjerem Standort. Ueber dem rothgededten Häujer: 
meer erheben jich die hohen Kirchen; hoch ragt Andreas empor, 
links der ſpitze Jafobithurm, der höchjte über der Stadt, noch weiter 
links St. Michael und rechts von Andreas der Dom mit jeinen 
vergrünten Dächern, dann mit hohem Gtebeldach LYamberti und am 
weiteiten rechts Godehardi vornehmer Bau. Dahinter der behag- 
liche Galgenberg, an dejjen Fuß vor dreißig Jahren der berühmte 
Fund des altrömijchen Silberjchages (jet im Berliner Mujeum) 
gemacht wurde. Der Rückweg führt uns an der alten Moriß- 
firhe vorüber. Benno von Osnabrüd hat jie gebaut und Die 
Bauweije jeiner jchwäbiichen Heimath, wie zu Goslar, jo aud) hier 


76 Hildesheimer Kunſt. 


verwerthet: das Charafteriftiiche iſt der reine, pfeilerloje Säulenbau, 
wie er im Kloſter Hirfau gelernt war. Es ijt die einzige Säulen: 
bafilifa des elften Jahrhunderts (in jpäterer Zeit it in Paulin— 
zelle Diejelbe Ordnung angewandt worden. Das jchlichte, 
freundliche Kirchlein it im Innern verzopft und roh getüncht; 
es enthält den Grabjtein des Gründer der Kirche, Des 
äußerjt jtreitbaren Biſchofs Hezilo, der im Goslarer Dom jeine 
Hildesheimer zu blutigem Kampf wider die Fuldaer führte; Der: 
jelbe Bifchof jprach in Kaiſer Heinrichs IV. Gefolge die berühmte 
Abjegung des Papjtes Gregor aus, durch ein geheimes Zeichen 
auf der Urfunde allerdings jein Gewiſſen jalvirend, was Dem 
diplomatischen Geſchick des jejuitiichen Schlaufopfes alle Ehre macht. 

Wir haben auf unjerem Gange durd) die Stadt der übrigen 
Kirchen noch nicht Erwähnung gethan. Es wäre Manches von 
ihnen zu bemerfen und iſt manche bedeutende Erinnerung an fie 
gefmüpft: die hochragende Gothif an Lamberti (der einzigen ein: 
gewölbten Kirche in der ganzen Stadt), die einfachere, formjchöne 
Gothifan St. Andreas mit dem jchönen pentagonalen Chorumgang 
und dem hohen, fajt mühelos gehobenen Thurme. An diejer Kirche 
haftet die Erinnerung an die Hildesheimer Reformation. Anfangs 
hatten nur die Brüder vom gemeinjamen Leben in Mariä Lichtenhof 
(am Brühl) Yuthers Gedanken im Verborgenen gepflegt und ſeine 
eriten Schriften gelejen. Dann brady der neue Geijt hervor: 
Luthers Lieder hatten es dem Bolfe angethan, aber der jtreng 
fatholijche Rath, Hans Wildefüer an der Spite, erflärte ji) 1525 
gegen den „Martiniichen Handel“ und hieß, wie Henning Brandis 
berichtet, „de Martinjchen bofe to vorbernende (Bücher zur Ber: 
brennung) bringen. Das Singen der neuen Lieder war verboten, 
und doch erjcholl es hier und da in der Andread- oder Michaels: 
firche: „Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort! 1532 trieb man 
über jiebzig Bürger, „lutheriiche Buben“, aus der Stadt. Aber 
das Volk errang fich jeinen Willen, 1542 ging auch der Rath zur 
evangelijchen Sache über, am 1. September hat Bugenhagen die 
erite evangelijche Predigt in St. Audreas gehalten. Hildesheim iſt 
jonach eines der markanteſten Beiſpiele jener Städte, die jich in Die 
Reformation „hineingejungen“ und fie „von unten her‘ errungen 
haben. Uebrigens ging 1543 der llebermuth des Sieges in der 
Faſtnacht jo weit, daß der Biſchof Valentin beim Nürnberger 
Neichstag gegen die Hildesheimer Bürgerjchaft Bejchwerde führte 
über allerlei „ungejchiete Fröhlichkeit, unchriftliche, gottloje und 


Hildesheimer Kunit. 77 


gottesläſterige Faßnachtsſpiel und Mummerien“, daß ſie z. B. 
„einen Biſchof ausgemacht, denſelben zum Stadtthor mit 
Ruthen und Geißeln ausgehauen,“ am Aſchermittwoch gar 
„einen jungen Buben für einen Bapſt mit einer dreifachen Kronen 
in einer Alben und Kappen und ſeiner Zugehorungen, mit Händ— 
ſchuh, gülden Ringen uf einer behängten Totenbahr ausgemacht“ 
hätten. „Der Rat wußte ſich mit Geſchick und Wit zu vertheidigen.*) 
Wie treu die Stadt zur evangeliichen Sache hielt, das jollte 
fie unter unfäglichen Leiden im Dreißigjährigen Ktriege erproben. 
Als 1633 der fatjerliche Befehlshaber mitten in der jchweren Be- 
lagerung der Stadt, falls jie für fatjerliche Majeität und den 
Kurfürſten (von Köln, der auch Bijchof von Hildesheim war) die 
Waffen ergreifen wollte, Privilegien verjprach, „daß ihr feine in 
Niederjachjen gleichen“ jollte, wies das die geplagte und erjchöpfte 
Bürgerjchaft doch entrüjtet ab. Die Drangjale machten fie nicht 
irre, Hildesheim blieb lutheriſch. Dennoch hielt ſich der Klerus 
noch durd) Jahrhunderte in der alten Zahl. Im vorigen Jahrhundert 
waren es noch 171 Ffatholijche Stlerifer (am Dom allein 88). Auch 
mit der Säfularijation it das Bisthum im Neformationszeitalter 
durch Nüdhalt an Bayern verjchont geblieben, es überjtand auc) 
die Näuberzüge des „tollen Ehrijtian“ von Braunjchweig-Yüneburg, 
der 1622 mit den zuchtlojeiten aller Schaaren über die Stifter 
berfiel, als „Gott's Freund und der Pfaffen Feind.“ Erſt 1803 
bei der großen Säfularijation iſt die alte fait taufendjährige Stifts- 
berrlichfeit eingegangen. 

Nicht untergegangen jind die Nachwirfungen jener eriten 
großen Zeit, des goldnen Jeitalters der Hildesheimer Kunſt. 
Nicht untergehen joll das Gedächtniß der Zeit, zu welcher Die 
Zacjen, nachdem jie ſich einmal dem milden „Seerfönig des 
Himmels“ ergeben hatten, die Träger der deutjchschriftlichen Kultur 
waren. Nicht untergehen joll vor Allem das Andenfen an den 
eriten großen ſächſiſchen Künjtler, den großen Bijchof, der jeiner 


) An ältere Faitnahtömummereien erinnert das „Scauteufelfreuz” an einem 
Haufe des alten Marktes; dort ift im 15. Jahrhundert einer jener sornehmen 
Stadtjunfer erichlagen worden, die das Recht hatten, auf Faſtnacht vermummt 
durch die Straßen zu ziehen. Bon diefem Patrizierbrauche erzählt auch Hen— 
nig Brandis’, des Bürgermeijters, ausführliches Tagebuch: er durfte auch 
„ho duvel“ fein und berichtet eingehend von feiner und der Gefellen „kledinge: 
in Gram unde rot, de larv of gram unde rot, darup gebunden ein klein 
vilthot (Filzhut) mit dren ftrusvedderen (Strausfedern), al gram unde rot, de 
middelfte wit vorfulvert, (weiß verfilbert) umme den bot einen brunen fiden» 
ſleiger (Seidenſchleier) von einer halven elen.“ 


78 Hildesheimer Kunft. 


Stadt für alle Zeiten jeinen Geiſt eingehaucht hat. Als ich hörte, 
day die Stadtverwaltung mit großer Treue, treuer als Nürnberg, 
an den alten Kunjtdenfmälern hängt — die drei berühmten Häuier 
am Markte jind zur Sicherheit von ihr angefauft worden*) —, 
als ich in meinem bejcheidenen Gajthausjtübchen die ganz romaniſch 
ornamentirten „senjtervorjeger jah, als ich dem Gefpräch der 
Stammgäjte zuhörte, die über einen Neubau fich beifällig äußerten 
und nur das nicht billigten, daß man an den Fenſtern feinen 
„Stil“ jah, — da war es mir, als wehte die große Vergangen- 
heit herüber aus der Zeit Bernwards, als hätte ich „jeines Geiites 
einen Hauch verſpürt.“ Und jo jtimmte ich an meinem Theile 
dankbar ein in die alte Mahnung, die an der Weftapfis von 
St. Michael eingemeißelt it: Venite, concives nostri, Deum 
adorate, vestrique praesulis Bernwardi mementote! 


*) Möchte auch die preußiiche Regierung bei ihrer löblichen Fürſorge bleiben, 
der der Geheimrat Jordan 1898 auf dem Feſtmahle Ausdrud gab: alle Mi: 
nifter wären, wenn Forderungen für Hildesheim vorlagen, einig in der Ueber: 
zeugung geweſen: „Hildesheim geht vor.“ 








Der Majjenvertrieb der Volksliteratur. 


Bon 
Tony Kellen. 


Es find nicht immer die beiten Bücher, die das Volk lieſt und 
die ihm am leichtejten zugänglich gemacht werden. Wenn man von 
der religiöjen Lektüre abjieht, jo will das Volk etwas Packendes, 
Intereſſantes, etwas was einen jtarfen äußeren Reiz hat. Diejen 
Reiz aber haben Spekulanten, denen es nicht um Bolfsbildung, 
jondern nur um ein Gejchäft zu thun tt, zum Ueberreiz gejteigert. 
Statt des Interejjanten wird dem Volk Senjationelles und Pikantes 
dargeboten. Der Jugend bietet man Näuber- und Indianer— 
gejchichten, den Erwachjenen aber ebenjo werthloje und meijt jittlich 
viel jchlimmere Kolportage-Romane, die in Millionen Heften ver: 
breitet werden. 

Man Hagt heutzutage jo viel über die Bücherfrijis. Kein 
Wunder, denn theure Bücher fauft das deutjche Publikum nicht. 
Ein gutes Buch findet oft faum 1000 oder 2000 Abnehmer; gehts 
darüber hinaus, jo iſt es jchon ein Erfolg. Und in der Stolportage- 
Yiteratur wird die jchlechtefte Waare in einer Anzahl von 50000 
bi8 100000, ja 200000 und mehr aufgelegt. Dies it um jo auf: 
tälliger, als diejelben Leute, die dieje Literatur kaufen, vielleicht nie 
in ihrem Leben ein gutes Buch im Preiſe von einigen Marf aus 
eigenem Antrieb erwerben. Bon den Stolporteuren aber lajjen fie jich 
in wöchentlichen fleinen Raten von 10 oder 20 Pfennig 10, 12 
bi8 18 Mark aus der Tajche loden. 

Ich weiß allerdings recht wohl, daß auch andere Bücher zu— 
weilen einen recht großen Abjat finden, allein die literarijch werth: 


80 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 


vollen Bücher dringen doch nicht in demjelben Maße ins Volk, wie 
jolche Kolportage-Romane. Werfen wir einen Blid auf die zug: 
fräftigen Bücher, jo finden wir, daß große buchhändlerijche Er: 
folge in Deutjchland verhältnigmäßig jelten jind. 

Die hHöchjten Auflagen in Deutjchland haben Bibeln, Fibeln 
und — Stochbücher erreicht. Die Bibel war von jeher ein abjat- 
fähiges Buch in protejtantijchen Gegenden. Der Bibeldruder Hans 
Lufft in Wittenberg (7 1584) lieferte vom Jahre 1534, in welchem 
der erſte volljtändige Bibeldruf von ihm in Arbeit genommen 
wurde, bis zum Jahre 1574 gegen 100000 Bibeln. In der 
v. Ganjteinjchen Bibel-Anjtalt zu Halle erjchien 1886 eine Bibel: 
Ausgabe in 1000. Auflage. Die erite 1785 erjchienene Auflage 
war 8000 Exemplare jtarf und war in drei Jahren vergriffen; im Sabre 
1844 waren bereits über 3 Millionen diejer Oftav-Ausgabe gedrudt. 
Ein anderes Werf, das 1883 in der 1000. Auflage erjchien, ift Die 
von Bädeder in Eſſen verlegte Häjterjche Fibel, deren 1. Auflage 
von 1853 Datirt. Daß auch Kochbücher eine große Verbreitung 
finden, tjt begreiflich. 

Aber wie jteht es mit den literarischen Werfen? Welch un: 
geheure Zahl Bände von Schillers und Goethes Werfen in den 
verjchiedeniten Ausgaben verbreitet wurden, entzieht ſich der Be— 
rechnung. Man fann jich aber einigermaßen einen Begriff davon 
machen, wenn man bedenkt, daß noch immer neue Auflagen und 
Ausgaben veranitaltet werden und daß einzelne derjelben einen 
ganz folofjalen Abjat finden. Auch ausländijche Klaſſiker werden 
jehr viel in Deutjchland gekauft. Ein Beiſpiel, welch rajchen Abſatz 
eine billige, in Bezug auf Tert und Ausjtattung gut bejorgte Aus- 
gabe finden fann, hat die Deutjche Verlagsanjtalt in Stuttgart 
geliefert, indem jie auf Veranlaſſung der Deutjchen Shakeſpeare— 
Sejellichaft eine billige Ausgabe von Shafejpeares Dramen (leber- 
jegung von Schlegel und Tied) in einem Bande (gutes Papier, 
jchöner, wenn auch fleiner Drud, jolider Einband) zu 3 Marf ver: 
anjtaltete. Welchen Anklang dieje Ausgabe fand, beweijt der Um— 
itand, daß in 1'/s Jahren 10 Nuflagen zu je 2000 Eremplaren 
abgejegt wurden. 

Es giebt auch einige Gedichtwerfe, die in neuejter Zeit 50 bis 
100 Auflagen erlebt haben, allein das jind jeltene Ausnahmen. 
Das eigentliche Volk left jolche Bücher ja doch nicht. Die hoben 
Auflagen erflären ſich dadurd, daß die höchiten Kreiſe und der 
Mitteljtand jich die Bücher verjchafft haben. Schon eher dringen 


Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur. 81 


Bücher praftifchen Inhalts in das Volk. Ich will nur ein Beiſpiel 
erwähnen: die Werfe des großen Waſſerapoſtels Kneipp erzielten 
einen außerordentlich” großen Abjag, troß ihres verhältnigmäßig 
hoben Preijes. 

Dagegen giebt es literariſche Werke, die großes Aufjehen 
erregen und doch wenig gefauft werden. Ueber Niegjche wollte in 
neuejter Zeit Jeder etwas jchreiben; man fonnte jeinen Namen in 
allen Tageszeitungen lejen, aber wie hoc) mag wohl die Zahl der 
von Nietjches Werfen abgejegten Eremplare jein? Dagegen ver: 
mehrten jich unerwartet rajch die Auflagen von „Rembrandt als 
Erzieher“, objchon jelten ein Werf jo viel Angriffe und Gejpötte 
erdulden mußte wie diejes Buch. Allerdings ermöglichte der billige 
Preis (2 Mark für einen Großoftavband von 356 Seiten) einen 
rajchen Abjat. 

Sm Allgemeinen fann man jagen, daß in Deutjchland — von 
jeltenen Ausnahmefällen abgejehen — ein theures Buch wenig 
gefauft wird, mag es noch jo werthvoll jein und noch jo viel Auf: 
jehen erregen. Umgekehrt hätte. man aber Unrecht, zu glauben, 
der billige Preis genüge, um den Abjag eines Buches herbeizuführen. 
Es giebt aber viele Fälle, aus denen hervorgeht, daß minder gute 
und theure Bücher verfauft werden, während werthvolle und billige 
Bücher vernachläjjigt werden. Oft iſt die Austattung dabei von 
Wichtigkeit, und zwar jpielt dabei wieder weniger die Gediegenheit 
der Ausjtattung eine Rolle, als vielmehr eine gewilje Originalität, 
eine neue Idee u. dgl. Auch die Verlagsfirma jpielt eine große Nolle. 
Ein Buch, das bei dem einen Verleger unbeachtet bleibt, würde bei 
einem andern Verleger ein jtarf begehrter Artifel werden. Nicht immer 
it es aljo der innere Werth eines Buches, der ihm zum buchhändlerijchen 
Erfolg verhilft; oft jind es jogar AZufälligfeiten, die diejen herbei- 
führen. Literarijcher und buchhändlerischer Erfolg gehen nicht immer 
Hand in Hand; oft find beide ganz unabhängig von einander. 

Einen eigenartigen Zweig des Buchhandels bildet der Ver: 
trieb von jogenannten Kolportages Werfen, unter denen Die 
Romane bejonders zahlreich vertreten find. Nur ein Theil von 
Sortiments-Buchhandlungen befaßt fich mit der Kolportage, indem 
lie entweder direft an ihre Kunden die Lieferungen von Romanen 
und anderen Werfen verjenden oder durch Stolporteure diejelben ab— 
fegen lafjen. Die meijten Buchhändler aber bejchäftigen fich nicht 
mit SKolportage-Literatur, weil fie es unter ihrer Würde halten, 
derartige Produfte zu vertreiben. 

Breußifche Zahrbüher. Bd. XCVIIL Heft 1. 6 


82 Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur, 


Man hätte aber Unrecht, die Kolportage unbeachtet zu 
lafjen oder fie an und für fich zu bekämpfen, denn eine jehr große 
Zahl von Büchern und Heften der beiten Literatur wird heut zu 
Tage durch den Ktolporteur vertrieben. Man mu nämlich zwijchen 
Ktolportage-Romanen und bejjeren Lieferungswerfen, jowie teuern 
Büchern unterjcheiden, die ebenfalls durch Reiſende vertrieben 
werden. Sogar der reiche und gebildete Mann it in Deutichland 
nur jelten eifriger Bücherfäufer, und zumal in den Provinzen, wo 
das geijtige Leben nicht jo rege it, wie in den Großſtädten, tt 
auch für ihn die Anregung, die der Kolporteur ihm durch das 
Vorlegen der Neuheiten von Büchern und Zeitjchriften giebt, 
willfommen und jogar geradezu nothwendig. Im noch weit 
höherem Maße jind die breiten Schichten des Volkes auf die 
Stolportage für den Bezug ihres Lejejtoffs angewiejen. Iſt es 
doc) eine Thatjache, daß zwei drittel der gefammten buchhändlerijchen 
Produktion auf dem Wege der Kolportage vertrieben wird. Ken 
Einfichtiger wird behaupten, day all dieſe Bücher das Licht der 
Bordertreppen zu jcheuen hätten. 

Bu der Zeit, als die Kolportage ſich auszubreiten begann, 
machte die Schundliteratur etwa 90 Prozent des Umſatzes der 
„iegenden Buchhändler“ aus; jet befaſſen dieje jich aber in ſtets 
jteigendem Maße auch mit dem Bertriebe anderer Werfe. Dem 
Netjebuchhandel Liegt wejentlich der Bertrieb der größeren 
fünftlerifchen, technijchen und populärswijienjchaftlichen Werke ob, 
deren Interejienten aufgejucht und aufgemuntert jein wollen. Nur 
durch die freie Bewegung, die jeit Einführung der Gewerbeordnung 
dem Buchhandel gejtattet it, iſt es möglich geworden, jolde 
monumentalen Werfe, wie Brodhaus und Meyers Konverjations: 
lerifon, zu jchaffen, die nur durch große Auflagen im Stande find, 
die Koſten für die Sorafalt des Inhaltes und der Ausjtattung 
hereinzubringen, und jolche Auflagen find eben nur zu erzielen 
durch jenen intenjiven WBertrieb, den der Stolportage- und der 
Neifebuchhandel gejchaffen haben. So wurde die vorige Auflage 
von Meyers tonverjationslerifon hauptſächlich durch den Reiſebuch— 
handel in 116000 Exemplaren verbreitet. Dajjelbe ijt bei anderen 
encyklopädijchen Werfen der Tall. Neben diefen und ähnlichen 
Werfen, 3. B. Bud der Erfindungen u. j. w., find es in# 
befondere religiöje Werfe, Prachtbibeln, technijche Werfe u. j. w., 
die ſowohl in die Ateliers der Architekten, die Büreaus der 
Ingenieure als auch in die Werkjtätte des Handwerker wandern, 


Der Maffenvertrieb der Volksliteratur. 83 


um ihnen Aufklärung und Fortbildung in ihrem Gejchäfte zu 
bieten. Die PVerlagshandlung Belhagen und Klaſing in Bielefeld 
theilt mit, daß von ihren Verlagsartifeln: „Daheim“; Andrees 
Handatlas; Stades deutjche Gejchichte; Jäger, Weltgejchichte in 
vier Bänden; deutjcher Reichsbote; Kalender für Stadt und Land; 
Rogge, Kaijerbüchlein; Rommel, Yutherbüchlein, welche zum Theil 
in ungeheuer großen Auflagen erjchtenen find, zwei drittel lediglich 
durch den Volks- und Reiſebuchhandel Abjat gefunden haben. 

Was jpeziell den Kolportage-Roman betrifft, der für uns 
ein bejonderes Interejje bietet, jo it dies allerdings eine Klaſſe 
von Literaturerzeugnijjen, die fich eines üblen Nufes erfreuen. Sie 
werden auf Hintertreppen an Dienjtboten abgejett, die Lieferung 
von einem Drudbogen zu zehn Pfennig. Durch Abnahme der eriten 
Lieferung verpflichtet jich der Abnehmer zum Ankauf des ganzen Werfes 
und ein jolches Werf umfaßt nicht jelten 100 und mehr Lieferungen. 
Einer Köchin, die fich hat verleiten lajjen, einen Bogen eines ſolchen 
Iserfes anzunehmen, wird daher eine Ausgabe verurjacht, die einen 
verhältnigmäßig hohen Theil ihres Lohnes ausmacht. 

Welches ijt der Inhalt diefer Romane? „Die meilten Kol— 
portage-Romane, jagt Dr. Fränkel, haben die Thaten großer 
Verbrecher und Verbrecherinnen zum Gegenjtand und deren Ber: 
herrlichung zur Aufgabe. Der Held it in der Kegel durch die 
Schuld der „Gejellichaft”, insbejondere durch ungerechte Vorgeſetzte, 
philiftröje Arbeitgeber, bejchränfte Eltern in die Bahn des Ver: 
brechens getrieben worden, und bethätigt nun feine von Hauje aus 
groß angelegte Natur durch die meisterhafte Vorbereitung und 
ebenjo kühne wie geniale Ausführung jeiner Einbrüche, Bank— 
beraubungen und ähnlichen Leiſtungen. Dabei handelt es jic) 
eigentlich um eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit, denn der 
edle Räuber nimmt natürlich den Neichen und giebt den Armen, 
er iſt außerordentlich wohlthätg. Nach diefem Schema find die 
fraglichen Erzählungen mit wenigen Ausnahmen gearbeitet: Der 
$tolportage-Roman erwedt Mitgefühl und Bewunderung für den 
Verbrecher und wird jo zur Schule des Verbrechens. Und diejes 
Gift hat, Dank der rührigen Thätigfeit der Kolporteure, eine uns 
geheure, täglich wachjende Ausbreitung erlangt. In den Hütten 
der Armut, in den Arbeiterwohnungen, in den Familien der 
fleinen Handwerfer, überall finden wir die bunten Hefte, deren 
äußere Erjcheinung für den gebildeten Gejchmad ebenjo wider: 
wärtig ijt wie der Inhalt.“ 

6* 


84 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 


Der „Scharfrichter von Berlin“ enthält auf den erjten 240 
Seiten nicht weniger als 12 ausführlich gejchilderte Schand- und 
GSreuelthaten, darunter eine unrechtmäßige Hinrichtung, einen 
Kinderraub, eine Orgie in der Banditenfneipe, einen Vatermord, 
einen Ehebruch, einen verjuchten Giftmord, eine Leichenberaubung, 
eine Revolte, das Treiben einer Faljchmünzerbande u. j. w. Was 
in den Romanen von Söndermann und Viktor von Falk, der 
beiden „Lieblingsjchriftiteller des deutjchen Volkes“ (!) geboten 
wird, erjieht man 3. B. aus folgenden Kapitelüberjchriften: 

Der Mord auf der Yiebesinjel; Die Beichte der Dirne; Die Piraten 

der Spree; Gift und Dynamit; Hinter der Kirhhofsmauer; Die 

Hauernfänger von Berlin; m Zellengefängnig zu Moabit; Die 

Geliebte des Prinzen; Die ſchöne Nihiliftin; Das Bombenattentat; 

” Die jhönen Frauen des Harems; Das Verbrechen im Kerker; Der 

Hodjtapler; Galgenvögel; Die unheimliche Kiſte; Auf Piftolen u. ſ. m. 

Ein Berleger fündigte eine neue Ausgabe des „Schinder: 
hannes“ mit folgenden, jchier unglaublich dünkenden Worten an: 

„As eine Fräftige, feurige Jünglingsgeftalt, ringend und Fämpfend 

mit feinem tragischen (1) Geſchick, tritt uns Schinderhannes, Deutſch 

lands größter Räuberhauptmann, hier entgegen. Wenn aud) die 

Leidenſchaft diefen wild und zügellos, in trüber, trauriger Zeit auf: 

gewachjenen Sohn der Rheinlande auf die Bahn des Verbrechens 

getrieben, jo war es auch wiederum die ihm ganz beherrjchende 

Macht der Liebe zu Julia, dem jungen, unjchuldigen Mädchen, die 

feinem wildbewegten Räuberleben ein jo eigenthümliches Gepräge 

verlieh. Immer mieder verſuchte es Julia, Die durch ihre impo: 
nirende Schönheit, ſowie durch ihr tiefes fittenreined Gemüth einen 
unbezwinglichen, veredelnden Zauber auf den fühnen Banditenchef 
ausübte, den geliebten Helden (!) dem Verderben zu entreißen; aber 
das Verhängnig (!) erfaßte nur zu bald wieder den Wanfelmüthigen, 
um ihn auf diejenige Bahn zurüdzufchleudern, die ihn ins Verderben 
führen mußte und jchlieglih auch ouf das — Blutgerüft bradte 

RENT 

Dieſe traurige Literatur erfreut jich fortgejegt eines jtarfen 
Abſatzes, weshalb immer neue Kolportage-Romane erjcheinen. Die 
Katajtrophe von Schloß Berg, das Drama von Meyerling jind 
jhon in Dutenden von Ktolportage-Romanen behandelt worden, 
gerade wie der Hauptmann Dreyfus und fein „todesmuthiger Ver: 
theidiger* Zola, der „Millionenräuber Grünenthal“ in neuejter 
Zeit in Zehnpfennigheften ausgejchlachtet wurden. Der Roman 
auf den Mädchenmörder Schenk fonnte man 3. B. in zahllojen 
Häufern Bayerns und Dejterreich$ vorfinden. Ueber den König 
von Bayern erjchienen 13, auf den Tod des Kronprinzen Rudoli 


Der Mafjenvertrieb der Boltsliteratur. 85 


entfielen 22 jolcher Machwerfe, und über Johann Orth wurden 
etwa 5 jenjationelle Romane veröffentlicht, bevor man auch nur 
etwas Sicheres über die Schidjale des unglüdlichen Erzherzogs 
erfahren haben fonnte. Die Ermordung der Kaiſerin von Defterreich 
ıjt natürlich) auch jchon in Stolportageromanen bearbeitet worden. 

Vom „Scharfrichter von Berlin“ wurden 250 Taujend 
Exemplare abgejegt, die „Zotenfelder in Sibirien“ hatten jchon 
150 Tauſend Abnehmer gefunden, bevor fie zu Ende geführt waren. 

E3 liegt hier eine wenn auch nicht planmäßige, jo Doch 
wenigitens gejchäftsmäßige Vergiftung der WVolfsjeele vor. Mit 
Recht jagt Müller-Guttenbrunn in jeiner fleinen Schrift über 
„Bolfslektüre*, es jei gerade als ein erjchwerender Umstand zu er— 
achten, daß die Leſer dieſer Nomane gerade den tiefiten Schichten 
der Bevölkerung angehören. 

Es giebt faum Worte, die jtarf genug find, die Verderblichkeit 
jolcher Machwerfe zu brandmarfen. Die Berfafjer find meijt Leute 
ohne Stenntnifje, ohne Talent und ohne fittlichen Halt, deren Be— 
gabung ſich darauf bejchränft, Szenen zu jchildern, bei denen den 
Lejer eine Gänjehaut überläuft, und eine „Spannung“ hervor— 
zurufen, wie jich der von ihnen gejchürzte Anoten löjen wird. Für 
den Käufer jteht dem Opfer, das er durch Zahlung des Preijes 
bringt, keinerlei geiltiger Gewinn gegenüber. Die Bejchäftigung 
mit jolchen Büchern führt vielmehr zu einer Verödung des Kopfes 
und des Herzend. Der Kampf gegen dieſe Kolportageromane iſt 
daher ein verdienjtliches Werf. 

Diejenigen, die diefen Kampf zuerjt aufnahmen, haben nun 
irrigerweije geglaubt, daß die Gejchäftstorm, in der dieje Preß— 
erzeugnifje vertrieben werden, das jchädliche Element jet; fie haben 
das Haufieren mit Büchern verbieten wollen. Dadurch würden 
aber auch die guten Erzeugnifje des Buchhandels getroffen, und 
die Verleger von Slolportage » Romanen würden jchließlich doc) 
noch neue Mittel finden, ihre Waare an den Mann zu bringen. 
Das einzige Mittel, die jchlechte Kolportage-Literatur zu bekämpfen, 
beiteht darin, auf demjelben Wege gute Bücher unter das Volk zu 
bringen, und zwar jolche Werfe, die auch den gewöhnlichen Mann 
und das bejcheidenjte Dienjtmädchen zu interejjieren vermögen. 

Leider herrjcht ein gewijjes Borurtheil gegen alle Kolportage— 
Yıteratur. Man jieht Diejelben als identisch mit Schauer: oder 
Hintertreppen-Romanen an. Nun ijt es ja wahr, daß die Mehr: 
zahl dieſer Werke in literarifcher Hinjicht jehr niedrig ftehen und 


86 Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 


eigens nur für eine gewilje Stategorie von Lejern gejchrieben wurden, 
die eben feine hohen Anjprüche an den Inhalt jtellen. Aber das will 
doch nicht jagen, daß ein im Lieferungen erjcheinender und von 
Kolportage-Buchhändlern vertriebener Roman jchon deshalb werthlos 
jein muß. Ic erinnere nur daran, daß 3.8. manche bejjere Werte 
franzöfifcher Schriftiteller einige Iahre nach ihrem Erjcheinen in 
Buchform aud) in illuftrirten Lieferungen zu 10 Gentimes (8 Pfennig) 
ausgegeben wurden. Und was jollte einen deutjchen Schriftiteller, der 
einen längeren werthvollen Roman in volfsthümlicher Faſſung ge 
jchrieben hat, hindern, ihn auch in Form von 10: Pfennig = Heften 
den unteren Streifen des Volkes zugänglich zu machen? 

Diejes vorausgejegt, wollen wir einiges über die Herjtellung 
und den Vertrieb von Kolportage-Romanen bemerfen. Diejelben 
müſſen volfsthümlich gejchrieben jein und die Yejer von einem 
Heft zum andern in Spannung halten. Es ijt ja wahr, daß bier: 
durch der Autor leicht in Gefahr geräth, einen Sfandalroman zu 
jchreiben, allein wer ernitlich gewillt wäre, die literarijche und die 
jittlich-fünftlerifche Seite nicht außer Acht zu lajien, könnte auch 
dieje Klippe umſchiffen. Die Verleger halten natürlich darauf, 
daß die Gejchichte möglichit packend jei, und fie jegen dieſes aud) 
als Bedingung, wenn jie einen Schriftiteller beauftragen, 
ihnen einen Kolportage-Roman zu Lliefern.*) 

Der Kolportage-Buchhandel im Allgemeinen verdankt nicht 
etwa dem zunftmäßigen alten Buchhandel jein Entjtehen, jondern 
er hat fich erjt in der neuejten Zeit entwidelt, nachdem die Geſetz— 
gebung nicht mehr hemmend auf den Druck und Vertrieb von 
Büchern und Schriften einwirfte. Die Preſſe wurde in Deutjchland 
ja erit 1848 frei, und erit nach jener jturmbewegten Zeit wurde 


*) In dem Nachlaß eines Verfaflerd von Kolportage-Romanen mwurde u. a. 
folgender Brief eines Verlegerd vorgefunden: „Wir haben jett ſchon das 4. 
Heft fertig und noch feine fchaurige, reizende, kraftvolle Handlung, Wie 
lange noch ſoll es jo weiter gehen? Wann mwird endlih einmal ein Mord 
oder eine fonftige pilante Handlung die Erzählung Ipannend machen? Bir 
bedauern fait, Ihnen neuerdings unfer Vertrauen gefchentt au haben. Ihre 
breite, behagliche Schilderung des Familienlebens paßt für den Geſchmad 
unferer Leſer niht. Auf diefe Art befommen wir nicht für das 5. Heft, 
das wir bis Mittwoch in Händen zu haben hoffen, eine merfliche Beſſerung 
in diefer Hinfibt Könnten Sie nicht den alten Zandpfarrer zu einem In—⸗ 
triguanten ftempeln? Um fo weniger das nach der Einleitung zu ermarten 
wäre, um fo mehr würde der Roman gewinnen. Ueberhaupt iſt es mötia, 
die fchlechten Charaktere zu häufen. Kür das 7. Heft, wie Sie wiffen, die 
fritiihe Nummer, ift für den Schluß die ausführliche, genaue Schilderung 
einer Mord» oder Greueligene nötig, die aber erſt in Nr. 8 fortgefegt und in 
Nr. 9 zu Ende geführt wird.” 


Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 87 


in Deutjchland geitattet, Drudjchriften auch außerhalb des Ge: 
ichäftslofals zu verfaufen. Die Kolportage-Buchhändler jind inſo— 
fern im Vortheil gegenüber andern Yuchhändlern, als jie alle 
Gejchäfte gegen Kaſſe abjchliegen, was befanntlich bei den Sorti— 
mentern bei weitem nicht immer der Fall iſt. 

Was den Umfang eines Stolportage-Nomans betrifft, jo ums 
faßt derjelbe gewöhnlich 100 bis 150, zuweilen auch bis 200 und 
jogar 250 Lieferungen von je einem Bogen. Die „Papierzeitung“ 
hat einmal folgende Berechnung angejtellt: 

„100, 130 und 150 Hefte find in der Regel die Ziffer, welche als 

Maßſtab für den geichäftlichen Erfolg angejehen werden, 130 und 

150 Hefte zeigen ſchon einen fiheren Romantreffer an. Einer diefer 

Romane umfaßt ſogar 200 Hefte, es ift der bei Werner Große in 

Berlin erjchienene Roman „Kornblume und Veilchen“. nterefjant 

dürfte es fein, ungefähr feitzuftelien, welches Kapital diefe Romane 

in 10-Pfennigheften darjtellen. Man rechnet in den einjchlägigen 

Gejchäftskreifen in der Negel auf den Roman etwa 25000 Mark 

Koften für Herftelung und Vertrieb. Die Ziffer darf nicht über: 

rajchen, denn das erjte Heft wird in einer Auflage von 100000 

und mehr Eremplaren gedrudt, die fich aber von Heft zu Heft in 

annähernd gleihmäßigem Werhältnifje bis zu 20000 oder 10000, 

je na dem Anklange, den der Roman findet, herabmindert. Heft 1 

bis 5 werden umjonft an die Kolportage-Handlungen abgegeben. Bom 

6. Hefte an bringt jedes verkaufte Heft dem Verleger 5 Pf. Eine 

Auflage von 5000 Eremplaren entipricht alſo einem Hefterträgnifje 

von 250 Marf, bei einem Romanumfange von 100 Heften einem 

Gejammterträgnijje von 25000 Marf. Eine Auflage von 5000 Exem— 

plaren iſt aljo allein nothwendig zur Koſtendeckung. Was über 

5000 Eremplare abgejegt wird, bildet den Reingewinn“. 

Die „Fachzeitung für den SKolportage- Buchhandel“ erklärte 
aber, dieſe Ziffern jeien viel zu niedrig gegriffen. Site jagte, jene 
Berechnung jet vor 10 bis 20 Jahren zutreffend gewefen, als 3.8. 
die fleineren Kolportage-Verleger in der ſächſiſchen Oberlaufig gewiſſe 
reich bevölferte Fabrik und Indujtriebezirke ausschließlich verjorgten 
und „abgrajten”. Mit 25000 Mark könne aber ein für den Berliner 
und den übrigen deutjchen Millionenmarft arbeitender Großverleger 
nicht mehr rechnen. Das Fachblatt giebt jodann eine eingehende 
Aufftellung aller Einnahmen und Ausgaben, die durch die Heraus: 
gabe eines bedeutenden Ktolportage-Romans entjtehen. Sc begnüge 
mich, das Wichtigjte daraus hervorzuheben. 

Die eriten Hefte bilden das „Sammelmaterial“ und von diejen 
hängt größtentheil® der Erfolg des Werkes ab. Von einem in 
Berlin erjchienenen Roman, der 150 Hefte umfaßte, wurden vom 


88 Der Maffenvertrieb der Polksliteratur. 


1. Heft 2500000 Stüd gedrudt, vom 2. Heft 215000 und von 
da an ging die Auflage abwärts bis zum 5., das noch in 
175000 Eremplaren ausgegeben wurde. Die folgenden Seite 
wurden nur mehr an die Abonnenten abgegeben, jedoch nahm 
die Zahl Ddiejer immer mehr ab. Dies ijt eine Fonjtante Er: 
jcheinung; aus verjchiedenen Gründen wird eine mehr oder weniger 
große Zahl Abnehmer untreu. Interefjant jind folgende Angaben 
über den Abjat der bezahlten Hefte. Es wurden nämlich gedrudt: 

Bon Heft 6 bis Heft 8 zwiſchen 75 und 70000. 

„nn 9u un 15 0.70 „ 60000. 

[2 r 16 [23 "„ 28 [23 60 [23 50000, 

“r Wu 4 u 50 „ 40000. 

PP EERT ⏑ 40 ,. 30000. 

en a. er: N 30 „ 20000, 

u: EL a a 46 20 , 18000. 

— 12180 18, 16000. 

er BE ur Sue. 5; 16 ,„ 15000. 

nr ee Re A: 15 „ 14000. 

„ 147 1H0. 14 ,„ 13000, 


Bon Heft 6 bis Heft 150 wurden aljo an 5 Millionen Stüd 
abgejegt, objchon fait ?/s der Abnehmer vor Beendigung des 
Werkes „abgejprungen“ waren. Dennoch wurde der fraglice 
Noman als ein jogenannter „Durchichläger“ bezeichnet. 

Der Verleger überläßt die 10: Pfennig Hefte gewöhnlich gegen 
50%, Rabatt, manchmal jogar zu 4'/s Pfennig, jtatt zu 5 Pfennig. 
Jene 5 Millionen bezahlter Hefte brachten aljo ca. 225000 ME. ein. 

Was die Ausgaben betrifft, jo betrugen Diejelben nahezu 
150000 Mk., nämlich für: 


12750000 Drudbogen (nebjt 1% Zuſchuß) . - 30906 ME. 

8500000 Umfchläge (nebſt 19/0 Zuſchuß; 1 700000 

Bogen) . . i 13600 „ 
8500000 Illuſtrationen (850.000 Bogen) se OBEN: 3; 
12750000 Drude Tertbogen. . . 2.2 EEE 
8500000 Umjchlagdrude. . » 2» 2 202020. ..8500 „ 
8500000 Illuſtrationen. 883008, 
8500000 Hefte zu ——— 1700⏑ 
225 Bogen Satz. . . Er en an u. HUB 
225 „  Stereotypie . . — 2700 „ 
225 „  Schriftiteller- Honorar (a 30 Mt.) . +. 6750 . 
150 Illuſtrationen NN) — . 1500 
150 Metungen. . -» . ee we Ben WERD 
Emballagggge28300 
Geſchäfts-Unkoſtenn.. 220000 „ 


Summa: 143431 WM. 


Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 89 


Der Gewinn, den jener Roman dem Verleger einbrachte, fann 
aljo auf 80 bis 100000 ME. berechnet werden. Diejem Gewinn 
gegenüber it das Honorar, das der Autor erhielt (6750 ME.), ver— 
bältnigmäßig jehr gering.*) 

Eine Thatjache jpringt beim Anblid der oben erwähnten Auf: 
lage der verjchtedenen Hefte bejonders in die Augen: Das ijt die 
Abnahme der Käufer. Das Werf hat nämlich feinen Werth für 
die, welche es nicht ganz bejigen, und deshalb werden bedeutende 
Summen auf dieje Weije nutzlos ausgegeben. Natürlich find hieran 
nur die Käufer jelbjt jchuld. Es find eben feine eigentlichen Bücher: 
freunde, die jene Stolportage-Romane faufen, jondern gewöhnlid) 
Arbeiter und untere Beamten, die nicht einmal 50 Pfennig oder 
1 Mark für ein ordentliches Buch ausgeben mögen. Sie laſſen 
jich hauptjächlich durch das grojchenweije Bezahlen verleiten. Dieje 
Kategorie von Xejern iſt dieſelbe in allen Yändern. 

In Fankreich jind die Kolportage-Romane gewöhnlich jchon 
vorher im Feuilleton des „Petit Journal“ oder des „Petit Parisien“ 
erjchienen oder wenigjtens im Genre der Feuilleton-Literatur diejer 
Sousblätter gejchrieben. Jede Lieferung fojtet 10 Centimes; Die: 
jelbe umfaßt in den meijten Fällen nur Y/g Bogen (8 Seiten Oftav), 
wovon die erite Seite gewöhnlich durch eine Abbildung in Anjpruch 
genommen wird, jo daß nur mehr 7 Seiten Text bleiben. In 
den meisten Papier: und Heitungshandlungen erhält man die erjte 
Lieferung gratis oder für 5 Gentimes die zwei erjten Lieferungen. 
Man liejt dieje, it gejpannt, wie die Gejchichte ausgehen wird, 
denn jie jcheint nach dem Anfang zu urtheilen, garnicht lang werden 
zu wollen, man fauft deshalb auch die folgenden Lieferungen, — 
jie fojten ja nur zwei Sous, aber die Gejchichte wird immer ver: 
widelter und padender, und endlich hat man hundert oder zwei: 
hundert Lieferungen gefauft, und da merft man erit, daß es doc) 
eine theure Gejchichte geworden iſt. Solche Lieferungswerfe find 
offenbar verhältnismäßig viel theurer als andere Werfe (die Illu: 
jtrationen fünnen dabei nicht in Betracht gezogen werden, denn jie 
jind gewöhnlich primitiv ausgeführt und haben feinen Werth.) 

Es iſt nach dem Gejagten leicht begreiflich, daß mit Kolportage— 


*), Allerdings ſetzt der Verleger bei jenem Unternehmen ein bedeutendes Kapital 
aufs Spiel, allein diefer Umftand kann doch jenes Mißverhältniß nicht recht- 
fertigen. Und deshalb wäre es billig, daß der Autor außer einem feiten 
Honorar, das mit 30 ME. per Bogen gewiß nicht zu hoch bemefjen ift, noch 
Tantiemen vom Reingewinn erbielte, falls diefer eine bejtimmte Summe 
überfteigt. 


90 Der Mafjenvertrieh der Vollsliteratur. 


Romanen viel Geld verdient werden fann. Allerdings irren ſich 
die Verleger manchmal in ihren Spefulationen. Ein, ich möchte 
fajt jagen zu einer gewiljen Berühmtheit gelangter, Kolportage— 
Noman it „Der Scharfrichter von Berlin“. Ueber diejen ver- 
Öffentlichten verjchiedene Zeitungen eine Notiz, für deren Nichtigkeit 
ich allerdings nicht eintreten fann. „Der frühere Scharfrichter 
Krauts, hieß es in derjelben, der jegt eine Roßſchlächterei betreibt, 
lieferte jeiner Zeit das Material zu dem Stolportage-Roman „Der 
Scharfrichter von Berlin“, dejjen Held er jelbit iſt. Für dieſes 
Material erhielt er nach feiner eigenen Mittheilung zunächit 3000 ME. 
Damals betrieben die Verleger eine kleine Buchdruderei mit Hand— 
prejjen; als Krauts fie nach längerer Zeit wieder einmal bejuchte, 
hatten jich die Verleger eine große Druderei mit Dampfbetrieb ein: 
gerichtet. Freimütig gejtanden fie ihm, daß jie troß der erfolgten 
Beichlagnahme an dem Werfe 11/, Millionen Mark verdient hätten. 
Um jich nobel zu zeigen, zahlten jie Herrn Krauts noch 5000 Mk.“ 
Mag aud) die Summe von 1'/, Millionen etwas hoch gegriffen 
jein, jo fann man doc) immerhin annehmen, daß die Verleger einen 
bedeutenden Gewinn dabei berausgejchlagen haben. 

Die Gejeßgebung bat das Kolportage-Unwejen in den 
legten Jahren wiederholt zu befämpfen verjucht, aber ohne Erfolg. 
Das Berjprechen, 3. B. bei Abnahme der 60. Lieferung einen 
Spiegel, der 120. ein „Delgemälde* als „Gratis-Prämie“ drauf: 
zugeben, darf nicht mehr auf dem Umschlag der Hefte ausgejprochen 
werden; in Folge dejjen joll dies jet mündlich gejchehen, indem 
der Stolporteur ſich in jeder Gegend als Lockvogel eine Berjon hält, 
welche auf Befragen jeitens der Kunden den richtigen Empfang 
der Prämien betätigt. Auch durch die Beſtimmung, daß die 
Kolporteure behördlich genehmigte Verzeichniſſe der bei ihnen ver: 
fäuflichen Schriften zu führen haben, iſt feine bemerfbare Ber: 
bejjerung des Inhalts der lehteren herbeigeführt worden. Selbſt 
wenn die betreffenden Beamten oder Selbitverwaltungsförperichaften 
wirklich immer (was wohl zu bezweifeln iſt) von den durch den 
Ktolporteur vorgelegten Büchern die jchlechtejten richtig herausfinden 
und verbieten, jo werden dadurch die übrigen, welche man zuläßt, 
noch nicht gut. Deshalb muß das Verbot der von der Behörde 
für unzuläjfig befundenen Schriften jo lange mehr oder weniger 
wirkungslos bleiben, als nicht für beſſeren Erjag gejorgt t.*) 





*) Am 22. März d. 3. haben die Miniiter für Handel und Gewerbe und des 
Innern für Preußen eine Anmeifung zur Ausführung des Titel$ III ver 


Der Mafjenvertrieb der Bolßsliteratur. 91 


Da die Kolportage-Literatur einen bedeutenden Einfluß auf 
das Volk ausübt und zwar speziell auf jolche Kreiſe, die der 
bejjeren Literatur nicht zugänglich jind, jo wäre es dringend zu 
wünjcen, daß tüchtige Schriftiteller ſich dieſes Zweiges der 
Itterarijchen Produktion annähmen. Es find nur zu häufig gewifjen- 
(oje Spekulanten, die ſolche Kolportage-Romane fabriziren und 
Dabei nicht im Geringſten dafür bejorgt find, dem Wolfe eine an— 
gemejjene Lektüre zu bieten. Gewiß fann man den Arbeiterklafjen 
feine piychologischen Romane in 100 oder 200 Lieferungen dar: 
bieten, allein die Romane müſſen ja nicht unbedingt dieje Aus: 
Dehnung haben — die große Zahl der „abjpringenden“ Käufer 
jcheint jogar ein Beweis dafür zu jein, daß jene Gejchichten gewöhn: 
lich zu jehr in die Yänge gezogen werden, — und jelbjt eine 
Keriminalgejchichte, die man zum Vorwurf wählt, fann man ja in 
Iiterarijch wertvoller Weije bearbeiten und jo geitalten, daß Die 
Erzählung nicht bloß das Interejje des Volkes wedt, jondern aud) 
einen moralischen Einfluß auf dafjelbe ausübt. 

Vielleicht tragen dieſe Zeilen dazu bei, den einen oder andern 
Schriftjteller, der bis jeßt nur verächtlich auf die Kolportage-Literatur 
herabblidte, für die Mitwirkung auf diefem Gebiete, auf dem eine 
Reform dringend Noth thut, zu gewinnen. 

Das jicherjte Mittel, der jchlechten Literatur entgegen zu wirfen, 
iſt Das, die gute Literatur zu verbreiten. Wer vom Stolporteur ein 
Werk fauft, befundet damit, daß er das Bedürfnig empfindet, einen 
Theil jeines jährlichen Einfommens für Lejejtoff zu verwenden. 
Er nimmt den jchlechten Leſeſtoff, weil ihm diejer zunächit angeboten 
wird, und er würde den bejleren nehmen, wenn er ihm ebenfo 
beauem angeboten würde. Er hat nur nicht die Zeit zu juchen 


Gewerbeordnung („Gewerbetrieb im Umberziehen”) erlaffen, die einfchneidend 
in den Kolportagebuhhandel wirken wird. Es wird nämlich beftimmt, daß 
„Werke, melde in Lieferungen erjcheinen, im Ganzen zur Kolportage erſt dann 
zugelaffen find, menn das Werk vollitändig vorliegt. Sind erſt einzelne 
Lieferungen veröffentlicht, jo fann die Zulaffung des ganzen Werkes ausnahms- 
meije dann erfolgen, wenn nah dem Charakter des Werkes, den bei der 
Herausgabe beteiligten Berjonen oder auf Grund anderer Umstände angenommen 
merden darf, dab auch die jpäteren Lieferungen den Borausfegunaen in S 56 
Ziffer 10 der Gewerbeordnung nicht zumiderlaufen werden. Iſt dieſe Gewähr 
nicht vorhanden, fo ijt die etwaige Zulaffung auf die erfchienene oder vor» 
gelegten Lieferungen au beſchränken.“ 

An der Hand diefer Beitimmung fann allo die Verwaltungsbehörde 
(der Bezirksausſchuß, in Berlin der Bolizeipräfident) verlangen, dab ihr jede 
einzelne Lieferung vor dem Vertrieb dur Kolportage vorgelegt wird. Es iſt 
ibr damit eine ziemlih weitgehende Gewalt verliehen, die Verbreitung von 
Schundliteratur zu verhindern. Selbitverftändlich ift es ihr aber nicht möglich, 
lediglich minderwertige Werte zu verbieten. 


92 Der Daffenvertrieb der Bollsliteratur. 


und nicht das Talent zu wählen; er ijt angewiejen auf das, was 
ihm in die Hände fommt. Und da iſt es nun die Aufgabe Derer, 
denen die Bildung des Volkes am Herzen liegt, dafür. zu jorgen, 
daß ihnen Gutes in die Hände fommt. 

In einem Staate, in welchem man darauf hält, daß jedes 
Kind lejen und jcehreiben lernt, muß auch Sorge dafür getragen 
werden, daß die Erwachjenen die erlernte Kunjt üben. Und das 
Bedürfniß diefer Hebung empfinden jie und haben fie von jeher 
empfunden. Noc vor fünfzig Jahren genügten vielleicht die 
Bolksbücher vom Fauſt und von der jchönen Magellone, jowie die 
„neuen jchönen Lieder“, die auf Büttenpapier gedrudt wurden, 
diefem Bedürfnifje. Heute it der Anſpruch und die Zahlungs 
fähigfeit größer geworden. Es bildeten fich Vereine, die jich die 
Aufgabe jtellten, gute Bücher zu jo billigem Preiſe herzujtellen, 
daß man auf einen Abjat nicht bei den Taufenden, die bisher 
Kunden des Buchhändlers gewejen waren, jondern bei den Hundert: 
taufenden rechnen durfte, die niemals einen Buchladen betreten 
hatten. Und fie juchten für ihre Erzeugnifje Abſatz durch Ver: 
mittlung der Ktolporteure. 

Seit 1841 find in Deutjchland zahlreiche Vereine gegründet 
worden, Die jich zur Aufgabe jtellten, Bolfsbildung zu ver 
breiten und Bolfsjchriften zu veröffentlichen, zuerit ın Zwidau, 
dann in Magdeburg, Bremen (der auf A. Lammerd Anregung 
gegründete „Nordwejtdeutjche Volksjchriftenverlag“), Weimar u. j. w. 

Einen anerfennenswerthen Erfolg auf dem Gebiete der 
Volksliteratur erzielte der „Verein für Mafjenverbreitung 
guter Schriften“. Dieſer Verein hat nach feinen Satungen 
den Zwed, „durch Herausgabe geeigneter Schriften den Deutjchen 
aller Yande, namentlich den ärmeren Schichten, guten und wohl: 
jeilen Xejejtoff, jowohl unterhaltender wie belehrender Art zuzu: 
führen, um dadurch) auf die fittliche und getjtige Hebung des 
Volkes hinzumirfen.“ Der Verein bejigt die Nechte der juriſtiſchen 
Berjönlichkeit. Die Mitglieder zahlen 3 Marf und haben dafür 
das Necht, die vom Verein herausgegebenen Werfe zu einem 
Borzugspreije zu beziehen; bei Zahlung von mindeitens 10 Mt. 
Sahresbeitrag erhalten ſie die Schriften „unentgeltlich“. Der 
Berein unterhält eine Verlagsbuchhandlung in Weimar unter dem 
Titel: „Schriften Bertriebsanftalt“. Der Verein wurde 1889 ge 
gründet und hat in den eriten Sahren jeines Wirfend eine rege 
Thätigfeit entfaltet. 





Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 93 


Der Berein hat in Deutjchland Zweigvereine gegründet und 
auch in deutjchjprachigen Gegenden des Auslandes feiten Fuß zu 
fajjen gejudht. Er hat nicht immer den Erfolg und die An— 
erfennung gefunden, die er erwartet hatte. Auch im gejchäftlichen 
Betrieb hat es nicht an Schwierigkeiten gefehlt, weil der wohl: 
organijirte Kolportage-Buchhandel den Berein als einen Son: 
furrenten anjah und der Sortimentsbuchhandel ſich nur wenig 
dafür intereffirte. 

Nach dem erjten Gejchäftsbericht des Vereins wurden bis zum 
1. Januar 1891 251552 Hefte (a 10 Pig.) gegen fejte Bezahlung, 
77555 Hefte gratis, 810 Halbjahrbücher und 1317 Marfbände, 
bis zum 1. Juni 1891 dagegen 505657 Einzelhefte, 1259 Halb- 
jahrbücher und 3361 Marfbände ausgegeben. Gegen Mitte des 
Sahres 1892 aber hatte der Verein (jeit 1890) ca. 1 Million 
Einzelhefte und über 10000 Exemplare der verjchiedenen Band: 
ausgaben abgejegt. Nach dem Nechenjchaftsbericht für 1892 hatte 
der Berein 5443 Mitglieder (Ende 1891 5663). Als Endergebnif 
jeiner Ihätigfeit jtellte fich) mit Abjchluß des Jahres 1892 ein 
Gejammtvertrieb von 1 250 529 Einzelheiten, 6819 Halbjahrbüchern 
und 9060 Marfbänden, jowie 739 Einbanddeden heraus. 172507 
Einzelhefte wurden von der Anjtalt jelbjt, 1026 831 vom Berein 
ald Gratis » Vertriebs bezw. Agitationsmaterial verbraucht. Dies 
it jedenfalls ein bemerfenwerthes Reſultat, aber der Berein hat 
doch nicht den Erfolg gehabt, den man erwartet hatte, und in den 
legten Jahren hat man nichts mehr davon gehört.*) 

Sm Jahre 1890 erließ der Verein ein Breisausjchreiben, nach 
welchem unter 83 Manujfript-Einjendungen dem Charafterbild aus 
dem Chiemgau: „Der Buppenjpieler* von Karl Schultes, Hof: 
theater-Direftor a. D., der angejette Preis von 1000 Mark zu: 
erfannt ward. Außer diefem Preiſe erhielt der Verfaſſer 350 M. 
Honorar. Für das Berlagsrecht der übrigen Erzählungen wurden 
nur jehr geringe Honorare (75 bis 250 ME) gezahlt. Im Jahre 
1893 übernahm der Verlag die Armand’schen Romane, für deren 
Neuausgabe der Berfafjer zu feinen Lebzeiten 60 000 ME. verlangt 
hatte; jein Nechtsnachfolger überlieg fie dem Verein ohne fejte 
Honorarzahlung unter der Bedingung, daß ihm von einem etwaigen 
Reingewinn ein Anteil von 300/0 zufäme. 

Der Berein hatte vorher jchon mit älteren und neueren Werfen 


) Den Weimarer Verlag des Vereins finde ich nicht einmal mehr im Buchhändler: 
Adreßbuch verzeichnet. 





94 Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 


mannigfache Berjuche gemacht. Er fam dann zu der Ueberzeugung, 
daß er einen zeitgemäßen Noman aus der Gegenwart von einem 
erprobten Schriftiteller bringen müſſe. Da er jich feine fertigen 
Romane zur Auswahl vorlegen laſſen konnte, entjchloß er jich, einen 
für jeine Zwede pajjenden Noman in Auftrag zu geben. Zu dem 
Zwede erjuchte er eine Anzahl Schriftiteller um Einjendung von 
Entwürfen und hat dann Mar Kretzer mit der Ausführung eines 
ſolchen Romans beauftragt. „Slaubten wir doch aus dem Ent: 
wurfe zu erjehen, daß ber aller Feſthaltung einer idealen Tendenz 
e8 an der realijtiichen Ausgejtaltung im einzelnen nicht feblen 
würde, auf die bei unferen Zwecken nicht verzichtet werden darf.“ 
Der Berfafjer erhielt für den Roman „Irrlichter und Gejpeniter“ 
(3 Bände mit zujammen 1376 Zeiten) 18000 Mk. Honorar. 
Hierzu famen bedeutende Stojten für die Agitation. Der Erfolg 
entjprach dieſen Aufwendungen nicht, und der Verein bat aud) 
meines Wiljens jeither feine bejonderen Anjtrengungen mehr zur 
Erlangung guter Werfe gemacht. Bor einigen Jahren verjandte 
er ein Nundjchreiben an zahlreiche Schriftiteller, um fie zu erjuchen, 
ihre Werfe zum unengeltlichen Abdrud zu überlafien. Unter den 
deutjchen Schriftitellern find nun aber nur wenige jo gejtellt, da 
jie umfonjt arbeiten fönnten, und bei den Schriftjtellern gilt es 
doch auch: „Jede Arbeit it ihres Yohnes werth.“ 

Auch der Abdrud der für den Verein erworbenen Erzählungen 
in Zeitungen zweds Erſchließung einer „wenn auch bejcheiden, je 
doch jicher fliegenden Einnahmequelle* entjpricht meiner Anſicht 
nach nicht den Zweden des Vereins. 

Welch große Hoffnungen hatte man an diejes Unternehmen 
gefnüpft! Man leſe nur einmal, was August Yammers in Weiter: 
manns Monatsheften (Dezember 1889) darüber jchrieb. Er wies 
auf die wenigen aus der deutjchen Nationalliteratur für die Ber: 
breitung im Volke geeigneten Werfe hin: 

„Es muß fortan in Menge wahrhaft gut gedichtet und neu gefchrieben 

— muß eine Nationalliteratur der Zukunft gejchaffen werden. ... 

Sinnergreifende Schöpfer wie Ludwig Anaus, Benjamin Bautier, 

Franz Defregger und ihres gleichen werden bald gewiß die Dedung 

des Volfserzählungsheftes, das zu Hunderttaufenden hinausgeht, mit 

ihren Umjfchlagbildern nicht mehr für unter ihnen ftehend erachten. 

Vielmehr wird dies dem wahren Nationalmaler und Menſchenfreund 

gerade als die echte jozialreformatorische Aufforderung ins Herz greifen. 

Wenn die edle Weimarer Unternehmung gelingt, an welcher Fein 








*) Rechenſchaftsbericht des Vorſtandes. Weimar 1893. 


Der Mafjenvertrieb der Bollsliteratur. 95 


Geminntrieb haftet, wird fie binnen wenigen Jahren echte Volks: 
Ichriftjteller aus den Windeln ihrer unbewußten Talente herauägefördert 
haben und fie beftimmen, jahraus jahrein freudig für die Hundert: 
taufende und Millionen zu jchaffen, welche ſich durd fie erjt ganz 
unbewußt, dann immer bemwußter und danfbarer vom Seelenftaube 
reinigen, von geiftigen Feſſeln befreien und allmählich in das mwahre 
Verjtändniß ihrer Zeit wie ihrer Umgebung einführen lafjen wollen.” 

Einen Bolfsjchriftiteller hat der Weimarer Verein nicht entdeckt, 
und fein großer YJeichner hat ſich für das Unternehmen interejirt. 
Es jcheint, als ob doch die Organijation nicht ganz die richtige 
aewejen jet. 

Schon 1894 bezweifelte Julius Lippert*) mit Recht, „ob ein 
Dundert oder Taufend guter und mittlerer, neu gejchriebener oder 
neu gedrudter Nomane mehr durch ihre Ertjtenz und Verbreitung 
die der jchlechteren vernichten werde.“ Und er fügte hinzu: 

„Uns ſcheint es eben nicht, daß der Geſchmack an der jchlechteren 

Sorte nur deshalb noch vorhanden iſt, weil es an der bejieren fehlte. 

Man kann nicht überjehen, daß ſich im Laufe der Zeit der Geſchmack 

ganz mejentlich gehoben und gebejjert hat, und daß, von den Ertra- 

vaganzen neuer Richtungen abgejehen, Verfaſſer und Verleger diefem 

Umjtande Rechnung tragen und fragen müſſen. Wir haben und 

produziren noch täglich einen Weberfluß von guter und bejter Inter: 

haltungsliteratur, und wenn ein jo groß angelegter Verein auch nur 
ein Theilden von jener „Bedeutung für die Zufunft des deutjchen 

Volkes“ gewinnen will, die ihm vorjchwebt, jo wird es nicht ſowohl 

durch jeine Produktion als durch die Art der Verbreitung geichehen 

fönnen; aber auch dann bleibt noch die Frage, ob auf der Hintertreppe 
der Kolporteur in objektiv befjerer Waare dem mit der fchlechteren 
den Rang ablaufen wird.“ 

Hierzu muß denn doch bemerft werden, daß zur Verbreitung 
quter Bücher meiſt nicht die Anjtrengungen gemacht werden, wie 
zur Verbreitung jchlechter Kolportage-Romane. Der große Abjat, 
den die Weimarer Hefte immerhin gefunden haben, beweijt doc), 
daß auch bejjere Sachen Käufer finden. 

Lobend muß man es anerfennen, daß bisher auch jchon andere 
gemeinnüßige Vereine zahlreiche gute Schriften unters Volk gebracht 
haben. Außer den eigentlichen Vereinen zur Verbreitung von 
Bolfsbildung haben z. B. die verjchiedenen Genojjenjchaftsverbände 
manche gute Schrift verbreitet. 

Auch im Ausland finden wir jolche Vereine. Zu den ältejten 
gemeinnüßigen Körperjchaften, die ſich auch die Verbreitung guter 


* 25 Jahre des Strebens für Volksbildung. Prag 1894. S. 24. 


96 Der Maffenvertrieb der Volksliteratur. 


Schriften angelegen jein lajjen, gehört wohl die „Gejellichait 
zur Förderung des Guten und Gemeinnüßigen“ in Baſel, deren 
Gründungszeit in das Jahr 1777 zurüdreicht. Die Thätigfeit diejes 
Vereins zur Förderung der Volksbildung it eine außerordentlich 
umfajjende; außer Schriftenherausgabe gehören Vortragsveran: 
italtungen, Volksbüchereien und Muſeen, Kindergärten, Fortbildungs— 
und Fachſchulen aller Art zu jenem Programm. Cine ähnliche 
„Sejellichaft für Gemeinnügigfeit“ wurde 1810 in Zürich gegründet. 
Beide Vereine haben nur einen örtlichen Wirfungsfreis und werden 
durch ziemlich hohe Mitgliedsbeiträge (in Bajel 3. B. 10 Fr. jähr- 
lich) erhalten. 

In der Schweiz giebt es außerdem mehrere „Vereine für Ver: 
breitung guter Schriften“ (in Bajel, Bern und Züri). Sie be 
jtreben jich, in der Bekämpfung der jchädlichen Literatur mit der 
Schule und dem Elternhaus Hand in Hand zu gehen, wie fie es 
ji) auch angelegen jein laſſen, die Beitrebungen des „Schweiz. 
Vereins gegen unjfittliche Literatur“ energijch zu unterjtügen. Die 
einzelnen Schwejtervereine, die den Vertrieb der Schriften auch ın 
Negie betreiben, unterhalten unausgejegt einen regen und freund: 
ichaftlichen Verkehr. Jeder Verein veröffentlicht jährlich etwa vier 
Hefte, die zu je zehn Gentimes verfauft werden. Der Basler 
Verein hat auch ein Haushaltungsbuch veröffentlicht, das die Haus- 
frauen zu einer einfachen Nechnungsführung veranlafjen joll. Weld 
große Zahl von Schriftchen durch dieje Vereine verbreitet werden, 
fann man 3. B. aus folgender Angabe erjehen. Das Total der 
im Jahre 1893 von Bajel vertriebenen Schriften betrug, in Zehner: 
beftchen umgerechnet, 411900 Gremplare. Der Gejammtvertrieb 
in den vier Jahren des Beſtehens des Basler Vereins betrug 
1507400 Exemplare. Zum Basler Rayon gehören 304 Ortjchaften 
und Ablagen. Die Vereine bejorgen jelbjt den Vertrieb der von 
ihnen herausgegebenen Schriftchen. Troß des billigen Preijes wird 
meijtens noch ein Ueberjchuß erzielt, jo daß 3. B. der Basler Ver: 
ein jedes Jahr an die zwei obern Klaſſen der dortigen Volfsjchule 
eine Weihnachtsgabe gratis vertheilen fann (3. B. „Heinrich von 
Eichenfels.*) Außerdem wird ein Nejervefonds aus Gejchenfen, 
VBermächtniffen und Sahresbeiträgen auswärtiger Mitglieder gebildet. 

Für Böhmen bejteht ein „deutjcher Verein zur Verbreitung 
gemeinnüßiger Kenntniſſe“ in Prag, der bereits etwa 200 Heftchen 
herausgegeben hat, unter denen ſich zahlreiche werthvolle Arbeiten 
befinden. In dem 1869 erjchienenen Aufruf heißt es, der Verein 


Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 97 


ſei bejtimmt, „wahrhaft gemeinnüßige Kenntniſſe zu verbreiten, vor 
Allem jolche, die dazu dienen, die Wohlfahrt des Volkes zu be- 
fördern, die Fleine Aderwirthichaft, das Fleine Gewerbe und den 
Arbeiterjtand in mannigjacher Weije anzuregen und zu heben, und 
das gejammte Volk zum Bewußtjein jeiner Rechte und ‘Freiheiten, 
jeiner Bedürfnifje und Ziele zu leiten.“ 

Seit langer Zeit bejteht auch jchon in Holland eine ganz 
eigenartig wirkende und weit über das Land verzweigte „Maat- 
schapy vor nut van’t algemeene“ (Gejellichaft für Gemeinnußen). 

Man wird mich vielleicht auch an die Lejezirfel, Leih— 
bibliothefen und wie Dieje jchönen Einrichtungen noch jonjt 
heißen mögen, erinnern, die doch auch viele Bücher unters Volf 
bringen. Daß die Leihbibliothefen gerade in Deutjchland jo üppig 
emporgeblüht jind, fann man dem Volk der Dichter und Denfer 
wahrhaftig nicht zur Ehre anrechnen. Heut zu Tage, wo Zeit: 
Ichriften und Bücher jo billig find, giebt es für niemand eine 
Entjichuldigung, wenn er jeinen Lejejtoff aus einer Leihbibliothef 
bezieht. Ich möchte jchon deshalb feine Zeitjchrift und fein Buch 
aus einer Leihbibliothef in die Hände nehmen, weil fie viel zu 
Ihmugig ausjehen. Ich meine, ein etwas feinfühlender Menjch 
fönnte Doch eigentlich feinen Genuß von der Lektüre einer Schrift 
haben, in denen bereits zahlreiche Lejer mit mehr oder weniger 
jauberen Händen (meijtentheil3 wenig jauberen, nach dem Ausjehen 
der Hefte oder Bücher zu urtheilen) geblättert haben. 

„Das Schlimmite,“ jagt 5. Meyer*) mit Recht, „bejteht darin, 
dag die Mappen in gejunde Familien gelangen, nachdem fie zuvor 
in jolchen gewejen, bei denen anjtedende Krankheiten herrſchten. 
se tiefer die Ärztliche Wiljenjchaft die Krankheitsurſachen erforjcht 
und je ausgedehnter die Entdedungen hierin werden, deſto ent: 
ihiedener jollte jeder Hausvater die Seinigen vor der großen An— 
jtefungsgefahr durch die Yejezirfelmappe zu jchügen juchen; er 
jollte jie nicht in das Haus einlajjen! Das Gleiche gilt von den 
Bücherleihanftalten. Die Stimmen der Verzte, die jolche Warnungen 
ertheilen, werden immer zahlreicher und lauter.“ 

Für das Geld, das man als Leihgebühr entrichtet, fann man” 
ih doch aus den billigen Sammlungen (Reclam, Hendel, Meyer 
u. ſ. w.) gute und intereflante Schriften auswählen. Der billige 


*) Das Lejebedürfnis des Volkes und defjen Befriedigung. Weimar 1591. ©. 6. 
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Het 1. 7 





98 Der Maffenveririeb der Bollsliteratur. 


Preis ermöglicht es jedem, fich etwas zu Ffaufen, was jeinen 
Wünſchen befonders entjpricht. Schillers Tell hat in der Reclam— 
ihen Ausgabe einen Abjat von 619000 Stüd gehabt, Goethes 
Hermann und Dorothea eine ſolche von 490000, der erjte Theil 
des Fauft 290000, Walter Scotts Ivanhoe 45000 und Boz— 
Didens’ Pickwickier 40000. 

Man wird vielleicht auch auf die vielfach bejtehenden Volks— 
bibliothefen Hinweijen; allein welch Heiner Theil der Bevölferung 
benugt fie! Und vor allem, die Zandbevölferung hat feinen Nusen 
davon. Dr. Fränkel jagt: 

„Der Miherfolg der Volksbibliotheken ift jehr einfach zu erflären: 

der Kolporteur nimmt den Leuten die Mühe des Weges bis zur 

Bibliothef und die noch fchwierigere Mühe der Auswahl ab. Das 

Volk lieſt, was ihm ins Haus getragen, was ihm Durch den 

Kolporteur mit unermüdlicher Zungenfertigfeit angepriefen, ja oft 

förmlich aufgedrungen wird. Das find zunädjt die neueiten 

Gouplets, auf deutſch Gaſſenhauer, Yieder, deren Inhalt ebenjo ge 

mein wie dumm zu fein pflegt, was nicht hindert, daß dieſes Zeug 

3. B. in den Häufern und auf den Höfen und Straßen Berlins 

ausgeboten und maflenhaft gekauft wird. Vielfach trägt der 

Kolporteur jelbft die von ihm feilgehaltenen Couplet3 auf ven 

Höfen zum allgemeinen Ergößen vor. Es ift für den Volksfreund 

fein Vergnügen, dieſes entfittlihende Treiben zu beobadten: das 

allgemeine Beifallägelächter über die mit lauter Stimme in die Yüfte 
gebrüllten Gemeinheiten, die lebhafte Theilnahme der Dienjtmädcen 
und der „Frauen aus dem Volke“ (melche beide über dieſem Genuß 
natürlich ihre häuslichen Pflichten verfäumen), die gejpannte Auf: 
merfjamfeit der Kinder auf Dinge, welche ihrer Kenntniß noch lange 
verborgen bleiben jollten. Ein in meinem Haufe dienendes Mädden 
mußte uns befennen, daß fie dem Kolporteur im Laufe eines Viertel- 
jahres Mt. 5,25, für ihre Veryältnifje gewiß einen ſehr bedeutenden 

Betrag, bezahlt habe (die Frage hat ihre nicht geringe mirthjchaft: 

liche Bedeutung !), allerdings nur zum kleinſten Theil für Yieder, 

im wejentlihen für einen Roman, der zwar auf das denkbar 

ſchlechteſte Vapier gedrudt, aber zweifellos auch Dies nict 

werth mar.” 

Der Verbreitung jchlechter Kolportage-Komane fann man, wie 
icon gejagt, abgejehen von der Aufklärung, bei der, außer den 
Geiſtlichen, Lehrern, Arbeitgebern u. j. w., jeder mitwirfen kann, 
am beiten durch Verbreitung guter Werfe auf demjelben Wege 
entgegenarbeiten.*) Wenn einmal ernjtliche Verſuche auf Diejem 





*) Ginen eigenartigen Verſuch Hat neuerdings Ludwig Jacobowsky gemacht, in: 
dem er eine Sammlung von Gedichten (300 Gedichte von 100 Dichtern) auf 
dem Kolportagewege zu verbreiten ſucht. Diejes Büchlein „Neue Lieder fürs 


Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur. 99 


Gebiete gemacht werden, werden auch bejjere Schriftjteller ihre 
Mitwirkung nicht verjagen. Man wird dann auch die Mittel 
haben, anjtändige Honorare zu zahlen, denn gute Bücher jchreibt 
niemand umjonit. 

Es hat jedoch feinen Zwed, immer neue Werfe zu produziren. 
Unter hundert neuen Werfen befindet jich vielleicht faum eines, 
das nur an eines der älteren bejjeren Werfe heranreicht. Dagegen 
bleiben Hunderttaujfende Eremplare guter Bücher unver: 
fauft. Die Bereine, die jich die Verbreitung von Büchern im 
Volfe angelegen jein laſſen, mögen jich doch an die Werleger 
wenden, die oft noch große Vorräthe guter älterer Werfe haben 
(dies thut 3. B. der Borromäusverein für die fatholischen Gegenden). 
Wie wäre e8, wenn die Verleger einmal gemeinjchaftlich ein Ber: 
zeichniß ihrer Lagervorräthe aufitellten und den erwähnten Vereinen 
all die Bücher, die feine Aussicht auf Abſatz mehr haben, zu 
niedrigen Preifen zur Verfügung jtellten? Wenn das Volk für 
einige Grojchen ein Buch befommt (auch wenn es eine ältere 
Ausgabe it), jo fauft es dasjelbe gern. Das jieht man 3. B. an 
den Zola-Romanen, die jegt in den deutjchen Bazaren majjenhaft 
verfauft werden, objchon dieje jtarf gefürzten, aber. dafür feines- 
wegs verbejjerten Ueberjegungen fürs Volk jo ungeeignet wie nur 
möglich jind. Leider entjchliegen fich die Verleger nur ungern, 
bejjere Werfe zu „verramjchen“ (d. h. zu einem billigeren als 
dem urjprünglich angejegten Yadenpreife zu vertreiben), weil jie 
dadurch dem Anjehen ihres Gejchäftes zu jchaden fürchten. 
Franzöſiſche Verleger haben dafür einen andern Ausweg gefunden. 
Einzelne große Verlagshäujer wie Dentu, Garnier u. j. w. über: 
nehmen große Poſten jolcher Auflagerefte von Romanen und 
populär = wijjenjchaftlichen Werfen und verjchiden jie nach den 
franzöfiichen Kolonien und andern überjeeifchen Yändern, wo dieje 
Bücher willige Abnehmer finden. Diejer majjenhafte Verjandt 
von franzöfischen Büchern nad) allen Teilen der Welt trägt nicht 
wenig dazu bei, die Ausbreitung der franzöfiichen Sprade zu 
fördern und zu feitigen. 


Volt” ift 160 Seiten ftarf (Meines Format) und ift in einer Auflage von 
100,000 Stüd gedrudt. Es koftet nur 10 Pfennig, fo dab der Vreis ficher 
fein Hindernis für die Verbreitung ift. Der Herausgeber will durch diejes 
Büchlein der Berbreitung großftädtiiher Straßenlieder entgegenwirken. Daß 
diefes ihm auch nicht annähernd gelingen wird, ift ja Mar, aber man darf 
doch darauf geipannt fein, wie das Volk eine Auswahl der beten deutjchen 
Gedichte, die ihm durch Kolporteure ins Haus gebracht wird, aufnehmen wird. 
7* 


‘ 


100 Der Mafjenvertrieb der Volksliteratur. 


Die preußiiche Regierung hat Ddiejes Jahr zum erjten Mal 
im Etat des Hultusminiteriums eine Summe von 50000 Marl 
zur Förderung von Bolfsbibliothefen eingejtellt. Es iſt Dies 
jedenfalls ein jehr Löbliches Vorhaben, allein auf dem Wege fann 
nur etwas erreicht werden, wenn jedes Jahr ein größerer Betrag 
für WVoltsbibliothefen ausgegeben wird. Einzelne Negierungs: 
präjidenten, Yandräthe und Schulbehörden haben jich übrigens in 
neuerer Zeit der Bolfsbibliothefen bereitS in erfolgreicher Weile 
angenommen. In England haben, wie Dr. Pieper berichtet, die 
Städte das Necht, eine bejondere Bibliothef-Steuer zu erheben, 
die jährlich bedeutende Summen aufbringt. Die Bolfsbibliothet 
erhält dadurch den Charakter einer Anjtalt, zu der alle Bürger 
beitragen und auf deren Benußung jeder Gemeinde-Angehörige 
ein volles Anrecht hat. Dadurch wird das Interejje der Gejammt: 
heit für die Bibliothef bedeutend gejteigert. Amerika ragt hervor 
durd) die gewaltigen, nach vielen Millionen zählenden Stiftung? 
jummen, die von Privatperjonen für Volksbibliotheken aufgewendet 
wurden. In Deutjchland haben einzelne Stadtgemeinden bislang 
ih) nur zu verhältnigmäßig jpärlichen jährlichen Beiträgen ver: 
jtehen fünnen, und an großen Stiftungen für Bolksbibliotheten 
fehlt es fajt gänzlich. Auch die Vereine, die jich mit der Errichtung 
von Bolfsbibliothefen befajien, müſſen mit bejcheidenen Mitteln 
auszufommen juchen. Die Gejelljchaft für Verbreitung von Volks— 
bildung in Berlin jucht 5. B. Bücher von Privatleuten zu erhalten, 
die für dieſe überflüjjig geworden jind. 

Der Ausſchuß für Wohlfahrtspflege auf dem Yande befaßt 
ji) mit Recht auch damit, dem Bolfe Bücher zugänglich zu machen. 
Auf der legten Generalverjammlung hat 3. B. Hr. NRittergutsbefiger 
Hans von Schöning in einem VBortrage über die Wohlfahrtsein: 
richtungen im Kreiſe Pyritz folgendes über die Sallentiner Volks— 
bibliothef mitgeteilt: 

„Bald nachdem ich nad Sallentin gefommen war — vor etwa adıt 

Jahren hielt ich darauf, daß die Unterhaltungsblätter der Lokal— 

zeitungen und auch dieſe ſelbſt in die Knechtſtube kamen, d. h. in den 

Raum, in welchem die unverheiratheten Pferdeknechte ihre Mahlzeiten, 

erites Frühftüd, Mittag: und Abendefjen, einnehmen. ch fand, 

daß die Anechte die Blätter gern lafen, und nahm an, daß die Be: 

Ihäftigung mit diejer Lektüre ihnen immerhin zuträglicher jein müſſe, 

als wenn jie die darauf verwendete Zeit mit Obſtſtehlen und Yiebes: 

abenteuern zubrächten. SZ päterhin gab meine rau an ihre Näh— 
finder die als „Kleine Palmzweige“ befannten Heften zum Yejen 


Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 101 
aus, mit Beding der Rüdgabe. Wir beobachteten, daß dieje Heftchen 
oft jehr ſpät zurüdgegeben wurden und zwar lag der Grund hierzu 
nicht etwa in dem langjamen Durchleſen durch die Kinder, vielmehr 
waren die Hefte nacheinander von mehreren Familienmitgliedern 
gelefen worden, oft jogar in andere Familien mweitergewandert. So 
jahen mir bald, daß ein großes Bedürfniß nad Lefeitoff vor: 
handen war. Wir regten dann die Verbreitung des ‚‚Arbeiterfreundes‘' 
an, des wohl allgemein befannten Wochenblattes; dafjelbe fand Bei: 
fall, und augenblidlich werden in meinen Amtöbezirt, der nur etwa 
800 Seelen zählt, 100 Exemplare defjelben gehalten, natürlich ohne 
daß die Leute Hierzu beifteuern; den größeren Theil der Koften 
tragen die Kirchenkafjen, den Reſt lege ich ſelbſt zu. Nach und 
nah jammelten mir Bücher an, die uns zur Ausgabe an unfere 
Leute geeignet jchienen. Meine Fruu ift dann fpäter der „Geſell— 
ſchaft zur Verbreitung von Volksbildung“ beigetreten und erhielt von 
diejer ſogleich 50 prächtige Bücher, die wir ſelbſt aus einer großen 
Zahl auswählen durften. Nach diefem Zuwachs konnte man mit 
Recht Ihon von einer Volksbibliothek ſprechen; viefelbe ift dann, 
immer mehr, auch noch einmal durch durch die Güte der vor- 
bezeichneten Gefelljchaft, vergrößert worden, und zählt heute meit 
über 200 Bände. 


Bon fleinen Erfahruugen, die Hr. von Schöning mit der 
Bibliothef gemacht hat, führte er Folgendes an: 


„Zunächſt halten wir, menigjtens bei der Eigenart unferer Leute, 
die Erhebung eines Yeihgelves für ausgefchlojjen: es würde niemand 
bezahlen wollen, und wenn es auch noch jo wenig wäre. Sodann 
ift bei uns nicht darauf zu rechnen, daß die Leute kommen, fich ein 
Bud zu holen, nicht weil fie zu fchüchtern wären; es unterbleibt 
lediglih aus Schwerfälligket. So nimmt denn meine Frau auf 
ihren Kranfenbejuchen in den Dörfern immer einige Bücher mit und 
macht damit ftet3s große Freude. Sehr wichtig ift, nach unferer 
Beobadhtung, dag man den Geſchmack der Leute fennt und danach 
die richtige Auswahl trifft, nicht nur bei Anjchaffung von Büchern, 
auch bei der Ausgabe. Unfere Leute wählen nicht jelbft aus, man 
muß ihnen geben; verfehlt man dann aber das richtige, jo fann 
man damit die ganze Bibliothek in fchlechten Ruf bringen. So 
hatte meine Frau einmal den Verfuc gemacht, einem anderen Dorf: 
bewohner einen Theil der Bibliothek zur Verwaltung anzuvertrauen. 
Der Betreffende gab einmal an ein jchon älteres, gewedtes Mädchen 
ein Märhenbuh: das war ein Mifgriff, der zur Folge hatte, daß 
Schundlektüre im Dorfe Eingang fand. Meine Frau hat dann die 
Bücher zurüdgenommen und bejorgt die Ansgabe wieder felbjt, mas 
ihr übrigens viel Freude und verhältnismäßig wenig Mühe madıt. 
Im allgemeinen ift die für die heranwachſende Jugend gejchriebene 
Lektüre unſeren Yeuten als Leſeſtoff lieb und mwillfommen; die 
älteren lejen gern erbaulich gejchriebene Bücher. Gut bewährt hat fi 
die vor zwei Jahren erfolgte Beichaffung einer Bibliothef für den 


102 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 


Kriegerverein des und benachbarten Dorfes Dölitz. Diefelbe ift durch 

den „Chriftlihen Zeitjchriften-Verein“ bezogen, deſſen Bücher dem 

Geſchmack unserer Leute meift durchaus angepaßt find. Die 

Bibliothefsbücher werden in Dölig in den regelmäßigen Monats: 

Berfammlungen ausgegeben, find jehr begehrt und werden gern ge 
lefen. Ich mwiederhole zum Sclujje: es befteht zweifellos ein großes 
Leſebedürfniß bei unferen Leuten auf dem Yande, und mird Das- 
jelbe nicht mit guten Büchern oder Zeitfchriften befriedigt, jo findet 
um fo leichter eine in fittlicher und politifcher Beziehung bedenkliche 

Lektüre Eingang.“ 

Hr. Landrat) Johannes in Diez a. d. Lahn hat mit der Er- 
richtung einer Kreiswanderbücherei guten Erfolg gehabt. Die 
zu dem Zwed angejchafften landwirthichaftlichen Bücher bleiben 
Eigenthum des Kreifes; mit den Orten wird allmählich gewechjelt. 
Nach dem Ausjehen der Bücher zu urtheilen, wurden am meiiten 
benugt die Bändchen über Schweinezudht und Ziegenzucht, aljo 

"über die Zucht der Thiere des fleinen Mannes. Die Lektüre praf- 
tijcher Werfe it für den Landmann, den Arbeiter, Handwerker 
u. }. mw. gewiß von großem Nuten, aber er fann doch nicht alles 
im Kopf behalten, was er gelejen hat, und wie oft fommt e8 dann 
vor, daß er jpäter das Werf zu Nathe ziehen möchte, während es 
ihm dann nicht mehr zur Verfügung jteht. 

Aehnlich verhält es ſich auch mit andern Büchern erzähl.nden 
und unterhaltenden Inhalte. Wie oft möchte man in einem 
Ihönen Buche, das man früher gelejen hat, das eine oder andere 
nochmals leſen. Man möchte e8 vielleicht auch -jeinem Sohne oder 
jeiner Tochter zu lefen geben, aber das Buch iſt vielleicht gar nicht 
mehr zu erreichen. Man fann oft die Erfahrung machen, daß 
gerade der gewöhnliche Mann des Volkes ein Bud, das ihm ge- 
fallen hat, als einen Familienjcha betrachtet, dejjen Genuß er 
außer jeinen Angehörigen nur jeinen beiten Freunden zu theil 
werden läßt. Er ift ſtolz, es zu bejigen, und das Geld, das er 
dafür ausgegeben hat, reut ihn nicht im Geringiten. 

So ſehr ich alſo den Werth von Volfsbibliothefen, Xejehallen, 
Wanderbüchereien u. j. w. hoc) jchäße, jo möchte ich doch immer 
wieder betonen, daß man dieſen Einrichtungen nicht allein jeine 
Aufmerkjamfeit widmen fol. Das Volk iſt auch bereit, für Bücher 
Geld auszugeben. Allerdings giebt e8 ärmere Gegenden, wo der 
gewöhnliche Mann nicht die Mittel hat, fich Bücher zu faufen, und 
bier iſt es dankbar zu begrüßen, wenn ihm die Möglichkeit ge: 
geben wird, gute Bücher leihweife zu lefen. Aber im Uebrigen überlajie 


Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 103 


man nicht der jchlechten Kolportage-Literatur das Feld, jondern 
juche auf demjelben Wege gute Bücher zu verbreiten. Herder jagt 
mit Recht: „Ein Buch hat oft auf Lebenszeit einen Menjchen ges 
bildet oder verdorben.“ Welch großen Genuß und welch großen 
geiftigen Gewinn fünnte das Volk aus jeiner Lektüre jchöpfen, 
wenn all jene Millionen Hefte werthlojer Kolportage-Romane durch 
gute Schriften erjegt wären! 


Ruſſiſch-⸗Polen. 
Eine Reiſe-Studie 


von 


Hans Delbrüd. 


Wer von unfern verehrten Lejern, jofern er nicht von Geburt 
oder Beruf dem Dften angehört, ift jchon einmal über die Spree 
gefommen? Oder wenn jchon, wie weit und wie oft? Betrachtet 
man es recht, jo hört für den Menjchen des Weſtens die Welt an 
diefem Flußrand auf. Auch der Berliner, jo weit er nicht jenjeits 
wohnt, fommt nicht hinüber. Das ganze amtliche Berlin, das 
Schloß, die Palais, die Minijterien, der Reichstag und Landtag, 
die Mufeen, Opern: und Schauſpielhaus, die Univerfität, das 
Kammergericht, die Denkmäler, die großen Hotels liegen im Weiten, 
auf der Seite, die nad) den vornehmen Billen-Orten, nad) Pots— 
dam, Sansfouci und nad) der Kulturwelt ausjchaut; unmittelbar an 
der Spree liegt noch die Börje und jenjeitS in dem eigentlichen 
alten Berlin liegt wohl das Rathhaus oder das Wallner:Theater, 
das ein Wejtler aufjucht, aber das jind nur einzelne Schaumjprigen, 
die hinüberfliegen, die eigentliche Völferwoge reicht nur bis an das 
Fluß-Ufer; hier brandet jie und jtaut zurüd. Der Sachje, Rhein— 
länder und Süddeutſche, der Berlin bejucht, der Engländer, Ameri— 
faner, Franzoſe, der Deutjchland bereit, bis an diefe Stelle fommt 
er und bier fehrt er um. Die Kurfürjten-Brüde am Schloß it die 
größte Völker-Scheide der Welt. Der wejtliche Berliner jelbjt, 
wenn wir annehmen, daß er einmal in jeinem Leben der Wiſſen— 
ichaft halber den Friedrichshain bejucht hat und um geographiich 
genau zu fein, auf der Reiſe nad) Heringsdorf oder ind Rieſen— 


Ruſſiſch⸗Polen. 105 


Gebirge einige Meilen weiter öſtlich bis ins Oder-Gebiet gekommen 
iſt — der ſonſtige regelmäßige Lebenslauf führt ihn höchſtens bis 
an die Spree-Brücke und von dem, was jenſeits liegt, ſieht er 
nichts. Verreiſt er, jo verreiſt er nach dem Weſten, Süden oder 
Norden, aber nicht nach Oſten. Der ganze Oſten ſelber aber, durch 
dieſes Thor ſtrömt er ein, wenn er den Weſten aufſucht. Wie 
eine Rieſen-Klammer verbindet Berlin die öſtliche und weſtliche 
Hälfte des preußiſchen Staates miteinander, nur über Berlin ver— 
kehren ſie; ja der ganze andere Nordoſten, Stockholm, Petersburg, 
Moskau, Warſchau ſteht in Verbindung mit dem Weſten durch 
Berlin. Der Weſten ſeinerſeits aber kommt ihm entgegen bis an 
dieſen Punkt und nicht weiter. Scharf abgeſchnitten, mitten in 
einem Volk und Staat, ja mitten durch die Stadt ſelber hindurch 
geht hier die Grenze zweier Welten. Um über die Spree, über 
die Brücke mit dem Denkmal des Großen Kurfürſten hinaus 
nach Oſten zu kommen, muß man ſchon dort geboren ſein, oder 
aber amtlich oder geſchäftlich gezwungen ſein, die Reiſe zu machen. 

In jener Gegend aber, im fernen unbekannten Oſten wohnt 
die Sphinx, das große Räthſel der Zukunft, das Schickſal der Welt 
im zwanzigſten Jahrhundert und dritten Jahrtauſend. Man ſpricht 
von Amerika, das mit ſeiner aufblühenden Jugendkraft das alternde 
Europa bedrohe. Ich fürchte nichts davon. Bloße wirthſchaft— 
liche Kraft richtet nicht viel aus in der Weltgejchichte: erſt wenn 
fie fich in politische und kriegeriſche Kraft umſetzt, wird fie gefährlich. 
Die Vereinigten Staaten aber werden jchwerlich jemals dazu gelangen, 
eine große Milttärmacht zu werden. Sie wollen e8 ja garnicht 
und jie find ein viel zu loderes Staatsgebilde, um es, jelbit wenn 
fie es wollten, durchzujegen. Kriegsmacht läßt ſich nicht mehr 
improvifiren: in langer, bingebender, opfervoller Friedensarbeit 
will jie ausgebildet jein. Sollten die Vereinigten Staaten 
dergleichen wirklich verjuchen, jo werden jie daran eher jelber zu 
Grunde gehen, als daß fie e8 erreichen. Bon Amerika wird der große 
Stoß, der das Angejicht der Welt einmal verwandelt, nicht kommen. 

Auch aus dem alten Kultur-Europa, der romanijch-germanijchen 
Welt jchwerlih. Die Verhältnifje find hier allenthalben jo im 
Gleichgewicht, dat nirgends eine jtarfe Erjchütterung zu erwarten 
ist. Die großen Gegenjäge haben jich jo jehr in die Tiefe zurüd- 
gezogen, daß, da die Welt einmal Objekte für ihre Leidenjchaft ge: 
braucht, ſie fi) über den ungerechten NRichterjpruch eines 
franzöfiichen Gerichtshofes aufregt. Bon allen Großjtaaten der 


106 Ruſſiſch⸗Polen. 


brüchigſte iſt offenbar Oeſterreich, aber auch an den Zerfall dieſer 
Moſaik-Monarchie glaube ich nicht. Eine Großmacht hat eine 
wunderbare Lebenskraft: ohne einen ungeheuren Rammſtoß von 
außen wird die habsburgiſche Dynaſtie ihre zehn Nationen noch 
lange zuſammenhalten. 

Wie aber ſieht es in Rußland aus? Entweder die Welt 
bleibt noch auf Jahrhunderte ungefähr ſo, wie ſie iſt, oder wenn 
eine Bewegung kommen ſollte, die ihr Angeſicht verändert, ſo 
kann ſie nur von Rußland ausgehen. Schon einmal, beim Tode 
Friedrichs des Großen, war Europa in einem ſolchen Zuſtand des 
Gleichgewichts, daß weſentliche Veränderungen kaum irgendwo 
möglich ſchienen. Da brach, drei Jahre nach dem Hinſcheiden des 
großen Preußenkönigs, in Frankreich die innere Bewegung los, deren 
Gewalt Niemand auch nur entfernt geahnt hatte und die in fünfund— 
zwanzig Jahren revolutionärer und kriegeriſcher Krämpfe nicht bloß 
Frankreich, ſondern auch die Verhältniſſe von ganz Europa, die 
inneren wie die äußeren, die wirthſchaftlichen wie die ſozialen, Die 
materiellen wie Die geijtigen um und umwandelte. Es giebt en— 
thuſiaſtiſche Nujjen, die da meinen, daß von ihrem Lande einmal 
die Vollendung ausgehen werde: daß der rufjiiche Agrar-Kommus 
nismus Die joziale Reform-Idee der zukünftigen Kultur-Welt fein 
werde. Dieje Erwartung halte ich ganz jicherlicy für verkehrt. 
Aber dat das Geheimniß der Zufunft im Innern Rußlands zu 
juchen tt, glaube ich auch. Dit diefer Staat wahrhaft gejund 
und jtarf, jo wird er einmal Ajien erobern, die Engländer aus 
Indien vertreiben und die Welt beherrjchen. Iſt aber die rujjiiche 
Macht nur Schein, bricht die ungeheure Gebilde einmal aus: 
einander, jtürzt es in Anarchie, jo wird das ganz. andere Folgen 
haben, als wenn etwa England eine Niederlage erlitte und jeine 
Kolonien verlöre, oder wenn Dejterreich jich in mehrere Staaten 
auflöfte, oder al8 der Niedergang und die Niederlage Frankreichs 
gehabt hat. Die Clemente, aus denen die Staaten des alten 
Europa zujammengejegt jind, find ihrer Natur nad) jo gejund 
und harmonisch, daß jie auch nach den größten Kriſen in irgend- 
wie modifizirter Gejtalt fortleben fünnen. Bon Rußland aber 
gilt der Sat: es wird jein wie es ijt, oder es wird nicht jein. 
Die jtarre Einheit von Nationalität, Staat und Kirche, die das 
Weſen des Ruſſenthums ausmacht, läßt die Ideen des weitlichen 
Europa nicht eindringen, oder, wenn jie eindringen, jprengen fie 
dieje granitene Pyramide auseinander 


Ruſſiſch⸗Polen. 107 


Es iſt wahrlich nöthig, daß wir in Deutſchland die große 
Frage des Dftens jtudiren. Unjer Schidjal, da nach Nantes 
Ausdruck die auswärtige Politif die innere beherrjcht, wird davon 
in höherem Maße abhängen als von unjeren eigenen Partei: 
fämpfen. Wie e8 in England ausjieht und in Frankreich und in 
Amerifa, das wiljen wir. Ueber Rußland aber bewegen ſich 
unjere Borjtellungen in einer Art Halbdunfel. Die entgegen: 
gejegten Urtheile tönen an unjer Ohr; jehr Wenige aber haben 
jelber einen Blick in dieje eigenthümliche Welt gethan: jchon über 
die Kurfürjten-Brüde geht ja der Reiſende nicht hinaus. Bis 
nach Tiljit und Memel reicht noch Deutjchland; das iſt von Berlin 
noch ebenjo weit wie von Straßburg und Met dahin, viel weiter 
al8 von Köln oder Frankfurt, aber jchon dieje ganze Hälfte 
unjeres eigenen Landes wird nicht mehr bejucht und gar über die 
rufjiiche Grenze begiebt jich der zivilifirte Mensch jo leicht nicht. 
Selbit in Wejtpreußen habe ich faum Jemand gefunden, der ein: 
mal Weichjelaufwärts bis Warfchau gefommen wäre. 

Auch ich kann mich nicht gerade rühmen, mit eigenen Augen 
und Ohren jo jehr viel vom Oſten in mich aufgenommen zu haben. 
IH habe mich nad Möglichkeit in der Literatur umgejehen, ich 
habe mit manchem guten Kenner gejprochen, aber ich beherrjche 
weder Die rufjiiche noch die polnijche Sprache und bin, abgejehen 
von einem furzen Beſuch in Poſen, auch erjt in diefen Wochen jo 
weit gelangt, ein größeres Stüd wenigjtens des ruſſiſchen Polen 
mit eigenen Augen zu jehen und von den Bewohnern direkt über 
ihre Zuftände zu hören. Erſt bei diejer Gelegenheit habe ich auch 
unjern eigenen deutjchen Oſten fennen gelernt, die Herrlichkeit der 
Marienburg gejchaut und die wunderbare Pracht des alten Danzig 
auf mich wirfen lajjen. Das ijt ja das Eigenthümliche, daß die 
Völkerſcheide, die Berlin bildet, unjer eigenes Volf theilt, day es 
im ganzen Wejten faum Einen oder den Andern giebt, der weiß, 
daß an ber Nogat eine Stadt liegt mit einem Bauwerf, ehrwürdiger 
und ebenjo jchön wie das Heidelberger Schloß, ja auch wohl fühn 
neben dem Kölner Dom zu nennen. Daß Danzig weit mehr bietet 
als Augsburg, vollauf rivalijiren darf mit Nürnberg und dabeı 
jo ganz anders, daß nur, wer beide Städte gejehen hat, jagen 
darf, er fenne der Charakter des alten deutjchen Bürgerthums. 

Mir iſt an dem malerijchen Strande der Danziger Bucht 
erzählt worden von einem andern deutjchen Reiſenden, der auf 
dem Thurm der Marienfirche einen Hymnus auf die landichaft- 


108 Ruſſiſch⸗Polen. 


liche Schönheit Oſtpreußens anhörte. Der Preiſende war ein 
Bayer, ein Alpiniſt, der über die Dünen der kuriſchen Nehrung 
gewandert war und die Einjamfeit diejer wunderbaren Sandhügel 
zwijchen zwei Meeren jo erhaben gefunden hatte wie nur je die 
Schneegipfel jeiner Berge. Wer weiß von Alledem etwas im 
deutjchen Weiten? Aber mein Zweck ijt feine Reiſeſchilderung, 
jondern die Aufzeichnung einer Reihe von politischen Beobachtungen, 
die ich auf meiner Reije, namentlich in Warjchau, gemacht habe. 

Auch die Stadt Warjchau hat meine Erwartungen übertroffen. 
Sehr merkwürdig jpiegelt jich in dem äußeren Anblick die ver- 
jchiedene Gejchichte der beiden Städte Warſchau und Danzig ab. 
Warſchau it als Großjtadt Die jüngere. Die mittelalterliche 
Hauptitadt Polens war Krakau. Warjchau war nur die Nefidenz 
der Derzöge von Majovien und erſt Ende des jechzehnten Jahr: 
hunderts fiedelten die polnischen Könige dahin über. Danzig it 
die Stadt des PBürgertdums. Ein Batrizierhaus jteht neben dem 
andern; man jieht die üppige Fülle, in der dieje Gejchlechter lebten. 
Warſchau Hat jolche Häufer nicht, aber es hat eine Anzahl von 
fürjtlichen Paläſten; neben ihnen nur die Häufer Fleiner Leute, Die 
jeit einem Menjchenalter modernen Miethskaſernen Pla machen. 
Gewiß fein gejunder politischer Zuftand, ein Wolf, das wie das 
polnijche nur aus Adel und beherrjchter Mafje beitand. Aber man 
darf ſich jenen Adel doch nicht, wie es in Deutjchland wohl vielfach 
geichieht, als faſt fulturlos vorstellen. Dieſe Paläſte mit ihren 
großen Bibliothefen, jchören Sammlungen, gejchmadvoller Aus— 
itattung beweijen, daß die polnische Ariftofratie doch theilnahm 
an jener franzöfiich-europätjchen Bildung, die das vorige Jahr: 
hundert allenthalben beherrjchte. Den König Stanislaus Boniatowsfi 
pflegt man jich als einen liederlichen Schwächling, einen jchönen 
Lumpaci Bagabundus vorzuftellen, mißhandelt von feiner eigenen 
Aritofratie. Aber dieſer König hat auch das prädtige Schlof 
auf dem hohen Ufer der Weichjel an der Praga:Brüde ausgebaut 
und jehr jehenswürdig ausgeitaltet. Das Luſtſchloß Lazienfi iſt 
höchjt originell und Willamow, früher den Botodi, jegt den Branıdi 
gehörend, tt prächtig und reich wie ein privates Nationalmujeum. 
Die meijten der großen alten Magnatenfamilien exijtiren auch 
heute noch und verfügen über einen riejigen Grundbejit, führen 
aber, aus Politik, Staats: und Hofdienjt verdrängt, ein Still: 
leben, jind auch wohl nicht mehr als die Führer der Nation zu 
betrachten. 


Auffisch- Polen. 109 


Das Merfwürdigite an Warjchau aber iſt jein heutiger Jujtand. 
Es gehört zu den Großjtädten, deren rapides Wachstum immer 
von Neuem Erjtaunen hervorruft. Es hatte vor zwanzig Jahren 
325000 Einwohner, heute hat die eigentliche Stadt nad) der legten 
Boltszählung 638000, mit den Vororten aber bereits weit über 
800000 Einwohner. Im Jahre 1840 hatte es erſt 1600 majjive 
Häujer. Heute it es eine Stadt größer als Hamburg, ein Induftrie- 
und Handelsplag erjten Ranges. Wohl fieht man viel dürftiges 
Volk auf der Straße, unjaubere Juden in Menge, die aus Ruß— 
fand ausgewiejen, jich jüngjt maſſenhaft hierhergezogen haben; die 
Lajtwagen find oft nur mit einem, jchlechtgenährten Pferd be: 
ipannt. Die ganze Lebenshaltung der unteren Klaſſen jteht noch 
weit unter derjenigen der deutjchen, aber die Phyjiognomie der 
Straßen, die Fülle und Bewegung zeigt, dal es modernes Leben 
tt, was bier pulfirt und mächtig fortjchreitet. Aber nicht bloß' 
Warſchau it in diejer Weije aufgeblüht, jondern das ganze König— 
reich Polen ift im Begriff, ein Imduftrieland zu werden. Es hat 
in dieſem Jahrhundert jchneller an Einwohnern zugenommen als 
jogar Deutjchland. Die Gebiete, die heute das deutjche Weich 
machen, hatten im Jahre 1815 etwa 241/: Millionen Einwohner, 
heute 55, aljo erheblich) mehr als das Doppelte. Kongreß-Polen 
aber wurde im Jahr 1815 auf 3 Millionen Einwohner gejchäßt 
und hat jegt über 9! , aljo mehr als das Dreifache. Es iſt dichter 
bevölfert als Frankreich; es hat 75 Einwohner auf den Quadrat: 
filometer, Frankreich nur 72, Deutjchland 100. Neben Warjchau 
erijtirt die große Fabrifitadt Lodz mit faſt 400000 Einwohnern 
und an der Warjchau:Wiener Bahn, in dem an Oberjchlefien 
angrenzenden Gebiet, wo die Bergwerfe liegen, reiht ſich Fabrik 
an Fabrik. 

Als ich mich erfundigte, wie es mit dem Wohljtand der Bauern 
jtände, erhielt ich entgegengejegte Antworten; der Eine jagte gut, 
der andere jchlecht. Endlich aber vereinigte man ich dahin, das 
es auf den Standpunft anfomme: im Vergleich mit der Ver: 
gangenheit habe der polnische Bauer erhebliche Fortjchritte gemacht: 
im Vergleich mit den polniichen Bauern in Preußen aber ſei er 
noch auf einem recht niedrigen Standard. Die rujjiiche Regierung 
bat die polnischen Bauern unter den allergünjtigiten Bedingungen 
von ihren früheren ‚zeudalherren abgelöjt und jie zu freien Eigen 
thümern gemadt. Aber jie hat fulturell und intelleftuell nichts 
für ſie gethan; Bolfsjchulen eriftiren auf dem Lande jo gut wie 


110 Ruſſiſch⸗Polen. 


gar nicht. Die preußiſche Regierung hat die Bauern wirthſchaftlich 
bei Weitem nicht ſo günſtig geſtellt, weil ſie auch gegen den Adel 
gerecht ſein wollte, aber ſie hat ſie durch das Schulweſen, die 
prompte, tüchtige Verwaltung und die Einfügung in die Kultur 
und das Verkehrsweſen des ganzen Landes ſo ſehr gehoben, daß 
ſie es viel weiter gebracht haben als ihre Landsleute unter dem 
Szepter des Zaren. 

So ſind zwei Stücke des alten Polen, fremden Staatsweſen 
eingefügt, wohlhabend geworden. Das ruſſiſche weſentlich auf 
induſtrieller, das preußiſche auf agrariſcher Grundlage. „Wie ſieht 
es denn“, fragte ich einige polniſche Herren, „in dem dritten Theil. 
in Galizien aus?“ „O, das grade Gegentheil,“ hieß es; „und 
wie kommt es,“ fuhr ich fort, „daß das einzige Land, in dem Ihre 
Nationalität herrſcht, nicht blüht?“ 

Die Antwort war bald gefunden. Sie iſt, denke ich, nach 
vielen Seiten von Intereſſe. Das ruſſiſche Polen iſt zu einem 
wohlhabenden Induſtrieland geworden, nicht etwa durch die bewußte 
Fürſorge der ruſſiſchen Regierung. Das größte Werk, was ſie für 
das Wirthſchaftsleben Polen hätte ausführen können und müſſen, 
die Schiffbarmachung der Weichjel, hat fie unterlaſſen. Dieſer 
mächtige Strom wird faum zu etwas Anderem benußt, als zum 
Flößen; in unabjehbaren Yinien treiben die Stämme aus Den 
galiziichen Wäldern hinab nad) Danzig, um hier bearbeitet oder 
verfrachtet zu werden. Selbit flache Kähne fieht man nur wenig 
und ein vereinzeltes kleines Dampfichiff fährt, wenn der Wajjer- 
itand es erlaubt. Beliebig treten die Gewäſſer in den Niederungen 
über die Ufer und treiben die Sandbänfe hierhin und dorthin, jo 
daß das Fahrwaſſer ſich täglich verändert. Rußland aber denkt 
nicht daran, koſtſpielige Stromarbeiten auszuführen, um den Polen 
eine Wohlthat zu erweiſen. Selbſt mit Eifenbahnen tjt das Land 
noch ganz jparjam ausgeitattet. Eigentlich nur neun Linien ziehen 
jich durch diejes Land, das an Umfang einem Viertel des deutjchen 
Neiches gleichfommt. Steine direkte Linie geht nach Poſen oder 
Breslau; in großen Bogen und Winkeln über Thorn und Skiernewice 
muß man fahren, wenn man von Berlin nach Warſchau will. 
Dennoch jind e8 die Ruſſen gewejen, die freilich jehr wider ihren 
Willen Polen zum Induftrieland gemacht haben: indem fie Polen 
mit ihrem eigenen Staatsförper verbanden, liefert fie ihm diejen als 
Abjaggebiet aus. Um der unfruchtbaren Sandgegend von Lodz 
einigen Verdienſt zu verjchaffen, jiedelte die Negierung (als jie noch 


Ruſſiſch-Polen. 111 


unter ruſſiſcher Hoheit, aber ihrem Charakter nach polniſch war) 
deutſche Weber an. Aus dieſer Anſiedlung iſt die gewaltige Fabrik— 
ſtadt entſtanden. Sie hatte vor aller ruſſiſchen Konkurrenz den 
Vorzug, an der Grenze Kultur-Europas zu liegen, von Deutſchland 
die leitenden Perſönlichkeiten, wie die Maſchinen, wie alle neuen 
Anregungen, wie die Kapitalien zu beziehen, und konnte dabei, durch 
den hohen, ruſſiſchen Zoll geſchützt, den Vertrieb immer weiter in 
die Maſſen des ruſſiſchen Volkes hinein ausdehnen. „Die Reiſenden 
haben das Glück von Lodz gemacht“, ſagte mir mit Selbſtbewußt— 
ſein ein Mitglied dieſes Standes, das ſeit Jahren ganz Süd-Ruß— 
land durchzog. Lodz iſt eine faſt deutſche Stadt mit deutſcher 
Zeitung; die Sprache in den Geſchäften iſt deutſch und die Polen 
lieben die Stadt nicht. Aber von dieſer deutſchen Induſtrie auf 
ihrem Boden haben ſie ſelber gelernt und ſind in flottem Zuge, 
nunmehr, namentlich in Warſchau, auch einen eigenen Mittel- und 
Induſtrie-Stand auszubilden. Schon rüſtet man ſich in Warſchau, 
einmal der Ausgangspunkt der ſibiriſchen Bahn zu ſein. Warum 
Warſchau? Weil in Warſchau das eigenthümliche ruſſiſche Bahn— 
Syſtem mit der etwa zwanzig Zentimeter breiteren Spurweite 
anfängt. Hier alſo muß Alles, was aus Europa kommt, umgeladen 
werden. Das iſt der natürliche Umſchlags-, Sortier- und Pack— 
Platz. Jede neue Erwerbung, die Rußland für ſich macht, macht 
es zugleich auch für die polniſche Induſtrie, die ſeiner eigenen, 
älteren, mehr und mehr auf den Leib rückt. Schon bringt Polen, 
das noch nicht ein Dreizehntel der Volksmaſſe des ruſſiſchen Ge— 
ſammtreichs einſchließt, ein Sechstel ſeiner ganzen Eiſen- und 
Stahl-, ein Viertel ſeiner Textil-Produktion hervor.“) 

Gerade umgekehrt, wie man nun ſofort ſieht, liegt es in 
Galizien. Kongreß-Polen wurde verbunden mit einem wirthjchaft- 
(ich inferioren, Galizien mit einem überlegenen Gebiet. Wien und 
Böhmen verforgten das öfterreichijche Polen jo reichlich mit Induſtrie— 
Artikeln, dat eigene Manufakturen nicht auffommen fonnten. Dieje 
natürlichen Verhältnifje find jtärfer als alle Pläne und Bejtrebungen 
einer Regierung. Galizien iſt ein rücjtändiges agrarijches Gebiet 
geblieben: erjt regierte hier die indolente öſterreichiſche Bureaufratie, 
dann fam der polnijche Adel wieder ans Negiment: das Ergebnif 
it Fortſetzung deſſen, was wir in Deutjchland „polnische Wirthjchaft“ 
nennen. Armuth, Wucher, Korruption find die Phyſiognomie diejer 
Zandichaft und dieſer Gejellichaft. 

*) Neue Zeit. 14. Jahrgang. 2. 3b. €. 466. (1891.) 





112 Ruſſiſch⸗Polen. 


Sollen die Polen den Ruſſen nun dankbar ſein, daß ſie ſie aus 
ſolchen Zuſtänden gerettet und davor bewahrt haben? Dazu gehörte 
doch wohl, daß die Ruſſen, dies zu leiſten, den guten Willen gehabt 
hätten, wie etwa die preußiſche Regierung, die doch mit vollem 
Bewußtſein ihre polniſchen Unterthanen in das deutſche Kulturleben 
übergeführt hat und ſie gern und voll daran theilnehmen läßt. 
Die ruſſiſche Regierung aber hat Alles gethan, was in ihren 
Kräften lag, den polniſchen Aufſchwung zu verhindern. Ihre 
Schutzzölle ſollten dienen, in Moskau, am Don und am Ural eine 
Induſtrie großzuziehen, aber nicht in Warſchau, Lodz und Czenſtochau. 
Mit aller wünjchenswerther Deutlichfett wurde das amtlich aus— 
gejprochen. Als 1887 die Eijenzölle von Neuem erhöht wurden, 
ordnete der Allerhöchite Befehl vom 21. April/3. Mai an: „Den 
Miniitern der Neichsdomänen und der Finanzen wird aufgetragen, 
baldmöglichit gemeinfam auszuarbeiten und zur Prüfung in vor— 
gejchriebener Ordnung vorzujtellen Vorjchläge zu Maßnahmen, um 
in den wejtlichen Grenzgebieten der weiteren Entwidlung der be- 
jtehenden und der Entjtehung jolcher neuen Gußeifenjchmelzereien 
und Gijenwerfe vorzubeugen, welche mit fremdem Material und 
unter Beihülfe fremder Arbeiter arbeiten“. Aber diejer Allerhöchite 
Befehl iſt machtlos geblieben, denn die große Induſtrie blüht nur 
auf Nulturboden und davon findet man in Rußland nocd immer 
unendlich wenig, in Bolen, dem Nachbarlande Deutjchlands, viel 
mehr und das giebt den Polen über Rußland ein wirthichaftliches 
lebergewicht, welches ſich durch das Anwachjen des intelligenten 
polnischen Mitteljtandes noch fortwährend weiter ausdehnt. Neben 
den Deutjchen und deutjchiprechenden Juden, die ja vorlängjt im 
wirtbichaftlich-indujtriellen Yeben Rußlands eine prävalirende Rolle 
gejpielt haben, treten jetzt ſehr jtarf die Polen auf. Ich 
fragte einem hohen ruſſiſchen Beamten, der im Unterrichtswejen 
iteht, ob es richtig jet, daß gerade die Verdrängung der Bolen aus 
dem Beamtenthum dem polnischen Wirthichaftsieben durch Die 
Sntelligenzen, die in diefe Sphäre hinübergejchoben würden, jo jebr 
zu Gute fomme. Nicht nur das, jagte er, jondern jchon auf Die 
polnischen Schulen wirft es. Jedes polnische Kind weiß bereits: 
ich habe nirgends in den hohen Behörden einem Onfel oder Better, 
der mir einmal helfen wird; nur durch) mich jelbjt fann ich 
etwas erreichen. So werde jchon von früh auf jedes fleinjte 
Talent bei den polnischen Knaben wie Mädchen jorgjam ausgebildet. 
Die Ruſſen aber wüßten, daß jte im Tſchinownikthum auf jeden 


Nuffifh-Polen. 113 


Fall ihr Unterfommen finden. So gejchieht es, daß der Stand 
der polnischen Techniker weit nach Rußland hinein berufen wird, 
um die ruffiichen Arbeiter anzuleiten und zu beaufjichtigen. Aus 
freiwilligen Gaben jind jet mehrere Millionen Rubel zujammen- 
gebracht, um in Warjchau ein Bolytechnifum zu gründen. 

Der industrielle Aufjchwung, den Polen genommen, hat jo 
viel Wohljtand ins Land gebracht, daß man jelbjt die jehr üble 
Lage, in der jich der Großgrundbefig befindet, darüber verjchmerzt. 
Der polnische Großgrundbefizer hat nicht den hohen Schubzoll 
(etwa 25°/, des Werthes), der noch heute den deutjchen jchügt; im 
Gegentheil, da8 Land wird überjchwemmt mit dem durch die über: 
aus billigen Bahnfrachten mobil gemachten innerruffifchen Getreide. 
Dabei ziehen im Süden die Arbeiter ab in die Fabriken und Berg: 
werfe, im Norden gehen jie als Wanderarbeiter über die Grenze 
nach Deutjchland. So it in Polen Mangel an ländlichen 
Arbeitern ganz wie bei uns, und bei ihrem geringen Wohlwollen 
für den polnischen Adel hat die ruſſiſche Negierung bisher nichts 
gethan, dem abzuhelfen. Jetzt freilich joll fie ernitlich der Frage 
der Wanderarbeiter näher getreten fein und Prüfungen anjtellen. 
Unjere Yandwirthe mögen fich das gejagt jein lafjen: jperrt die 
rujjiiche Regierung einmal die Grenze und entzieht den Arbeitern 
das Benefizium der billigen Päſſe, jo bricht über unfere öjtliche 
Zandwirthichaft eine Kataftrophe herein. 

Bon der eigenthümlichen wirthichaftlichen Symbioje Polens 
mit Rußland wird man ausgehen müfjen, wenn man den heutigen 
politifchen Zujtand verjtehen will. Die Ruſſen regieren in Polen, 
aber die Polen nugen Rußland wirthichaftlich aus. Als ich die in 
unjerem vorigen Heft veröffentlichte Denkſchrift des General- 
Gouverneurs Fürſten Imeretinsky las, hatte ich das Gefühl: wie 
fann ein jo kluger Mann, wie diejer georgijche Fürft offenbar ift, 
ji) der Hoffnung Hingeben, daß die Polen fich jemals dem 
rujjiihen Staatsgedanfen unterwerfen werden? Er felber jchildert 
ung ja, wie jchlechthin ablehnend gegen alles Ruſſiſche fich die oberen 
Stände bisher verhalten und wie auch der Bauernitand, der bisher 
zu Rußland hielt, anfängt in das andere Lager überzugehen. 
Wenn er jchlieglich behauptet (j. Sept.-Heft ©. 440) eine neue 
Strömung lafje ſich bemerfen; ein Kreis von Intelligenzen habe 
die Kühnheit, laut zu erklären, es jei im Interefje der polnijchen 
Gejellichaft, mit der rufjischen Regierung in Frieden und Ein- 
verjtändniß zu leben, wenn nur die Regierung feine Invafion in 

Breußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 8 


114 Ruſſiſch⸗Polen. 


das Gebiet des katholiſchen Glaubens, der polniſchen Sprache und 
Nationalität mache — darf man das glauben? Der Aufenthalt 
in Polen hat mich belehrt, daß die Hoffnungen Imeretinskys doch 
nicht ſo völlig illuſoriſch ſind. Freilich ein Theil der Polen, 
namentlich die Jugend, hält an dem alten Ideal eines zukünftigen, 
unabhängigen Nationalſtaates feſt. Aber ein ſehr großer Theil 
und wie mir ſcheint, die eigentliche Intelligenz und der maßgebende 
Theil des Polenthums hat erkannt. daß alle Träume vom zu— 
künftigen Nationalſtaat Utopien ſind. Früher wurden alle Hoff— 
nungen auf Frankreich geſetzt. Frankreich iſt herabgeſtürzt von 
ſeinem früheren Stand und findet ſeine letzte Zuflucht in der 
Allianz mit Rußland. Oeſterreich hat den Polen immer noch ge— 
wiſſe Ausſichten geboten; Oeſterreich iſt in völlig deſolatem Zu— 
ſtand. Eine Zeit lang bat man die Hoffnung auf Deutſchland 
gejeßt; Deutjchland ijt wieder qut Freund mit Rußland geworden 
und haft die Bolen. An eine Erhebung aus eigener Straft denken jelbjt die 
Phantaſten nicht- mehr. So hat fich eine opportunijtijche Partei ge: 
bildet, die geneigt tjt, dem Fürſten Imeretinsky entgegen zu kommen. 
Das iſt nicht etwa die alte panjlavijtısche Partei, die auf die Eigenart 
der Nationen verzichten will, zu Gunjten einer ſlaviſchen Raſſen— 
Einheit. Dieje Partei hat — zum Heile Europas — bei den Bolen 
doch immer noch wenig Anklang gefunden. Man will jich nicht 
der rufjischen Nationalität, jondern nur dem rujjiichen Staats: 
gedanken unterwerfen unter der Bedingung, daß Die polntiche 
Nationalität dabei erhalten bleibe. Das iſt alfo in der That das, 
was Imeretinsky anbietet. 

Daß diejer Gedanke ein jehr fünftlicher ist, leuchtet ein. Aber die 
abjolute politifche Nothiwendigfeit erzwingt zuweilen jo fünjtliche 
Bildungen und es fehlt nicht an MAnalogien. Soeben find die 
Delegirten von acht deutjchen Univerfitäten in Siebenbürgen gewejen, 
um der Enthüllung des Denkmals für den Bifchof Teutjch bei: 
zuwohnen und den fernen Volksgenoſſen Zeugnig abzulegen, das 
wie jie mit ung, jo wir mit ihnen uns Eins fühlen in der nationalen 
deutichen Gefinnung. Dieje Stebenbürger Sachjen aber, in der 
Unmöglichkeit, je mit dem Vaterlande politifch vereinigt zu jein, 
haben im vollen Ernjt ji) dem ungarischen Staatsgedanfen an— 
gejchlofjen unter der Bedingung, daß man ihnen ihre Nationalität 
ungefränft läßt. So haben jie nicht nur den magyarijchen Staats: 
männern, jondern auch den deutjchen Gäſten verfichert und es üt 
nicht möglich, einen Zweifel in ihre Worte zu jegen. Etwas Aehn- 


Nuffish- Polen. 115 


liches nun, wenn aud) ganz von fern erjt, jcheint ſich mir in 
Ruſſiſch-Polen anzubahnen. Gegenüber den alten Intranfigenten 
bildet jich eine opportuniftiiche Partei, die auf die europäiſche Lage, 
die Nuglofigfeit des revolutionären Strebens, die Opfer und 
Schmerzen, die das ewige Martyrium fojtet, endlich auf das wirth— 
jchaftliche Gedeihen und die Vortheile der Vereinigung mit Ruß— 
land, die Schädigung, die eine Zollgrenze im Oſten anrichten 
würde, hinweiſt und auf Grund all diefer Betrachtungen nad) 
einem modus vivendi ſucht. 

Wie weit diefe Stimmung bereit3 um ſich gegriffen hat, mögen 
einige fleine Erlebnijje und Zwijchenfälle bezeugen, wo fie ganz 
abſichts- und zufammenhangslos zu Tage trat. 

Ich fragte in Gejelljchafteiniger polnischer Herren, ob jchon Söhne 
der alten Magnaten:Gejchlechter in die ruſſiſche Armee eingetreten 
jeien. Die Frage wurde verneint und ein junger Gelehrter, der 
eben erjt dazu getreten war, fügte ohne Weiteres ein „leider noch 
nicht“ hinzu. 

Indem ich mein Erjtaunen über das Wachsthum der polnischen 
Induftrie ausjprad), wandte ſich das Gejpräch auch auf die ruſſiſche. 
Es hätte nahe gelegen, dieje der polnischen gegenüber herabzujegen. 
Aber ganz im Gegentheil, jo gern man auch hervorhob, wie der 
polnische Technifer und Adminijtrator auch) von den ruſſiſchen 
Kapitalijten und Gutsherren den eigenen Yandsleuten vorgezogen 
werde, jo hatte man doc) auc) volle Anerkennung für das Gedeihen 
und die Solidität der ruſſiſchen Indujtrie, die ja freilich zum großen 
Theil von fremden und mit fremdem Gelde betrieben wird. Um: 
gefehrt gab man zu, daß das überhajtige Wachjen Warjchaus 
mancherlei Schwindel im Gefolge gehabt habe. Man war gerade 
in Beforgnif vor einem Krach. Aber die wirthichaftliche Zukunft Ruß— 
lands wie im Bejonderen der ruffiichen Staatsfinanzen wurde höchit 
günftig beurtheilt. Die militärijche Kraft Rußlands, hieß es, werde 
im Wejten vielleicht überjchäßt, die wirthichaftliche aber unterjchäßt. 
Nur der rujjiiche Weinbau fand wenig Anerfennung: Der Krim— 
wein iſt jehr gut, Sigbäder darin zu nehmen, jonjt aber nicht, 
wurde mir erflärt, al8 ich wiünjchte, auch dieſes Yandesproduft 
fennen zu lernen. Andere freilich behaupten, es gäbe auch jehr 
gute Lagen. 

Eine wahrhaft freudige Anerkennung fand endlich das rujjiiche 
Branntwein-Monopol. Es wirfe überaus jegensreich, da die jtaat- 
lichen Agenturen ein von jchädlichen Zubjtanzen freies, gereinigtes 

8* 


116 Ruſſiſch⸗Polen. 


Getränk in verſchloſſenen Flaſchen verabreichen*), die verderblichen 
jüdiſchen Schänken aber und der Vertrieb auf Borg mit dem 
daran hängenden Wucher beſeitigt ſind. Vereine zur Veredelung 
der Volksfeſte ſuchen den Alkoholismus noch weiter mit Erfolg zu 
bekämpfen. 

Ich glaube kaum, daß man früher, als der böſe Feldmarſchall 
Gurko noch in Warſchau waltete, ſo viel unbefangene Anerkennung 
für Ruſſiſches aus polniſchem Munde hätte hören können und 
ſehe darin ein Zeichen, daß das Streben des Fürſten Imeretinsky 
auf gegenſeitige Annäherung nicht ohne Widerhall geblieben iſt, 
denn nicht nur an einer Stelle, jondern an ganz verjchiedenen 
und bei verjchiedenen Gelegenheiten habe ich ſtets diejelbe Beob— 
achtung gemacht. Ob nun aber der modus vivendi wirklich ge— 
funden werden wird, das ijt eine Frage, die ich noch feinesmweas 
bejahen möchte. Die Bedingung it ja, daß die Polen den 
ruffiichen Staatsgedanfen annehmen und der ruſſiſche Staat it 
ein och, das die Ruſſen jelber faum zu tragen vermögen. Nur 
durch Abjperrung von der europätichen Gedanfenwelt und jtrengite, 
jtete Beauflichtigung glaubt der ruſſiſche Staat jeine Autorität 
aufrecht erhalten zu fünnen. Die Zenjur prüft jedes Wort, che 
e8 gedrudt werden darf, ja jelbit jede Injchrift, jedes Firmen: 
Schild. Iedes Buch, jede Zeitjchrift, jede Zeitung, die die Grenze 
pajjirt, wird einer Unterjuchung unterworfen und was dem Geiite 
eines loyalen ruſſiſchen Unterthanen jchädlich jein möchte, aus- 
gejchnitten oder durch Ueberſtreichen mit Druderjchwärze unlejerlich 
gemacht. Man denfe, welche Aergerlichkeiten, welche Thorheiten, 
welche unwürdigen Eingriffe hier täglich das Leben des gebildeten 
Mannes mit Bitterfeit erfüllen müfjen. Auch der perjönliche Ver- 
fehr mit Kultur-Europa joll möglichit unterbunden werden. Für 
jede Neife bedarf man eines Paſſes, der in Warſchau etwa jechs- 
unddreigig Mark fojtet. Katholische Priejter aber, es jet denn, 
daß fie ein ärztliches Attejt beibringen, erhalten überhaupt nicht 
die Erlaubniß zu einer Neije ins Ausland. 

Das führt bereit3 auf die befonderen Bejchwerden und Be- 
jchränfungen, denen Polen unterworfen iſt. Zum rufjiichen Staats: 
gedanfen gehört die Einheit von Staat und Kirche. Zwar die 


*) Jh berichte, was ich gehört habe. In ftartem Widerfpruh damit 
jteht, was Fr. K. Witte im feinen jüngfi erſchienenen „Ruſſiſchen Reife 
eindrüden“ (Roftod 1899) erzählt. Er findet zwar aud die erfte Dualität 
des Monopol-Branntweins ſehr gut, Die zweite, für den gemeinen Mann 
beftimmte aber „abſcheulich“ und dabei zu billig. 


Ruſſiſch⸗Polen. 117 


beſtehenden religiöſen Abweichungen werden tolerirt, aber unver— 
brüchlich gilt das furchtbare Geſetz, daß, wer einmal zur orthodoxen 
Kirche gehört, nicht aus ihr austreten darf. Hunderttauſende von 
Katholiken ſind einmal in ſogenannten unirten Kirchen getauft 
worden, die ein Ukas wieder von der katholiſchen Kirche getrennt 
und zur orthodoxen hinübergeführt hat. Nun ſollen auch alle in 
jenen Kirchen Getauften und ihre Nachkommen orthodor ſein. 
Sie weigern ſich deſſen; ſie laſſen ſich in den orthodoxen Kirchen 
nicht trauen, ſchleichen über die Grenze, um in Galizien einen 
katholiſchen Prieſter zu finden oder leben lieber in wilder Ehe. 
Anarchiſch-ſoziale Zuſtände ſind die Folge. 

Ruſſiſch iſt in Polen die Staats- und Schul = Sprache. 
Das iſt nicht ſo ſehr drückend, da Ruſſiſch und Polniſch ſehr nahe 
verwandt ſind. Es ſei nicht verſchiedener als Hochdeutſch und 
Plattdeutſch ſagen die Einen, als Hochdeutſch und Holländiſch die 
Anderen. Die ruſſiſche Schrift macht faſt die größte Schwierig— 
keit. Aber das ruſſiſche Schul-Syſtem im Ganzen genügt den 
Polen nicht. Die Ruſſen behaupten zwar, es ſei beſſer als das 
frühere polniſche, aber das beſagt vielleicht nicht ſo viel und die 
Polen verlangen heute mehr. Der ruſſiſche Aberglaube verhindert 
die Einführung des richtigen Kalenders; in Folge deſſen müſſen alle 
großen Feſte in Polen doppelt gefeiert werden, einmal nach dem 
kirchlichen (europäiſchen), zwölf Tage ſpäter nach dem ruſſiſchen 
Kalender. Die Schulen haben auf dieſe Weiſe nur einhundertund— 
fünfzig Unterrichtstage im Jahr: da kann das Lern-Penſum des 
modernen Menjchen jchwerlich bewältigt werden. Ueberdies ver: 
langen die Polen, daß wenigjtens die polnische Sprache und 
Yıteratur in der eigenen Sprache gelehrt werde. 

Die ländliche Volksſchule Fehlt noch in Polen wie in Rußland 
jo gut wie ganz und das iſt nicht ein bloßes Manko, jondern 
Syitem.  Derjelbe ruſſiſche Staat, der die oberen, lejenden 
Klaſſen in Vormundjchaft nimmt und ihnen vermöge der Zenſur 
nur die Gedanken zufommen läßt, die er jelber approbirt, derjelbe 
Staat wünjcht ein geiſtiges Yeben bei den unteren Klaſſen über: 
haupt nicht und hält es nicht nur für überflüffig, jondern für 
jhädlich und gefährlich, wenn fie Lejen und Schreiben lernen. 
Auch das Aufjteigen der begabteren Söhne des Volkes zu höherer 
Bildung wird möglichit hintangehalten. Die Zahl der Schulen it 
gering und die Stellenzahl in jeder Klaſſe bejchränkt, jo daß es 
jelbjt für gebildete Familien oft jehr jchwer iſt, die Schulpläge für 


118 Ruſſiſch-⸗Polen. 


ihre Kinder zu erobern. Selbſt die Zahl der Studenten in den 
verſchiedenen Univerſitäten iſt neuerdings auf ein Maximum feſt— 
geſetzt worden, um die jungen Männer beſſer beaufſichtigen zu 
können, und um den Geiſt der Auflehnung, der ja in dieſem Sommer 
zu Unruhen führte, völlig zu brechen, iſt vor wenigen Wochen ein 
Ukas erſchienen, wonach die Behörde jeden Studenten, der ſich an 
einem akademiſchen Spektakel betheiligt, ohne Weiteres auf zwei 
oder drei Jahre als gemeinen Soldaten in die Armee ſtecken 
kann. Das ſind heute noch die ruſſiſchen Ideen über Bildung, 
Recht und Kriegerſtand. Die Armee eine Strafanſtalt, die 
akademiſche Jugend unter der Fuchtel, Bildung ein Gift, das nur in 
kleinen Doſen gegeben werden darf. Aus ſolchen Unterrichtsanſtalten 
gehen die Klaſſen hervor, die das Weltreich zu regieren haben. 
Macht man ſich klar, was der ruſſiſche Staatsgedanke that— 
ſächlich iſt, ſo ſcheint es unmöglich, daß ein Volk wie die Polen, 
das den Anſpruch erhebt, ein Glied der weſtlichen Kulturwelt zu 
jein, ſich ihm jemals unterwerfe oder auch nur einen modus 
vivendi mit ihm finde. Aber die Noth, jagt das Sprichwort, macht 
wunderliche Schlafgejellen. Los von Rußland fünnen die Polen 
einmal nicht, und werden jie bejjer daran jein, wenn fie in der 
ewigen abjoluten Oppofition verharren? 8 giebt doch aud) wieder 
Momente, die den Ausgleich erleichtern. In erjter Linie kommt 
den Nufjen in merfwürdiger Weife die Abwandlung zu Gute, die 
ſich jüngjt in den politischen Ideen des weitlichen Europa vollzogen 
bat und die ich als den Banferott des parlamentarijchen Idealis— 
mus bezeichnen möchte. Man will ja bei uns feineswegs wieder 
zum Abjolutismus zurüdfehren, aber die Vorjtellung, daß man im 
Konjtitutionalismus den Idealjtaat erreichen würde, die die Köpfe 
und Herzen unjerer Väter beherrjchte, ijt vergangen. Wer jpricht 
heute vom Ddeutjchen Neichstag, oder preußischen Landtag, Ab— 
geordnetenhaus wie Herrenhaus mit bejonderem Reſpekt? Du Lieber 
Gott! Wer verherrlicht heute noch die freie Prefje? Man wei 
nicht verächtlich genug von den Zeitungjchreibern zu reden. Es it 
ein Rückſchlag in den Stimmungen eingetreten, der bis nach Ruß— 
land hin gewirft hat. Sch war ganz erjtaunt, aus polntijchem 
Munde zu hören, daß die Autofratie doch eigentlich die beite 
Negierungsform jei. Goethe hat fich ja einmal für die Ein 
ichränfung der Preffreiheit ausgejprochen: „Eine Oppofition, die 
feine Grenzen bat, wird platt. Die Einjchräntung aber 
nöthigt fie, geiftreich zu jein und das ijt ein jehr großer Vortheil.“ 


Ruſſiſch⸗Polen. 119 


Man dürfe nicht direkt und grob ſeine Meinung heraus ſagen, ſondern 
müſſe ſie feiner auf indirekte Weiſe zu verſtehen geben. Als draſtiſches 
Gegenſtück zu dieſem erlauchten Ausſpruch mag ich das Wort eines 
Polen wiederholen, der zu mir ſagte: „Wir leben hier unter der 
Koſakenpeitſche, aber das macht klug. Wir ſind hier mehr als unſere 
Landsleute in Preußen, die an der deutſchen Bildung theilnehmen. 
Was ſpielen dieſe denn für eine Rolle in Ihren Parlamenten?“ 

Das zweite Moment, das in Betracht kommt, iſt die ſoziale Folge 
der Umwandlung Polens aus einem Agrar- in ein Induſtrieland. 
Iroß aller Abjperrung dringen die jozialdemofratijchen Ideen auch 
in die polnische Arbeiterjchaft ein und je weiter das fortjchreitet, dejto 
mehr wird die Neigung der oberen Klaſſen wachjen, jich an Die 
beitehende Staatsgewalt, und wenn e8 auch die rujjiiche it, ans 
zujchliegen. Auf diefen Punkt it jchon von der jozialdemofratischen 
Seite jelber, durch Roja Luxemburg aufmerkſam gemacht worden. 
„Der polnische Adel, die polnische Geiftlichfeit und Bourgeoifie fühlen 
ſich wohl im Hundeloch und fangen an, die injurreftionelle Fahne 
abzujchwören“ zeterte ein polniſch-ſozialiſtiſcher Aufruf. 

Das dritte jehr wichtige Moment, das eine polniſch-ruſſiſche 
Annäherung ermöglichen würde, it die Leichtigfeit, mit der die 
Bedingung der Polen, Wahrung ihrer Nationalität, erfüllt werden 
fann. Die Gefahr einer Ruſſifikation ijt für die Polen that: 
jächlich nicht vorhanden. Alle Gewaltjamfeiten Gurfos haben da= 
rin nicht das Geringjte erreicht und einfichtige, unbefangen urtheilende 
Ruſſen haben mir gegenüber auch entjchieden bejtritten, daß fie je 
beabfichtigt gewejen jet. Was man wolle und gewollt habe, jei 
die Durchführung der ruffischen Staatsiprache, denn Rußland jei 
fein söderativ-Staat. Man berief jich darauf, daß eine große 
polnische Preſſe ungehindert eritiere und daß der rufjiiche Staat 
das polnijche Nationaltheater in Warjchau nicht nur dulde, jondern 
aus öffentlichen Mitteln jogar unterjtüge. Was nun auch die Ab» 
jiht Gurfos gewejen jei, der jetige Gouverneur Imeretinsfy will 
jedenfall von dem Gedanken der Rujjifizirung nichts wijjen. Er 
jelber jpricht mit den Polen auf jeinen Gejellichaften polniſch und 
er hat den Polen erlaubt, dem Dichter des Patriotismus, Miciewicz, 
dejien Werfe nur zu bejigen, früher Sibirien in Ausficht jtellte, 
ein jtattliche8 Denkmal mit polnischer Injchrift zu ſetzen. Daß er 
damit in der That den Polen ein jtarfes Pfand für feinen 
Willen auf Ausjühnung gegeben hat, wird erhellen, wenn man 
etwa folgende Lieder der Gefangenen aus Midiewicz’ „Dziady“ Lieft: 


120 Ruſſiſch⸗Polen. 


Der Erſte: „Damit ich gläubig werde, muß ich erſt Jeſus 
und Maria den Zaren, der mein Land beſudelt, züchtigen ſehen. 
So lange der Zar lebt und Nowoſilcow trinkt und ich ſelbſt 
Sibirien fürchten muß, jo lange darf Niemand erwarten, daß ich 
rufen werde: Jeſus, Marta!“ 

Der Zweite: „Was thut es, wenn ich Verbannung, Zwangs- 
arbeit, Stetten ertragen muß, wenn mir nur als treuem Unterthan 
geitattet wird, für meinen Zaren zu arbeiten! — Wenn ich in den 
Bergwerfen mit Fleiß und Kunſt jchmieden muß, jo jage ich mir: 
Diejes graue Eijen wird eines Tages eine Art für den Zaren. — 
Falls ich aus dem Zuchthauſe herausfomme und mir ein junges 
tatarisches Frauenzimmer zum Weibe gegeben wird, jo jage ich zu 
ihr: Gebäre mir einen Pahlen für den Zaren (Bahlen, der Mörder 
Pauls I.) — Schidt man mich als Koloniſten aus, werde td) 
Hetman oder Bojar, jo will ich auf meinem Acker Hanf jäen, nur 
Hanf, für den Zaren. Aus Hanf macht man einen Strid, einen 
grauen Strid, den man mit Silber einflechten fann; vielleicht wirft 
ein Orlow die Schärpe um den Hals des Zaren. (Orlow, Der 
Mörder Peters III)“ 

Der Dritte: „Mein Geiſt war verjtummt, mein Lied lag im 
Srabe, aber mein Genius hat Blut gewittert, und mit einem Schrei er: 
hebt er fi) wie ein Vampyr, begierig nad) Blut. Er durjtet nad) 
Blut, nad) Blut. Ia, Rache, Nache! Rache über unſere Henter! 
Rache, wenn Gott will, und wenn Gott nicht will!“ 

Was Imeretinsty jonjt beabjichtigt, it unjeren Lejern ja bereits 
aus der von Herrn Rohrbach veröffentlichten Denkſchrift befannt, auch 
der Widerjtand, auf den er in Petersburg jtößt. Die Einführung einer 
Anzahl polnischer Unterrichtsitunden an den Gymnaſien, worauf 
die Polen natürlich bejtehen müſſen, ijt bisher noch nicht genehmigt. 

Mag nun aber der General-Gouverneur durchdringen oder nicht, 
jedenfalls it jeine Idee die eines klugen Nealpolitifers, denn Die 
Ruſſifizirung Polens iſt eine Utopie. Ich jtellte einmal in einer 
Sejellichaft polnischer Herren in Warjchau die Frage: Wenn ein 
Role jich entnationalifirt, wird er dann ıeichter ein Deutjcher oder 
ein Ruſſe? Ein jüngerer Schriftiteller war zunächjt geneigt, ſich 
für den Ruſſen zu entjcheiden, indem er auf die Einheit der Raſſe 
und die Verwandtjchaft der Sprachen hinwies. Dann aber jchlof 
er fi) doch aud) den anderen Herren an, welche einjtimmig ihre 
Meinung dahin abgaben: leichter ein Deutjcher. Denn beim 
Uebergang zum Deutſchthum jet e8 dem Polen noch möglich, jeine 





Ruſſiſch⸗Polen. 121 


Religion zu behalten; vom Ruſſenthum aber ſei unzertrennlich die 
orthodoxe Kirche und zu dieſer hinabzuſteigen, ſei ſchlechterdings 
unmöglich. Es hätte zwar in Petersburg einmal einen Mann ge— 
gegeben, der zugleich Pole und griechiſch-orthodox ſein wollte, aber 
er ſei auch einzig in ſeiner Art geweſen und werde es bleiben. 

Gerade dieſe Unmöglichkeit, daß die Polen jemals Ruſſen 
werden, auch wenn ſie die ruſſiſche Sprache lernen und ſich dem 
ruſſiſchen Staatsgedanken anſchließen, erleichtert nun die Annäherung, 
weil die Polen dabei für ihre Nationalität nichts zu beſorgen 
haben. In kompakter Maſſe zuſammenſitzend, bleiben ſie unter allen 
Umſtänden, was ſie ſind. In Preußen ſteht es umgekehrt. Hier 
ſind ſie über vier Provinzen weit auseinander gezerrt, von Pleß 
bis an die Oſtſee, von Meſeritz (zwanzig Meilen von Berlin) bis 
Lyck vertheilt und faſt allenthalben mit Deutſchen gemiſcht. Die 
Provinz Poſen ſelber hat über ein Drittel Deutſche; rein polniſche 
Kreiſe und Städte giebt es nur wenige. Der Uebergang vom 
Polenthum zum Deutſchthum und vom Deutſchthum zum Polen— 
thum findet ziemlich häufig ſtatt. Miſchehen ſind zahlreich. Hätten 
wir jtatt der jetzigen Halbheit eine wahrhaft muthige, von Selbſt— 
vertrauen erfüllte nationale Bolitif, jo würde die Germanijirung 
vermuthlich bald Kortjchritte machen. Die Polen jelber find fich 
darüber auch ganz Far. Am Schlufje einer Gejellichaft in Warjchau 
jagte mir einer der polnischen Herren, als der Wein etwas Die 
Zunge gelöft hatte: „Herr Profejjor, ich will Ihnen etwas jagen, 
Site find ein jehr liebenswürdiger Mann, aber Sie find wie jene 
Zahnärzte, die in die Zeitung jegen: „Schmerzlojes Zahnausziehen.“ 
Sie wollen uns die Schmerzen dabei erjparen, aber unjere Natio- 
nalität wollen Sie uns nehmen, jo gut wie die Anderen. Aber 
ich jage Ihnen, wir haben eine Vitalität, die nicht zu überwinden 
it. Unſere Politik iſt jegt, möglichjt viel Kinder in die Welt zu 
jegen und WVohlitand zu eriverben, wir jind nod) zu arm. Curopa, 
fügte er mit troßigem Humor hinzu, hält Polen für den Krebs 
an jeinem Körper, aber der Krebs iſt nicht zu operiren.“ 

Wie wunderbar jind doch die Geſchicke der Völker. Mit welchen 
Hoffnungen blidten die Italiener in die Zukunft, welche Erwartung 
begte die Welt von der in Jahrtaujenden bewährten Genialität 
diefer Nation, als jie die Zerrifienheit, die Fremdherrſchaft, den 
Briejterdrud überwand, ihre nationale Einheit fand und als gleich: 
berechtigtes Volk in die Neihe der Großmächte eintrat! Wie gar 
jehr find dieſe Hoffnungen enttäujcht worden. Arm, elend, ohne 


122 Ruſſiſch⸗Polen. 


Ideale, ohne Talente, ohne Erfolge kriecht dieſes moderne Italien 
über den Erdboden hin. Noch ſchlimmer ſteht es in Spanien. 
Als einzige von allen katholiſchen Nationen hält die franzöſiſche 
jih noch aufrecht, aber ohne wahre Freude am Dajein. Dagegen 
Polen, das in völlige Auflöfung verjunfen, endlich von den Nach— 
barn, ohne daß es auch nur einen wahrhaft großen, heroiſchen 
Widerſtand geleiftet hätte, aufgetheilt wurde und zum Tode ver- 
urtheilt, ausgelöfcht jchien unter den Namen der Völker! Gerade 
unter der fremden Herrichaft hat es erjt jein Volksthum gefunden. 
Zwiſchen einer ſtumpfen Bauernjchaft und einem wilden, ziellojen, 
verrätherifchen Adel iſt ein fräftiger Mittelitand emporgewachien. 
Die Dreitheilung hat das einheitliche nationale Bewußtjein jo wenig 
zerrifjen, und vielleicht weniger als das der Deutjchen, die ja auch 
zertheilt, unter nicht iveniger als vier Staaten, das Weich, die 
Schweiz, Oeſterreich und Rußland leben. Bon allen Fatholichen 
Nationen find die Polen, die früher bejonders gern als Berjpiel 
angeführt wurden, wie der Katholizismus die Völfer herunterbringe, 
das einzige, das vorwärts jchreitet. Man fünnte noch an Ungarn 
denfen, aber es ijt nicht zu vergejien, daß fajt ein Drittel der 
Magyaren protejtantiich it. Auch die Polen waren einmal für 
einen Augenblid dem Protejtantismus gewonnen. Heute find Tie 
fatholijch, weil der Katholizismus national iſt und fie wahren ihre 
Nationalität, weil fie fatholijch jind. Die großen polnischen Tichter 
waren katholiſche Romantifer. Aber fie faßten die Kirche anders 
auf, und die Stirche it hier auch etwas Anderes als in anderen 
Ländern. Da jie nicht daran denfen kann, nach SHerrichaft zu 
jtreben, jo it jie bier tolerant; jie hütet jich, den Freidenker zu 
verfolgen und Der Freidenker hütet jich, ſie anzugreifen, denn jie 
jind Bundesgenofjen gegen einen gemeinjchaftlichen Feind. Wird 
jie auch einmal mit diejem Feinde in ein Bündniß treten? Hier 
find wir wieder bei dem Ausgangspunft unjerer Betrachtung ans 
gelangt. Im Dften wohnt die Sphinx. Von einem Pol zum 
anderen jchwanfen die Räthſels-Löſungen, die Antworten, die Urtheile. 
Hier heit es: Rußland iſt der Koloß mit den thöneren Füßen, 
binnen Kurzem wird er zujammenbrechen. Dort aber: nein, jeine 
Kraft wurzelt in einem Boden, der unerjchöpflich iſt und Kraft zieht 
Kraft an, nächitens wird es jogar die Polen jeinem : Staats» 
gedanken unterworfen und eingegliedert haben und dann fann es 
ganz Europa in die Schranken fordern. 


Element. 


Bon 


Paul Wendland, - 
Wilmersdorf b. Berlin. 


Was heißt Element? Der Gebildete würde auf dieje Frage 
antworten, daß man früher Feuer, Wafler, Luft und Erde Elemente, 
d. h. Grundftoffe, aus denen alle zujammengejegten Körper ge— 
bildet jein jollten, genannt habe. Der Gebildete weiß auch, daß 
die moderne Chemie fiebzig und etliche Elemente unterjcheidet; er 
weiß vielleicht auch, daß die junge Wiſſenſchaft damit noch feines- 
wegs am Schlujje ihrer Weisheit angelangt it. Jedem iſt aud) 
ein anderer Gebrauch des Wortes geläufig: Wir reden von Elementen 
der verjchiedenen Wijjenjchaften, vom Elementarunterricht, al® dem 
Unterricht in den Anfängen des Wiſſens, wörtlich in den Buch: 
itaben. Da liegt auch dem Laienverjtande die Frage nahe: Welches 
ift der urjprüngliche Sinn des Wortes? Bezeichnete es anfänglich 
die Anfangsgründe des Wiſſens oder die vermeintlichen Grund— 
jtoffe der Körperwelt? Dieje Frage führt zu der weiteren: Welches 
iit die Grundbedeutung des Wortes, von welchem Stamme it es 
abgeleitet? Mancher Gebildete würde ſich vielleicht bei der Antwort 
beruhigen, es jei eben ein lateinijches Wort; der deutjche Sprad)- 
verein fünnte uns etwa eine oder mehrere Verdeutjchungen freundlic) 
vorjchlagen (durch deren Annahme wir uns übrigens eines guten 
Stüdes Sprach- und Kulturgejchichte berauben würden). Klügere 
werden der Frage gegenüber ihre Unfenntniß eingejtehen, und jie 
brauchen jich ihrer um jo weniger zu jchämen, als die Philologie 
jelbjt bisher feine Antwort auf die Frage gefunden hatte, wenigitens 


124 Element. 


feine überzeugende. Bon den bisherigen Berjuchen, der Bedeutung 
des elementum auf den Grund zu gehen, jet nur ein ganz finnreicher 
erwähnt. Wie wir vom ABC, die Griechen vom Alphabet reden, 
jo hat man elementum aus der Zujammenjtellung der Buchſtaben 
LMN erflärt. Aber dieje Erklärung jcheitert jchon an der That- 
jache, daß auch die römischen Schulfinder mit ABC anfingen, man 
aljo vielmehr ein Wort abecetum hätte bilden müjjen. 

Der Wunſch, über Gejchichte und Urjprung des Wortes ins 
Meine zu fommen, hat einen unjerer erjten Bhilologen zu einer 
weite Gebiete der Sprachgejchichte und des menschlichen Denkens 
um}pannenden Unterjuchung*) geführt, die zunächit für Philologen 
beitimmt iſt, deren Ergebnifje aber das Intereſſe weiterer Kreiſe 
zu weden vermögen. Sch möchte die Yejer bitten, den Weg, den 
uns Diels vorangegangen it, an meiner Hand zurüdzulegen. Die 
weite Wanderung wird, hoffe ich, jie nicht ermüden. Denn auch 
ehe wir zum ‚tele gelangen und zur stage, von der wir aus 
gegangen find, zurüdtehren, giebt e8 am Wege manche jchöne 
Blume zu pflüden, manche weite Ausficht in eine Landſchaft von 
ojt zauberhaften Neizen zu genießen. 

Diels rühmt gegenüber der landläufigen ungünjtigen Be— 
urtheillung mit Recht die technijchen Leiſtungen des Alter— 
thums**), das jogar der moderniten Zeit die Erfindung Des 
Waarenautomates und des Tarameters vorweg genommen hat, das 
nahe an der Grfindung der Buchdruderfunjt gewejen jet und 
ſie nur aus künſtleriſchem Gefühl verjchmäht habe, weil ein antifes 
Auge die jtereotype Unjchönheit des Letterndrudes nicht ertragen 
hätte. Er will damit jicher nicht leugnen, daß der dichterifche und 
jpefulative Trieb doch der Grundzug des griechischen Geijteslebens 
it und deſſen innerjtes Wejen uns erjt erichließt. Der Grieche 
faßt die Außenwelt mit jcharfem Blide auf. Aber kaum hat er 
begonnen, einzelne Erjcheinungen zu beobachten und zu erflären, 
jo meint er auch, das Weltall bemeijtern zu fünnen. Der fühne 
Sedanfenflug trägt ihn über alles Einzelne hinweg zu einer fünjt- 
lertichen Gejammtanjchauung der Welt in ihrer Entjtehung und in 

*) 9. Diels, Elementum. Cine Vorarbeit zum griehifchen und Iateinifchen 

Thejaurus. Leipzig, Teubner 1899. 93 ©. 

*) Für die tehnifhen und naturwiſſenſchaftlichen Leiſtungen des Alterthums 
verweiſe ich gern auf die Schrift eines der beſten Kenner dieſer Gebiete: 

M. Schmidt, Zur Reform der Haffiihen Studien auf Gymnafien. Leipzig. 

1899. Wie man aud über den prakiiſchen Vorſchlag des Verfaſſers 


denten mag, die Brojhüre erhebt ſich hoch über die Sintfluth moderner 
Reformvorſchläge. 


Element. 125 


ihrem inneren Zujammenhange. Es iſt leicht, diejen die wirkliche 
Welt Hinter ich lajjenden Flug der Phantajie zu bejpötteln, wie 
es oft gejchehen it. Wir Modernen könnten neidijch auf diejen 
fejten Glauben, allen Räthjeln der Welt auf den Grund gehen zu 
fönnen, bliden. Eins jollten wir nicht vergefien: Die Griechen 
haben nicht nur die Probleme gejtellt, mit denen die Bhilojophie 
noch heute ringt, in Griechenland iſt aud) der reine, uninterejjirte 
Geiſt der Forſchung, der nichts als die Wahrheit will, geboren 
worden. Was iſt ung dagegen Aegypten, Babylon, Indien ? 

An der Schwelle griechifchen Denkens nun taucht das Stoff: 
problem auf. Giebt es wirflich jo viele grundverjchiedene Stoffe, 
als die bunte Erjcheinungswelt unjere Sinne glauben machen will? 
Oder ijt es möglich, die Vielheit zu bejchränfen oder gar der Welt 
einen einheitlichen Sinn abzugewinnen? „Sollte die Pflanze, die 
ihre Nahrung aus Erde, Luft und Waſſer zieht und jelbjt wieder 
dem Thier zur Nahrung dient, während thierijche Auswurfsitoffe 
wiederum die Pilanze ernähren helfen, die jchließlich gleich dem 
Thierleib in jene eritgenannten Stoffe zerfällt — jollten dieje im 
jteten Streislauf befindlichen Wejen einander wirflich innerlich 
fremd und nicht vielmehr bloße Umgejtaltungen urjprünglich gleich- 
artiger Stoſſe oder gar eines Stoffes jein?"*), Sollle etwa das 
Waſſer oder die Yuft oder das Feuer der im verjchiedenen Er- 
icheinungsformen ſich Daritellende Urſtoff jein? Alle dieſe 
Hypotheſen ſind aufgeſtellt worden. Oder ſollte die bunte Welt 
ſich nicht bejjer erflären, wenn man dieſe Urſtoffe kombinirte und 
ihnen die Erde gejellte? So meinte Empedofles (5. Iahrh.), und 
er iſt Damit der Vater der jo lange berrjchenden Elementenlehre 
geworden. Aber it die Vorausjegung richtig, daß eins der uns 
wahrnehmbaren Stoffgebilde der Urjtoff it? Sind nicht vielleicht 
die qualitativen Verjchiedenheiten der Stoffgebilde nur in unjerer 
jubjeftiven Wahrnehmung begründet und erijtiren gar nicht in der 
Wirklichkeit? Iſt alfo nicht der Urjtoff hinter den ihrer jefundären 
Eigenschaften entkleideten Stoffe zu juchen? Und fann nicht jo die 
einheitliche Naturerflärung gegenüber Empedofles ihr Recht be— 
halten, jo Unrecht jie hatte, wenn jie von einem der fichtbaren 
Stoffe ausging? So etwa jchließt (Leukipp-) Demofrit, der Be- 
gründer der Atomenlehre. Alle qualitativen Eigenjchaften zieht er 
von den Dingen ab und gelangt jo zu einem Urjtoff, der aus un 


*) Gomperz, Griehifhe Denker. LJ. ©. 37. 


126 Element. 


endlich vielen unjichtbar kleinen, im Leeren ſich bewegenden 
Körpern bejteht. Nur durch Gejtalt, Anordnung, Lage unterfcheiden 
ſich dieſe Körperchen, und auf ihrer verjchiedenen Verbindung 
und Trennung beruht Werden und Vergehen aller Dinge. 

So fannten aljo die erjten griechijchen Denfer Element und 
Elemente, aber fie hatten nur die Sache, nicht den Namen, nod) 
nicht einen feiten Begriff, noc) nicht das dem elementum ent: 
iprechende storysiov (= stoicheion). Bald redet man von Wurzeln 
des Seins, bald von Gründen, Keimen, Oejtalten, Ideen, Atomen. 
Eine feſte Terminologie giebt es eben nod) nicht. Noch Platos 
Zeitgenofjen gebrauchen das griechiiche Wort storysia von den An- 
fängen des Wiſſens oder der Wiljenjchaften, nicht von den Urftoffen. 
In der Schule Platos erjt ift die Terminologie gejchaffen und durd 
die Autorität des Ariftoteles im Zuſammenhange mit der von ihm 
durchgebildeten Lehre von den vier Elementen zu allgemeiner An: 
erfennung durchgedrungen. | 

Welche Vorjtellung wollten die Philojophen damit ausdrüden, 
daß fie die Urftoffe mit dem Namen otorysia bezeichneten? Das 
muß uns der jonjtige Sprachgebrauch des Wortes lehren. ateiys 
(= stoichos) bezeichnet jede Art von Reihe, bald die in Reih und 
Glied aufmarjchirenden Soldaten, bald die Neihe des Chores, bald 
die reihen- oder jchichtenweije gelagerten Ziegel, endlich die gewiſſer— 
maßen in Reih und Glied aufmarjchirenden Buchjtaben. sroryea 
find die einzelnen Glieder jolcher Reihen. Die Philojophen, die 
diefen Ausdrud zuerit von den Urjtoffen gebrauchen, vergleichen 
diefe mit den Buchjtaben. Wie aus den Buchjtaben, jagen fie, 
die Worte und der ganze Neichthum der Sprache ſich zuſammen— 
jegt, jo aus den Elementen unjer Leib und die ganze bunte Er 
jcheinungswelt. 

Auch Demofrit und jeine Jünger verglichen die unendliche 
Kombinationsfähigfeit der Buchſtaben mit der von ihnen ans 
genommenen unendlichen Mannigfaltigfeit der Atomverbindungen. 
Shre Gegner wandten dann in dem berühmten „Sleichnig vom 
umgejtürzten Schriftfajten“*) das Bild gegen fie jelbit; jo wenig 
fünne die jchöne Welt aus einem Atomwirbel hervorgehen, wie fid 
aus einem auf die Erde gejchütteten Haufen von Metallbuchitaben 
der Katechismus Epifurs zujammenfinden fünne. 

Alfo der Vergleich mit dem Alphabet, mit den Buchjtaben als 


*) S. Du Bois⸗Reymond, Neden I, 254. 


Element. 127 


Elementen der Sprache, der Schrift und des Wiſſens hat zur Be: 
zeichnung der Urſtoffe mit dem gleichen Namen geführt. Dieje 
Bezeichnung iſt dann nicht nur in der Sprache der Philojophen 
(und Mediziner) feitgehalten, jie iſt in den allgemeinen Sprad)- 
gebrauch übergegangen, nicht ohne unter dem Einfluffe volksthüm— 
licher Vorjtellungen auch Wandlungen ihrer Bedeutung zu erfahren. 
Der Boltöglaube, der fich ſtets die Natur in allen ihren Er- 
jcheinungen bejeelt dachte und jich von einem unjichtbaren Geijter: 
reiche umgeben fühlte, die ſtoiſche Philojophie, die die Götter als 
Berjonififationen der elementaren Kräfte darjtellte, die perſiſche 
Elementenverehrung, die namentlich mit dem Meithrasdienit nad) 
dem Weiten dringt, die Aitrologie, die die Gejtirne als Elemente 
bezeichnet, jie alle wirfen zujammen, um dem Worte oTorysiov 
wie auch jeinem lateinijchen Mequivalent elementum eine perjön- 
liche Bedeutung zu geben. Die Aſtral- und Clementargeijter 
beginnen jchon jegt ihre verhängnigvolle Rolle zu jpielen. Man 
ſchwört jegt bei den Elementen, man bannt die wohlbefannte 
Schaar, 

Die ftrömend fih im Dunfifreis überbreiter, 

Dem Menſchen taufendfältige Gefahr 

Bon allen Enden ber bereitet. 

Wir kennen aus Zauberpapyri und Bleitafeln die Künſte, mit 
denen die Meijter dieje Geilter und andere Dämonen in ihre Dienfte 
zwingen. 

Ber fie nicht fennte, die Elemente, 
Ihre Kraft 

Und Eigenfdaft, 

Wäre fein Meifter 

Ueber die Geifter. 


Sp nimmt das griechiiche Wort die Bedeutung des Dämon 
an oder bezeichnet auch die Bildjäule, der der Dämon einwohnt. 
Noch heute nennt der Grieche storyeıa Unholde und Schußgeifter 
aller Art, Baumgeijter, Fluß-, Brunnen, Teichniren. Es wäre 
wohl lohnend, zu verfolgen, wie dieſer Glaube an Elementargeijter, 
den Theophrajtus Paracelfus in eine Art wifjenjchaftliches Syſtem 
bringt, bei den Völkern des Mittelalters fortwirft. Das „in Pot 
Element“ entjtellte „Gottes Element“ zeigt jhon eine Abſchwächung 
des ua), den uns unjere an die voltsthümliche Natur: 


—— — 


*) „Beim Element“ muß nad Grimms Lerilon im vorigen Jahrhundert 
nod eine gebräudliche Betheuerung gewefen fein. 


128 Element. 


bejeelung anfnüpfende Dichterjprache in feiner urjprünglichen Kraft 
nachzuempfinden jo jehr erleichtert. „Denn die Elemente hajjen 
das Gebild der Menjchenhand.“ 

Diejer Volksglaube verbreitet ein neues Licht über den Sinn 
mancher Pauliniſchen Stellen, die Luther nicht richtig überjegt hat 
und über deren Meinung die Anfichten der theologischen Ausleger 
wert auseinandergehen. Paulus wirft den galatijchen Chrijten vor: 
„Wie möget ihr nun wieder umfehren zu den jchwachen und arm: 
jeligen Elementen, welchen ihr wieder von Neuem dienen wollt?“ 
„Alſo aud) wir, da wir noch unmündig waren, waren wir unter 
die Elemente der Welt gefnechtet“ (4, 9. 3). Und im Briefe an 
die Koloſſer 2, 8 heißt es: „Sehet zu, daß euch Niemand vers 
führe durch die Philoſophie und eiteln Trug nad) Menjchen: 
überlieferung, nad) den Glementen der Welt und nicht nad 
Chriſtus“. Gemeint ift die Berehrung und die Furcht vor den 
fosmijchen, bejonders den Sterngeijtern. So haben die Stirchen: 
väter aus dem Aberglauben ihrer Zeit heraus gewiß richtig ge: 
deutet. — Die Offenbarung des Johannes fennt Engel, die über 
Teuer, Wafjer, Erde walten. Und zum Beweije, welche eigenartigen 
Berbindungen das ChrijtentyHum oft mit dem Aberglauben der Zeit 
einging, füge ich zu den Ausführungen von Dield noch eine Ur- 
funde des zweiten Jahrhunderts, in der es lautet: „Berjchieden- 
artig jind die Gejtirne und ihre Kräfte, heilfame, jchädliche, rechte, 
linke... . Bon dieſem Widerjtreit und Kampf der Kräfte rettet 
uns der Herr und giebt uns den Frieden vor dem Kampfe der 
Kräfte und der Engel, den die Einen für, die Andern wider uns 
führen“. 

Einen weiten Weg mußten wir zurüdlegen, bi$ wir wieder 
beim lateinifchen elementum angelangt find. Wir mußten es, weil 
die römische Literatur und bejonders die römische Philojophie die 
meilten Gedanken von den Griechen übernommen hat und darum 
nur aus griechijchem Geijtesleben heraus zu begreifen ift. So hat 
denn auch das römische Wort eine Gefchichte, die der des griechiiden 
parallel läuft. Auch hier iſt die urfprüngliche Bedeutung nicht „Grund: 
bejtandtheil*, jondern „Alphabet“, Anfänge des Willens und über: 
haupt der Bijjenjchaften. Der römische Dichter Yucretiug, der begeijterte 
Apojtel der Atomenlehre, wendet im erſten Jahrhundert v. Chr. Die 
elementa, d. h. die Buchjtaben als ftehendes Bild an, um durd) Die 
Mannigfaltigfeit ihrer Zufammenjegungen die unendliche Fülle der 
Atomverbindungen verjtändlich zu machen. Und der bildliche Ge— 


Element. 129 


brauch führt wie jo häufig zur Prägung eines fejten Begriffes: 
Die elementa find die Atome. An ihn fmüpft dann Cicero an, 
wenn er die vier Urjtoffe Elemente nennt. Damit hat er die 
Tpäter überwiegende Bedeutung des Wortes gejchaffen. Es iſt nur 
auffällig, wie jelten der Gebrauch des Wortes noch in dem Jahr: 
hundert nach Eicero ijt, wie jehr auch die phyjifaliiche Bedeutung 
zurüdtritt. Se mehr wir und der eigentlich chrijtlichen Welt 
nähern, um jo ausgebreiteter wird Die Anwendung des Wortes. 
So bejtätigt die Statiſtik eine Erflärung diejer Erjcheinung, auf 
die jchon frühere Bemerkungen über den biblijchen Gebrauch des 
Wortes führen fonnten: „In der That giebt das Evangelium den 
Sclüfjel für die ſonſt ſchwer begreifliche Thatjache, daß ein ge— 
(ehrtes Wort populär und jchlieglich geradezu gemein wird.“ 

Und der Urjprung des Wortes elementum? Jede Ableitung 
des Wortes muß fünftig von der durch die Sprachgejchichte er: 
wiejenen Thatjache ausgehen, dab die Urbedeutung „Alphabet“ ift. 
Eine Herleitung aus einem lateinifchen Stamme it bisher nicht 
gelungen, gejchweige denn eine, die diejer Urbedeutung gerecht 
würde. Aber es war überhaupt ficher ein Srrweg, wenn man 
nach einer lateinischen Wurzel juchte. Bor Cicero und Lucrez be— 
gegnet das Wort in der römijchen Literatur nit. Das fann 
fein Zufall jein, e8 muß wirklich ungebräuchlich gewejen jein. Und 
das bejtätigt zum Ueberfluß ein römijcher Dichter des zweiten Jahr: 
hunderts v. Ehr., der das griechijche oruysiov gebraucht; aljo gab 
es noch fein römifches Erjagwort. Das bejtätigt weiter die That- 
jache, daß Lucrez und Cicero, wenn fie das Wort auch gebrauchen, 
es doch als ungebräuchlich und fremdartig empfinden, daß Cicero 
daneben andere Umjchreibungen gebraucht, daß das Wort jich erft 
allmählich und langjam einbürgert. Die jprachgejchichtliche Unter: 
juchung, die jeder Worterflärung, die nicht bloße Spielerei jein 
will, vorangehen muß, beweijt aljo, daß elementum ein Fremd— 
wort und jein Urjprung im Griechischen zu juchen it. Damit hat 
Diel3 den richtigen Weg gewieſen und vielleicht mit jeiner ans 
iprechenden Erflärung des Wortes auch das Ziel des Weges erreicht: 
Es wird und aus dem Alterthum berichtet, daß man beim 
Elementarunterrichte den Stleinen, um jie jpielend die Elemente zu 
fehren, Elfenbeinbuchjtaben in die Hand gab. Die griechijchen 
Schulmeijter, die nach Italien zuzogen, werden wohl die Sitte 
mitgebracht haben. Mit dem griechijchen elephas (elephantus) be— 
zeichneten die Römer nicht nur das Thier, jondern auch jeinen 

Breußifche Jahrbücher. Bb. XCVIII. Heft 1. 9 


130 Element. 


Zahn. Bon diefem Worte oder von den lautlic), auch in 
griechiichen Dialeften vorauszujegenden Nebenformen elebas, 
elemas wird elementum zur Bezeichnung des elfenbeinernen Buch— 
jtabens abgeleitet jein. Das Bedürfniß, einen paſſenden Erjat 
für das griechiiche storysiov zu jchaffen, hat Lucrez und Cicero 
veranlaßt, das Wort aus der Schulitube in die Literatur ein: 
zuführen und an ihm Ddiejelbe Erweiterung der Bedeutung zu voll: 
ziehen, die einjt das griechiiche Wort erfahren hatte. 

So jehen wir aus den Anfängen jinnender Weltbetrachtung den 
Begriff des Urjtoffes auftauchen. Die mannigfachen Wortformen, 
mit denen er ſich verbindet, zwijchen denen er umherirrt, ohne eine 
fejte Stätte zu finden, jind Zeuge, daß der Inhalt des Begriffes noch 
nicht feſt bejtimmt, jein Umfang noch nicht ſcharf umſchrieben 
it. Die Denfarbeit der großen Philoſophen erjt giebt ihm einen 
ſcharf bejtimmten Inhalt und bannt ihn in eine feite Form, Die 
der Träger diejes Gehalte wird. Und nun hat das Wort (ostorysiov) 
auch wieder jeine reiche Gejchichte. Es geht in den Volksmund 
über und muß viel von feinem urjprünglichen Gehalt verlieren, 
und es Ddedt den Berluft durch Verbindung mit andern Bor: 
jtellungen, die den Begriff fait umwerthen. Das lateinijche Erſatz— 
wort wird dann zu dem Behifel, das die an jein Original gebundene 
Tradition nad) dem Weiten und zu den modernen Nationen führt. 
Führwahr 

Die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch, 
Empfunden nur von ſtillen Erdenſöhnen. 


Feſt liegt der Grund, bequem iſt der Gebrauch, 
Und wo man wohnt, da muß man ſich gewöhnen. 


Die Theilnahme an der Vorbereitung des Thesaurus linguae 
latinae hat Diels bejtimmt, ſich durch einen praftijchen Verſuch 
„ein Urtheil über Methode und Schwierigkeiten der Arbeit zu 
bilden“. Und jegt, da die Verzettelung und Erzerption der Schrift: 
jteller beendet und das jo zujammengebrachte Material Jedermann 
in München zugänglich ıjt, da die Arbeit der Ordnung und Ber: 
werthung des Materiald beginnt, beanjprucdht die an ®. von Hartel 
gerichtete VBorrede des Büchleins ein ganz bejonderes Intereſſe. 
Sie lehrt uns, was wir vom Thejaurus erwarten, was wir nicht 
fordern dürfen. Grjchöpfende Monographien, die die Geijtesarbeit 
und Kulturentwidelung, die ſich in der Gejchichte einzelner Begriffe 
wiederjpiegelt, gejchichtlich darlegen, dürfen wir nicht fordern. Das 
Wenige, was in dieſer Richtung bereits geleistet worden it, wird 


Element. 131 


natürlich verwerthet werden. Aber nur aus griechiicher Kultur 
fann die Sprache eines Volkes, das „die Fluth des Hellenismus 
über jich hat ergehen lajjen“, auf weiten Gebieten begriffen werden, 
und die Thatjache, daß die Gejchichte der einzelnen Wiljenjchaften 
und der Technik bei den Griechen erjt in den Anfängen jtedt, daß 
wir einen Theſaurus der griechijchen Sprache, wie wir ihn brauchen 
und wie er eigentlich die nothwendige Vorarbeit eines lateintjchen 
wäre, nicht haben, zwingt bier zur Bejcheidung und Bejchränfung, 
zu einer Herabjtimmung der idealjten Forderungen an die Lexiko— 
graphie. Möchte der Wunjch in weitere Streije dringen, daß 
Spezialunterfucjungen, die das Material des Thejaurus benußen, 
dieſem in nächſter Zeit neue Gejichtspunfte zuführten! 

Und vielleicht ift auch wenigitens der erjte Anjtoß zur Er— 
füllung des Wunjches eines Thejaurus der griechiichen Sprache 
dadurch gegeben, daß Dield die unendlichen Schwierigfeiten der 
Aufgabe jcharf ins Auge faßt und praftifche Vorjchläge macht, fie 
zu bewältigen. Für ung wirds ein frommer Wunjch bleiben, ein 
Traum, den wir nicht mehr erfüllt jehen fünnen, der in uns das 
wehmüthige Gefühl wect, wie unendlich weit Wijjen und Können 
nicht nur Einzelner, jondern ganzer Generationen auf allen Gebieten 
der Wijjenjchaft hinter den legten und höchiten Zielen zurücfbleibt. 
Aber etwas können wir doch, die Saat ausjtreuen, die in einer 
nicht zu fernen Jufunft aufgehen fann, dafür jorgen, daß uns die 
fünftigen Generationen nicht den Vorwurf machen, daß wir nicht 
einmal die VBorbedingungen zum Plane des Thejaurus erfüllt haben, 
nicht einmal die Wege bereitet haben. Es iſt eine tief bejchämende 
Thatjache, daß zu einer Zeit, wo eine größere Anzahl jpäterer 
Autoren uns in guten Ausgaben vorliegt, für die griechtjchen 
Klaſſiker ſo wenig gethan it, daß man mit den Fingern einer 
Hand ausfommt, wenn man die volljtändigen Klaſſiker-Ausgaben 
aufzählen wollte, die durch methodijche Nusnugung des handichrift- 
lichen Material eine fichere Grundlage für den fünftigen Thejaurus 
geben. 


9* 


Der Individualismus in der Kunſtkritik. 


Ton 
Max Lorenz. 


Kürzlich hat der im Kreiſe moderner Kunſtbeſtrebungen befannte 
und mit Necht geichägte Kunftkritifer Franz Servaes unter dem 
Titel „Präludien**) ein Buch veröffentlicht, in dem er je jieben 
Maler und Dichter unjerer Tage charakterifirt, in der Abſicht, von 
typiſchen Kunftleiftungen unjerer Zeit eine eindringliche Darlegung 
zu geben. „An repräjentativen Erjcheinungen das Wejen moderner 
deutjcher Kunft und Dichtung erläutern“, wollen dieje gefammelten 
Aufjäge. Ich möchte dieſes jehr eigenartige und geiſtvolle Bud 
benugen, um daran ein paar allgemeine Bemerkungen über das 
Wejen moderner Kunſtkritik zu knüpfen. 

Das Sennzeichnende und Bemerfenswerthe der Serpaesichen 
Kritik liegt in dem perjönlichen Verhältniß, in dem ſich der Kritifer 
zu dem Stünjtler befindet. Servaes giebt nicht ſachlich, aus be— 
jtimmten Geſetzen heraus begründete Analyjen und Rezenfionen 
einer Anzahl von Kunftwerfen, jondern er entwirft ein Bild der 
fünftlerifchen Berfönlichfeit, — ein Bild Bödlins, Klingerd, Haupt: 
manns, Dehmels u. j. w. — nad) dem Eindrud, den er, den jeine 
Perſon von der anderen, von dem betreffenden Künjtler empfangen 
hat. Ein folches Verfahren iſt nicht herfömmlich und gewöhnlich, 
wenn man das Gewohnte und Ueberlieferte in Betracht zieht. 
Denn früher — und zum großen Theil ift es auch heute noch der 
Fall — fand das Kunfturtheil feinen Ausdrud nicht in einem 


*), Bräludien, ein Effaygbudh von Franz Servaes. Berlegt bei Schufter 
u. Xoeffler, Berlin u. Leipzig 1899. 


Der Individualismus in der Kunfikritik. 133 


perjönlichen Berhältniß des Kritikers zum Künftler, jondern in einer 
jachlichen Auseinanderjegung der Kritif mit dem Kunftwerf. Der 
Kritiker galt ald Kenner und gewijjermaßen Verwalter bejtimmter, 
anerfannter und allgemein für wahr und richtig gehaltener äjthetifcher 
Regeln und Gejege und fällte fraft diejer Geſetze und vermöge 
jeiner Kenntniß ein objeftives Urtheil über eine Kunjtleiftung. Sie 
entjprach jenen Gejegen und wurde darum gutgeheißen, oder fie 
verleugnete jene Gejege und wurde darum verworfen. Diejer Kunfts 
fritifer war Hunjtrichter. Der Kritifer von Servaes’ Art dagegen 
it nicht Richter, der ein Urtheil mit dem Anſpruch auf objektive 
Nichtigkeit und jachliche Giltigkeit fällt, jondern nichts mehr als 
der Freund und Dolmetjcher des Künftlers, der ihn dem Publikum 
gegenüber vertritt. 

Warum hat fich diefer Wandel im Wejen der Kunſtkritik voll 
zogen? Der äußerliche und Elar erfennbare Grund liegt natürlich 
darın, daß alte Kunjtgejege in einer veränderten Zeit auf eine 
neue Kunjt nicht mehr anwendbar find. Die Weltanjchauung und 
die Kunftprinzipien, aus der heraus jene Gejete abjtrahirt wurden, 
jind zufammengebrochen. Der Künjtler jieht die Dinge nicht mehr 
dur das Medium einer bejtimmten, idealijtijch = philojophijchen 
Weltanjhauung, jondern er tritt unmittelbar in Berührung mit der 
Natur und giebt jeine allerperjönlichjten Eindrüde mit den Mitteln 
jeiner Kunjt wieder. Die modernite Kunjt ift individualiftiich. Und 
individualiftiich it dem entjprechend auch die moderne Kunſtkritik. 
Der Kunitkritifer beurtheilt das Kunjtwerf nicht mehr nach dem 
objeftiven Maßſtab bejtimmter Gejete, jondern er tritt, wie der 
Künjtler unmittelbar vor die Natur, jo unmittelbar vor das Kunſt— 
werf und jeine Kritik bejteht nun einfach in der Beantwortung der 
Frage: Wie wirft das Stunjtwerf auf mein perjönliches, unver: 
fäljchte8 und unvoreingenommenes Gefühl? Worauf es jegt anfommt, 
it nur dies: gefällt das Werf oder gefällt es nicht, erregt es Lujt- 
oder Unlujtgefühle, erwärmt es oder läßt es falt. Der alleinige 
Maßſtab ijt das Gefühl, Liegt aljo ganz im genießenden Subjeft, 
Der Menſch — das Individuum — iſt das Maß aller Dinge im 
Stunjtleben geworden. Der Individualismus herrſcht im Kunſt— 
ichaffen wie im Kunſtgenießen; er wird geradezu zum Prinzip 
erhoben, fajt als ein neues Gejek der Nunjtkritif verfündigt. Das 
gejchieht nicht etwa nur von den Publizijten der Tagesblätter und 
Wochenjchriften. Zujtimmend vermag Servaes an anderer Stelle 
aus einem fürzlich erjchienenen Werfe des Profeſſors Cornelius 


134 Der Individualismus in der Kunftkritik. 


Burlitt — „Die deutjche Kunjt des neunzehnten Jahrhunderts“ — 
zu zitiren: „Mein Urtheil iſt — eines, und iſt nur jo viel werth, 
als ich jelbit werth bin. Ich jpreche es aus, weil ein innerer Trieb 
e8 don mir fordert, der jo berechtigt tft, wie der, welcher einen 
Anderen treibt, zu bilden, zu malen. Aber es hat feine Giltigfeit 
über mich hinaus, und ich verwahre mich für alle Fälle jelbit da: 
gegen, daß mein Urtheil fich nicht ändern werde. Denn jo lange 
wir leben, wechjelt der Stoff, der uns bildet, und wechjelt die 
Umgebung, von der wir abhängen. Niemals habe ich die Abjicht 
gehabt, mein Urtheil zum herrjchenden zu machen, jelbit wenn id 
es gefonnt hätte. Denn ich halte jeden jolchen Sieg für eine 
Niederlage.“ Da haben wir den funjtfritifchen Individualismus 
in der höchſten Potenz. Giltigfeit hat das Urtheil von vornherein 
nur für das urtheilende Individuum und auch da nur bedingt, nämlich 
bis zu dem Augenblid, da unter anderen, neu eingetretenen Ver: 
hältnifjen das Individuum in jeinem Gefühl, Gejchmad und Urtbeil 
ſich ändert. 

E3 iſt garnicht zu leugnen, daß diejer Individualismus zeit: 
gemäß und darum nothmendig it. Wir haben doc) feine alle oder 
wenigjtens alle „Sebildeten“ verbindende Weltanjchauung mehr, ın 
der wir wie in einem geiltigen Nährboden mit einander wurzeln 
und woraus wir einen Gejchmad, ein Gefühl, ein Urtheil alle mit: 
einander ziehen könnten! Jener Individualismus it nicht nur von 
unjerm Veritande als zeitentjprechend anzuerfennen, er hat aud 
etwas für unjer Gefühl Liebenswürdiges. Denn er iſt aufrichtig 
und in jeiner Aufrichtigfeit jtolz und bejcheiden zugleich. Er jtellt 
den Grundſatz auf: ich bin ich und ich will und kann mir jelbit 
genug jein; er läßt aber auch das „ich“ jedes Anderen gelten. 

Trotz alledem läßt fich bei nächiter und genauejter Beachtung 
doc nicht verfennen, daß diejer kunſtkritiſche Individualismus ın 
mehrfacher Beziehung mit jich jelbjt in Widerjpruch geräth und 
darum unhaltbar it. Das zeigt fich jofort jchon in der Art, wie 
ein individualiitiiches Kunjturtheil zu Stande fomınt. 

Der Beurtheiler läßt ein Werk auf fich wirfen. Diele 
Wirkung äußert fich dadurch, daß Stimmungen in ihm erregt werden. 
Sein fritifcher Beruf zeigt jich dann darin, daß er fähig ift, Diele 
Stimmungen jprachlich bezw. jchriftlich zum Ausdrud zu bringen, 
jo daß fie auch Andern verjtändlich und begreiflic) werden. Sein: 
rein perjönliche, nur ihm eigene, unverfäljchte jubjeftive Stimmung 
hat der Beurtheiler wiedergegeben. So iſt eigentlich bei dieſer 


Der Individualismus in der Kunſtkritik. 135 


Art der Beurtheilung das Stunjtwerf objektiv ausgelöjcht und 
eriitirt nur fraft der Stimmungsfähigfeit des Betrachters. Das 
mag dem Künjtler vielleicht nicht ganz recht jein, denn er iſt in 
jeinem Kritiker auf und untergegangen, er ijt dejjen individueller 
Willfür ausgeliefert und dieje Willfür zieht vielleicht etwas ganz 
Andere aus dem Werf, als der Künſtler zu geben beabjichtigt 
bat. Diejer für den Künſtler fatale Fall indeß wird in der Regel 
doh faum eintreten, und zwar aus folgendem Grunde nicht: 
Wirkſam auf unjere Seele tjt nur das, was wir begreifen, was 
wir auch empfinden, was wir mitfühlen fünnen. Grfennen heißt 
im tiefjten Grunde immer Wiedererfennen, daS in der Außenwelt, 
was in dem Innenleben der Seele auch jchon vorhanden und nur 
der Berührung, des Anjchlagens von außen her bedarf, um 
zu erzittern und jo zu Gefühl und Bewußtjein zu gelangen. 
Die Möglichkeit, ein Sunjtwerf zu empfinden und zu ges 
nießen, wird aljo immer abhängig jein von einer Gemein» 
jamfeit, einer tiefinneriten Gleichheit zwijchen der Seele des 
Künstlers bezw. Kunjtwerfs und jeines Betrachters: dieſe Gemein: 
jamfeit und Gleichheit fann größer oder geringer fein, jo wie zwei 
Kreife jich mehr oder weniger jchneiden fünnen. Der Genuß des 
Betrachters iſt um jo höher, je vollfonmener die Gleichung auf: 
geht. So feiert z. B. Servaes — meiner Meinung nach über die 
Maßen — Richard Dehmel und jcheut nicht davor zurüd, ihn mit 
Beethoven in Barallele zu jegen. Der Grund ijt ficherlich eine 
itarfe Aehnlichfeit in der jeelifchen Struktur Dehmels und jeines 
Verherrlichers. Bleiben wir noch ein wenig bei dem Vergleich mit 
den zwei Streifen: jchneiden jich die Kreiſe gar nicht, jo wird der 
betreffende Künjtler für den Kritiker garnicht exiſtiren; jchneiden fie 
jich weniger als zur Hälfte, wird die Abneigung jtärfer als die 
Zuneigung jein; jchneiden fie jich gerade zur Hälfte, jo wird er 
jwiichen Neigung und Abneigung jchwanfen, er wird abmwägen, 
Licht und Schatten vertheilen, er wird objektiv fein, maßvoll im 
Lob und Tadel. So etwa jteht Servaes zu Hauptmann. Das 
aber it die Hauptjache: das Urtheil it abhängig von einer 
Gleichheit oder doch Aehnlichkeit der jeeliichen Struktur zwijchen 
Künjtler und Kritifer, von einer Gemeinjamfeit der Empfindungen, 
von einer innerjiten JZujammengehörigfeit. Das bedeutet aber: das 
Kunſturtheil ijt im tiefſten Grunde nicht individualiſtiſch, jondern es hat 
— jozujagen — etwas Soziales an ſich. Künjtler und Ktritifer jind 
durch etwas verbunden, dag man als Sozialismus der Seele bezeichnen 


136 Der Individualismus in der Kunſtkritik. 


fönnte. Ganz ähnlich wie zum Künjtler, ift das Verhältnig des 
Kritifers zum Publikum. Der Kritifer wird zunächit feine ‘Freude 
und jein Genügen haben an feiner Fähigkeit, das Kunſtwerk mit: 
empfinden und darum verjtehen zu fünnen, und es wird ihm fernliegen, 
jein Urtheil Anderen aufzwingen, als Diktator diftiren zu wollen. 
Solche Diktatur würde nie und nimmer Kunftempfindung und Kunſt— 
genuß bei den andern hervorrufen fünnen. So erklärt denn Gurlitt 
mit Recht: „Niemals habe ich die Abficht gehabt, mein Urtheil zum 
herrſchenden zu machen, jelbjt wenn ich es gefonnt hätte.“ Das 
aber wird doch auch der Kritifer nicht abweijen, daß ein Lejer jein 
Buch aus der Hand legt mit dem Gedanken: was ich da gelejen 
habe, das iſt jicherlich richtig, das ergreift mich, das begreife ich, 
das habe ich im Grunde auch jchon dunfel und verworren gefühlt, 
als ich vor diefem Werk Bödlins oder jenem Klingers jtand, was 
da jeßt der Kritiker mit jo eindringlicher Klarheit ausſpricht. 
Kurz gejagt aljo: auch die Würdigung und der Erfolg eines 
fritifchen Werfes beruht auf gleicher Seelenjtimmung. Auch der 
Kritiker jteht jeinem Publikum — gerade dem für ihn reifen 
Publitum — nicht als Individualift gegenüber mit dem Grundſatz: 
ich gegen euch Andere. Much hier herrjcht jener Sozialismus der 
Seele, der Künjtler, Kritifer und Publifnm verbindet, ein Kunſt— 
werk zur Wirkung führt und fo in gewijjem Sinne Kunſt erit 
möglich macht. Was Anderes aber ijt diefer Sozialismus der Seelen, 
dieje gemeinjame Seelenjtimmung Bieler, die durch einen Künitler 
ihren gejtaltvolliten und nachdrüdlichiten, durch den Kritiker ihren 
klarſten und begreiflichiten Ausdrud findet, al8 der Anjat zu einer 
Weltanſchauung, die heute erjt ald ein Drang und ein Wollen in 
den Herzen der Bejten und Gebildetiten empfunden, über furz oder 
lang aber ficherlih auch zur Gedanfenform kryſtalliſirt werden 
wird. So fann man die Kunjt gewifjermaßen als den Vorläufer 
und Wegbrecher der Philoſophie betrachten. Beide aber, Kunit 
wie Bhilojophie, verfchmähen, müſſen verjchmähen das Zufällige, 
Abgejonderte, Einzelne im Leben und leijten immer von Neuem 
wieder die Niejenaufgabe, durch Aufipüren und Darjtellen des 
Typiſchen, Unvergänglichen, ewig Lebendigen und Wirfenden die 
organische Einheit alles Seienden zum Bewußtjein zu bringen und 
die Seelen der Menjchen aus der Zerjtreutheit und Zerrifjenheit 
zur Gemeinjamfeit und Einheit zu jammeln und jo zu höherem 


Leben zu führen. 
* = 


Der Individualismus in der Kunfikritik. 137 


Nach Servaes’ Methode hat der Kritifer nicht die Aufgabe, den 
Künftler wie einen Angeklagten zu richten, jondern ihn zu be— 
trachten und dann, nach der Betrachtung, jein Dolmetjcher zu jein. 
Die Seele dieje8 oder jenes Künſtlers ijt von Diejer oder jener 
Beichaffenheit — das ijts, was den Inhalt einer Kritik aus- 
zumachen hat. In ſolchen Seelenanalyjen leitet Servaes 
außerordentlich Hervorragendes. Tieferdringenden Scharfblid und 
teineres Verſtändniß jelbit für entlegenjte jeeliiche Regungen wird 
man in der modernen Kunſtkritik nicht leicht antreffen. Er legt 
die Seelen der von ihm behandelten fünftleriichen Individuen bis 
zum Grunde blos. Und doc, glaube ich nicht, daß mit der 
Piychologie des fünitlerifchen Individuums jede fritiiche Ber: 
pflichtung eingelöft ift. Ich will mich an bejtimmte Beifpiele halten. 

In dem Aufjag über Hauptmann jchreibt Servaes bezüglich 
der „Einjamen Menjchen*: „Wie wunderbar allein dies Motiv: 
dag Menjchen, die ſich lieben, jich dennoch gegenjeitig vernichten 
müjfen, weil fie alle miteinander „einjam“ jind und zu einander 
die Brüde nicht finden können! Welch ein Schmerz der Streatur 
liegt darin!“ Auch ich halte dieſes Motiv für „wunderbar“, d. h. 
für bewundernswerth, für tief und ergreifend. Es wird aber 
vielleicht noch wunderbarer, wenn wir entdeden, daß es garnicht 
den „Einjamen Menjchen“ allein zu eigen it, daß ihm nicht nur 
Hauptmann Ausdrud gegeben hat, jondern auch eine ganze Reihe 
anderer zeitgenöffiicher Künjtler in noch viel jtärferem Maße. Ich 
nenne vor allem Maupajjant, dann jind auch als „Einjame 
Menjchen“ bejonders Nagel und Glahn in Hamjuns Büchern 
„Myſterien“ und „Pan“ erwähnenswerth. Ich entdede aljo, daß 
das Motiv der Einjamfeit garnicht eine individuelle Eigenthümlich- 
feit Hauptmannjcher Kunft ift, daß es fich vielfach bei allerlei In— 
dividuen verjchiedenjter Länder findet, daß es aljo „in der Zeit“ 
liegt, daß das Leid der Einjamkeit gewijjermaßen ein Zujtand, 
eine Krankheit des Zeitgeiftes iſt. Somit ergiebt jich als kritiſche 
Methode folgender Gang: von der Betrachtung des Kunſtwerks zur 
Herleitung des Kunjtwerfs aus der Seele des Künſtlers und die Er— 
färung der Künjtlerfeele aus der Seele der Zeit. Jede Künjtlerjeele 
muß nothwendigjter Weije ein bemerfenswerthes Stüd der Zeitjeele 
jein, denn andernfalls könnte der Künjtler nie und nimmer veritanden 
und genofjen werden. Etwas abjolut Individuelles, abjolut Einjames 
fann es in Wirklichkeit garnicht geben. Unter „Zeitgeiſt“ verjtehen 
wir den einem bejtimmten Zeitabjchnitt eigenthümlichen getitigen 


138 Der Individualismus in der Kunftkritik. 


Charafter. Ein Zeitabjchnitt fann aber nur dadurd) eine „be: 
ſtimmte“ geiftige Struftur aufweijen, daß ein anderer Zeitabjchnitt 
von anderem Geijt bejtimmt war. Der Geift einer Zeit iſt alſo 
bejtimmt durch jein Andersfein, jeinen Gegenjag im Verhältnig zum 
Geijt einer früheren Zeit. Dem entjprechend ijt der für eine Zeit 
typische Künſtler am jchärfiten zu begreifen durch jein Andersjein 
im Verhältnig zu dem für eine entgegengejegte Zeit typtichen 
Künftler. Der Naturalismus läßt ſich am Beiten und im Grunde 
begreifen durch fein Berhältnig zum Idealismus. Und nichts 
vielleicht breitet ein jo flärendes Licht über den naturaliſtiſchen 
Hauptmann und jein künſtleriſches Wejen, als der Vergleich mit 
dem idealiftiichen Schiller. So gelangen wir in der Kunſtkritik 
vom Individualismus zum Hijtorizismus. 

Noc auf andere Weije fünnen wir dazu gelangen. Servaes 
bejpricht vierzehn Künjtler. Was hat ihn gerade zu diejen vier: 
zehn geführt? In einem inneren Zujammenhang jtehen jie nicht: 
in einen jolchen hat er jie auch garnicht gebracht, garnicht bringen 
wollen, bringen brauchen, vermöge jeines funjtfritiichen In: 
Dividualismus, der jich auf die Betrachtung des Einzelwejens be- 
Ichränft. Servaes erflärt dieſe Vierzehn für „repräjentative Er: 
icheinungen“ innerhalb des modernen Kunjtlebens, die „über den 
Tag hinaus Bedeutung“ hätten. Was heißt aber eine „repräjentative 
Erjcheinung“ und was leijtet Garantie für die Bedeutung „über 
den Tag hinaus“? Servaes jteht gleich dem von ihm hoch gepriejenen 
Dehmel auf dem Standpunkt, daß es nicht genügt, nur ein Künftler, 
d. h. ein virtuojer Beherrjcher der technijchen Kunjtmittel, ein 
„Artiit“, zu jein. Der große Künjtler und der große Menjch laſſen 
ſich nicht trennen. Der große Künſtler joll Führer der Menjchbheit 
zu einer höheren Kultur der Seele jein. In dem Sinne jchreibt 
er: „Darin allein fann ich die Kulturmiſſion der Kunſt erbliden: 
daß, indem jie das Leben jchmüct, jie zugleich eine höhere Menſch— 
heit jchafft, eine, die wählertijch ift in ihren Bedürfniffen und erwählt 
in ihrem Empfinden; daß jomit die Kunſt ihrer entwidelungs: 
gejchichtlichen Aufgabe ſich bewußt bleibe: das ganze Leben mit 
neuem Rhythmus zu durchdringen und hierdurch ein ewiges Prä— 
[udium zu werden für Alles, was jingend hinaufitrebt.* In 
nüchterner Proſa ausgedrüdt, will Servaes aljo die das Leben 
weiterführenden und die Menjchen Eräftigenden Tendenzen in der 
Kunjt zum Musdrud gebracht und im Künſtler verförpert jehen. 
Sch jtimme ihm in diejer Forderung bei, frage aber: Woran iſt es 


Der Individualismus in der Kunfilritif. 139 


zu merfen, daß ein SKünjtler jolche Tendenzen verkörpert? Der 
jich jelbit genügende Individualiit fann darauf antworten: An dem 
heftigeren Drang meines Blutes, der jtärferen Spannung der Nerven, 
an der Freudigkeit der Seele, an der Seligfeit, — wenn man vor 
ein Kunſtwerk tritt. Wer aber garantirt dem Bejchauer die Rein— 
beit und Xebensfräftigfeit feines eigenen Gefühls? Haben wir doc) 
heutzutage Menjchen, Künjtler und Sritifer, deren Blut in Wallung 
gerät und deren Nerven ſich jpannen erjt bei abjonderlichen, 
ungewöhnlichen NReizungen! Eine objektive und zuverläjjige Kenntniß 
der das Leben und die Seelen der Menjchen fürdernden Tendenzen 
fönnen wir nur erlangen, wenn wir Dieje Tendenzen als erprobt 
und bewährt fennen lernen, d. h. aus der Gejchichte entnehmen. 
In der gejchichtlichen Entwidelung müfjen wir die Kräfte aufjuchen, 
die als unauslöjchliche, immer wieder ans Licht tretende, unzerſtör— 
bare das Leben gefördert haben. Sie bieten die objeftivite Garantie 
dafür, daß fie auch in die Zukunft hinein ſich wirkſam und fördernd 
erweijen werden. Die Künjtler, die auf der Entwidelungslinie der 
Geiſteskultur jich befinden, die im innerjten Zujammenhang, in jich 
jelbjt oft unbewuhter Seelenverwandtichaft mit den vergangenen 
Kunitgrößen leben — die bieten die meilte Gewähr für Die 
Zufunft. — 

Der moderne Individualismus will von diefem Hijtorizismus, 
dieſem Beſtreben, jtetS die Verbindung mit der Vergangenheit auf: 
zujuchen, aufzudeden und herzujtellen, gar nichts wiljen. Mit Bes 
wußtjein und Abficht macht man gegen den Hijtorizismus Front. 
Niegiche iſt auch hier, wie fo vielfach in den Beitrebungen der 
Modernen, der Fürſt und Führer. Im feiner 1874 erjchienenen 
Schrift, „Vom Nuten und Nachtheil der Hiitorie für das Leben“, 
Jammelt er all jein Anflagematerial gegen die hijtorische Nichtung, 
von der er behauptet, daß jie die Perfünlichkeit ſchwäche, ihr die 
unmittelbare und elementare Kraft nehme, unfruchtbar und blaß, 
epigonen= und greijenhaft mache. Die Inſtinkte werden unterdrüdt, 
der Begeilterung bleibt bei der Betrachtung und dem Kleben am 
Thatjächlichen, bei der jteten Rückſichtnahme auf „das, was ift“, 
fein Raum. Niebjche verlangt das sahrenlajjen alles dejien, was 
war und das Ergreifen des Augenblids. „Ber dem fleinjten aber 
und bei dem größten Glüde iſt es immer eins, wodurch Glüd zum 
Glücke wird; das Vergeſſenkönnen oder, gelehrter ausgedrüdt, das 
Vermögen, während feiner Dauer unhijtorisch zu empfinden. Wer 
ich; nicht auf der Schwelle des Augenblids, alle Vergangenheit 


140 Der Individualismus in der Kunſtkritik. 


vergejjend, niederlafien fann, wer nicht auf einem Punkte 
wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu jtehen 
vermag, der wird nie willen, was Glüd it, und nod 
jchlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glüdlic 
macht.“ Merfwürdiger und ungerechtfertigter Weije jetzt Nietjche 
jeiner Schrift ein Wort Goethes als Motto voraus: „Uebrigens iſt 
mir Alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Thätigfeit 
zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.“ Diejer jelbe Goethe 
hat doch gerade die Begeijterung als das Beſte bezeichnet, was 
wir aus der Beichäftigung mit der Gefchichte gewinnen. Und er 
ijt mehr im Recht, wie Niegfche. Denn wenn wir aus der Ge- 
Ichichte auch garnichts Anderes erjehen könnten, die8 merfen wir 
doch unabweiglich heraus, daß da eine Kraft in fortjchreitender 
Entwidelung die Dinge bejeelt und treibt, die nie zum GStillitand 
gelangt und über alle Fährnijje und Abgründe hinwegfommt. Es 
giebt da etwas Unüberwindliches, Allgewaltiges, daran auch wir 
betheiligt find, das auch uns bejeelt und begeijtert, da wir dod) 
— als Menjchen — die vornehmjten Träger der gejchichtlichen 
Entwidelung find. „Gejchichtlichen Sinn“ haben, heißt durchaus 
nicht nur an VBergangenem fleben und das, was war, begreifen, 
verjtehen und objektiv erklären, ſondern es heißt vielmehr in feiner 
beiten und höchiten Bedeutung, die Kräfte, die von der Vergangenheit 
bis zur Gegenwart ununterbrochen belebend und fräftigend wirfjam 
waren, in fich wirfend jpüren und in ihrer Bereinigung und Bewährt: 
heit zum Nußen und zur Gejtaltung der Gegenwart verwenden. Das 
Heute dem Gejtern organisch anreihen — das iſt die große, frucht: 
bringende Aufgabe. Servaes allerdings jpricht von dem „armen 
Gejtern, dem wir mitletdvolle Blide nacdhjenden“. Lebt Denn 
aber in Wahrheit das Gejtern nicht mit dem, was in ihm lebens: 
kräftig, typijch, ewig war in dem Heute und wird in dem Morgen 
leben? Das iſt das Merkwürdige Nietzſches und feiner Jünger, da 
fie das Antlig von der bewährten Vergangenheit abfehren, um & 
ganz einer vagen Zukunft zuzumwenden. So find fie, könnte man jagen, 
„verfehrte* Hijtorifer. Von diefer Zukunft erwarten fie goldene Berge. 
Auch Servaes iſt, was die Kunjt betrifft, von folcher Zufunfts: 
jeligfeit erfüllt, deren Nahen er wohl zu ahnen meint. In dem 
Sinne jpricht er von dem, was jegt in der Kunft iſt, als von 
Bräludien, „nur“ Präludien: „So erfennen wir auch im Kunſt— 
ichaffen unjerer Zeit faum mehr als ein Vorjpiel, deſſen Klänge, 
weit entfernt unjere Sehnfucht zu bejchwichtigen, fie nur deſto 


Der Individualismus in der Kunſtkritik. 141 


heller und glühender entfachen.“ Ich muß geitehen, da ich in der 
Fülle diefer Zufunftshoffnung feine individuelle Stärke zu finden 
vermag, Jondern eher das Gegentheil, jo wie auch Nießfches „Ueber: 
menſch“ mir durchaus als das Sehnjuchtsproduft einer Seele er: 
Icheint, die dem Schidjal nicht gewachjen ijt. Es ift fo leicht, 
jeinen Hoffnungen und Gedanfen in der Zufunft freiejtes Spiel 
zu lafjen, da dieje Zufunft ein [uftiges, ja jogar luftleeres Gefilde 
it, in dem der Gedanke an feiner Materie jich jtößt, in der er aber 
auh an feinem Stoff jeine organifirende, gejtaltende Kraft zu 
erproben braudt. Gewiß bin auch ich der Ueberzeugung, daß wir 
noch nicht die KKünjtler haben, die das Leben unferer Zeit zu einer 
in ſich gejchlofjenen Einheit al8 Kunstwerk harmonijch gejtalten und 
jo die Difjonanzen der Zeit jieghaft überwinden fönnen. Warum 
aber jollen wir jo heftig von der Zukunft fordern, was vielleicht 
gar noch die Vergangenheit zu gewähren vermag? Oder ijt unjere 
Zeit etwa jchon mit Goethe fertig, in dem Sinne fertig, daß fie ihn 
ganz begriffen, Alles aus ihm herausgeholt, ihn völlig in fich auf: 
genommen hat, jo daß jie über ihn hinweg zu den höheren und 
ragenderen Halbgöttern der Zukunft jchauen darf? Das ijt doc) 
wohl jchwerlich der Fall und faum Einer wird es behaupten. 
Aber freilich, Niegjche meint ja, daß im Grunde auch die Ver: 
gangenheit nur aus der Zukunftshoffung und Zufunftsjeligfeit 
heraus begriffen und überwunden werden fann: „Nur wer Die 
Zufunft baut, hat das Necht, die Vergangenheit zu richten“. Daß 
etwas Wahres unter Umſtänden daran jein fann, joll nicht geleugnet 
werden. Wahrer aber dürfte für die Mehrzahl der Fälle doch der 
umgefehrte Saß jein: Nur wer die Vergangenheit begreift, hat das 
Recht, an der Zufunft zu bauen. 





Notizen und Belprechungen. 


Literariſches. 


Deutſch-Oeſterreichiſche Literaturgeſchichte. Ein Handbuch zu 
Geſchichte der deutſchen Dichtung in Oeſterreich-Ungarn. Unter Wit 
wirkung hervorragender Facıgenojjen, herausgegeben von Dr. 3. W. Nagl, 
Dozenten für deutjche Sprade an der k. k. Univerfität Wien und Jakob 
Beidler, £. £. Profeſſor am Staatd:Obergymnajium im IIT. Bez. Wien. 
14 Lieferungen*) zu je 60 Fr. = 1 Markt. Wien, Karl Fromme: 
Hofbuchdruderei und Verlagshandlung. 672 ©. Lerifon-DOftav. 


Tem ernten Literaturforfcher wird diejed große, nad) dem Vorganat 
der bekannten König ichen Literaturgefchichte mit vielen „Bildchern“ und 
Fakſimiles ausgejtattete Sammelwerf, ungeachtet jehr tüchtiger umd zum 
Theil wirkli neuer Abjchnitte, in mandem Sinne recht bedenklich er- 
ſcheinen. 

Schon der Titel macht uns ſtutzig. Wenn auf irgend einem Gebiete, 
ſo doch auf dem des deutſchen Geiſteslebens, der Geſchichte der Literatur 
und Kunſt, der Philoſophie und Pädagogik, ſollte ſich die Beſchränkung 
auf zufällige politijche Grenzpfähle als ein Unding von ſelber verſtehen. 
Auf dieſem Boden giebt es Gott Lob nur ein großes deutſches Vaterlant, 
„jo weit die deutiche Zunge Klingt.“ Man könnte, wollte man jich auf die 
Zeiten bis zu den Wirkungen der Lutheriſchen Bibel und der Nefor: 
mation bejchränfen, mit Fug eine gejonderte Darjtellung der ober» um 





*) Deren erjte man uns vorenthalten bat, wohl auf Grund übler Gr 
fahrungen, die Verleger von Lieferungsmwerfen öfter mit Beitungt: 
redafteuren mögen gemadt haben, denn es fommt allerdings vor, dab 
diefe gegen Abdrud des beigefügten „Waſchzettels“ fi befugt halten, 
das unaufgeihnittene Wert an Sortimenter oder Antiquare zu über 
laffen. Wer jedoh andern eine Gewifjenlofigket zumuthet, der bat 
fih nicht zu beflagen, wenn er durch eine viel geringfügigere zu Schaden 
fommt. Es ift micht aus zu jagen, wie tief das Niveau der Kritif durd 
Das gottlofe Waſchzettelſyſtem der Herren Verleger bereits gejunfen if. 


Rottzen und Beſprechungen. 143 


der niederdeutjchen Literatur unternehmen, denn hier waltete wirklich bis 
dahin volkliche Tifferenzirung oder Doppelung innerlich dennoch gleich» 
artiger deutſcher Volk3bejtandtheile, nur müßte man dann die politiicy ab» 
geionderten Niederlande jelbitverjtändlicd; mit demjelben Rechte der geſammt— 
niederdeutjchen Bolfögemeinde zuweiſen, wie die deutjchen Schweizer der 
oberdeutjchen. Gleichwohl find die Beziehungen und Einwirkungen herüber 
und hinüber jo mannigfach verjchlungen, daß nur unverjtändiger Regionalis— 
mus dabei auf jeine Rechnung käme. Und nun gar jeit Ablauf des großen 
jechzehnten Jahrhunderts! 

Ein Halbjranzoje, Charles Schmidt, Hat eine ſogar jehr vorzügliche 
Histoire litteraire de l’Alsace gejchrieben, die eben deutjche Literaturs 
und Bildungsgeichichte nur jein konnte, da fie die Zujammengehörigfeit mit 
den Geijtern der rechten Rheinſeite gar nicht zu vertujchen verjucht. Und 
die Franzoſen mußten damals (1879) fernen, daß ed am Ende des fünfzehnten 
und Beginn des jechzehnten Jahrhunderts faum irgendwo in Deutichland red» 
liher deutjch empfindende Gelehrte, Dichter und Führer des geijtigen Lebens 
gegeben hat, als im Eljaß, voraus in Straßburg. Die Mitarbeiter und 
Schüler Wimphelingd, Ringmann (Philefius), jogar der Franziskaner 
Murner, Sebajtian Brant (1457—1521), der große Prediger Geiler 
von Kaijeröberg (1445—1510), wer rechnete jie nicht unjerer einigen 
deutichen Literaturgejchichte zu? 

Und fo, wenn der trefflihe Biograph Gottfried Kellers, Jakob 
Bächthold, eine fchweizeriiche Literaturgeſchichte verſaßte, fonnte ihm nicht 
einfallen, im Sinne politiichen Pfahlbürgertyums die großen Zujammen: 
hänge mit dem weiten Niederland zu leugnen. 

Wäre die Tendenz unferer Oeſterreichiſch - Deutjchen Literaturgejchichte 
dieje jelbe, bejcheidener Eingliederung nämlich in die allgemeine deutjche 
Beijtesgejchichte, jo Fönnten wir fie freundlicher begrüßen. Nun aber jtellt 
jih bei näherem Zufehen leider nur zu ſehr heraus, daß hier ein wejentlich 
anderer Geijt die Leitung gehabt hat, und das heut, wo wir überall bei 
den armen Deutjchen des Kaiſerſtaates das lebhafte Gefühl der Zuſammen— 
gehörigkeit alles Deutichen wahrnehmen, den jehnfüchtigen Ausblid auf das 
benadhbarte Rei, das ihmen Schuß und Netiung bringen jolle vor der 
Ueberfluthung eine3 übermüthig gewordenen Slaven- und Magyarınthums. 
Jene Wiener Herren aber, obwohl mit Recht jtolz auf ihr Deutjch-Dejter: 
reiherthum, jteifen ſich — in trauriger Berblendung — auf ihre dem 
norddeutich=protejtantiichen Geijte angeblich fremde und unverjtändliche 
Voltsbefonderheit, dabei man es mit der Zugehörigkeit zu ihren Marken 
nicht immer ganz genau nimmt. Sie bilden ſich befonders darauf etwas 
ein, „in Formen katholiiher Weltanfchauung zu denfen und zu fühlen“ 
(38. ©. 657, aber auch fonjt durch das Buch zerjtreut in ähnlichen 
Vendungen). Diefe Gejinnung mag wohl für das Verjtändnig mancher 
Eriheinungen des Barocks und des Jejuitenitiles des uns wie gebildeten 


144 Rotizen und Beiprehungen. 


Stalienern (ih nenne Giofue Carducci vor Andern), fo widerwärtigen 
seicento oder jiebzehnten Jahrhundert3 zuträglich fein, aber jie wird damit 
denn doch zu theuer erfauft. 

Wir, das deutiche Kaiferreich, deſſen Aufrichtung die deutjche Quittung 
auf den Triumph der Snfallibilität bedeutet, und der Preußiſche Staat, 
find geduldig und gerecht, wir üben wirflihe PBarität, die der Ultramon- 
tanismus ji zwar zu Nutze macht, aber prinzipiell verhöhnt und unfähig 
wäre jeinerjeitS zu gewähren. 

Barität fann auf die Dauer nur auf dem Boden beiderjeitigen Be: 
dürfniſſes eined friedlichen Zujtanded ertragen werden, anderd wird fie 
Selbjtmord des gutherzigen Theiled. Der aber will, daS zeigt jich bier 
in einer doch zunächjt wifjenjchaftlichen Arbeit, die jtreitbare Kirche des 
Tridentinum und des jefuitiich gegängelten Vatikanismus, eben nicht fein. 

Es ijt jehr beachtendwerth, daß ein zwar auch ſtockkatholiſcher aber 
doh ehrlich deutſch empfindender Mann, der trefflihe Dichter Joſ. von 
Eichendorif wohl gewußt und freimüthig bekannt hat, daß „Proteitan: 
tismus“ im Grunde ein allgemein deutfcher, uralter Charakterzug iſt 
und bleiben müfje, womit er allerding3 nicht an die unglüdlichen jtaats- 
kirchlichen Bildungen gedacht hat, die Deutjchlands politifche Entwidelung 
jo lange bintangehalten haben. 

Wir willen uns jehr fern von der unhiſtoriſchen Auffaſſung der 
Pädagogik des Sefuitenordend und der kindiſchen Furcht vor jeiner All- 
macht und angeblihen Skrupellojigfeit jeiner Mittel, Dinge, die lediglich 
zur Reklame für den gehaßten Gegner ausjchlagen können, da wir all jein 
Bemühen als weſentlich anachroniſtiſch auffaffen, aber das fühlt auch der 
gut katholiſche Deutjche Dejterreich!, wenn er unbefangen iſt, das Heil 
unſeres Baterlandes ruht nunmehr auf dem protejtantichen Geijte, dem 
Geiſte der Freiheit, des fittlihen Wahrheitdmuthes, dem Geiſte der Kraft. 
der und vorwärts dringt. Er iſt der Geiſt, ohne den, wie Goethe richtig 
erfannte, auch ein Dichter wie Shafejpeare nicht wäre zu denfen ge: 
wejen, ohne den wir weder einen Sant, nod einen Zejjing, weder 
Herder noh Schiller, weder einen Goethe noch einen Bismarck zu 
verehren hätten. 

Auch echte Geſchichtswiſſenſchaft darf mit Stolz ſich bewußt fein, daß 
fie im innerjten Sinne protejtantifch jei. Das iit nicht edlen fatholijchen 
Forſchern zum Verdruß gejagt, die fehr gut wifjen, welches Anjehens jie 
ſich eben durch ihre redliche Unparteilichkeit in Nom jelber erfreut. 
Von der Wahrheit hat Keiner zu fürchten, der reines Gewiſſens ijt. Da? 
attejtirten vatikaniſche Archivare und Bibliothefare unferm Leopold 
Ranke und jchon Friedrich Heinrich von der Hagen. Nicht unjer Ber: 
dient, aber doch ein Segen unjeres Proteſtantismus ijt e8, daß wir parı- 
tätiich, das iſt duldſam und gerecht jein können, leichter als wer etwa be 
jorgen müßte, mit jolcher Uebung jeinem Beichtvater eine Schuld zu 


Rotizen und Beiprehungen. 145 


befennen. War es doch der an Luthers Bibel aufgejäugte Knabe Wolj- 
gang, der die herrliche Figur des Bruders Martin im Göß jo rührend — 
und doch wohl nicht unkatholiſch — hinzujtellen veritand, Fein Calderon 
und fein Sejuit. Ja gewiß, wir vermögen: die katholiſche Weltanichauung 
wohl zu verjtehen, wie Eltern die Kinder, aber man fordere nicht, daß 
wir jie wieder in uns aufnehmen jollen. Lernte der katholiſch gebliebene 
oder durch die gewaltthätige jejuitiihe Gegenreform wieder katholiſch ge- 
machte Süden unſeres deutichen Bodens ſich au) nur annähernd jo in 
unjere geiltige Welt zu finden, da wäre die Brüde gejchlagen zum end= 
lihen Alldeutichland. Aber das jcheint zunächſt die Aufgabe und das 
Intereſſe Oeſterreichs, denn es ijt, troß aller uns gepriejenen „Boden 
tändigfeit“ rückſtändig. Wir verdanken ihm ficherlic) unendlich viel, es 
fann dereinſt und mehr verdanten. ber erjt, nachdem es ſich aus der 
Umflammerung des Jeſuitismus wird losgerungen haben. Bor der Hand 
thut ſich unjer Buch noch etwas darauf zu gut, wenn es die Sejuiten- 
fomödie preijt. die uns wohl etwas Spanisch vorlommt, auszurufen 
somos hermanos, wir Dejterreicher find ja Eure Brüder, ihr lieben 
Spanier. So dentt man aljo heute noch in achtbaren wijjenjchaftlichen 
Kreiien Wiens.“) — 

Daß die vorangejtellten Bemerkungen nicht vorgefaßter Meinung ent— 
ſtammen, jondern auf jorgfältiger Kenntniß des umfangreichen Wertes 
ruhen, deijen erite Hälfte etwa in den 14 Lieferungen vorliegt, muß an 
dem Faden der Darjtellung jelber aufgewiefen werden. Es foll kurz und 
bündig geichehen, sine ira et studio, jo viel billig zu fordern ift. Vor— 
weg jei gern bezeugt, daß wir dem Buche für vielfache Belehrung über 
manche 3. Th. abgelegene und nicht leicht Jedermann zugängliche Dinge 
dankbar verpflichtet bleiben. 

Ueber die erjte Lieferung, da jie und nicht zugegangen, läßt fich nur 
jagen, daß jie die Darjtellung der Kolonifation Dejterreichs enthält. Die 
folgende behandelt „das nationale Erbe“ d. i. Sprache und Glaube der 
Vorfahren. Schon hierbei wird der norddeutiche und wejtdeutiche Forjcher 
die enge Beichränfung auf das bajuvarijche Befiedlungsgebiet mit feinen 
fränliſchen und alemannijchen Einjprengungen ſchwerlich zuſagend finden. 
Zu dem alten Merjeburger Berrenkungsjegen, dejjen Wichtigkeit in den 
mythologiſchen Eingangsworten beruht, laſſen ſich vielfach landſchaftliche 
Variationen ſtellen, aber wir nehmen dankbar Akt von der merkwürdigen 
Erhaltung bis in unſere Tage im Waldviertel: 

Das Bein zum Bein, 
Das Blut zum Blut, 


*) ©. 664 ſteht wortwörtlich: „Das somos hermanos (mir find Brüder), 
welches die Spanier, eingedent ihrer Abjtammung, mit Beziehung auf 
die Deutſchen jagen, ſcheint in ganz befonderem Sinne für die Defter- 
reicher zu gelten.“ 


Preußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 10 


146 Rotizen und Beſprechungen. 


Die Flechs zur Flechs, 
Das Fleiſch zum Fleiſch, 
Sei alles gut 

Beim heiligen Blut. 

Wir freuen und aufrichtig, hier in dem Abriß der öjterreichiichen 
Sagengeſchichte u. a. ziemlih unummwunden eingeräumt zu jehen, daß das 
Nibelungenlied, deflen Bearbeiter id allerdings auch für einen Dejterreicher 
halte, (ev mag ein Tyroler gemwejen fein) fir höfiſche Kreife bejtimmt ge: 
wejen jei. (S. 70 vgl. jedoch 95, wo e3 doc bloß für höfiſche Zuhörer 
überarbeitet genannt wird.) Darauf, daß „Dietrich perner“ d. i. 
Dietrich von Bern in Kärnten al3 Name erjcheint, wird, fcheint mir, zu 
viel Werth gelegt, da daſſelbe auch anderwärt3 in deutfchen Landen vor: 
fam. Es bemweijt nur, was faum noch befonderen Beweiſes bedürfte, daß 
die Helden unjerer Volksſage populär genug waren, um neben die 
Märtyrernamen des Firhlichen Kalenders zu treten, ja zum Theil jelber ſich 
unter die Heiligen zu mijchen. Ganz treffend wäre die Bemerkung ©. 75 
„doß wir an Siegfried einen heidnifchen Sonnen: oder Frühlingdgott 
haben, ergiebt ſich aus der Firchlichen Gegenüberjtellung des Drachentödters 
St. Georg“, wenn man nit zu erwägen hätte, daß ja diefer St. Georg 
icon eine frühere Verchriſtlichung des Apollo- (oder Heralles-) Mythos zu 
jein jcheint. E& könnte aljo der heidnifche Drachentödter auch durd 
Vermittlung des chriftlichen Volksglaubens ins jpätere nordijche Heidenthum 
wieder zurüdgelangt jein. Schillerd Kampf mit dem Draden ruht 
fiherlich auf griechiſcher Nachwirkung des pythiſchen Apollon. 

Ich glaube, man thut der chriftlihen Kirche, die als ſolche ziemlich 
unjchuldig dabei ijt, doch Unrecht, wenn man alle die Legendendichtung, 
in die jo viel altheidnifcher Glaube ſich gerettet hat, als abjichtliche 
Entgegenjegung auffaſſen will. Der Glaube an wunderfräftige Helden, wo 
er ſich fand, war ja auch eine Beglaubigung der Wunder, deren das 
miffionirende Chrijtenthum nicht entrathen mochte. Die Kirche verhielt ſich 
daher auch ihnen gegenüber naiv gläubig, wie Luther jich mit allem tollen 
Teufelsſpuk ernſtlich herumfchlug, an den feine Zeit und feine Volkskreiſe 
glaubten. Tradition war Tradition und Profan- und heilige Geichichte 
ichieden fich keineswegs jo feindlich, wie jie es ſpäter thaten. 

Auch das ift richtig und widtig, daß die „Klage“ ald ein älteres, 
vom Nibelungenliede ganz unabhängige® Gedicht erfannt wird. Die 
herrliche Sdealgejtalt ded Markgrafen Rüdiger gilt als hiſtoriſch wahr: 
icheinlich, während der Biſchof Pilgrim es jicher ift; er war ein geborener 
von Pechlarn und jeine Einflußnahme auf die Entjtehung der Dichtung iſt 
gewiß glaublid (S. 88). Der Biterolf und Dietleib werden al3 jteiriich 
angeſprochen, jo auch die Häglichen Nejte eines Gedichted von Walther und 
Hildegunde, 13 vollitändige und 16 trümmerhafte Strophen, die ver 
Nibelungenjtrophe verwandt jind. 


Rotizen und Beiprehungen. 147 


„Der Geijt des öjterreichiichen Volkes“, Iefen wir S. 96, „hat ji in 
Tietrich fein Jdeal geichaffen, und noch heute... . freuen wir und dieſes 
Ideals. Wir Oeſterreicher ſind allerdings wie Dietrich von Mißtrauen 
gegen uns ſelbſt erfüllt; das Fremde imponirt uns daher ſogleich. Wir 
befennen unaufgefordert unſere Schwächen, während Andere die ihrigen ver- 
heimlichen. Wir fuchen und gejtehen von vornherein die Nechtätitel der 
Andern freiwillig zu... Wir geben gern nad), erwarten aber dafür von 
der Einjicht des Anderen ein Gleiches. Darin täufchen wir und meiſtens; 
und geradezu cyniſch erſcheint es und, wenn der Andere dieſe Nachgiebig- 
feit als jelbitverjtändliche Schwäche des Defterreichers faßt, mit dem man 
machen fönne, was man wolle. Wer aber unſere Geduld erſchöpft hat und 
uns die Schmad) anthun will, daß wir mit befjeren Grundfägen das Opfer 
Anderer werden jollen, entjefjelt gegen ſich die ganze Wucht unjerer 
Abmwehr.” 

Wir wiljen nicht, an wen der Verfafier diefer brillanten Tirade da- 
bei gedacht haben mag, nur daß er den gutmüthigen Heldenfinn unjeres 
ganzen Volkes damit fo ziemlich umjchrieben hat. So meinen wir eg 
hoffentlich Alle. 

Tas Gediht Kudrun, das oft als deutjche Ddyfjee neben den Nibe- 
lungen gepriejen wird, mag in jeiner durchaus nicht ſehr glücklichen 
Redaktion ſteiriſch oder tyroliih fein, — hier wird erjteres behauptet — 
wir erbliden darin feinen fpeziellen Nuhın des Dejterreiherd mehr und 
wären glücklich, tauchte noch irgendwo eine ſchlicht niederdeutiche Form 
diefes alten Widinger-Romans von der norddeutichen Waterfant auf. 

Es ijt gewiß richtig, daß der urfprüngliche Vortrag epiicher Sagen- 
jtoffe an die Muſik gebunden war, aber mehr als zweifelhaft, ob die 
Strophen des Nibelungenliedes jemals wirflih noch gejungen worden 
jeien. Wer will, der mag ja glauben, da das ganze Gedicht, 2316 
Strophen von je 25 Hebungen nad) Lahmann (Hdihr. A), 2440 nad 
Holgmann Gdſchr. B) auf die im altdeutjchen Liederbuche von Franz 
M. Böhme ©. 230 Nr. 133 gegebene fchöne Melodie „Die brünlein, die 
do fließen, die jol man trinden“ ſei gejungen worden. Sch bin der 
Meinung, e3 handle ji; hier von vornherein um ein Leſebuch, nicht ein- 
mal um ein Textbuch für Vorlefer, fondern ganz eigentlich um ein einfam 
in langen Winternächten zu lejendes Bud). 

Der mufilaliiche Vortrag für das dreizehnte Jahrhundert ergiebt fich 
al3 einfach undenkbar. Rechnet man auf die ſechszehn bis fiebzehn Tate 
der Melodie auch nur eine halbe Minute, jo brauchte der Sänger 1157 
Minuten oder über 19 volle Stunden ohne Pauſe. Da man wohl feinem 
Menichen die Ausdauer zutrauen darf, über vier Stunden monotonen 
Singſang auszuhalten, jo erforderte das ganze Gedicht allein fünf Tage. 

Wohl durfte die altepijche Zeit fich auf den Vortrag einzelner Epi— 
joden aus der im Ganzen befannten Geſchichte beſchränken und das allein 

10* 


148 Notizen und Beiprehungen. 


bezeugen auch hiſtoriſche Nachrichten. Die ritterlihe Epik ift aber nicht 
mehr Sang zur Harfe, fondern Rede oder gar Schreibe, wie der daraus 
erwachjene Roman. 

Gut dargejtellt ijt die Einwirkung der Kirche. Dede Art höherer 
Bildung war nur durd fie und für fie zu denken. So wird unjere älteite 
deutjche — aber auc) durchaus nicht lediglich die öſterreichiſche — Literatur: 
geihichte zur Geſchichte der Mifjionirung Deutſchlands. Wir verdanfen 
dabei irischen und jchottiichen Mönchen zunächſt mehr als den direkten 
römiſchen Sendlingen. Der Liber confraternitatum von ©. Peter in 
Salzburg bezeugt die rajtloje Thätigfeit des Schotten Virgil (f 734). 
Die Schreibichule Arnos war eine Art Berlagdort jener Zeit; das merk: 
würdige Gediht Mujpilli, wie es Schmeller taufte, und ein Andachts— 
buch für Ludwig den Deutichen find in ihr hergejtellt worden. In Steier 
leijtete St. Lambrecht ähnliche Dienſte und der Biihofsfig Paſſau, das 
im Inveſtiturſtreite gut faijerlich blieb, (gegen Salzburg) wird die Bilanz: 
jtätte der chriftlihen Bildung für das ganze Donauthal. Kurz behandelt 
wird ©. 134 fgd. das geiftlihe Drama in feinen ältejten Formen. Wir 
hatten vor einiger Zeit Beranlafjung, gelegentlid) des Heinzelſchen Buches, 
davon zu berichten. *) 

Wir fönnen auch über die nächſten Abjchnitte um fo getrojter kur; 
jein, als fie auf $. Kelle s Gejchichte der Deutjchen Literatur (Berlin 1892) jid 
wejentlich gründen. Als älteſtes Denkmal deutſcher Dichtung in Oeſterreich 
gilt darnach die ältere Genejis (ca. 1078) da fie in Kärnten entjtanden jei, 
wo das Chorherrenitift Borau den Ruhm des jteirifchen St. Lambrecht 
theilte. 

Eine leöbare populäre Darjtellung unjerer älteren Literaturgeſchichte, 
wie fie doch wenigitens Wilhelm Scherer geboten hatte, wider den man 
übrigens jage was ınan mag, finden wir in unjerm „Handbuche“ (164), 
in den erjten Heften nicht. Es ijt ein wirres Repertorium, und bequemer 
wäre ed für den Lejer jchon, man hätte ed in alphabetijcher Folge als 
Wörterbuch der deutjchsöjterreihiichen Literatur-Geſchichte gegeben. Als 
einer der prächtigſten Bilderbeilagen ſei wenigjtens des Fakſimiles der Hand» 
jchrift einer Weltchronif gedacht, die der Bibliothek des Schottenſtiftes in 
Wien gehört. 

Das ſpezifiſch Oeſterreichiſche iſt natürlih in all dieſen kirchlichen 
Dichtungen, ſowohl der Kloſterdame Frau Ava, als in dem hoben 
Liede des Abtes Williram, eines Franken aus Cberöberg (F 1085) und 


*) Hier fei daher nur eine feltfame Deutung der Anmweifung alter Spiel. 
bücher erwähnt: resurgentem adorent nobiscum dicentes: „aevia, 
aevia. Ew.“ Bas aevıa jei, erfahren wir gar nicht, Ew wird ergänzt 
Ewangelista!! Nun giebt das Wort aevia die Volale ae ui a, um 
die Spieler zum Anftimmen des Alleluia aufzufordern, und das 
ew, gewöhnlih evovae gejhrieben, giebt die Vokale der Schlußworte 
von in secula seculorum amen, die bier halbfett gedrudt find. 


Rotizen und Beiprehungen. 149 


ſonſt recht jpärlich vertreten, ebenjo auch in den Fleineren kirchlichen 
Dichtungen und Legenden. So viel Poefie zwar in den bejjeren Legenden 
gerettet it. jo harte Prüfungen des gefunden Menjchenverftandes jtellen 
do die vielen anderen dar, und wen nicht Liebe zu unjerer alten 
Sprache hinzieht, der würde die darauf geiwendete Zeit und Mühe be= 
Hagen. Freilich ijt immer zu bedenken: man bildet jich wohl ein, die alte 
deutiche Dichtung jo ziemlich zu überjehen, doch was iſt's im Ganzen, ala 
traurige Trümmer? ind der beliebtejten Bücher des dreizehnten Jahr: 
hundert3 war das Marienleben des Karthäujerbruders Philipp von Seiß, 
auch des Gundaler von Judenburg „Chriſtes Hort” (5305 Bere) iſt nicht 
unbedeutend. Wir erhalten noch Notizen über die Dichtungen des Mönches 
Andrea Kurzmann von Neuberg in Steier, werden dann mit der Kindheit 
Seju des Konrad von Fußesbrunn, eined Schülerd Hartmannd von Aue, 
ins Donauthal geführt, dann aber bricht3 ab mit Verweiſung auf Goedekes 
Kapitel „Legendendichtnng“ ! 

Erjt mit dem vierten Abjchnitt „Rittertum“ und der erzählenden 
Dichtung tritt dad Donauland in nennendwerthe Konkurrenz; mit der vor— 
angegangenen übrigen Deutjchen Kunftentfaltung. Da ijt der Strider 
mit mancher geijtvollen Erzählung, der Pleier, Enenfel mit feiner zu 
einer Weltchronif ausgeweiteten Gejchichte Oeſterreichs“ da ijt der oft jo 
ungerecht geringgeihägte Ritter Ulrich von Liechtenſtein und, wohl die 
dichterijch bedeutjamjte Leijtung, der Meier Helmbrecdt, der nur nicht 
eigentlich al3 Dorfgejchichte wäre zu bezeichnen gemejen. 

Ulrid von Liechtenjtein, das verdient bejondere Anerkennung, iſt hier 
endlich einmal nad) feinem VBerdienjt gewürdigt. Man darf billig erjtaunt 
jein, daß die hohe Begabung und Kunſt dieſes Mannes bei unjeren 
Literatoren bisher jo verlannt werden fonnte. Kennt und nennt man ihn 
doh jajt nur als ein Mujter ganz bejonderer Verrücdtheit wegen jeiner 
QTurnierfahrten und entrüjtet ſich über feine „Unſittlichkeit“ und Frivolität. 
Daß er der poejievolle, alle Töne virtuos beherrichende aber auch der unjerm 
heutigen Empfinden am nächſten fommende Lyrifer des Mittelalters ift, 
wen fümmerte e8? Auch jo im guten Sinne voltsthümlich iſt faum ein 
anderer Minnefinger. Ein ganz reizender Zug, der den ganzen Mann 
fennen lehrt, wie er leibt’ und lebte, wird ©. 207 nad) der jteierijchen 
Reimchronik erzählt: „ALS die jteierifchen Herren aus jener langen, bitteren 
Gefangenſchaft bei Ottofar ſich mit vielen großen Opfern gelöjt haben und 
aus ihren Kerfern fommen, da merkt nıan ihnen allen an, wie jchwer die 
harte Haft und die Sorgen fie bedrüdt haben: bleich, mit jpannenlangen 
Bärten, hinfend von der Dual der Feſſeln, jo treten jie betrübt vor den 
gewaltigen Böhmenkönig. Nur der Liechtenjteiner allein, der hat fich den 
Bart zuvor jcheeren laſſen, hat neue, jchöne Kleider angelegt, thut, als 
wenn ihm gar nichts widerfahren wäre, und gehabt jich jo munter, daß 
der König darob verwundert feinen frohen Sinn preiſt.“ — E3 ijt derjelbe 


150 Notizen und Beiprehungen. 


Mann, der blutige Zähren weinen fonnte, zum Stein erbarmen, wenn 
jeine hochmüthige Herrin ihr Ninglein zurüdbegehrte. *) 

Die eben erwähnte jteirische Chronik des Ottofar (von Horneck) ijt von 
Seemüller gewürdigt. 

Mit der böfiihen Epit in Böhmen verlafjen wir den eigentlich 
öjterreichiichen Boden. Dankbar jedody müfjen wir fein für die forgjamen 
Dialektitudien dieje wieder jo arg bedrängten altdeutichen Kulturbodens. 
Bog der erjte Ottofar wohl vorzugsweiſe Sänger aus den Alpenländern 
an, aus Tyrol, Salzburg, Dejterreih, Kärnten, jo dody auch andere und 
der mit Ottofar II. in perjönlichem Verkehr jtehende Ulrich von Ejchenbadh, 
der nicht talentloje Bearbeiter der Alexandreis des Gualtherus von 
Chatillon, war doch wohl ein Bayer, wie jein großer Namensvetter Wol- 
fram. Auch die Fortjegung des Trijtan von Heinrich von Freiberg, glatt 
und geihmadvoll erzählt, gehört in diefen Kreis. Der Nüdblid auf das 
höfiihe Epos ©. 224 ijt kurz und gut. 

Nach kurzer Darjtellung der Schwanf- und Novellendichtung, aus der, bei- 
läufig gelagt, unfere heutige Luftipieldichtung köftlihe Motive nehmen 
fünnte, wenn man nicht jo — fittli wäre, ji an Sardou und anderen 
franzöfiihen Pofjenfabrifaten zu begnügen, wendet ſich das „Handbuch“ 
zur Darftellung der höfiſchen Lyrik. 

Ic kann vor allen Dingen nicht darin einjtimmen, in Walther von 
der Vogelweide einen Dejterreicher zu jehen. Wir willen ja Alle, man 
hat ihn fich neuerdings ganz rejolut zugeeignet und auf den jchönen Platz 
zu Bozen als deutjches und antirömijches Wahrzeihen aufgerihtet. Das 
mag ganz jchön jein.**) Man hatte es aber ein wenig eilig damit. ich 
habe nicht dawider, den höfiſchen Redaktor des Nibelungenliedes als 
Tyroler gelten zu lafjen, aber Walther gehört, meine ich, von Geburt! 
wegen nach Franken. In Dejterreih lernte er nur fingen und jagen 
und hat auch mandherlei Trübed erfahren. Das fann hier nicht näher 
ausgeführt werden. 

Unjer Werk will natürlicdy aud) die Anficht Konrad Burdachs nicht 
gelten lafjen, daß nämlich Dejterreih von dem Strome der höfiichen 
Voeſie, die ja von Weiten her drang, am fpätejten jei erreicht worden. 
Es habe eben jehr viel „bodenjtändigen“ Volksthums bewahrt („boden 
jtändig* ijt ein Lieblingswort der Herren), ja die ältejten Minnejänger 
jeien Dejterreicher, mindejtens Zeitgenofjen des Veldeke. 

Co wird hier auch Reinmar der Alte, der von Hagenau, die Leite- 
frau des deutschen Nachtigallenchored, für Dejterreich in Anjpruch genommen, 


) Dazu fiimmt nun freilich jchleht, wenn ein anderer der vielen Mit: 
arbeiter des encyllopädiihen Buches (j. S. 214) gleid wieder von dem 
„Don Quixote des Mittelalters" redet. — 

**, Auch an einem Bismarckdenkmal in Graz oder Cilli würde ja 
fein Reichsdeutſcher Anſtoß nehmen. 


Notizen und Beiprehungen. 151 


weil e3 bei Braunau und Linz, und in Niederöjterreich noch vier andere 
Hagenauen giebt. Die Mafje muß e3 bringen. Wir wollen nicht jtreiten, 
gelebt hat der Mann ja am Hofe Xeopolds V. (1177—9.) Es jei 
typiſches Geſchick des Dejterreichers, heißt es einmal (241), in der Heimath 
nicht, oder lange nicht anerkannt zu werden. in leider durch die ganze 
bewohnte Erde geheiligter Typus. — 

Man glaube ja nicht, daß die Zueignung Walther auf reiner Be- 
wunderung jeiner tüchtigen deutjchen und antiultramontanen Haltung be= 
ruhte, die ihm Töne eingab, wie die Welt fie nur nod aus Luthers 
Munde vernahm! Weit gefehlt! die Herren Nedaftoren und Mitarbeiter, 
zum Theil jelber Geijtlihe und hohe Würdenträger öffentlichen Lehramtes, 
verderben es nicht mit dem Romanismus und Sefuitismus. So wird 
Walther hier fajt ähnlich gejcholten, wie jchon zu feinen Tagen von dem 
deutih reimenden Staliener, dem Domherren Thomafin von Zirklaria. 
Er habe jich ca. 1212 mit maßloſen Mitteln an die Spite des politischen 
Kampfes gejtellt, dem gebannten Otto IV. ein Glüdauf zugerufen. „Die 
Klugheit und Bejonnenheit jtanden damald nicht auf Waltherd Geite.“ 
Das iſt zwar bloß als Zitat gegeben (249) aber doch offenbar mit Zu— 
jtimmung der Herren Herausgeber. 

Nocd einmal, bei Erwähnung des braven weljchen Domherrn ver: 
nehmen wir lagen über den böfen, widerpäpitlichen und unzufriedenen 
Walther, der immer mit Bitten läjtig fiel! Nun da tröfte man jich 
mit dem frommen Hugo von Montfort (7 1423), dem legten und freilich 
auch lederniten Vertreter des Ritterthums in Steier (und Vorarlberg) 
oder mit Oswald von Wolfenjtein (1367—1445)! Zu loben ijt die Be— 
jcheidenheit der öjterreichifchen Literatoren, die jie hindert, auch Freie 
danks Beiceidenheit für ſich anzujprechen, „bei dem Mangel an Nach— 
richten über den Verfafjer“. (277.) 

Ehe wir die Grenze zur neuen Zeit überjchreiten und uns durch 
Proſeſſor Jakob Zeidler in Wien über die dramatijche Literatur des vier- 
zehnten und fünfzehnten Jahrhunderts unterrichten lajjen, war ein kurzer 
Aufiag (von R. von Kralik) über die Muſik zu genießen. „Nichts iſt 
jo jhwer u. ſ. w.“ Wir verjtehen nicht davon. — — 

Als Illuſtration, mohl nah dem schönen Berleger- Grundjaß 
„ein Bild um jeden Preis“, ſieht man unter andern die Photographie 
des Rathhaujes zu Sterzing in feinem heutigen Zuſtande. Warum? 
Weil in demjelben und jpeziell in dem auch abfontrafeieten Archivzimmer, 
die Bajlionsipiele gefunden wurden, von denen nun zu handeln war. 

Damit Dejterreich doch aucd auf diefem Gebiete hervoriteche, jo jollen 
fih jeine Spiele vor den „Nürnberger Machwerfen“ bejonders vortheilhaft 
auszeichnen. Sit das nicht faſt Findifcher Negionalismus in der Literatur- 
geſchichte? „Machwerke“ kennt man wohl im Kaiſerſtaate gar nicht? 

Die Entwidlung ded Dramas wollie es jo, daß es die Kirche (und 


152 Rotizen und Beſprechungen. 


den Schuljaal der Klöfter, muß man wohl hinzufügen) vermied und auf 
den Markt hinaus oder in die Säle der Nathähäufer flüchtete und damıt 
in die Hände de3 zünftig gegliederten Bürgerthums gelangte. Daß nun 
der Einfluß der Nenaifjance fich ſtark geltend macht, ift begreiflich genug. 
Hand Sad ijt in der That eine Parallelfigur zu Albredt Dürer. 
Ob wirklich der Uebermuth der Vaganten und Spielleute den Auszug aus 
der Kirche verjchuldete, lafjen wir auf fich beruhen. Hauptgattung blieben 
noch die Diterjpiele und Tyrol ſah die reichjte Entfaltung diefer Blüthe. 
„Wien litt viel im Dienjte feiner Mifjion in der Oſtmark.“) Seit 1580 
fam Oberammergau und jpäter Hörig der Bedeutung Sterzings nahe. 

Daß der Protejtantismus die Schullomödie an Stelle diejer Spiele 
jegte, nehmen die Herren doch hoffentlich nicht für ungut, da es ihm ja 
bald die lieben Herrn Jeſuiten recht emfig nachmadhten. 

Aus der großen Schwanfjammlung Adalbert5 von Keller liegen ſich 
einige ausjondern, (j. ©. 370) die als öjterreihifch zu gelten Aniprud 
haben, aljo auch frei von Nürnbergijhem Einflufje jeien. Zu ihnen, 
ganzer jechjen, tritt jeit 1510 die Sammlung PVigil Rabers. ALS älteſte 
Poſſe (fie ift unflätig genug) gilt das Neidhartfpiel (c. 1350), nur 58 
Verſe (S. 372). 

Es iſt aber nicht erkannt, daß wir hier doch nur den unreifen Ber: 
ſuch der Dialogifirung eines alten Schwanfes vor uns haben, der auf 
den Namen des Neithart von Neuenthal geht und, daß V 35 nicht jo: 
wohl eine Regiebemerkung fehlt (fie fteht ja da: Vadat Nithardus et 
ponat florem sub pileo et redeat) als daß fie unvolljtändig iſt. Der 
rusticus muß, nachdem der Ritter Nithart den Hut über das erite ent— 
dedte Veilchen gededt, jeinen anders gearteten Viol unter den Hut jegen. 
Es ijt eben ein Eläglicher Verfuch, den groben aber wenigftens wißig vor: 
getragenen Spaß zu dramatifiren, den man in v. d. Hagens Minne 
jängern III, 202 nachlefen mag. Dejterreich hatte feinen Grund, auf dieſe 
ältefte Poſſe ftolz zu fein. Der alte Schwan ift eine der übermüthigiten 
Farcen des romantisch-höfiichen Frühlingfuchens und Grüßens. An Rabers 
Stüden wird auf Grund der Charakterifirung Michels, und gemik 
mit befjerem Recht, „unverfälichte Bodenjtändigfeit“ gerühmt. Der inımer 
wieder vorjchlagende Aerger über das rivalificende Nürnberg wirkt auch 
bier fajt komiſch. 

Mit der neunten Lieferung beginnt der zweite Salbband des 


*) Daber jei das Wiener Paſſionsſpiel von St. Stephan dort das einzige. 
Das Egerer Spiel, feine Duelle, mag jhon eine Kompilation älterer 
fein und u. a. die Prager Marientlage wörtlich ſich einverleibt haben, 
für uns bleibt e& wegen der jauberen Redaktion eins der interefjanteften 
Denkmäler dieſer Kunftübung. An Gehalt ficht e8 dem Oberammer- 
gauer Spiele gewiß nicht nad, aber es tft zu lang. Gedrudt in den 
Schriften des Lit. Vereins Bd. 156. 


Rotizen und Beſprechungen. 153 


„epochalen“ Werkes, wie ed die Wajchzettel des Verlags nennen. Er be: 
handelt die Zeit von der Reformation bis zu Maria Therejia. 

Man mißverjtehe und nicht, wenn wir auch bei dem kurzen Blick auf 
diefen Abſchnitt, ja hier noch ſchärfer, die Schiefheit de8 Grundgedanfens 
diefe8 ganzen Unternehmens betonen müſſen, al3 jchäßten wir die viel- 
fahe Belehrung gering, die dem allerdings etwas wirren und un— 
gleichartigen Zuſammenwirken jo vieler tüchtiger Forſcher zu verdanken 
bleibt. 

Nicht nur in Dejterceih lag bis ind beginnende jtebzehnte Jahr— 
hundert Literatur und Wiſſenſchaft in geijtlichen Händen. Es ijt ganz 
richtig, das jogenannte Klojterlatein, das Medium jeder höhern Bildung, 
ift Feine todte Spracde, jondern ununterbrochene, lebendige Tradition der 
Schichten der Bildung, und wie jede lebendige ward e3 angeeignet im 
Umgang, nit an der Hand von Paradigmen und Wörterbüchern oder gar 
Sammlungen Ciceroniſcher Phrajen unlebendig zujammengejtümpert. 
Wir leugnen auch unjererjeit3 keineswegs das hohe Verdienſt Victor 
Scheffels, der den Wahn von dem angeblich „finjteren Mittelalter“ zer— 
jtört habe. Wir ſchätzen aufs Höchſte den Geijt St. Benedikts, des ge- 
waltigen Erzieherd der mittelalterlichen, doch noch höher den Einfluß des 
b. Bernhard auf die mitteleuropäiiche Welt. 

Wer wollte noch leugnen, daß aud der Humanismus mit der Pflege 
der Wifjenichaft in engem Bezuge jtand, wie fie in den Klöſtern, Benedik— 
tinern, Gifterzienfern und Chorherren, gepflegt ward? ber e3 ijt doc) 
bereit5 ein neuer Geiſt in der italienischen Renaiffance geboren, den 
Ulrich von Hutten mit dem Jubelrufe begrüßte, es iſt eine Luft zu leben. 
63 ift der Geijt eines jtarfen Individualismus, der nothwendig die lange 
Bevormundung der römischen Kirche zerbrechen mußte. 

Daß die deutihen Lande Deiterreihd und des Südens fich dem 
Segen der Reformation jobald wieder abwendig machen ließen, unter 
einem Spanier, der fein Deutſch veritand, daran laborirt dieſes Neich bis 
heute zu feinem und unjerm großen Schaden. Hier zeigt nun unjer Hands 
buch eine Befangenheit, die geeignet wäre, den Riß zwijchen dem Norden 
und Süden nod) zu erweitern, wenn nicht glücliche Folgen unjeliger 
Verblendung mächtiger wären, dennoch die alte Brüde wieder zu bauen. 
War e3 doch mit der Bedeutung Wiens, das eine Zeit lang der Mittel: 
vunft des Humanismus gewejen (Conrad Celtis) auch bald vorbei. 
Denn mit der Reformation trennt ſich Dejterreich vom Norden, in dem 
es grollend aber ohnmächtig neue fräftige Staatenbildungen ich durch: 
jegen jah. Und gleichwohl ward es vom Norden her doc allmählich, 
wenigitens literarijch, wieder angegliedert. Der allgemeinen Herrichaft 
der neuhochdeutſchen Schriftiprache vermochte es ſich nicht zu entziehen, 
ihon darum nicht, weil ein großer Theil ihrer Wurzeln in den eigenen 
Boden hinabreidhte. 


154 Rotizen und Belprehungen. 


Mit der Abkehr der Reformation und der Auslieferung des geiftigen 
Lebens an die jpanischen Jeſuiten ift auch die Folge herrlicher Anjäge ab» 
gebrochen. 

Gewiß, al Kaifer Karl IV. Prag (1348) zur Univerfität 
machte (Wittenberg genoß e3 bald) und den bewunderten Batrarca zu 
ſich fud, da war es eine Weile die Heimjtätte der Nenaifjance in Deutſch— 
land. „Der Kanzler oh. v. Neumarkt verjeßt fajt jchon in das Weimar 
Karl Auguſts.“ (S. 408) Faft! Aber wo bleibt die Folge, um diejes 
Wort im Goethiihen Verſtande nod) einmal zu, brauchen? 

Die Herren wifjen ganz genau, daß das deutſche Gemeinſamkeits— 
leben im Zeitalter der Reformation (durch den Jeſuitismus) zerjtört ward; 
jie erinnern und wehmüthig an die Thätigfeit eines Nicodemus Friſchlin 
in Laibad, an Balthafar Hubmayr, Nicolaus Herman, den großen 
Prediger Joh. Mathejius. 

Ziemlich flüchtig, — es foll kein Tadel fein, denn wir wiſſen wohl, 
ein eucyklopädiſches Sammelwerk kann nicht jedes Thema erichöpfend be— 
handeln — geht und der öjterreichifche Meijtergefang und die dramatijche 
(Schul⸗) Dichtung vorüber, die zum guten Theil gleichfalls ſich in den 
Dienjt der Reformation gejtellt hatten. 

Ih kann nicht umhin, hier ein merfwürdiges Aufleuchten der Selbit- 
erfenntnig zu zitiren, das milder wirken mag, ald wenn ein Nichtöjter: 
reicher es ausſprechen ſollte. Es ijt zwar ganz gewiß nicht im Sinne 
aller Herren Mitarbeiter gejagt, aber die Leitung hat es doch durch— 
gehen laſſen. 

©. 573 unten (es war die Rede von dem breiten und trodenen 
Dramatifer Schmelpl.) 

„Er verpflanzte das deutjche Schuldrama, dad ihm vor Allem in 
Sachſen nahegetreten war, nad) Oeſterreich. Daß er aber diejes in der 
Schule eines Klojters zu Wege bringen konnte, war nur möglich im Hinblid 
auf die irenischen Neigungen, welche Dejterreich während feines Wiener Auf: 
enthaltes beherrichten. Sein Drama fußt ebenfo wie da3 Iutherifche auf 
der Bibel, nur daß es jede Polemik vermeidet. Sehnſucht nad) Ruhe und 
örieden, Pflege aller jtillen, herzlichen, häuslichen Tugenden, tiefe Web: 
muth über die Zerrifjenheit der Welt find die Sonne, welde dieſe Schul: 
bühne beleuchten. Wenn nun Schmelgl in der Vorrede zum „blindges 
borenen Sohn“ jagt, er habe die Aufführung nad) alter Gewohnheit für 
den „Sonntag Lätare, obwohl er zu jeiner Zeit bejier 
Trijtare* genannt wirde, bejtimmt: jo ijt das tiefgefühlte Wahrheit. 
Man wird fait an das Grillparzerſche Ideal von „des Inneren jtillem 
Frieden“ und noch mehr an die rührende Figur des armen Spielmanns 
gemahnt. Das it die Tragödie des von Haus aus lebensfroben, liebens- 
würdigen Menjchen, der, hineingeftellt in die großen Konflikte einer 
ichweren Zeit, welche Härte und Entjchiedenheit verlangt, die Fragen des 


Rotizen und Beiprehungen. 155 


Verſtandes und der umerbittlihen Nothiwendigfeit jo gerne nad) der 
Logik des guten Herzens löjen möchte. Das ijt die öſterreichiſche 
Volksſeele, welde und ebenjomohl im milden Markgrafen Rüdiger 
al3 in den Geitalten der eigenthümlichen Märchenwelt Raimund ent- 
gegentritt.* Grillparzer habe die Tragik diejes Defterreichertfums in 
der Figur Kaiſer Rudolfs II. meifterhaft dargeſtellt. — — 

Einer der bedeutenditen Abichnitte ift dem interefjanten Kapuziner— 
Prediger Abraham a. ©. Clara (geb. 1644 + 1. 12. 1709) gewidmet, 
auf Grund eines jehr erichöpfenden Buches Karajans. Ob die be- 
geifterte Schilderung genügen werde, ihm doch noch ein Denkmal zu er— 
richten, müfjen wir abwarten. Hier lejen wir (626): Die „bethörte, 
verjehrte und verkehrte Welt aber hat es biöher weiblich (sic) unterlafjen, 
ihm ein öffentliches Denkmal zu jegen oder auch nur eine Gafje nad) ihm 
zu benennen, ein trauriger Beweid, wie wenig wir Dejterreicher unjere 
hervorragenden Staatdmänner adten und — fennen.“ Das ift ja wohl 
fein Wunder, daß das verbiejterte und von dem poefiefeindlichen 
Nicolai damal3 beherrichte Berlin diejem Geijte 1795 und 1797 nicht 
gerecht werden fonnte, man gab eine angeblide „Quinteſſenz“ aus feinen 
Schriften ald „ein GSpezififum fürd Zwerchfell“ heraus. Schon die 
baroden Zitel wirkten hier wie „Knallerbſen oder du ſollſt und mußt lachen.“ 
Auh Leſſing hat ihm feinen Gejchmad abgewonnen, das joll an 
dejien „oft pedantiiher Aeſthetik und Logik“ gelegen haben. Nun 
dafür bat ihn Goethe für Schillers Wallenjtein entdedt. Ganz 
Ganz bejonders hohmüthig behandle ihn Gervinus. Aber am iübeljten zu 
ſprechen find die Herren auf Wilhelm Scherer. Wir hatten wohl aud) 
Manches an Scherer und nod) mehr an jeinen Schülern zu bemängeln, 
bier müfjen wir doch Anzapfungen von ihm abmwehren, die eines gewijjen 
pfäffiichen Beigeſchmacks nicht entbehren. 3. B. wenn ed ©. 640 heißt: 
„Man jchmälert nun dieſes Verdienjt des freimüthigen Predigerd, indem 
man (der Mann war eben Scherer) den Kaiſer Leopold der lächerlichen 
Eitelfeit bejchuldigt, er habe gerne jeine Räthe und Höflinge mit der Brühe 
des Spottes übergießen lafjen, wenn er nur felbjt verjchont blieb, um da= 
durh an „Superiorität“ zu gewinnen. Einem religiö® gejinnten Habs— 
burger fann man eben ohne Beweis heute Vieles nachſagen, ohne des 
bereitwilligjten Beifalld zu entbehren.“ Auch daß Scherer al3 nervös 
und „protejtantijch ungerecht“ bezeichnet wird, beſtärkt uns nur in der 
Ueberzeugung, daß die gelehrte Welt Deutjch-Dejterreih gegen römische 
Pfaffen immer noch zärtlihere Rücdjichten nimmt, als fie weiß Gott 
verdienten. 

Wir gejtehen gern, dem baroden Augujtiner, der jchon durch die 
Organijation feines Ordens „bodenjtändig“ ſei, nad) dieſer Beichnung 
liebenswürdige Züge abgewonnen zu haben. Für „die Barode“ jedoch 
und zu erwärmen vermögen wir verjtandesnüchternen Proteftanten nun 


156 Notizen und Beiprehungen. 


einmal nicht und die ſchlimmſte Empfehlung wäre wohl die Zenſur, nad 
der Barod jo viel wie warmherziger, funjtfreudiger Katholizismus, die den 
norddeutichen Protejtantismus beherrichende franzöfiihe Renaifjance aber 
weſentlich rationaliftiih, unjinnlich, falt und nüchtern je. So wird 
rühmend der Jeſuit und große Gelehrte Athanafius Kircher als offenbar 
ihönered Parallelbild zu Leibniz gegeben. 

Wir jagten bereitd3, daß wir die populäre Furcht vor den Jeſuiten 
nicht theilen, aber das wiljen wir leider nur zu wohl, daß wahrhaft un— 
parteiiſch jich wohl protejtantijche Wiſſenſchaft erweiſen mag, nicht aber 
jejuitifche, die niemals ihre DOrdensziele als Hintergedanfen oder secondi 
fini, wie die Wäljchen jagen, lo8 werden fann. Hier bleibt eine Kluft be— 
fejtigt, ja fie jcheint zur Zeit durch die politiiche Macht unjere® Zentrums 
erweitert und ein Werk, wie das beiprochene ijt nicht geeignet, ſie zu be= 
jeitigen. Der deutjche Bruder drüben im vielipradigen ſchlimm erregten 
Kaiſerſtaate, dem wir gern die Freundeshand Hinjtredten, dem wir auch 
wohl nützlich zu jein kräftig genug wären, er muß uns nicht zurüdgeben: 
„Du gemüthlojer Steger!“ — — 

Weimar, im September 1899. dran; Sandvoß 

(Zanthippus). 


Halbthier! Roman von Helene Böhlau (Frau al Raſchid Bey). Verlag 
von F. Fontane & Co. Berlin 1899. 

Das Buch verdient denjelben Erfolg und Beifall, den Gabriele Reuters 
Roman „Aus guter Familie“ gefunden bat. Doc ijt die Art diejer beiden 
Romane von Grund aus verjchieden. Die Neuter gab mit aftenmäßiger 
Genauigkeit eine naturtreue Darlegung wirklicher Lebensverhältniſſe. Die 
Böhlau erhebt ſich mit der Flugkraft der Phantaſie aus der flachen Ebene 
der Wirklichkeit zur Höhe der Ideen. Ahr Roman ift ein idealiftiiches 
Verf. „Halbthier“ iſt die Frau in ihrem Verhältniß zum Mann, der als 
Herr der Welt das jchwächere Gejchlecht zur Ordnerin und Hüterin feiner 
häuslichen Bequemlichkeit benugt — das heißt dann Ehe —, oder zur 
Befriedigung feiner ſinnlichen Lüſte — dann nennt er’3 Liebe. Das 
Leben des ehelichen Halbthiers führt die Gattin des berühmten Schrift- 
jteller8 Heinrih Ewald Frey, der im Haufe Haustyrann und draußen, in 
der Gejellichaft, gefeierter Künjtler ift, der für Freibeit und Schönheit 
fih herrlidy begeijtert. Bei den Nachtizenen in der Familie Freys ent: 
wicelt die Verfafjerin eine unheimlich ergreifende Schilderungsfunft. Sit 
die Frau wirklich zu nicht® Anderem, Höherem bejtimmt, als gute Haus— 
frau, getreue Dulderin, jorgjame und ewig geplagte Mutter zu jein? Lebt 
nicht auch in ihr ein Drang nad) den vom Sonnenglüd umglänzten Höhen 
des Lebend? D gewiß, diefer Drang lebt in der Frau, er lebt vor 


Nottzen und Beiprehungen. 157 


Allem in Freys jchönheitsjeliger Tochter Iſolde. Wie aber wird der 
Drang zum deal befriedigt? Siolde, in der die Sünftlerfeele des 
Vaters ſich regt, lernt den Maler Henry Mengerjen fennen, zunächſt aus 
jeinen Werfen. Sie ijt entzüdt von diejen Bildern, begeijtert, erhoben; 
jie findet darin ihre eigenen feinjten und herrlichiten Gefühle offenbart. 
Sie liebt Mengerfen aus jeinen Werfen heraus, liebt ihn mit Inbrunft 
und Anbetung. Sie verwechjelt den Künſtler mit dem Menjchen, um diefen 
Irrthum bitter zu büßen. Mengerjen ijt entzüdt von dem Liebreiz, 
der Gefühläkraft, der Schönheit und Reinheit Iſoldes, der Künſtler in ihm 
iji entzüdt. Sie erjcheint ihm wie die Göttin der Reinheit und Keujch- 
beit, die er in ihrer unberührten Nadtheit malen möchte. Für Iſolde fließt 
Kunit und Leben in Eins zujammen und fie opfert ſich aus Liebe und 
Runftbegeijterung: fie wird Mengerjend Modell. Als Künftler ijt der 
Maler entzüdt von dem Modell, als Mann jieht er in dem Mädchen nur 
den begehrten Gegenitand finnlicher Lujt. Der Mann veradhtet, was der 
Künſtler verehrt hatte. Was dem Künſtler Göttin ift, it dem Manne 
Halbthier. Iſolde mwähnte, aus dem Rauſch ihrer Liebed- und Kunſt— 
begeijterung wieeine Heilige ein Opfer zu bringen, und fieht jich gedemüthigt 
wie eine Hündin. Das ijt das Problem, das im Mittelpunkt des Romanes 
ſteht. Iſolde aber ift zu ftarf, um ſich jo jchnell brechen und demüthigen 
zu laſſen. Sie verabjcheut, wo fie verehrt hatte. Der Maler aber begreift 
diefen Abſcheu nicht. ebenjowenig wie er vorher den Sinn des Opfers be= 
griffen hatte. Er bleibt dabei, daß des Weibed Leben daS Leben der 
Sinne iſt und daß diejed Leben im Grunde doch nur für des Mannes 
Sinnenlujt bejtimmt iſt. Diejen Glauben muß er mit dem Leben bezahlen. 
Denn als er — ſpäter einmal — mit Iſolde an einjamer Bartjtelle 
zufammentrifft und die Arme begehrlich nach ihr jtredt, wird er von dem 
verfannten und geichmähten Weibe erjchofjen. So verfällt Iſolde als 
Mörderin dem Tode, nad bürgerlichen Recht. „Alſo dem Tod lief fie 
zu? Da, und mit auögebreiteten Armen. Nein, ſie kroch ihm nicht 
entgegen. Gottlob! Das fühlte fie mit Jubel, fie kroch nicht! Dann hatte 
fie doch etwas im Leben erreiht. Dann war fie doc) etwas. Uud da 
war ed wieder dad wunderbare Gefühl. Sie empfand ſich wieder al3 der 
Begriff des ewig bedrüdten Weibes, des geiltberaubten Weibes, der Sklavin 
aller Völker. Und da brach ein Jubel in ihr auf. „Und habt ihr eine 
Welt auf mich geworfen — ich breche durch! Und Habt ihr mich verichüttet 
mit Schutt von Fahrtaujfenden — ich breche durch!“ Da mußte fie aufs 
ihreien im Sraftgefühl. Dann barg fie ihr Geficht in einen vollen, jungen 
Buchenbuſch, der am Wege herrlich entfaltet jtand, weich und grün, feucht 
und flaumig. Sie fühlteihr junges Geficht in feinem duftenden Laub. Sie wühlte 
es ganz darin ein, wie in die Freuden der Erde. „Wie in die Freuden der Erde!“ 
Das fagte fie wei und innig. Dann warf fie ſich nieder und küßte den 
Boden, auf dem fie jtand: „Ich fomme wieder“! rief fie laut. „Ich komme 


158 Rotizgen und Beiprehungen. 


wieder!“ Und wie im Gebet prefte jie die Hände ineinander. Sa, te 
wollte mwiederfommen, — und fie mußte wiederfommen. Das war ihr 
fejter, großer Wille, ihr heiliger Entichluß. Es gab hier eine Welt dumpfer, 
dummer, matter Seelen, Halbthierjeelen! Sie wollte einen tiefen Todes— 
ihlaf halten, der die Kräfte jtrählte; dann wollte fie wiederfehren, jtart 
und rein und gut — und mächtig — Alles vermögend mit der Kraft zu 
erlöjen. So jtand fie unerjchütterlich, Herrin über Leben und Tod — in 
der Wonne ihrer großen Kräfte jchon entrüdt — und wartete auf Die 
Sonne.“ — Dies ijt der idealiftiich-ymboliftiihe Schluß des Romand. Er 
fann und darf allein als eine idealiftiiche Kunſtleiſtung genoſſen und be= 
urtheilt werden. Es iſt jelbjtverjtändlich, daß in „Wirklichkeit“ und im 
allen Fällen die Stellung der Frau die eined „Halbthieres* nicht iſt. Sch 
erinnere 3. B. an den Roman der Höchjitetter: „Sehnjudt, Schönheit. 
Dämmerung“, in dem die Frau geradezu als Halbgöttin dargeitellt iſt. 
Und miürde Helene Böhlau, die gemüthstiefe Verjafjerin der „Altweima= 
riſchen Liebes: und Ehegeſchichten“ etwa Chrijtene® Verhältnig zu Goethe 
als „Halbthierifch“ bezeichnen wollen? Dennoch bleibt ficherlic; das Hecht 
bejtehen, von einer bejtimmten Stellung aus und aus gewifjem, perſön— 
lihjtem Eindrud das Berhältniß zwiſchen Mann und Weib einmal jo Dar: 
zujtellen, wie e8 in dem vorliegenden Roman gejchehen iſt. Die künſtleriſche 
Wirkung ift garnicht jo jehr von der objektiven Richtigkeit und von der 
beweisbaren Allgemeingiltigfeit abhängig, als vielmehr von der Kraft der 
jubjeftiven Seelenjtimmung und der Eindrudsfähigfeit, mit der das jub- 
jettiv Empfundene zur künſtleriſchen Darjtellung gebracht ift. Unter den 
von Frauenhand gejchriebenen Emanizipationdromanen jteht Helene Böhlaus 
„Halbthier* durch die Höhe der Ideen, die Stärke und Aufrichtigleit der 
Empfindung, die Schärfe der Charakteriſtik und die Eindringlichkeit der 
Darjtellung an erjter Stelle. Mar Lorenz. 


Nationalökonomie. 


Die engliiche Agrarfrifis, ihre Ausdehnung, Urjadhen und Heil- 
mittel. Nacd der Enquete der „Royal Commission on Agriculture“ 
bearbeitet von Dr. Oskar Stillih. Jena 1899. Guſtav Fiſcher. 
VIII und 149 Seiten. Preis 3,60 ME. 

Am September 1893 wurde in England eine königliche Kommiſſion 
zur Unterfuchung der Agrarkriſis ernannt, die bi8 1895 in 177 Sitzungen 
tagte und 191 Sadverjtändige vernahm. ihre Ausjagen (46151 Fragen 
und Antworten) und fonjtige Materialien wurden in drei großen Blau 
büchern 1894 und 1895 veröffentlicht, die jchon 1896 von König für fein 


Nothzen und Beipredhungen. 159 


Bud über die Lage der engliichen Zandwirthichaft benugt wurden. Der 
Schlußbericht (Final-Report) der Kommiſſion, der den ganzen ungeheueren 
Stoff ſyſtematiſch zufammenfaßt, ift dagegen erjt 1897 erjchienen. 

Seine Ergebnijje einem größeren deutjchen Lejerkreije vorzuführen, iſt 
der Bmed der vorliegenden Arbeit, die meines Erachtens al3 eine der 
wichtigſten nationalöfonomishen Publikationen des legten Jahres bezeichnet 
werden muß. Die ungeheuere Schnelligkeit der modernen wirthichaftlichen 
Entividelung, die in wenigen Dezennien die ökonomische Situation eines 
Landes von Grund auf umgejtaltet, tritt und bier mit jeltener Plaſtik 
entgegen. E3 ijt ein Bud, das in der gegenwärtigen wirthichaft3=politifchen 
Situation Deutichlands bejondere Beachtung verdient, da ed und zeigt, 
welche bedenkliche Tragweite die durch den Preisiturz der landwirthichaft- 
liden Produkte hervorgerufene agrarische Kriſis auch bei und angenommen 
hätte, wenn nicht durch den Schußzoll ein gewifjer Ausgleich zwijchen den 
Produftionsbedingungen der deutſchen und der billiger produzirenden 
fremden Landwirthichaft hergeitellt worden wäre. 

Aus der reichen Fülle des ſehr gejchidt und in anziehender Form 
verarbeiteten Materials jeien nur wenige Thatjachen kurz hervorgehoben. 

Die in den jiebziger Jahren einjegende ausländiiche Konkurrenz hat 
mit bejonderer Wucht den Aderbau, namentlich die Getreideproduftion, 
getroffen; der Viehzucht ift ein ausländischer Wettbewerb erjt in den uchtziger 
Sahren eritanden, und er hat bisher aud) nicht die jelbe Intenſität wie 
im Körnerbau erlangt. In Folge deſſen hat fich die Weidewirthichaft auf 
Koſten des Aderlandes ſtark ausgedehnt; e3 entfielen in Millionen acres 


auf das 1875 1895 
Aderland . . . . 1810 15,97 

Weideland . . . . 13,31 16,61 

Summa: 31,41 32,58. 


Um ſtärkſten hat jich die Anbauflähe für Weizen verringert, der am 
meijten im Preiſe gefallen ijt; fie betrug 1873/75 3,67 Mill. acres, 
1893,95 nur no 1,79 Mill. acres. In den jtebziger Jahren deckte die 
heimische Produktion noch die Hälfte des Weizenbedarfs, gegenwärtig aber 
nicht mehr ein Viertel. Günſtiger liegen die Dinge bei Gerjte und 
namentlich bei Hafer, wo nur 40 und 20% des Bedarf vom Auslande 
bezogen werden. 

Trog der Vergrößerung des Weideareald hat die Viehzucht Feine 
Sortfchritte gemacht; der Viehbeſtand ijt im ©egentheil jogar eher 
zurüdgegangen. 1892 gab ed in Großbritannien 6,945 Mill., 1895 aber 
nur 6,354 Mill. Stüf Pindvieh. Auch die Schafe hatten fich gleichzeitig 
von 28,735 auf 25,792 Mill. Stück verringert. Die geſammte jährliche 
Fleiſchroduktion wurde geſchätzt: 

1876/78 auf 1,326 Mill. tons 
1893/95 „ 1,374 „  tons, 


160 Notizen und Beiprehungen. 


ſtagnirt aljo jo gut wie volljtändig. Gleichzeitig ijt aber die Fleiſcheinfuhr 
von 0,336 Mill. auf 0,689 Mill. tons gejtiegen, während die Fleiſch— 
preije erheblich gefallen find. Die Einfuhr von Moltereiproduften 
(Butter, Käſe ꝛc.) bat ſich ebenfall$ mehr als verdoppelt und überragt jest 
ichon bedeutend die eigene Produktion Englands. Es iſt der engliichen Yand- 
wirthichaft alſo nicht gelungen, für das, was fie im Körnerbau verloren, 
in der Viehzucht einen Erjaß zu finden. 

Auch in der Wollproduftion ijt England in jteigendem Maße vom 
Ausland abhängig geworden; die heimische Produktion, die 1876/78 nod 
mehr als zwei Fünftel des Bedarfs lieferte, dedt jegt nur nod wenig mehr 
als ein Biertel. In feinen beiden wichtigften Bedarfsartifeln, in Weizen 
und in Wolle, ijt Großbritannien zu drei Vierteln auf auswärtige Zufuhren 
angewiejen. 

Die Agrarkrifis hat nicht nur die landwirthichaftlihe Produktion bes 
deutend verringert und Englands Abhängigkeit vom Ausland außerordentlich 
erhöht, fie hat aud) tiefgreifende joziale Veränderungen zur Folge gehabt. 

Die Entvölferung des platten Landes ijt noch meiter vor— 
gejchritten. Die Zahl der Tandwirthichaftlihen Arbeiter ift — bei einer 
Zunahme der Gejammtbevölferung Großbritanniens von 26 auf 33 Milionen 
— von 1871 bis 1891 von 1162000 auf 920000 Perſonen gejallen. Tie 
geringe Zahl der Bauern (yeomen und freeholders) ijt nod weiter zus 
jammengejhmolzen. Auch die Zahl der Pächter dürfte fih nicht un— 
beträchtlich verringert haben; ihre Lage muß al3 jehr Eritiich bezeichnet 
werden. 

Der jteuerpflichtige Rohertrag des ländlichen Grund und Bodens ift 
von 1879/80 bis 1893/94 von 59,6 Millionen Litrl. auf 46,3 Millionen Litrl., 
aljo um mehr als eine VBiertelmilliarde Marf zurüdgegangen. Der Robertrag 
des rein landwirthichaftlih benugten Grund und Bodens dürfte noch 
jtärker gejunfen fein, da die obigen Zahlen auch Hausgärten, Parts x. 
einjhließen, deren Ausjcheidung erjt für 1896 möglich ijt: im leßteren 
Jahre jtellte ji der Nohertrag des landwirthichaftlich benußten Bodens 
allein nur auf 24,5 Millionen Litrl. Der Kapitalwerth des landwirth— 
ichaftlichen Grund und Bodens in Großbritannien hat von 1875—94 um 
854 Millionen Litrl., d. h. um 50 Prozent, im ganzen Vereinigten König: 
reid; jogar um vund 1 Milliarde Litrl. abgenommen. Der Boden: 
ertrag ijt gegenwärtig unter das Niveau der vierziger Jahre herab- 
gejunfen. 

Am ftärkiten hat die Krifis die Eigenthümer des Grund und Bodens, 
aljo die Bauern und die Landlords, getroffen. Da die bäuerlichen 
Grundjtüce meijt gänzlich ſtark mit Hypotheken belaftet find, jo leidet der 
jelbjtwirthichaftende Befiger viel mehr als der Pächter, der durch Pacht— 
reduftionen und Pachterlafje einen großen Theil der Verlufte auf den Land— 
lord überwälzen kann. Am wenigjten unter der Kriſis haben die Land- 


Rotizen und Beiprehungen. 161 


arbeiter gelitten, die den Vortheil der billigen Lebensmittel hatten; neuer- 
dings find aber auch ihre Löhne gefallen. 

Die größten Verluſte an Einfommen wie an Vermögen haben jeden- 
fall3 die Landlord3 zu verzeichnen; und nur dem Umſtand, daß die Krifis 
am jchwerjten eine kleine und enorm reiche Klaſſe traf, Die gleichzeitig durch 
die Werthiteigerung des jtädtiichen Grund und Bodens und durd) ihre Ge- 
winne in Handel und Induſtrie die erlittenen Verluſte großentheil3 wieder 
ausglich, iſt es meined Erachtens zu danken, daß die englifche Agrarkriſis 
nicht zu Sozialen Kataftrophen geführt hat. Un Deutjchland mit feinen 
Millionen von bäuerlichen Befigern wäre eine Kriſis, die den Bodenwerth 
um 20 Milliarden Mark verringert, die ihn auf die Hälfte reduzirt hätte, 
jedenfall3 nicht ohne die ſchwerſten Erjchütterungen vorübergegangen. 

Eine Heilung der Kriſis iſt nur von einer Preisjteigerung 
der landwirtbichaftlihen Produkte zu erwarten; ob die feit 1895 ein- 
getretene langſame Aufbefjerung der Preife anhalten wird, muß abgewartet 
werden. Jedenfalls ijt es von Intereſſe, daß die engliiche Landwirthſchaft 
auf die eingetretene Befjerung der Preije jofort mit einer Ausdehnung der 
Produktion reagirt hat. 

Auf die Palliativmittel, die die Kommiſſion vorjchlägt, näher einzugehen, 
würde hier zu weit führen. Nur ein Punkt jei hervorgehoben: Die eng— 
fiichen Eijenbahnen nehmen durchweg Höhere Frachten für englijche*) als 
für ausländiſche Agrarprodufte, angeblich, weil die Verladung der aus— 
ländiichen Produkte eine leichtere jei, thatſächlich aber wohl, wie mir jcheint, 
weil die engliichen Eijenbahngejellichaften vielfach) mit den Schiffsgejellichaften 
fürt find und deshalb an einem möglichjt großen Transport ausländiſcher 
Produkte ein Intereſſe haben; übrigend wird Bahnfracht und GSeefradht 
gewöhnlich nicht getrennt, jondern in einer Nate erhoben. Dieſe Thatjache 
ſcheint mir bei und gerade jet befondere Beachtung zu verdienen, angelichts 
der Bejtrebungen, durch Ausbau des Kanalnetzes einen großen Theil des 
Giütertrandport3 von den Staatdeifenbahnen auf die privaten Transport 
gejellichaften zu übertragen. 


Nationalölonomil des Handels und Gewerbefleißes. Ein Hand: 
und Lejebuh für Geſchäftsmänner und Studirende von Wilhelm 
Roſcher. Siebente Auflage. Bearbeitet von Wilhelm Stieda. Stutt— 
aart 1899, 3. G. Eottaiche Buchhandlung Nachfolger. XVI und 1119 
Seiten. Preis geheftet 16 Mark. In Halbfranz geb. 18,50 Marl. 


E3 kann nicht meine Aufgabe jein, ein fo alte8 und befanntes Wert 





*) Erjt neuerdings find — wohl in Folge der Agrarenquöte — auf ein« 
zelnen Bahnen und zwar bauptfädhlid im Xofalverfehr mit London 
befondere Zarifermäßigungen für gemwifje landwirthſchaftliche Produkte 
eingeführt worden. 


Preußiſche Jahrbüher. Bd. XCVIII. Heft 1. 11 


162 Notizen und Beiprehungen. 


wie Roſchers „Nationalöfonomit des Handeld und Gewerbefleißes“ einer 
ausführlichen Beipredjung zu unterziehen. Es genügt hier zu konſtatiren, 
daß Stieda, unter jorgfältiger Schonung und Beibehaltung der ganzen 
Roſcherſchen Syitematik und Darjtellungsmethode, über deren Bortrefflichkeit 
die Anfichten allerdings getheilt jind, durch zahlreiche Ergänzungen und 
einzelne Streihungen das Roſcherſche Werk bis auf die Gegenwart fort: 
geführt und in Einklang mit dem augenblidlichen Stande unferer wiſſen— 
Ihaftlihen Kenntnifje gejegt hat. Dad Buch ift in der neuen Auflage 
dadurh um etiwa zehn Bogen jtärker geworden, da der Herausgeber in 
ernjter und gründlicher Arbeit eine erjtaunliche Fülle neuen Materials ein- 
gefügt hat. 

So begreiflich Stiedad pietätvolles Bejtreben iſt, Roſchers Tert nah 
Möglichkeit in feiner urjprünglichen Form zu erhalten, fo jollte er doch 
nit davor zurüdjchreden, feine Ausdrucdsweife dort, wo jie unjerem 
modernen Empfinden gar zu veraltet klingt, entiprechend zu modifiziren: 
jo patriarhaliihe Ausdrüde, wie „Fabrikherren“, „Abhängigkeit der 
Babrifarbeiter von ihren Herren“ u. a. m. follten wirklich bejeitigt 
werden. 





Politiſche Arithmetik oder die Arithmetik des täglichen Lebens. 
Bon Moritz Cantor. Leipzig 1898, B. G. Teubner. X und 136 ©. 
Die Heine, recht hübſch ausgejtattete Schrift hat den deutſchen Bücher: 
markt um eine jehr originelle Erſcheinung bereichert, die — um ein oit 
mißbrauchte® Wort einmal mit Recht anzuwenden — einem wirkfichen Be: 
dürfniß entipricht. 

Der BVerfaffer hat jeit vielen Jahren in jedem Winter an der Heidel- 
berger Univerfität eine zweiſtündige Vorlefung über „politifche Arithmetik* 
gehalten, deren Inhalt er hier einem größeren Publikum zugänglich macht, 
das ſich vermuthlich nicht auf den kleinen Kreis der nationalöfonomiih ge: 
ſchulten Leſer bejchränten wird. Denn die hier behandelten Fragen haben 
fajt durchweg ein allgemeined Intereſſe, wenn fie auch freilich für den 
Nationalölonomen von bejonderer Wichtigkeit jind. Heutzutage wird es 
faft für Jedermann nothwendig fein, etivad von den Rechnungsweiſen des 
Bant- und Börjengejchäftd, des Verſicherungsweſens, der verjchiedenen 
Sotterien und des jtaatlichen und fommunalen Anleiheverfehrs zu verſtehen. 
Ueber alle diefe Fragen unterrichtet Cantor in fnapper und doc aud für 
den mathematijhen Laien verjtändficher Form; dabei beſchränkt er jich er: 
frenlicher Weife nicht ängjtlich auf die rein mathematischen Fragen, jondern 
bemüht ſich, ein volljtändiges Bild der behandelten Materien zu entiverien, 
jodaß jeine kleine, aber erjtaunlich reichhaltige Schrift ein vollitändiges 
Kompendium der Technit des Bank und Börjenverfehrd ſowie des Ber: 
ſicherungsweſens darjtellt. Selbſt die gejchichtliche Entwidlung des Ver: 


Rotizen und Beiprehungen. 163 


jicherungdwejend wird in großen Umrifjen jlizzirt, auch die einjchlägigen 
juriftifchen Beitimmungen und die durch das Bürgerliche Geſetzbuch be— 
dingten Veränderungen werden jorgiältig mitgetheilt. 

Eine detaillirte Inhaltsangabe erleichtert die Benutzung der Schrift 
als Nachſchlagebuch, was um jo danfenswerther ijt, ald man bekanntlich 
nicht3 fo leicht wie mathematijche Formeln vergißt. Ein Anhang giebt aus— 
gerechnete Tafeln für die üblichen Zinsfühe von 3, 31/, und 4% für alle 
Jahre von 1—100, um logarithmijches Rechnen nad Möglichkeit überflüfjig 
zu machen. 

Gantor iſt ein Meijter fnapper und prägnanter Darftellung, feine 
Schrift durdaus ein Unifum. Wir wüßten fein Buch in der deutjchen 
Literatur, das in ähnlicher Weiſe mathematijches Wiſſen mit einer jo gründ- 
lichen Kenntniß des praftiichen Gejchäftsverfehrs vereinigte und zugleich fo 
erichöpfend über zahlreiche und wichtige Fragen orientirte. 





Geihichte der Nationalöfonomie und des Sozialismus. Bon 
Dr. Karl Walder, Privatdozenten der Staatswiſſenſchaft on der 
Univerjität Leipzig. ordentl. Mitglied der Internationalen Bereinigung 
für vergleichende Rechtswiſſenſchaft und Volkswirthſchaftslehre zu Berlin 
und der American Academy of Political and Social Science. Pierte, 
völlig umgenrbeitete Auflage. Leipzig 1899, Roßberg'ſche Hofbuch— 
handlung. VIIL und 134 Seiten. 

Während die Schriften anderer Gelehrter von Auflage zu Auflage 
dider und umfangreicher und vielfach auch theurer werden, verfolgt Herr 
Dr. Walcker fobendwerther Weile den umgefehrten Braud). Seine Schriften 
haben in der zweiten verbejjerten Auflage fajt durchweg eine erheblich 
fnappere Fajlung erhalten und find dem entiprechend auch im Preiſe 
reduzirt worden. So fojtete jeine Theoretijche Nationalöfonomie in der 
eriten Auflage (1882) 9 Marf, in der zweiten verbefjerten Auflage (1888) 
nur 2 Markt; jeine Landmwirthichaftspolitit ſowie feine Gewerbe: und 
Handelspolitik ift in der zweiten verbejjerten Auflage ebenfalls für 2 Mark zu 
eritehen, während die erite Auflage ji) auf 7 Mark jtellte. Auch das vor— 
liegende Werk, der V. Band jeines großen „Handbuchs der National: 
öfonomie*, hatte früher einen weit größeren Umfang und fojtete 8 Marf, 
während man e3 jeßt in der völlig umgearbeiteten Faſſung jchon für 
3 Mark erhalten kann. 

Zu dieſen Kürzungen ijt Herr Dr. Walder durd die richtige Er— 
fenntniß veranlaßt worden, daß „die meijten jüngeren wie älteren Lejer 
einer Geſchichte der Nationalölonomie wenig Zeit haben“ und er hat mit 
Recht geglaubt, „auf dieſen Umitand Niücjicht nehmen zu müſſen“. Immer— 
bin war es wicht leicht, auf 88 Seiten — der Nejt des Buchs ijt mit 

11* 


164 Rottizen und Beſprechungen. 


einigen Exkurſen und zwei Negijtern ausgefüllt — eine vollitändige Ge- 
ihichte der Nationalökonomie und ded Sozialidmus zu geben. Dieſes Ziel 
ließ fi auch nur dadurch erreichen, daß der Verfaſſer bei der Auswahl 
des Stoffe von folgenden Grundfägen ausging: „Die widhtigiten Daten 
find immer zu geben, aud) wenn fie bereitö bei J. Kautz, W. Roſcher, 
3. Ingram, 2. Coſſa und im I. Conrad'ſchen Handwörterbuch der Staats- 
wifjenschaften ftehen. Im Uebrigen kommt e3 darauf an, ſolche Daten 
zu geben, die in den genannten Büchern nit zu finden jind.“ 
Der Verfaſſer will alſo die genannten, meijt recht „verdienitvollen* Werte 
nicht überflüffig machen, obwohl er „im Anjchluß an berühmte, verjtorbene 
und lebende Nationalöfonomen nicht alle im Handwörterbuch geäußerten 
Anſichten theilt“, fondern nur ergänzend neben fie treten. 

Erjt wenn man ſich das Far gemacht, begreift man die oft wahrhaft 
fapidare Prägnanz jeiner Darjtellung. 

„A. Schäffle, geb. 1831, war Anfangs HFreihändler, wurde gemäßigter 
Schutzzöllner und Bimetallift. Dafjelbe gilt vom Berliner, 1835 geb. ®rofefjor 
Bagner. Zu den Mitarbeitern des Legteren gehören Prof. H. Diegel in 
Bonn, (deb. 1857), ferner der badifhe Finanzminifter A. Buhenberger für 
Agrarpolitit und Profeffor 8. Bücher in Leipzig.(geb. 1847) für Gewerbe 
und Handelspolitit, 

B. Hildebrand, 1812—78, Brof. in Jena, begründete 868 Jahrbüder 
für Nationalölonomie und Statiftik, die jeit 1873 vom Hallefhen, 1839 geborenen 
Prof. 3. Conrad herausgegeben worden. Seine drei Mitredafteure find 
W. Leris, geb. 1837, Prof. in Göttingen, 2. Elſter, geb. 1856 und E. Löning, 
geb. 18483, Prof. der Rechte in Halle. Lexis ift einer der tüchtigſten und viel— 
feitigften deutfhen Nationalölonomen. Das 1872 von F. von Holtzendorff 
begründete Jahrbud für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirthſchaft batte 
1877—80 Brentano zum Mitredalteur, wird feit 1881 von Schmoller Heraus 
gegeben. 2. Brentano, geb. 1844, ift Prof. in Münden, G. Schmoller, 
geb. 1838 Prof. in Berlin.“ 

Muftergiltig in jeiner ſchlichten Knappheit muß auch der Abjchnitt 
über den deutjchen Merkantiligmus des achtzehnten Jahrhundert3 genannt 
werden. (©. 15). 

„Als Friedrih Wilhelm I. in Litauen feine neuen Bauernkolonien jAul, 
fagte er, „die können nicht profperiren, wenn wir nicht eine Anzahl Städte in ihre 
unmittelbare Nähe ſetzen.“ Aehnliche Anfichten wurden von Friedrich dem 
Großen, 3. v. Jufti und dem öfterreihifchen Freiherrn J. von Sonnenfels 
geäußert, obgleich Friedrih fo manche grobe Vorurtheile der Mertantiliften 
theilte. I. Möfer wird häufig überſchätzt.“ 

Wem diefe überaus prägnante Darjtellung zunächit nicht behagen jollte, 
wird fich gewiß mit ihr verjühnen, jobald er beim tieferen Eindringen ın 
Walckers Schrift fieht, da ihm ſtatt zweckloſer Wiederholungen längjt be: 
fannter und auch in anderen Büchern enthaltener Gejchichten eine Fülle 
interefjanter und bisher gänzlich unbefannter Thatjachen zur Entjchädigung 
geboten wird. 


Rotizen und Beiprehungen. 165 


„Ber Berfaffer der vorliegenden Schrift wurde 1889 in Bernau in 
Livland geboren, ftudirte in Dorpat und Berlin, wurde 1873 badifcher und 
1886 ſächſiſcher Staatsbürger und ift feit 1877 Dozent an der Univerfität 
Leipzig. Mein Handbuch der Rationalölonomie erſchien in 5 Bänden, 1882— 34. 
Die 2. Auflage 1888 ift viel kürzer gefaßt .. .. (S. 52/58.) 

Autobiographifhe Notizen habe ih auf Wunſch der Herausgeber, im 
Literariihen Deutfhland von A. Hinrihfen, 2. Aufl. 1892, in A. 
de@ubernatis’ Dietionnaire international des ecrivains du jour, Florenz, 
1891, Bd. 3 und im Literarifchen Leipzig, 1897, gegeben. Eine Familien« 
trabition befagt, daß meine germanifchereformirten, nicht etwa keltifch"fatholifchen, 
Vorfahren, die fih aud Waller fchrieben, zur Gentry, zum niederen Adel, 
Schottlands gehörten, und im 18. Jahrhundert wegen ihrer Betheiligung an 
einem Stuartihen Aufftande nah dem FFeftllande, nah Württemberg, Sachſen 
und Rurland, famen. Mein Großvater wurde in Stutigart, mein Bater in 
Mitau geboren. Auch mein Großvater mütterliher Seite ftammte aus 
Deutijchland, aus Seefen. 

Nofhers Ausdrud Deutſchruſſen paßle nit auf die Balten meiner 
Jugendzeit. Gin Deutjhamerilaner lernt das Engliſche als eine Ichende 
Sprade.e Ich babe das Ruſſiſche dagegen wie eine todte 
Spradhe, wie das Lateinifhe und Griehiihe, gelernt. 
Faft alle meine Lehrer ftammten aus Nordbdeutfhland (Berlin, Schlefien, 
Thüringen, Schlesmwig-Holftein). Ich habe Livfand nie als wahre Heimatb, 
immer nur als eine Art Gafthaus auf dem Rüdwege nad Deutjchland be— 
trahtet. Auch verjhiedene andere Familien find im 18. Jahrhundert nad 
Livland gegangen, im 19. Jahrhundert wieder nad) Deutfchland zurüdgelehrt. — 
Ih werde mandhmal irrtbümlid, obne meine Schuld, 
als Dr. phil. oder jur. bezeidhnet. (©. 54.) 

Am Album Academicum der Kaiſ. Univ. Dorpat, 1889, find aus den 
Jahren 1802—89 14831 Immatrikulirte verzeichnet, mit Angabe der fpäteren 
Lebensftelung. Als Kuriofum fei erwähnt, daß in Bernau 1835, 1838, 1839 
drei Nationalölonomen geb. wurden, nämlich Gerjtfeldt, A.v. Miastowski 
und ih. Auch Erfterer lebte, 1873—83, in Leipzig. ©. T. Waller Nr. 2948, 
iit mein Bater, %. Walker, Rr. 5189, mein Better. Unter meiner Nummer 
6681 muß e8 Zeile 2 Heißen: Dr. oeconomiae publicae et sta- 
tisticae, Zeile 4 etatsmäßiger Dozent. In Bernau wurden auch K. G. Joch— 
mann, 1789—1830, und der Betersburger Brof. des Völkerrechtes %.v.Mar:; 
ten geboren, Zegterer 1843. Joch manns Reliquien wurden 1838 von 
9. Zſchokkke in 3 Bänden herausgegeben. Gr bebt gegen Montesquicu 
bervor, die deutjhe Freiheit ftamme von den Medern, nidht aus den 
Wäldern Deutfhlands R. v Gneiſt zitirt diefe Worte bei— 
ftimmend ..... (S. 75) ; 

Die Grundlagen meiner Anjhauungen über die ruffiihen Zuſtände be— 
fiehen in Folgendem. In den 1860er Jahren bejhäftigte ih mid in Dorpat 
eingehend mit der volkswirthſchaftlichen, befonders der fteuerpolitifchen Literatur 
Rußlands, über die ich 1869 jchrieb. 1864—72 verkehrte ich in Narva viel 
mit dem 1806 geborenen, 1878 verftorbenen Baron Rifolausv. Biftram 
(dem Bater des Autors, der im 2. Bande Rojhers zitirt wird). Der 


166 Notizen und Beiprehungen 


ältere Biftram, ein Verwandter des kurländifhen Barons v. Biftram, 
der mit der Gräfin Ida v. Hahn-Hahn befreundet war, hat in Münden 
NRationalötonomie ftudir, war Majoratsherr in Bolen, ruffifher Garde» 
rittmeifter a. D. und Kammerberr, ein geiftreiher Mann, der viel mit dem 
höheren rufjifhen und polnischen Adel verkehrt Hatte, ein guter, unbefangener 
Kenner der ruflifhen und polnifhen Zuſfände. Er fühlte fidh als 
Efibländer, wurde aug indereftibländifhenfgamiliengruftber 
Piftrams beecerdigt, war indeß auf dem väterlihen Gut im Gou— 
vernement Betersburg geboren.“ ..... (S. 79). 

Neu und werthvoll ijt auch der folgende jtatiftiiche Nachweis, durch 
den hoffentlid eine thörichte Legende für immer zerftört wird. (S. 74175.) 

„Engländer und andere Nidhtdeutihe glauben häufig, jeder Deutihe 
Gelehrte trage eine Brille, und babe „Schmiffe,“ Hiebernarben, im Gefidt. 
Beides ift ſtark übertrieben. Die Zahl der Leipziger Brofefjoren und Privat: 
Dozenten dürfte circa 150 betragen. Im Sammelwerk „Das literarifche Leipzig“. 
erſchienen 1897 58 Borträt® von Leipziger Brofefforen und Privatdozentn 
Davon tragen 44— 75,8 %o feine Brille, während 14— 24,1 %/, eine Brille tragen. 
In der Jluftrirten Zeitung erfchienen am 7. April 1894 die Porträts von 
16 Brofefioren, die mit Ausnahme 8. Mengers lauter Neichsdeutiche find. 
Davon tragen 10 (62,5 9%) feine Brille, während 6 (87,5 %,,) eine Brille tragen. 
Auh im Auslande gab und giebt es dagegen Brillen- 
träger. Waſhington trug z. B. nah Bancroft 1783, im 51. 
Lebensjahre, eine Brille. 

In Leipzig mahen die Verbindungsftudenten, mie man gemöhnlih an» 
nimmt, Y/,o oder !/,, aller Studenten aus. Aehnlich ifi es auf anderen großen 
Univerfitäten. Die große Mehrheitderdeutjhen Brofefforen, 
PBrivatdozgenten, Studenten bat glatte, narbenloje Ge— 
ſichter.“ 

Dieſe Ausführungen dürften allgemeiner Zuſtimmung gewiß ſein. Da— 
gegen ſcheinen mir andere geiſtreiche und originelle Behauptungen des 
Verfaſſers geeignet, einen gewiſſen Widerſpruch herauszufordern. 

„Die freihändleriſche Denkweiſe hat etwas Kühles, Kritiſches, 
Beſonnenes, Verſtandespolitiſches, Männliches, während die ſchutz— 
söllnerifche, vollends die ſozialiſtiſche Denkweiſe etwas Gefühls— 
politiſches, Unbeſonnenes, Weibliches hat“ (S. 85). 

„Einer der erſten Anhänger Smiths ſagte bereits: Der Freihandel ſei 
Proteſtantismus auf dem Gebiete der Nationalököonomie. Das ıf 
unzweifelhaft. Man wende nicht ein, dab Baſtiat Katholik war. Gr 
zog eben nicht die Icgten Konfequenzen.“ (5. 22.) 

Alle Anerkennung verdient Walder& muthiges Eintreten für Heinrich 
Heine, dent er auch den ihm gewöhnlich ſchnöde vorenthaltenen alademijchen 
Nang, den er doch rite erworben hat, beilegt. 

„Ber Dr. jur. 9. Heine bat, ähnlid den deutſchen Alaffitern, auch 
Berdienfte um die Nationalölonomie, überhaupt die Staatswiſſenſchaften. Bei 
ihm finden fih im guten Sinne des Worts kathederſozialiſtiſche 
Ideen und namentlich gejunde, ſtaatsmänniſche Anfichten über das jog. 
Königtbum der jozialen Reform“ (8. 48.) 


Rotizen und Beiprehhungen. 167 


Das ift freilich auch fein Wunder; denn „Deine ijt zum Proteſtantis— 
mus übergetreten und fühlte protejtantiich.” 

Abjolut nothwendig zur Erzeugung protejtantiihen Fühlens iſt 
übrigens die Taufe nad) Walderd vornehm toleranter Anſicht nicht. 

„1880 erihien im der „Gegenwart“ ein Artitel von Oppenheim, 
der mehr deutih und proteftantifh, als ifraelitiih gehalten war. Der 
verdienftvolle Rationalölonom war danıals zu den von mir fog. ungetauften 
Brotejtanten zu rehnen.” (S. 75/70). 

Schon aus diejer Aeußerung erhellt Walderd fortichrittliche Gefinnung, 
die und noch jtärfer im folgendem Sa entgegentritt, deſſen Begründung 
einzelne Sfeptifer freilich nicht ganz überzeugen dürfte. 

„Die Zukunft des Proteftantismus gehört der Aufllärung, mie aud der 
ftarfe Abjag der Romane der Frau H. Ward beweiſt.“ (S. 113). 

Mit ebenfo großer Energie und mit ebenfo treffenden Argumenten 
wie gegen den Ultramontanismus zieht der Verfafjer gegen den Sozialis— 
mus und die Sozialiſten zu Felde. 

„Karl Marx's Vater hieß Mordedhai, ſtammte von einer langen Reibe 
von Rabbinern ab und nahm 1824 bei der proteftantifhen Zaufe den Namen 
Marr an. 8. Mary wurde 1818 in Trier geboren und ſtarb 1858 in Yondon 
wohin er 1849 geflüchtet war. ... Marx's Auszüge aus englifhen Fabrik— 
infpeftoren:Berichten find intereffant. Der Kern der Marr’ihen Lehre, 
ift indeß ebenfo unhaltbar, wie der Herenglaube, oder ein anderer 
Aberglaube. Wenn das Unternehmerverbältniß wirklich an und für fid 
ein wumfittlihes Ausbeutungsverhältnig wäre, jo wäre audhderganze 
Sozialismus verdammensmertb, der cebenfomwenig ohne einen 
ftaatlihen Unternehmergewinn auslommen könnte, mie eine Heutige gut 
rentirende Staatsfabril. Man denke z. B. an die bayeriijhen Staats» 
brauercien. Wenn die Marx'ſche Lehre richtig wäre, fo wäre es eine 
heilige Pfliht der Menfchheit, zu einem Zuftand ohne Uniernehmergewinn, 
d. 5. zum Leben halb nadter Jäger- und Fifherhorden 
zurüdzufehren“ (S. 65/66). 

Nachdem Walder jo den gefeierten Heros der Sozialdemokratie als 
unheilbaren Klonfufionarius entlarvt hat, enthüllt er und auch die geradezu 
unglaubliche und empörende Unmifjenheit Ferdinand Laſſalles. 

„Er war, troß feiner theilmeifen Belejenbeit, jo unmiffend, daß er 
von Zelllampfs u. A. grundfägliher Berwerfungderun: 
gededten Roten nihts wußte, ja fogar zum fog. Inflationismus 
im Sinne der Robespierrefhen Aſſignatenwirthſchaft neigte. ... Er bat 
NRodbertus flehentlih, ihm mit Ideen auszubelfen (!), Rodbertug ging indeß 
darauf nicht ein, hauptfählih wohl, weil er feiner Normalarbeitstags-Idee 
felbft nicht recht traute und lieber vor einem Heinen Gelehrtenpublitum, als 
vor dem großen Publifum Fiasto machen wollte.” (S. 61/67). 


Und dies Fiadfo war ihm jicher; denn „jein Sozialismus bejteht haupt— 
jählih im Wahne, nad) einigen Hundert Jahren werde das Kapitals und 
Grundeigenthum abgejchafft werden.“ 


168 Notizen und Beiprehungen. 


Auch von Friedrid Engels ijt nicht viel Gutes zu berichten; er theilt 
leider „die Orundirrthümer Marıd, obgleich er den Letzteren an Be: 
gabung weit übertrifft.“ 

Troß der ſcharfen Kritik, die Walder an den Sozialiften übt, iſt er 
weit von parteiischer Ungeredtigfeit entfernt. 

In feinem 1897 erjchienenen Buche über Marr hatte er behauptet, 
Marz jei nur 3 Fuß und 10—11 Zoll, aljo nur etwa 112—114 Zenti- 
meter groß gewejen, und er hatte daran die Bemerkung gefnüpft: 

„Berfonen mit einer Körperlänge von 105—140 Gentimeter bilden nad 
Meyers Konv.-Ler., Art. „Amerge“ den Uebergang von diefen zur normalen 
Größe Sie find zwerghafte Geftalten.“ 

Nachdem ihn die jozialdemokvatiiche Prefje belehrt hat, daß er ſich 
‘verlejen habe, daß es im feiner Quelle thatfählih jtatt 3 Fuß 5 Fuß 
heiße, benußt er mit ſchönem Freimuth in feiner Schrift die erfte ſich ihm 
bietende Gelegenheit, um Marr dad ihm gebührende Gardemaß von 
1,70-1,78 cm zujuerfennen, und er bittet den Leſer, den angeführten 
Zuſatz von den „zwerghaften Gejtalten* zu ftreichen. 

Sehr beherzigendwerth find auch gerade in den gegenwärtigen Zeitläufen 
die Worte, mit denen er feine Ausführungen über den Eozialismus bejchlieit. 

„E8 wäre übertrieben, alle Sozialiften, unter denen fih ja aud 
gemäßigte, in ihrer Art mwohlmeinende Männer befinden, für Teufel in 
menſchlicher Beftaltzu halten.“ 

In der Gegenwart wird häufig geklagt, daß es originellen Köpfen 
ſchwer jei, gegenüber den nivellirenden Tendenzen der Zeit ſich An— 
erfennung und Beachtung zu verjchaffen. Wenn man jedod bedenkt, daß 
Dr. oec. publ. Walderd „Geſchichte der Nationalöfonomie und des 
Sozialismus“ bereit in vierter Auflage vorliegt, jo wird man ji der 
Erfenntniß nicht verſchließen können, daß fernige Eigenart und wahre 
Originalität in Form und Inhalt auch heute noch zahlreiche danfbare Bes 
wunderer findet. 

Berlin. Dr. Baul Boigt. 


Theater-Korrefpondenz. 


Lejjing- Theater: Eleonora Duje ald Gajt, Casa paterna (Heimath) 
von Hermann Sudermann. 

Deutihes Theater: Rosmersholm, Schaufpiel in vier Alten von 
Henri Ibſen. 


Die Magda in Sudermannd „Heimath“ ijt wohl die größte Parade- 
rolle, die in der modernen Dramen = Literatur zu finden ift. Als jolche 
wird fie wenigitens von den Heroinen aller Länder über die Bühnen von 
taujend Städten gejchleift. Sch weiß nicht, ob dem Dichter immer damit 
gedient it. Sch möchte es jogar bezweifeln. Denn giebt e8 doch unter 
den PVirtuofinnen auch welche von jolcher Art, daß fie den Glanz der 
Rolle noch durch den Glanz der Toiletten zu verdunfeln trachten, jo daß 
fie auf dieſe Weiſe ficherlich jih mehr ihrem Schneider, als ihrem Dichter 
verpflichten. Dagegen kann es jeden Dichter nur zum Gefühle tiefiter 
Dankbarkeit jtimmen, durch Eleonora Duje vertreten zu werden. Gie 
offenbart mit ihrer hohen und reinen Kunſt den tiefiten und eigenjten 
Gehalt der Rolle, wenn auch nicht Jedem. Irgend ein Beitungsfritifer 
jeßte jeinen Lejern diefe Lehre vor: „Sudermann hat ein Familiendrama 
der gefränften Offiziersehre gejchrieben. Die Duje führt und die Tragödie 
der verrathenen Liebe, der ermordeten Lebensillufionen vor.“ Kein? von 
beiden, weder dad, was Sudermann untergejchoben, noch das, was der 
Duje zugeichrieben wird, iſt zutreffend. Ganz allgemein ausgedrüdt: 
„Heimath“ ijt die Tragödie der modernen Frau. Diefe Tragödie, wie 
jie übrigen! ähnlich auch von den hervorragenditen weiblichen Schrift: 
jtellerinnen empfunden und bargefiellt wird, bejteht darin, da das Weib 
unferer Tage zum Bewußtjein ihrer Einzelperjönlichkeit erwacht und heran 
gewachjen ift, gewiliermaßen aufhört, nur Weib — d. h. „Weibchen“, 
Geſchlecht — zu jein, um Menſch, Individuum zu werden. Dieſer Drang 
zum Menſchenthum, zur individuellen Freiheit trieb Magda aud dem väter: 
lihen Haufe, in dem der Zwang, die Konvention, die Zucht, die Ordnung 


170 Theater-Rorrejponden;z. 


herrichen. Magda wird gewöhnlich als die weltberühmte Künjtlerin mit den 
Bagabundenmanieren dargeftellt, die in ihrem jchranfenlojen Selbſtgefühl 
wähnt, über Allem hocherhaben zu jein. Das ift grundfalih. Magda iſt 
im tiefiten Grunde und ald Typus das zum Menſchenthum erwachte, zur 
Berjönlichkeit herangewadhjjene Weib. Daß fie Sängerin wird, ijt von 
jefundärer Bedeutung und eine Folge, die nicht aus dem Grundproblem 
des Stückes, jondern einerjeit3 aus individueller und mehr zufälliger Anlage, 
andererjeitS aus theatraliichen Abfichten des Dichters herzuleiten iſt. Auch 
wenn jie nicht die Stimme und die fünjtlerische Begabung hätte, wäre 
Magda aus dem Haufe gegangen. In eriter Linie aljo — es jei noch— 
mals betont — iſt Magda nicht die Künjtlerin, jondern das zur Perjön- 
lichfeit gereifte Weib. Sonnenklar wird dad dadurch bemwiejen, daß jie, 
dem Herrn v. Keller gegenüber, bereit it, ihre Künjtlerlaufbahn aufzu- 
geben und, dem Vater zu Liebe, in die Ehe zu willigen; um feinen Preis 
aber will fie ihr Kind verleugnen. Als frei gewordene und der Freiheit 
würdige Perjönlichkeit alfo trat Magda aus dem Vaterhauſe in die Welt. 
Da begegnet ihr aber, was auc) der Iſolde Frey in Helene Böhlaus Roman 
„Halbthier* widerfährt: der Mann, der bisherige „Herr der Welt“, glaubt 
nit an dieſe Perfünlichfeit, an den Menjchen im Weibe. Es ijt ihm 
gerade gut zur Beute jeiner Sinnenluft. So ergeht’3 jener Iſolde mit 
dem Maler Mengerjen, und jo ijt es aud das Schidjal Magdas in ihrer 
Beziehung zu dem Herrn v. Keller. Sie bleibt jtarf, jie kämpft weiter. 
Und Sieg wechjelt mit Niederlage. Man thut gut daran, jene Frage zu 
verneinen, die jie im enticheidenden Augenblid an ihren Bater richtet, 
ob denn nämlich jener Herr v. Keller der Einzige ijt, der jie bejeilen, der 
jie beichmußt hat. Sie bedarf als Weib der großen, beruhigenden, einen 
Liebe, die jie aber nicht finden fann, und taumelt jo von diejer Liebichaft 
zu jener. Das Genie ihrer Seele reißt fie immer wieder empor, rettet jie. Aber 
immer bleibt die Sehnſucht nach Liebe, nach einer Heimath. So fommt sie 
denn Schließlich wieder ind Vaterhaus, nicht etwa. um ſich als Siegerin huldigen 
zu lajjen, jondern zunächſt demüthig, wie mit gefalteten Händen, als das 
vom Leben gepeitichte und zerjichlagene Weib, das eine Heimath begehrt. 
Im jelben Augenblid allerdings, in dem ſie das Haus ihres Vaters betritt, 
fühlt fie auch jofort mit jchmerzlichjtem Bejremden, daß hier die Heimath 
ihrer Seele nicht jein fann. Der Konflikt, der fie ehemals aus dem Hauje 
trieb, jeßt jofort wieder ein, aber vertieft. verjchärft, auf höherer Stuie 
des Gegenjages. — Eins ijt in der Daritellung und wohl überhaupt in 
der Perjönlichkeit der Dufe jo ganz bejonders ergreifend: ihr Antlig it 
von den herben Linien tiefiten Grams durchfurcht; aus ihren Augen Elagt 
ein unauslöjchlicher Schmerz, und das Leid läßt fie alt erjcheinen. Aber 
hinter diefem vergrämten und taujend Erfahrungen der Seele fündenden 
Geſicht blict ein anderes durch, ein Gefichtchen, ein Kindergejichtchen, 
jtaunend und fragend, wie merkwürdig Doc eigentlich alles in dem ſoge— 


Theater-Rorrejponden;z. 171 


nannten Leben beſchaffen iſt. Sch glaube, daß diejer Kontrajt von tiefjter 
Weltfenntnig und grauenvollitem Lebensichmerz auf der einen Seite und 
von unjchuldigjter, naiver, findlichjter Verwunderung über all diefes bunte 
Lebengipiel andererjeit3 die unerhört tragische Wirkung erklärt, die das 
Spiel, ja jhon die Perfönlichkeit der Duſe in jedem Augenblid erzielt. 
Dieſe unvergleichlihe Tragödin wirkt wie eine Verkörperung und Offen 
barung de3 Genies im Sinne Schopenhauerd etwa. — Üinen neuen und 
zum erjten Mal bejriedigenden Aufichluß giebt das Spiel der Duſe über 
den Schluß des Dramad. Gewöhnlich jammeln jich alle, einfchlieglich 
Magdad, beitürzt und Fagend um den vom Schlage getroffenen und 
tterbenden Bater und der Bajtor Heffterdingk jpricht zu Magda die Schluß— 
worte: „E3 wird ihnen Niemand verwehren, an feinem Grabe zu beten“. 
Die Worte haben bisher immer den anderen Magda:Daritellerinnen gegen 
über als jinnloje und unangebradhte Verlegenheitsphraſe gewirkt. Die 
Duſe ipielt den Schluß jo: Zunächt merkt fie bei ihrer Erregung — jie 
iſt vor Erregung „außer Sich“ garnicht, was vorgeht. Dann 
verſteht fie, der Vater jei geitorben. Mechaniſch tritt fie zu und 
mechanisch redet fie den Todten an. Dann wankt jie weg, wie 
um hHinauszugehen, von dem vermworrenen Gefühl getrieben: hier, an der 
Stätte ihrer Schuld, darf jie mit den Anderen nicht vor der Leiche Enien. 
Uber nur wenige Schritte taumelt jie der Thür entgegen. Denn fällt fie 
zujammen, dem Pfarrer in die Arme, erjt jegt zur Bejinnung und zum 
Bewußtſein der Vorgänge gefommen. Und dann bricht jie in ein Weinen 
aus — ih wollte, dad Wort „herzbrehend* wäre noch nie gebraudt, 
um es jetzt für dag Weinen der Duje erfinden zu fünnen. Sie bricht 
niht nur dem Hörer zeitweilig das Herz, vor Allem ijt es das Weinen 
einer vom Scidjal nun wirklich endgiltig gebrochenen Seele: die triums 
phirende Magda ilt zur büßenden Magdalene geworden, der nur nod) der 
Trojt bleibt, anı Grabe des Todten zu beten. Ob fie etwa vor der Welt 
auch fernerhin noch Eängerin bleibt, ijt ganz ohne Belang; das ijt etwas 
rein Aeußerliches, Gleichgiltiged. Das innere Leben ihrer Seele ijt zum 
Abſchluß gekommen. — In der Daritellung der Duje ſinkt Magda den 
Piarrer Heffterdingt in die Arme, Das iſt nicht ohne innerjte und 
iymboliihe Bedeutung. Die Beiden gehören nämlich im Wejen und Leben 
ihrer Seele zujammen. Ich habe noch nie eine richtige Daritellung diejes 
Pfarrers gejehen, der eine der merkwürdigſten und interejjantejten Charaktere 
in der modernen Xiteratur ilt. Heffterdingk iſt von Haufe aus eine 
Natur, zum Befehlen bejtimmt, zum Genuß des Lebens begabt, voll 
Kraft und Freude. Und diefen Mann bejtimmt irgend eine Anlage 
oder Erfahrung der Seele, — nicht etwa feine Ansprüche auf Herrichaft 
aufzugeben — jondern dieje Herrichaft zu erweitern, indem er durd; Dienen 
berrfcht und mit der Kraft der Liebe jtatt der Härte des Schwertes jeine 
Gewalt ausübt. Er hat fich bei Zeiten freiwillig zu der Entjagung ent— 


172 Theater-orrejponden;. 


ichloffen, zu der Magda durch ein tragische Schickſal gezwungen wird. 
So taucht denn auch am Schluffe der „Heimath“ das Sudermann immer 
und immer wieder bewegende Problem auf, durch Entjagen und Dienen 
ein Freier und ein Herr zu werden. 


* * 
* 


.Rosmersholm“ hat Ibſen auf der Höhe ſeines Könnens als ſein 
vollkommenſtes Werk geſchaffen. An Tiefe und poetiſcher Stimmungskraft 
kommen ihm andere, nachfolgende ſeiner Werke, vielleicht gleich; aber die 
Tiefe wird immer dunkler. Rosmersholm dagegen enthält eine ſeltene Miſchung 
von Tiefe und Klarheit. Mit wenigen, aber unauslöſchlichen Linien ift diefe 
Tragödie gezeichnet, die Tragödie des menjchlichen Ydeald. Wir Menjcen- 
finder haben jchließlich doch immer ein und dafjelbe Ideal, danach unjere 
Seele ringt: es ift das Glüd. Und diefes Glüd, das wir erjtreben und 
nie befigen, iſt die fichere Ruhe unjerer Seele in ſich jelbit, die Zu: 
friedenheit, die Vollkommenheit. Auf zweierlei Weife könnte unjere Seele 
zu diefer Volltommenheit und diefer Ruhe in ich, diefer Abgeſchloſſen— 
heit und diefem Fertigjein gelangen. Die eine Weije ift die: „ich bin 
ich“, fühle mid nur als Individuum, arbeite an der Befriedigung 
meiner individuellen Lüfte mit Kraft und Raſtloſigkeit, unbekümmert 
um die Anderen, jenjeit3 von Gut und Böje. Und die andere Weile it 
jo bejchaffen: in jelbitlojer Liebe arbeite ich im Dienjte der Anderen, der 
Mitmenſchen, jorge unabläffig für ihr Glück und finde dabei zugleich mein 
eigenes. Individualismus und Sozialismus, Menſch und Mitmenih - 
das iſt ficherlich der jchroffjte Gegenfag, der das Menſchengeſchlecht qual— 
voll peinigt. Gerade der Edelite, Beſte, Tiefite, der Genialite hat zweifel- 
108 an einer Stelle der Seele da8 Gefühl figen: ich gegen euch Andere, 
was habe ich mit euch gemein, was wißt ihr von meiner Seele und ihrer 
Sehnjudt. Ebenjo aber hat aud) wieder diejer jelbe Edeljte und Tiefjte allem 
Lebenden gegenüber das Empfiuden: „das bijt du,“ und es giebt feinen Schmerz 
in der Welt, der nicht auch dein Schmerz iſt. Alſo heile die Schmerzen, 
lindere die Leiden der Anderen; das ijt dann dein Glück. — Rebekka 
Weit vertritt dad Prinzip und die Idee des Individualismus. Sie jtammt 
da irgendwoher aus dem Norden mit feinen hohen, zerklüfteten Bergen, 
wo die Menjchen abgetrennt und einfam leben. Sie iſt die uneheliche 
Tochter cines jeltiamen, unheimlich fjchrullenhaften Doktors Weit, 
deſſen Tochter und vielleiht auch deſſen Geliebte; jedenfall aber — 
und das ijt die Hauptiahe — ift fie ohne Familie, empfindet nicht 
die Heiligkeit der Familienbande, iſt ohne Herkunft, ohne Tradition, ein 
wildes, nur auf jich jelbit gejtelltes Geſchöpf, dad nur eine Rückſicht fennt, 
bie auf den Drang des Bluted und die Erfüllung der Lüfte. Sie kommt 
aus ihrem einjamen, wilden Berglande der Mitternachtsſonne in das 
friedliche Tiefland, darin die Menjchen neben einander wohnen und mitein- 


Theater-Rorreipondenz. 173 


ander jchaffen. Sie kommt in dad Haus des ehemaligen Pajtord Rosmer auf 
NRosmersholm in der bewußten Abficht, fich die Stelle zu erobern, die zur 
Zeit die noch lebende, aber kranke Paſtorsgattin Beate inne hat. — 
Rosmersholm iſt ein alter, vornehmer Landſitz, den dad Paſtorengeſchlecht 
der Rosmers jeit Jahrhunderten inne hat. Und immer bat fich dieſelbe 
Tradition von Familie zu Familie vererbt: arbeiten für das Glüd der 
Mitmenjchen, durch Opfer und Dienen eine Macht fein. Die Rosmers ver- 
treten die joziale Idee, das Prinzip der menſchlichen Gemeinſchaft. Sid) 
opfern, erfordert mehr Seelenfraft, als ſich durdjegen, und die Nothivendig- 
feit ded immer erneuerten Opferd zehrt an den Kräften, jodaß jchließlich 
der lebte aus dem Stamme der Rosmers ein edler aber ſchwacher Mann 
geworden ijt, diejer grübleriſche, ſchwärmeriſche Johannes Rosmer, dem 
fi) Rebekka mit der wilden Triebkraft ihrer Elementarjeele zugejellt. Und 
nun bejteht daS Drama in dem Gegenjpiel zwijchen Johannes und Rebelka. 
Diefe will jenen zu ihrer Anſchauung befehren, auf daß er ein freier, 
jelbitherrlicher Mann wird, der mit der Tradition der Vorfahren bricht, 
der ſich von den der Vergangenheit entnommenen Pflichten nicht mehr be— 
lajten läßt. Der opfjerungsfähige Johannes Rosmer wirft mit jeiner 
priejterlihen Anichauung wiederum auf Nebelfa ein. Im Prinzip und in 
der Theorie vereinigen jie Individualismus und Sozialismus zu der 
Syntheje: „Freie Adeldmenjchen,“ das jind ſolche, bei denen Willen und 
Sollen im Einklang jteht, bei denen Rückſicht auf ſich ſelbſt 
und auf Andere zujammenfält. Um an der Echaffung ſolcher „ireien 
Adelsmenſchen“ arbeiten zu können, müßte man an die ureingeborene Güte 
der Menigennatnr jelienfejt glauben. Das kann Rebekka nicht, weil fie 
von der Schuld ihrer Vergangenheit ſich belajtet fühlt. Und auch Rosmer 
fann es nicht, da er erfährt, daß das Wejen, das er liebt, Rebekka, mit 
Trug in jein Haus getreten und mit Faljchheit und Ränken ſich zunächjt 
bewußt in feine Seele eingejchlichen hat, um jich feiner und jeines Haujes 
zu bemächtigen. Rosmer müßte — jo meint er — eine That jelbitlofeiter 
Aufopferung jehen, um wieder den Glauben an die Menjchen zu gewinnen. 
Zu der That erklärt jich Rebekka bereit: jie will fich tödten, mit der Er- 
Härung: „Ih ſtehe unter der Macht der Nosmersholmjchen Lebens: 
anſchauung jetzt. Es gehört ſich, daß ich ſühne, was ich verbrochen 
habe.“ Dem gegenüber drückt dann auch Rosmer ſeinen Entſchluß zu 
ſterben aus mit den Worten: „Nun gut. Dann jtehe ich unter der Macht 
unjerer jrei gewordenen Lebensanſchauung, Rebekka. Es giebt feinen 
Richter über und. Und deshalb müfjen wir jehen, daß wir jelbjt Juſtiz 
üben.“ Das aljo ergiebt fich als Duintefjenz des Ganzen: Rebekka jällt 
der Sozialen Anſchauung der Rosmers anheim, und Rosmer der indivi- 
dualiftiichen Rebelkas. Sie wechjeln den Pla und geben damit den Boden 
auf, aus dem fie gewachſen jind. So bleibt denn als logiicher Schluß für 
das Leben diejer Entwurzelten nur der gemeinjame Tod. Einer jtirbt am 


174 Thenter-Korreiponden;. 


Andern, Rebekka an Rosmer, der Individualismus am Sozialismus — 
und umgekehrt. In dem Sinne fragt Nebelta zum Schluß: „a, aber 
vorher jag’ mir noch Eins: Gehft du mit mir, oder gehe ich mit dir?“ 
Darauf erwidert Rosmer: „Der Frage werden wir nie auf den Grund 
fommen.“ Nein, nein. der quälenden Frage werden wir jobald nicht auf 
den Grund fommen, wie jich IndividualiSmus und Sozialismus, Menſch 
und Mitmenfch zu einander verhalten. 

Um die beiden Hauptfiguren jind ganz wenige Nebenperjonen gruppirt, 
um das Problem heller zu beleuchten. Beate reicht nur noch aus dem Reid 
des Todes wie ein Gejpenjt hinein. Sie vertritt das Prinzip der Rosmers. 
das Prinzip der Selbjtaufopferung, bi8 zum äußerjten Extrem; fie tödtet 
fi) in dem von Rebekka genährten Wahn, dem Glücde Rosſsmers im Wege 
zu jtehen. Uber noch über ihr Grab hinaus reiht ihre Opferfäbigkeit: 
jelbjit um den Preis der Wahrheit jucht fie den geliebten Mann gegen 
etwaige ſpätere Angriffe ficherzujtellen; daher hat jie die Unterredung 
mit Kroll und jchreibt den Brief an Mortensgard. Der Reltor Kroll, 
Rosmerd Schwager, theilt im Prinzip die Lebensauffafjung der Rosmers. 
Nur was bei diejen Seele und Leben war, iſt bei dem Neftor zu todter 
Materie eritarrt. Das Brinzip der Ilnterordnung, das Wejen der Tradition 
faßt Kroll politifch-reaftionär auf und verwandelt es jo in jein Gegentheil, in 
reaftionären Despotismus. Ulrif Brendel verkörpert das reine, vollkommene. 
abjtrafte Ideal, das ſich durch nicht® im Leben verunreinigen läßt, am we 
nigiten durch die Lumpen, die dem armen Idealiſten zur Kleidung dienen. 
Für dieſes Ideal iſt an der Tafel des Leben fein Plat rejervirt. Peter 
Mortendgard, der Journalijt, ijt der Mann der Zukunft und des Erfolges. 
darum, weil er jih um alle dieſe Probleme und Ideale garnicht kümmert. 
Für ihn bedeutet daS Leben eine Reihe von Verhältniſſen und eine fette 
von Thatjachen, die man fennen, benußen und Ddirigiren muß. So bringt 
man e3 zu etwas. Die Dinge nehmen, wie ſie jind, wie fie jcheinen, und 
feine Tiefen und Gebeimnijje hinter den Dingen juchen — das ijt praktiſche 
Lebenstlugheit. Der Idealiſt Brendel mit der Alles umfaljenden und ver: 
jtchenden Seele kennt aud; Mortensgard gut: „Peter Mortendgard iſt der 
Häuptling und Herr der Zulunft. ch habe niemal3 vor dem Antlig eine 
Größeren gejtanden. Peter Mortensgard hat die Kraft zur Allmacht in fic. 
Er vollbringt Alles, was er will.... Denn Peter Mortensgard will nie mehr, 
al3 er kann. Peter Mortensgard ijt kapabel, das Leben ohne Ideale zu 
leben: Und ſiehſt du -- das ijt ja das große Geheimniß des Handeln: 
und des Siegens. Das ijt die Summe aller Weltweisheit.“ — 

Zum Schluß kann ich nicht umhin, auf eine Merkwiürdigfeit Hinzu: 
weijen, die fich mir während der Borjtellung aufdrängte. In gewijjer 
Weiſe jtedt nämlih in „Rosmersholm“ Hauptmanns Drama „Fuhrmann 
Henſchel“. Auch Henſchel iſt der milde, Hilfsbereite, juzial angelegte und 
ſchwache Mann, der an ein dem Drang jeiner wilden Triebe nachgebendes 


Theater-Korreiponden;. 175 


Weib Hanne gerathen ift. Auch diefe Hanne geräth in ein Haus, in dem 
die Frau frank ijt und es entiteht nachher das Gerücht, Hanne hätte durch 
gewifje jeeliihe Einwirkungen zu ihrem Tode beigetragen. Henſchels 
Schwager jpielt in dem Konflikt zwiichen dem Fuhrmann und Hanne eine 
Rolle, die der des Rektors Kroll fehr ähnlih it. Durch den Hinweis 
auf dieje Aehnlichfeit will ich natürlich nicht Hauptmanns Originalität im 
Mindejten zu nahe treten. Im Gegentheil: bei der Aehnlichkeit des Stoffes 
und der Gitwation wird gerade der fundamentale Unterjchied zwiſchen 
Hauptmann und Ibſen jo recht Har. Hauptmann geht in feinem Kunſt— 
ihaffen jicherlid vom Individuum, von einem bejtimmten Menjchen, 
vom Einzelleben, vom Einzelfall und von der Anſchauung ſolch eines 
Einzelfalled® aud. Den weiß er dann mit folder Zebenswahrheit und 
Lebendnothwendigfeit darzuitellen, das das Individuelle und PVereinzelte 
als durchaus und unablöslih zum Leben gehörig ericheint. „Das ijt 
da3 Leben“ — den Eindrud hat man ſchließlich. Das Vereinzelte 
und Individuelle als allgemeingiltig und typiſch darzuitellen -- darin 
fiegt die Hunt Hauptmanns. Umgelehrt verhält es jich bei bien. 
Ihm iſt der Sinn des Lebens eine dee und der Kampf der 
Menichen it der Kampf von Ideen, irgendwelden myjtiichen Mächten, 
die don den Seelen der Menſchen Bejig ergriffen haben. eine 
Kunſt bejteht darin, die Welt der Ideen individualifiren und mit Fleiſch 
und Blut umfleiden zu können. Das bewunderungswürdigite Beiipiel 
dafür iſt Ulrik Brendel. ch glaube, daß Ibſens Art doc) tiefer und weiter 
areift, wie die Hauptmannd. Wie weit der Stimmungsgehalt Ibſenſcher 
Kunft greift, jieht man auch darin, daß jchon Rosmersholm in der 
Grundlage die myſtiſchen Stimmungen enthält, die Maeterlind, der Modernite 
unter den Modernen, nachher virtuojenhaft weitergebildet hat. Ueber 
Ibſen find wir noch lange, ſehr lange nicht hinaus. 

In der Darftellung des „Teutjchen Theater“ jind Rektor Kroll 
(Hermann Niſſen), ganz bejonderd® aber Ulrik Brendel (Oscar Sauer) 
und Peter Mortendgard (Mar Reinhardt) volllommen zum Ausdrud ges 
bradt. Den Rosmer des Herrn Neicher fönnte ich mir in Maske und Art 
auch ganz anders denken. Er machte doch vielleicht mehr den Eindrud eines 
berühmten Naturforjcher3 oder Arztes, ald den des Paſtors aus einem 
uralten Boftorengeichlecht. Fräulein Dumont ijt eine vornehme und geijtvolle 
Künftlerin, zur Zeit vielleicht die erjte unjerer Berliner Bühnen. Aber ich 
glaube nicht, daß ihr jo Fomplizirte und gebrochene Charaktere wie der 
Rebelkas liegen. Die wilde Vergangenheit Rebekkas muß doch immer nod, 
au in der Läuterung, durchſchimmern; der Bruch der Seele, ihre Ent: 
wurzelung muß ganz deutlich werden. Dos Elementare und das eigen: 
thümliche jeeliiche Fluidum, das in Rebekka webt und zittert, beſitzt Fräulein 
Dumont nicht. Sie ift in manchen anderen Rollen vollendeter. 

Verlin-Stegliß, 22. 9. 99. Mar Lorenz. 


Politiſche Korrefpondenz. 


Die Bagdad-Cijenbahn. 


Diefer Tage beginnen der deutjche Generalfonful in Konitantinopel, 
Stemrid, und einige deutjche Bautechnifer mit ihm eine auf viele Monate 
berechnete Reife vom Bosporus nad) dem unteren Guphrat und Tiaris. 
Zwed der Erpedition iſt eine endgültige Unterfuchung der Terrainverhält- 
nijje ſowie der mwirthichaftlihen und allgemeinen Kulturbedingungen für den 
Bau der großen deutſch-türkiſchen Zentralbahn aus dem vorderen Kleinaften 
nad) Bagdad rejp. zum perfiichen Golf. Es handelt ſich dabei vor allen 
Dingen um die Wahl zmijchen verjchiedenen Routen. 

Gegenwärtig endet das deutſche Bahnjyftem in Anatolien in zmei 
parallelen Strängen an zwei direft nord-ſüdlich von einander gelegenen 
Stellen, Angora und Konia (Ikonium). Die Entfernung zwiſchen beiden 
beträgt in der Luftlinie ca. 250 Kijometer; beide liegen annähernd halb- 
wegs zwilchen der Weſtküſte Kleinafiens und der Linie, längs der die Halb: 
infel an dem aftatischen Kontinent mwurzelt. Es fragt fi erftens, ob 
zunächjt der nördliche oder füdliche Strang fortgefettt werden, und zweitens, 
welche Route die Bahn einjchlagen joll, fobald fie aus Kleinafien in das 
Stromgebiet des Euphrat und Tigris eintritt! ob fie in der Hauptjade 
dem nördlichen oder dem füdlichen der beiden Zwillingsftröme folgen joll. 
Die oben genannte deutſche Expedition wird ihre Reife vorausfichtlich fo 
einrichten, daß von den beiden in Betracht fommenden Hauptlinien die eine 
auf dem Hin-, die andere auf dem Rückweg in Augenfchein genommen wird. 

Um die Frage des ganzen großen Bahnbaues richtig zu würdigen, 
muß man Allem zuvor fich darüber Elar fein, was die Bahn eigentlich joll. 
Angenommen, fie ift von Smyrna—Konjtantinopel bis Bagdad oder Basra 
fertig, jo würde ihr zunächſt ja wohl ein gewifjer Antheil am durchgehenden 
Waarentransport vom perfishen Golf zum Mittelländifhen und Aegäiſchen 
Meere zufallen. Die Einnahmen hieraus können aber feine erheblichen fein, 
weil die großen und für die Frage der Nentabilität einzig in Betradt 
fommenden Tranfit-Gütermafjen aus Perfien und Indien der Billigfeit der 
Sciffsfraht megen jtetsS den Weg durchs Note Meer und den Suezfanal 
nehmen merden. Dagegen würde der Perſonen- und Poftverfehr nach Indien 
ihr mit Sicherheit weitaus zum größten Theil fi) zuwenden. Die Fahr: 
zeit von Yondon bis an die Euphratmündung via Wien—Konjtantinopel — 


Politiſche Korreiponden;. 147 


Bagdad betrüge fieben bis acht Tage, von Basra bis Bombay per Schnell: 
dampfer fünf bis ſechs Tage; man gelangte aljo von Wejteuropa aus in 
zwei Wochen nad Indien, während jest die Dampfer der Peninsular and 
Oriental Steam-Navigation Company über Suez und Aden in fechsund- 
zwanzig Tagen, aljo der doppelten Zeit, von Yondon nad) Bombay 
fahren.*) immerhin, jo wichtig der Beſitz des fchnelliten und kürzeſten 
Weges nah Indien auch ohne Zweifel ift: die finanzielle Renta— 
bilität der Bahn kann eine Ermerbögejellihaft — und das ift die 
anatoliche Eijenbahncompagnie — Darauf doch nicht gründen. Es ift 
aber ein Itrthum, wenn man annimmt, das erjtrebte Ziel liege haupt: 
jählich in der Richtung, fi in den Dienſt des Tranfitverfehrs zu ftellen. 
Es iſt von hoher Wichtigkeit für die Bedeutung und den Werth der 
Bahn, aber viel wichtiger und werthvoller werden diejenigen Güter fein, 
die in dem von der Bahnlinie durchzogenen Gebiet durch den Bau jelber 
gefhaffen werden jollen! Die Bahn mird Aleinafien, das nördlichſte 
Syrien und Mejopotamien überhaupt erjchliegen, fie joll und wird die 
Werthe erjt erzeugen, die fie hernach transportirt, jo wie das die großen 
amertfanijchen Transfontinentalbahnen gethan haben und vielfah noch 
heute thun. Das Yand, das jetzt wüſte liegt, jet es, meil feine Yeute 
da find, die es bewäſſern und bebauen, jei es, meil feine Möglichkeit 
bejteht, die Erzeugnifje, die es hervorbringen fönnte, dorthin zu fchaffen, 
wo fich gute Verwerthung für fie bietet — das Yand ſoll eine Yebens- 
und Verkehrsader erhalten, auf der Menjchen, Unternehmungen, Senntnijie 
und Kapitalien hinein» und die Produkte, die dann erzeugt werden, wieder 
herausftrömen! Das und nichts Anderes tft die eigentliche Bafis, auf die 
der Bahnbau mwirthichaftlih fundirt werden ſoll und fraglos fundirt 
werden fann. Weizen, Bich, Wolle, Baummolle, Seide, Del, Wein 
fönnen um ein Vielfaches mehr in den Gebieten erzeugt werden, die durch 
die Bahn erſchloſſen werden follen und ſie werden es mit Sicherheit, 
jobald ihre Erzeugung Gewinn bringen wird. Allerdings gehört dazu 
neben dem Bahnbau auh ein gewiſſes Mindeſtmaß an Verftändigkeit 
feitens der türfiihen Behörden in Steuer: und Verwaltungsjahen — aber 
unter deutjhem Einfluß wird man auch hierin auf das unbedingt Noth: 
wendige hoffen dürfen, zumal die türkifche Regierung ſelber finanziell dabei 
nit am jchlechtejten fahren wird. 

Man fönnte fragen, ob nicht die großen technischen Schwierigkeiten 
und Die zmweifelloje Spärlichfeit der jet vorhandenen Bevölkerung dennoch 
itarfe Zweifel an den finanziellen Ausfichten der Bahn rathjam erjcheinen 
lafjen.**) NKeineswegs. Natürlich kommt es fehr darauf an, welche Route 
gewählt wird, aber es fteht außer Frage, daß man ohne Schädi— 
gung anderer erheblicher Intereſſen eine ſolche einichlagen fann, Die 
feine unüberwindliden Schwierigfeiten bietet. An einer Stelle muß 
freilich das gewaltige Taurus-Gesirgsinftem überjchritten werden, das Die 
Flußgebiete des Schwarzen von denen des Mittelmeers und des Perfifchen 

*) Ueber Brindifi werden allerdings 4—5 Zage geipart. 
’*) Bol. den Artikel „Die Bahn Angora:-Bagdad“ in der „Zäglihen Rund— 

ſchau“ vom 21. Sept. 99. 


Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 1. 12 


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178 Politiſche Korreſpondenz. 


Golfes ſcheidet, aber dieſe Aufgabe iſt garnicht ſo ſchrecklich. Von dem 
berühmteſten, zwei Tagereiſen langen Tauruspaß, den Pylae Giliciae, kann 
ich z. B. aus eigener Anſchauung verſichern, daß er viel mehr romantiſch 
iſt, als für eine Eiſenbahn ſchwierig; nur am Nord» und Südeingang ſind 
längere enge Felſendefileen. Während die Kammhöhe zu beiden Seiten 
bis 3000 Meter anſteigt, liegt die Paßhöhe am Gülek-Boghas, der ſchwie— 
rigſten Stelle, nur 1390 Meter hoch. Der Brenner iſt noch 100 Meter 
höher und hat einen offenen Bahnübergang, ohne Tunnel. Schwieriger joll 
der Uebergang zwilchen Charput und Diarbefir, noch jchlimmer der in der 
Richtung von Kaijarie (Cäfarea in Cappadocien) auf Marajch fein, wo Taunus 
und Antitaurus zu überjchreiten find. Was aber die geringe Dichte der 
Bevölkerung angeht, jo trifft dieſe Beobachtung erjtend nur für den bei 
weitem kleineren Theil der projeftirten Strede zu, und zweitens wird ja eben 
der Bahnbau die Folge haben, daß die Bevölferungsmenge reifend zunimmt. 
Selbjt wenn man Amerika hier als Beifpiel nicht heranziehen will, jo wird 
man doch gelten lajjen müſſen, was fich jett in Sibirien längs der neuen, 
ja noch garnicht vollendeten Pariſerbahn zeigt: Anſiedlungen, Städte und 
Dorfihaften, Nderbau und Gewerbe, entmwideln ſich zur eigenen Ueber: 
rafhung der Ruſſen mit ungeahnter Schnelligkeit längs dem vorwärts: 
rüdenden Scienenjtrange. 

| Eine andere Seite der Sache aber — und eine mindejtens cbenjo 
‚ entjcheidende, wie die wirtjchaftlihde — iſt die politische. Namentlich 
‚ handelt es jih um Nufland. Wird Rußland es zugeben, daß mir ein jo 
großes und politiich jo immens wichtiges Gebiet, wie es die Bagdadbahn 
durchziehen joll, ſelbſt nur wirthichaftlih unterwerfen? Vor zehn Jahren 
hätte Rußland fid) uns vielleicht no um jeden Preis entgegen geftellt — 
heute wird es das ficherlich nicht thun, wenn wir nicht in feine natürlice 
Intereſſenſphäre innerhalb der Türkei eingreifen. Rußlands Lebensintereſſen 
liegen heute nicht mehr im nahen, fondern im fernen Orient, in Lit 
und Südafien. China und Werfien find ihm heute wichtiger, als die 
Türkei; dort handelt es fih ihm um die großen Ziele jeiner Weltpolitik, 
hier nur mehr darum, daß Feine ſolche Verſchiebung der Beſitz- und Madt- 
verhältnijje eintritt, daß es militärisch von diefer Seite her leicht gefördert 
reſp. in Schady gehalten werden fann. Cine fremde Maht kann Rufland 
unter feinen Umſtänden dulden: erjtens an den türkischen Meerengen, 
zweitens auf dem Plateau, das die Südufer des Schwarzen Meeres be 
herrjcht, und drittens nördlich der armenifchen Taurusfette und des perſiſch— 
furdifchen Grenzgebirges auf den Hocländern am oberen Euphrat und um 
die großen Salzieen von Wan und Urmia. Der Bospurus, Sinope, 
Trapezunt, Siwas, Erjerum und Wan find Rußland gegenüber, wenn 
einmal eine außertürkische Macht in dieſen Yändern Fuß ſaſſen jollte, 
noli me tangere. Da eine dereinftige Auftheilung der Türkei doc immer- 
hin das Wahrjcheinliche iſt, Rußland dann aber um feiner eigenen Sicher: 
heit willen mit Nothmwendigfeit die Hand auf das ganze Gebiet nördlich 
von der YinieDardanelfen — Kaifarie — Diarbefir — Moſul legen wird, jo kann es 
jelbjt rein mirthichaftliche Unternehmungen Deutſchlands innerhalb vieler 
feiner Intereſſenſphäre faum anders als ungern jehen. Andererſeits haben 
auch mir nur ein mäßiges Intereſſe daran, Bahnbauten in Ländern zu 


Politiihe Korrefpondenz. 179 


arrıternehmen, die früher oder fpäter mit einer gewiſſen Naturnothwendigkeit 
irn Die Hände einer wirthſchaftlich wie politiich fo autonomen und auto- 
fratifhen Madt fallen, wie es Rufland ift. Der Sultan foll allerdings, 
eben um feine militärijche Stellung gegenüber Rußland zu verbefjern, den 
dringenden Wunſch hegen, daß eine Bahnverbindung zwiſchen Angora und 
Erjerum hergejtellt wird (über Josgad-Simas-Erfingjan) aber man fann 
ficher jein, ſolange Rußland irgend in der Yage ift, diefe Strede, ſei es 
mit melden Mitteln es wolle, in Konjtantinopel zu hintertreiben, daß aus 
Diejem Projeft nichts wird. Wirthfchaftlich ift es überdies von allen in 
Betracht fommenden eins der unrentabeljten. 


Mit diefen Erwägungen ift gegeben, daß unjer Bahnbau ſich jo weit | 


wie möglich jüdmwärts hält. Ich fage „ſoweit wie möglich“, denn, wie 
bereits betont, iſt die ſchließliche Rentabilität, und damit die Wahrjcheinlichkeit 
der Ausführung überhaupt, nicht unabhängig von der Wahl der Trace. 
Hauptlählid fommen nun folgende Möglichkeiten in Betraht. 1. Die 
Angoralinie wird ziemlih gerade ojtwärts über Siwas — Malatia — 
Charput nah TDiarbefir und von dort weiter nah Moful und Bagdad 
geführt. Diefe Route wird bis furz vor Diarbefir in die angenommmene 
ruſſiſche ntereffeniphäre fallen. 2. Die Honialinie wird über Eregli und 
durch die Pylae Giliciae auf Nintab, Biredjhid am Cuphrat und Urfa 
auf Diarbefir zu gebaut — und dann meiter wie oben. 3. Die Angora- 
und die Kontalinie vereinigen fid) etwa bei Kaiſarie, und die Bahn geht dann 
zunädjt über den Antitaurus nach Malatia, von dort weiter wie oben. Dieſe 
Route dürfte die Eoftjpieligite fein. 4. Die Konialinie wendet fi) nach dem 
Durchgang die Pylae Gilicien auf Adana in Gilicten und Aleppo, vielleicht mit 
einem Dampftrajeft über den Golf von Nöfenderun, und folgt jenfeits 
Aleppo direfi dem Euphrat ftromabwärts bis in jein Mündungsgebiet. 
Diefe lettere Trace hat das gegen fi, daß fie fajt von Aleppo bis 
Bagdad dur ein Gebiet führen würde, das weder angebaut noch über: 
haupt je in nennenswerthem Mafe anbaufähig gemejen iſt rejp. jein wird. 
Ein Zurüdweichen vor ruffiihen Prätenfionen bis auf dieſe — rein ted)- 
niſch wohl bequemfte — allerfüdlichfte Yinie dürfte aljo wohl aus dem 
Grunde zwecklos erjcheinen, weil hier die finanzielle Rentabilität mit ziem— 
liher Wahrjcheinlichfeit nicht mehr vorhanden iſt. 

Zmwifchen den vier genannten Möglichkeiten find noch verjchiedene 
Theilftombinationen möglich, die aufzuzählen hier wohl zu meit führen 
würde. Zunächſt wird man in Betreff der ragen Wo? und Wie? am 
Beiten thun, die Nüdkehr der Stemrichjchen Reiſegeſellſchaft abzuwarten. 
Auch auf die verjchiedenen Transaktionen, die bereits zwiſchen der deutjchen 
Geſellſchaft und Engländern rejp. Franzofen in Betreff des Anſchluſſes 
der deutichen Bahnen an die im vorderen Anatolien bereits bejtehenden 
fremden Linien ftattgefunden haben, gehe ich nicht ein — ebenjowenig auf 
die naheliegende Frage, ob und welche politifhen Gründe dabei mitgewirkt 
haben, daß der Weiterbau der Angoralinie jolange geftodt hat und dafür 
der füdlicher gerichtete Vorſtoß bis Konia fo energijch betrieben worden tft. 
Eines aber muß gejagt und mit aller Bejtimmtheit immer und immer 
wiederholt werden: Die Bagdadbahn joll und muß gebaut, und 
fie muß bald und in der Hauptjadhe von uns gebaut werden! 


12* 


— — 


180 Bolitiſche Korreſpondem. 


Ohne den Bahnbau iſt vorauszuſehen, daß die deutſchen Kräfte, die jetzt 
verſchiedene Unternehmungen in der Türkei ins Auge faſſen wollen, ſich 
hierher und dorthin nach verſchiedenen Orten zerſplittern, und wenn es 
dann einmal zu einer Liquidation der türkiſchen Maſſe kommt, dann ſitzen 
wir an hundert verſchiedenen Stellen über die ganze Ländermaſſe bin zer— 
jtreut, in die fih drei, vier Mächte theilen jollen. Die ganze Türfei 
fönnen wir nicht befommen, weder in einem nod im andern Sinne, alſo 
müffen wir von vorneherein dafür jorgen, daß mir uns eine großes, zu 
jammenhängendes Stüd mit feſtem mwirthichaftlihem Rüdgrat — eben der 
Eiſenbahn von Megäiſchen Meer zum perfiihen Golf! — aus ver Ge 
jammtmafje heraus fichern. Für die Einjegung großer, in der Heimat über: 
ſchüſſiger deutſcher Kräfte im Orient gemährt diefes Eijenbahnunternehmen 
allein eine Grundlage, "Die hinreichend breit und ficher ift und dazu eine 
dauerhafte und fortjchreitende Entwidelung verbürgt. Die deutjche, von 
der Bahn durdhzogene, erjchlofiene und zufammengehaltene nterejieniphäre 
würde folgende Gebiete umfaſſen: 

I. Sübdfleinafien, 200 000 Quadratkilometer mit 3—31/. Mill. Einw. 








2, Nordigrien, 70 000 [73 "„ —1 „ ’ 
3. Mefjopotamien, 260 000 .. „ 1a on 5 


zufammen 530 000 Quadratkilometer 

mit ca. ſechs Millionen Einwohnern, ein Gebiet, ziemlih fo groß wie 
Deutihland. Daraus fann man entnehmen, welcher Zukunft die Yänder 
der Bagdadbahn fähig find. Um Feiner Utopien geziehen zu merden, füge 
ih hinzu, daß allein das alte Babylonien, die Landſchaft am unteren 
Euphrat und Tigris, zur Zeit des Perjerreihes nicht weniger als ein 
Drittel der Steuerfraft des ungeheuren Geſammtreichs bejaf! 
Die Wiederkultivirung Babyloniens ift eine Frage, die außerhalb dieſer 
Erörterungen bleiben muß, aber jelbjt abgejehen von dieſem ferniten Ziele 
hängen für uns an der fchleunigen Inangriffnahme der Bagdadbahn jo 
unermefliche jnterefjen, hängt daran ein jo gewaltiges Stüd unjerer zu: 


' fünftigen Weltjtellung, des größeren Deutjchland über dem Meere, daß es 


Thorheit und Kurzfichtigfeit wäre, ja ein Verbrechen an der Zukunft unjerer 
Nation, wenn durch unfere Verfäumnif Fremde dieſes Unternehmen an ſich 
brächten! Paul Rohrbad. 


Die Mafregelung der Beamten- Abgeordneten. 
Transvaal. Die Piyhologie des Dreyfus-Prozeſſes. 


Als ich unjere vorige Monatöbetrachtung über die innere Politik 
unter den Wirkungen des Kanal-Streits abjchloß, jagte ih, daß man von 
unjerm Standpunft mit dem Ergebniß ganz zufrieden jein könne: der 
Ranal jelbit, der uns als ein ſehr fragwürdiged Unternehmen ericeint, 
ward abgelehnt und die darüber entitandene Spannung zwiſchen der 
Regierung und den Konfervativen erichien und für das allgemeine In— 
terejje fürderjam. Seitdem hat jich meine Auffaffung etwas verändert. 


Bolitifhe Korrefpondenz. 181 


Als ich jene Worte jchrieb, waren die Mafregelungen der beamteten 
fonjervativen Abgeordneten noch nicht heraus und diefe Wendung erfüllt 
mich mit Beſorgniß. Die Chance, daß der Kanal nunmehr durchgejegt 
werden fönne, ift dadurch gewiß nicht verbejjert. Es it ja möglich, daß 
man endlich eine Majorität im Abgeordnetenhauje gewinnt, indem man 
in die Vorlage eine Menge Kompenjationen, namentlich für Schlefien, hin: 
einnimmt, die die Abgeordneten diejer Yandestheile hiniiberziehen. Für 
fonjervative Abgeordnete aber iſt ein jolcher Uebergang jetzt jedenfalls jehr 
erihivert und die gemaßregelten Landräthe und Negierungspräjidenten 
fönnen am allenwenigjten eine veränderte Weberzeugung zum Ausdruck 
bringen, ohne fich dem jchnödejten Verdacht auszufegen. Da wir gegen 
den Kanal jind, jo würde uns das nicht weiter grämen. Aber die Maß- 
regelungen jelber bedeuten in der Gejchichte des preußischen Konſtitutionalis— 
mus einen verhängnißvollen Abjchnitt. Eine der jchönjten Traditionen aus 
der Zeit des abjoluten preußischen Königthums war die unabhängige Ge— 
finnung, die dem Beamtentyum, man darf jagen, gejtattet wurde. An ſich 
it ja der Beamte nur Organ des höchjten jouveränen Willen® und in 
Frankreich würde jich Niemand vorjtellen können, daß der Präfeft eine 
andere Anficht haben fönne als jein vorgejegter Minijter. Das fichert 
eine prompte Verwaltung, wie jie frankreich auch immer gehabt hat. Aber 
es tödtet in dem Beamten die jelbjtändige PBerfönlichkeit und macht aus der 
ganzen Bureaufratie einen leblojen Mechanismus. Eine gewiſſe Selbjtändig- 
feit innerhalb des Beamtenthums ijt ein jo hohes moraliiches Gut, daß jelbit 
Schwierigkeiten, die dadurd bei der Ausführung der Verordnungen ent= 
ftehen, gern in Kauf genommen werden müſſen. Das bat jchon der 
herriſche Friedrih Wilhelm J. erkannt, der in jeinen Dienjtreglements 
immer wieder darauf zurüdtommt, die Beamten jollten ihm ihre ab- 
weichende Meinung frei und offen jagen, denn, fügt er hinzu, „Wir find 
do Herr und König und können thun, was Wir wollen.“ So war es 
auch möglich, das Landrathsamt zu jchaffen, das allein Preußen eigen- 
thümlich ijt und ſonſt in der Welt nirgends erijtirt. Denn der Yandrath 
joll nicht reiner föniglicher Beamter, jondern zugleich Vertrauensmann 
jeines Kreiſes ſein. Daher hat er den Namen, der den Gegenſatz bildet 
zum „Hofrath“. Die Näthe, die den brandenburgiichen Kurfürſten dom 
„Lande“ beigegeben wurden, haben in ihrem uriprünglichen Charakter etwas 
von Abgeordneten an ji und es entjprad) daher durchaus der hijtorifchen 
Entwidelung, daß man, obgleich ihr Beamtencharakter allmählid) immer 
jtärfer geworden ijt, ihmen dennoch die Wählbarkeit für die Volksvertretung 
ließ und die Kreiſe jie fogar oft mit Vorliebe deputirt haben. Daß ein 
gewiſſer Widerſpruch darin liegt, ijt unbejtreitbar. Der Beamte, namentlic) 
der Verwaltungsbeantte, der zugleich Abgeordneter ijt, hat zwei Herren zu 
dienen: dem Willen von oben und dem Willen von unten. ber da zulegt 
doch alles Heil des Staates darauf beruht, daß Ddieje beiden Willen ſich 


182 Politifhe Korreſpondenz. 


immer wieder zu einem einzigen zujammen finden, jo ilt es bis heute 
möglich geblieben, den formellen Widerjpruh zu überwinden. Die 
Regierung war tolerant, die Landraths-Abgeordneten behandelten etwaige 
Oppoſition im einzelnen alle mit dem nöthigen Takt. Als ich jelbit 
Mitglied des Abgeordneten-Hauſes war, war der Landrath von Rauchhaupt 
der Führer der fonjervativen Fraktion und ic) jagte mir damals öfter, 
mich in den Hijtorifer der Zukunft verjegend, daß e3 einmal als ein Aus- 
drud der bejonderen Großartigfeit des preußiſchen Staatsweſens betrachtet 
werden würde, wie ein Beamter der vierten Rangklaſſe mit joldher Selb— 
jtändigfeit und freimüthiger Kritik feinen vorgejegten Minijter als Macht 
gegen Macht gegenübertreten fonnte, ohne dab doch das feite Knochengerüft 
der Subordination, dejjen der Staat bedarf, dabei irgend welchen Schaden litt. 
Nod Herr von Bennigjen hat als Oberpräfident den Widerjtand gegen 
das Zedlitz'ſche Volksichuggefeg geführt und die Allianz feiner Partei mit 
der radifalen Oppofition dagegen angedroht und das war eine nicht bloß 
praftifchwirthichaftliche, jondern eine Frage fundamentaler Prinzipien. 
Jetzt ift dergleichen für alle Zeiten vorbei. Das Minijterium Hohenlohe: 
Miquel-Recke-Poſadowsky hat aus unjerem Staatöwejen eine Kraft aus— 
gejchaltet, die nie wieder erjegt werden fann. Die preußijchen Verwaltungs: 
beamten jind zu bloßen Präfekten berabgedrüdt. Wenn bei den nächſten 
Wahlen jür Yandtag oder Neichdtag Beamte aufgejtellt oder gewählt werden 
jollen, jo weiß man von vornherein, daß ſie nichts als Regierung: 
fonımifjare jein werden und wollen. Cine der jtärfiten Stüßen der 
föniglihen Autorität in Preußen, das Vertrauen, daß nit blo aus 
äußerem Gehorjam, iondern mit wahrer innerer Zujtimmung die politiiche 
Intelligenz, die in unjerem Beamtenthum ſteckt, die Regierung unterjtüge, 
diejed Vertrauen ijt für die Zukunft unterbunden und muß abjterben. 
Am deutlichjten wird das hervortreten in dem veränderten Charakter 
der Eonjervativen Partei. Sie war immer nur eine halb-jelbitändige, 
halb:gouvernementale Partei. Die vielen Beamten in ihr hielten jie in 
jteterenger Fühlung mit der Regierung. Hierauf wejentlich beruht ihre politijche 
Tüchtigfeit und Kraft. Jede Partei hat gewiſſe ertreme, fanatijche Ele 
mente und fann jie für die Wirkung auf die Mafjen auch kaum entbehren. 
Auch die Mittelparteien, wie die nationalliberale, jind keineswegs ohne 
jolhe feidenichaftlihen und extremen Tendenzen. Es fommt nur darauf 
an, daß nicht diefe, jondern die bejonnenen und ſtaatsmänniſchen Elemente 
die Oberhand und die Führung behalten. So haben, auch nachdem eine 
heftige Aufwallung unter den Konjervativen Herrn von Helldorff heraus— 
ichleuderte, do die klugen Rechner unter ihnen die Agrar-Demagogen 
immer einigermaßen in Schranken gehalten. Das wird in Zukunft faum 
noh möglich fein. Die Beamten jcheiden aus, und die Konjervativen 
werden eine materielle Klaſſen-Vertretung gewiljer Schichten, grade mie 
die Sozialdemokraten auf der andern Seite. Bisher muß man freilich 


Politiſche Korreipondenz. 183 


gejtehen, Hat ſich das noch nicht gezeigt. Mit außerordentlihem Takt und 
höchſter Zurüdhaltung, ohne ſich dabei irgend etwas zu vergeben, hat die 
fonjervative Preſſe ihre Sache geführt. Aber ich glaube faum, daß fie 
diefe Haltung wird behaupten können. Die natürliche Leidenjchaft der 
Wählermaſſen wird endlich alle Schranken durchbrechen. 

Unter dem reinen Bartei-Gefichtöpunft fünnte man dieje Entwidlung 
mit einer gewiſſen Schadenfreude anfehen. Was iit zulegt der Sinn des 
Ganzen? Die Regierung hat, um die formelle monarchiſche NMutorität zu 
jtärfen, gewiſſe lebendige politische Kräfte, die ſich ihr augenblidlich uns 
bequem eriiejen, gewaltjam aus dem Wege geräumt. Das it nicht? ala 
die neue Anwendung einer Methode, nad) der jchon lange bei uns ge= 
arbeitet wird. Auf demjelben Blatt jtehen die Umijturzvorlagen, Die 
Majejtätsbeleidigungs:Trozefje. der dolus eventualis, der grobe Unfug, 
die Disziplinarprozejje gegen Bürgermeijter, Ortsichulzen und afademijche 
Lehrer — alles daS haben die Klonjervativen jtet3 (vielleicht einzelne Fälle 
außgenommen) gebilligt und vertheidigt: nun hat es endlich einmal bei 
ihnen jelber eingejchlanen. Perſönlich haben fie faum ein Necht, fich zu 
beflagen, aber wer auf den Ruhm, die Größe und da3 Heil Preußens 
jieht, der muß jich, welcher Partei er auch angehöre, darüber betrüben, 
und es ijt ein Zeichen jenes Fanatismus, von dem wir fagten, daß er 
auch bei den Mittelparteien erijtire, wenn nationalliberale Blätter wie die 
National: Zeitung und die Kölnische Zeitung ihren Liberalismus und das 
fonftitutionelle Verfafjungsreht jo weit vergeſſen fonnten, die Maß— 
regelungen, weil jie gegen Konjervative gerichtet jind, zu billigen. 

Sch wiederhole nod) einmal, eine gewijje Spannung und Trennung 
zwiichen den Konjervativen und der Regierung it in unjern Augen keines— 
wegs etwas Verwerfliches, jondern im Gegentheil zur Zeit jehr wünſchens— 
wert. Aber die Art, wie der Konflikt herbeigeführt worden ijt und der 
Gegenjtand, an den er anknüpft, fcheinen mir jo unglüdlich wie möglid) 
gewählt. Selbit diejenigen, die den Nanal-Bau aus innerjter Ueberzeugung 
für ein Kulturwerk halten, die mit Enthujiasmus von dem Segen jprechen, 
der von ihm ausgehen joll, fie werden doch nicht glauben, daß in all den 
Provinzen und Landſchaften, die an diefem Segen feinen Theil haben 
jollen, ji eine ftarfe Stimmung für ihn und deshalb gegen die Konſer— 
vativen hervorrufen lafjen werde. Mag der Kanal endlich im AUbgeordnetens 
Haufe angenommen werden, in weiten Landjtrichen wird immer ein jtarfes 
Vorurtheil gegen ihn bleiben, das der konjervativen Partei zu Gute fommt. 
Nun giebt es aber einen andern Gegenjtand, wo die wirthichaftlicherüc 
jtändigen Anſchauungen der Konfervativen nicht bloß jcheinbar oder viel- 
leiht, jondern ganz ficher dem allgemeinen Intereſſe hindernd in den Weg 
treten werden und überwunden werden müſſen. Das ijt die Erneuerung 
der Handeläverträge, über die in ein oder zwei Jahren der Kampf entbrennen 
wird. Hier war fchon längjt vorauszufehen, daß einmal ein Zulammenjtoß 


184 Politiſche Korrefpondenz. 


zwijchen der Negierung und den Slonfervativen erfolgen müfje. Hier war aud 
eine Parole gegeben, die Alles, was nicht wirklich extrem-agrariſch ijt, um bie 
Regierung gejammelt hätte. Der Kanal-Kampf jtärkt nun die Stellung der 
Konjervativen im Lande fo jehr, unterjtügt die Meinung, daß unfere Wirth— 
ichaftspolitif auf Koften der Landwirthichaft arbeite, in jo weiten Kreiien, 
rujt den Gedanken, daß der Opfer, die die Landwirtbichaft gebradt, num 
genug jeien, jo jtarf hervor, daß der Kampf für die Handelöverträge da- 
durch äußerſt erjchwert werden wird, 

Hätte die Negierung umgekehrt, jtatt die Gewaltmaßregeln gegen die 
Beamten zu ergreifen und den faſt hoffnungslojen Kampf für den Kanal 
fortzufegen, ruhig einen Schritt zurüdgethan, zunächſt die Kanalſtrede 
DTortmund— Rhein von einer Privat:Gejellihaft bauen lajjen, nnd das 
gute Verhältniß zu den Konfervativen aufrecht erhalten, jo wäre jie in 
eine vortrefflihe Poſition gekommen und hätte alle übermäßigen 
agrariichen Anjprüche jtet3 mit dem Hinweis auf die Nachgiebigfeit in der 
Kanal-Forderung abgejchlagen und dabei alle bejonnenen Elemente auf 
ihrer Seite gehabt. Nun iſt die Situation fo verfahren, wie möglid. 
Unfere Liberalen bieten weder nach ihren Ideen, noch nach ihrem Perjonal: 
beitand Die Kraft, auf die die Negierung ſich jtügen fann; aus guten 
Gründen jcheut dieje jich, mit den Konſervativen völlig zu brechen und doch 
fann ſie, da wegen der Handelsverträge der neue Stonflift bereits am 
Horizont jteht, jich nicht wieder mit ihnen vertragen. Was wird werden? 

Ueber den Nüdtritt des Minijterd des Innern, Herrn von der Nede, 
ijt nichts zu jagen und über den des Kultusminiſters Herren Bojje möchte 
ich nicht3 jagen. 

* * 

Der Hintergrund, auf dem ſich der Haager Friedenskongreß abſpielte, 
war der eben vollendete Krieg zwiſchen Nordamerikla und Spanien; nun: 
mehr wird das große Humanitätswerf auch in die rechte Beleuchtung ge: 
bracht durch das heraufziehende Gewitter: Gngland—Transvaal. Wer 
nun noch nicht einjieht, daß es die Despoten find und der Militarismus, 
die die Welt mit der jurchtbaren Kriegsgeißel heimjuchen und daß man 
die Völker nur mit parlamentarischen und demofratijchen Verfafjungen 
zu beglüden braucht, um die Menjchheit von der Kriegsfurie zu befreien, 
dem ijt nicht zu helfen. Oder iſt es nur die abnorme Bosheit gerade 
dDiejer beiden Völker, der Amerikaner und der Engländer, die alle Vernunft 
zu Schanden madt und die Welt in die Kriegsgreuel jtürzt? ch möchte 
den Friedenspredigern vorjchlagen, fich wenigjtens in Deutichland auf dieſe 
Hilfsargumentation zurüdzuziehen; jie werden ſich dadurd, wenn aud 
nicht die Friedensidee zum Siege führen, doch in weiten Kreiſen Sympathie 
erwerben. Man Hat heute in Deutjchland weder für die Nordamerifaner 
noch für die Engländer viel übrig und das Vorgehen gegen Transvaal 
ericheint als die brutale Vergewaltigung eines Kleinen durch einen Großen. 


Bolitifhe Korrefpondenz. 185 


Wir wollen offen gejtehen, dat wir die Sache nicht jo anjehen können. 
Wenn ed denkbar wäre, daß ſich ganz Südafrifa von England loslöſte 
und ein unabhängiges, holländijches Staatsweſen bildete, daS im derjelben 
Weiſe ſich geiltig an das Mutterland anfchliegend, wie Nordamerika an 
England, die Sphäre der niederländischen Nationalität, Sprache und Kultur 
erweiterte, jo würde uns das mittelbar auch für Deutjchland ald ein Ge— 
winn erjcheinen. Nicht weil wir den Niederländern nah Raſſe und Sprache 
näher stehen al$ den Gngländern, jondern weil es ganz generell 
unſer Intereſſe ijt, zwiichen Gngländertbum und Ruſſenthum möglichſt 
viel anderen Rulturvölfern, jeien es Niederländer oder Italiener, Franzoſen 
oder Dänen, Raum zu gönnen, und unjere eigene zukünftige Weltjtellung 
auf der Anlehnung an eine jolhe Reſerve von weiteren kleinen und 
großen Nativnalitäten beruht. Aber der Gedanke, daß Südafrika in diefer 
Weiſe niederländijch werden fünnte, ijt eine Utopie. Wenn auch England 
jest im Bejig des zweiten Wege: nach Indien ift, und alle Etappen, 
Gibraltar, Malta, Egypten, Aden fejt in der Hand hat, jo fann es ji 
dod) aud) die Station am Kap niemald nehmen laſſen. Es würde 
den größten und erichöpfenditen Krieg deßhalb führen und es denkt 
ja auch Niemand an eine jolde Umwälzung. Wenn dem aber jo 
it, jo haben wir zu fragen, ob wir ein bejonderes Intereſſe daran haben, 
daß die beiden unabhängigen Buren-Republiken bejtehen bleiben. Man 
denkt zunächſt: jelbjtverjtändlich; jo ift doch der Ausbreitung des Engländer: 
tbums eine Schranke gejegt. Aber eine nähere Ueberlegung, glaube ich, 
jeigt, daß dieſe Echrante, jo wie fie jeßt ijt, feinen Werth hat. Dieje 
Burenitaaten find ein eigenthümliches Gebilde, das man mit dem höchiten 
Wohlwollen betrachten kann, wovon man aber nicht erwarten und faum wünjchen 
fann, dab es bejtehen bleibe. Der jtrenge vollsthümliche Calvinismus 
des jiebzehnten Jahrhunderts ijt das einzige Kulturelement, das dieje aus— 
gewanderten Söhne Europas mitgebracht und bewahrt haben und das fie 
abhält, wieder in die abjolute Barbarei de3 germanischen Urmwaldes zurüd- 
zujinfen. Sie haben fein höheres Echulwejen, faum eine Schriftipradhe. 
Das jchlechthin Unentbehrlicdye an etivas höherem Menſchenthum müſſen jie, 
unfähig, es jelber hervorzubringen, aus dem Mutterlande beziehen. Auf 
fich jelbjt beichränft, hätte das biderbe Völfchen fein Stillleben noch lange 
fortiegen fünnen. Durch den Zufall aber, daß die Goldfelder auf jeinem 
Gebiet entdedt jind hat fich eine große modern-europäiſche Kolonie unter ihnen 
aufgetdan und hieraus ijt der Konflikt entiprungen. Die Buren wollen 
der Herrenjtand in ihrem Lande bleiben, die Einwanderer, die wohl häufig 
moraliſch inferior, kulturell aber und namentlich wirthichaftlich weit überlegen 
find, dauernd als bloße Gäjte behandeln, ihnen feine politifchen Nechte 
geben und fie dabei mit Hilfe ihrer Gejege möglichit ausnutzen. Es iſt 
ganz Kar, daß das auf die Dauer ein jchlechterdings unhaltbarer Zuſtand 
it. Es iſt unmöglich, daß in Kolonialländern die uriprüngliche Ein— 


186 Politiſche Korrefponden;z. 


wandererjchicht alle jpäteren präffudirt. Wir haben hier einen von den 
zahllofen Fällen, wo man mit dem formalen Recht nit durchlommt. 
Die erjte Einwanderungsschicht ſetzt feit, was Rechtens iſt, die jpäteren 
Einwanderer aljo haben ſich dem Necht des Staated, in den fie ſich be 
geben, zu unteriverfen. Gonz richtig. Aber gegen das bejtehende positive 
Recht reagirt ſtets ein anderes, aus den allgemeinen Prinzipien abgeleitete: 
Recht, mag man ed nun das natürliche, das allgemeine Menjchenrecdht, das 
Recht der Nevolution, dad Recht der Tebendigen Kraft, dad Recht der 
biftorifchen Entwidelung nennen. Wer fich nicht auf den rein konſervativ— 
formaliftiichen Standpunft jtellt, kann das Recht der fremden meijt engliſch— 
amerilanifhen Minenbefiger, Goldgräber und Kaufleute gegenüber der 
Burenregierung nicht leugnen. Gbenfowenig it zu leugnen, daß die 
Engländer fraft der beftehenden Verträge ein Recht haben, ſich in die 
inneren Berhältnifje Transvaals einzumijchen. Ob diejes Recht eine wirf- 
liche Suzeränetät darjtellt, ob es joweit geht, wie die Engländer behaupten, 
mag mit Fug bejtritten werden, aber darauf fommt in der That nicht 
viel an. Wir haben Hier eben einen Fall, wo da3 formale Recht nidt 
ausreicht; nicht ohne Grund lehnt England deshalb aud ein Schiedsgericht 
ab. Es beruft jich darauf, daß e3 die füdafrifanische Großmacht iſt und 
al3 folche die transvaaliichen Zuftände, durch die die Rechte jo vieler englischer 
Unterthanen berührt werden, nicht länger dulden will. 

Der Zeitpunkt für das Eingreifen Englands iſt jo gewählt, daß man 
faum erwarten darf, ed werde von feiner Forderung abjtehen. Es ijt Elar, 
daß Rußland augenblicklich ſehr friedlich geftimmt iſt und die Gelegenheit 
einer jüdafrifanifchen Verwidlung nicht benußen wird zu einem Vorſtoß 
gegen die Engländer in Ajien. Die Vereinigten Staaten jtehen jo gut mit 
England wie noch nie und haben auf Kuba und den Philippinen alle Hände 
voll zu thun. Mit Deutichland hat England einen Vertrag geichloiien, 
deſſen Inhalt noch nicht befannt geworden ilt, der aber England auch nad) 
diejer Seite Dedung gewährt. Frankreich allein wagt, wie Faſchoda ge: 
zeigt hat, mit England nicht anzubinden. So ijt England gerade jegt ın 
der günjtigen Lage, jenen Spahn mit Transvaal ohne die Gefahr einer 
fremden Einmijchung ausfechten zu können. In einigen Jahren ijt Die 
politiihe Weltlage vielleicht eine ganz andere. Mit gutem Grund jind 
aljo jet die Engländer zur Offenfive gejchritten. 

Wir wollen hoffen, daß die Kriegsdroßung, die Rüftungen und der 
zweifelloje Ernſt des englifchen Vorgehens endlich doch genügen werden, um 
die Buren ohne wirklichen Krieg zur Nachgiebigfeit zu bringen. Sie 
würden ja gewiß den Engländern einen tapferen und zähen Widerjtand 
entgegenjeßen und ſich nicht leichten Kaufes geben, aber ſelbſt der Sieg 
würde nutzlos fein. Die Welt hätte nicht? davon, als dad Schauspiel des 
tragijchen Heroismus. Ein bloßer Burenjtaat mit einer wirthichajtlichen 
Entlave wie Sohannesburg in feiner Mitte, iſt auf die Dauer unhaltbar 


Bolitiihe Korreſpondenz. 187 


und würde, wenn gewaltjam gehalten, aus einer Kriſis in die andere 
jtürzen. Alles Mitgefühl für den waderen, niederdeutichen Stamm kann 
und nicht abhalten, die Dinge zu jehen, wie fie find. Rechnet man, daß 
der Krieg die volle Kraft der Engländer in Anſpruch nehmen, jie auf 
längere Zeit hinaus fefjeln und Gelegenheit geben werde, ihnen anderwärts 
etwas abzuzwaden, jo mag man aus diefem Grunde den Krieg wünjchen, 
aber von Liebe zu den Buren wiirde ein folder Wunjcdh nicht eingegeben jein. 

Mit oder ohne Blutvergieken, etwas früher oder jpäter, das Ende 
dieſes Konflikt? kann immer nur jein, daß den „Uitlanders“ in Transvaal 
politifche Rechte gegeben werden und haben ſie dieje erjt, jo werden jie 
jhon jelber dafür jorgen, daß fie bald völlig gleichberechtigt mit den Buren 
werden und dann iſt es mit dem jeßigen Buren-Staat zu Ende Denn 
die „Uitlander“ haben ſchon jet die Majorität im Lande und jind ihrer 
Sprache nad) zum allergrößten Theil engliſch. 

BVielleiht würden die Buren jogar am bejten thun, jich einfach in 
das britische Kolomialreih aufnehmen zu lajjen. Sie würden ja damit 
keineswegs einfach unter engliiche Herrichait gerathen, jondern ſofort Ans 
ihluß an ihre Landsleute nehmen, die im Kap = Parlament bereits die 
Majorität haben. Durch einen jolhen Zuſammenſchluß aller nieder- 
ländiihen Elemente würde das Fortbeſtehen des niederländifchen Volks— 
thums vermuthlich bejjer geiichert fein, als durch die ijolirten und kaum 
entwidelungsfähigen burijchen Republiken. Das engliiche Ktolonialreich it 
ja jo liberal organifirt, daß jede Kolonie ein fajt jelbjtändiges Staatsweſen 
bildet. Haben die Niederländer iu Afrika wirklich die moralijche und geijtige 
Spannkraft in ji, ihre Nationalität zu behaupten, jo giebt ihnen die 
parlamentarijhe Verfaſſung der Kolonie dazu Spielraum. Selbſt 
wenn es zum Kriege kommt und die Buren unterliegen und werden 
mit Gemalt in das engliihe Weltreich hineingezwungen, jo Dürfen 
wir hoffen, daß die Kriſis nicht zum Untergang führen, jfondern nur 
neue Lebendbedingungen für eine eigenthümliche und werthvolle Nationalität 
ichaffen werde. 

Sollte die Gemaltjamfeit, mit der England vorgeht, überdies dazu 
jühren, daß das Königreich der Niederlande, dejjen Herz jchlägt für die 
alten Abkömmlinge, fich enger an Deutichland anjchließt, jo kann auch dieje 
Folge der Transvaal-Frijis und nur erwünſcht fein. Der Bejuch, den die 
junge Königin Wilhelmine augenblidlih in Deutjchland am preußijchen 
Königshaufe macht, entbehrt vielleicht nicht alles politischen Hintergrundes. 

* * 


2* 

Dreyfus iſt unſchuldig. Das kann nicht dem geringſten Zweifel unter— 
liegen. Es iſt nicht bloß nicht nachgewieſen, daß er ſchuldig iſt, ſondern 
es iſt poſitiv nachgewieſen, daß er an dem Verbrechen, deſſen er angeklagt 
war, unſchuldig iſt. Auch die Hypotheſe, daß er an Rußland verrathen, 
daß dies in der geheimen Verhandlung vorgefommen und daß er deshalb 


188 Politiſche Korreſpondenz. 


verurtheilt worden ſei, iſt offenbar hinfällig. Wenn dem jo wäre, jo 
hätten Anklage wie Verteidigung zweifellos ganz anders operirt. Wozu 
hätte die Anklage den verzweifelten Verſuch gemacht, Dreyfus wegen Ber: 
raths an Deutjchland und Italien verurtbeilen zu lajjen und Die öffent: 
fihe Meinung fortwährend weiter durch dieſe Behauptung erregt, wenn 
jie jicher gewejen wäre, die Anklage mit der anderen Begründung durd- 
zubringen? Die BVertheidiger aber, Demange, Labori, und namentlid 
Picquart, die doch auch ihre perjönlice Stellung zu wahren haben, hätten 
jih nicht jo unbedingt für Dreyfus in die Schanze gejchlagen, wenn fie 
gewußt hätten, daß er troß Allem, wenn auch an anderer Stelle, ein 
Verräther gewejen jei. In einem jo langen und jo leidenſchaftlich durd- 
gefochtenen Prozeß hätte ein derartiger geheimer Hintergrund überhaupt 
nicht jo völlig verborgen bleiben fünnen. Das Ganze iſt eine phantaſtiſche 
Hülffonjtruftion, entjprungen aus dem Bedürfniß den Vorgang Eriminell 
und pſychologiſch verjtändlich zu machen, aber fo rationell es wäre, es iſt 
nicht jo gewejen. Es iſt möglid, daß Dreyjus mit ruſſiſchen Offizieren 
verfebrt hat und daß die gefülichten Papiere 3. B., die Briefe unſeres 
Kaiſers von der ruſſiſchen Kriegspartei, vielleicht einem hochgeitellten Mann, 
den Franzoſen in die Hände gejpielt jind. Uber von irgend einer ver: 
rätheriichen Verbindung Dreyjus’ mit den Ruſſen, von irgend einer Ber: 
ſchuldung jeinerjeit3 kann nicht die Rede jein. 

Die Erklärung jeiner Verurtheilung liegt ausichlieglid darin, daß 
der Prozeß zu eine Parteifache geworden war. Es iſt traurig genug für 
die Menichheit, aber es ijt jo, und keineswegs eine Eigenthümlichkeit 
Frankreichs: ijt irgend eine Angelegenheit erjt zur Parteiſache gejtempelt 
und die Leidenjchaften haben ſich dafür und dawider erhigt, jo tjt es mit 
dem Erfolg aller jachlihen Gründe vorbei. Selbſt Euge und klare Köpfe 
ind dann Sophismen und Verdadhtsgründen zugänglich, die fie in jedem 
andern Fall verächtlich bei Seite jchieben würden. 

Für Diejenigen, die außerhalb jtehen, wird der Vorgang dann gay 
unverſtändlich. Mann weil; ji) nicht anders zu helfen, al$ daß man ein 
ganzes Volk für verrückt erklärt und weiß nicht, daß in dem eigenen Volke 
ih ganz analoge Verichiebungen abjpielen. Man beobachte das einmal 
auf anjcheinend ganz neutralem Gebiete: Fragen der Wijjenjchaft. 

Mit was für Argumenten juchen Schweizer Gelehrte, die jonjt durd: 
aus bejonnen und methodisch gebildet jind, die Tell- und Winfelried-Sagen 
zu vetten, wenigjtens ein Stüd, einen Schimmer davon wijjenjchaftlich zu- 
zuitugen! Die Tichechen haben ebenfalls eine alte Beldengejchichte, die 
aber nicht einmal wirkliche Sage, jondern eine einfache Fälſchung eines 
bejtimmten Gelehrten aus unjerem Jahrhundert iſt. Als ein Profeſſor 
der tichechischen Univerjität Prag das einmal öffentlich, aber in rein wijjen- 
Ichaftliher Form bekannte, wurde er von feinen Kollegen ebenso öffentlich 
und förmlich in die Acht erllärt. Man glaube ja nicht, daß wir in 





Politiſche Korreipondenz. 189 


Deutichland anders find: ich will feine Beijpiele nennen, um nicht auf der 
Stelle den Sturm zu entfejjeln. 

Man meint vielleicht, daß vereidigte Nichter, die den unmittelbaren 
Erfolg ihre Urtheild, Tod und Leben eined Menschen, vor Augen haben, 
mit größerer Unbefangenheit urtheilen müßten, als jelbjt die Gelehrten im 
Streite der Wiſſenſchaft. An fich müßte wohl auf beiden Gebieten mit 
gleicher Objektivität geurtheilt werden, und wenn Richter vielleicht noch ein 
jtärfered DVerantwortungsgefühl haben, jo find fie dafür auch nur durch 
mebr oder weniger Zufall zur Enticheidnng berufene Durchichnittämenjchen, 
während bei wiflenichaftlichen Streitigkeiten naturgemäß die hervorragenditen 
Sntelligenzen und Talente die Führung nehmen. Das eigentliche Problem 
de3 Dreyjusprozefjes liegt ja auch nicht darin, daß von den fieben Richtern 
fünf auf ſchuldig erfannt haben, ſondern darin daß, wie unbefangene Bericht: 
eritatter gemeldet haben, dieje Theilung auch die des franzöfiichen Volkes 
etwa richtig widergibt. Die große Mehrheit der Franzoſen hat jich weder 
durch die Ehrwürdigfeit Scheurer-Keſtners, noch durch die Gluth Zolas, noch 
durch die Nıtterlichkeit Picquarts, noch durch den Scharfjinn Yaboris, noch 
durch die Beredſamleit Demange’, von der Unjchuld des Dreyfus über 
zeugen lajjen. Fünf Kriegsminijter hintereinander und in langer Reihe 
Generale und Offiziere find vor dem Gerichtshof in Rennes aufgetreten 
und haben bezeugt, daß fie Treyfus für jchuldig halten. Kein Wunder, 
daß der Gerichtshof jelber fi) dem Eindrud ſolcher Zeugnifie, in denen 
die Stimme der Armee mwiderhallte, nicht hat entziehen fünnen. Männer 
die ım Stande find ſich vom Korpsgeijt zu emanzipiren und völlig ihrem 
eigenen Urtheil und Gewiſſen zu folgen, find allenthalben unendlic) 
jelten. 

Die Frage iſt alſo nun, weshalb dieje Verrath3-Anklage, die doch 
etwas ganz Perjönliches iſt, zu einer Parteiſache werden fonnte und das 
liegt ausſchließlich in Dreyfus Eigenjchaft ald Jude. Die judenfreundlichen 
Blätter in Deutjchland jtellen es jo dar, al3 ob eine ungeheure militärijch- 
jeſuitiſche Verſchwörung in Frankreich eriitiere, die die Nepublid jtürzen 
wolle und diefen Prozeß benutzt habe, um zu zeigen, daß fie die Gewalt 
beſitze. Bon antijemitischer Seite wieder wird dad ganze Eintreten für 
Dreyfus als eine Judenmache, das Werk eines „Dreyfus-Syndikats“ hin— 
geſtellt. Das Eine iſt jo falſch wie das Andere. Es iſt vielmehr ein 
Vorgang, der ſich bei jedem jenjationellen Prozeß, in den Juden vermwidelt 
find, wiederholt und den wir vor wenigen Jahren bei der Verfolgung des 
unglüdlihen Schlächters Buſchof in Xanten bei uns jelber erlebt haben. 
Wenn der Berdadht eines jchweren Verbrechens jich irgendwo auf einen 
Juden lenkt, jo jegt fich jofort die bei allen Völkern verbreitete antijemitijche 
Stimmung dahinter, vergrößert die Verdachtsmomente und verallgemeinert 
die Anklage gegen das Judenthum überhaupt. Naturgemäß find die Juden 
auf diefem Punkt jehr empfindlich, treten für den Angeklagten auf die Schanze 


190 Bolitifhe Korrefpondenz. 


und fuchen nachzuweiſen, wie wenig er doc) eigentlich befajtet jei. Nicht 
fange dauerts, jo find fie fertig mit dem Urtheil, daß die Anklage jchlecht: 
hin nichtig ſei. Diefer Uebereifer aber reizt die Gegner zu der Trage: 
Wäret Ihr auch jo ficher, wenn der Angeklagte fein Jude wäre? Soll er 
etwa deshalb von vornherein als unjchuldig gelten, weil er Jude ijt? Ge— 
wiß haben die Juden abjolut Recht, wenn fie bei jeder Anklage auf Ritualmord 
von vornherein die Anklage belämpfen, denn der Ritualmord it nichts als 
ein wahnmwißiger, grauenhafter Aberglaube, und Blätter, die ihn auch nur 
als eine Möglichkeit hinjtellen, jollten jich ihrer Unwiſſenheit ſchämen. Aber 
was diejen Aberglauben am Leben erhält, ijt gerade das leidenſchaftliche 
und einmüthige Eintreten ded ganzen Judenthums fir jeden dieſes Ber: 
bredens Verdäcdtigten. Gerade in diefem Augenblick jpielt ji in Böhmen 
wieder ein folder Fall ab. Was follen die Juden machen? Sollen ſie 
etwa, ohne zu kämpfen, den Juſtizmord gejchehen lafjen? Die Grenze tit 
ſchwer zu ziehen, aber foviel ift ficher, daß das Eintreten der Preſſe und 
das Anrufen der öffentlichen Meinung gerade das Gegentheil von dem 
bewirkt, was erzielt werden ſoll: Nehmen die Juden die eine Partei, ſo 
nehmen die Wntifemiten, die doch in der Volksmeinung die bei weiten 
Stärferen find, die andere, und der perfünliche Kriminalprozeß iſt zur 
Barteijache geworden. 

So iſt es auch mit Dreyfus gegangen. Als er das erite Mal ver: 
urtheilt wurde, geſchah es auf die Ausjage Bertillons bin, der als be 
rühmter Schreibjadhverjtändiger erklärte, daß der Angeklagte das Bordereau 
geichrieben habe. Ferner auf Grund der Ausfage Henry, der dad Bureau 
der geheimen Nachrichten vertrat und die ganze Autorität diefer myſtiſchen 
Behörde in die Wagjchale warf. Endlich famen noch hinzu die gefälichten 
Bapiere, ‚die dem Angeklagten nicht vorgelegt wurden. 

Bertillon it jeitdem als ein Verrüdter erkannt; Henry war möglicher 
Weije jelber der Verräther oder jtand jedenfalld ganz unter dem Einfluß 
Esterhazys, des wirklichen Berräthers; die Fälſchung der Geheimpapiere 
wird nicht mehr bejtritten. So war die erjte Verurtheilung Dreifus’ ein 
Sujtizmord auf Grund falſchen Zeugnifjes, wie er leider nur zu oft vor: 
fommen wird. Der Antifemitismus fpielte dabei eine zwar fchon jehr 
laute, aber doch nicht entjcheidende Rolle. Dreyfus hatte fich durch jein 
etwas zudringliches, neugierige® und renommiſtiſches Weſen unbeliebt 
gemacht und der Verdacht jehte fich ſchadenfroh Hinter die Heinen Blößen, 
die er jich gegeben Hatte. 

Nachdem er aber nunmehr verurtheilt war und der Feldzug feiner 
Freunde zu Gunjten feiner Befreiung begann, da entwidelte jich an diejem 
Streit der Gegenjaß von Judentum und Antifemitismus, der in Frant: 
reich, obgleih ja das ganze Land weniger Juden hat, als die Stadt 
Berlin allein, jtärker ift al® bei und. Pas rein demokratische Regiment 
hat die Macht des Geldes in Frankreich außerordentlich geiteigert. Wüh- 


Bolitifhe Korreſpondenz. 191 


rend bei uns die Traditionen des Hofes, des einflußreichen Adels, des 
Dffizierforps und des Beamtenthums die Geldmacht einjchränfen, giebt es 
in Frankreich nichts als das allgemeine gleiche Stimmredt, da3 dem Gelde 
nur wenig Widerjtand entgegenzujeßen vermag. Das Geld aber ijt zum 
jehr großen Theile jüdifh. Mit noch nicht vergefienem Zorn gedenten 
die Franzoſen Panamas, und daß fait alle Macher bei diejer Schmuß- 
wirtbichaft Juden waren. Das war Dreyfus’ Unglück auf der einen 
Eeite, auf der anderen, daß die Antifemiten die „Ehre der 
Armee“ als ihre Parole ausjpielen fonnten. Das einmal gejprochene 
Urtheil eines Kriegsgerichts jollte nicht angefochten werden Dirjen 
und alle Dffiziere, die vom Kriegsminiſter Mercier an abwärts 
leichtjinnig oder böswillig bei dem eriten Urtheil mitgewirkt hatten, 
jegten nunmehr um ihrer jelbjit willen Alles daran, um dieſes 
Urtheil aufrecht zu erhalten und einzelne Schurken darunter griffen 
zu wirflihen Fälihungen. Die Leidenjchaft verblendete die Sinne auf 
beiden Seiten mehr und mehr und das Volt nahm naturgemäß Partei 
„für die Armee“ und „gegen die Juden“. Wie jollte es auch nicht, wenn 
es auf jener Seite Freycinet jah, den einjtigen Leiter der nationalen Ver— 
theidigung; Billot, der 1870 vom Oberjten zum fommandirenden General 
befördert wurde wegen jeiner auögezeichneten Tapferkeit; Boisdeffre, dem 
man als Chef des Generaljtabes die Leitung des Nevanchefrieges geglaubt 
hatte anvertrauen zu dürfen? 

Sit nun der Prozeß Dreyfus ein Zeichen des moralijchen Niederganges 
des franzöjiichen Volles? Keineswegs. Vielmehr ift der Muth und das 
Talent, mit der eine Reihe von Perjönlichkeiten ſich aus den Lagern des 
Barteivorurtheil® gerettet und für die erfannte Wahrheit gekämpft hat, im 
höchſten Grade achtungswerth. Der Prozeß ijt ein Zeugniß wohl großer 
morafifcher Verwirrung, aber auch großer moralischer Kraft unter den 
heutigen Franzoſen. Wenn er dennoch eine Etappe in dem Niedergange 
diejer Nation bedeutet, jo trifft das nicht ſowohl das franzöſiſche Bolt als 
den jranzöftiichen Staat. Das Entjcheidende it der Mangel jedes feiten, 
in jich jelbjt ruhenden Zentralpunftes in diefem Staatsweſen. Alles ijt 
dem Barteigetriebe anheimgegeben, nirgends eine Inſtanz, die einen jolchen 
Streitfall, wie diejen Dreyfus-Prozeß mit wirklicher Unbefangenheit be- 
urtheilte oder der man das auch nur zutraute. In Deutjchland würde ein 
derartiger Jujtizmord entweder joweit möglich twieder gut gemacht, oder 
aber aufrecht erhalten werden; auf feinen Fall aber wiirde dad ganze 
Staatögebäude darüber ind Wanfen fommen. So mag man e3 den Fran— 
zojen jogar zum Ruhme anrecdhnen, da die dee der Gerechtigkeit jo un 
erichrodene und opferfähige Verteidiger bei ihnen gefunden hat, aber 
die Stellung Frankreich unter den Weltmächten hat einen unverwindlichen 
Schaden erlitten, da man gejehen hat, daß ein einfacher Kriminalprozeß 
im Stande ijt, dieſes ganze Staatsweſen beinah umzuftürzen. 


192 Politifhe Korrefpondenz. 


Der Ausgang, den man endlich gefunden hat, Dreyfus wieder jchuldig 
iprechen zu lafjen, aber mit mildernden Umjtänden, nnd ihn dann zu be— 
gnadigen, fann wohl al$ der Ausdrud einer gewiljen taktiſchen Geſchid— 
fichfeit gelten, jteht aber moraliich dafür auf einer um jo geringeren Stufe. 

24. 9. 99. D. 


Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu- 
gegangen, verzeichnen wir: 


Barolin, Johannes €. — Der soziale Staat im Staate. 208. Leipzig, Wilhelm Friedrich. 

Bartolomäus, R. — Die Provinz Posen auf dem Frankfarter Parlament. "Ausschnitt 
aus der Zeitschrift der historischen Gesellschaft für die Provinz Posen. XIV. Jahrg. 
1. und 2. Hett. 

Bericht über Handel und Industrie von Berlin nebst einer Uebersicht über die 
Wirksamkeit des Aeltesten-Kollegiums im Jahre 1898, erstattet von den Aeltesten 
der Kaufmannschaft von Berlin. 263 S. Berlin, Julius Sittenfeld. 

‚©. J. — Gugeline. Ein Bühnenspiel in fünf Aufzügen. Berlin, Schuster 
& Loeffler. 

Büdingen, Dr. med. Theodor. — Zur Bekämpfung der Lungenschwindsucht. (Streif- 
züge eines Arztes in das Gebiet der Strafrechtspflege.) B1 S. Oktav, Braunschweig. 
Friedr. Vieweg & Sohn. 

Füsselein, W. — Hermann I Graf v. Henneberg (1224—1290) und der Aufschwung der 
Hennebergischen Politik. Abdruck aus der Zeitschrift tür Thüringsche Geschichte 
und Altertumskunde. XIX, Bd. 

Hausing, Dr. Karl. — Hardenberg und die dritte Koalition. Historische Studien 
Heft XIL. Oktav. 109 S. Berlin, E. Ebering. 

Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Oesterreich. 1 Bd. Süddeutschland 
und Schlesien. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXXIV. 506 5. Leipzig, 
Duncker & Humblot. 

Henning, Hans. — Der Zustand der schlesischen Festungen im Jahre 1756 und ihre 
Bedeutung für die Frage des Ursprungs des 7jührigen Krieges. 46 5. Jena, 
Bernhard Vopelius. 

Hron, Karl. — Der deutsche Ausgleich mit dem Staate Oesterreich. Oktav. 207 8. 
Wien, Friedr. Schalk. 

Richter, Dr. Arwed. — Ueber einige seltenere Flugschriften aus den Jahren 1523 — 1535. 
44 S ÖOktav. Hamburg, Lütcke & Wulff. 

Runge, M. — Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur Akademischen 
Fi am 5. Juni 1899. (25 S.) 40 Pf. Göttingen 1899, Vandenhoeck & 

uprecht. 

Schanz, M. — Römische Litteraturgeschichte II. 1. (2. Auflage). Oktav. (XII 372 S) 
M.7.—. München 189. C. H. Beck. 


Manujfripte werden erbeten unter der Adrejje des Heraus— 
gebers, Berlin Charlottenburg, Kneſebeckſtr. 30. 

Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entjcheidung 
über die Aufnahme eines Aufjages immer erjt auf Grund einer fachlichen 
Prüfung erfolgt. 

Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite des Papier ge 
jchrieben, paginirt jein und einen breiten Rand haben. 

Nezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbuchhandlung 
Dorotheenjtr. 72/74, einzujchiden. 





Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück, 
Berlin - Charlottenburg, Knesebeckstr. 30, 

Verlag von Georg Stilke, Berlin NW, Dorotheen-Strasse 72/74. 

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Shelley. 
Von 
Marie Gothein. 


Nur ſelten wird das Leben eines Künſtlers der Vorſtellung 
entſprechen, die ſeine Werke erwecken; nur zu oft werden wir jene 
Enttäuſchung des Kindes empfinden, das vergebens auf der Stirne 
des wirklichen Königs die Krone ſucht, die ſein Märchenprinz trägt. 
Percy Byſſhe Shelley gehört zu den Ausnahmen, die auch im 
Leben die Dichterfrone trugen. Niemand, der jeinen Erdenpfaden 
gefolgt it, wird jich dem Zauber diejer Perſönlichkeit entziehen. 
Wie groß er auch als Dichter war — England nennt ıhn jeßt 
jeinen größten Lyrifer —, bedeutender war er noch als Charafter, 
in jeinem Kampf gegen eine Welt der Stonventionen und Some 
promiſſe. 

Wie intereſſant und außergewöhnlich dieſes Leben war, haben 
gleich ſeine Freunde und Gefährten empfunden; denn kaum für 
einen Dichter beſitzen wir ſo viele Schilderungen von Augenzeugen 
wie für Shelley. Seine Schweſter Hellen giebt ein reizendes Bild 
ſeiner Kinderjahre, ſein Vetter und Schulkamerad Medwin, der auch 
für Byron Eckermann-Dienſte geleiſtet hat, hat die Schulzeit 
geſchildert, Jefferſon Hogg erlebte die ſtürmiſche Univerſitätszeit 
und ſeine erſte Ehe mit ihm und giebt eine oft gefärbte, aber 
höchſt lebhafte Darſtellung dieſer Periode; die letzten Monate dieſes 
kurzen Lebens erzählt mit vollendeter Grazie Trelawney, der aben— 
teuernde Freund Byrons und Shelleys, einer der Helden des 
griechiſchen Aufſtands, der bis 1881 als ein Veteran aus dieſen 
Glanztagen engliſcher Dichtung gelebt hat. Von den dazwiſchen 

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 13 


194 Shelley. 


liegenden Jahren erfahren wir durch Leigh Hunt, deſſen gaſtliches 
Haus den Sammelpunkt der jungen und ſtürmiſchen Talente bildete, 
und vor Allem aus den Anmerkungen von Mary Shelley zu den 
Werfen ihres Gatten. 

Schon im Jahre 1884 hat Drusfowit eine deutjche Biographie, 
die nicht werthlos aber recht troden und platt ift, verfaßt. Danadı 
erichten Dowdens englische, vorzügliche und erjchöpfende Biographie, 
die eine Menge neuen Material verwendet. Das vorliegende, 
fürzlich erjchienene Buch*) von Helene Richter tft in der Schilderug 
des Lebens ganz von Domwden abhängig; jchon in der äußeren 
Form zeigt e8 dadurch, daß jede Quellenangabe unterdrüdt iſt, an, 
daß es jich an ein weiteres gebildetes Publitum wendet und der 
literarischen Forſchung feine neuen Aufjchlüffe bieten will und fann. 
Die erjten Kapitel find denn auch weiter nichts als eine gedrängte 
Ueberjegung aus Dowdens höchit reizvoller Schilderung der Jugend- 
jahre, und auch weiterhin folgt die VBerfafjerin in der Erzählung 
aller Wechjelfälle diejes Lebens jenem einen Leitfaden. Doc im 
biographiichen Theil beruht auch das Verdienſt diejer Arbeit nicht. 
Es ıjt allerdings ein Mangel, daß der Dichter als Menjch bier 
uns nicht jo lebendig wird, wie das bei dem herrlichen Material 
erreicht werden fünnte. Nicht zum Meindeiten rührt Dies daber, 
daß uns die Freunde Shelleys zu wenig vor Augen geführt 
werden, ſelbſt von Mary Shelley giebt die Verfafferin nur ein 
blajjes Bild, das jich der Lejer aus verjtreuten Bemerfungen zu: 
jammenjegen muß. Auch verjchmäht fie ganz, was der engliſche 
Biograph in freilich etwas ausgiebigem Maße thut, den Dichter 
jelbjt aus jeinen Briefen reden zu lajien. Unbedingtes Lob aber 
verdient die Beiprechung der Werfe, die jchon äußerlich den größten 
Naum des Buches einnimmt. Es jind poetiich nachempfundene 
Analyjen, die bei Dichtungen wie denen Shelleys, deren Inhalt 
jchwer greifbar und deihalb in Proja nicht leicht nachzuerzählen 
ijt, verdienjtvoll an fich find. Das Urtheil, wenn ich auch im 
Einzelnen nicht immer mit ihm übereinjtimme, it verjtändnigvoll 
und von Sympathie für den Dichter und jeine Werfe getragen. 
Jeder, der Shelley als Dichter genießen will, wird bier eine gute 
Unterſtützung und eine feinfinnige Hilfe finden. 

Dafür macht jich aber in diejen literarischen Abjchnitten ein 
Mangel recht fühlbar: Shelley war zwar zweifellos ein hödhit 


*) Helene Nichter, Percy Byſſhe Shelley. Weimar, Verlag von Emil Felber. 
1898. 640 ©. 


Shell. 195 


origineller Dichter, doch war er nicht, wie die Verfajjerin meint, 
Beginner und Bollender jeiner Richtung. Nur einige Anjäte find 
hier gemacht, wenigitens jeinen Vorgängern ein jchwaches Streben 
auf gleicher Bahn zuzuerfennen, während das Zeitalter der Nach: 
folger mit den verächtlichen Schlußworten abgethan wird: „Die eng: 
liche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts iſt Epigonen=Dichtung. 
Manche haben den Mantel des Propheten aufgegriffen und fich in 
jeine Fetzen getheilt; jein Geijt iſt aber auf Keinen herabgeitiegen“. 
Das iſt hart gegen Browning, den genialen Denfer unter den 
Tichtern, und gegen Tennyjon, deſſen feine Lyrik die weiteite Sfala 
der Empfindungen beherrjcht. Shelley mit all’ dem wunderbaren Flug 
jeiner Phantaſie war ein echtes Kind jeiner Zeit; er eilte ihr zwar 
voraus, wie jeder Genius dies thut, aber er it nur denkbar an 
der Stelle, wo er wirkte. Er jelber hat das ausgejprochen in der 
Vorrede zu jeinem entfejjelten Prometheus: „Dichter jind in einem 
Sinne die Schöpfer, im anderen die Gejchöpfe ihrer Zeit. Ein 
Dichter ijt das vereinigte Ergebniß ſolcher inneren Kräfte, die in 
der Natur anderer nur bejchränft erjcheinen“. Kine Haupt: 
aufgabe eines jeden Biographen muß es fein, fich in die Strömungen 
der Zeit jeines Helden zu verjenfen, um den Quellen nachzugehen, 
aus denen jein Geiſt gejchöpft hat. Es ijt bier nicht von Der 
Zucht die Rede, einzelne Entlehnungen aufzuweijen, die zu oft 
nur ein Triumph der Gelehrjamfeit des Verfaſſers jein joll, jondern 
darauf fommt es an, den fünjtleriichen und jozialen Ideengehalt 
jeiner Werfe nach jeinem Urfprung und Fortjchritt zu fennzeichnen. 

Zwei Hauptrichtungen jind in Shelleys Dichtung zu verfolgen: 
jein Verhältniß zur Natur und jeine jozialreformatorischen Bes 
jtrebungen. In dem erjten trat Shelley bereit$ ein reiches Erbe 
an, das er zu mehren wußte. So neu, wie die Verfajjerin diejes 
Buches meint, war jeine Naturauffafjung nit. Es fann gar 
nichts faljcher jein als „die Yakiiten“ mit den Worten abzuthun: 
„Tentimentale Schwärmerei der Yandjchaftsmaleret und natur: 
geichichtliche Beichreibung“. Gerade fie haben endgiltig mit aller natur: 
geichichtlichen Bejchreibung aufgeräumt und jie haben die YLandjchafts- 
malerei zugleich mit dem gehaßten Formalismus des achzehnten Jahr: 
hunderts jiegreich überwunden. Sie waren es, und hier vor: 
nehmlich Wordsworth, die in die englische Dichtung einen tieferen Zug 
durch die Idee einer Weltjeele, die jich in dem fleinjten wie in 
dem größten Werf der Natur offenbart, gebracht haben. Für 
Wordsworth bejitt jede Blume, jeder Vogel, jeder Fels ein Em: 

18* 


196 Shelley. 


pfindungsleben, das mit dem des Menſchen übereinſtimmt, und 
doch ganz unabhängig von ihm ſich nur dem enthüllt, der mit 
aufmerkſamer, weitgeöffneter Seele ihm lauſcht. Shelley ſelber hat 
gar nicht das Gefühl gehabt, auf dieſem Gebiete neue, re— 
formatoriſche Gedanken zu haben. Das zeigt ſich ſchon daran, 
daß er hier nie polemiſirt hat, wie es noch mit loderndem Eifer 
Wordsworth. Coleridge und ihre Anhänger thaten. Hierin hat er 
jich) vielmehr immer zu Wordsworth als jeinem Meijter befannt. 
Er giebt aber diejen Ideen eine neue Wendung, indem er in den 
Naturkult einen jtarf anthropomorphiltiichen Zug bineinträgt, der 
durch) das Studium der Antife zwar begünitigt wurde, in feinem 
eigenen Wejen aber tief begründet lag. 

Bei Wordsworth befam die Natur um ihn feine neue Gejtalt, 
nur ein neues Leben. Gr jelbjt blieb immer der jtille Weile, der 
jein aufmerfendes Ohr zu ihr neigt. Shelley dagegen braucht Tür 
jeinen hohen Gedankenflug gleichgeartete Wejen; er trifft jie über 
den Wolfen, auf dem ftürmifchen Meere, oder als Hüterinnen 
zauberhafter Gärten. Es find dies nicht Perjonififationen gleich 
den Naturwejen der griechischen Mythologie, jondern die ele- 
mentaren Sträfte der Matur jelbit, die ihm jchön und er: 
fennbar werden wie die Gejtalt einer Geliebten, fajt unförperlich 
und doch individualifirt; jie haben ein Empfindungsleben, für das 
die Sprache, jo jehr jie nad) einem gejteigerten Ausdrud ringt, 
doch immer im Kreiſe des Menjchlichen bleiben muß. Der Tichter 
ijt mitten unter ihnen, er leidet mit ihnen, er jucht jie, er fleht zu 
thnen. Es war bei den beiden Dichtern nicht nur ein Temperaments- 
unterjchied, nein ein NRajjengegenjat vorhanden. Der vierjchrötige, 
nordiiche Bauer Wordsworth geht jpazieren mit gejenftem Auge, 
jinnend bejpricht er ſich mit den Gewalten, die jeine priejterlich ge: 
jtimmte Seele vernimmt. Wenn aber Shelley mit jeiner ariſto— 
fratiichen, feingliedrigen Gejtalt im Kahne hingeftredt ſich auf dem 
ichaufelnden Meere wiegt, das ungejchügte Antlit der glühenden 
Sonne ausgejegt, mit ungeblendetem Auge in das geliebte Blau 
itarrt, oder wenn er auf den jchwindelnden, blumenumwachjenen 
Bogen der Caracalla-Thermen träumend fitt, jo iſt es ihm em 
Leichtes, jich jelber in diejen feinem Geiſte jo vertrauten Regionen 
über der Erde zu fühlen. 

Himmelweit jcheinen dagegen die beiden Dichter fich in den 
jozialen Tendenzen ihrer Werke zu ſcheiden: der bochkirchliche 
Tory und der revolutionäre Atheiit, was haben jie noch mit 


Shell. 197 


einander gemein? Dennoch liegen die Wurzeln ihrer Anjchauungen 
nicht gar jo weit auseinander. Für Beide it die franzöfijche 
Nevolution der Boden gewejen, aus dem Ddieje entjprangen. Sein 
Biograph vergißt zu erwähnen, daß jener 4. Augujt 1792, an dem 
der fleine Percy Byſſhe Shelley in Fieldplace in der Grafichaft 
Sujjer das Licht der Welt erblidte, der gleiche Samjtag war, an 
dem zu Paris ſich die Führer der Jafobiner zu der folgenjchweren 
Sitzung vereinigten, in der fie grundjäglich) den Sturz des König— 
thums bejchlojjen.*) Man möchte gerne einen Kontakt zwijchen 
diejer gemitterjchwülen Sigung und der Geburt des Knäbleins 
annehmen, denn die revolutionäre Feuerſeele und den geijtigen 
Wagemuth hatte er jicher nicht von den bejchränften Eltern: der 
Bater, ein reicher englijcher Durchjchnittsedelmann, „ein gutmütbhiger, 
launenhafter Querfopf*, wie ihn Dowden nennt, und die Mutter 
ganz ohne eigenen Willen und eigenes UÜrtheil. 

Allerdings, als Shelley anfing, über jeine phantajtijchen Kinder— 
träume hinauszujehen, und jtatt mit der Riefenjchlange in Fieldplace 
zu fämpfen oder mit jeinem Schwejterchen als Engel und Teufel 
verkleidet jeine Umgebung zu  erjchreden, die Unterdrüder 
der wirklichen Welt zu jehen und zu bhajien, was bei ihm 
eins war, da jah es traurig in jeinem Vaterlande aus. Im Mini: 
jterium hatte das Triumvirat Gaftelreagh, Liverpool und Elton 
Anfangs unter der Zujtimmung der ganzen Bevölferung, die vor 
Napoleons Geißel zitterte, den Krebsgang der Reaktion begonnen; 
der König war in unheilbaren Wahnfinn verfallen, und an der 
Spitze des Staates jtand ein Wüjtling, der jpätere Georg IV. Jung 
jein in den Zeiten verängitigter Neaftion, die auf jolche große 
Hoffnung folgte wie die der Revolution, das heißt prädejtinirt jein 
zur Oppofition. Dies Loos theilte Shelley mit Moore, Hunt 
und Byron. 

Wordsworth dagegen hatte zwar die Revolution als Jüngling 
begeijtert miterlebt, aber jein Freiheitsideal hat ſich an den Kriegen 
gegen Napoleon ausgejtaltet, und jeine Freiheitsſänge waren gegen 
den Erben in der Revolution gerichtet, fie verherrlichten einen 
Strieg, der die alten Throne Europas wieder aufrichtete, und Die 
Erhaltung der wirklichen, wie der vermeintlichen Segnungen der 
Inititutionen des eigenen Yandes. Diejen Konflikt jah die junge 


*) Eine bedenllihe Verwechſelung begegnet H. Richter, wenn fie auf den 
4. Auguft 1792 die Greigniffe der freilich viel berühmteren Nacht des 
4. Auguft 1789 verlegt. 


198 Shelley. 


Dichterjchule nicht, jah Shelley nicht, wenn er in jeinem jchönen 
Sonett an Wordsworth in ihm den verlorenen Führer der Freiheit 
beflagt. 

Zudem lebte Wordsworth damals als gereifter Mann in jeinem 
den Horizont begrenzenden Berglande; jein von Roufjeaujchen 
Ideen getränfter Geijt jah in jeinem nordijchen Bauernjchlag die 
Verförperung des erjehnten Naturzujtandes der Menjchheit; im 
Zandleben erblidte er im Gegenjag zu der Verderbnik der Städte 
das Heil der Welt, und gerade dieſes jchien ihm überall durd) 
Neuerungen und Ummwälzungen gefährdet; Kirche und Staat wurden 
in jeinen Augen immer mehr die einzig zuverläjligen Hüter 
dieſes Schatzes — fein Wunder, daß er mehr und mehr der 
Sache der Freiheit, wie er fie jelber früher gepriejen hatte, ver: 
loren ging. 

Für Shelleys Weltanfchauung bejtimmend wurde das Studium 
von Godwins „Bolitiicher Gerechtigkeit“. Wie fein Zweiter it 
diejer ihm Lehrer .‚gewejen. Bis hinein in die phantajtischen 
Träume jeiner Jugenddichtungen fönnen wir den Gedanfengang 
jenes leidenjchaftslos raijonnirenden Kopfes verfolgen, der ebenjo 
fühl die Nothiwendigfeit eines radikalen Umſturzes der Gegenwart, 
wie die abenteuerlichiten Zuſtände des jicherlich erwarteten goldenen 
BZeitalters bejpricht. 

Aber war Godwin in jeinem Privatleben jchüchtern, kleinlich 
und egoiftijch, weit entfernt ein Märtyrer jeiner Grundjäge zu 
werden, jo war Shelley unerjchroden und jelbjtlos. Mit Godwin 
jah er in jcharfem Gegenjag zu Rouſſeau nicht in einem naiven 
Naturzujtand den Anbruch des Millenniums, jondern in der gleich: 
mäßigen höchjten geiftigen Vollfommenheit und der durch Duldſamkeit 
gemilderten Selbitherrlichfeit der Individuen. Durch diejen wiſſen— 
ſchaftlichen Anarhismus Godwins gelangte er zu der völligen 
Negierung des Staates. Gr forderte, daß alle Menjchen zur 
gleichen geiltigen Freiheit emporgehoben würden, daher jah er, ganz 
verjchieden von Wordsworth, beim Landvolf nur Elend und 
geiftige Knechtſchaft. Seine jenfitive Natur litt unter jeder 
Berührung mit geijtiger und materieller Noth, überall juchte er 
dann, wie unter einem inneren Zwange, zu helfen; er hat jein 
ganzes Leben hindurch über jein Vermögen den Armen und Be: 
drängten gegeben. Ein Zug unerjchöpflicher Menjchenliebe verbindet 
ihn wieder eng mit Wordsworth, beiden blieb Byrons Weltjchmer; 
und Menjchenverachtung fremd. Wohl hat Shelley im Wlajtor 


Shelley. 199 


wenigjtens einmal einen Jüngling gejchildert, der auf der Jagd 
nach jeinem Ideal weltflüchtig und menjchenjcheu wird, noch am 
eriten den Gejtalten Byrons vergleichbar; aber gerade dies Werf 
leitet er mit den Worten ein: „Won denen, die ohne Sympathie 
mit der Menjchheit zu leben verjuchen, gehen die Neinen und Zart: 
empfindenden unter an der Tiefe und Leidenjchaft, mit der jie nad) 
Sleichempfindenden juchen, jobald die Leere ihres Gemüthes fich 
ihnen plöglich fühlbar macht. Alle Uebrigen, jelbjtjüchtig, blind 
und verjtodt, bilden jene furzjichtige Menge, die das ewige 
Elend und die Berlafjenheit der Welt zugleich mit ihrer eigenen 
verſchulden.“ Das it aus dem gleichen Geiſt entjprungen, aus 
dem Wordsworth, auf den er jich unmittelbar darauf beruft, ver: 
jichert, daß man ihm die größte Segnung rauben würde, wenn man 
ihm den Umgang mit Menschen nähme. 

Beide Dichter Führt ihre tiefe Menjchenliebe zu einem uns 
erjchütterlichen Optimismus. Shelley jieht mit Godwin und der 
gejammten Aufklärungs » Literatur all unjer Elend nur in den 
jämmerlichen jozialen und religiöjen Einrichtungen — eine jchwache 
philojophiiche Bofition, aber für ihn eine volle dichteriiche Wahrheit, 
mit der er es auch perjönlich ernit nahm. Sein ausgeprägter 
Gerechtigfeitsfinn aber hatte nichts von dem jüdischen „Auge um 
Auge“ an ich; nicht auf Vergeltung zugefügten Unrechtes fam 
es ıhm an. Seinen Yaon in der „Empörung des Islam” jammert 
der jchlotternde Tyrann auf dem Staijerthrone, jo daß er ihn 
vor der Volkswuth jchüst, und den ren, die er befreien möchte, 
ruft er zu: „Sein Blutvergießen, feine Gewalt! Vervollkommnet 
euch jelbjt, jo werdet ihr eure Gegner zwingen.“ Ganz ebenjo 
hatte Godwin jchon 1793 Angejichts der Pariſer Schredenstage 
verlangt: „Laßt uns nicht heut erzwingen, was die Wahrheit morgen 
von jelbjt gewinnen muß.‘ 

Um Shelleys jtürmijches, erites Auftreten jedoch ganz zu ver: 
itehen, müfjfen wir ihn in die Schule zurücbegleiten. Im 
Zionshoufe und Eton lehnte er fich in jeinem angeborenen Haß 
gegen alle Unterdrüdung gegen die Tyrannei feiner Mitjchüler 
auf. Bon jeher neigt das Kraftgefühl des engliichen Schulbuben 
zur Brutalität, und den „tollen Atheiſten“, wie er jchon damals 
hieß, zu neden, war ein herrlicher Sport; er fonnte jo prachtvoll 
böje werden. Das gleiche Mißtrauen umgab ihn auch in Oxford, 
wo nur Hoggs Freundjchaft es Anfangs weniger fühlbar machte. 
Tie ertremen Anfichten, die der Knabe jchon früh aus den alten 


200 Shelley. 


Epikuräern und den modernen Aufklärungsphiloſophen eingeſogen 
hatte, und die er in „ſeiner Leidenſchaft, die Welt zu reformiren“, 
nicht laut genug überall verkündigen konnte, paßten nicht nach 
Oxford und nicht mehr ins Jahr 1809. 

Was ſchlimmer war, auch zu Hauſe ging die Saat des Miß— 
trauens auf; Eltern und Verwandte mußten nach Allem, was ſie 
von dem Sohne hörten, befürchten, daß er ein Ungerathener 
werden wolle. Und Shelley empfing die erſte tiefe Herzenswunde, 
als ſeine ſchöne Kouſine, mit der er ſtillſchweigend verlobt war, 
ſich um dieſer ſeiner Anſichten willen von ihm wandte. Aber 
ſolche Kränkungen haben ihn nicht einen Augenblick dahin gebracht, 
ſeinen Haß gegen einen Menſchen auszulaſſen; an allem Unglück 
war ja nur der Geiſt der Unduldſamkeit ſchuld; „hier ſchwöre 
ich“ ſchrieb er damals in tiefem Schmerze an Hogg „und breche 
ich meinen Schwur, ſo vernichte mich die Ewigkeit! — niemals 
eine Intoleranz zu vergeben. Es iſt der einzige Punkt, wo ich 
mir erlaube, Rache in mir zu ermuthigen, dauernde, lange Rache.“ 
Und als viele Jahre jpäter Trelawney den Dichter furz vor jeinem 
Tode fragte, weshalb er jich denn immer jelbjt einen Atheiſten 
genannt habe, antwortete Shelley: „Ich gebrauche das Wort, um 
meinen Abjcheu vor dem Aberglauben auszudrüden; ich nahm es 
auf, wie ein Ritter in alten Tagen einen Handjchuh aufnahm, 
um dem Unrecht zu trogen.“ 

Er ging nad) Orford zurüd und gleichjam als Antwort auf 
das daheim erlittene Unrecht jchrieb er die Schrift „Ueber Die 
Nothiwendigkeit des Atheismus“. Auch die Univerjität nahm den 
Fehdehandſchuh auf und antwortete mit der Nelegation. An der 
kleinen Schrift it viel merfwürdiger als der Inhalt, der über den 
dürrjten Empirismus der Aufflärungszeit nicht hinauskommt, Die 
Art ihrer Entitehung. Seit Yangem hatte es für Shelley einen 
eigenthümlichen Netz bejejjen, mit Perſonen, die er gar nicht 
fannte, eine weitläufige Korreſpondenz über religiös-philojophijche 
ragen zu führen. Theils wollte er ſich jelbjt über jeine Zweifel 
Klärung verjchaffen, theils jeinem heftigen Befehrungseifer Genüge 
thun. Dies Schriftchen jollte nun zugleich der leichteren Ans 
fnüpfung jolcher Epifteln dienen; darum war es „jo furz, jo 
methodijch, jo Har wie möglich“. Es mußte ja auch den Gegner 
vollfommen überzeugen, wenn er nur mit ihm den Saß an der 
Spite für unumjtößliche Wahrheit nahm: „Die Sinne find die 
einzige Quelle aller Stenntniß für den Geijt,“ 


Shell. 201 


Erfolgreich hatte die Univerfität diejen erſten Vorſtoß in dem 
Kampfe, dem Shelley jein Leben weihen wollte, abgewehrt, faum 
ein Jahr war vergangen und von Neuem jtellte er jich in die 
vorderiten Reihen. Diesmal galt e8 nicht der religiöjen, jondern 
der politifchen Unduldjamfeit: Den Iren wollte er in ihrem 
Erijtenzfampfe gegen die Unterdrüder helfen. Vor elf Monaten 
hatte er die Univerfität verlajien, was hatte er aber alles in diejer 
Spanne Zeit erlebt! Man fann das Maß diejes Yebens nicht 
gleich mit dem anderer mejjen; wie mit prophetiichem Geifte jprach 
er Damals die Worte aus: „Die Zeit it nicht allein nach ihrer 
Dauer zu mejjen, noch die Lebensdauer nach der Anzahl 
der Jahre. Das Xeben eines begabten und tugendhaften 
Mannes, der im dreißigiten Jahre jtirbt, fann ein verhältnigmäßig 
langes jein.“ 

Ihn, den Neunzehnjährigen, begleitete auf diejer Don-Quixote— 
Fahrt nad) Irland jeine jechszehnjährige Frau, das Schulmädchen 
Harriet Wejtbroof, die er vor ein paar Monaten der „Tyrannei“ 
ihres Baters entführt hatte, der jie, ein freies Wejen, noch zwingen 
wollte, in die Schule zu gehen, wo man jie nedte um ihrer auf: 
geflärten Anfichten willen. Und doch litt jie ja nur um Shelley, 
weil jie jeine Ideen vertrat; an jeine Ritterlichkeit appellirte jie 
aljo, und nicht vergebens. Er fonnte jie ja nun nicht mehr im 
Stich lajjen; aber wohl war ihm dabei von Anfang an nicht. 
Seitdem hatten die beiden Kinder-Gatten ein Wanderleben geführt, 
bald im Norden, in Edinburgh an den Seen, bald im Süden, 
bald in Yondon. Es war nur der Beginn ewiger Wanderungen, 
ihn traf das Schickſal einer Yieblingsfigur jeiner Dichtung, des 
ewigen Juden. In London hatte er Godwin perjönlich fennen 
gelernt, und jich feinen Augenblid von dem Stontrajte zwijchen 
Menſch und Lehrer in ihm enttäujchen lafjen. Aber er ließ jich 
auch nicht einen Augenblid beirren, als er den abenteuerlichen 
Blan faßte, nach Irland zu gehen, wofür Godwin — und diesmal 
nicht nur aus jeiner üblichen Aengjtlichfeit, jondern weil er die 
völlige Ausjichtslofigfeit einjah, jede Unterjtügung verweigerte. Die 
fleine Harriet aber war entzüdt, und höchſt wohlgemuth jehte 
Shelley im Februar 1812, in der Tajche jeine Adrejje an das 
irijche Bolf, nad) Dublin über. 

Die Flugjchrift war recht billig und daher auch recht jchlecht 
gedrudt; unter möglichjt viel Leute jollte jie vertheilt werden. 
Und jedes Mittel war recht hierzu. Vom Balkon wartete man, bis 


202 Shelley. 


Jemand vorbeifam, „der jo ausſah;“ dann wurde ihm eine Brojchüre 
buchitäblich an den Kopf geworfen, was der bildhübjchen muth- 
willigen Harriet unendlichen Spaß machte. Sie fonnte fich vor 
Lachen nicht mehr halten, als die Kapuze einer alten Dame dazu 
herhalten mußte, die Schrift hineinzufteden — „und zu Alledem 
jah Percy immer jo ernjt darein“. Es war ihm auch beiliger 
Ernjt damit; denn die Wahrheiten, die er da verfündigte, waren 
„einige, wenige, große, die ja jedes Kind begreifen fonnte und die 
die Menjchen nur hören mußten, um fie einzujehen.“ Shelley war 
mit neunzehn Jahren ein Doktrinär vom reinſten Waſſer; 
er verjtand gar nicht8 von iriſcher Politik und faum mehr 
vom irischen Bolkscharafter. Diefem Volke von ausgeprägtem 
Stammesgefühl glaubte er ſich gleich am Eingang als Kosmopolit 
empfehlen zu müſſen; und wenn er die Klatholifen-Emanzipation 
vertrat, jo war es nur, weil jie eine Staffel zur Freiheit war; die 
Hauptjache aber war ihm, daß die Iren beſſer, tugendhafter, weijer, 
vor Allem aber tolerante Freidenker würden. Ziemlich lang bejeelte 
ihn die glücliche Hoffnung, „eine edle Nation aus der Lethargie 
ihrer Knechtſchaft aufzurütteln;* unausbleiblich war dann die Ent— 
täujchung;; jelbjt die von den Frauen gefürchtete Verfolgung blieb 
aus; man nahm ihn neben nicht ernit. 

Eine Enttäujchung weit bittererer Art wartete jeiner. Nur zu 
jchnell verflog der Traum einer glüdlichen Ehe. Aus dem fügjamen, 
frohen Kinde entwidelte ſich bald eine vergnügungsjüchtige Kokette, 
die über die Ziele und Träume ihres Gatten lachte, und endlich 
ferne von ihm ihren eigenen Freuden nachging, ohne jeinen flehent: 
lichen Bitten zur Nüdfehr Gehör zu leihen. Shelley litt furchtbar 
unter diejer Entfremdung. „Jeder, der mich fennt“, Hagte er, „weiß, 
daß meine Lebensgefährtin poetiiches Gefühl und philojophiiches 
Verſtändniß haben muß, Harriet aber hat feines von beiden“. In 
hartem Kampfe löfte er jich innerlich von ihr, dann aber mit der 
ihm eigenthümlichen Energie auch vollſtändig. Ein halbes Ber: 
hältniß, wie e8 wohl Harriets oberflächlicdem Sinn möglich jchien, 
binzujchleppen, war ihm einfach undenkbar. 

Shelley it den DPoftrinarismus in jeinen PBrojajchriften nie 
ganz losgeworden, troßdem er jpäter bisweilen wie tn jeinem Bor: 
ichlag zur Barlamentsreform auch praktiſch richtige Vorjchläge ent: 
wickeln fonnte. Ziemlich lange hat er aber auch in jeinen poetiſchen 
Werfen mit diejer Untugend zu fämpfen gehabt. Welch weite 
jandige Streden müſſen wir in der „Königin Mab“ durchlaufen, 


Shelley. 203 


um zu einer Daje ſeiner Poeſie zu gelangen. In dieſen blühenden 
Stellen zeigt er allerdings jchon die ganze Lieblichkeit jeiner Muje. 
Zum eriten Male, nachdem er eine Periode romantischer Dinneigung 
zum Schauerromane überwunden hatte, empfinden wir in diejer 
Neihenfolge von Viſionen auch jeine Fähigkeit, der Natur menjch: 
lich vernehmbare Laute zu verleihen. Die luftigen Bewohner der 
höheren Regionen jind uns nahe gerüdt, fie find nur leichter, 
freier; jie jind leidlos, denn das Leiden iſt nicht nothwendig, 
jondern nur etwas vom Menjchen Gewolltes — jo lehrt das Ge— 
dicht. Macaulay, gewiß ein Fühler Kritiker, jagt von ihm: „Er 
bringt das höchjte Wunder des Genius zu Wege, daß Dinge, die 
nicht jind, gedacht werden, als ob fie jeien, daß die Phantajien 
eines Geijtes zu perjönlichen Erinnerungen eines andern werden.“ 
Daneben hat aber der jugendliche Dichter der Königin Mab nod) 
zu viel auf dem Herzen, was er jagen muß, und er nimmt hierzu 
noch einen großen Apparat von Anmerkungen zu Hilfe. „Sie 
werden lang und philojophijch jein“, jchreibt er. „Ich werde die 
Gelegenheit, die ich für günjtig halte, ergreifen, um meine Grund: 
ſätze darzulegen, was ich jyllogiftisch in einem Gedichte nicht mag. 
Ein jehr Ddidaktiiches Gedicht iſt, glaube ich, ein jehr dummes.“ 
Wir fünnen diejer Einjicht nicht genug danken, dat die langen 
Abhandlungen über Deismus, Empirismus und Vegetarismus 
unter den Strich gefommen find. 

Shelleyg war bis zulegt ein Lehrer in jeinen Dichtungen, ja 
mehr als das: er trat mit dem glühenden Wunjche auf, ein Welt: 
veformator zu jein; er hat nie, wie jein Zeit: und Pichtergenofie 
Keats, ein „lart pour l’art“ gekannt. Wie Byrons Dichtungen 
immer wieder die eine große, zerriſſene Seele vorführen wollen, 
Die einen unausjprechlichen Schmerz trägt, der ihr das Leiden der 
ganzen übrigen Welt Elein und verächtlich macht, jo liegt fait allen 
Dichtungen Shelleyg eine Idee, wenn man will eine Lehre, zu 
Grunde Wie er jelbit jagt: „ES jind Bilionen, welche meine 
eigene Borjtellung vom Schönen und Gerechten verkörpern.“ Das 
Schöne und Gerechte iſt aber für ihm nicht jegt auf Erden, es - 
muß erjt fommen, man muß es erringen; darum immer wieder in 
allen jeinen größeren Dichtungen das Bild des von jeinem Ge: 
wijjen gepeinigten, ruhelojen Tyrannen, der nur zum Spott Herrjcher 
genannt wird, während er doc) der größte Sklave iſt. In jeiner 
Vorliebe für alles Unterdrüdte, Verachtete diejer Welt geht Shelley 
jo weit, daß er z. DB. zweimal, in „Laon und Cythna“ und in 


204 Shelley. 


.— — 


den „Aſſaſſinen“, die Schlange als das Prinzip des Guten hinjtellt 
und ihr gegenüber den Adler, das Zeichen der Macht, als das 
einjtweilen jiegende Böſe. Alle diefe Dichtungen, ob ihre Helden 
untergehen, wie in „Yaon und Cythna“ und in „Hellas“, oder ob 
jie jiegen wie im „Entfefjelten Prometheus“, jchliegen mit dem 
Triumpbgejang auf das fommende, goldene Zeitalter, wo das Yeid 
nicht mehr ijt, wo das deal der Revolution, Freiheit, Gleichheit 
und Brüderlichfeit, die ganze Natur, den vollfommenen Menjchen 
an ihrer Spitze, durchdringt. 

Diejer gleichbleibende Ideenfreis, den Shelley in „Königin Mab“ 
zuerjt aufnahm, bildet noch im entfejjelten Prometheus, den er auf 
der Höhe, nachdem er jeine Schaffenszeit nahezu durchlaufen hatte, 
jchrieb, den Stern, aber hier doch nur den — wenn man will immer 
noch doftrinären — Stern. Aus diefem it ihm eine Fülle groß— 
artiger Phantafien erwachen. „Der Mangel an Selbjtjucht in 
Shelley wirft ungünjtig auf jeine Poefie zurüd“ jagt ein neuerer 
Kritifer von ihm, er hinderte ihn, Einzelwejen in ihrer immer be: 
ſchränkten Eigenart zu jchildern; alle jeine Gejtalten find typiſch 
und laſſen uns das auch feinen Augenblid troß ihrer Lebensfülle 
vergejjen. Im entfejjelten Prometheus hat Shelley das Urbild 
des jelbitlojen Dulders gejchildert. Auch Prometheus hat einjt im 
Trotze Jupiter geflucht, nun aber, da die Stunde der Weltbefreiung 
naht, hat er überwunden, und Dies it nicht, wie der Geiſt der 
Erde wehklagend fürchtet, ein Rüdzug, jondern nur die großmüthige 
Zuverſicht des Siegers: 

„Ih wünſche nimmer 
Daß irgend ein lebendig Weſen leide.” 

Hier liegt zwar feinesweges, wie Mary Shelley andeutet, eine 
Berwandtjchaft mit jener chrijtlichen Weltauffafjung vor, die von der 
Sündenjchuld ausgeht, doch hat ihm in der ‘Berjon jeines Welt- 
erlöjer8 Prometheus zweifellos die erhabene Leidensgeſtalt des Ge- 
freuzigten vorgejchwebt. Wiederholt befennt er, und namentlid) 
auch ın dieſem Drama, jeine Berehrung für die Perſon Chriſti, 
aber für ihn hat der Galiläer feine Erlöjung vom Leide gebradt, 
vielmehr hat dieſe „verachtungswerthe Religion“ nur Leid um Leid 
auf die gefnechtete Welt gehäuft. 

So nimmt jein Prometheus eine bejondere Stellung ein unter 
den Titanengeitalten der Dichtung, die ſich gegen die bejtehende 
Weltordnung auflehnen. Der gewaltige Nebell Miltons, der zu 
groß war, um in einer einheitlichen Weltregierung neben dem 


Shelley. 205 


All-Einen Platz zu finden, der ſchwermüthige Fürſt der Finſterniß. 
der Kain verſucht, und der um ſeiner Weisheit willen von dem 
Allwiſſenden geſtürzt ward, Goethes Prometheus, wie ihn ein 
Jahrfünft ſpäter Byrons Phantaſie erſchuf, und der ſtolze, ſchaffende 
Künſtler, der zu viel konnte und darum dem Haß des All— 
mächtigen trotzt — alle dieſe entſtanden aus einer tief peſſimiſtiſchen 
Weltanſchauung. Den Triumphator, den Ueberwinder hat nur der 
ſiegreiche Optimismus Shelleys erfaſſen können. Wie um dieſes 
Uebermaß der ſelbſtloſen Hingabe an ſein Werk zum Ausdruck zu 
bringen, verſchwindet Prometheus faſt ganz für uns, ſobald die 
Befreiung anbricht. Wir ſehen ihn nur noch in ſeinen Wirkungen, 
in den Jubelchören der befreiten Welt; das ganze All hat Stimme 
und Leben erhalten, um ſeiner Freude Ausdruck zu geben; der 
Menſch iſt nur noch eine harmoniſche Seele von vielen Seelen. 

„Der blaue Himmel Noms, das fraftvolle Erwachen des 
Frühlings in dieſem göttlichen Klıma und das neue Leben, mit 
dem es den Geilt bis zur Trunfenheit durchdringt, das gab die 
Injpiration für dieſes Drama*, jchreibt er jelbit. In solcher 
Stimmung wurden ihm die griechischen Tragifer und Plato ein 
perjönliches Erlebnis. Er hat mit dem verlorenen aber in feiner 
Tendenz befannten Schlußtheil der äjchyleiichen Trilogie wetteifern 
wollen, doch bewußt ging er über den alten Tragifer, dem der 
Mythus und feine eigene religiöje Stellung eine Berjöhnung 
Prometheus und Jupiters vorjchrieben, hinaus. „Eine Verſöhnung des 
Kämpen der Menjchheit mit ihrem Unterdrüder“, das war Shellen 
zu denfen unmöglich. Die Züge von Aejchylus’ „gefejleltem Pro— 
metheus“ finden wir nur nod) in dem Fluche wieder, den Shelleys ge: 
läuterter Titan das Idol Jupiters, um die Erinnerung jeiner Ber: 
gangenheit heraufzubejchwören, wiederholen läßt, den er aber zu— 
gleich von ſich weilt. 

Neben der PBromethie haben noch Aeſchylus' Perſer Zhelley, 
wie er jelbjt berichtet, für fein Hellas als Vorbild gedient. Es 
it jeher bezeichnend, daß dies gerade die beiden Stüde find, in 
denen Aeſchyſus noch am wenigiten feine Größe als Dramatiker 
entfaltet hat, in denen er ebenjo wie Shelley mehr grandioſe 
Hymnen, theilweije in Dialogform, als Dramen giebt. Sein 
Hellas und Aeſchylus' Perjer zeigen jchon in ihren Stoffen lleber- 
einjtimmung, bier der neue gleichzeitige dort der antife Befreiungs— 
fampf des griechiichen Volkes gegen die Herrichaft des Orients, 
Den „Perjern“ entlehnt hat Shelley auch die Infzentrung, die 


206 Shelley. 


uns in das Lager der Feinde der eigentlichen Helden führt. Ethiſch 
aber hebt ſich der moderne Dichter über den antiken hinaus, der, 
um den Siegesjubel des eigenen Volkes auszudrücken, nur ein 
einziges, grandioſes Wehgeſchrei des beſiegten Feindes finden kann. 
Shelley zeigt den noch ſiegreichen Tyrannen innerlich bereits über— 
wunden, und wenn auch hier wie in ſeinem Jugendwerk Laon und 
Cythna die muhammedaniſchen Unterdrücker bis zum Schluß ſieg— 
reich bleiben, ſo tönt doch über Tod und Untergang hinaus in 
unzerſtörbarer Gewißheit der Hoffnungsgeſang der kommenden 
Freiheit. Das war der Tribut der Dankbarkeit, den Shelley den 
durch Knechtſchaft zwar verderbten aber nicht entarteten Nachkommen 
des glorreichen Volkes brachte: „denn wir ſind alle Griechen“: 
bekennt er, „unſere Geſetze, unſere Religion, unſere Kunſt, unſere 
Literatur haben ihre Wurzeln in Griechenland“. 

Shelley it zweifellos der griechiichite unter den englijchen 
Tichtern. Das zweite Jahrzehnt unjeres Jahrhunderts hatte die 
Dichterische Blüthe einer griechiichen Renaiſſance gebracht, die 
wijjenjchaftlich jchon aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts 
datirte. .Wordswortb hatte den Neigen eröffnet, indem er 
1814 jchon eine furze Periode hindurch in Yaodamia und 
Dion ich Haffiischen Stoffen zumwandte, in denen er würdig 
und ernjt echte Züge antifer Ethif zum Nusdrud brachte. 
Keats hatte ſich mit leidenjchaftlicher Hingabe ganz den antiken 
Mythenfreis zu eigen gemacht und ihn mit glühender Phantaſie 
in jich lebendig gemacht. Doch er jah das griechijche Alterthum 
durch die Brille der englischen Rengaiſſance. Shelley, der den 
jungen Dichter aufs Höchſte bewunderte, jprach doch mit dem 
Wunjche, „ich möchte ihn Griechijch lehren“, das richtige Verſtändniß 
für den Mangel bei Keats aus, ihm fehlte die Anjchauung der 
griechischen Jorm. Und gerade hierin war Shelley Meijter. Zeine 
Ueberjegerthätigfeit, die jede fleine Lücke feiner produftiven Zeit 
ausfüllte, führte ihn in das innerite Geheimniß der griechtjchen 
Form und Spracdye ein und obgleich Shelley außer dem entfejjelten 
Prometheus feinen wirklich antifen Stoff behandelt hat, jo zeigen 
doc; Werfe wie Adonais und Hellas, wie er jeinen gan; 
modernen originellen Gedanfeninhalt in die reinen Formen der 
klaſſiſchen Bildung zu Eleiden vermochte. 

Der entfejjelte Prometheus und Hellas erjcheinen als die Er- 
rüllung eines Verjprechens, das „Königin Mab“ und „Laon und 
Cythna“ nur gegeben. Welch ein weiter Weg und eine wie furze 


Shelley. 207 


Spanne Zeit! Zwar den unreifen, trodenen Empirismus, der die 
Nothwendigfeit des Atheismus beweijen jollte, hatte er dichteriſch 
schon in der „Königin Mab“ überwunden; deiſtiſche und pan— 
theiſtiſche Voritellungen halten jich hier bereits die Waage, und frühe 
Plato-Studien verrathen fich in der gern gepflegten Vorſtellung 
von einem gleichberechtigten Dajein der Ideenwelt über der der 
Erjceheinungen; im Prometheus aber erflingt ein hohes Yied des 
Pantheismus. Die künſtleriſche Phantaſie wird jich und fann jich 
aber nie auf ein metaphyfiiches Syitem einjchwören; jo finden ſich 
denn auch in Gedichten diejer Periode, bejonders in Hellas, Stellen, 
die für jeine Verehrung von Berfeleys Idealismus zeugen; und 
der alte Ahasverus, der immer wieder, jeit jchon den Stnaben 
Schubarts Fragment tief erregt hatte, in jeinen PVichtungen auf: 
tritt, bis zulegt in Hellas immer weijer und milder werdend, 
icheint doch der verförperte Beweis eines außerweltlichen, regierenden 
Willens zu jein. 

Mit Prometheus zujammen erjchtenen neun andere Gedichte, 
alles Berlen der Lyrik Shelleys, die den Stebenundzwanzigjährigen auf 
der Höhe jeines Könnens zeigen. In immer neuen Formen be: 
funden jie eine Zwiejprache der TDVichterjeele mit den waltenden 
Naturmächten, jei es der freie, unlenfbare Wejtwind, die jegen- 
ivendende Wolfe, jet es die zum Simmel jubelnde Yerche, jet es 
die Mimofe, die da: 

„Liebt wie die Liebe, und was ihr gebridt, 

Erjchnt fie im Herzen: der Schönheit Licht.“ 
Alle find wejensgleich, gleichen Stammes mit dem Tichter. Nur 
einmal in diejen Jahren und gewifjermaßen nur einmal in jeinem 
Wirken hat Shelley die fünftleriiche Sphäre gewechjelt, um, wie er 
jagt, „eine Leidenschaft, die ich jelber nie gefühlt, in feujcher 
Sprache und nach den Regeln einer aufgeflärten Kunſt zu jchildern“: 
Er jchrieb im Jahre 1819 ſein Drama: „Die Cenci“. 

Mitten in der Arbeit am Prometheus erregten ein altes 
Manuſkript, das den Untergang des Hauſes Cenci berichtete, Die 
lteblich fummervollen Züge, die der Tradition nad) auf Guido 
Renis Bild Beatrice Cenci darjtellen jollten, und die Popularität, 
die dieje Geſtalt und ihr graufiges Schidjal in Italien be- 
gen, jeine Phantafie. Er, der jich jelbit immer jedes dra— 
matische Talent abgejprochen hatte, bejchloß, Ddiejen, man möchte 
\agen, hyperdramatijchen Stoff zu einer Tragödie zu formen. Die 
Lorrede, die wie fajt jede von Shelleys Vorreden die jeltene Eigen 


208 Shelley. 


ichaft einer faſt objektiven Betrachtung des Werfes hat, jpricht mit 
großer Einjicht von der möglichen Art der dramatischen Behandlung 
des jpröden Stoffes. „Bei folch einem Gegenjtande“, heißt es hier, 
muß man die idealen Schreden der Ereignijje erhöhen und Die 
wirflichen mindern. . . In der rajtlofen und zergliedernden 
Kaſuiſtik, mit der die Menjchen eine Rechtfertigung Beatrices juchen 
und doch fühlen, daß ihre Ihat eine Rechtfertigung bedarf, in dem 
abergläubiichen Schreden, mit dem jie zugleich ihre Leiden und 
ihre Nache betrachten, beſteht der dramatiſche Charakter deſſen, 
was jie that und litt“. 

Das Stüd it oft überjchwenglich bewundert nnd gelobt 
worden, jo verjchiedenen Naturen wie Yandor, Niegjche und Dühring 
erjcheint es als das Meifterwerf der neueren engliſchen Dichtkunit; 
von anderer Seite ijt ihm wie allen modernen englischen Schau- 
jpielen der Vorwurf gemacht worden, daß es völlig undramatijch 
jei. Schr zu Unrecht haben aber jolche Stritifer es zu den Iyrijch- 
dramatischen Gedichten gerechnet, wie die Dramen Byrons, jene 
ausgejponnenen Monologe, es jind. Die Charaktere jind trefflich 
individualifirt, der ſzeniſche Aufbau iſt tadellos, erjchütternd wirkt 
Beatrices halb wahnfiunverwirrter Schmerz, mit dem jie das Ver 
brechen, das der eigene Bater an ıhr begangen hat, halb ahnen 
läßt, halb verräth. Daß das Stüd fich dennoch nie die Bühne 
bat erobern fünnen — nur einmal it es von der Shelley-Sejell- 
ichaft privatim aufgeführt worden — liegt gerade in der drama- 
tijchen Ueberjpannung des Stoffes. Und dieſe it merfwürdiger 
Weiſe noch verjchärft worden durch jenes Prinzip Shelleys, nur 
die idealen Schrednifje zu erhöhen: Nicht die Abjcheulichkeit des 
Stoffes als jolchen peinigt den Yejer — Shafejpeare hat uns oft 
ebenjo Schlimmes zugemuthet —, jondern die Auffafjung des 
Charafter® der Heldin. Shelley hat den Water und Beatrice, 
Nacht und Licht, einander gegenübergejtellt: Jener it ein un: 
menjchlich graufamer Tyrann, Hal und Wolluft in ihm gemijcht, 
wie er jeder Menſchlichkeit baar gejchildert werden mußte, um das 
Beitialiche jeines Anjchlags auf die Tochter begreiflich zu machen 

- und Shelley war geübt in Tyrannenjchilderung —; gut beob- 
achtete Züge des italienischen VBolfscharafters wie jeine fatholische 
Frömmigkeit und das Pochen auf das Gottesgnadenthum jeiner 
väterlichen Gewalt jegen eigenthümliche Schlaglichter auf Ddiejes 
grauje Bild. Und nun Beatrice! Wir fünnen ihr wohl folgen, 
dal fie den Mord des Waters bejchlieht, die Mörder Ddingt, jie 


Shelley. 209 


zur That anfeuert, Alles in dem Gefühl, daß nichts von Kindes: 
ehrfurcht bleiben fonnte, jondern es nur gilt ein Scheufal zu ver: 
nichten, wir fönnten es verjtehen, wenn jie in der vielbewunderten 
Serichtsizene jich ihrer That rühmen würde. So aber bringt es 
einen quälenden Eindrud hervor, daß fie bis zulegt die That 
leugnet, den Mörder, der jie als Anjtifterin jchon bezeichnet bat, 
mit ihren Augen und ihrer Nede Kraft jo bannt, daß er, wieder 
leugnend, für jie auf der Folter ftirbt. Dies eine Mal hat Shelley 
einen Zug ſophiſtiſcher Selbitjucht, wir möchten fajt meinen un- 
bewußt, in einen Charakter hereingebracht, der doch gerade als 
eine reine Blüthe, die aus einem verdorbenen Boden inmitten einer 
giftigen Atmojphäre hervorjproößt, gejchildert werden ſollte. Denn 
Shelley nimmt offenfundig für jeine Heldin Partei, ihr Untergang 
ericheint als ein ihr zugefügtes Unrecht, jie darf Mutter und 
Brüder, die befannt haben, des jchwächlichen Verrathes anflagen. 
Der Dichter wollte jie als ein durchaus wahres Gejchöpf darjtellen 
und vergißt, daß er jie fortwährend lügen läßt. Auch die vorüber: 
gehende Todesfurcht, wohl ein rein menschlicher Zug in einem 
jungen Wejen, erwedt in den Zuhörern Die peinliche Frage; hat 
ie nur deshalb fich jo glänzend vor den Nichtern vertheidigt, um 
jih ein Leben, das ihr doch nur Entjegen brachte, zu erhalten? 
An Mis. O' Neill, die Shelley, der jelten ins Theater ging, weil 
er meiſtens jeine Sllufionen dort nur zerjtört fand, mehrmals in 
Yondon bewundert hatte, dachte er bei der Rolle der Beatrice. 
„Gott bewahre*, jchreibt er aber dabei, „daß ich jelber jie jemals 
in Diefer Nolle jehen jollte, das würde meine Nerven in Stücke 
reißen.“ In der That, jelbit Nerven, die jich noch mit den Greueln 
eines Sardoujchen Stüdes abfinden, müßten bei einer jolchen 
geiſtigen Ueberreizung zujammenzuden. 

Fern der ungajtlichen Heimatb, in Italien, „dem Paradies der 
Verbannten*, entfaltete Shelley in den legten vier Jahren jeines 
Lebens von 1818 an jeine volle Tichterblüthe. Das Schiedjal 
hatte ihm nad) vielen Stürmen ein verhältnigmäßig ruhiges Glück 
aufgejpart, das ihm die Yiebe einer edlen rau und die Freund— 
ihaft mit Byron jchuf. Byron hatte er 1816 auf einer Neije in 
die Schweiz fennen gelernt. Es war ein merfwürdiges Verhältnif, 
das dieje beiden Männer verband. Shelley erfannte bedingungslos 
die Ueberlegenheit des älteren, berühmten reundes an; ihm impo- 
nirte zudem im perjönlichen Umgang die gebietende, vornehme Art 
Byrons. So oft er auch unter dem peinlichen Verhältniß, das 

Breuhiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 14 


210 Shelley. 


jenen mit jeiner Schwägerin Clare verband, und mehr noch 
durch die unzarte Art, wie dieſer es bald von jich abzufchütteln 
juchte, litt, immer wieder bezauberte ihn Byrons Verkehr. Und 
Byron, den zu Shelley Anfangs die Feindichaft zog, mit der ihn 
die englische Gejellichaft behandelte, die jenem wie ihm das 
2008 freiwilliger Verbannung eingetragen hatte, ſah bald zu 
jeinem Eritaunen, daß in Diefem Manne Cigenjchaften, 
die er jelbit aufs Höchite ſchätzte, faltblütiger perjönlicher 
Muth, natürliche Begabung zu allen ritterliden Uebungen, 
äußerte Verachtung jeder Konvention und Gejellichaftslüge fich 
verbanden mit eimer ganz außergewöhnlichen Kindlichkeit und 
Neinheit des Herzens, die er bewunderte, weil fie ihm jelber 
fehlten. Wiederholt jchreibt er an englifche Freunde über Shelley 
in einem Tone, dem man dies Erjtaunen anhört: „Ihr mißfennt 
Shelley Alle“, um dann ein bewunderndes Lob der Perjönlichkeit 
hinzuzufügen, mit dem er jonjt jehr fargte. Trotzdem hat Byron 
auf Shelley als Dichter in ungleich geringerem Maße gewirkt wie 
Godwin und Wordsworth. Zu jtarf war die innere Verſchiedenheit, 
die ihn von Jenem trennte. Hingegen hat Shelley eine Zeit lang 
weit jtärfer Byron in jeinen Ideenkreis gezogen. Es war in 
den eriten Schweizer Tagen, wo Shelley, ganz von Wordsworth 
erfüllt, nachdem er mit dieſem in jeinem Alajtor gewetteifert hatte, 
auch Byron mit Wordsworth tränfte, wie diejer jich ausdrüdte. 
Der dritte herrliche Gejang des Childe Harold zeigt hiervon 
die unverfennbaren Spuren, zeigt den großen Fortſchritt, den 
Byron durch Wordsworth und Shelley in feiner Auffaſſung der 
Natur machte. 

Mit Byrons ſkeptiſchem Peſſimismus ſetzte ſich Shelley gleichjam 
perjönlich in einem der jchönjten Gedichte jeiner leßten Zeit, in 
Sultan und Maddalo, auseinander: Es zeigt die beiden Freunde 
auf einem gemeinjamen Ritte am venetianischen Yido, wobei uns 
in Maddolo Byrons widerjpruchsvolle Gejtalt in ihrer liebens- 
würdigen Menjchlichkeit, verkflärt durch die Dichterfreundjchaft, ent— 
gegentritt. Auf jeine tiefjchmerzliche Klage, daß das menjchliche 
Herz wie die Glode, die drüben auf der Laguneninjel die 
Seren zum Gebet rufe, in uns Wiünjche und Gedanfen erwede, 
deren Grund und Zwed wir nicht erfennen, bis im Tode 
wie dort im Sonnenuntergang Alles verblaſſe, antwortet Julian 
Shelley mit jeinem umerjchütterlichen Glauben an die Freiheit 
des Willens: 


Shelley. 211 


Der Menſch verſchuldet, 
Daß Uebel ibn umftricken, die er duldet. 
Wir lönnten andere, könnten Alles fein, 
Bas wir erträumen: glücklich, edel, rein. 
Wo tft, was man als wahr und lieblich preift 
Als fhön, wo anders als in unſerm @eift? 
Und wären mir nicht alfo ſchwach berathen, 
So glihen unjre Wünſche unfern Thaten. 


Indem er jo die Willensfreiheit vertrat, was für ihn eine 
dDichtertjche Forderung war, ſetzte er ſich nicht nur zu Byron in 
Gegenſatz, jondern in diefem einzigen Punfte wid) er auch von 
jeinem Xehrer Godwin ab. Diejer lehrt einen Determinismus, 
der ihn bis zur völligen Entjchuldigung des Verbrechens führt, 
das aus der Anlage des Individuums nothwendig hervorgehe, und 
doch leitet er höchjt widerjpruchsvoll Schuld und Sünde nur von 
der Gejellichaft ab, die diefe dem an fich guten Menjchen auf- 
dränge. Gerade weil Shelley mit Leidenjchaft dieſe lette Lehre 
umfaßte, trieb fie ihn zu der Annahme, daß es in dem Willen 
der Menjchen liege, anders zu jein, wenn fie anders und beſſer 
berathen wären. Byron lehnte philoſophiſche Spekulationen völlig 
ab, worüber die pejjimitischen Neflertionen im Kain und Manfred 
nicht täufchen dürfen; und eine jolche Auffaſſung Shelleys erjchien 
ihm völlig utopish. Im richtiger Erfenntnig jeines Wejens läßt 
denn auch Shelley jeinen Julian den Freund zu einem Irren 
geleiten, der wahnjinnig über ähnlichen Ideen geworden iſt, wie 
jie ihn jelber bejeelen. Und wie in einem Spiegel fieht Julian 
in der Seele des Iren, den Liebe und Welt verrathen haben, 
jein eigenes Bild: 

„Er, an deſſ' Herz des Fremdlings Thräne nagt, 
Wie Waſſertropfen in den Felfen dringen, 

Der Lieb und Mitleid fühlt mit allen Dingen, 
Den jelbft das Leid, das Niemand hört, bedrüdt, 
Der Fernes mit des Geiſtes Aug’ erblidt, 

Der mit den Armen weint, Zertrel'ne hebt, 

Mit den Gefangnen in der Belle lebt, 

Ein Nero, der bei dem Drud der Welt erbebt, 
Den Niemand jonft empfindet.“ 

Ganz zweifellos ijt der Einfluß, den Byron auf Shelley als 
Satirifer ausübte. Die politijche Satire nimmt in der englijchen 
Dichtung von Dryden bis Byron einen weit größeren Raum ein, als 
in jeder anderen Literatur; denn der Dichter jtand hier weit mehr im 
öffentlichen Leben al8 anderwärts. Das achtzehnte Jahrhundert hatte 

14* 


212 Shelley. 


eine Reihe der glänzenditen Satirifer hervorgebracht, und die jung- 
engliiche Schule wurde von den politijchen Zuftänden ihrer Zeit 
wieder heftig nach Dderjelben Richtung gedrängt. Selbſt ein jo 
weltfremder Dichter wie Keats hat wenigjtens einmal einen Anlauf 
hierzu genommen. Shelley hatte einige gute Anlagen zum Satirifer; 
er beſaß Wit, tiefes Pathos und ethijchen Zorn, doc) fehlte ihm 
eins, wonit Byron Alle meijterte und weit hinter fich ließ: Der 
pridelnde Humor, der erjt wirklich das Janusgeſicht der Satire, 
die fomijch-gegenjtändliche Situation und das ernite ZJeitübel, das 
jene durchjichtig umjchleiert, zum Ausdrud bringt. So ijt denn 
auch Shelleys „Dickfuß, der Tyrann“, zu jchwerflüfjig und ernit, 
um nicht von den Satiren im Don Juan oder dem Meijteritüd 
Byrons, der „Viſion des Gerichts“, überholt zu werden. 

Die legten acht Jahre jeines Lebens hat Shelley jein Schidjal 
an das einer geijtig ihm ebenbürtigen rau geknüpft. Mary, 
jeine zweite Gattin, war die Tochter Godwins und Mary Wolliton- 
crafts, der berühmten WVerfafjerin jener Programmichrift „Die 
Rechte der Frau, von der an die Bewegung zur geijtigen Be: 
freiung der Frauen datirte. Sie hatte ihrer Tochter als Erbtheil den 
freien großfinnigen Charafter hinterlajjen. Shelley fühlte jich durch 
viele Züge gleicher Anlage und gleicher Scidjale zu Mary 
Wolljtoncraft bingezogen; Verehrung für diefe Frau erfüllte ihn 
lange, ehe er ihre Tochter fennen lernte. Im Borjpiel zu Yaon 
und Cythna hatte er jie verherrlicht in der idealen Führerin des 
Dichters, und in Gefprächen über die Mutter an ihrem Grabe hat 
er die Tochter für fich gewonnen. Nichts verband ihn damals 
innerlich noch mit Harriet; und Shelley war zu jehr Schüler, 
Mary zu jehr Kind ihrer Eltern, um nicht einzig und allein dieſes 
innere Band anzuerfennen ; ihr Bund war ihnen rein und heilig. 
Als dann zwei Jahre jpäter Harriets Selbſtmord Shelley tief er- 
jchütterte, fonnte fein Gefühl perjünlicher Schuld ihm dies tragische 
Ereigniß bitterer machen; und nur übelwollende Schmäbjucht 
fonnte ihn verantwortlich machen für eine Ihat, die bei Harriet 
Folge ihres leichtfinnigen Lebens war. Der Lordfanzler Elton 
aber jprach doch die Anficht der Mehrzahl der geordneten und 
durch die eigenthümliche englische Heuchelei diejer Jahre noch ver: 
engten Gejellichaft aus, wenn er durch einen willfürlichen Nichter- 
jpruch Shelley die beiden Kinder eriter Ehe nahm, weil der Lebens: 
wandel und die Anjichten, wie jie die Schriften des Dichters aus- 
jprächen, nicht für ihre chrijtliche Erziehung bürgen fünnten. 


Shelley. 218 


Der Schlag traf Shelley jo tief, daß er ihm die Heimath 
verleidete. Vergebens hatte ihn Leigh Hunt mit zarter Liebe um: 
geben, um ihm dieſe böjejte Zeit jeines Lebens erträglich zu 
machen. Shelley hatte fich ein Jahr lang — die längſte Zeit, die 
er überhaupt an einem und demjelben Orte zugebracdht hat —, 
als „Einjiedler von Great Marlow“ in dem freifinnigen, geijtig 
belebten Kreiſe, der jich in dem gajtlichen Hauje Leigh Hunts zus 
jammenfand, jehr wohl gefühlt; der liebenswürdige Ejjayiit nahm 
die Rolle, die ihm damals zufiel, das Haupt aller Freigeiſter und 
Nadifalen Englands zu jein, mit Freuden auf. Jetzt aber Yloh 
Shelley das Land, wo man ihn ächtete, er ging mit Mary und 
ihrem Söhnchen Willtam nad) Italien, dies Kind mit doppelter 
Liebe jchirmend. 

Mary war nicht ganz das Genie, zu dem jie Shelleys Be- 
wunderung jo gerne jtempeln wollte. Nach den erjten viel: 
verheigenden Anfängen, die fie als Nomanjchriftitellerin unter der 
Anregung ihres Gatten gemacht, hat fie jpäter ihr ganzes Leben 
nur noch jeinem pojthbumen ®eijte geweiht, jeinen Werfen, jeinem 
Namen gelebt. Sie war eine feine, jtille Blüthe; bei allem. 
jtillen Glüd, das fie dankbar empfing und gab und das nie getrübt 
wurde, vermißte Shelley bei ihr doch manchmal etwas von dem 
lebhaften Feuer, das jeine Liebe und jeine Ideen immer durch: 
jtrömte, und Mary Hagt jich jpäter jelbit an, daß jie ihn vielleicht 
hierin nicht ganz veritanden habe. Ein Gedicht diejer legten Zeit), 
Epipſychidion, gluthvoll und abjtraft, jchwer verjtändlich, erzählt 
von jolch einem Feuer, wie es mehr die Phantaſie ald das Herz 
des Dichters erfüllte, aber doch anfnüpfte in Mitleid und Sehn: 
jucht an ein jchönes, ins Kloſter verbanntes italienisches Mädchen. 
Epipjychidion nennt Shelley jelber die „vita nuova“ jeiner Ges 
dichte. Umgekehrt zu jeiner gewöhnlichen Gejtaltungsweije fnüpft 
hier Shelley an ein wirklich lebendes Wejen an, das in der Gluth 
jeiner unjinnlichen Dichterleidenjchaft zum reinen Ideal wird: 
„sch bin nicht Dein, ich bin ein Theil von Dir“ ruft er aus. 


*) Der Name Epipſychidion „Nebenfeelhen” deutet Stopford Broot als „Ueber der 
Seele,” was H. Richter nah ihm gar als forreipondirend mit Uebermenſchen 
überträgt. Doch erklärt er fi aus dem in der älteren antiken Roritellung 
murzelnden Glauben von einem Abbild des Menden, dem Eidolon, das 
die Kunſt immer als Miniaturbild des Menſchen darftellt, und das bei 
Shelley wiederholt mit der Vorſtellung der Platonifchen Idee verquidt in 
feiner Dichtung eine Stelle findet, jo im entfeflelten Brometheus und nod 
deutlicher jchon in der Königin Mab, wo NYanthes' Seele ſich als das genaue 
Abbild des unten leblos liegenden Körpers, nur völlig idealifirt, emporfchwingt. 


214 Shelley. 


Mary hat diejes Gedicht allein unter denen ihres Gatten nicht 
fommentirt, berührten fie doch in ihrer jtillen Treue jolche Stellen 
wie die folgende peinlich: 

„Nie mocht ic mich zu jener Selte zählen, 

Die lehrt: nur Eines darf ſich jeder wählen, 

Nur eine Liebe und nur einen Freund, 

Um jeden fonft, jo weif’ und gut er jcheint, 

Kalt zu vergeſſen.“ 


Und doch mußte fie ihn verjtehen, wenn er diejfen Gedanken 
weiter ausführt: 

„Eng iſt das Herz, das nur ein Weſen liebt, 
Der Menſch, der fi nur einem Ziel ergiebt, 
Das Hirn, das einen Gegenftand errafit, 

Der Geift, der nur ein einzig Ding erihafft.“ 

Neich an Freunden war diejes Leben, das jelber jo viel an 
Liebe gab. Trelawney, der erit in den legten Monaten in jeinen 
Kreis getreten war, hat jeiner begeijterten Freundſchaft in einer 
Schilderung vom Shelleys Perjönlichfeit Ausdruck gegeben, wie jie 
bejier als jedes Bild uns die Züge des Menjchen nahe bringt. 
Er jah den Dichter zum eriten Mal bei dem gemeinjamen Freunde 
Williams, der bald das Todesſchickſal mit dem Dichter theilen jollte 
und jchildert jeine grenzenloje Ueberrajchung, als ein großer magerer 
Süngling, der wie ein Knabe gekleidet in eine jchwarze Jade und 
Beinfleider, die ihm ausgewachjen jchienen, ihm mädchenhaft er— 
röthend den Hände entgegenitredte und ihm als der Dichter 
Shelley vorgeftellt wurde. „War es möglich!“ ruft er aus, „Eonnte 
diejer bartloje Junge jenes Scheujal jein, das mit aller Welt in 
Krieg lag, exrfommunizirt von den Vätern der Stirche, jeiner Bürger: 
rechte beraubt durch das fiat des grimmen Lord Kanzler, von den 
Mitgliedern jeiner Familie gemieden und den weijen Rivalen in 
unjerer Literatur als Gründer der Satanijchen Schule denunzirt?“ 

Außergewöhnlich wie diefes Yeben war auch jein Ende. Von 
je hatte das Meer und das Leben auf dem Schiffe auf Shelley 
eine magijche Anziehungskraft geübt; und wenn er nichts Anderes 
hatte, jo ließ er doch mit den Kindern Schiffchen auf einem Teiche 
jhwimmen wie in den Tagen von Marlow. Auf der Themſe, auf 
dem Genfer Zee, auf dem Mittelmeer, überall war das erſte Ver 
langen nach einem Boote; und das legte Verhängnik, das ihn 
erreichte, war nur der unglüdliche Ausgang, nachdem er viele Male 
ſchon in der Gefahr, zu ertrinfen, gejchwebt hatte. Ein Vierteljahr 


Shelley. 215 


vor jeinem Tode hatte er die Caſa Magni in Spezzia gemiethet, 
ein altes, vom Meer umjpültes Jejuitenflojter, wo man jich bei 
Sturm wie an Bord eines Schiffes fühlte; und da, wo alle jeufzten, 
weil jie ohne jede Bequemlichkeit leben mußten, war er glüdlich 
wie noch nie; diefe Einjamfeit erjchien ihm wie eine jener er- 
träumten paradiejiichen Injeln jeiner Dichtung. Mary fand nad 
vielen Jahren die Kraft, eine Schilderung der legten Kataſtrophe 
zu geben, der Todesangjt, mit der fie zwijchen Yivorno, von wo 
aus die leichte Nacht Ariel an Sem gewitterdrohenden Tage fröhlich 
ausgejegelt war, und Spezzia mit immer jchwächer werdender 
Hoffnung auf: und abwanderte. Ihr jchmerzdurdjzitterter Bericht 
und Trelawneys Schilderung führen uns von Tag zu Tag durd) 
diefe für Gattin und Freunde qualvollen Wochen, bis endlich die 
Auffindung der Leiche auf die aufregende Angit die Leere der 
TIodesgewißheit folgen lien. 

Byrons Gedanke war es, dem griechijch gejinnten Freunde ein 
antifes Tcdtenopfer zu bringen. Am Strande von Yivorno wurde 
der Scheiterhaufen gejchichtet, der den Yeib des Dichters verbrennen 
jollte. Seine Aſche und jein Herz, das von den Flammen unver: 
jehrt von Trelawney dem Feuer entrijfen wurde, brachte man auf 
den jchönen protejtantijchen Friedhof in Rom. „Der Gedanfe, dort 
zu ruhen, fönnte einen mit dem Tode verliebt machen“, hatte 
Shelley geiagt, als er hörte, daß Keats dort begraben worden jet. 
Seht ſenkte man feine Reſte neben jenem ein. Ein bedeutungs- 
voller Zufall hatte ihn in den Gedichten von Steats leien lajjen, 
als ihn das todtbringende Unwetter überrajchte, man fand das 
umgejchlagene Buch noch in jeiner Tajche. So galt jein letzter 
Gedanke jenem Dichtergenius, dem er vor einem fnappen Sabre 
in jeinem herrlichen Adonais eine Grabjpende gebracht hatte, ohne 
zu ahnen, daß er ſich jelber damit einen unvergleichlichen Todten— 
jang finge. Für den Schmerz aller freunde fand Yeigh Hunt den 
Ausdrud in den beiden Worten, die jeinen Grabjtein jchmüden: 
Cor cordium, und Trelawney fügte Ariels Worte aus dem Sturm 
hinzu: 

„Nichts von ihm, was je zerfalle, 
Denn die falzige Meeresflutb 
Wandelt's in ein Böftlih Gut.” 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Bon 
Emil Daniels. 


Memoires de la Comtesse Potocka (1794—1820) Publiees par 
Casimir Stryienski. Avec un portrait en heliogravure. Paris Librairie 
Plon. 1897. 


Memoiren der Gräfin PBotoda. Nah der éten franzöfiihen Auflage 
bearbeitet von Dscar von Bieberſtein Leipzig H. Schmidt & Co. 18. 

Die Verfaſſerin diejer Yebenserinnerungen, eines der farben: 
reichiten aller Gejchichtsbilder, jtammte aus königlichem Geblüt: fie 
war die Großnichte Stanislaus II. Augujt aus dem Hauje Ponta= 
towski, des legten Königs von Bolen. Ein anderer Großonfel von 
ihr, Johann Klemens Sara Branidi, war bei der legten polnischen 
Königswahl der Gegenfandidat jeines Schwagers Stanislaus ge— 
wejen. Nach jeiner Niederlage hatte er fich auf jeine unermeß— 
lichen Beſitzungen zurüdgezogen, wo er als Hetman der Krone und 
Stajtellan von Strafau wie ein König lebte. Branidis bevorzugte 
Nejidenz war das Schloß von Bialyſtock, in welchem jeine Groß— 
nichte, Nomtejje Anna Tyszkiewicz, die Autorin unjerer Memoiren, 
ihre Jugend verbrachte, und das fie folgendermaßen bejchreibt: 
„Das Schloß war mit jeltener Pracht eingerichtet. Franzöſiſche 
Tapeziere, die mit großen Unfojten herbeigejchafft worden waren, 
hatten Möbel, Spiegel, Holzjchnigereien mitgebracht, Die des 
Sclojjes in WBerjailles würdig waren. Schlechterdings nicht zu 
übertreffen waren die impojanten Größenverhältnijje der Salons 
und der mit Marmorjäulen gejchmücdten Veſtibüls. . . . . . Das 
Arrangement der Gärten und der Parks, der Yuzus der verjchie- 
denen Gewächshäufer, die Schönheit und die Menge der Orangen= 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 217 


bäume — alles das zujammengenommen erhob diejen Platz zu 
einem wahrhaft königlichen Aufenthalt. Bei Lebzeiten des Ktajtellans 
von Krakau verfürzten zwei Schaujpielertruppen, eine franzöjtjche 
und eine polnijche, jowie ein Korps de Ballet, Alles auf Kojten 
des Kaſtellans unterhalten, die langen Winterabende.. Das von 
einem italienischen Künftler deforirte Theater faßte 3—400 Ber: 


Das war die Lebenswerje, welche die Srandjeigneurs Der 
Oppojition damals in ihren Häujern führten. Zu meiner Zeit 
waren davon nur noch die Erinnerungen übrig, die ich mir von 
hundertjährigen Dienern erzählen ließ.“ 

Ob die Beſitzer der bejchriebenen glänzenden Räumlichkeiten 
jich glüdlich fühlten, kann zweifelhajt erjcheinen, denn das Ver: 
hältniß des Grafen Branidi zu jeiner Gemahlin war noch zerrütteter, 
als das bei der liederlichen polnischen Ariſtokratie ohnehin jchon 
Brauh war. Auch die Eltern von Anna Tyszfiewicz lebten fajt 
immer getrennt von einander, der Bater in Wilna, die Mutter. mit 
dem einzigen Kinde in Bialyjtod, bei ihrer Tante, der verwittweten 
Gräfin Branida, mit der zufammen die Gräfin Tyszkiewicz während 
der Saiſon nad) Warjchau überzufiedeln pflegte. Hier in Warjchau 
erlebte Anna, noch ein Kind, die blutigen CEreignijje, welche der 
dritten Theilung Polens vorhergingen: die Vertreibung der rujjischen 
Truppen aus der Stadt im Frühjahr 1794 und die Erjtürmung 
der Vorjtadt Braga im Spätherbjt dejjelben Jahres durch Suwa— 
roff. Noch viele Jahre jpäter jtanden die Details des Zujammen- 
iturzes der polnischen Staatsruine mit einer jchredlichen Lebendig— 
feit vor dem geijtigen Auge der Gräfin: „ „ . . Wir wurden durch 
den Donner des Gejchüges und ein jehr heftiges Gewehrfeuer ge: 
wet. Mein Vater war abwejend, und die Dienerjchaft jogleic) 
zu den Waffen gejtürmt, ohne jich um unjer Schickſal zu kümmern. 
68 wurde aljo eine weibliche Konferenz abgehalten, die entjchted, 
das es das Sicherjte wäre, jich tm Steller zu veriteden. Wir 
brachten dort den ganzen Vormittag zu, ohne etwas gewahr zu 
werden. Als gegen drei Uhr Nachmittags das Gewehrfeuer in 
unjerem Stadtviertel aufgehört hatte, ließ uns der König jagen, - 
wir möchten verjuchen, zu dem von ihm bewohnten Schloß zu ges 
langen. Wir fanden weder Kutſcher noch Yafaten, und übrigens 
würde ein Wagen auch jchwerlich) die mit Xeichen angefüllten 
Straßen haben pajjiren fünnen; wir jahen uns aljo gezwungen, 
zu Fuß die ganze Strafauer Vorſtadt zu durchichreiten, wo man ſich 


218 Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 


jtundenlang gejchlagen hatte. Der Anblid diejes Schlachtfeldes, 
wo die Ruſſen zu Hunderten lagen, ließ mein Blut zu Eis er: 
jtarren. Aber das war auch der einzige widerwärtige Eindrud, 
den ich empfing; die verlorenen Kugeln, welche über unjere Köpfe 
bin pfiffen, beunrubigten mich in feiner Weiſe. 

Bon diefem Tage an bis zum Gemegel von Praga verließen 
wir das Schloß nicht mehr, da die Stadt jich in  beitändiger 
Gährung befand. Alles, was jich in der Zwijchenzeit ereignete, it 
volljtändig aus meinem Gedächtniß verjchwunden. Nur undeutlic) 
erinnere ich mich, daß ich meine Mutter in das Lager Kosziusfos 
begleitet habe, wo jchöne Damen, ein kleines Mützchen auf dem 
Ohr, zur ‚Förderung der Schanzarbeiten, mit Erde gefüllte Karren 
jchoben. Ich beneidete ihr Loos, und mein Kinderherz pochte jchon 
bei den Erzählungen von unjern Siegen. 

Morgens und Abends hielt meine Bonne mich an, Gott 
flehentlich zu bitten, daß er unjere Waffen jegne. Mit ganzem 
Herzen vollführte ich, was jie mir vorjchrieb, obwohl ich nicht ganz 
begriff, was vorging, und warum man eigentlich den hübjchen 
ruſſiſchen Offizieren jo böje jein mußte, denen ich oft mit Wer: 
gnügen zugejehen hatte, wie jie ihre jchönen Pferde tummelten. 
Das Gemepel von Braga klärte mich auf, und mein Herz erjchlor 
ſich früh Empfindungen, welche ich wieder meinen Kindern einge: 
impft Habe. Neuntaujend wehrloſe Einwohner wurden in einer 
einzigen Nacht erwürgt, indem fie feine andere Zuflucht und fein 
anderes Grab fanden als ihre eingeäjcherten Wohnungen! Da das 
Schloß des Königs am Ufer der Weichjel lag, die allein uns von 
Braga trennte, jo hörten wir deutlich das Wehegejchrei der Opfer 
und das Hurrah der Henker. Man fonnte jogar von einander 
unterjcheiden die Stimmen und das Gejammer der frauen und der 
stinder, das Wuthgebrüll und die Flüche der Väter und Gatten, 
die in der Wertheidigung dejien, was der Menjch am liebiten hat, 
ihr Yeben ließen. Eine rabenjchwarze Nacht jteigerte noch den 
Schreden diefer Szene. Ein Flammenmeer, über dem weißliches 
Gewölk lagerte, ließ im hölliſch anzufchauenden Schattenrijjen die 
Sejtalten von Koſaken hervortreten, die wie die wilde Jagd auf 
ihren Pferden cinheritoben, die Yanze zum Stoß erhoben uud durd) 
ein fürchterliches Geheul einander zur Fortſetzung ihrer Blutarbeit 
anfeuernDd. 

So vergingen einige Stunden; dann hörte man nichts mehr 
als das Krachen der zufammenstürzenden Balken und Deden. Tas 


Die Memorien der Gräfin Potoda. 219 


Wehegeſchrei, das Stöhnen, das Waffengeklirr, das Stampfen der 
Roſſe waren verjtummt, und das Schweigen des Todes lag aus: 
gebreitet über der Vorſtadt Praga, der Name Suwaroff aber war 
zum Fluche geworden.‘ 

Nachdem die Ruſſen Braga und die Preußen Warjchau bejett 
hatten, folgte die Gräfin Tyszkiewiez mit ihrem Kinde dem König, 
ihrem Onfel, nach Grodno, wo die legte Theilung Polens formell 
vollzogen und Stanislaus zur Unterzeichnung jeiner Abdankung 
genöthigt wurde. Gräfin Anna entwirft ein anjchauliches Bild 
von jenem frauenhaften Monarchen „mit der jchönen leicht par: 
füimirten Hand“ und erzählt dann von fich jelber: „Won einer 
fleinen Kammer aus, in welcher man mich mit meiner Gouvernante 
untergebracht hatte, ſah ich jeden Morgen den Cortege des Sflave 
gewordenen Königs. Die ruſſiſche Garde mit ihren breiten aus: 
drudslojen Gejichtern, aus der die Knute wandelnde Majchinen 
macht, erjchredten meine findliche Einbildungsfraft jo, daß Die 
ganze Autorität meiner Mutter dazu gehörte, um mich zum Ueber: 
jchreiten der IThürjchwelle zu bewegen, und auch dann that ich es 
nie ohne Widerjtand und Thränen.‘ 

. Aus Grodno in das Schloß von Bialyitod zurüdgefehrt, erlebte 
Komteſſe Anna ein neues, in ihrer geijtigen Entwidelung Epoche 
machendes Ereigniß, die Ankunft einer franzöfiichen Emigranten: 
familie, welche jie mit £öftlihem Humor jchildert: „Gegen das 
Ende des vergangenen Jahrhunderts‘, jo leitet jie ihre Charafterijtif 
ein, „war Polen von franzöfiichen Emigranten überjchwemmt, Die 
fast alle aus großen Häujern zu jtammen behaupteten und die Gaſt— 
freundjchaft, die man ihnen mit Emprejjement anbot, in einer Werje 
annahmen, als ob fie eine Gnade bewilligten. Die Gräfin Branidi 
hatte die ganze Familie Bafjompierre. Erſt war Einer gekommen, 
dann Zwei, dann Drei und jchlieglich die ganze Familie. Was ihr 
Oberhaupt anbetraf, jo machte jie von diejem nicht viel Aufhebens, 
aber man ließ doch feine Gelegenheit vorübergehen, ihn „der Herr 
Marquis“ zu nennen. Dann fam der Graf, ein Mann von uns 
gefähr fünfzig Jahren, der Gatte einer jungen und ziemlich hübjchen 
Stau, die er in dieſer Epoche der allgemeinen Umwälzung ge: 
heirathet hatte; in jeder anderen Konjunktur würde Fräulein von 
Rigny, wie die Eingeweihten jagten, feinen Anjpruch auf eine jo 
glänzende Berjorgung gehabt haben. Der Graf, klein, jchmächtig, 
mit wohlgepuderten, en vergette frijirten Haaren und mit dem 
unvermeidlichen Zopf als PBarteiabzeichen, macht einen nicht eben 


220 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


angenehmen Eindrud. Er hatte eine große, jpige Naje, einen 
finiteren Blid und einen verfniffenen Mund. Er galt als Schön: 
geiſt, imponirte durch Zitate und machte ganz nette Berschen. 
Wenn wir ein Theaterjtüd aufführten oder Jemandem eine lleber: 
rajchung bereiten wollten, oder wenn ein Feſt gefeiert wurde, gingen 
wir zu ihm und erjuchten ihn um ein Gedicht. Nachdem er jicd 
regelmäßig jehr hatte bitten lajjen, willigte er jchließlich ebenjo 
regelmäßig ein und bat uns nur, „jeine Slinder‘ nicht zu „ver: 
ihänden“ Dann famen die Proben ; das waren Haupt: und 
Staatsaftionen ! Bald mußte man gewiſſe mots heureux heben, 
dann wieder über einen Reim hinweggleiten oder aber den Ton 
auf einen Halbvers legen. Selten war der Verfaſſer zufrieden : 
er langweilte uns furchtbar. 

Die Mutter der Gräfin zeigte Ueberrejte ehemaliger Schönheit 
und jchien jehr flug zu jein. Wir hielten es durchaus nicht für 
ausgemacht, daß ſie nicht etwa durch ihre frühere Dingebung 
die blendende VBerjorgung ihrer Tochter vorbereitet hatte. Ein 
dreiundzwanzigjähriger Neffe, . . . und einreizendes kleines Töchterchen, 
Amelie, vervollitändigten die Familie. Zuerſt wollten jie nur eine 
bejcheidene Wohnung annehmen und nahmen an unjeren Mahlzeiten 
Iheil. Später fanden jie das Quartier zu vejchränft und jahen ein, 
daß der Menjch nicht nur Ejjen und Trinfen braucht, jondern daß 
er auch noch andere unabweisliche Bedürfnifje hat. Sie ver: 
jtanden jich aljo dazu, auf das Berjprechen der jtrengiten 
Disfretion hin eine ziemlich reichlich bemejjene Benfton anzunehmen. 
Nach ein paar Monaten äußerten jie den Wunſch, ihr eigenes 
Häuschen zu haben; ein Heim für fich it ja jo ſüß! Sofort be- 
famen jie eine niedliche fleine Billa, eine viertel Meile vom Schlofie 
gelegen. Aber zu einer neuen Wohnung gehört jo viel!..... 
Die Mama übernahm es aljo, der Gräfin Branidi die Verlegenheit 
anzudeuten, in welche jie jener Zuwachs an Komfort geitürzt 
hatte. Sogleich wurden die betreffenden Weijungen gegeben und 
das Yandhaus in den Stand gejeßt, jeine neuen Gäjte zu empfangen. 
Es fehlte an nichts: Die Zimmer wurden einfach aber elegant 
möblirt, die Schränfe wurden gefüllt, der Taubenjchlag wurde ge: 
füllt, der Garten geharft, die Wege wurden mit Sand betreut, 
jogar an Remiſe und Pferdejtall war gedacht, denn die Familie 
brauchte ja Berörderungsmittel, um zum Sclojje zu gelangen. 
Onkel war zu alt und Amelie zu jung, als daß jie ein jo großer 
Weg nicht hätte angreifen jollen. 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 221 


Die Ueberhäufung einer ausländijchen Familie mit jo vielen 
Woplthaten erregte Neid, und wenn ein derartiges Gefühl jemals 
entjchuldbar jein fann, jo war das hier der Fall, in Anbetracht der 
Art und Weije, wie jene Wohlthaten erwidert wurden. Ta gab 
es unaufhörlich Vergleiche zwiſchen Bergangenheit und Gegenwart, 
verlegende Anjpielungen oder unzarte Klagen. Wenn ein Fremder 
unjere Emigranten wegen der wirklich reizenden Billa beglüd: 
wünjchte, antwortete man ihm durch einen tiefen Zeufzer, einen 
Bid der Entjagung, durch einige unzujammenhängende Worte, Die 
bejagten: „Das it ganz gut für Andere aber für uns — !" 
Und dann jprad) man von Schlöfjern, die man fich gezwungen gejchen 
hatte zu verlajjen, von dem herrlichen und dem üppigen Leben, 
das man auf ihnen geführt hatte. Bon da bis zum Marjchall 
Bajlompierre und der Freundſchaft, welche den großen König und 
jenen großen Mann verbunden hatte, war nur ein Schritt, dun 
wenn diejer Boden einmal betreten war, dann gab es fein Aufhalten 
mehr. Die Seufzer wurden zu Thränen und die Anjpielungen zu 
Beleidigungen. 

Da trat ein für die Bafjompierres überaus peinliches Miß— 
gejchtef ein: der Bejuch Ludwigs KVIIL, der auf der Neije nad) 
Mitau, wo ihn Kaiſer Paul veranlaft hatte, jeine Nefidenz auf: 
zuichlagen, in Bialyitod abjtieg. Er reitte unter dem Namen eines 
Grafen von Lille. Man hatte für ihn die für Souveräne beitimmte 
Zimmerflucht in Stand gejegt, und er wurde mit allen jeiner Ge— 
burt und jeinem Unglück jchuldigen Rüdjichten behandelt. Die 
Gräfin Branidi verfügte jich zu jeiner Bewillfommnung aus ihren 
Semächern in den Empfangsjalon. Er jchten von jeiner Nufnahme 
jehr angenehm berührt zu jein und vergalt jie durch ein Aufgebot 
von außerordentlicher Liebenswürdigfeit. Ich war noch nicht alt 
genug, um ihn beurtdeilen zu fünnen, aber er gefiel mir, denn er 
hatte ein qutmüthiges und offenes Wejen. . . . .. 

Wir waren jehr gejpannt darauf, wie er die tilluitre erilirte 
‚samilie aufnehmen würde. O weh! Es erfolgte eine von jenen 
Enttäujchungen, die man jchwer überwindet. Der König fannte 
ſie garnicht! Weder den Marquis noch den Grafen, weder Die 
junge Gräfin noch die alte Mama! Na er behandelte die Stützen 
des Throns, die er niemals gejehen hatte, und die nichts gethan 
hatten, das wanfende Königthum zu jtügen, jogar etwas von oben 
herab! Sein Begleiter d'Avary, überrajcht über das Air, welches 
jich unjere Bajjompierres gaben, hielt jich für verpflichtet, uns mit: 


222 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


zutheilen, was er von ihnen wußte: es waren zwar wirkliche 
Bajjompierres, aber eine arme und heruntergefommene Linie, Die 
nichts geerbt hatten al einen auf Erinnerungen gegründeten Hoc: 
muth, und zu den Erinnerungen gehörten auch jene Schlöjjer, von 
denen jie unaufhörlich jprachen. Die Revolution hatte jie nicht 
ruinirt, jondern bereichert. Sie hatten niemals einen jo angenehmen 
Haushalt wie den ihnen durch eine großmüthige Gajtfreundjchaft 
gebotenen bejejien. 

Dieje Aufklärungen änderten an dem Benehmen der Gräfin 
Branidi nichts; bis an ihren Tod fuhr fie fort, ihre Gäſte mit 
Wohlthaten zu überhäufen. Die junge Gräfin profitirte übrigens 
von der Lektion: fie jprach weniger von Paris, das jie niemals 
gejehen hatte und enthielt fich der für ung wenig jchmeichelhaften 
Vergleiche zwijchen dem Lande, das jie hatte verlafjen müſſen, und 
dem, wo jie eine jo noble Aufnahme fand. Bon nun an trug fie 
ihre Wäjche, ohne länger zu wagen, jich über den Geruch der 
polnijchen Seife zu bejchweren, und da der König ganz entzüdt 
über das gute Ejjen gewejen war, worauf er einen jehr hoben 
Werth legte, glaubte ſie jich von nun an von der Verpflichtung 
frei, beim Genufje der Suppe den Mund zu verziehen.“ 

Berjönliche Erinnerungen und Familtentraditionen machten 
aus Gräfin Anna die glühende polnische Patriotin, als welche jie 
gelebt hat und gejtorben ijt, aber wenn die Idee der nationalen 
Unabhängigfeit den Inhalt ihres geijtigen Lebens ausmachte, jo 
wurde dejjen Form bejtimmt durch die franzöfiiche Bildung, und 
das war theilweije das Werf der Bajjompierres, die von nun an 
durch eine tragifomische Bosheit des Schickſals in der Gejchichte 
unsterblich jein werden, danf dem Talent einer Hafjiichen Stiliſtin, 
das jie jelber beigetragen haben, zu erweden: „Erzogen inmitten 
von Diejen Franzoſen eignete ich mir injtinktiv den Geiſt ihrer 
Sprache an, und bejchäftigte ich mich mit Vorliebe mit ihrer 
Yiteratur. Leidenjchaftlich liebte ich ihre Plauderei, die bald geiſt— 
reich und leichtfertig, bald lehrreich und ernit, aber doch immer von 
einer gewiſſen Heiterfeit war, jelbjt bei den ernjtejten Diskuſſionen, 
zu welchen die Politik Anlaß gab. Denn es waren Franzoſen der 
alten Zeit, welche, im Grunde genommen, über Alles lachten und 
bejtrebt waren, das Leben fo wenig ernjthaft zu nehmen, wie 
nur möglich.“ 

In noc höherem Mahe als der Familie Bajjompierre ver: 
dankte Gräfin Anna ihre intelleftuelle Kultur der franzöfiichen 


Die Memoiren der Gräfin Polocka. 223 


Borlejerin ihrer Großtante, dem Fräulein Duchene, einer geborenen 
Bartjerin. Dieje Dame beſaß feine Manieren, jo viele Kenntniſſe 
„wie ein wandelndes Slonverjationslerifon‘ und wußte zahlreiche 
„anecdotes eurieuses“. „Ich verdanfe ihr zu einem großen Theil 
das Wenige, was ich wei. Madame de Bajjompierre, deren 
Erziehung jtarf vernachläffigt worden war, hatte ihr noch mehr zu 
verdanfen als ich.“ 

Ieden Abend von jieben bis neun Uhr hatte Fräulein Duchene 
im Salon vorzulejen, und der ganze Hof, welcher die Wittwe des 
Stajtellans von Krakau umgab, durfte zuhören, aber nur unter der 
Bedingung, dak man fich ruhig verhielt. Die Vorlejerin hatte den 
aanzen Tag über nichts zu thun als nur während diejer zwei 
Stunden, die von der Schloßherrin dazu verwendet wurden, ich 
au courant der Zeitungen und literarijchen Neuigkeiten zu halten. 
Soweit dieje die Zeit nicht ausfüllten, las man die Klaſſiker, und 
die Gräfin Branidi, die jo tolerant war, daß fie niemals revidirte, 
wer an der täglich gelejenen Meſſe theilnahm und wer nicht, 
duldete, daß neben dem fatholiichen Chateaubriand auch der 
radifale Roufjeau vorgetragen wurde. 

Das iſt mit einer einzigen Ausnahme, auf die wir noch 
zurüdfommen, Alles, was Gräfin Anna während ihres ganzen 
Lebens gelernt hat. Für unjere deutjchen Begriffe it es geradezu 
ein Wunder, wie dieje Halbfranzöjin es angefangen hat, ohne Die 
Grundlage eines gediegenen Wijjens eine jo hohe Bildungsitufe 
zu erreichen. Denn wer wollte jic) wohl vermejjen, einer Dame, 
bloß weil ihr der trodene Wifjensjtoff mangelt, echte Bildung ab- 
zujprechen, wo ihre Memoiren doch Ejprit, geijtige Gewecktheit, 
Feinheit, Geſchmack, Humor, Menjchenfenntnig und Gefühl zeigen 
und von einer jeltenen Begeijterung für alles Hohe und Herrliche 
durchweht jind! Natürlich hat eine jo oberflächliche, Hauptjächlich 
auf die Bollendung der Form gerichtete Bildung ihre großen 
Schwächen; dazu gehört 5. B. der Aberglaube, dem Gräfin Anna 
wie die meilten Bolinnen im außerordentlichen Maße ergeben war. 
Ste zweifelt nicht an der Exiſtenz übernatürlicher Mächte, welche 
das tägliche Leben der Menſchen beeinflujjen, und welche durch 
dazu begabte Perſonen jo bejchworen werden fünnen, daß jie Nede 
und Antwort jtehen müjjen. Solche übernatürliche Mächte exiſtiren 
nach der Anficht unjerer Autorin jicher; nur it es einer Katholikin 
nicht erlaubt, ich an jie zu wenden, oder man muß wenigjtens, 
wenn man es gethan hat, nachher zur Beichte gehen. Freilich 


224 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


fonnte einer jo gejcheidten Frau die Wahrnehmung nicht ent: 
gehen, daß jene Auffafjungen in einer unauflöslichen Disharmonie 
mit der Voltaireſchen Weltanjchauung jtanden, welche das Zeit: 
alter beherrjchte. Aber fie empfand nun einmal nicht das Be: 
dürfniß, Die bezeichneten Widerjprüche in jich auszugleichen, und 
jie rechtfertigt diefen Mangel an wifjenjchaftlihem Sinn jo geilt- 
voll, liebenswürdig und beredt, daß man ein gelehrter Pedant 
jein müßte, wenn man ihr ihren Mangel an philoſophiſcher 
Methode nicht aus vollem Herzen vergeben wollte: „Doch lebe 
die gute alte Zeit!" jagt jie, „wo man an Alles glaubte. Zuerft 
glaubte man an die Vorjehung, und das vereinfacht die Dinge 
jehr. Dann glaubte man an das Paradies, und das macht jehr 
viele Leiden erträglich. Man glaubte an die Jugend und an die 
Pflicht, jeine jündigen Triebe zu befämpfen, denn die geijtreichjten 
Autoren, die entzüdenditen Romanjchriftiteller hatten noch nicht 
bewiejen, daß Ddiejer Widerjtand mindejtens überflüjlig it, da die 
Yeidenjchaft ja alle Seitenjprünge rechtfertigt. Man glaubte an 
die Wunder, an uneigennüßige Liebe, an hingebungsvolle Freund: 
ichaft, man glaubte jogar an Dankbarkeit! 

Nach den erniten Glaubenslehren famen die verführeriichen 
und entbehrlichen Glaubenslehren, die, aus welchen man jich in 
jeinem Gewijjen einen Vorwurf machte, und deretwegen es ber: 
fümmlich war, zur Beichte zu gehen! Man glaubte an Yiebes: 
tränfe, an Zauberformeln, an Ahnungen, an Wahrjagerinnen, an 
Nitrologen, an Gejpenjter! Dieje Glaubenslehren brachten Dichter, 
Geiſterſeher, Seftirer, Helden und Narren hervor. Heutzutage aber 
wollen die jtarfen Geijter, die tiefen und pofitiv gerichteten Denfer, 
an denen das Zeitalter Ueberfluß hat, an nichts mehr glauben 
oder glauben an nichts mehr als an Hauſſe und Baifje, aber Gott 
weiß, ob Haufje und Baiſſe auf bejjeren Garantien beruhen, und 
ob man dabei nicht auch jehr oft hereinfällt.‘ 

Wir haben Alie unjere Vorurtheile, aber jelten tit die Gabe 
und die Kunſt, mit jo viel guter Yaune und Phantaſie jeiner 
Schwächen zu jpotten. 

Wenn die Uhr im Salon der Gräfin Branida neun jchlug, 
ichloß Fräulein Duchene ihr Buch, und die Flügelthüren wurden 
für Diejenigen im Schlojje und aus der Nachbarſchaft geöffnet, 
welche feine literariichen Interejjen hatten. Man plauderte dann. 
Die Gräfin Branida, deren Bater mit Karl XII. eng lürt gewejen 
war, wußte viele intereflante Anefdoten aus dem Leben des Königs 


Die Memoiren der Gräfin Botoda. 225 


zu erzählen: Eines Tages waren die Lebensmittel ausgegangen; 
der König, welcher immer an der Spite der Armee ritt, jprang 
plöglich ab und riß einen Büchel Kraut aus der Erde, das er zu 
fauen begann. Nach einem Augenblid des Stillichweigens jagte 
er zu dem Bater der Gräfin, der ihm betroffen zujchaute: „Ich 
verjuchte, die Welt zu erobern; wenn es mir gelungen wäre, meine 
Truppen auf dieſe Weije zu ernähren, jo weiß ich, daß ich 
Alerander und Cäſar wenn nicht übertroffen jo doch mindejtens 
erreicht haben würde.“ 

Karl fürchtete jich vor einer einzigen Macht in der Welt, vor 
der der Schönheit; hübjche rauen fonnten fich rühmen, einen 
‚seigling aus ihm gemacht zu haben; jie jagten ihn in die Flucht. 
„So viele Helden,“ jagte er, „ind dem Liebreiz eines jchönen 
Gefichtes erlegen. Hat nicht Alexander, den ich bejonders liebe, 
eine Stadt verbrannt, einem albernen Freudenmädchen zu Gefallen. 
Ic will, daß mein Leben über eine derartige Schwäche erhaben 
jein joll, und daß die Gejchichte diejen Flecken an mir nicht findet. 

Eines Tages meldete man ihm, daß ein junges Mädchen für 
einen blinden adhtzigjährigen Vater, den Soldaten mißhandelt hatten, 
von ihm Gerechtigfeit erflehen wolle. Der König, der jo jtreng 
auf Disziplin hielt, machte eine Bewegung, als ob er zu der Bitt- 
jtellerin hineilen wollte, um von ihr jelber die näheren Umjtände 
des Erzejies zu erfahren. Aber plöglich hielt er inne und fragte: 
„sit ſie hübſch?“ Und da man ihn verjicherte, daß fie mit großer 
Jugend eine bemerfenswerthe Schönheit verbände, jo ließ er ihr 
jagen, jie jolle ſich verjchletern, jonjt fünne er ihr fein Gehör 
geben. 

Soweit die Gejchichten von Karl XII. Auch über Friedrich 
den Großen hörte Gräfin Anna verjchiedene Anekdoten und zwar 
aus dem Munde der galanten Füritin Iſabella Ezartorysfi der 
Mutter des berühmten Fürſten Adam zartorysfi.*) Es wird 
preußijche Yejer amüfiren, zu vernehmen, was die Bolin über den 
Näuber Wejtpreußens zu berichten weiß: Am Hofe von Sansjouci 
vorgeitellt, hatte jie eines Tages Gelegenheit gefunden, fich in jein 

*) Ich habe dem Fürften Adam im Hlten Bande der „Breußifhen Zahr- 
bücher“ S. 578 einen Efjay gewidmet. In der Edition der Memoiren 
der Gräfin Potoda find einige auf die Fürjtin Iſabella bezügliche 
Zeilen nur durch Punkte angedeutet; fie beziehen fib vieleicht darauf, 
dag ihr Sohn Adam nicht das Kınd ihres Gatten, des Fürften Adam 
Caſimir Gzartorgsfi, geweſen tit, fondern, wie menigitens Theodor 


von Bernhardi in feiner „Geſchichte Rußlands“ annimmt, einer Liaifon 
der Fürftin mit dem ruffiihen Feldmarſchall Repnin fein Leben verdantte. 


Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2 15 


226 Die Memoiren der Gräfin Botoda. 


Arbeitszimmer hineinzuglifjiren in dem Augenblid, in welchem er 
e8 gerade verlafjen hatte. So gewann die Fürſtin, wie jie glaubte, 
einen Einblid in des Bhilojophen von Sansjouci geheimjtes Walten 
und Weben, und fie will da Folgendes entdedt haben: Auf einem 
mit Papieren und Starten bededten Schreibtiich Itand ein Teller 
mit Kirchen, auf dem fich ein Zettel mit den höchjteigenhändig ge: 
jchriebenen Worten befand: „Achtzehn find noch d'rauf!“ In der 
Ede lag auf einer Caufeuje eine alte Hujaren= (sie!) Uniform, die 
darauf zu warten jchien, billig geflict zu werden. Neben einem 
offenen Briefe von Voltaire erblidte man die Nechnung eines Hof: 
lieferanten, eines Ktolontalwaarenhändlerd. Mufifnoten waren un- 
ordentlich auf ein Pult geworfen, und nicht weit von diejer Ver: 
jinnbildlichung der Harmonie erjchaute man einen furulijchen Stuhl, 
ähnlich dem auf dem Kapitol, nur mit dem Unterjchied, day der 
eine von rothem Marmor tft, während der andere aus ordinärem 
Holz war und nichts an fich hatte, was jeinen efelhaften Zwed 
verdedt hätte: „‚zür einen König ein jonderbares Arbeitszimmer !“ 
fügt Gräfin Anna Hinzu. Und weiter meint jie: „Ohne Zweifel 
veritand Napoleon einen viel bejjeren Gebrauch von jeinem Er- 
oberungsrecht zu machen als Friedrich von jeinem Geburtsrecht." 

Die Ezartorysfa wollte ferner willen, daß für die Berlin be: 
rührenden Neijenden unendlich viel Takt und Gefchielichkeit dazu 
gehört hätten, um zwijchen den beiden Höfen zu laviren. Der 
König hatte jeinen, der ji) nur aus Militärs und Gelehrten zu: 
jammenjeßte. Die Königin, welche er niemals jah, vereinigte die 
eleganten Damen und den hohen Adel um jih. Wenn man den 
einen bejuchte, wurde man von dem anderen jcheel angejehen. Es 
war beinahe ein Ausjchliefungsgrund. Wenn der König von 
jeiner rau jprach, was jelten vorfam, nannte er jie immer nur die 
alte Kuh, vice versa nannte fie ihn den alten Schuft oder den 
alten Filz. 

‚stiedrich jprühte von Geijt, aber er war jchroff und wenig 
liebenswürdig: weit bejjer gefiel der Czartorysfa Joſef II., den fie 
Gelegenheit gehabt hatte, genau fennen zu lernen, da fie zu jenem 
fleinen Kreiſe gebildeter Frauen gehörte, in deren Mitte der 
Monarch fi) nach gethaner Arbeit zu erholen pflegte. Umſo wider: 
wärtiger war ihr Kaunitz, dem jie einer jedes Map überjteigenden 
Unverjchämtheit anflagt: Auf Diners mußte jein Kammerdiener 
nach Beendigung der Mahlzeit ihm einen Spiegel, ein Beden und 
eine Zahnbürjte bringen, und dann wiederholte der Fürſt die Pflege 


Die Memoiren der Gräfin Rotoda. 227 


jeiner jchönen Zähne wie am Morgen, gleich al8 ob er jich allein 
in jeinem Anfleidezimmer befinde, während alle Anderen warten 
mußten, bis er fertig war; vorher wurde die Tafel nicht auf: 
gehoben. 

Einmal war zu einem Diner neben dem ‚sürjten Kaunitz ein 
venetianijcher Nobile, Namens Grandenigo, eingeladen. Der Fürft, 
der in guter Zaune war, machte ic) das Vergnügen, das Wort 
an ihn zu richten und ihm zu jagen, er jei ein großer Ochs. Der 
arme Italiener, der fein Franzöſiſch veritand, fragte, überrajcht von 
dem ungeheuren Gelächter, feinen Nachbarn nad) der Urjache: 
„Das fommt daher“, antwortete Diejer, „weil Seine Hoheit liebt, 
dag man an feiner Tafel luſtig it.“ Den Venetianer befriedigte 
aber dieſe Antwort nicht ganz, er blieb zerjtreut und jah die 
Schüffeln nicht, die ihm gereicht wurden. Als der Fürſt bemerfte, 
daß dieje Zerjtreutheit das Serviren jtörte, jagte er ganz laut zu 
dem Gajtgeber: „Warum haujt Du ihm nicht eine 'runter?“ 

„Wenn man derartige Details hört‘, fügt Gräfin Anna hin— 
zu, „jollte man nicht glauben, daß jeitdem mehrere Jahrhunderte 
verflofjen wären?“ 

Die Verfaſſerin unjerer Memoiren meint, für ein junges 
Mädchen wären zwei Dinge unvereinbar mit einander, die Moral 
und die Bhantajie: „„Le genie du Christianisme*“ war joeben er: 
ſchienen. . . . Sch warne die Mütter, ihre Töchter diefe religiöfe 
Poeſie lejen zu laſſen. . . . ... Herr von Chateaubriand hatte, 
ich verjtehe ihn, die beiten Abjichten, er wollte, daß ein unflares 
Yiebedürfnig tournät au profit de dieu; (die deutjche Sprache 
verjagt bei dem Berjuche diefe Wendung zu überjegen), aber, ich 
wiederhole es, dieſes Buch iſt für fünfzehnjährige Mädchen gefähr: 
ich; es bringt eine Wirkung hervor, die der vom Autor beabfichtigten 
geradezu entgegengejegt iſt.“ 

Daß junge Damen von Liebe überhaupt garnichts hören jollen, 
erjcheint und Deutjchen mit Necht als widernatürlich und ver: 
ihroben, es iſt das indejjen innerhalb der Sphäre der franzöfifchen 
Bildung eine andere Zache; hier iſt eine in der angegebenen Weije 
forcirte Mädchenerziehung injofern begreiflich, als in diefem Kultur— 
freije die reine Klonvenienzehe herricht. Die zur Jungfrau erblühte 
Komtejje Anna jträubte ſich zunächſt gegen ein jolches Schidjal, 
aber die Verhältniſſe zeigten fich jtärfer als ihr jugendlicher Wille: 
„sc war die einzige Tochter, die Erbin zweier aroßer Vermögen, 
ıh hatte einen jtolzen Namen, angenehme Züge, eine jorgfältige 

15* 


228 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Erziehung. Sc war mit einem Worte das, was man übereinge: 
fommen it, eine gute Partie zu nennen... .. Mein Geijt und 
mein Herz hatten jich, ich weiß nicht recht wie, mit einer gewiſſen 
kindiſchen Schwärmerei erfüllt, die durch die Lektüre der großen 
Dichter genährt wurde, denn die hatte man mir ja nicht verbieten 
fönnen. Sch wollte Helden wie die Nacines, oder Nitter jo wie 
Tancred. Ic jehnte mich nach tiefen Yeidenfchaften, nach mit 
Naturgewalt plöglich über einen fommenden Sympatbhien, nad) 
großen und erhabenen Thaten. ch wartete. Aber als ich ſchließ— 
[ich jah, daß weder Britannicus noch Gonjalvo de Cordova famen, 
und daß ſich mir vermuthlich nicht einmal Grandijjon bieten würde, 
da bequemte ich mich, aus meinem Himmel herabzujteigen, und 
dachte traurig, ic) müßte der Gejchichte ein Ende machen und mid) 
verheirathen wie alle Anderen auch, nach Maßgabe der Vernunft 
und der Stonvenien;. 

Es wurden meinen Eltern verjchtedene Partien vorgejchlagen. 
Die einen fonvenirten ihnen nicht, denn jie waren ihnen nicht 
glänzend genug, die anderen jchienen mir unthunlich, weil jie mir 
nicht ſympathiſch waren. Aberendlichnäbertefich GrafAlerander Botodi, 
und da er gleichfalls eine der bejten Bartien in Bolen war, jo 
wurde er ohne Bedenken acceptirt. Unjere Eltern hatten jchon 
Alles brieflich abgemacht, und als Potocki nach Bialyjtod fam, 
wußte er im Voraus, daß er feinen Korb befommen würde.“ 

„Einen blajirten Dandy“ nennt Gräfin Anna ehrlich ihren 
Gemahl, und fie fügt hinzu, es habe feinerlet Wahlverwandtjchaft 
zwijchen ihren Charakteren und Gejchmadsrichtungen beitanden. 
Nichtsdejtoweniger fühlte fie jich in der erjten Zeit ihrer Ehe, die 
jie auf dem bei Warjchau gelegenen Willanow, ehemals einer Be- 
ſitzung Sobiesfis, zubrachte, recht glüclich, und es grämte jie nur, 
daß ihr Mann die Neigung jeiner jungen Gattin nicht allzu leb— 
haft zu erwidern jchien. Als fie eines Sommerabends mit ihm am 
Ufer der Weichjel unter vielhundertjährigen Eichen bei Mondfchein 
jpazieren ging, brachte fie die Unterhaltung auf das Gemüthsleben 
und behauptete, daß es fein anderes Glüd auf diefer Welt gäbe 
al8 gegenjeitige Zuneigung, die aber ebenjo innig wie dauerhajt 
ſein müſſe. 

Für die überaus beſcheidenen geiſtigen Kräfte des jungen 
Gemahls war dieſes Gejprächsthema ſchon viel zu abſtrakt. Er 
ließ jeine romantische Lebensgefährtin eine Zeit lang jchwärmen, 
dann zog er jeine Uhr und bemerkte, es wäre jchon jpät, auch 


Die Memoiren der Gräfin Botoda. 229 


wären die Mücken unerträglich, und fie wollten deshalb Lieber 
hineingehen. 

„Der Ton, den ich angeſchlagen hatte, war jo verſchieden von 
dem, in welchem er nur diefe Bemerkung machte, daß ich, in meinem - 
Zimmer angelangt, in Tränen ausbrad) und entdedte, daß ich die 
unglüdlichjte Frau der Welt jei, weil ich jo wenig gejchäßt wurde.“ 
Graf Alerander gelangte auch jpäter nicht zu einer gerechteren 
Werthſchätzung jeiner geijtreichen Frau, in welcher er nur die Forte 
pflanzerin und die Repräjentantin jeiner alten Familie erblidte. 
Trotzdem verlief die Ehe eine Reihe von Jahren hindurch normal, 
was theilweije das Berdienit des von ihr hochverehrten Schwieger: 
vaters der Gräfin Anna war. Graf Stanislaus Potocki war, mit 
dem Maße der ariitofratischen Salonbildung des vorigen Jahrhunderts 
gemeſſen, ein jehr unterrichteter Mann; „er wußte Alles“, wie die 
Schülerin von Fräulein Duchene naiv jagt. Unter Anderem war er ein 
feinfinniger Kunſtkenner, und esmachte ihm Freude, in jeiner Schwieger: 
tochter die Liebe zur Kunſt zu entwiceln, welche ihre Mutter ihr jchon 
eingeimpft hatte, und welche von nun an eine der großen Leiden 
ichaften ihres Lebens’ zu werden begann. Am liebjten würde fie 
den ganzen Tag gezeichnet haben, und für den Landſitz Natolina, 
welchen jie jich mit ıhrem Gatten neu erbaute, entwarf fie jelber 
alle Pläne: „Wenn es uns an Geld fehlte, verfaufte ich Diamanten, 
um Marmor und Bronze faufen zu fünnen. Mein Mann jchien 
meinen Gejchmad zu theilen und, obgleich fühl und wenig zugänglid) 
für Begeilterung, freute er fich doch mit Stolz meiner Schöpfungen. 
Glückliche Zeit, wo meine Schlaflojigfeit niemals eine andere Ur— 
jache hatte als die überjtrömende Fülle meiner Bhantajie! Wie 
oft träumte ich mit offenen Augen! Mit welcher Ungeduld er: 
wartete ich den Anbruch des Tages, um die Jdeen auf das Papier 
zu werfen, welche in der Stille der Nacht in mir aufgejtiegen 
waren !“ 

Um die Zufriedenheit der Gräfin voll zu machen, wurde auch 
der heiß erjehnte Stammbalter geboren. Die Gräfin bejchreibt jehr 
ihön ihre erjten Mutterfreuden: „Ich habe nachher noch zwei 
Kinder gehabt, aber ich habe niemals die Empfindung wiedererlebt, 
welche jich in mir bet dem erjten Schrei jenes erjten Kindes regte. 
Meine Freude war ein Delirium, das für einige Minuten das 
Gefühl meiner Schwäche aufhob ; ich verjuchte, mich zu erheben, 
um meinen Sohn zu jehen. Aber ich fiel rückwärts, erichöpft durch 
die ausgejtandenen übermäßigen Schmerzen.“ 


230 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Inzwijchen war in Rußland Kaiſer Mlerander I. ans Ruder 
gefommen, von dem es ein öffentliches Geheimnig war, daß er 
Oeſterreich und Preußen ihre polnischen Yandestheile abzunehmen 
beabjichtige, um jodann ein mit Rußland nur durch Berjonalunion 
verbundenes Stönigreich Polen wiederherzujtellen. Aber zunächſt 
hatte Alerander die beiden anderen Oftmächte nöthig, um im Berein 
mit ihnen den nicht länger aufzujchtebenden Krieg gegen Wapoleon 
durchzuführen. Um die Alltanz mit Friedrich Wilhelm III. zu ge 
winnen, begab der Kaiſer fich nach Berlin und bei diejer Gelegen— 
heit war er in Willanow der Gajt des jungen Potockiſchen Ehe: 
paares: „Der Kaiſer war jung und jchön,“ jchildert ihn unjere 
Berfajjerin, „aber obgleich er eine jehr vortheilhafte Figur hatte, 
fam jeine Haltung mir nur elegant nicht auch wiürdevoll und 
föniglic) vor. Seinem Auftreten fehlte jene Ungezwungenbeit, 
welche eine hervorragende Stellung und die Gewohnheit, zu be: 
fehlen, zu verleihen pflegen. Er ſchien verlegen zu jein ; jeine über: 
triebene Höflichkeit hatte etwas Banales, und Alles, bis zur Steif- 
heit der unglaublich engen Uniform, ließ ihm viel eher als einen 
netten Offizier denn als einen jungen Monarchen erjcheinen. 

Die damaligen Herren von Warjchau, die Preußen, erlaubten 
dem Kaiſer nicht, die Stadt zu paſſiren, weil jie den Enthujias- 
mus fürchteten, den jeine Anwejenheit erweden fonnte, weil man 
damals mit Bejtimmtheit behauptete, er jtände im Begriff, Jich 
zum König von Polen zu erklären. Und das war es, was uns 
die Ehre diejes Bejuches eintrug, denn der preußijche Kommandant 
von Warjchau hatte den Befehl erhalten, Alexander entgegen zu 
jahren und ihn auch wieder bis zur Grenze zu begleiten, eine 
Ehrenbezeigung, die Niemanden täujchte, und über die Jedermann 
lacht— 

Wir waren im Ganzen ſechs Perſonen bei Tiſch; der Reſt des 
Gefolges aß in einem beſonderen Saal. Wir hatten oben am 
Tisch ein Kouvert A part auflegen laſſen; der Kaiſer jchien davon 
nicht angenehm berührt zu jein und rücte jeinen Sejjel nahe an 
meinen Stuhl. Er aß wenig und jprad) viel. Seine Unterhaltung 
war einfach und zurüdhaltend; jie machte nicht den Eindrud, als 
ob er große Fähigfeiten hätte, aber e8 war unmöglich, ihm 
Schwung der Ideen und eine außerordentliche Mäßigung abzu: 
Iprechen. Die Generale, welche jeine Suite bildeten, waren nicht 
jo bejcheiden; fie fragten uns, ob wir etwas in Paris zu bejtellen 
hätten, indem ſie ſich eimbildeten, daß ihre Eroberungen und 





Die Memoiren der Gräfin Botoda. 231 


Triumphe erjt dort ein Ende haben würden. Es verging aber nur 
ein Monat nach der Abreije unjeres erhabenen Gajtes, da ver: 
nahmen wir, daß er bei Aujterlig gejchlagen worden war und jich, 
ohne anzubalten, bis nach Petersburg zurüdgezogen hatte. 

Sch fomme auf das Diner zurüd, das jehr lange dauerte. 
Alexander war harthörig, und, wie alle Tauben jüngeren Alters, 
affeftirte er, jehr leije zu sprechen. Man wagte nicht, ihn zu 
fragen, was er gejagt hätte, und antwortete aus Ehrerbietung 
jehr oft irgend etwas Beliebiges. 

Nachdem wir aus dem Speijezimmer in den Salon gegangen 
waren, verweilte er bier noch zwei qute Stunden, indem er fort: 
während jtand. Man behauptete, daß er fich in jeiner Uniform 
jo beengt fühle, daß jede andere Haltung ihm läjtig würde. Gegen 
Mitternacht zog er ſich endlich zurüd, indem er von den beiden 
Schlafzimmern, die ihn zu empfangen bereit waren, das einfachere 
wählte.“ 

Auf Auſterlitz folgte Jena; der Krieg wälzte jich an Die 
Weichjel, und Warjchau wurde von den Franzoſen bejegt: „Zwei 
Tage nach jeiner Ankunft lieg Prinz Murat mir jeinen Bejuch 
anmelden und fam Abends mit einer zahlreichen Suite herauf. 
Das war ein grand homme oder vielmehr ein homme grand, 
mit einem jogenannten jchönen Gejicht, das aber abſtieß, denn es 
war ohne Adel und vollitändig ausdrudslos. Er hatte den 
majejtätiichen Gefichtsausdrud des Schaufpielers, der einen König 
giebt. Man bemerkte leicht, daß jeine Manieren angenommen 
waren, und daß er für gewöhnlich andere hatte. Er drückte jich 
nicht .üibel aus, denn er achtete jehr auf ich, aber jein gascogner 
Accent und einige gar zu ſoldatiſche Ausdrüde jtraften den Prinzen 
an ihm ein wenig Yügen. Er liebte es, jeine Waffenthaten zu erzählen 
und jprach uns mindejtend eine Stunde lang vom Strieg. Die 
Einnahme von Lübeck war fein Lieblingsthema .... Es war das 
auch wirklich eine jchöne Waffenthat, aber davon erzählen hören 
war weniger angenehm. Das Blut riejelte in den Straßen, Die 
Pferde bäumten jich vor den Leichenhaufen. Diejes gar zu 
getreue Bild des Krieges war nicht tröjtlich für uns arme ‚rauen, 
die wir alle diejenigen, welche uns theuer waren, zu den Waffen 
itrömen ſahen ...... 

Endlich jtand er auf, grüßte mit Würde und jagte uns, daß 
er in jein Stabinet zurückkehren müjje, um die Yandfarte von 
Polen und die Stellungen der rufjiichen Armee zu jtudiren.“ 


232 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


So jehr die Vernichtung der preußijchen Herrichaft die Gräfin 
Anna beglücdte, jo wenig nimmt fie in ihren Memoiren eın Blatt 
vor den Mund, wenn es ſich um die Schilderung von Mängeln 
hervorragender franzöſiſcher Berjönlichfeiten handelt. So erzählt 
jie 3. B.: „In den Slantonnements wurden die höheren Offiziere 
auf Koſten der Grundherren bewirthet. Ein reicher Edelmann, 
der einen der berühmtejten Marjchälle glänzend aufgenommen 
hatte, war am anderen Morgen nicht wenig überrajcht, zu hören, 
daß mit den Feldfalejchen des Heros zugleich jein Silbergejchirr 
verjchwunden war. Das ging ihm über den Spaß, und er zeigte 
e8 dem Saifer an, der, entrüjtet über dieje Handlungsweije im 
befreundeten Lande, die Silberjachen jofort zurüdjtellen ließ und 
dDiefe Zerjtreutheit auf die Nechnung der Leute des Mar: 
ſchalls jeßte.“ 

Als eine der erjten unter den großen Damen Polens empfing 
die Gräfin Botoda häufig die Führer der franzöfijchen Armee in 
ihrem gajtlicfen Hauſe. Zuweilen wurde gejpielt, aber meiſtens 
geplaudert. Auch der andere Schwager Napoleons, der Fürſt 
Borgheje, pflegte ſich regelmäßig einzufinden, aber Niemand be— 
fümmerte ji) um dieſes Halb idiotiſche Produft jejuitiicher Er— 
ziehung: „Sch werde niemals vergejjen, wie er in den furzen 
Intervallen, während deren die Unterhaltung ein bischen ernit 
wurde, ji) Stühle zufammenjuchte, jie mitten im Salon paar: 
weije aufitellte und ſich dann damit unterhielt, trällernd mit jeinen 
ſtummen Wartnern Gontre zu tanzen.... Da er erjit Oberit 
war, und der Kaiſer jeiner weiteren Beförderung einen Anjtrich 
von ©erechtigfeit zu geben trachtete, jo lancirte man jein Regiment 
in ein kleines Scharmügel, wo mehr Lorbeeren zu gewinnen als 
wirkliche Gefahren zu laufen waren. Der Oberjt war jehr jtol;, 
zum erjten Mal den Säbel gezogen zu haben und jagte jehr ernit 
zu Herrn von VBaugiron, den er bei mir traf: „Erzählen Sie 'mal 
der Gräfin, wie ich meine Sciabola gezogen habe!“ 

Die Kranzojen revanchirten jich aejellichaftlich zunächit Durch 
einen Ball bei Talleyrand, auf welchem auch der Kaiſer mit 
jämmtlichen Prinzen erjchten. „QIalleyrand galt für den liebens- 
würdigjten und geijtreichjten Mann feiner Zeit, aber, offen ge- 
jtanden, gab er jich feine Mühe, uns als jolcher zu erjcheinen. 
Die Eingeweihten behaupteten, daß Niemand gewandter jei und 
mehr zu brilliven verjtehe, aber wenn id) ihn nach der Wirkung 
beurtheilen dürfte, die er damals auf mich ausübte, jo würde ich 





Die Memoiren der Gräfin Potoda. 233 


jagen, daß er von Allem überjättigt und gelangweilt zu jein jchten, 
geldgierig, eiferfüchtig auf die Gunjt eines Herrn, den er verab— 
icheute, ohne Charakter wie ohne Grundjäge, mit einem Wort ein 
Ktrüppel an Seele wie an Xeib. 

Sch kann die Ueberraſchung nicht jchildern, die ich empfand, 
als ich ihn fich jchwerfällig bis in die Mitte des Salons vorjchieben 
jah, eine zujammengefaltete Serviette unter dem Arm, eine ver: 
goldete Platte in der Hand, auf welcher er demjelben Monarchen, 
den er anderswo als Parvenü verhöhnte, ein Glas Limonade 


Die Sache iſt jonderbar, und man wird es mir vielleicht nicht 
glauben wollen, aber diejenigen im Gefolge des Statjers, welche die 
meiſte Würde bejagen und ihm auf die mindejt jervile Art dienten, 
waren nicht die Träger der alten großen Namen, die fich ihm ans 
geichlofien hatten, auch nicht die fremden Prinzen, welche, um 
Kronen bettelnd, hinter ihm ber zogen, jondern gerade die neu ges 
badenen Großmwürdenträger, die von ihm gemachten Marjchälle 
und hohen Beamten. Savary war der Einzige, der jich bejtrebt 
zeigte, einen gnädigen Blick aufzufangen, alle Uebrigen zeigten jich 
durchweg rejpeftvoll, ohne jich wegzuwerfen ...... 

Der Kaiſer tanzte einen Contretanz, der jeiner erjten Ans 
näherung an Madame Walewsfa zum Vorwand diente... Wir 
erfuhren jpäter, daß Talleyrand jeine Ihätigfeit joweit ausgedehnt 
hatte, dieſe erſte Zuſammenkunft herbeizuführen und die vorhandenen 
Schwierigfeiten zu heben. Nachdem Napoleon den Wunſch ge: 
äußert hatte, eine Bolin zn jeinen Eroberungen zu zählen, wurde 
eine gejucht, wie er fie brauchte, wunderjchön an Körper und 
nichtig an Geiſt . . . . Sie verwirflichte die Gejtalten von Greuze ; 
ihre Augen, ihr Mund, ihre Zähne waren wunderbar. Ihr Yachen 
war jo frisch, ihr Bli jo janft, das Ganze ihrer Erjcheinung jo 
verführerijch, dag man niemals daran dachte, was etwa ıhren Zügen 
an Negelmäßigfeit abgehen fonnte. Mit jechzehn Jahren an einen 
adhtzigjährigen Mann verheirathet, den man niemals jah, hatte jie 
ın der Welt fajt die Stellung einer Wittwe. Ihre große Jugend, 
verbunden mit einer jo bequemen Situation, gab zu vielerlei Gerede 
Veranlafjung, und wenn Napoleon der legte ihrer Yiebhaber ge— 
wejen iſt, jo behauptete man, daß er nicht der erjte war.“ 

Das erjte Schäferjtündchen zwijchen dem Kaiſer und Madame 
Walewsfa fand gleich am folgenden Abend jtatt, zur großen Ent: 
rüjtung der polnischen Damen, die freilich feineswegs der Sache, 


234 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


jondern nur der Form galt: „Wir waren Alle außer uns, da 
eine zur Gejellichaft gehörende rau jo rajch Entgegenfommen 
gezeigt und jich jo wenig vertheidigt hatte wie die Feſtung Ulm.“ 

Auf den Wunſch des Kaiſers, der den politijchen Einfluß der 
polnischen rauen kannte, nahmen jich fait alle franzöſiſchen Offiziere 
innerhalb der Ariftofratie Maitreſſen: „Leider jehe ich mich genöthigt, 
zuzugeben, daß wenige Franzoſen über Graujamfeit zu flagen 
hatten.“ Auch Murat wollte auf dieſem blumigen Wege moralischen 
Eroberungen zu Gunjten Frankreichs nachgehen, und er hatte jich 
Niemand anders zur Maitreſſe auserjehen als jeine geijtreiche 
Hauswirthin Gräfin Anna: Eines Morgens meldete man ihr den 
PBrivatjefretär des Großherzogs von Berg, einen Herrn Janvier, 
der mit jehr verlegener Miene eintrat, einen Schlüjjel in jeiner 
Hand haltend. Nach zahlreichen fonfujen Andeutungen, die die 
Gräfin Potoda abjolut nicht verjtand, fand Janvier den Muth, zu 
jagen, daß Seine Hoheit nicht wage, mir zahlreich bejuchte Gejell- 
ichaften vorzujchlagen, daß jie aber gedacht hätte, es würde mir 
angenehm jein, zuweilen in dem eleganten und laujchigen Zwijchen- 
jtod mit ihr Thee zu trinfen: „Ich fing an, zu verjtehen, und mein 
Zorn entbrannte. Er mußte das in meinen Augen lejen, denn er fiel 
beinahe vom Stuhl. Dann jtand er jtolpernd auf und ging auf eine 
Konſole zu. Bier legte er den verhängnißvollen Schlüjjel nieder und 
machte mir eine tiefe Verbeugung, indem er jich anjchickte, zu geben. 

Sch vermochte mich faum zu beherrjchen, mein Unwille war 
zu ſtark. Indem ich mich bemühte, möglichjt verächtlich zu lächeln, 
bat ich Herrn Janvier, er möchte dem Prinzen jagen, daß meine 
Schwiegermutter unzweifelhaft jeine Aufmerkſamkeit jehr hoch auf: 
nehmen würde, denn in ihrem Alter liebe man die zu großen Ger 
jellichaften nicht mehr, und es fünnte deshalb wohl jein, daß fie 
von dem liebenswürdigem Anerbieten Seiner Hoheit Gebraud 
machen würde, jedenfall würde ich, da er den Schlüfjel da ließe, 
ihn meiner Schwiegermutter übergeben. Dann grüßte ich mit dem 
ganzen Aufgebot meines Stolzes den armen Sekretär, ber wie ver: 
jteinert an der Thür jtehen geblieben war, und verließ den Salon.“ 

Der Großherzog von Berg war durch dieje Niederlage jeiner 
Avantgarde noch nicht entmuthigt und jchritt auf einem Ball jelber 
zur Attade, indem er die Gräfin Anna mit Fadaiſen überjchüttete. 
Erjt ziemlich ſpät erfannte er, daß er nicht durchdringen würde ; 
darauf bemerkte er pifirt: „Madame, Sie jind nicht ehrgeizig, 
Zie machen ſich aus Prinzen nichts.“ 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 235 


Auf einer Soiree, die Napoleon im Schloſſe gab, lernte 
Gräfin Anna das rüde perjönliche Wejen des forjischen Parvenüs 
deutlich) fennen. Unmittelbar vor Beginn des Gercles hatten 
holländische Deputirte bei dem Kaiſer Audienz, die gefommen 
waren, um ihn zur Schlacht von Jena zu beglüdwünjchen. Im 
Kreiſe der verfammelten Gäſte bedauerte man die Müynbeers, da 
man wußte, daß fih Seine Majejtät eines unangenehmen Bor: 
falles wegen in der allerübeljten Laune befand. Da öffnete ſich 
die Thür des Saales mit Gepolter, und man jah die jchwerfälligen 
Holländer in ihrer jcharlachrothen Gala mehr hereinrollen als her: 
eintreten. Der Kaiſer jchubite jie und jchrie: „Vorwärts! Vor: 
wärts!" Ohne Zweifel war die Thür in dem Nugenblid, wo 
Napoleon an ihr erjchien, von den Holländern belagert gewejen; 
er jchubite die armen Deputirten, welche den Kopf verloren und 
der Eine über den Anderen purzelten: „An jedem anderen Ort 
würde dieje fomijche Szene Heiterkeit erregt haben, aber Ton und 
Geſichtsausdruck des Herrjchers waren unheimlich, und, offen ge: 
jtanden, würden wir dieſer Szene lieber nicht beigewohnt haben.“ 

Nun folgen drei Jahre, aus welchen Gräfin Anna feine er: 
wähnenswerthen Lebenserinnerungen gezeichnet hat; ihre Memoiren 
verjegen uns ziemlich unvermittelt in das ‚srühjahr 1810 und 
unter die vornehme Gejellichaft von Wien: „Sehr nett,“ jo erzählt 
die Gräfin, „brachte man jeine Zeit bei einigen unjerer Yands- 
leute zu. Eines der angenehmiten oder, genauer gejagt, eines der 
elegantejten Häujer war das der Gräfin Yandoronsfa, obwohl ſich 
die Herrin ein wenig zu öjterreichijch gerirte. Eines Abends, als 
wir, um einen Theetiſch ſitzend, jehr lebhaft über die legten Tages: 
ereignifje plauderten, fam Jemand herein und meldete die Ankunft 
eines Kurierd aus Paris. Wien hatte durch die Anwejenheit der 
Franzoſen viel gelitten; man jtand hier noch unter dem Eindruck 
trauriger Erinnerungen, und das Geheimnik, welches in Bezug 
auf neu angefommene Depejchen beobachtet wurde, rief Konſter— 
nation in der Stadt hervor. 

Einige in Diejem glänzenden Salon vereinigte Polen aus: 
genommen verabjcheuten alle Anwejenden Napoleon grenzenlos.... 
So hörte ich z. B., wie man auf Grund unwiderleglicher That: 
jachen beweijen wollte, daß das Ungeheuer feig jei, und daß 
er bald in Blödjinn verfallen müßte, weil er an Epilepſie litte.... 
Der heftigjte wie auch der gefährlichjte jeiner Feinde war zweifels 
(08 der Korſe Pozzo di Borgo, der allein bejjer zu iprechen und 


236 Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 


zu haſſen verjtand als alle an diejer Unterhaltung theilnehmenden 
Deutjchen zujammengenommen. Wir laujchten jeinen Prophe— 
zeiungen, als der ruſſiſche Botjchafter Graf Razumowski jich an- 
melden lieh. 

Wir eilten ihm Alle entgegen und überhäuften ihn mit Fragen. 
Sein Gefichtsausdrud war unheimlich, er war tief erjchüttert, jeine 
Stimme verjagte ihm. Erſt nad) mehreren Minuten eines uns 
vorbereitenden Schweigens vermochte er ung mitzutheilen, daß dem 
geheimnigvollen Kurier, der Urſache der momentanen Angit, 
Marjchall Berthier in aufßerordentlicher Mijjion auf dem Fuße 
folge, um für feinen erhabenen Herrn um die Hand der Erzherzogin 
Marie Louife anzuhalten. Und noch mehr! Diejem gewejenen 
gemeinen Soldaten, dieſem Parvenü, dieſem neugebadenen Fürjten 
war die unvergleichliche Ehre bejtimmt, bei dieſem denfwürdigen 
Akt den Kaiſer und König per procuram zu vertreten! 

Diefer ganz aufßerordentliche diplomatische Schritt war die 
‚solge der geheimen Abmachungen, welche Metternich in Paris zu 
Stande gebracht und unterzeichnet hatte. . . . . Der Fürſt von 
Neufchätel fand an der Grenze einen der größten Magnaten des 
Yandes, den Fürſten Paul Eijterhazy. 

Diefe Details, mit fieberhafter Aufregung erzählt, mußten 
wahr jein. Sie wirkten, als ob ein Blig die Leute zerjchmettert 
hätte, welche ji) um Razumowski drängten. Die Neaftion lieh 
nicht lange auf ſich warten: Nach einem Augenblid der Stumm— 
heit und der Starrheit ertönte in dem ganzen Salon, unwill- 
fürlich hervorbrechend, ein Schrei des Entjegens. Man tadelte 
empört die Unanjtändigfeit und Feigheit einer Verbindung, die 
dem niederträctigen Ufurpator die erite Prinzejiin Europas 
auslieferte. 

Man hörte weiter nichts als Flüche und unterdrücktes 
Schluchzen. Die Damen hatten Nervenzufälle, und die Männer 
jteigerten ihre Gefühle jtufenweije vom Zorn zur Wuth: „ES giebt 
feine Gerechtigfeitt mehr auf der Welt!“ jchrien fie. Und die 
Damen jagten: „Es bleibt nichts übrig, als Europa zu verlafien 
und uns in Amerika anzujiedeln!“ Die zart Bejaiteten unter ihnen 
behaupteten, die junge Prinzejjin würde den Tod davon haben, 
und jo würde fich denn die ungeheure Entweihung nicht vollenden. 
Andere meinten, Napoleon würde vor Freude irrfinnig werden, 
und der Himmel würde ſolche Greuel nur zulafien, um den 
modernen Nebufadnezar dann umjo tiefer herabzuftürzen. 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 237 


Am Abend nach diejer jtürmifchen Soiree vereinigten jich 
diejelben Individuen zu derjelben Stunde, an demjelben Ort, denn, 
mochte man das, was vorging, auch noch jo jtreng verurtheilen, 
man verging Doch vor Neugier nach den geringiten Details. Es 
iſt leicht begreiflich, daß ıch bei diejfer Zujammenfunft nicht fehlte. 

Fürst Ejterhazy hatte den Botjchafter in die Hofburg geführt, 
wo ihm, entgegen dem Herkommen und der Etifette, Wohnung 
angewiejen worden war. Bei jeinem offiziellen Einzuge in die 
Stadt mußte er eine Üchberbrüdung paſſiren, welche in der Eile 
über die Ruinen der von den abziehenden Franzojen in die Luft 
geiprengten Wälle gelegt worden war... .. 

Am übernächſten Tage jchritt man zur ſtandesamtlichen 
Trauung und zur Uebergabe der jeit unvordenflichen Zeiten den 
Erzberzoginnen ausgeworfenen Mitgift, welche jich auf eine halbe 
Million Franken Gold beichränfte. . . .. 

Während ihres Aufenthaltes in Wien machte die Gräfin 
Potocka auch die Bekanntſchaft des Fürſten von Ligne, der den 
Ruhm genoß, der geiſtreichſte und eleganteſte aller Grandſeigneurs, 
gewiſſermaßen das Ideal dieſes Standes, zu ſein: „Damals über 
ſiebzig Jahre alt, war er noch einer der geiſtreichſten und glänzend— 
ſten Kauſeurs ſeines Salons, unendlich viel bedeutender in ſeiner 
Konverſation als in ſeinen Werfen. Nachſichtig, umgänglich und 
gut, wurde er von ſeinen Kindern angebetet und liebte ſie, weil 
ſie liebenswürdig waren, denn für ihn hatte nur Werth, was dazu 
beiträgt, das Leben angenehm zu machen, und er glaubte ganz 
ehrlich, daß er einzig und allein geſchaffen wäre, um ſich zu 
amüſiren. Wenn man ihn in ſeiner Jugend dem Ruhm hatte 
nachjagen jehen, jo hatte er das gethan, weil er ihm neue Erfolge 
bei den Frauen zu verjprechen jchien, und weil man zuweilen 
reüfjjirt, wenn man in der Xage üt, ein Billet doux auf ein 
Zorbeerblatt zu jchreiben. Befiger eines bedeutenden Vermögens, 
das er, ebenjo wie jein Yeben, auf alle mögliche Art und Weije 
vergeudet hatte, ertrug er mit jtoischer Heiterkeit die Entbehrungen, 
zu welchen ihn jeine Berjchwendung verurtheilte. Seine bejcheide: 
nen Strohjtühle, jeine Hammelfeule, fein unjterbliches Stück Käſe 
regten zu taujend geiftreichen und jehr gut aufgenommenen Wißen 
an. Man hätte jagen mögen, daß er an Vergnügtheit gewonnen 
hatte, was ihm an Vermögen verloren gegangen war, und daß 
er arm jein wollte, wie jener Weiſe des Alterthums, der jeine 
Schäge ind Meer warf, um glüclich zu jein. 


238 Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 


Die Fürſtin bejaß nichts von dem, was fie hätte haben müjjen, 
um auch als Philofophin zu gelten. Mann und Frau machten 
den Eindrud, als ob jie überhaupt garnicht diejelbe Sprache jprächen 
und jich jedenfall® niemals etwas zu jagen gehabt hätten. 

Die Fürftin jtammte aus einem der edeliten Gejchlechter 
Deutjchlands, aber, wie alle adligen Mädchen diejes Landes, war 
jie arm und ferner ohne jeden Liebreiz oder Geijt; es war un: 
möglich, zu begreifen, was den Fürſten zu dieſer Hetrath hatte be: 
itimmen können, bejonders, wo er ein Gegner von Heirathen mit 
deutjchen Mädchen war. Seine alten Freunde erzählten eine 
Meußerung von ihm, die ihm entjchlüpft war, als er jeine junge 
Gemahlin zum eriten Mal nad) Brüfjel führte, wo fein Regiment 
in Garnijon jtand. Diejes Wort malte mit einem einzigen Zuge 
jeine Bosheit und jeinen grenzenlojen Leichtfinn: Als die Offiziere 
gemeinjam jich bei ihm einfanden, um der Fürſtin vorgejtellt zu 
werden, jagte er zu ihnen: „Meine Herren! Ich fühle mich durd) 
Ihre liebenswürdige Zuvorfommenheit jehr angenehm berührt. 
Ste jollen fie jehen; ich muß Sie aber leider jchon vorher darauf 
aufmerfjam machen: Hübſch it jie ganz und gar nicht, aber jie iſt 
wenigjtens jehr gutmüthig und jehr jimpel, und fie wird Niemanden 
geniren, mich auch nicht.“ 

Zu der Zeit, wo ich jie ſah, befand ich die Fürjtin jchon in 
einem jehr vorgerüdten Lebensalter und oft in einer reizbaren 
Stimmung, aber man kümmerte jich nicht darum. Es war herföümmlich, 
jie ihrer gewohnheitsmäßigen Handarbeit zu überlafien, und wäh— 
rend jie die furchtbariten Stickereien anfertigte, gruppirte man ſich 
um den Fürſten und jeine Töchter und plauderte mit einer Deiter: 
feit und eıner gejchmad- und anmuthvollen Feinheit, die ich jonit 
nirgendwo gefunden habe. Wie die Franzoſen aus der alten Ge: 
jelljehbaft behaupteten, hatte Jich die Konverſation der Pariſer 
Salons, nachdem fie durch die Revolution aus ihrem alten Domizil 
vertrieben worden war, in Diejes bejcheidene fleine Palais ge— 
Mchte 

Als die Franzoſen im Jahre 1807 in Warſchau im Quartier 
lagen, hatte ſich Gräfin Anna in einen jungen Offizier, de Flahault, 
verliebt, aber dieſer Neigung gegenüber Grundſätze bewiejen. 
Seitdem hatte ſich jedoch das Verhältniß zwiſchen ihr und ihrem 
Gatten immer ungünjtiger gejtaltet und war beinahe auf das 
Niveau anderer polnischer Ehen heruntergejunfen. Jetzt entſchloß 
jich die Potoda, ihren Mann und ihre zwei Stinder zu verlajjen 


Die Memorien der Gräfin Potoda. 239 


und dem Geliebten nach Paris zu folgen, und ihr Gemahl gab ihr 
gleihmüthig wenn nicht vergnügt Neijeurlaub, während die Schwie- 
gereltern jo gefällig waren, einen jadenjcheinigen Reiſevorwand zu 
erjinnen, damit die Dehors gewahrt werden fonnten. Freilich 
waren auch fur; zuvor der folofjal begüterte Vater Annas und 
Tante Branida geitorben! In Paris angelangt, ließ fich die 
Potoda bei Hofe vorjtellen ; als Ausländerin mußte jie nicht nur 
dem Kaiſer und der Kaiſerin, jondern außerdem noch jeder Königin 
und Prinzejjin aus dem Hauſe Bonaparte fjeparatim vorgejtellt 
werden. Jede hatte ihren eigenen Tag. Die Gräfin mußte aljo 
jeden Morgen eine lange und ermüdende Toilette machen und die 
ihönjten Stunden des Tages mit dem An und Ausziehen des 
Hoffleide3 zubringen. „Abends ruhte man jich aus — im Theater!“ 
Der Kaiſer empfing gegen zwölf Uhr in jeinem Arbeitszimmer: 
„Man führte jich mit den drei üblichen VBerbeugungen ein... .. 
Ver Kaiſer ſtand, eine Hand auf jeinen Schreibtifch geitügt, und 
maß die ſich voritellende Dame mit einen gnädigen Blid, in dem 
Falle, daß jie jung und hübjch war. Das war aber nur das 
Vorjpiel einer noch viel jchwieriger durchzuführenden Aktion. Beim 
Hinausgehen waren die drei Verbeugungen zu wiederholen, aber 
während der NRüdwärtsbewegung. Die Schwierigfeit lag nun in 
einem Galamantel von übertriebener Länge, den man durch einen 
leichten, unjichtbaren Stop mit dem Fuß nach hinten Ddirigiren 
mußte, darin zeigte man jeine Grazie und Vornehmbeit. Nach 
drei Lektionen konnte ich meine Ausbildung als beendigt anjehen.“ 
Die Gräfin Potoda, welche mit mehreren anderen Damen zu: 
gleich vorgejtellt wurde, fand bei Napoleon eine jehr gnädige Auf: 
nahme, denn fie war jung und hübjch, und ihr Schwiegervater 
war Minijterpräfident des Großherzogthums Warſchau: „Nachdem 
wir das Kabinet des Kaiſers verlajien hatten,“ berichtet unjere 
Autorin weiter, „treten wir in den Empfangsſalon der Kaiſerin, 
wo jich jchon viele Yeute befanden. Zie trat aus ihren Gemächern, 
umgeben von einem zahlreichen und glänzenden Hof. Der Ge: 
Ihmad, mit dem ſie angezogen war, lieh fie ein bischen weniger 
häklich erjcheinen, aber der Gefichtsausdrud blieb derjelbe. Niemals 
belebte ein gnädiges Lächeln oder ein theilnehmender Blick dieje 
hölzernen Züge. Sie machte ihren Rundgang von der Einen zur 
Anderen wie die mechanischen Puppen, die rollen, wenn man fie auf: 
gezogen hat, und zeigte ıhre vornehme aber jteife Figur jowie ihre 
großen, wafjerblauen, glajigen Augen von unveränderlicher Starrheit. 


240 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Der Kaiſer ging ihr zur Seite, um ihr zuzuflüftern, was 
jie zu jagen hatte, bejonders den Perjonen, welche er auszeichnen 
wollte. Als ich an die Neihe fam, und die Dame, die mich vor: 
jtellte, der jungen Souveränin meinen Namen genannt hatte, hörte 
ich Napoleon ganz deutlich die Worte „überaus graziös“ murmeln. 
Sie wiederholte jie jo ohne jeden Chic und mit einem jo itarf 
ausgeprägten tüdesfen Accent, daß ich wenig davon befriedigt war.“ 

Gräfin Anna hatte in Paris eine Tante, die Gräfin Vincent 
Tyszkiewicz, Schwejter des berühmten polnijch-napoleonijchen Helden, 
des Fürjten Joſef Pontiatowsfi. Gräfin Tyszkiewicz führte ihre 
Nichte u. N. auch im Talleyrandjchen Haufe ein. Talleyrand hatte be- 
fanntlich jeineMaitrejie geheirathet, eine jeparirte ‚rau Grant von ob- 
jfurer Herkunft, die zwarjchön, aber mit Geiſtesgaben nicht gerade über: 
mäßig gejegnet war und der feineren gejellichaftlichen Bildung voll- 
ſtändig entbehrte. „Durch jeine Amtspflicht bei Hofe zurüdgehalten, 
fonnte Talleyrand nicht rechtzeitig nach Haufe fommen, um uns 
zu begrüßen und ließ jich entjchuldigen ; die Sache war jehr ein: 
fach ; Niemand dachte auch nur daran, sich darüber aufzuhalten. 
Um jo jonderbarer erjchten es uns, daß wir beim Eintritt in den 
Salon Niemanden vorfanden, um ung zu empfangen, als eine Ehren- 
dame der Fürjtin, Die uns mittheilte, verführt durch einen 
Sonnenjtrahl wäre Ihre Hoheit joeben ein bischen ins Bois de 
Boulogne gefahren. Die Eingeladenen famen Einer nach dem 
Anderen. So wie e8 uns die Perjon, welche beauftragt war, in 
Abwejenheit der Hausherrin die Honneurs zu machen, als wahr: 
icheinlich bezeichnet hatte, mußten wir länger als eine Stunde 
warten. Eine Entjchuldigung wäre wohl am Plate gewejen, aber 
die Fürſtin fürchtete, ihrer Würde etwas zu vergeben, wenn 
jie ſich böflich zeigte, und bewerfitelligte ihren Eintritt mit einer 
majeftätijchen Würde, jprach uns von dem jchönen Wetter, von der 
baljamijchen Yuft und jchien es ganz natürlich zu finden, daß jie 
uns hatte warten lajjen. 

Sch vermied in der Folge, mit Madame Talleyrand zujammen- 
zutreffen — die impertinenten Fürſtinnen jind nicht nach meinem 
Geſchmack, bejonders nicht, wenn jie von unten beraufgefommen 
jind. Dieje, welche ganz Paris unter dem Namen Madame Grant 
gefannt hatte, legte eine geiſtige Nichtigfeit an den Tag, die durch 
nicht8 zu bemänteln war, auch nicht durch ihre Standeserhöbung; 
man zitirte ihre unfreiwilligen bon mots wie die gewollten ihres 
Gemahls. 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 241 


Um Ddieje Zeit war jie mindeitens 60 Jahre alt, aber ihre 
gejellfchaftliche Stellung verjchaffte ihr Schmeichler, die jie ver: 
jicherten, daß jie noch immer jchön wäre. Demgemäß ging jie ohne 
Hut, mit einem Kranz von Blumen im Haar. 

Wenn jih Talleyrand an den Spieltijch ſetzte oder abwejend 
war, berrichte in dieſem Salon eine jo tötliche Yangeweile, wie ich 
je jelten anderswo empfunden habe. Und doch waren die Leute, 
welche in diefem Haufe zu verfehren pflegten, meiſtentheils Leute 
von Geilt...... 

In jeiner Jugend hatte Talleyrand, wie man jagte, große 
Erfolge bei den ‚rauen gehabt; jest jah ich ihn inmitten jeines 
alten Serails. Er war wirklich jehr fomijch anzujehen, wie alle 
diefe Damen, bei denen er abwechjelnd die Nolle des Liebhabers, 
des Iyrannen oder des ‚sreundes gejpielt hatte, fich vergeblich an- 
Itrengten, ihm jeine Yangeweile zu vertreiben. Die eingewurzelte 
üble Yaune widerjtand allen ihren Anjtrengungen. Der Einen 
gähnte er ins Geficht, die Anderen brüsfirte er, Alle behandelte er 
wie Tolle, indem er boshaft die Erinnerungen und die Daten 
bervorhob. . . . . z 

Tante Tyszkiewicz führte Gräfin Anna auch bei der Vikomteſſe 
von Yaval ein, jo ziemlich das einzige angenehme Haus, welches 
unjere Berfajjerin in Paris fennen lernte. Jene geiftreiche Fran: 
zölin der alten Gejellichaft fand jich mit dem durch die Revolution 
verurjachten Verluſt ihres Vermögens aufs Glücklichſte ab ; fie jegte 
jo zu jagen ihren Stolz darin, arm zu jein, jprach von dem Ver: 
lorenen niemals und gab jich das Air, garnicht jchlimm zu finden, 
daß Andere ſich bereichert hatten ; brauchten fie doch ihr Vermögen, 
um jich darüber zu tröjten, daß fie feine Montmorency waren — 
und damit fertig ! j 

Eine gewählte Gejelljchaft, von der die Jugend feiner Partei 
abjolut ausgejchlojjen war, und zu der man ſtolz war, zugelajjen 
ju werden, vereinigte jich oft in dem Eleinen Salon der Vikomteſſe; 
dort aufgenommen zu werden, galt als ein Freibrief der Liebens- 
würdigfeit und des guten Gejchmades. Die Dienerjchaft bejtand 
aus einem Yafaten und einer Negerin, halb einer Sflavin halb 
einer Bertrauten ; fie machte den Thee. Bei Ddiejen jehr be— 
Iheidenen Empfängen verjammelte ſich Alles, was Baris an dijtinguirten 
Perſonen umſchloß. Talleyrand und die Herzogin von Kurland 
gehörten zu den regelmäßigjten Bejuchern. Madame Talleyrand 
aber erjchien niemals ; wie Gräfin Potocka mit einer der ihr eigen- 

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 16 


242 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


thümlichen feinen Wendungen des Stils jagt: „Weil jie ji 
Gerechtigfeit widerfahren ließ.“ Der Salon der Vikomteſſe 
war, wie unjere Autorin behauptet, der einzige, in welchem die 
altfranzöfiiche Kunjt der Cauſerie wiederaufgelebt war. Man 
plauderte um des Plauderns willen ; Politif und Parteihaß über: 
Ichritten Ddiefe Schwelle nicht. Madame de Laval gab mit un- 
endlicher Gejchidlichfeit das Thema der Stonverjation an; ſobald 
fie die Afteurs in Thätigfeit jah, verjtummte fie und jchien durch 
ihre Handarbeit aus grober Wolle ganz in Anfpruch genommen zu 
jein, bis eine ſie befonders interefjirende Frage aufs Tapet fam 
und jie reizte. Dann jchwiegen wieder die Andern: Sie jprad) 
mit einer jo ungefünftelten und pifanten Grazie, daß Alle in 
ihrem Bann jtanden. Sie war jehr hübſch gewejen; ihre ſchwarzen, 
geiftreichen und janften Augen bewahrten noch immer einen über- 
rajchenden Glanz. 

Natürlic) entrichtete auch dieſer Salon troß jeiner wirklichen 
Nobleſſe gelegentlich der menschlichen Unvollfommenheit feinen Tribut, 
3. B., indem er ich zum Schauplaß für das Liebesfpiel zwijchen der 
5Yjährigen Herzogin von Kurland und Talleyrand bergab. Die 
Herzogin Anna Charlotte Dorothea geb. von Medem war die Wittwe 
des Herzogs von Kurland und im Jahre 1800 beim Tode ihres Ge- 
mahls von Rußland, das Kurland einzog, im Befige eines ungeheuren 
Vermögens gelajjen worden. Die Herzogin hatte jich troß des be- 
ginnenden Greiſenalters noch Nejte von Schönheit bewahrt, die 
um jo mehr zur Geltung famen, als ihre Befigerin in der Lage war, 
ein fürjtlicheg Haus auszumachen: „Talleyrand,“ jo erfahren wir 
von der PBotoda, „war für die Neize dieſer Frau nicht unempfänglich, 
hatte ihr die Stellung einer der intimjtem Freundinnen von Frau 
von Yaval verjchafft, und es gehörte in deren Salon zur Konvention, 
Alles, was die Herzogin that, zu bewundern ; man bewunderte 
bejonders ihre eleganten Toiletten und ihre Diamanten. Ach 
habe jie öfter um Mitternacht fommen jehen, nur zu dem Zweck, 
um ihr Ballkleid oder einen neuen Edeljtein zu zeigen, wie als ob 
jie zwanzig Sabre gewejen wäre. Ihr alter Anbeter wartete jie 
immer ab und betrachtete jie mit einer Bewunderung, welche leicht 
hätte bewirken fönnen, daß jein ganzes Serail, zu dem meine Tante 
Iyszfiewicz auch gehörte, vor Neid plakte. 

Unjere ungenirte Polakin weiß aber von Tante Tyszkiewicz 
noch ganz andere Gejchichten zu erzählen, welche uns unbejchadet 
des der Schweiter des großen Poniatowsfi jchuldigen Reſpektes 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 243 


wohl verführen fönnten, in dieſer Stammmutter der gejchichtlich 
hedeutjamen polnijchen Kolonie zu Paris eine würdige Yandsmännin 
von Wajchlapsfi nnd Krapulinski zu erbliden: „Ungefähr alle acht 
Tage verjammelte ſich Talleyrands Kreis bei meiner Tante, wo ich 
mich recht wenig amüſirte. Sie lud abwechjelnd dijtinguirte Yands- 
leute und durchreifende Fremde ein. Ihr Haus übte eine große 
Anziehungskraft aus. Ich vermag meine unangenehme Weber: 
raſchung faum zu jchildern, als ich wahrnehmen mußte, daß man 
hier anjtatt jedes anderen Vergnügens fabelhafte Summen verjpielte. 
Die Banf wurde von Unbefannten gehalten, mit denen Niemand 
ſprach; fie breiteten ihre Neichthümer aus, um die Anwejenden 
zu verloden. Man jchien ihre Berührung zu fürchten und behandelte 
jie wie Parias. Ihre argwöhniſchen Blide fchweiften von den 
Einen zu den Anderen, ohne die Hände der Spieler einen Mugen: 
blid aus den Augen zu lajjen. Alles diejes hatte etwas mit der 
Menjchenwürde Unvereinbares und Sataniſches. Nur die Habjucht 
lenkte diejen jonderbaren Zeitvertreib. Die verzerrten Gefichter der 
Spieler, Die finjteren, regungslojfen Phyfiognomien der Bank— 
halter, das Schweigen, welches in diefem Salon herrjchte, wo man 
oft in einer einzigen Nacht das Lebensglüd einer ganzen Familie 
aufs Spiel ſetzte, — Alles das erjchten mir hajjenswürdig. Ich 
fonnte nicht umhin, meinem Grjtaunen, vielleicht jelbjt meiner 
naiven Entrüjtung Ausdrud zu verleihen, aber meine Tante 
erwiderte mir fühl, man merfe überhaupt wohl, daß ich nicht 
von hier wäre, derartige VBergnügungen fänden überall in Baris 
itatt, und der Fürſt, der viel arbeite, juche in ihrem Haufe die 
Berftreuungen, welche jeine Poſition ihm in dem jeinigen verbiete. 
In diejer Spielhölle jah ich auch zum erjten Male die alte 
Herzogin von Yuynes (aud) eine Yaval-Montmorency wie jene oben 
gewürdigte geijtreiche Caufeuje), die gebaut war wie ein Gensdarm 
und ſich anzog wie die gewöhnlichite Frau; ſie jpielte wild, 
hatte eine Stentorjtimme, lachte unanjtändig laut, widerjprach mit 
einer jeltenen Grobheit — das Ganze wurde für Originalität 
ausgegeben. Ja, es war jogar Konvention, die Noblejje und die 
Fejtigfeit ihres Charakters und die Beharrlichfeit ihrer Anfichten zu 
bewundern. Was mich betrifft, jo fonnte ich mich niemals an dieje 
männliche Hülle und dieſen Ton eines Grenadierd gewöhnen. 
Ach! mein liebes Lignejches Palais! wie oft famjt du mir in 
den Sinn! Bwar durchflutheten feine Ströme von Licht deinen 
bejcheidenen fleinen Salon, das frugale Abendejjen glich in nichts 
16* 


244 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


den Sajtmählern, welche diefen modernen Sybariten geboten wurden, 
aber welche Berjchwendung von Geiſt, welche liebenswürdige und 
ungezwungene Heiterkeit! Wie unendlich weit war Doch Dieje 
Eremitentafel jenen traurigen Schmäujen vorzuziehen !* 

Jedoch fand Gräfin Anna auch Gelegenheit, auf einem Diner 
im Hauſe Talleyrand diefen merfwürdigen Mann von einer jeiner 
jympathijcheren Seiten fennen zu lernen: Unter den Eingeladenen 
befand fic) aucd) der Herzog von Yaval, der Schwager der Dame, 
in deren Salon es der Gräfin Potoda jo gut gefiel, durchaus fein 
Mann von Seit, aber doch eine Barijer Zelebrität, nämlich in jeiner 
Eigenjchaft als glüclicher Vater zahllojer, unfreiwilliger Witze: 
„Wir waren jchon beim Eſſen, al$ der Herzog von Yaval, auf den 
lange gewartet worden war, endlich eintrat. Der Herr des Hauſes, 
unendlich viel höflicher als jeine Frau, erjchöpfte ſich in Ent: 
jchuldigungen. Der Herzog hatte in diejer Epoche die Manie, alte 
Porträts zu faufen ; er gejtand ehrlich, daß er fich bei einer Gemälde: 
auftion verjpätet hatte. 

„sch wette, jagte Talleyrand, „das Sie da wie gewöhnlid) 
eine jchöne Sudelei gekauft haben werden.“ 

„Jawohl!“ verjegte der Herzog mit Selbjtgefühl. „Dieje 
Sudelei möchten Sie wohl gejchenft haben, zum Schmud für Ihre 
Bibliothef. Es jind die Porträts zweier berühmter Perjönlich- 
keiten.“ 

„Und wenn auch!“ erwiderte Talleyrand, indem er gering— 
ſchätzig den Mund verzog. „Und welches ſind dieſe Perſönlich— 
feiten ?* 

„Warten Sie ein bischen !* antwortete der bedauernswerthe 
Amateur in jichtlicher Berlegenheit und jeine Suppe löffelnd, um Zeit 
für die Ueberlegung zu gewinnen. „Die rau hat denjelben Namen 
wie Madame Regnault de Saint — Jean d'Angely; es it eine 
gewijje Yaura. Und der Herr? Ja! ich vergejle immer feinen 
Namen: er flingt ungefähr wie patraque” (Altes Gejtell). 

Alles jchiwieg, aber es war ein perfides Stilljchweigen, wie es 
dem Ausbruch tollen Gelächters vorherzugehen pflegt. 

Und jiehe da unjeren Wirth, wie er dem armen Herzog jein 
ichlechtes Gedächtniß verweiſt, jcheinbar ohne die Yujtigfeit feiner 
Tiſchgenoſſen zu bemerken, denen er einen ruhigen, aber von Schall: 
haftigfeit vollen Blick zuwarf. 

„Merten Sie fich ein für alle Mal die Namen Ihrer Helden, 
lieber Freund ; Sie wollten jicher jagen Yaura und Plutarch.“ 


Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 245 


„sa gewiß! Diejer verfluchte Plutarch ; ich vergejie ihn regel: 
mäßig ! Allerdings jcheint es mir, auf der Auftion waren aud) 
welche, die jagten Petrarca, aber das waren Ignoranten wie ich, 
und fie hatten feine Ahnung, wie Yauras Liebhaber wirklich hieß. 
Plutarch ! das weiß ja jonft Jeder; ich hab's auch gewußt; das 
iſt ja hiſtoriſch!“ 

Das war zuviel, und die lange zurückgehaltenen Heiterkeits— 
ausbrüche wurden homeriſch. Talleyrand allein blieb dieſem Ge— 
lächter fremd, und, indem er der ganzen Geſellſchaft einen perfiden 
Blick zuwarf, hatte er die Keckheit, den Herzog wegen dieſer ver— 
gnügten Stimmung zu interpelliren, von deren Urjache er feine 
Ahnung zu haben behauptete.“ 

Einige Tage nach dem gejchilderten Diner machte Gräfin Anna 
ihren Antrittsbejuch bei der Marjchallin Davouft, mit der fie be— 
reits in Warjchau in gejellichaftlichen Beziehungen geitanden hatte. 
" Die Marjchallin war eine geborene Leclere; die Schweiter des 
Generals Leclere, mit dem Pauline Bonaparte in eriter Ehe ver- 
heirathet gewejen war. Der alte Leclerc hatte ein Mehlgejchäft in 
Pontotje betrieben. Jetzt war jeine Tochter Herzogin von Auer: 
ſtädt und Fürſtin von Edmühl. Die Marjchallin, eine jtrenge 
Schönheit, konnte wohl als eine bedeutende rau gelten. In einem 
vornehmen PBenjionat erzogen, hatte jie jich dort feine Manieren 
und den Ton der guten Gejellichaft angeeignet. Beides ging ihrem 
Gemahl ab. Beliebt war jie aber nicht; dazu war fie zu hart. 
Man behauptete, jie wäre auf die flüchtigen Liebſchaften ihres 
Mannes ganz außerordentlich eiferfüchtig : „Da fie den Sommer in 
Savignysjur-Örge zuzubringen pflegte, mußte ich fie Dort aufjuchen .. 
Sch begab mic aljo nad) Savigny, an einem glühend heißen Tage, 
Ichlecht gejchügt durch einen kleinen mit Veilchen garnirten Hut, 
und jehr beengt in meinen lila Schnürjtiefeln, die genau zu einer 
eng anjchliegenden Robe aus neapolitanischem Grosgrain von der: 
jelben Farbe paßten. Hatte doc; Madame Germont, das Orafel 
der Mode, jelber meine ganze Toilette fomponirt. Da es aber am 
Rormittag war, fam mir dieſe Eleganz recht deplacirt vor. 

Wie es jich hiermit aber auch verhalten mochte — ich verjprach 
mir einen angenehmen Bejuh. Das Hotel der Marjchallin in 
Paris hatte mir eine hohe Boritellung von ihrem Gejchmad nnd 
ihrer Opulenz eingeflößt, und ich dachte, jie in Savigny lururiös 
eingerichtet zu finden. Ic fam gegen drei hr an. Das Schloß, 
mit Wall und Graben umgeben, hatte ein hermetijch verjchlojjenes 


246 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Thor zum Eingang. In dem Graben wucherte das Unfraut ; man 
hätte glauben jollen, eine jeit Jahren verlajiene Wohnung vor Sid) 
zu haben. Nachdem mein Lafai endlich die Klingeljchnur gefunden 
hatte, dauerte ed noch ein paar Minuten, dann fam ein Fleines 
recht jchlecht angezogenes Mädchen und fragte, was wir wollten. 

„It die Frau Marjchallin zu Haufe ?* 

„Entjchuldigen Sie ja und der Herr Marjchall auch,“ 
antwortete das Mädchen... . . . 

Sch ließ mich anmelden und, in meine Kutjche zurüdgelehnt, 
mußte ich abermals recht lange warten, indem ich mir inzwijchen 
überlegte, ob ich ausharren oder einfach meine Starte dalajjen jollte. 
Nach einer Fleinen Viertelſtunde zeigte ſich endlich ein Kammerdiener 
vor dem Schlage meines Wagens und geleitete mich in einen großen 
Schloßhof. Er entjchuldigte jich, daß es jo lange gedauert habe, 
indem er mir ohne Bedenken erzählte, daß, als ich anfam, die Leute 
ım Garten bejchäftigt gewejen wären; er jelber hätte mit der 
Neinigung des Objtgartens zu thun gehabt. 

Man führte mich durch mehrere volljtändig unmöblirte Säle ; das 
Zimmer, in welchem man mich‘ Blat nehmen ließ, war auch nicht ichmud: 
reicher als die eriten, aber es jtanden wenigitens ein anapee und 
Stühle darin. Die Marjchallin erjchien dann auch jofort. Ich be- 
merkte gleich, daß ſie für mid) Toilette gemacht hatte, denn jie 
machte noch einige Knöpfe an ihrer Taille zu. Nach einigen 
Minuten jtodender Unterhaltung jchellte ſie und ließ ihren Gatten 
rufen. Dann nahmen wir unjer mühjames Gejpräch wieder auf. 
Nicht dag Madame Davoujt feine Tournure gehabt hätte oder jener 
Art von Geiſt ermangelt hätte, welche die Beziehungen zwijchen 
zwei Perſonen aus derjelben jozialen Schicht erleichtert, aber jie 
hatte eine gewiſſe Steifheit an jich, welche leicht für Hochmuth gelten 
fonnte. Sie vergaß niemals ihren Marjchallsrang , niemals belebte 
ein freundliches Lächeln die Züge ihrer jtrengen Schönheit. Immer 
blieb fie die Juno... .. 

Der Marjchall fam endlich auch und zwar in einem jchweih- 
triefenden Zujtande, der jeine Bereitwilligfeit zur Genüge darthat : 
er jegte fich) ganz außer Athem und, jein Tajchentud) in der Hand 
haltend, um fich die Stirne abzutrodnen, trug er Sorge, zunächit 
darauf zu jpuden, um jo jicherer den Staub zu entfernen, mit dem 
jein Gejicht bedeckt war. Dieje joldatische Formloſigkeit disharmonirte 
ſtark mit den jteifleinenen Manieren jeiner Gattin ; fie war jichtlich 
unangenehm berührt davon. Ich fand, daß meine Anwejenheit 


Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 247 


bei diejer jtummen Szene überflüjfig war, jtand auf und wollte 
mic; empfehlen, wurde aber gebeten, zum Frühſtück dazubleiben. 
Um die Zeit, bi8 das Ejjen bereit war, auszufüllen, machten wir 
eine Promenade durch den Park. Gebahnte Wege gab es darın 
nicht ; der Raſen war hoch aufgejchofien, das reine Heu; die 
während der Revolution gefällten Bäume trieben wilde Schöflinge; 
an jedem Strauch blieb ein Feen meiner Volants hängen, und 
meine lila Schnürjtiefel jchimmerten in grünlichen Farbentönen. 
Der Marjchall trieb uns mit Stimme und Gejten an, indem er 
uns eine himmlifche Ueberrajchung verſprach. Aber wer bejchreibt 
meine Enttäujchung, als ich hinter einer Gruppe junger Eichen drei 
fleine aus Weidenruthen geflochtene Käfige erblidte. Der Herzog 
ließ jich auf ein Knie nieder und rief: „Da find fie, da find jie !* 
Dann modulirend: „Pi! Pi! Pi!“ Darauf jtieg ein Volk Reb— 
bübner in die Höhe und flatterte dem Marjchall um den Kopf. 

„Laſſen Sie die anderen erjt heraus, wenn die Jungen da jind, 
und aeben Sie den Damen Brod ; jie werden fich föniglich amüfiren, “ 
jagte er zu einem Bauernlümmel, welcher die Funktionen eines 
Oberförjters verrichtete. Und jo fütterten wir denn in glühender 
Sonnenhige Rebhühner ! 

Die Herzogin leerte mit unerjchütterlicher Ruhe und Würde 
den ihr gereichten Korb. Was mich betrifft, jo war ich einer Ohn— 
macht nahe, und da ich es nicht mehr aushalten konnte, jo bemerfte 
ich, der Himmel jchiene jich zu bededen, und wir wären von einem 
Gewitter bedroht. Bei der Nüdfehr in das Schloß nahm ich wahr, 
wie Maurer damit bejchäftigt waren, einen Thurm anzujtreichen, 
der bisher dem Safrilegium einer Nejtauration entgangen war und 
noch jene PBatina aufwies, welche die Zeit allein verleihen fann. 
Sch vermochte mich nicht einer gewifjen Kritif zu enthalten. Die 
Marjchallin verjtand mich ; ich glaubte jogar aus ihrem Blid und 
ihrem jpöttijchen Lächeln entnehmen zu fünnen, daß wegen Ddiejes 
Ihurmes ein ehelicher Streit vorgefallen war. Der Gatte verhehlte 
mir nicht, daß meine Bemerfungen nicht nad) jeinem Gejchmad 
waren. Er ſprach fich jogar jehr energijch gegen die Verrückt— 
beit mit dem alten Mauerwerk aus. 

Als das Frühitüd vorbei war, drückte ich mich jchleunigit, 
indem ich mir, freilich etwas jpät, gelobte, daß man meiner nicht 
wieder habhaft werden jollte. Auf dem Rückwege dachte ich über 
alles Gejehene nach) und fam zu dem Ergebniß, daß das jchöne 
Frankreich doch jonderbare Kontrajte in ich jchlöfle, indem Die 


248 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Srandjeigneurs der alten Gejellichaft lächerlich) unwijjend wären, 
die Helden des Tages aber die mit ihrem Blute erfauften Reich— 
thümer in einer jehr fnaujerigen Manier genöfjen.“ 

An dieſe Erzählung jchlieft die Gräfin eine allgemeine 
Charafterijtif des Hofes Napoleons I. an, die in manchen Zügen 
an die Schilderung erinnert, welche Bismard in feinen „Gedanken 
und Erinnerungen“ von dem Hofe Napoleons III. entwirft, und 
in anderen Zügen an — si parva magnis componere licet — 
Sardous Madame Sand Gene: „Diejer Hof“, jagt die Potoda, 
„Jo prächtig von Weitem, verlor, wenn er in der Nähe gejehen 
wurde. Man nahm dann eine gewijje Verwirrung und Dis: 
harmonie wahr, welche das mit gutem Recht vermuthete Bild der 
Größe und des imponirenden Glanzes verjcheuchten. Neben hoch— 
elegante und reich gejchmücte Frauen jtellten jich die Gattinen der 
Marjchälle, die e8 von Haus aus durchaus nicht gewöhnt waren, 
den Hofmantel zu tragen. Ungefähr ebenjo verhielt es jich mit 
ihren Männern, deren gejtidte Uniformen, jo glänzend bei der 
Parade, jo jchön auf dem Schlachtfelde, unangenehm mit recht 
wenig höfijchen Ausdrüden und Manieren konſtraſtirten. Zwiſchen 
ihnen und denen vom Ancien Regime, welche fich der im Beſitz der 
Gewalt befindlichen Regierung angejchlojjen hatten, herrjchte eine 
geradezu choquirende Berjchtedenheit. Man hätte glauben mögen, 
einer Theaterprobe beizuwohnen, auf der die Schauspieler den Effekt 
ihrer Koſtüme verjuchten und ihre Rollen herjagten. Diejer jonder- 
bare Mifchmajc würde ein Segenjtand des Hohngelächters geworden 
jein, wenn nicht die Hauptperjon einen jolchen Reſpekt und eine 
jolche Furcht eingeflößt hätte, dai der Gedanfe an das Lachen einem 
verging oder wenigjtens in jeiner Wirfung gelähmt wurde.“ 

Der Aufenthalt der Gräfin Anna in Baris fällt in den Sommer 
1810, aljo in eine Zeit, wo ſich der Zujammenjtog Napoleons mit 
Nußland jchon vorbereitete. Deshalb wurde die Schwiegertochter 
des polnischen Minijterpräfidenten von dem Kaiſer mit jehr großer 
Auszeichnung behandelt. Bejondere Aufmerkjamfeit erregte bei den 
Bartjern ein Zwiegejpräch zwijchen den Beiden auf einem Ball im 
Kriegsminiſterium: „Dieje Unterhaltung, welche lang genug war, 
um auf mich neidijch zu machen, gab zu dem jinnlojeiten Gerede 
Anlaß. Mehr als eine Frau war etferjüchtig auf das, was man 
meine Bojition nannte, und Biele jehnten jich heimlich nach der 
Gunst, welche fie zu verjchmähen vorgaben. An den nächjten 
Tagen erhielt ich eine Anzahl von Bejuchen ; mehrere Berjonen, 


Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 249 


die bis dahin nicht daran gedacht hatten, mir dieje Höflichkeit zu 
erweijen, gaben ihre Karte ab, und ich jagte mir, daß in Bezug 
auf niedrige Gejinnung alle Höfe einander ähnlich find, die neuejten 
wie die älteiten.” 

Kurz nach jenem viel erörterten Ballgejpräch erhielt Gräfin 
Anna eines Abends von Ihren Majejtäten eine Einladung auf 
den folgenden Tag jechs Uhr nach Saint:Eloud, zum Mittag: 
eſſen en famille. Dieſes Diner bildet einen der Höhepunkte 
der Yebenserinnerungen unjerer Berfajlerin: „Es war gerade 
Hoftrauer; ich ſchickte aljo jofort zu Madame Germont, um 
eine den Umſtänden angemejjene Toilette zu bejtellen. Sie ließ 
mir durch meine SKammerfrau jagen, daß der Kaiſer Schwarz 
nicht liebe, dab deshalb eine derartige Trauer, bejonders auf dem 
Lande, in Weiß getragen würde, und daß ich bis zwölf Uhr Mittags 
alles Nöthige haben würde. 

Um halb jechs Uhr fuhr ich an dem Parkthore von Saint:Cloud 
vor... . der dienjtthuende Kammerherr führte mich in den Salon, 
wo die Herzogin von Montebello in ihrer Eigenjchaft als Ober: 
hofmeiſterin ziemlich fühl die Honneurs machte . . . . Die Kaiſerin 
trat präziſe um ſechs Uhr ein, begleitet von ihrer dame d'atour, einer 
Frau aus der alten Gejellichaft . . . Marie Louiſe war ſehr ein— 
fach angezogen, ſie trug ein weißes, mit einer ſchwarzen Borte 
geſäumtes Kleid. . . . Die Fürſtin Borgheſe kam einen Augenblick 
ſpäter, dann der Kaiſer und der Großherzog von Würzburg, der 
Onkel der Kaiſerin . . . . Hinter ihnen betrat der Miniſter des , 
Inneren, de Montalivet, das Gemach. Das war Alles . . .“ 

Auf der Stelle fam bei Napoleon der rüde Plebejer zum Bor- 
jchein, und das wiederholte ſich während der Gejellichaft mehrere 
Male; die Gräfin PBotoda, welche als Polin einen abgöttijchen 
Napoleonkultus treibt, ipricht das nicht geradezu aus, deutet es in— 
dejjen verjtändlich genug an... Sie fährt in ihrer Schilderung 
folgendermaßen fort: „Nachdem der Kaiſer an mich einige Worte 
gerichtet hatte, flingelte er und fragte, ob die Equipagen bereit 
jtänden. Auf die bejahende Antwort hin, die er erhielt, jchlug er 
uns eine furze Fahrt durch den Park vor. Er gab der Kaiſerin 
den Arm, und Beide jtiegen in eine elegante, A l’anglaise mit 
ſechs herrlichen Braunen bejpannte Stalejche, auf der ſich drei Jockeys 
in grünsgoldener Livree befanden. Wir folgten in einem hübjchen, 
ganz offenen, jechsfisigen Korbiwagen. Der Großherzog von Würz- 
burg ſah ziemlich verlegen aus und jprad) mit der Fürſtin 


250 Die Memoiren der Gräfin Botoda. 


Borgheje nur wenig . . . . überhaupt wurde das Schweigen nur durch 
die Klagen und die Seufzer der drei Damen unterbrochen, die, ohne 
Hut, dem Staub und den Sonnenjtrahlen ausgejegt waren. So 
durcheilten wir, immer im vollen Trab, alle Alleeen des Parks, 
ungefähr eine halbe Stunde lang. An den Biegungen des Weges, 
wo Sich die Fahrt nothwendiger Weije verlangjamte, bemerkte ich 
überall Perjonen, die Bittjchriften in den Händen hielten und auf 
ein Zeichen des Kaiſers warteten, jie ihm in die Kaleſche zu werfen. 
Dieje Fahrten waren eine von jenen Kaprizen des Kaiſers, deren 
Unangenehmheit für jein Gefolge er nicht begriff, und natürlich 
wagte Niemand, ihm eine Bemerkung darüber zu machen. Wenn 
die Kaleſche nach Haufe fam, war der Vorderjit immer ganz bededt 
mit Papieren... . 

Als wir wieder daheim waren, war angerichtet. Der Kaijer 
gab Marie Louije ein Zeichen, ihres Onfel® Arm zu nehmen und 
in den Speijejaal zu gehen. Er folgte, wir traten auch ein, aus— 
genommen die dame d’atour und die Herzogin von Montebello, 
die jich zu meiner großen Ueberraſchung in einen anderen Saal 
begaben, wo eine Tafel von 30 Gededen wartete. 

Die fatjerliche Tafel hatte die Form cines Nechteds. Die 
Ktaiferin und ihr Onfel, beides jtumme lebende Bilder, jahen an 
der einen Seite. Napoleon, ihnen gegenüber, hatte die beiden 
Plätze neben jich leer. Die Fürſtin Borgheje und ich befanden ſich 
an der einen der fürzeren Seiten, de Montalivet an der anderen... 

Es war Ende Juni und jehr hell; die Sonne durchdrang das 
Laub mit ihren Strahlen, aber troß dieſes Glanzes waren bei 
offenen ?Fenjtern die Standelaber angezündet. Diejes Zwielicht 
wirkte jehr unangenehm. Es war eine bizarre Kaprize, aber man 
verjicherte mich, daß der Kaiſer niemals anders ab. Ein Page 
jtand, die Serviette in der Hand, hinter jeinem Stuhl und jchidte 
jih an, eine Schüſſel zu reichen, aber Napoleon litt es nicht, ein 
Diener that den wirflichen Dienit. 

Servirt wurde mit einer rapiden Schnelligkeit und jo leije wie von 
Sylphen. Napoleon af wenig und jehr raſch; er bevorzugte einfache 
Gerichte. Um die Mitte des Mahles reichte man dem Kaiſer auf 
einer platten Schüffel, welche nicht zum Menü gehörte, Artiſchocken 
in Bfefferfauce. Er fing an zu lachen und forderte uns auf, jeine 
bejcheidene Kojt zu theilen, indem er diejes Eremitengericht jehr 
(lobte. Aber da jich Niemand verjucht zu fühlen jchien, davon zu 
fojten, jo ließ er die Schüffel vor ſich hinſetzen und ließ nichts darauf. 


Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 251 


Im Gegenjat hierzu bejchäftigte ſich die Kaiſerin jehr eifrig 
mit den ihr gereichten Schüfjeln, wies feine zurüd und jchien von 
dem rajchen Tempo, in welchem fie auf einander folgten, unangenehm 
berührt zu jein. Gegen das Ende des Ejjens brad) der Kaiſer das 
Stilliehweigen, wendete jich an de Montalivet und fragte ihn wegen. 
der Arbeiten am Berjailler Schloß, das man zu rejtauriren anfing : 
„ch will,“ jagte er, „die Barijer amüjiren wie früher ; Sonntags 
müſſen die Wajjerfünjte jpringen. Aber it es wahr, daß unter 
Ludwig XVI. Ddiejes Vergnügen jedes Mal 100000 Franken ges 
fojtet hat?” Der Minijter bejahte, und Napoleon fuhr fort: 
„Das iſt viel Geld! Bloß damit man hingehen und Wajjerjtürze 
bejehen fann! Wenn ich aber den Barijer PBflajtertretern diejes 
Plaiſir verjage, diejen Yeuten, denen das Vergnügen über Alles 
geht, dann werden jie nicht veritändig genug jein, um einzujehen, 
daß ich es thue, um von einer jo bedeutenden Summe einen 
bejjeren Gebrauch zu machen.“ 

Indem über die Gärten dieſer königlichen Nefidenz und ihre 
ungeheure Ausdehnung gejprochen wurde, fonnte er nicht auf den 
Namen des berühmten Lenötre fommen, der jie angelegt hat. Ein 
eigenthümlicher Zufall fügte e8, daß auch de Montalivet fich diejes 
Namens nicht zu entjinnen vermochte, und jo bemühten jich Beide 
ohne Ergebniß. 

Ich unterfing mich, ıhm der Fürſtin Borgheje ins Ohr zu 
flüjtern, die ihn laut wiederholte. 

„ech ja!” jagte Napoleon. „Das haft Du übrigens nicht aus 
Dir jelber. Ich möchte wetten, daß Du überhaupt nichts von der 
Erijtenz Yenötres gewußt haft; er iſt ja nicht zu Deiner Zeit ge: 
jtorben.“ Dann jah er mich mit einem überaus liebenswürdigen 
Blid an. 

Wir befanden uns hart vor der Aufhebung der Tafel, als der 
Kammerherr dem Kaiſer meldete, der Bizefünig von Italien erwarte 
ihn im Garten. Er jtand ohne Weiteres auf, ohne Marie Louiſe 
die Zeit zu lajjen, mit ihrem Eis fertig zu werden, was fie jo er: 
bitterte, daß jie jich nicht enthalten fonnte, ſich bei ihrem Onfel 
darüber zu beklagen. 

In den Salon zurüdgefehrt, wo die beiden Damen vom Dienit 
uns bereits erwarteten, fanden wir dort die Fenſter ganz weit offen; 
jie jchauten auf die Hauptallee des Parfes. Prinz Eugen ging 
dort in der größten Aufregung auf und ab; jobald Napoleon ihn 
bemerft hatte, ging er ıhm entgegen. Nach der Lebhaftigfert ihrer 


252 Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 


Unterhaltung zu urtheilen, mußte der Gegenjtand jehr ernjt jein 
Der Kaiſer gejtifulirte wie ein echter Korje: der Prinz jchien Be- 
ichwichtigungsverjuche zu machen ; man begriff leicht, daß Napoleon 
unzufrieden war. Der lang der Stimmen fam bis zu uns, aber 
‚der Wind verjchlang die Worte. 

.. Da Alles einmal ans Tageslicht fommt, bejonders an 
den Höfen, wo jo viele Augen und Ohren offen find, um Alles zu 
jehen und zu hören, jo vernahmen wir bald nachher, was die Ur: 
jache diejes Ungemitter8 gewejen war: der PVizefönig, von jeinem 
Schwager, dem König von Holland, beauftragt, dem Staijer Die 
Abdanfung des zuletzt Genannten mitzutheilen, hatte jich dieſes 
jchwierigen Auftrages entledigt und höchſt wahrscheinlich Anftrengungen 
gemacht, feinen Schwager zu entjchuldigen. 

Im Salon herrjchte inzwischen ein ununterbrochenes Schweigen ... 
Die Kaiferin jprach fein Wort ; neben ihrem Onfel figend, der ihr 
das Beijpiel aljoluter Stummheit gab, jah jie gedanfenlos aus dem 
‚senjter, ohne ſich um die Vorgänge im Park im Geringijten zu be: 
kümmern, wo Die immer jtürmijcher jich geitaltende Unterhaltung 
noch fortdauerte . . . . Endlich fam Napoleon wieder ; jein Antlitz 
war jtreng aber ruhig ; er ging auf de Montalivet zu und jagte 
ihm, daß er jich am anderen Morgen um fünf Uhr nach Klein— 
TIrianon begeben würde, das man für die junge Herrjcherin im 
Stand ſetzte. . . . Dann zog der Kaijer mich in eine Fenſterniſche 
und fragte mich, welche Neuigfeiten ich aus Polen hätte, und ob 
es wahr wäre, daß Kaiſer Alerander jeine nicht in Rußland wohnen 
wollenden polnijchen Untertanen mit der Güterfonfisfation be- 
drobe. Da ich gerade am Vormittag einen Brief von meinem 
Schwiegervater erhalten hatte, befand ich mich in der Yage, eine 
Ihatjache bejtätigen zu fönnen, an welcher der Kaiſer zweifeln zu 
wollen jchien. Ich ſprach von der Nothwendigfeit, an meine Ab: 
reife zu denfen. 

„Machen Sie jich feine Sorge,“ jagte er zu mir mit jenem 
gnädigen Yächeln, das nur ihm eigenthümlich war, „amüſiren Sie 
jich, und denfen Ste nod) nicht daran, Ihre Koffer zn paden.“ 

So liegen gelegentlic) hingeworfene Worte auf einen Krieg 
mit Nußland jchliegen, von dem noch Niemand zu jprechen wagte, 
aber den jchon Alle für unvermeidbar anjahen, in Anbetracht der 
ungeheuren Borbereitungen, deren Zwed man freilich verjchwieg : 
„Was wiünjchen Sie, daß ich Ihnen aus Indien mitbringe ?* fragte 
mich eine der einflußreichiten Berjönlichkeiten der Epoche. „Lieber 


Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 253 


etwas aus Moskau oder aus Petersburg,“ verjegte ich, um ihn aus: 
zuhören: „Möglich, daß wir da durchfommen, aber ich denke, Sie 
werden eine erlejenere Beute vorziehen. Wir haben den Pyramiden 
guten Tag gejagt; es würde jegt in der Ordnung jein, 'mal bin: 
zugeben und zuzujehen, was unjere Nebenbubler vom anderen 
Ufer des Kanals machen.“ 

Alles, was ich bier erzähle, wird jpäteren Zeiten wie aus 
Taujend und einer Nacht vorfommen, und doch habe ich es mir 
zum Geſetz gemacht, in nichts von der jtrifteiten Wahrheit abzu: 
weichen, aber man war jo an Wunder gewöhnt, dab das Wunder: 
bare möglich und das Unmögliche ausführbar erjchien. 

Sch fomme auf die Gejellichaft in Saint-Cloud zurüd, . . . . 
die mit einem erhebenden Schaujpiel jchlog: Talma jpielte „Hektor“. 
Es war ein Triumph für diefen wunderbaren Schaujpieler, der 
mit einem jchönen Organ edle Bojen und Gejten und jelten regel: 
mäßige Züge verband. Wenn er jein Haupt mit dem Lorbeerfranze 
umwand, hätte man meinen mögen, einen antifen Iriumphator 
vor ich zu haben, der im Begriff war, einen von Sflaven gezo— 
genen Wagen zu bejteigen. Man vergaß den Schaujpieler und 
Dachte nur noc) an den Helden. Das NAuffallendite an ihm war 
jeine große Nehnlichkeit mit Napoleon, bejonders im Profil. Man 
hätte fie für Brüder halten mögen ; nur die Augen und ihr Aus— 
drucd waren verjchteden, bei dem Einen lag Tiefe darin, bei dem 
Anderen eine affeftirte Hoheit. 

Paris war majjenhaft vertreten. Der Saal war nicht ge- 
räumig, man ließ taufend Intriguen jpielen, um einen Play zu 
befommen. Der Kaiſer verfügte über die Logen jelber ; die ‘Bar: 
terre= und ©alleriebillets3 wurden von den hohen Hofbeamten ver: 
theilt. Mein Billet berechtigte mich zum Gintritt in die Diploma- 
tenloge, die genau neben der faijerlichen lag. Man genoß dort 
zwei gleichermaßen interefjante Schaujpiele zu gleicher Zeit. 

Napoleon, ein Liebhaber jchöner Verſe, jchten von dem Wunjche 
erfüllt zu jein, wenn nicht jeine Begeijterung, jo doch mindeitens 
jeine Befriedigung der jungen Staijerin mitzutheilen, welche, unbe- 
weglich auf ihrem mit goldenen Adlern verzierten Seſſel ſitzend, 
ihre Blide im Saal umherjchweifen ließ und jie nur für Augen: 
blide auf die Bühne richtete, eigentlich nur, wenn fie durch das 
Beifalltlatjchen des Katjers quasi dazu gezwungen wurde; er er 
trug mit einer jeltenen Geduld die apathiiche Sleichgiltigfeit jeiner 
Lebensgefährtin. 


254 Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 


Nachdem die Aufführung gegen elf Uhr beendigt war, grüßten 
uns Ihre Majejtäten und zogen fich zurüd. Darauf erdröhnte 
die glänzend beleuchtete Straße nad) Paris unter den Hufen der 
Kutjchpferde aller Derer, welche diefem Schaujpiel beigewohnt 
hatten, das in doppeltem Sinne ein königliches genannt werden 
fann, jo bewunderungswürdig war das Spiel Talmas. 

Sp endigte diejer große und glänzende Tag, der die lujtigiten 
Vorkommniſſe in jeinem Gefolge hatte. Talleyrand, dem es bis 
dahin nicht eingefallen war, mir perjönlich Bijite zu machen, jon: 
dern der es bisher für ausreichend gehalten hatte, jeine Karte bei 
meinem PBortier abzugeben, fam gleih am andern Morgen und 
fragte mich nach den Details des Dinerd vom vergangenen Tage. 
Er verjuchte jehr gejchiekt, mich über das, was ich gejehen und ge- 
hört hatte, auszufragen. Ich begnügte mich damit, ihm zu jagen, 
was er jehr wahrjcheinlich jchon wußte; gegen feine Gewohnheit 
war er mujterhaft höflich, jprach von Polen überaus jchmeichelbaft 
und [ud mich endlich) zum Frühſtück in jeiner Bibliothek ein. Sch 
entjprach diejer Einladung ſehr bereitwillig, und da ich darauf 
halte, immer nur die Wahrheit zu jagen, jo muß ich gejtehen, dat 
ich niemals einen entzüdenderen Vormittag verlebt habe. Talley- 
rand machte mir bei feinen Schägen die Honneurs; es war jehr 
natürlich, daß fich bei einem Millionen reichen Kenner die jchöniten 
und jeltenjten Editionen zujammenfanden, aber nichts war der 
Art und Weiſe vergleichbar, wie er feine Bücher zeigte; er jagte 
niemals, was man jchon wußte, oder was Andere vor ihm gejagt 
oder gejchrieben hatten ; er jprach jehr wenig von jich jelbit, viel 
von hervorragenden Leuten, mit denen er Beziehungen gehabt 
hatte. Mit einem Wort: er zeigte jich jo unterrichtet, wie es ein 
Srandjeigneur, der jeinem Vergnügen viel Zeit widmet, nur jein 
fann. Um diejes jchmeichelhafte aber nicht gejchmeichelte Porträt 
zu vollenden, will ich noch jagen, daß Talleyrand die wunderbare 
Kunſt bejaß, wenn er von der Gegenwart jprach, jeine Vergangen: 
heit für einen Augenblid vergejien zu machen.“ 

Wir müfjen jebt zu den Privatverhältnifjen der Gräfin Po- 
toda zurüdfehren: Ihr Liebhaber Flahault war fein unbedeutender 
Mann, nach jeiner jpäteren Karriere zu urtheilen, denn nad) dem 
Treffen von Mohilew im Juli 1812 wurde er mit fiebenundzwanzig 
Jahren Brigadegeneral, während der Schlacht von Leipzig ernannte 
Napoleon den Achtundzwanzigjährigen zum Divifionsgeneral und 
jpäter zum Neichsgrafen und zum Bair. Unter Youis Philipp iſt er 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 255 


Botjchafter in Berlin und in Wien, unter Napoleon III. in London 
gewejen. Er hatte das Scidjal, am Tage der Schlacht von 
Sedan zu jterben. Einen weniger guten Namen als diejer Held 
hat jeine Mutter, Madame de Souza, damals eine berühmte Ro— 
manjchriftitellerin, hinterlajjen. Die Gräfin PBotoda lernte fie in 
Paris fennen und erfuhr, daß fie eine jtürmijche Jugend hinter fich 
hatte. Das jtieß die Potoda aber weniger ab; dagegen fühlte fie 
jich, und wir fünnen ihr das nachfühlen, jehr unangenehm durch 
die Taftlofigfeit berührt, mit welcher Madame de Souza ihrem 
mütterlichen Stolz über die reizende von ihrem Sohne aus Polen 
heimgeführte Beute Ausdrud verlieh. Nechte Freundinnen wurden die 
beiden Damen deshalb nie, obwohl jie es in Anbetracht ihres 
beiderjeitigen Verhältniſſes zu dem jungen Flahault jchielich fanden, 
in Gejellichaft auf freundjchaftlichem Fuß mit einander zu verfehren. 
Ueber Madame de Souza geben uns die Geheimberichte der Pariſer 
Agenten Ludwigs XVII. aus den Jahren 1802 und 1803, welche 
Sraf Remacle vor wenigen Monaten veröffentlicht hat, pifante 
Aufſchlüſſe. Sch komme auf Remacles Buch vielleicht in einer 
Ipäteren Nummer diejer Hefte zurüd aber jchwerlich auf Madame 
de Souza und will deshalb die Gelegenheit benußgen, den auf dieje 
Frau bezüglichen fittengejchichtlich jehr interejjanten Geheimbericht 
hierherzujegen; zumal er von feinem geringeren Berfajjer herrührt 
als von Royer-Collard. Er lautet: „Eine Neuigfeit, welche die 
Zeitungen jchon gebracht haben, mit welcher ſich aber in Ermange- 
lung eines bejjeren Stoffes die Salons doch bejchäftigen, it die 
Herrath der rau von Flahault mit dem portugiejiichen Gejandten 
Herrn von Souza. Herr von Souza iſt nur durch feine Stellung 
befannt, Frau von Flahault dagegen it jehr, jehr befannt. Sie 
it berühmt durch ihre Nomane und durch ihr eigenes Leben, das 
auch ein Roman iſt, viel weniger moralisch aber auch pifanter als 
die, welche jie gejchrieben hat: Tochter einer Weinhändlerin in 
Orleans, eine geborene Filleul, wurde fie von einer englischen 
Nonne im Klojter erzogen und heirathete ziemlich jpät den Bruder 
des Grafen d’Angivillier8 [den Grafen de Flahault). Ste be- 
bauptet, ihre Ehe mit diefem Manne, den jie gehaßt habe, niemals 
vollzogen zu haben. Ihren Sohn [unjeren Helden], für den fie 
die Zärtlichkeit einer Merope affektirt, hat fie, wie fie behauptet, 
von dem gewejenen Bijchof von Autun [Talleyrand|. Andere 
wollen wijfen, er wäre von Montesquiou, dem damaligen aner- 
fannten Liebhaber der liebenswürdigen Adele. Aber ein Wort von 


256 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


ihr fällt zu Gunjten Talleyrands in die Waagjchale: Als fie ihrer 
Schwangerjchaft gewiß war, da ging fie zu ihrer beiten Freundin 
und jagte ihr: „Beflagen Ste mich; ich habe mic) unglüdlich gemacht; 
ich muß von dem Abbe von Perigord in Wochen.“ Dieje Natvetät 
fünnte belujtigend erjcheinen, aber bei dem Charakter unjerer Heldin 
darf jie nicht jo aufgefaßt werden, denn jie wägt alle ihre Worte und 
Schritte ganz genau. Jedenfalls jteht joviel feit: da die Gräfin 
Flahault bei Hofe nie vorgeitellt wurde und zu Beginn der Revolution 
mit den beiden Männern liirt war, welche ich genannt habe, jo ging 
jie und mußte fie gehen in das Lager der Konjtitutionellen. 

Die Schredensherrjchaft fam, und Graf ‚slahault wurde 
quillotinirt. Böſe Zungen behaupten, daß die Gräfin mit 
Agrippina habe jagen fünnen: „Mille bruits en courent à ma 
honte.“ Sie emigrirte und bejchloß, jich wieder zu verheiratben ... 
Die Details ihres Aufenthaltes in der Schweiz würden uns zu 
weit führen... .; furz fie wollte jich von ihrem jo vielfachen 
Fall durch einen glänzenden Streich für immer erheben und warf 
ihre Nete nach dem jungen Herzog von Orleans aus dem jpäteren 
König Louis Philipp], der ebenda in der Zurüdgezogenheit wohnte. 
Ihre Fortſchritte waren rapid . . . . , als ein geweiener Adjutant 
von Dumouriez, ein Herr von Montjoye, .. . . den jungen 
Herzog... . zu einer Neije nad) Yappland veranlaßte, wo das 
Eis des Nordens jeine Yeidenjchaft auslöjchte. Dann führte ihr 
Glück Madame de lahault den Herrn von Zouza zu, gerade 
dem Mann, der am meiften dazu gejchaffen war, betrogen zu 
werden, und dem man es am wenigiten gönnt, es zu fein. Er it 
nett und gebildet und hat alle gejellichaftlichen Vorzüge; ſein 
Sharafter iſt die Aufrichtigfeit und Ehrlichkeit jelber, aber der Lit 
dieſer Kokette fonnte er nicht widerjtehen. Site thaten jich zu: 
jammen und bezogen in Altona eine gemeinjame Wohnung, wo fie 
den ganzen Tag gemeinjam verlebten, aber ihre Nächte bewilligte 
ihm die Gräfin Flahault nicht, wie Die Fortſetzung unjerer 
Gejchichte lehren wird. Man jprad; von ihrer Heirat als von 
einem jehr nahe bevorjtehendem Ereigniß . . . . und man fönnte 
ein Buch darüber jchreiben, was die Gräfin alles that, um ihre 
Beute zu umgarnen, und von ihren Liſten, damit Souza von 
ihrer Vergangenheit nicht mehr erfuhr, als fich jchlechterdings nicht 
verhehlen ließ, von den Yiebesjzenen, welche jie jpielte, von den 
Anjtrengungen, welche fie machte, um ſich das Wohlwollen der 
Freunde ihres Geliebten zu erwerben . . .. 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 257 


Da fam der 18. Fructidor, .... und das Direktorium 
machte Talleyrand zum Miniſter. Frau von Flahault fehrte nad) 
Paris zurüd, denn Miniſter QTalleyrand war für fie ein ganz 
anderer Gatte oder wenigitens ein ganz anderer Liebhaber als der 
portugiejiiche Kandidat. Aber rau Grant war jeine Meaitrejje. 
‚rau Grant ijt*jehr dumm, und ihre Nebenbuhlerin hielt e8 nicht 
für jchwer, fie aus dem Sattel zu heben. Sie dachte an Souza 
nur noch als an einen Nothnagel, aber o weh! fie täujchte jich. 
Ein Wit, den fie ſich über Madame Grant erlaubte, trug ihr 
(ganz buchitäblich zu nehmen) von Seiten des Bijchof-Minijters 
einen Fußtritt ein und entzweite fie volljtändig mit ihm. Frau 
Grant blieb Siegerin auf dem Schlacdhtfelde. Der Gräfin Flahault 
that es jett vielleicht jehr leid, Souza vernachläjligt zu haben, 
aber jie ließ den Muth nicht jinfen, fie geduldete ſich . . . . Die 
Zeit konnte Alles ändern, mildern, ebenen. Madame de Flahault 
verjüßte fich dieſe Wartezeit, indem fie ſich das Mitglied des 
Iribunats, Gallois, als Liebhaber anjchaffte, einen ehrenhaften und 
bejcheidenen Mann, von dem fie wuhte, daß er ſich, ohne Auf: 
jehen zu erregen, wieder abjchaffen lieg. Sie räumte ihm in 
ihrem Hauje ein Zimmer ein, jogar mit voller Penſion. Nachdem 
dieje Kleine Angelegenheit befriedigend geordnet war, umgab jie 
jich mit einer Gejellichaft von anjtändigen Yeuten, die fie zum 
Narren hielt, und, um ihrer privatijirenden Lebensweiſe einen 
würdigen Anjtrich zu verleihen (otium cum dignitate), jchrieb jie: 
„Karl und Marie*. Ihre Hoffnungen fingen bald an, in Er— 
füllung zu gehen: der Friede mit Portugal wurde gejchlojien; 
Souza fam nad) London, um dort abzuwarten, wann er nach 
Paris fommen fonnte. 

Demgemäh brachte Gräfin Flahault jet zu Sunjten des An— 
jtandes ein Opfer auf Kojten ihrer Bequemlichkeit: Freund Gallois 
wurde zwei Thüren weiter weg einlogirt und fing an, feinen 
Freunden von Herrn von Souza zu jprechen, der jchließlich wirklich 
nad) Paris fam. Nach einigen Monaten fam dieſe große Affaire 
zum Abſchluß. Ueber den Moment der Ehejchliegung wurde das 
jtrengite Geheimniß beobachtet, und, außer den Trauzeugen, erfuhr 
Niemand eher, was fich abjpielen jollte, als bis es zu jpät war, 
die Sache zu verhindern. 

Man fann jich vorjtellen, was über diefe Heirath zuſammen— 
geflatjcht worden ijt, aber die Anderen wiſſen nicht joviel darüber, 
wie der Schreiber diejer Zeilen. Man fieht, dat Frau von Flahault, 

Breußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 17 


258 Die Memoiren der Gräfin PRotoda. 


die von nichts her iſt, mit dreiundvierzig Jahren, ohne Vermögen, 
mit deu denkbar jchlechteften Ruf, einen jungen, reichen Mann aus einer 
der eriten portugiejijchen Familien heirathet . .. das iſt wirklich) 
erstaunlich! In den Augen der Leute, welche Madame de Flahault 
zum Narren zu halten verjteht, gilt fie noch obendrein als diejenige, 
welche ein Opfer bringt. Sie thut dem Herrn von Souza eine 
Gnade an, indem fie ihn nimmt. Mit ernjter Miene wird erzählt, 
fait das ganze Vermögen gehöre ihm nur zum Nießbrauch. Man 
bedauert die arme Dame, daß fie ihre Grazie und ihre Talente in 
Lifjabon begraben jol. Man behauptet, daß Souza jie einer 
iiberaus ftarren Etikette unterwerfen will, daß ſie nur mit einem 
Diener in Livree ausgehen und Männerbejuche nur in Gegenwart 
ihres Gatten empfangen darf. Souza will, daß fie die portugiefijchen 
Sitten annimmt. Much verjichert man, fie habe bei der Zeremonie 
geweint und wäre nur im Intereſſe ihres geliebten Sohnes auf 
die Partie eingegangen. Was ich weiß, das iſt, daß fie jich in 
ihrem neuen Hötel jehr behaglich fühlt, und daß es ihr großes 
Vergnügen bereitet, wenn fie fieht, wie jein Glanz angeltaunt wird. 

Was noch pifanter ijt, das find die Yobjprüche, mit denen 
man in gewijjen Salons den armen Gallois überjchüttet. Man 
rühmt jeine Mäßigung, jeine Reſerve, jeine Entjagung. Man 
findet, daß er, indem er fich jtill zurüdzog, als vollendeter 
Gentleman gehandelt habe. Man wünjcht ihm zugleich Glüd“ — 
aber ich will nun Franzöſiſch fortfahren, denn, was nun folgt, das 
weiß nur der Franke zierlich zu jagen, in unferer „plump Spraf* 
klingt es entjchieden häßlich. Alfo: „On le felieite en m&me 
temps d’ötre delivre d'un benefice dont les charges ont 
prodigieusement alter sa sante. On dit Mme. de Flahault 
tres exigeante, et comme son nouvel &epoux ne parait pas 
promettre beaucoup de ce cöte la, cela ne laisse pas que 
d’inquieter une de ses amies. ‚Comment ferez-vous, lui disait- 
elle, vous dont le coeur est si brülant, vous qui desirez que 
l’on vous donne des preuves d’amour si frequentes ?“ 

„Oh! ne vous inquietez pas,“ repondit la sensible Adele, 
„ee sera l’affaire de quelques verres d’orgeat de plus par jour.“ 

Ich gebe nun den Schluß des Geheimberichtes wieder deutich: 
„Diejenigen, welche die Gräfin Flahault fennen, jtimmen darin 
überein, daß fie ihrer Jugend feinen vortrefflicheren Abſchluß zu 
verleihen vermocht hätte. Diejenigen, welche Herrn von Souza 
fennen, find zwijchen Unwillen und Mitleid getheilt.“ 


Die Memoiren der Gräfin Potocka. 259 


Bekanntlich war Ludwig XVII. ein großer Feinſchmecker, 
jowohl in der materiellen wie in der geiftigen Bedeutung des 
Wortes, oder, wie Byron von ihm jagte: „Ein Schöngeift, der 
die Negeln für Gedichte auswendig weiß, noch bejjer für Gerichte.“ 
Wie mag er über das zitirte Kabinetsftüd aus der Feder Royer— 
Collards gejchmunzelt haben! Und mag die Naconteur-Bajfion 
dieſes Schriftiteller® auch in Bezug auf manche Einzelheiten die 
Kritik dem Pikanten geopfert haben — im Großen und Ganzen 
macht jein Porträt der verjchlagenen Abenteurerin unzweifelhaft 
den Eindrud der Naturtreue. Weberdtes hHarmonirt es ausgezeichnet 
mit der Auffaſſung, welche ſich die gewiß urtheilsfähige Gräfin 
Potoda von dem Charakter der Mutter ihres Liebhabers bildete. 
‚sreilich Eonnte auch ihr ärgjter Feind der Madame de Souza 
nicht abjtreiten, daß ihren moralischen Mängeln bedeutende in- 
telleftuelle Vorzüge gegenüberjtanden. Die Fähigkeiten diejer Dame 
fulminirten durchaus nicht, wie es nach dem Bericht Royer-Collards 
jcheinen fünnte, in dem Talent, fich eine glänzende Verſorgung zu 
erringen, jondern reichten denn doch in etwas höhere Regionen 
herauf: Ihre Romane Adele de Senange, Charles et Marie, 
Eugene de Rothelin u. a. m. find noch heute nicht völlig ver: 
gejien, und ein jo urtheilsfähiger Kritifer wie Sainte-Beuve be- 
hauptet, daß einzelne der von ihr gejchaffenen poetischen Figuren 
überhaupt nicht dauernd vergejjen werden fünnen.*) Der Wider: 
jpruch zwijchen der TQTugendhaftigfeit der Romane von frau 
von Souza und der Galanterie ihres Yebenswandels berührt aller: 
dings wegen der darin liegenden SHeuchelei recht unangenehm, 
aber es muß doch dabei bleiben, daß die Souza eine der Perlen 
in jenem Kranz von Hetären war, welcher die Männer der Re— 
volution umgab. Sie war entjchieden begabter als z. B. Madame 
Tallien, von Jojefine Beauharnats zu jchweigen. 

Um auf ihren Sohn zurüdzufommen, jo ijt e8 bei jeiner 
Abjtammung nicht auffallend, daß er flatterhaft war, und fo ließ 
er denn auch die Gräfin Anna bald genug jiten. Es war fein 
Wunder, daß er viel ummworben ward, denn jeine inneren und 
äußeren Vorzüge waren glänzend: „Ohne regelmäßig jchön zu 
fein,“ jo bejchreibt ihn Gräfin Anna Jahre lang nach der Löjung 
des Verhältnifjes, „hatte er ein reizendes Geficht. Sein Blid war 
von einer Melancholie verjchleiert, welche einen geheimen Kummer 


.® Sainte-Beuves, „Portraits de femmes.* Nouvelle edition. Paris 1876. 
©. 42 u. ff. 


17* 


260 Die Memoiren der Gräfin Botoda. 


zu verrathen jchien. Seine Manieren waren elegant ohne Geden- 
haftigfeit, jeine Unterhaltung geijtreich, jeine Anfichten jelbitändig; 
Niemand hat je vollfommener die Vorſtellung verwirklicht, welche 
man ji) von einem Romanhelden und einem untadeligen Ritter 
macht. Auch hat jeine Mutter jich jeiner als eines Typus bedient, 
den jie unter verjchiedenen Namen in ihren himmlischen Romanen 
reproduzirt hat.“ 

Die Gräfin Botoda, die den Ungetreuen überhaupt jehr jchonend 
behandelt, verjchweigt abjolut, welche Frau jie ausgejtochen hat; 
wir wijjen jedoch von anderer Seite, daß es feine Geringere ge: 
wejen ijt als Königin Hortenje von Holland, die MutterNapoleons III., 
deren Gemahl ebenjo unheilbar fühl war wie Monjieur de Souza. 
Im Sommer 1810 verließ Gräfin Anna Paris, um in ihre Heimath 
zurüdzufehren ; im Herbſt des folgenden Jahres entiprang den Um: 
armungen Flahaults mit der Königin von Holland der Herzog von 
Morny, an Talent wie an rivolität der würdige Enkel der 
„gerühlvollen Adele“. 

Die Botoda behauptet, daß fie gerade im Begriff gewejen jet, 
ihre Grundjäge fahren zu laſſen und jich Flahault zu ergeben, als 
die ritterliche Ader in dejjen Natur in Wallung gerathen wäre, und 
er ihr Kenntniß von den neuen von ihm gefnüpften Banden ge: 
geben habe: „So behielt ich das Necht, ihm beim Abjchied mein 
Porträt zu geben mit dem Gedicht von Legouvé entlehnten 
Sinnjpruche : 

(est moins qu’une maitresse et bien plus qu’une amie. 

AS ich darauf zu meinen Kindern zurüdgefehrt war, da fiegte 
nach) und nach das dem Freunde, der mich meinen heiligiten Pflichten 
wiedergegeben hatte, geweihte Gefühl der Hochachtung und Dank— 
barfeit über halb jchmerzliche, halb jühe Erinnerungen.“ So ver: 
jteht es ein franzöftjch empfindendes Frauenherz, unterjtüßt von der 
Gewandtheit der franzöfiichen Sprache, über Abgründe binweg- 
zugleiten ! 

Die Memoiren unjerer Berfafjerin erjtreden jich noch über die 
Feldzüge von 1812 und 1813, jowte über die Gejchichte des im 
Perjonalunion mit Rußland wiederhergejtellten Königreichs Polen 
und bleiben Zeile für Zeile jehr interefjant. Ich breche jedoch 
meine Bejprechung an diejer Stelle ab; nur das folgende charalte- 
riſtiſche Hitörchen hebe ich noch heraus, das Gräfin Anna von dem 
Adjutanten Napoleons, Oberjten Wonjowicz, den fie nach dem 
Tode des Grafen Potodi in zweiter Ehe heirathete, gehört hat: 


Die Memoiren der Bıäfın PRotoda. 261 


Nachdem der Kaiſer die Trümmer jeines aus Rußland zurückkeh— 
renden Heeres heimlich verlajjen und auf der Rückreiſe nach Frank— 
reich Warjchau paſſirt hatte, äußerte er zu jeinen Begleitern Cau— 
laincourt und Wonjowicz das Verlangen, einen feinen Umweg zu 
machen, um die Gräfin Walewsfa auf ihrem Gute zu bejuchen. 
Was er bei der Walewsfa machen wollte, das brachte er jenen 
beiden den Poſtwagen mit ihm theilenden Herren gegenüber „auf 
die allerpifantejte Art und Weiſe“ zum Ausdrud. Befanntlich 
pojirte der Kaiſer nach der Statajtrophe von 1812 den mit jeinem 
Bolfe fejtverwachjenen Monarchen, welchem weiter nichts pajfirt 
wor als der Verlujt einer Armee, die fich durch eine andere erjeßen 
ließ. Jenes kleine Gejchichtchen, vorgefallen, während die Sammer: 
gejtalten der Großen Armee durch den grenzenlojen bejchneiten 
Raum Litauens wankten, verjinnbildlicht ung die ganze Perjönlich: 
feit Napoleons, den Menjchen mit jeiner durch nichts zu läuternden 
Semeinheit jowie den Herrſcher und Feldherrn mit jeiner unzer— 
jtörbaren Seelengröße. 

Auch der erite Gemahl der Gräfin Anna bejaß auf jeine Art 
unläugbar Seelengröße, denn er lebte mit der — man fann nicht 
einmal jagen reuig — in jeine Arme zurüdgefehrten Lebensge— 
fährtin, als ob nichts pafjirt wäre, oder beinahe pajjirt wäre. 
Gräfin Anna jchenfte ihm noch einen Sohn. Die merkwürdige 
rau verjteht ihrer Liebe zu diefem ihrem jüngjten Kinde einen 
ebenjo gemüthswarmen wie jprachlich meijterhaften Ausdrud zu 
geben: „Iheures Kind,“ schreibt fie in ihren Erinnerungen, „wie 
warjt Du jchön und artig. Nie entitellte Weinen oder Schreien 
Dein großes, frisches Gejicht. Du wurdejt die Liebe Deiner Mutter 
und die Freude des Haujes; Alle beteten Dich an. Ich danke 
Dir nod) für das Glüd, das Du mir gegeben hajt.“ 

Daß die Gräfin Potoda, verwittwet, noch einmal einem Lands— 
manne ihre Hand reichte, habe ich jchon erwähnt. Sie ging aber 
trogdem wieder nach Paris und fuhr dort fort, mit Flahault Be: 
ziehungen zu unterhalten, die jie als eine nach wie vor platontjche 
Yiatjon aufgefaßt wijjen will. Nun! Honny soit, qui mal y pense! 
Ihr den Denfwürdigfeiten nach dem von Angelifa Kauffmann 
gemalten Original beigegebenes Porträt zeigt, dat die Potoda mit 
ihren mandelförmig gejchnittenen, träumerijch-Elugen, ſanft-lebens— 
vollen Augen, dem etwas großen, beweglichen Mund, Ddejjen 
jchwellende Lippen ein gutmüthigsheiteres Lächeln umjptelte, und 
mit dem rajjemäßigen Stumpfnäschen zwar feine regelmäßige 


262 Die Memoiren der Gräfin Potoda. 


Schönheit aber doch eine liebliche und verführerifche Erjcheinung 
war. Wen man liejt, was jie über ihre perjönlichen Berhältnijie 
jchreibt, hat man zuweilen die Empfindung, daß die Verfajjerin 
ji) mit einer großartigen Ehrlichkeit äußert, aber noch öfter fann 
man jich des Eindruds nicht eriwehren, dag man echt polntjche 
Saljchheit vor jich hat. Ja zuweilen überfommt Einen das be- 
jchämende Gefühl, daß man als Deutjcher eigentlich doch zu dumm 
it, um das Bud) ganz zu verjtehen. 

Was Gräfin Anna aber von Anderen als von jich jelber er: 
zählt, das iſt meijtentheils ehrlich ; und dabei ijt es mit Scharfblid 
beobachtet und mit Geijt jowie auch mit Gemüth aufgefaßt. Und 
dazu die herrliche Gottesgabe ihres Stiles, welcher die Stufenleiter 
vom Pathetiſchen zum Witzigen mit der größten Leichtigfeitt auf 
und nieder jteigt, welcher Klarheit, Feinheit und Präziſion mit 
Wärme, Einfachheit mit Gleganz verjchmiljt. Der in der Gräfin 
waltende fünjtlerijche Drang fommt der hijtorischen Wahrheit ihrer 
GSejtalten zu Gute: als PBolin möchte fie ihren Napoleon zeichnen 
wie einen Gott, aber als Nünjtlernatur it jie dem Zwange zum 
Naturwahren und Individuellen unterworfen, und jo malt jie, 
nolens volens von ihrer plajtiichen Kraft fortgerifjen, neben dem 
Gotte auch den rüden korſiſchen Barvenu. Dieje zahlreichen Bor: 
züge bewirken, day man bei der Xeftüre unjerer Berfajierin zu— 
weilen von der Stimmung angewandelt wird, zu urtheilen, Alles» 
was man bisher über das Napoleonijche Zeitalter gelejen babe, jei 
weiter nichts als trodener Notizenfram gewejen. Der Charafter der 
Potocka mag nicht bejjer gewejen jein al8 der von hundert anderen 
Bolafinnen auch, aber ihr Ejprit ijt jo einzig in feiner Art, daß 
man jich vor dem Andenken diejer Frau huldigend verneigen muß. 

Sräfin Anna ijt im Jahre 1865 hochbetagt zu Paris gejtorben. 
Nach dem Frieden von Tiljit im Jahre 1807 hatte ſie gejchrieben: 
„Der König und die Königin von Preußen verdanften Mlerander 
das Fortbeſtehen ihres Königreichs, das in der Lilte der Nationen 
gelöjcht werden jollte, was wir von ganzer Seele und aus ganzem 
Herzen wünjchten.“ Und an einer anderen Stelle ihrer Memoiren 
jagt jie von Dalberg : „Er wünjchte aufrichtig die Wiederheritellung 
Polens und begehrte leidenjchaftlich die Befreiung Deutjchlands, 
zwei Dinge, die jo jchwer mit einander zu vereinigen waren, wie 
alle jeine übrigen Gemüthsregungen.“ ALS die glühende Patriotin 
nun jtarb, da waren die Kanonen für die Schlacht von Königgräß 
bereitS gegojien. 


Die Memoiren der Gräfin Potoda. 263 


Ihre legten Worte waren: „Ach! Das Leben ijt doch ſchön!“ 
Der greife Flahault, der im Alter, wie billig, fromm geworden zu 
jein jcheint, drücdte ihr die Augen mit den Worten zu: „Adieu, 
geliebte Freundin, oder vielmehr auf Wiederjehen !* 

Sch jchließe meinen Eſſay, indem ich das jchöne Nachwort 
wiedergebe, welches die Gräfin Potoda ihren Lebenserinnerungen 
hinzugefügt hat: „......... Ch! Wie bizarr und wie pein= 
(ich it das Gefühl, welches Einen, der lange gelebt hat, bejchleicht, 
wenn er aufmerfjam jeine Blide hinter jich richtet! Wieviele Er: 
eigniffe, die uns bedeutjam erjchienen waren, jind nicht der Ber: 
gelienheit verfallen! Wieviel gejcheiterter Ehrgeiz, wieviele ge: 
täujchte Hoffnungen, wieviel abgejtumpfte Reue und abgefühlte 
Begeifterung!! .... Wieviele für unwiderjtehlich gehaltene Leiden— 
ichaften, welche mit der Zeit erlojchen jind! Welches Gewicht, das 
elenden Interejjen und eitelen Kindereien beigelegt worden ijt und 
feine Spur hinterlafjen hat. Wie unendlich groß it die Zahl der 
Berjonen, die dahingefchieden find, die Einen vor dem Alter weg: 
gemäht, die Anderen nach der YJurüclegung einer langen und 
freudlojen Lebensbahn. Wieviele Handlungen, wieviele Namen, 
welche die Uniterblichkeit verdient zu haben jchienen, jind in den Ab— 
grund verjunfen, welcher Alles verjchlingt, während minder ver: 
dienitvolle Leute jteigen, bloß weil fie mit wichtigen Ereignijien 
äußerlich verknüpft find! 

Und man ift jelber Zujchauer aller diefer Dramen gewejen, 
man bat fich jelber dem gleichen Abgrunde entgegenbewegt — 
Freudenſchreie, Schmerzensjchreie, Alles iſt vorüber ! 

Und wenn wir dem legten Ziele nahe gekommen find, jind 
wir dann weijer, find wir gegen Unglück innerlich gewappnet, und 
ergeben wir uns ruhig in die Fügungen des Schidjal3 ? Ach! 
Der Menjc hört erjt auf, zu leiden und zu hoffen, wenn er zu 
leben aufhört! Das Alter modifizirt und verändert die Natur 
unjerer Gefühle, aber e8 hebt fie nicht auf.“ 


Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 


Bon 
Oswald Külpe in Würzburg. 


Zu den interejjantejten Problemen, die und im Gebiet der 
äjthetiichen Thatjachen entgegentreten, gehört der Unterjchied 
zwijchen der Wirkung, welche die realen Erjcheinungen auf uns 
üben, und derjenigen, die von einer künſtleriſchen Darjtellung der: 
jelben ausgeht. Wie ganz anders würden wir uns zu den 
traurigen AZuftänden modernen Großjtadtlebens verhalten, von 
denen uns jo viele Romane und Dramen der Gegenwart berichten, 
wenn wir fie nicht bloß durch eine eingehende Schilderung fennen 
lernten, jondern mit zu erleben Gelegenheit hätten! Vielleicht 
würden wir zu helfen, thatkräftig einzugreifen juchen, vielleicht uns 
voller Abjcheu davon abwenden oder das bittere Weh empfinden, 
welches die Einficht in die eigene Ohnmacht den noch nicht ab: 
gejtumpften Gemüthern erwedt, feineswegs aber würden wir in 
empfänglicher Theilnahme betrachtend verharren, die uns das 
Stunjtwerf als ein jelbjtverjtändliches Verhalten auferlegt. Wenn 
wir dieſes Gleichmaß von Interejje, Beobachtung und Stimmung, 
das wir dem Unerfreulichen ebenjo wie dem Erfreulichen widmen, 
wegen jeiner Vergleichbarkeit mit der fühlen Abwägung von Berdienit 
und Schuld bei dem urtheilenden Richter als Gerechtigfeit bezeichnen, 
jo ergiebt jich aus den bejchriebenen Ihatjachen der Begriff einer 
äjthetiichen Gerechtigkeit. Wejentlich verjchieden von der juriftijchen 
und von der jittlichen Form, it fie dazu bejtimmt, dieſe beiden 
innerhalb unjerer Weltbetrachtung zu ergänzen und über jie 
mildernd und ausgleichend hinauszugreifen. 


Die äfthetifche Gerechtigkeit. 265 


Der Unterjchied, von dem wir oben ausgegangen jind, ijt be: 
reits früh bemerft und zu erflären verjucht worden. Diejenige 
Philoſophenſchule des Alterthums, welche die Luſt als das all: 
gemeine Prinzip unjere® Wollens und Handels bejtimmte, Die 
fyrenaijche oder hedonijche Richtung, hat jchon darauf hin— 
gewiejen, daß wir die Klagen der Schaufpieler gern hören, die 
wirklichen aber ungern. Sie folgerte daraus, daß nicht alle Luft 
förperlich bedingt jein fünne, und hat damit offenbar einen be- 
jonderen Urjprung für das Gefallen an dargeitellten Klagen be- 
hauptet. Sodann hat Arijtoteles die gleiche Ihatjache erwähnt 
und jeiner Kunſttheorie einzufügen gejucht. Dinge, die uns in der 
Natur peinlich) berühren, wie die widerwärtigjten Thiere oder 
Leichname, betrachten wir nad) ihm in ihren allergetreuejten Nach: 
bildungen mit Vergnügen. Seitdem ijt in der Neithetif wiederholt 
von einem jolchen Gegenjat des Verhaltens bei wirklichen und bei 
fünjtlerijch dargeitellten Gegenjtänden oder Ereignijjen die Rede ge- 
wejen, und es hat nicht an Anftrengungen gefehlt, ihn aus 
allgemeineren Borausjegungen heraus verjtändlich zu machen. 
Aber eine völlig befriedigende Theorie diejer Erjcheinungen giebt 
es noch nicht. ES hängt das damit zujammen, daß die Nejthetik 
erit gegenwärtig mit vollem Bewußtjein eine piychologijche 
Disziplin wird, die alle Thatjachen ihres Gebiets als zum Seelen: 
leben gehörig anjieht und aus Gejegen dejjelben ableitet. 

Wenige Ihatjachen der Aeſthetik dürften jedoch zugleich eine jo 
einleuchtende Probe auf die Güte und Nichtigkeit der in Diejer 
Wifjenjchaft angenommenen Prinzipien bilden, als die von ung jo 
genannte äjthetijche Gerechtigkeit. Denn es bedarf nicht vieler 
Beijpiele, um jie zu erläutern oder die Aufmerfjamfeit auf jie zu 
fenfen. Sie gehört zu den auffallenditen und befanntejten Er- 
jcheinungen des ganzen Gebiets. Der einfache Hinweis auf die 
Tragödie und den Genuß, den wir ihr verdanfen, enthebt uns 
jeder Aufzählung von Cinzelheiten. Andererſeits bildet gerade 
dieje Ihatjache auch wieder ein bejonders jchwieriges, ja paradores 
Problem, dejjen Auflöfung über die äjthetijchen Iheorien ge: 
radezu entjcheiden muß. Statt daß uns das Traurige mit Trauer 
erfüllt, genießen wir feine Darjtellung, jtatt, daß wir leiden und 
tiefen Schmerz empfinden, werden wir erhoben, ja  bejeligt. 
Darüber läßt fih nur auf dem Boden einer Wejthetif, die von 
Grund aus feit und klar entworfen ijt, eine befriedigende Auf: 
flärung geben. Das engere Gebiet der äjthetiichen Gerechtigkeit 


266 Die äfthetiiche Gerechtigkeit. 


hängt mit der allgemeinen Kunjtlehre, ja mit dem äſthetiſchen 
Grundbegriff dejjen, was überhaupt geeignet it, Gefallen oder 
Mipfallen zu erregen, auf das Engjte zujammen. Denn was von 
der Trauer, dem Unglüd gilt, muß natürlic) auch von dem Glüd 
und der Freude gelten. Auch fie berühren uns äjthetiich anders, 
als in der Wirklichkeit des täglichen Lebens. Somit fommt bier 
Alles auf die Beantwortung der Frage an, worin das äjthetijche 
Vergnügen bejtehe oder worauf es fich gründe. Darum jehen wir 
ung zunächit einige Theorien, die den Thatbeſtand der äjthetijchen 
Gerechtigkeit zu erklären vorgeben, auf ihre Leiſtungsfähigkeit etwas 
näber an. 


I. 

Der erjte VBerjuch, das Wejen der Kunſt pjychologijch ver- 
jtändlich zu machen, jtammt von Arijtoteles. Allgemein ver 
breitet ijt, wie er lehrt, die ‚Sreude an Nachahmungen, weil jich 
cus ihnen ein Lernen ergiebt und Ddiejes für Jedermann jehr er: 
göglich ft. Das Lernen bejteht nämlich hier in der Wahrnehmung 
einer Uebereinjtimmung zwijchen dem Original und jeiner Nach: 
bildung, in einem Schluß von dieſer auf jenes. Wenn wir aljo 
von der fünjtleriichen Wiedergabe unerfreulicher Objekte uns an: 
genehm berührt fühlen, jo berubt das auf der Bergleichung 
zwijchen dem uns befannten Urbild und der nachahınenden Dar— 
jtellung, die es gefunden bat. ES ijt mit anderen Worten nicht 
der Stoff, jondern die Art jeiner künſtleriſchen Gejtaltung, was uns 
gefällt, und die Stärfe dieſes Gefallens wird von der merflichen 
Bollfommenheit abhängen, wit welcher es dem Künitler gelungen 
it, jein Modell zu fopiren oder in dem Nachbild erfennbar zu 
machen. 

Eine verwandte Theorie iſt jodann von einem bedeutenden 
franzöfijchen Aejthetifer des 18. Jahrhunderts, Dubos, ausgeführt 
worden. Zu den größten Qualen gehört nach ihm die Lange: 
weile, und das Hauptverdienjt der Kunſt fieht er darin, daß fie 
den ſtarken Trieb nad) Unterhaltung und Beichäftigung in jehr 
zwedmäßiger Weije befriedigt. Was unjere Yeidenjchaften aufregt, 
das pflegt uns nämlich am jtärkiten zu unterhalten, jo daß die 
Menjchen mehr darunter leiden, ohne jolche Gemüthserjchütterungen 
zu leben, als unter den üblen Folgen, welche jie für die Gejundheit 
mit jich bringen. Indem nun die Kunſt Gegenjtände nachbildet, 
welche in der Wirklichkeit ſtarke Affekte hervorrufen würden, läßt 


Die äfthetifche Gerechtigkeit. 267 


fie Nachflänge derjelben in uns entjtehen. Da dieſe jchwächer 
jind, als die durch reale Erjcheinungen erregten Leidenjchaften, jo 
bleiben ſie ohme die peinlichen Neben- und Nachwirfungen der 
legteren und erweden jomit bloß das Vergnügen bejchäftigt zu jein. 
Wenden wir dieſe Betrachtungen auf den Fall der äſthetiſchen 
Gerechtigkeit an, jo muß das Gefallen an einer Daritellung un- 
erquidlicher oder beflagenswerther Ereignijje auf der Unterhaltung 
beruhen, welche die durch fie wachgerufenen Gemüthsbewegungen 
dem Zuſchauer, Lejer oder Hörer gewähren. 

Troß der mannigjachen Unterjchiede, welche zwijchen den 
einfachen kurzen Bejtimmungen des Nrijtoteles und den ein: 
qehenderen und feineren Grörterungen des franzöſiſchen 
Aeſthetikers obwalten. it ihnen Doch beiden nicht nur Die 
Auffafiung der Kunſt als einer Nachahmung gemeinjam, jondern 
auch die Annahme, daß es fich bei der äjthetichen Yujt um etwas 
Mittelbares, nicht durch den Ddargeitellten Gegenjtand jelbit Be- 
Dingtes handelt. Beide jind darin einig, dat das äjthetijche Ver: 
gnügen an Nachbildungen der Wirklichkeit, an Kunjtiwerfe, gebunden 
it. Damit haben jie aber bereits, von allem anderen abgejeben, 
ıhre Theorie gerichtet. Mag man die äjthetijche Freude auf das 
Srfennen des Vorbildes in der Nachahmung oder auf das unter: 
haltende Spiel der Yeidenjchaften zurücdführen, in jedem Falle iſt 
der jo gewonnene Begriff zu eng, um alle Ihatjachen umjpannen 
zu fünnen. Sobald es gelingt in der Wirklichkeit den Standpunft 
eines pajjiven Zujchauers einzunehmen, fann der Art nach dajjelbe 
äfthetiiche Vergnügen entitehen, das wir an einer fünjtlertjchen 
Wiedergabe ähnlicher Borgänge empfinden. Wenn das zumeist nicht 
geichteht, jo liegt es nicht in Merfmalen begründet, die der Wirk: 
lichfeit fehlen, während fie dem Stunjtwerf zufommen, jondern im 
Gegentheil darin, daß die Beziehung auf unjer Wollen und Handeln, 
welche den realen Vorgängen anzubaften pflegt, in der Kunſt fort: 
fällt und damit der auch dort vorhandene äjthetiiche Gehalt unge: 
jtört und volljtändig zur Geltung gelangen fann. Statt der herz: 
loſen Unbefangenheit bloßer Betrachtung nöthigt uns die Wirklichkeit 
von Kummer und Noth ein werfthätiges Mitleid ab, in dem bei 
der Einheit und Begrenzung der uns zur Verfügung jtehenden 
jeeliichen Energie alles Interejje an dem anjchaulichen Vorgange 
als jolchem untergeht. Indem dagegen das Kunjtwerf gar feinen 
Angriffspunft für eine praftijche Bethätigung darbietet, wird die 
Kontemplation zur freien und mächtigen Alleinherrichaft in unjerem 


268 Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 


Bewußtjein gebracht und die äjthetiiche Stimmung in reiche Thätig— 
feit gejegt. In der realen Welt dürfen wir nur jelten blog Auge 
und Ohr jein, der reinen Betrachtung hingegeben Gejtalten und 
Ereigniſſe in stiller Feierlichfeit genießen; gebieterisch verlangt Sie 
zumeiſt eine unmittelbare Betheiligung an ihrem Gejchehen, reikt 
jie ung mitten hinein in den Drang und Zwang ihrer Aufgaben 
und Gejchäfte. Aber das Kunſtwerk fordert von uns nur die auf 
merfjame Gelajjenheit einer empfänglic) gejtinnmten Seele. Es wäre 
das unnützeſte uud überflüfigite Ding von der Welt, wenn es jid 
nicht dazu geeignet erivieje, äſthetiſch betrachtet und beurtheilt zu 
werden. 

Gewiß läßt jich auch ſonſt noch vieles gegen die beiden Theorien 
von Arijtoteles und Dubos jagen. Wäre doch das Vergnügen an 
der Kunſt ein recht findijcher Zeitvertreib, wenn ihm die Erfennung 
des Originals in dem Nachbilde zu Grunde läge! Ferner würde 
vieles von dem, was wir an Kunſtgenuß thatjächlich haben und 
erleben, dieje Bezeichnung nicht mehr verdienen, wenn wir Dubos' 
Theorie von den Nachklängen realer Leidenschaften als gültig an- 
erfennen wollten. Aber nicht darauf fommt es hier an; es genügt 
gezeigt zu haben, dal der Unterjchied, den beide zwijchen der Wirk: 
fichfeitt und der Kunſt aufrichten, um die äſthetiſche Gerechtigkeit 
verjtändlich zu machen, den Ihatjachen nicht entipricht. Werjuchen 
wir es daher mit einer anderen verbreiteten und angejehenen Lehre, 
welche nicht mit Unrecht den Anjpruch erhebt, die einfachite und 
flarjte Schilderung des äjthetiichen Verhaltens gegeben zu baben. 
Es ijt die von Herbart zuerit mit tonjequenz entworfene und 
von jeiner Schule weiter ausgeführte formaliſtiſche Theorie. 

Der Grundgedanfe derjelben bejteht in der Feſtſetzung, day es 
jic) bei den Gegenſtänden unjerer äjthetifchen Beurthetilung immer 
nur um Berhältnijie, niemals um das in Verhältnijjen jtebende 
Einfache handle. Nennen wir das, was in gewiljen Beziehungen 
zu anderen Inhalten der Erfahrung gegeben ift, den Stoff oder 
die Materie, dieje Beziehungen jelbjt aber die Form, jo iſt hiernach 
einziges Objekt für unjeren Gejchmad das Verhältnig oder die 
Form, worin die einzelnen Bejtandtheile eınes Erfahrungsinhalts 
zu einander oder zum Ganzen jtehen. Alſo nur auf die Gruppirung, 
auf die Kompojition, auf den quantitativen oder qualitativen Zu: 
jammenbhang als jolchen haben wir nad) diejer Anjicht bei einer 
älthetiichen Auffafjung und Würdigung Rüdjicht zu nehmen, während 
die abjolute Bejchaffenheit der bejondern in diefen Zuſammenhang 


Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 269 


eingehenden Erfahrungen für den Mejthetifer wentgitens gänzlich 
bedeutungslos wäre. Zu dem Stoff wird aber hierbei nicht nur 
die Summe der in der unmittelbaren Wahrnehmung enthaltenen 
einfachen Qualitäten, der Farben, der Töne, gerechnet, jondern auch 
alles, was dieje ausdrücden, darjtellen, jymbolifiren. Ob beijpiels- 
wetje eine mufifalifche Kompofition wilden Iroß oder weiche Hin: 
gebung, unruhiges Suchen oder erlöjendes Finden, hoffnungsloje 
Trauer oder erhabenen Frieden jchildert, tt nach diejer Theorie in 
äjtheticher Beziehung völlig gleichgültig. Dagegen tt es nicht 
unwichtig, in welcher Weije derartige Boritellungen oder Gemüths- 
bewegungen auf einander folgen, und in welchen Stärfeverhältntjien 
fie zu einander jtehen. 

Die Anwendung diejer Theorie auf unjeren Fall der äſthetiſchen 
Serechtigkeit läßt ſich hiernach ohne Weiteres vollziehen. Weder 
in der Wirklichkeit noch in der Kunſt ift das Unangenehme, Traurige, 
WBedauerliche, für ji) genommen, das Objekt eines Gejchmads: 
UÜrtheils, und es fällt daher die Frage nach dem Grunde unjeres 
abweichenden Verhaltens gegenüber der Wirklichfeit jolcher Dinge 
und ihrer fünjtlerifchen Darjtellung aus dem Rahmen der Nejthetif 
überhaupt heraus. Damit wird mun freilich die Frage nicht beant— 
wortet, jondern nur vor ein anderes, vorläufig unbefanntes Forum 
verwiejen, und da wir nicht willen, wo und wie die Formaliſten 
fie zu verhandeln und zu erledigen verjuchen, jo iſt jede weitere 
Vermutung ein unfruchtbares Beginnen. Wir werden daher durd) 
dieſen Standpunft vor die Aufgabe geitellt, die Berechtigung nach 
zuwetjen, mit der wir hier ein äjthetijches Problem glaubten 
formuliren zu müjjen. Es läßt fich aljo night umgehen, zu prüfen, 
inwiefern die radikalen Beitimmungen der formaliſtiſchen Richtung 
gültig und zwedmäßig find. 

Wenn wir joeben von einem Radikalismus gejprochen haben, 
jo meinen wir damit die abjtrafte und jchroffe Iſolirung der Form 
von dem Stoff. Es giebt fein Verhältnig ohne ein Etwas, für 
welches es behauptet wird, und es jett daher jedes Gejchmadsurtheil 
im Sinne der Formaliſten eine nicht ganz unerhebliche Schärfe 
und Feinheit analytijcher Thätigfeit voraus, wenn es ceim reiner, 
von allen trübenden Nebenwirkungen des Stoffes befreiter Aus— 
drud des äjthetiichen Verhaltens jein jol. Wir müſſen bei den 
‚sarben ebenjo jehr wie bei den leblojen oder lebenden Gegen: 
jtänden, die ſie darjtellen, lediglich auf die wechjeljeitigen Be— 
ztehungen achten, welche jie miteinander bilden, wir müſſen bei 


270 Die äfthetifche Gerechtigkeit. 


den Worten eines Gedichtes von ihrem Klange ebenjo wie von den 
Gejtalten, Gefühlen, Handlungen, welche ſie uns jchildern, ab: 
zujehen veritehen, wenn anders wir Bild oder Gedicht auf ihre 
älthetiiche Bedeutung Hin unterjuchen und beurtheilen wollen. 
Daß bei einem jolchen Verfahren alle Unbefangenheit einer naiven 
Verſenkung in fünjtlertjche Produkte aufhören und einer hochnoth— 
peinlichen Ausjcheidung der fich immer wieder vordrängenden un- 
äjthetiichen Elemente Pla machen müßte, braucht nicht erit be: 
wiejen zu werden. Eine jchwierige, der wifienjchaftlichen Arbeit 
vergleichbare Sonderung des Wejentlichen vom Unwejentlichen 
würde angejtellt werden müjjen, bevor man es wagen dürfte, Die 
Schönheit oder Häßlichkeit eines Drama oder Epos zu behaupten. 
Denn die Gefühle des Gefallens oder Mipfallens, auf die ſich 
unjere Gejchmadsurtheile zu jtügen pflegen, jind ja an ſich viel 
zu unbejtimmt und gleichartig, als daß man aus ihnen heraus 
auch nur mit einem Schein von Sicherheit auf die Herkunft aus 
äjthetijch zuläjjigen oder unzuläfjigen Momenten jchliegen fönnte. 
Es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß die Gejchmadsurtheile der 
meijten Menjchen, ja jelbjit der Kunſtkritiker und Xejthetifer von 
Beruf, an dem Maßſtab der Formaliſten gemefjen, fich als unrein 
erweijen würden. Insbeſondere aber entitände unter der Voraus— 
jegung, daß dieſe Theorie gültig jei, ein gewaltiger Riß zwijchen 
den Natur und Kunſt in ihrem Sinne betrachtenden und ſchätzenden 
und den von diejes Gedanfens Bläfje nicht angefränfelten Berjonen. 

Wir haben bisher angenommen, daß fich die ‚Forderung der 
formaliſtiſchen Aejthetif, wenn auch nicht ohne beträchtliche Schwierig: 
feiten, jo doc) überhaupt erfüllen laſſe. Aber jelbjt dieje Klon: 
zejlion an ihren Standpunft müfjen wir bei genauerer Prüfung 
wieder aufgeben. Denn jie verträgt fich nicht mit einer offen- 
fundigen Thatjache unjeres Gemüthslebens, nämlich mit der Einheit 
dejjelben.. Es it jchlechterdings unmöglich, die äſthetiſchen Ge— 
fühle und Ztimmungen von den Einflüffen frei zu erhalten, 
welche der Stoff eines Kunſtwerks unwillfürlic) ausübt, weil wir 
uns nicht in verjchiedene Provinzen zerteilen fünnen, von denen 
die eine etwa bloß die auf die Form bezüglichen Gerühle, die 
andere dagegen die an den Stoff gebundenen in jcharfer Ab- 
grenzung neben einander entjtehen und jeßhaft werden ließe. So 
wenig wir in einem und demjelben Augenblick freudvoll und leid: 
voll zugleich fein fönnen, jo wenig vermag man das Vergnügen 
an der bloßen Form allen Einwirkungen zu entziehen, die von 


Die äfihetifche Gerechtigkeit. 271 


dem jich in ihr entfaltenden Stoffe ausgehen. Dadurch) geräth 
man auf dem Boden der formalijtiichen Theorie in ein höchit 
mipliches Dilemma. Entweder nämlich muß man die Gejchmads- 
urtheile von der Gefüblsgrundlage, auf welcher fie nach der ge- 
wöhnlichen Auffafjung ruhen, völlig abheben und ihnen rein 
theoretiiche Beſtimmungen jubjtituiren, auf deren Gejtaltung die 
thatjächlichen Gemüthserregungen des Gefallens oder Mißfallens 
nicht mehr ablenfend oder verwirrend einzuwirfen vermögen. 
Dder man muß zugeben, daß das formaliftische Dekret eine ideale 
sorderung enthält, der die unvollfommene Wirklichkeit unjerer 
Sefühle und der durch fie bedingten Werthurtheile in der Negel 
nicht zu entjprechen im Stande it. Beide Glieder diejer unver: 
meidlichen Alternative jind für die formaliſtiſche Nejthetif, wie man 
jieht, äußerjt bedenklich. Entjcheidet fie jich für das erite, jo hat 
die Aejthetif aufgehört eine Lehre von eigenthümlichen Wirkungen 
auf das Gemüth, vom Gefälligen und Mipfälligen zu fein. Vom 
grünen Tijch her, unbefümmert um die unmittelbaren Aufwallungen 
der Luft oder Unluſt, jeßt fie feit, was jchön oder häßlich jein joll, 
mit derjelben Untrüglichfeit, wie die Mathematik ihre Begriffe 
definirt und den Definitionen gemäß verwendet. Wir brauchen 
dann nicht erjt in der Erfahrung Umschau zu Halten, um zu er: 
fennen, ob und wann etwas für jchön oder häßlich gehalten wird, 
wir fonjtruiren vielmehr mit der freien Sicherheit des Geometers, 
unter welchen Umftänden ein Gebilde diejes oder jenes Prädifat 
verdiene. So wird denn der Gejchmad allem Streit und Gegenjat 
entzogen und in die reine Sphäre einer wenn auch noch jo grauen 
Theorie emporgehoben. Ein Gegenjtand heißt dann nicht mehr 
ſchön, weil er gefällt, jondern weil und jofern ſich an ihm gewiſſe 
Merkmale antreffen lajjen, die ihn ganz objektiv, ohne die patho- 
logiſchen Erjchütterungen des Gemüths zu Nathe zu ziehen, als 
einen jolchen charafterijiren. 

Wir wifjen, daß Herbart einer jolchen Folgerung aus jeiner 
Annahme nicht beigejtimmt haben würde, denn er hat unzwei— 
deutig auf die MWichtigfeit empirischer Unterjuchungen über ge: 
fallende und mihfallende Berhältnijje hingewiejen. Dann aber it 
es auch jehr zweifelhaft, ob ihm das andere Glied unjerer oben 
aufgejtellten Alternative nad) Sinn gewejen wäre. Denn wie 
jollte die empirische Beobachtung unjeres äjthetiichen Berhaltens 
iiber die reine Bedeutung der Formen einen bejriedigenden Auf: 
ichluß gewähren fünnen, wenn das auf Theorien diejer Art weder 


272 Die äſthetiſche Gerechligkeit. 


geſtimmte noch abzurichtende Gemüth immer auch von dem Stoff 
lichen der zu beurtheilenden Gegenſtände affizirt wird? Abgeſehen 
davon, wird die Formaläſthetik, unter dieſem Geſichtspunkt be— 
trachtet, zu einem Codex von Regeln, denen ſich kaum ein einziger 
Fall der Wirklichkeit fügte und anpaſſen ließe. Die untrennbare 
Gemeinschaft von Stoff und Form jpottet allen Anjtrengungen 
des äjthetifchen Scheidefünftlerd und wird auch das jublimfte Ge: 
ichmadsurtheil dem Verdachte ausjeßen, daß es den Einfluß jtoff- 
licher Schlafen nicht völlig habe abjtreifen fünnen. Betrachtet 
man aljo das Schöne und das Häßliche als den Ausdruck für 
pojitive und natürliche Neaftionen unjeres Semüths auf die Ein- 
drücde, die uns Wahrnehmung oder Phantaſie vorführen, jo muß 
man darauf verzichten, die Yehre der Formaliſten in der Erfahruna 
beivährt zu finden oder an ihr zu prüfen. 

Mag man nun aber ein Verhalten, wie es die Theorie der 
Herbartianer fordert, für möglich oder für unmöglich erklären, in 
jedem Falle ergiebt jich ein jchroffer Zwiejpalt zwijchen der eigen: 
jinnigen WVirflichfeit und einer Konjtruftion der äjthetiichen Begriffe. 
Wer mit ung der Anficht it, daß es fich in der Nejthetif vor Allem 
um Beobachtung von Thatjachen, und zwar von Bewußtjeins: 
thatjachen handelt, wird fich einer Lehre nicht anjchliegen können, 
die geflifjentlich, ohne nöthigende Gründe, von den. in der Erfahrung 
gegebenen Formen und Bedingungen des Gefallens mit einem 
willfürlichen Schnitt einzelne abtrennt und anerfennt, andere da 
gegen verwirft und entwerthet. Ich jage, ohne nöthigende Gründe. 
Nur dann nämlich, wenn ſich zeigen jollte, da wir ung dem Stoff 
eines Kunjtwerfes gegenüber wejentlich anders verhalten, als jeiner 
Form gegenüber, würde man die Berechtiguug der formaliſtiſchen 
Lehre troß aller jonjtigen Schwierigfeiten, denen jie ausgejegt iit, 
zugeltehen müſſen. Aber gerade dafür fehlt e8 an jedem Nadı- 
weile. Herbart und jeine Schule haben ihn nicht erbracht, und er 
läßt jich auch nicht führen. Damit fällt aber auch jede aus den 
Ihatjachen jelbjt errichtete Stüße für den Formalismus fort. Seine 
‚sorderungen find nicht nur unerfüllbar, fie jind auch unbegründet. 
Sp haben wir ung denn unjere Poſition gejichert, wir dürfen auch 
fernerhin von einer äjthetiichen Gerechtigfeit reden, weil wir Die 
dieſen Begriff in Frage ſtellende Auffafiung Herbarts als unzu: 
treffend zurückweiſen fonnten. 

Da erhebt fich eine neue Theorie mit dem Anſpruch, das ın 
unjerem Begriff jtedende Problem leicht und überzeugend auflöjen 


Die äjthetiiche Gerechtigkeit. 273 


zu können. Es iſt die Theorie der Illuſion, des Scheins, der 
bewußten Selbſttäuſchung, die in der Gegenwart beſonders von 
E. v. Hartmann, Groos und Konrad Lange vertreten wird. 
Auch ſie richtet zwiſchen der Kunſt und der Natur oder vielmehr 
zwiſchen dem Objekt unſeres Geſchmacksurtheils und den in der 
Wahrnehmung gegebenen Dingen eine Schranke auf, aber ſie beſtimmt 
das für beide charakteriſtiſche Merkmal ganz anders als Ariſtoteles. 
Während diejer das Gefallen an der fünjtlerifchen Darjtellung auf 
eine vergleichende Erfenntnigthätigfeit zurückführt, wird der Eins 
drud nach der Illuſionstheorie erjt durch eine jchöpferijche Um— 
bildung mit Hülfe der Phantaſie zu einem äjthetifchen. Innerlich 
nachahmen, nadjchaffen müjjen wir das Wahrgenommene nad) 
Groos, an deſſen Ausführungen wir uns hier hauptjächlich halten, 
wenn es für uns einen äjthetiichen Werth erlangen joll. Durch 
diejes Verfahren entjteht ein Schein, ein Bild, das fich vom 
Gegenjtande ablöjt und nun erjt äjthetifch gewürdigt wird. Wir 
beleben das Todte, Starre, bejeelen das Unbejeelte, verwandeln in 
jpielender Thätigfeit die Nealität in eine Scheingeftalt. Und wie 
alles Spielen mit Luſt verknüpft zu jein pflegt, jo erwächit auch 
aus dem Spiel der inneren Nachahmung eine heitere, erfreuliche 
Stimmung. 

Daß das Schmerzliche, Traurige, VBerwerfliche zum Anlap eines 
äſthetiſchen Genuſſes werden fann, wird nach diejer Auffajjung 
einfach genug erklärt. Wir fünnen nämlich derartige Erjcheinungen 
ebenjowohl innerlich nachahmen, wie Die entgegengejegten des 
Guten, Freudigen, Angenehmen und deshalb auch die nämliche 
Yult aus ihrem Bilde empfangen. Auch noch in anderer Weije 
liege ji) vom Standpunfte der Illuſionstheorie aus ein jolches 
Verhalten als nothwendig ableiten. Man fünnte etwa folgender: 
maßen argumentiren: entweder wir halten das Gejehene oder Ge: 
hörte mit dem, was es bedeutet, für Wirklichkeit, und dann dürfte 
es feinen Unterjchied geben zwijchen der Beurtheilung der Kunſt 
und der Natur; oder wir halten es für einen Schein, den wir mit 
vollem Bewußtjein der Wirklichkeit entgegenjegen, und dann fallen 
alle realen Anreize und Beziehungen fort, in denen unjere praftijchen 
Interefjen wurzeln. Alſo fann, da es eine dritte Möglichkeit nicht 
zu geben jcheint, nur in der Illuſion, in der bildmäßigen Natur 
alles Aejtgetiichen der Grund dafür gejucht werden, daß wir die 
Noth und den Sammer, fünjtlerijch dargejtellt, anders als im Leben 
empfinden und beurtheilen. 

Preußifche Jahrbüher. Bd. XCVIII. Heft 2. 18 


274 Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 


Aber wenn es nun doch eine dritte Möglichkeit gäbe? Dann 
würde dieſer Beweis ſeine zwingende Kraft völlig einbüßen. Und 
ich meine in der That, daß hier ein Fall überſehen worden iſt 
und daß gerade dieſer Fall den äſthetiſchen Thatbeitand allein 
richtig ausdrüdt. Die Begriffe des Scheins und der Wirklichkeit 
itehen fich freilich als ausjchliegende Gegenjäge gegenüber, umd 
wenn es fi) um die Bedeutung einer Vorjtellung für unjere Er: 
fenntniß der Außenwelt handelt, läßt jich wohl nur von ihr jagen, 
dal; fie entweder auf etwas Reales hinweiſt oder ein bloßer Schein 
it. Aber dieſer Gefichtspunft ijt ja feineswegs der einzige auf 
VBorjtellungen überhaupt anwendbare, und es erhebt ſich daher zu: 
nächft die Frage, ob wir ihm innerhalb des Gebiets der äjthetijiyen 
Thatjachen überhaupt eine Stelle einzuräumen haben. Sobald wir 
dDieje Frage verneinen müſſen, haben wir nicht nur eine Dritte 
Möglichkeit gewonnen, welche die oben aufgejtellte Alternative und 
den auf ihr beruhenden Schluß aufhebt, jondern jind zug'eich zu 
einer neuen allgemeinen Bejtimmung des äfthetijchen Verhaltens 
fortgejchritten. 

Es liegt zunächit auf der Hand, daß wir in vielen Gejchmads 
urtheilen, die wir fällen, auf einen Gegenjag zwijchen Schein und 
Wirklichkeit gar feine Nücdjicht nehmen. Wenn wir ein Gebäude 
ſchön oder häßlich nennen, jo trägt der Umjtand, daß es jich vor 
uns objeftiv erhebt oder daß wir es nur in einer Nachbildung 
wahrnehmen, zu dem Ausfall eines jolchen Urtheils nichts bei. 
Zwar fann die Umgebung, in die es gejtellt it, die Größe, Die 
ihm in der Natur zukommt, einen mehr oder weniger erheblichen 
Einfluß auf die äjthetiiche Erregung ausüben, die wir ihm ver: 
danfen, auch mag die nähere Einficht in jeine Zweckmäßigkeit unjer 
Gejchmadsurtheil modifiziren. Aber die bloße Thatjache, dan er 
das eine Mal etwas Neales, das andere Mal nur ein Bild, eın 
Schein it, jpielt offenvar bei dem Zuſtandekommen unjerer 
äjthetijchen Beurteilung gar feine Rolle. Noch deutlicher zeigt 
jich das Fehlen diejes Gefichtspunftes bei dem Genuß von muſika— 
liichen Broduftionen. Was hier die Wirklichkeit jein jollte, von der 
wir einen Schein ablöjen oder unterjcheiden, iſt für einen unbe: 
fangenen Berjtand wohl nicht einzujehen. Man würde natürlich 
zunächjt daran Ddenfen, daß die Muſik Art und Verlauf von Ge: 
miüthsbewegungen auszudrüden vermag, wenn wir jie von aller 
Verbindung mit Programmen oder Texten losgelöſt betrachten. 
Aber dieſe Gemüthsbewegungen ſind ja niemals in der Muſik 


Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 275 


objeftiv enthalten und können daher aud) nicht eine Wirklichkeit 
jein, von der wir einen Schein, eine Illufion nachzubilden im 
Stande wären. Much bei den Werfen der Boefie pflegt es ſich 
nicht anders zu verhalten. Handelt es ſich hier um freie 
Schöpfungen der dichteriichen Phantaſie, jo iſt unjere äjthetijche 
Mirdigung wahrlich feine andere, als wenn uns Erzählungen „nach 
dem Leben“ dargeboten werden. Berfajjer hiſtoriſcher Dramen 
haben ich auch niemals gejcheut, von der gejchichtlichen Wirklichkeit 
abzuweichen, und bejonnene Kritifer ihnen niemals daraus einen 
Borwurf gemacht, wenn die Abweichungen äſthetiſch genügend 
motivirt waren. 

Der geläufige Gegenſatz von Schein und Wirklichkeit, der in 
unjerem Erfennen von jo großer Bedeutung üt, it aljo wenigitens 
feine allgemeine Bedingung für die äfthetiiche Auffafjung und 
darf daher auch nicht zur Beitimmung des Wejens der letteren 
jchlechthin benußt werden. Wir gehen jedoch noch weiter, indem 
wir erklären, daß der äfthetiiche Zuftand grade durch die Abwejen- 
heit der uns im Handeln und GErfennen jo jelbitveritändlichen Be- 
ztehung auf ung jelbjt und auf Gegenjtände außer uns charafterifirt 
it. Wer jich in ein jchönes Werf der Natur oder der Kunſt an- 
ſchauend und genießend vertieft hat, wer dabei in die eigenthüm: 
(iche Stimmung der reinen Stontemplation, der bloßen Betrachtung, 
gerathen it, der wird willen, daß es für ihm fein Objekt mehr 
gab, dem er ſich gegenübergejtellt hätte, jondern nur noch eine 
einheitliche Erfahrung. Die Begriffe Schein und Wirklichkeit ver: 
fteren bier ihren Sinn, weil fie auf einer Unterjcheidung beruhen, 
die noch nicht eingetreten war oder nicht mehr vollzogen wurde. 
Auf den Standpunkt des Kindes, das jein Ich von einem Nicht: 
Ich zu jondern noch nicht gelernt hat, fehren wir zurücd, wenn jic) 
unjere Seele mit äjthetijchen Eindrüden gänzlich füllt. In den 
urfprünglichen Zuftand aller Erfahrung jind wir mühelos wieder 
gerathen. Es giebt fein Meußeres und fein Inneres mehr, und 
wir jtellen uns nicht mehr auf den uns inzwijchen jo vertraut ge— 
wordenen Boden unjeres Gegenjaßes zur Welt. 

Aber, wird man einwenden, das alles iſt ja nur ein Kampf 
gegen Windmühlen. Denn von dieſem Schein im Gegenjaß zur 
Wirklichkeit, der auf der Unterjcheidung eines Sch und feiner 
objektiven Umgebung beruht, iſt ja in der Sllufionstheorie, 
wenigitens in Der feineren und tieferen Ausführung von Groos, 
gar nicht die Nede. Denn der Schein, der durch innere Nach: 

18* 


276 Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 


ahmung jpielend erzeugt wird, entjteht bei der Anjchauung eines 
realen Gegenjtandes ebenjowohl wie bei einem jubjeftiven Gebilde 
der Phantaſie. Auch it dazu feine Mehnlichkeit zwijchen dem 
Gegenftande und dem von ihm abgelöften Bilde erforderlich. da 
wir das Lebloje beleben, das Unbejeelte bejeelen, in  jtarre 
geometrifche Formen ein Gleiten und liegen, in die muſikaliſchen 
Stimmen Verzweiflung und Ausgelajjenheit auf dem Wege der 
inneren Nachahmung hineinfühlen fünnen. Wir wollen Diejem 
Einwande nicht mit der naheliegenden Bemerkung begegnen, Das 
es ficherlich nicht zwedmäßig jei, jo irreführende und mißverjtänd: 
liche Ausdrüde wie Schein und Nachahmung da zu verwenden, 
wo etwas von dem gebräuchlichen Sinn diejer Worte Abweichender 
bezeichnet werden fol. Auch wollen wir in dieſem Zuſammen— 
hange fein bejonderes Gewicht darauf legen, daß die Bildung 
eines Scheing mit Hülfe des Spiels der inneren Nachahmung 
durchaus feine allgemein verbreitete Form des äjthetiichen Ge: 
nießens ift. Mur zweierlei ſei gegen dieje jpeziellere Faſſung der 
IHufionstheorie geltend gemacht: Erjtens nämlich bringt jie den 
äfthetiichen Werth eines Eindruds in Abhängigkeit von einem Um: 
itande, der die allgemein herrichende Abjtufung des Gejchmads 
nicht zu erflären vermag. Und zweitens verjchiebt fie den eigent— 
lichen Gegenjtand unjerer äſthetiſchen Werthſchätzung völlig. 

Die äfthetifche Bedeutung eines Kunjtwerfes muß nach Diejer 
Theorie offenbar auf die Lebhaftigfeit der inneren Nachahmung 
zurücgeführt werden. Je mehr uns ein Stoff ergreift, rührt, je 
mehr er unjere Borjtellungsthätigfeit und unjer Gemüth aufregt 
und entfejjelt, um jo größer muß im Allgemeinen, wenn wir von 
einem ermüdenden, erjchöpfenden Uebermaß abjehen, die Luſt und 
damit der äjthetiiche Werth des dazu führenden Objekts jein. 
Daß dieje Folgerung mit der berrjchenden Beurtheilung von Kunſt— 
werfen nicht im Einflange jteht, braucht faum gejagt zu werden. 
Goethes Fauft würde hiernach vor einem jpannend erzählten Ehe— 
bruchsroman gewöhnlichen Schlages jchwerlich den Vorzug ge: 
bühren, und wir hätten vom Standpunkt des rein äjthetijchen Ge- 
nujjes aus fein Mittel, um Tizians Meifterwerfe über die Gemälde 
eines Tiepolo zu jtellen. Noch mißlicher ıjt aber die von uns zu 
zweit hervorgehobene Verjchiebung des eigentlichen Gegenjtandes 
unjerer Gejchmadsurtheile. Aeſthetiſche Luft iſt ja die Luſt aus 
dem Spiele der inneren Nachahmung. Nicht alfo das Kunjtwerf 
gefällt oder mipfällt, jondern das durd) dajjelbe eingeleitete und 


Die äfthetifche Gerechtigkeit. 277 


unterhaltene Spiel der inneren Nachahmung. Es it jomit auch 
die bejondere Bejchaffenheit des äjthetiich gewürdigten Gegenjtandes 
für diefe Würdigung jelbjt direft und unmittelbar völlig gleich: 
gültig. Wenigitens dürfte es recht jchwer fallen, irgend welche 
aejegmäßigen Beziehungen zwijchen Form und Gehalt eines 
Kunftwerfs einerjeit$ und der Befriedigung zu entdeden, welche 
feine innere Nachahmung gewährt. Damit entfernt fich aber dieje 
Theorie noch weiter von den IThatjachen der äſthetiſchen Beur— 
theilung, als es der Formalismus jemals gethan hat. Denn 
diejer hat wenigjtens die Formen als etwas am Kunſtwerke jelbjt 
baftendes angejehen und genauer anzugeben verjucht, welche von 
ihnen gefallen, welche mihfallen. 

Sp fann uns auch die Illufionstheorie über das Wejen und 
den Grund der äjthetiichen Gerechtigfeit feine genügende Auf: 
flärung geben. Daß wir von den Schattenjeiten des Lebens in 
der fünitlerifchen Darſtellung einen anderen Eindrud erhalten als 
in der Wirflichkeit, fann nicht daraus abgeleitet werden. daß wir 
es dort mit einem Schein, hier mit der Nealität zu thun haben, 
oder daraus, daß ſich dort ein Spiel der inneren Nachahmung entfaltet, 
das bier fehlt. Der Stern der Sache muß jedenfalls in anderen 
Momenten gejucht werden, die vielleicht eine jefundäre Berechtigung 
der hier befämpften Gefichtspunfte ergeben. Dieſer Aufgabe, die 
mit der Nufitellung eines haltbareren Begriffs des äjthetijchen 
Eindruds zujammenfällt, wollen wir uns im folgenden unterziehen. 


18 

Wollen wir den Eindrud genauer bejtimmen, den uns ein 
Kunſtwerk macht, jo fünnen wir zwei Wege einjchlagen. Der eine 
beitehbt darin, daß wir an einem bejtimmten Exemplar alle die 
Wirkungen ausjcheiden, die fich, abgejehen von der äjthetijchen, auf 
dafjjelbe zurückführen laſſen. Ein anderer Weg dagegen bietet fich 
uns darin, daß wir recht verjchtedenartige Kunſtprodukte mit einander 
vergleichen und dasjenige herauszugreifen verjuchen, was ihnen Allen 
gemeinjam tt. Nehmen wir, um das erjte Verfahren zu illuftrieren, 
beiipielöweife die berühmte Gruppe des Yaofoon zum Ausgangs: 
punkt unjerer Analyje! Der Vorgang, den wir bier dargeitellt 
ſehen, fann uns ethijch, finnlich berühren, er fann auch zum Gegen- 
itand einer rein intellektuellen, wifjenjchaftlichen Auffaſſung und 
Beurtheilung gemacht werden. Das Mitleid, das wir mit den 
Nermiten empfinden, die fich unentrinnbar von den Schlangen um: 


278 Die äfthetiihe Gerechtigkeit. 


flammert jehen, die Annahme, daß jie das Unheil jelbjt verichuldet 
haben, die VBorjtellung von einer jtrafenden Gerechtigkeit, Die ſie 
erfaßt hat — das Alles gehört, für jich genommen, zu den ethiſchen 
Wirkungen. Ein ausgejprochenes finnliches Gefühl wird bei dieſen 
Objekt faum auftreten, wenn man nicht vielleicht ein leije8 Grauen 
dazu zählen will, das uns infolge einer lebhaften Bergegenwärtiquna 
der jchmerzhaften Situation, in der jich die unglüdlichen Opfer 
befinden, befallen mag. Die wifjenjchaftliche Unterjuchung endlid 
fann theils die Hijtorische Bedeutung des gejchilderten Vorgangs 
theil8 jeine technische Ausführung und die Entjtehungszeit der 
legteren ergründen. Das Alles braucht in der äjthetiichen An- 
jchauung nicht unterzugehen, aber macht doch auch ihre Bejonder: 
heit nicht aus. Für fie ift das entjcheidende Merkmal das reine 
und tiefe Interejje an dieſem Wahrnehmungsinhalt und Dem: 
jenigen, was er an innerlichen Beziehungen trägt und bedeutet, 
jowie das Gefallen, welches Gehalt und Erjcheinungsmweije in ihrer 
wechjeljeitigen Durchdringung vermöge dieſes Intereſſes entjteben 
lajien. 

Für das andere Verfahren fünnen wir z. B. ein Schillerjches 
Drama, eine Beethovenjche Symphonie, ein Naphaeljches Gemälde, 
einen römischen Palazzo, ein Bildwerf des Michelangelo zur Unter: 
lage wählen. Stoffliche Merkmale können hier offenbar nicht den 
Begriff des äjthetiichen Eindruds bejtimmen. Denn die Materie 
der in dieſen verjchiedenen Kunſtwerken erjcheinenden oder aus- 
gedrücten Gegenjtände enthält nichts, was ihnen allen gemeinjam 
wäre. Ebenſo wenig werden wir eine bejtimmte Form angeben 
fönnen, die in allen gleichmäßig wiederfehrte. Nicht minder jind 
die logischen oder ethischen Beziehungen, theils von einander ganz 
verjchieden, theils überhaupt nicht vorhanden. Die einzige allgemein 
geltende Wirkung ijt wiederum die Berjenfung in das Wahrgenommene 
jeiner bloßen Bejchaffenheit nach und die aus jolchem Zuſtande 
einheitlicher Kontemplation eriwachjende Luft oder Unlujt. Die 
Hingabe an das Anjchauliche und jeine Bedeutung, das volle Er: 
griffenjein von jeinem Wejen und Verlauf bildet alleın die Voraus- 
jegung für die Entjtehung äjthetijcher Erregungen. Diejes Interetje 
an den Borjtellungsinhalten als jolchen tt für ethijche Erwägungen 
belanglos. Hier wird die Ihat auf die Gejinnung bezogen, oder 
einem anerfannten Zwed untergeordnet, während die äußere Er- 
jcheinung, in die jich das Handeln gekleidet hat, für jeinen ethijchen 
Werth nicht in Frage fommt. Gin unmittelbares Interejje an der 


Die äſthetiſche Gerechligkeit. 279 


Wahrnehmungsthatſache als ſolcher iſt ferner der wiſſenſchaftlichen 
Erkenntniß nur das nothwendige Hülfsmittel, um bei der Auf— 
ſtellung von Begriffen und bei der Auffindung von Geſetzen für 
dieſen beſonderen Fall nicht fehlzugehen. Auf dieſer Vorſtufe der 
Erkenntniß aber verharren wir im äſthetiſchen Verhalten, und 
darum wird uns die anſchauliche Erſcheinung hier niemals zu 
einem an ſich werthloſen Hinweiſe auf ein Syſtem von Begriffen 
und Sätzen, zu einem bloßen Exemplar einer Gattung. 

Das Thier hat keinen äſthetiſchen Genuß, weil ſein Intereſſe 
für die Umgebung lediglich durch das Verhältniß geleitet wird, in 
dem ſie zu ſeinem Wohl und Wehe, zu ſeinem Nutzen oder Schaden, 
zu ſeiner Selbſterhaltung ſteht. Das Raubthier, das ſeiner Beute 
auflauert, würdigt deren Bewegungen und Stellungen nur unter 
dem praktiſchen Geſichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit für einen Ueber- » 
fall. Das Hausthier, das jeinem Herrn auf Schritt und Tritt 
folgt, Tieht in ihm den Bejchüger und Erhalter jeines Dafeins. 
In dem äjthetiichen Eindrud dagegen verliert jich die Beziehung 
auf die eigene Perſon gänzlich, er jet die vollite Objektivität und 
Selbitlojigfeit voraus. Darum find auch die äfthetiichen Gefühle 
der Luſt und Unlujt in einer eigenthümlichen Verjchmelzung mit 
den Gegenitänden, auf die fie bezogen werden, gegeben. Nicht 
daß etwas mir oder dir gefällt, jondern dat diejes Etwas über: 
haupt gefällt, ıjt für jie wejentlid. So wenig wir bei den 
Farben, die wir den fichtbaren Objekten außer uns beilegen, auf 
die jubjektiven Bedingungen unjeres Gefichtsfinns, welche nach dem 
Urtheil der Wifjenjchaft eine große Bedeutung für fie haben, zu 
achten pflegen, jo wenig denfen wir bei der äjthetijchen Beſtimmung 
eines Kunſtwerkes daran, daß jchön und häßlich, anmuthig, komiſch 
und dergleichen Begriffe find, die ſich nur pſychologiſch, alſo mit 
Nüdjicht auf das Subjekt, veritehen und erflären lajjen. Die 
wahrgenommenen Dinge jelbjt werden auf Grund ihrer unmittel: 
baren Bejchaffenheit mit den äjthetifchen Merkmalen ausgerüjtet. 

Aber auch das gegenjtändliche Etwas, das wir zum Träger 
jolcher äſthetiſchen Prädikate machen, ijt nicht ein Objeft, wie es 
die Naturwiljenjchaft in räumlicher und zeitlicher Beziehung, nad) 
jeiner jtofflichen Zujammenjegung und nach den Kräften, die es 
erfüllen, bejtimmt, jondern das Hörbare und Sichtbare, wie es 
erjcheint, wie es vorgejtellt wird. Darum haften ihm alle die 
Mängel an, welche die Unvolllommenheit unjerer jinnlichen Wahr: 
nehmung mit jich bringt. Nicht das objektiv richtig gezeichnete 


280 Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 


Quadrat, jondern das mit Ffleineren vertifalen Seiten verjebene 
macht uns in Folge einer befannten optijchen Täujchung den ge: 
fälligen Eindrud einer ſymmetriſchen Figur. Die äjthetiiche An- 
ichauung it daher die naive urjprüngliche, nicht die von wiſſen— 
Ichaftlichen Neflerionen berichtigte und zerjegte. Aus diefem Grunde 
iſt es num aber auch für den äjthetiichen Werth einer Vorſtellung 
gänzlich belanglos, ob und wie wir fie auf reale Objekte zurüd: 
führen fönnen oder nicht. Wurzelt das Gefallen oder Mißfallen 
nur in der anjchaulichen Bejchaffenheit eines Eindruds, jo ift jein 
Berhältnii zur realen Welt gleichgültig. Daraus ergiebt fich einmal 
die prinzipielle äjthetijche Gleichwerthigfeit von Natur und Kunſt, 
von Wahrnehmungs: und Phantaſiegeſtalten. Unterjchiede unſeres 
Sejchmadsurtheils können hier nur bedingt jein durch die Mb: 
» weichungen, welche die vorgejtellten Inhalte jelbjt aufweijen, je 
nachdem, ob jie natürlich gegeben oder künſtleriſch dargeftellt, ob 
jie durch die Vermittlung der Sinne oder mit Hülfe der Einbil- 
dungsfraft bewußt geworden jind. Sodann aber gründet jich 
darauf die Freiheit des jchaffenden Künjtlers bei der Wahl und 
Verarbeitung jeiner Stoffe. Er erhöht den äfthetiichen Werth 
jeines Werfes nicht durch die peinliche Anlehnung an ein natürliches 
Mujter. Darıun iſt auch der Naturalismus, der ein jolches Wer 
fahren fordert, von dieſem Gefichtspunfte aus gar feine äſthetiſche 


Nichtung. Deshalb fann er doch in anderer Hinficht — und wir 
werden jelbjt jpäter eine jolche geltend machen — jehr wohl eine 


äſthetiſche Bedeutung beſitzen. 

Die Bildung des ganzen, gefallenden oder mißfallenden Ein— 
drucks iſt hiernach keine einfache, ſondern eine recht komplizirte 
Sache. Wir hören z. B. ein Gedicht: da dringen Laute in be— 
ſtimmtem Tonfall, Rhythmus, in beſtimmter Geſchwindigkeit und 
dynamiſcher Abſtufung auf uns ein. All das kann uns bereits an 
ſich gefallen oder mißfallen, wie die Beurtheilung eines in unver— 
ſtändlicher Sprache vorgetragenen Liedes beweiſt. Dazu treten nun 
weiter die Vorſtellungen, die den Sinn der vernommenen Wörter 
bilden. Mehr oder weniger lebhaft tauchen ſie in unſerem Bewußt— 
ſein auf und folgen in ihrem Ablauf und Wechſel getreulich den 
erklingenden und verhallenden Lauten, die an unſer Ohr ſchlagen. 
Dieſe Bedeutungsvorſtellungen verbinden ſich ferner mit Gefühlen 
und laſſen Stimmungen in uns wirkſam werden, die gleich den 
Orgelpunkten das mannigfaltige Gewoge der Melodien und Harmonien 
dieſer Einzelvorgänge zu einer Einheit zuſammenfaſſen. Das alles 


Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 281 


gehört zum äſthetiſchen Geſammteindruck des Gedichts und beeinflußt 
in abgeſtufter Energie die abſchließende Werthſchätzung des Ganzen. 
Die wiſſenſchaftliche Aeſthetik hat die ſchwierige aber zugleich auch 
einzig fruchtbare Aufgabe, die äſthetiſche Bedeutung aller, den Ge— 
ſammteindruck zuſammenſetzenden Faktoren zu ermitteln und die 
geſetzmäßigen Beziehungen zwiſchen ihnen und ihren Wirkungen 
feſtzuſtellen. 

Jedes Element wirkt nun freilich auf unſern Geſchmack nur 
nach Maßgabe ſeiner zufälligen Repräſentation im Bewußtſein. 
Nur der wahrgenommene Laut und Rhythmus eines poetiſchen 
Kunſtwerks kann einen äſthetiſchen Einfluß gewinnen, und ob oder 
inwieweit ein ſolches Element beobachtet worden iſt, läßt ſich durch 
fein Geſetz vorherbeſtimmen. Darum fallen die Geſchmacksurtheile 
verjchiedener Perſonen über dafjelbe Objekt jelbjtverjtändlich ver: 
jchieden aus, und es wäre vielmehr merhwürdig und wunderbar, 
wenn fie es nicht thäten. Won der Yebhaftigfeit der in der Phan— 
tajie erzeugten Vorſtellungen hängt auch die Stärfe der jie be- 
qleitenden oder durch fie geweckten Gefühle und Stimmungen ab, 
und nach der Tiefe und der Vertheilung der Aufmerkſamkeit auf 
die einzelnen Faktoren richtet jich das Interefje, das wir ihnen 
zuwenden, und die lebendige äjthetijche Energie, die jie entwideln. 
Es handelt jich demnach bei dem Gejammteindrud, über den wir 
urtheilen, um eine Stombination von Elementen, deren jedes für 
jich innerhalb gewijjer Grenzen variiren fann. Wiederholungen 
der gleichen Kombination find aber, wie ſich aus einer einfachen 
Wahricheinlichfeitsbetrachtung ergiebt, bei einer jolchen Fülle vartt- 
rungsfähiger Glieder zu den größten Seltenheiten zu rechnen. Die 
Meijterwerfe der Kunſt aller Zeiten stellen uns im Allgemeinen 
jolche unwahrjcheinlichen Fälle dar, in denen der Geſchmack ver: 
ichiedener Individuen ſich übereinjtimmend äußert, und gewiß tt 
ihre Anzahl flein genug, um das Necht der hier angejtellten Er: 
wägung zu erhärten. Aber die Wejthetif verliert durd) dieje jelbit- 
verjtändlichen Abweichungen zwilchen den Gejchmadsurtheilen der 
Menjchen ihren wijjenjchaftlichen Charakter mit nichten. Gelingt 
es ihr zu zeigen, wie eim jedes Element für jich wirfen würde, 
wenn es allein vorhanden wäre, und wie die einzelnen Faktoren 
jich zu größeren oder fleineren Gejammteindrüden vereinigen, jo 
läßt jich jede Bejonderheit des Geſchmacks unjchwer erklären, d. h. 
auf allgemein geltende Gejete zurüdführen. Der Gemeinplat, daß 
jih über den Geſchmack gar nicht jtreiten laſſe, it ganz richtig, 


282 Die äfibetifche Gerechtigkeit. 


joweit er bloß auf die natürliche Ihatjache der verjchtiedenen Werth— 
urtheile hinweiſt, die über denjelben Gegenjtand gefällt werden, 
und jedes diejer Urtheile als ein durd) bejtimmte Urjachen zuretchend 
bedingtes und injofern gültiges anfieht. Er iſt aber durchaus 
unrichtig, wenn er die Meinung einjchließt, daß jich über die Be- 
jonderheit der Borausjegungen, welche den einzelnen Urteilen zu 
Srunde liegen, überhaupt nichtS ausmachen lafje, und dat demnach 
eine Berjtändigung über die Urjachen der thatjächlichen Abweichungen 
unmöglich jei. 

Mean pflegt die äſthetiſchen Gefühle, die durch unjere Geſchmacks— 
urtheile zum Ausdrud gebracht werden, als ein Gefallen oder ein 
Mißfallen zu bezeichnen. Von ihnen find wohl zu unterjcheiden 
alle diejenigen Gefühle und Stimmungen, die an die einzelnen 
beurtheilten Vorſtellungen jelbjt oder ihre Gejammtheit gefnüpft 
find. So jind 3. B. die Sympathie, die wir mit dem Helden 
eines Dramas empfinden, die Empörung oder Trauer, die uns er- 
rüllen, wenn ein jeiner ummürdiges Geſchick über ihn hereinbricht, 
die aufgeregte Spannung, mit der wir dem Fortgang der Handluna 
folgen, und die Nührung, in die wir angejichts jeiner edlen Haltung 
im Kampfe mit den ihn bedrohenden oder gar überwältigenden 
Mächten verjegt werden, Gemüthserregungen, die dem Gegenjtandı 
unjeres äjthetifchen Urtheils jelbit angehören und daher Fur; 
Objeftsgefühle genannt werden fünnen. Ihnen jteht dann das 
Gefallen oder Mihfallen als ein Neaftionsgefühl gegenüber. 
Je nach der bejonderen Bejchaffenheit der Vorjtellungen und 
Gemüthserregungen, die das Objekt, den äjthetijchen Eindrud bilden, 
unterjcheidet man jchöne, erhabene, anmuthige, tragiiche, fomtiche 
Gegenſtände unjeres Gefallens. Die VBorausjegung für die Ent: 
itehung eines Neaftionsgefühls iſt jtetS das Intereſſe an der bloßen 
Beichaffenheit des Gegenjtandes, welcher der verjchiedenen Haupt: 
formen von Eindrüden er auch immer angehören mag. Damit ii: 
jedoch nicht gejagt, unter welchen Bedingungen er gefällt oder 
mißfällt. Es iſt ein unbeilvoller Irrthum moderner fünjtlerijcher 
Beltrebungen, in demjenigen, was interejjirt, ohne weiteres auch 
ſchon etwas erfreuliches zu erbliden und daher dem Eigenartigen. 
Neuen nachzujagen, weil es nach anerkannten piychologiichen Ge- 
jegen die Fähigkeit hat, die Aufmerkſamkeit auf fi) zu lenken. 
Das Interejjante fann ebenjowohl mißfallen wie gefallen, und mit 
Rückſicht auf dieſe doppelte Möglichkeit jtellen wir dem Schönen 
das Hähliche, dem Anmuthigen das Plumpe u. j. mw. entgegen. 


Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 283 


Nach dieſen Vorerörterungen ſind wir nun für die Löſung 
unſeres Problems der äſthetiſchen Gerechtigkeit genügend vorbereitet. 
Damit Trauer, Elend, Unglück äſthetiſch berühren können, muß 
man ſich zu ihnen in ein Verhältniß ſetzen, das durch das Intereſſe 
für ihre bloße Beſchaffenheit hergeſtellt wird. Das iſt nur da 
möglich, wo alle Reize, die ſolche Vorgänge dem Wollen und 
Handeln ertheilen, unwirfjam geworden find. In der realen Welt 
gehören dieje Fälle zu den Seltenheiten. Bier jind vor allem die 
jittlichen Anforderungen und Verpflichtungen von einer die fontem- 
plative Ruhe unterdrüdenden Kraft, jo daß wir derartige Eindrüde 
lieber meiden, wenn es uns verjagt tt, praftijch einzugreifen. 
Innerhalb einer fünjtlerischen Darjtellung aber verlieren fie jofort 
dieje Beziehung zum Wollen und Handeln und gewinnen fie un: 
mittelbar cine äjthetijche Bedeutung. Auch hier fann das Mit— 
gefühl mit den gejchilderten Vorgängen lebendig jein, und wir 
haben fein Recht, von einem bloßen Scheingefühl dabei zu reden. 
Aber es hat aufgehört der Ausgangspunkt für eine praftijche Be- 
thätigung zu werden. Mit dem vorgejtellten Zujtande ſelbſt ver: 
ihmolzen, auf ıhn bezogen, bildet es einen Bejtandtheil des äjthe- 
tiichen Gejammteindruds. Die Wirklichkeit dagegen jtellt uns in 
eriter Linie praftiiche Nufgaben, deren größere Wichtigfeit einen 
jolchen Yuzus des Yebens, wie ihn der äjthetiiche Genuß bildet, 
nicht zur Geltung gelangen läßt. ragen wir danach, wie es denn 
fonıme, daß ein Kunſtwerk die praktische Beziehung zu den in ihm 
dargejtellten Vorgängen aufbebe, jo werden wir freilich auf den 
Unterjchied zwijchen Bild und Wirklichkeit verweijen müfjen. Darin 
liegt jedoch feine Anerkennung der oben befämpften Theorie des 
äjthetifchen Scheins. Denn erjtlich läßt jich auch den realen Vor: 
gängen eine äjthetiiche Seite abgewinnen, wenn jie die Wolle des 
bloßen unbetheiligten Zujchauers möglich) machen. Und zweitens 
tt die Unterjcheidung des Kunſtwerks von der Wirklichkeit nur als 
eine objektive Bedingung für die Entitehung eines äjthetijchen 
Verhaltens anzujehen und bedeutungslos für den jubjektiven Zuſtand 
des Genießenden. Für die Natur dejjelben gilt ja vielmehr, wie 
wir bereits ausgeführt haben, daß wir von Sch und Nicht= Ich, 
von objeftiver Nealität und jubjeftiver Illuſion gänzlich abjehen. 

Wann aber wird uns nun eine äjthetisch aufgefaßte Trauer 
und Noth gefallen? Mit dem bloßen Interejje an ihrer Beichaffen: 
heit it ihr pofitiver Werth noch nicht gegeben. Ja es ijt zunächit 
fraglich, ob fich ein jolcher überhaupt hier entwideln fann. Denn 


284 Die äfthetifche Gerechtigkeit. 


das Beflagenswerthe, Noth und Elend, Unfittlichfeit und VBerderbt- 
heit, jie alle fünnen doch nicht zugleich gefallen und die in dem 
natürlichen Mitgefühl mit folchen Zujtänden und Vorgängen be 
gründete Unlujt erweden. Die Piychologie lehrt uns, daß die Ge- 
fühle durch einen einheitlichen Charakter ausgezeichnet jind, vermög: 
dejien nur eine Qualität jeweils zur Herrjchaft gelangt. Zwar 
lajjen jich Farben und Töne, Helles und Dunfles, runde und ediae 
Formen gleichzeitig erleben, nicht aber die Gefühlsgegenjäbe der 
Luft und Unluft, auch wenn fie ganz verjchiedenen Urjachen ent: 
jtammen. Iſt aljo wirklich ein Objeftsgefühl des Mitlerds, der 
Nührung, und nicht etwa blos eine Vorftellung, ein Begriff von 
ihnen vorhanden, jo läßt jich in demjelben Momente daneben nicht 
noch ein Neaktionsgefühl der Freude empfinden. Entweder nämlid 
muß die traurige Stimmung jelbjt bereits aufgehoben jein, wenn 
das Gefallen einjeßt, oder die auf entgegengejegte Gefühle bin: 
wirkenden Faktoren erzeugen einen rejultivenden Gemüthszuſtand, 
in dem je nach der Stärfe der gleichzeitig vorhandenen Urjachen 
bald äjthetijche Luft, bald auferäjthetiiche Unlujt hervortritt. Beides 
bietet eine erhebliche Schwierigkeit für die Erflärung des äſthe 
tiichen Gefallens am Traurigen. Vermag es erit nachträglid 
Boden zu gewinnen, jo läuft e8 Gefahr ein jchwacher und unzu— 
verläjliger Nachklang zu werden, um dejjentwillen es ſich wahrlid) 
nicht verlohnen jollte, eine jo jtarfe Gemüthserjchütterung uner: 
freulicher Art, wie jie der Anblick troftlojer Ereigniffe gewährt. auf fich 
zunehmen. Vielleicht haben dann diejenigen vollfommen Recht, die ſich 
feine Tragödie im Theater vorjpielen lafien und feine Nomane 
tragischen Inhalts lejen wollen. Gelingt es aber während der 
unmittelbaren Einwirkung des äſthetiſchen Eindruds der von ihm 
ausgehenden Unlujt joweit Herr zu werden, daß eine jchrwache 
Negung des GSefallens aufzufeimen vermag, jo it auch dieje be: 
itändig in ihrer freien Entfaltung bedroht und gehemmt und fann 
im nächjten beiten Augenblid dem Mitgefühl an dem dargeitellten 
Elend und Jammer, aljo der Unluſt, Platz machen müjjen. 

Wenn uns fein anderer Musweg bleibt, jo werden wir, wie 
es jcheint, auf die alte medizinische, von Arijtoteles in jeiner be 
rühmten Definition der Tragödie angedeutete Auffafjung binge: 
drängt, nach der dem Gewitter gleichend, das die Luft reinigt, 
die Gemüthserregungen des Mitleids und der Furcht von Zeit zu 
zeit ich entladen müſſen, um unjere Seele zu befreien und zu er- 
löſen. Dann wäre das Gefallen am Tragijchen der Freude ver: 








Die äfihetiiche Gerechtigkeit. 285 


wandt, die wir empfinden, wenn eine an fich jchmerzhafte Operation 
an einem franfen Gliede unjeres Körpers glüdlich gelungen it, 
oder der Befriedigung, die uns die jättigende Nahrung gewährt, 
wenn ein recht quälender Hunger vorausgegangen it. Gewiß 
braucht nicht gejagt zu werden, daß eine jolche Yujt mit dem 
äjthetiichen Gefallen gar nichts zu thun hat. So wenig wir be: 
jtreiten wollen, daß jie vorfommt, daß dieje rein finnliche Wirkung 
neben der äjthetijchen einhergeht, jo jehr muß doch zugleich betont 
werden, daß jie an jich ihren eigenen Gejegen folgt, und in dem 
äjthetiichen Gefühl feine regelmäßige oder nothwendige Begleit- 
erjceheinung findet. Wer der Anjicht it, daß das Gefallen am 
Tragiſchen jich nur einjtellen fann auf Grund einer fraftvollen Er: 
giegung der Ihränendrüjen, der muß auch das Gefallen am So: 
mischen auf die wohlthätige Erjchütterung zurüdführen, welche die 
jtoßweijen Erjpirationen des Lachens für den gejunden Menjchen 
bedeuten. 

Im Gegenjag zu Diejer findlichen Auflöjung des äjthetijchen 
Problems bieten ſich uns zwei Gejichtspunfte dar, die uns ein 
wirkliches Verjtändniß jenes Unterjchiedes, von dem wir bei der 
Beltimmung des Wejens der äjthetijchen Gerechtigfeit ausge: 
gangen waren, eröffnen. Zunächſt haben wir zu erwägen, daß 
die Trauer, welche ſich an einen bloßen Grfahrungsinhalt mit 
gewohnheitsmäßiger Sicherheit anjchliegt, ebenjo wie diejer jelbjt 
von allen praftijchen Beziehungen, Aufgaben und Zweden befreit 
tt. Ein uns in fünftlerijcher Darftellung gebotener jchmerzlicher 
Stoff fann, jofern wir uns ihm gegenüber in der für das äjthetijche 
Verhalten charafteriftiichen Kontemplation befinden, nicht die Qual 
und Sorge, nicht die Leidenjchaft erregen, die jih im Yeben mit 
unvermeidlicher Gewalt zur Geltung bringen. So gleicht die im 
äfthetiichen Zujtand auftretende Trauer der verflärten Wehmut, 
mit der wir unjerer lieben Toten gedenfen, nachdem Die leiden— 
ichaftliche Empfindung ihres Verluſtes von uns gewichen it. Ihr 
haftet nichts jinnlich Unangenehmes mehr an, fie entladet ſich 
nicht in wilden Ausbrüchen der Verzweiflung, ſie jtört nicht das 
ruhige Gleichmaß unjerer Stimmung. Ohne uns den Frieden der 
Seele zu rauben, begleitet jie die jtille, liebevolle Hingabe an das 
Bild der Entjchlafenen. So gehört aud) die Theilnahme, die wir 
dem Xeiden innerhalb der äjthetijchen Betrachtung widmen, zu 
dem vorgejtellten VBorgange, wie eines jeiner Merkmale. Sie 
wird jelbjt zu einem bloßen Inhalte unjerer Erfahrung, zu einem 


256 Die äfthetifche Gercchtigfeit. 


Objekt, und jtellt an uns feine Anforderungen, die wir wollend 
oder handelnd zu erfüllen hätten. ine jolche Unlujt it jchwad) 
genug, um ein äſthetiſches Gefallen möglich zu machen, und wird 
bei dem Kampf um die Herrichaft im Bewußtjein feine unüber: 
windliche Gegnerin jein. 

Dazu fommt als ein weiterer wichtiger Faktor eine eigen- 
tümliche Leiſtung unjerer Mufmerfjamfeit. Sie vermag nicht nur 
einzelne Gegenstände unferer Erfahrung zu tjoliren, während 
anderen der Einfluß entzogen wird, den jie jonjt auf das Bewußt— 
jein ausüben fünnten, fie ijt auch im Stande, bejtimmte Seiten 
oder Nichtungen, die ſich an den Inhalten unjerer Erfahrung 
unterjcheiden lajjen, allen oder wenigjtens vorzugsweije zur 
Geltung zu bringen. Nun wifjen wir, daß Die äjthetiiche Be— 
trachtungsweije durch das Interejje für die bloße Bejchaffenbeit 
der Erfahrungsgegenjtände bedingt it. Darum werden alle 
jonjtigen Wirkungen Dderjelben unterdrüdt und fallen alle Die 
mannigfaltigen Neize fort, welche von ihnen in jinnlicher, jittlicher, 
wiljenjchaftlicher Beziehung ausgeübt werden fünnen. Es gelingt 
uns mit Hülfe dieſer theils hemmenden, theils iolirenden Macht 
unjerer Aufmerkfjamfeit in demjelben Moment, wo wir während 
itarfer Zahnjchmerzen auf die Empfindung als jolche uns fonzentriren, 
die finnliche Unluft zu jchwächen oder gar zum Schweigen zu 
bringen. Ebenſo fann der Arzt infolge einer zwedmäßigen Ein— 
jtellung jeiner Aufmerkjamfeit in dem jchwer leidenden Patienten 
nur einen „Fall“ jehen und dadurch die Jichere Ruhe gewinnen, 
die für eine klare Beurtheilung und das richtige praftijche Ein- 
greifen unerläßlich it. Im der gleichen Yage befinden wir uns, 
wenn uns traurige Zuſtände äjthetijch erregen. Die Beichäftigung 
mit ihrer anjchaulichen Bejchaffenheit lenkt von der natürlichen 
Nührung, von dem gewöhnlichen Mitleid ab, die als erite Bor: 
itufe für eine willensfräftige Bethätigung angejehen werden fönnen. 
Damit aber entfalten fi) nun ungehemmt die Wirfungen des 
Eindruds auf die äſthetiſchen Gefühle. 

Mean wird es in dieſem Zuſammenhange nicht mehr für noth- 
wendig halten, daß wir die bejonderen Eigenjchaften genauer auf: 
zählen, welche die Entjtehung eines äſthetiſchen Gefallens an 
betrübenden Vorgängen veranlajien. Denn dieje jind im Prinzip 
feine anderen als die Merfmale, durch welche erfreuliche Gegen: 
ſtände einen pofitiven äjthetifchen Werth erlangen. Unſere Aus: 
einanderjegung bat ja zu der Einficht geführt, daß es fich nicht 


Die äfthetiiche Gerechtigkeit. 287 


darum handeln fann, das äjthetiiche Gefallen an dem Yeidvollen 
und Schmerzlichen in bejonderer Weije gerade auf die dadurch 
ausgelöjte Unluſt zurüdzuführen. Wir haben vielmehr gezeigt, 
daß und wie die überall mögliche äſthetiſche Wirfung aud) in 
jolchen ‚zällen frei werden fann, wo ſich das Weh einer mit: 
leidenden Seele jeglichem Gefallen als ein unüberwindliches Dinder: 
niß in den Weg zu ſtellen jcheint. Darum mag der Dinweis 
auf einige gefallende Momente genügen. So fann die jinnliche 
Erjcheinung, in der ji) uns Elend und Noth und unglüclicher 
Kampf enthüllen, für jich einen jchönen Eindrud gewähren. Nicht 
minder fann der organtiche Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen 
Iheilen des jorgjam aufgebauten Kunſtwerks das Ktennerauge be: 
jriedigen. Ferner mag der Rhythmus der Stimmungen und 
Sefühle, der jih an die Folge der gejchauten Ereigniſſe fmüpft, 
ein wohlthuender jein. Endlich wird das Erhabene, da wir ın 
einem tragifchen Gejchi zu erfennen vermögen, wejentlich die 
erfreuliche Natur der äjthetiichen Wirfung unterjtügen. Die Auf- 
zählung ijt feine volljtändige und will es nicht jein. Nicht das 
Unerjchöpfliche in ein umfajjendes Syitem zu bringen, jondern Die 
allgemeinen Gejichtspunfte klar ans Licht zu stellen, welche bei 
der Yöjung des Problems der äjthetiichen Gerechtigkeit maßgebend 
jind, war hier allein die Aufgabe. Aus dem einen Grundbegriff 
des äjthetiichen Eindruds haben wir unjere Yöjung entwideln 
fünnen. So verräth ſich bier troß aller Unvolljtändigfeit im 
Einzelnen der fejte und nothwendige Zuſammenhang aller äjthetijchen 
Begriffe miteinander. Wir wollen e8 uns jedoch nicht verjagen, 
nachdem wir die IThatjache der äjthetiichen Gerechtigfeit auf ihre 
Srundlagen zurüdgeführt haben, ihre Bedeutung an einer be: 
jtimmten künſtleriſchen Richtung, an der des Naturalismus, zu 
erläutern. 


II. 

Ueber den Naturalismus als äjthetijche Theorie oder 
Norm it fein Wort zu verlieren. Im diefer Beziehung bleibt er 
hinter den Anforderungen weit zurüd, die man an eine befriedigende 
GErflärung der Thatjachen und eine ſich daraus ergebende regulative 
Beftimmung des fünftleriichen Schaffens jtellen muß. Aber damit 
iſt über die äjthetische Bedeutung einer naturaliitiichen Kunſt nichts 
entjchieden. Bielmehr würde ſich Die äjthetiiche Wiſſenſchaft 
geradezu ein Armuthszeugniß ausitellen, wenn jie einer jo mächtigen, 


288 Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 


von Zeit zu Zeit wie mit innerer Nothwendigfeit hervorbrechenden 
und jich ausbreitenden Richtung der fünjtlerijchen Thätig- 
feit gar feinen Werth zuzuerfennen in der Lage wäre. 
Zwar an den willfürlichen baroden CEinfällen einer über: 
reisten individuellen Phantafie dart die Mejthetif vorübergeben, 
ohne befürchten zu müjjen, daß fie diejenige Weitherzigfeit einbüke, 
die eine Grfahrungswifjenjchaft gegenüber den in ihr Gebiet 
fallenden Thatſachen jederzeit ausüben muß. Aber Bejtrebungen, 
welche eine ganze Periode beherrjchen und der gejchichtliden Be 
trachtung geradezu als unumgängliche Durchgangsitufen zur höchſten 
Kunjtblüthe erjcheinen, zwingen den von Beobachtung und Unter: 
juchung des erfahrungsmäßig Gegebenen geleiteten orjcher feine 
Begriffe und Gejege jo zu gejtalten, daß fie ihnen gerecht werden 
fünnen. Mit jener Bhilojophie des Schönen, welche da defretirte, 
was alleın Gegenitand eines Gejchmadurtheils fein Dirfe, it es 
hoffentlich ein für allemal vorbet. 

Kun hat man freilich jchon darauf hingewiejen, daß die tech— 
nischen Hülfsmittel durch das Beitreben naturgetreu zu malen oder 
zu jchildern verfeinert worden find. Je genauer wiedergegeben 
werden joll, was eine Yandjchaft, ein menschlicher Charakter, eine 
Situation an Eigenthümlichkeiten, Licht und Schattenjeiten in ſich 
bergen, um jo jorgfältiger, dDurchgebildeter und minutiöjer muß die 
Behandlung der dazu dienenden PDarjtellungsmittel werden. Ta: 
neben it auch die Nothiwendigfeit hervorgehoben worden, das 
moderne Yeben mit jeinen Kräften, Zujtänden und Zielen auch in 
der Kunſt zum Ausdrud gelangen zu lajjen. Andere Zeiten, 
andere Kämpfe, Intereſſen nnd Gewohnheiten! Gegenüber der 
romantijchen Flucht in die Vergangenheit oder in ein blühendes 
Reich unbefümmert jchaffender PBhantafie hat fi) unter uns eine 
warme und fraftvolle TIheilnahme an der Gegenwart, an der 
Wirklichfeit eingejtellt. Bon diefem Wirflichkeitsfinn der modernen 
Menjchen zehrt die naturalijtiiche Kunft, ihm kommt fie zugleic 
entgegen. Indem jie den Yejer, Hörer, Zujchauer in das bunte 
Setriebe, in die widerjpruchsvollen Tendenzen unjerer Zeit hinein- 
führt, rechnet fie auf ein matürliches großes Intereſſe für dieſe 
Dinge und pflegt jic darin nicht zu täüjchen. Aber man mus 
über dieſe halb widerwillig zugeitandene Bedeutung des Natura- 
lismus noch einen erheblichen Schritt hinausgehen, wenn man 
den pojitiven Werth, den die Yeiftungen dieſer Richtung für fich 
in Anfpruch nehmen dürfen, begreifen will. Denn die technijche 


Die äfthetifche Gerechtigkeit. 289 


Kunjtfertigfeit it an jich fein Gegenjtand einer äjthetifchen Wür— 
digung. Legt man den Hauptnachdrud auf das Können, nicht 
auf das Dargejtellte, jo zieht man in die äjthetijche Beurtheilung 
eines Eindruds etwas hinein, was fich nur auf Grund eines be— 
jonderen Wiſſens um die technijche Entjtehnng dejjelben abjchägen 
läßt. Aber auch derjenige, der feine Ahnuug davon hat, wie die 
Xeinwand zubereitet, die Farben verrieben und aufgetragen 
werden, fann ein Werf der Malerei genießen und würdigen. 
Schon Kant hat bemerkt, daß der wahre fünftlerische Eindrud auf 
einer Betrachtung beruhe, welche das Werk auffajje, ald wenn es 
ein Stüd der Natur jei. Betont man andererjeitS bloß das glück 
lihe Berhältnig, in welchem die naturalijtiiche Kunftübung zu dem 
natürlichen Interejje der Menjchen an der fie umgebenden Wirk: 
lichkeit jtehe, jo hat man zwar eine VBorbedingung für die Ent— 
widelung äjthetijcher Erregungen angegeben, aber die nähere Be— 
ziehung zum Gefallen zu bejtimmen vergejjen. Zugleich würde ſich 
von dieſem Gejichtspunfte aus eine bedauerliche Einschränkung 
des Werthes naturalijtiicher Kunſtwerke für die Zeit, in der fie 
entitanden jind, ergeben. 

Hier tritt nun ergänzend derjenige Thatbejtand ein, den wir 
unter dem Namen der äjthetiichen Gerechtigfeit gejchildert und er- 
Härt haben, Für das Verſtändniß der naturalijtiichen Kunſt iſt 
das Prinzip unentbehrlich, nad) welchem ein in der Wirklichkeit 
faum oder gar nicht äjthetifch berührender Vorgang in der Dar: 
jtellung, die ihm das Kunſtwerk verleiht, zu einem Objekt des 
blogen Gefallens oder Mipfallens werden fann. Breitet jich über 
die Vergangenheit der feine, verhüllende Nebel aus, den unjere 
Unwifjenheit zwijchen das damalige Gejchehen und unjeren ein— 
dringenden Blid jchiebt, jo daß nur das Große, Glänzende, Eigen 
artige deutlich zu werden vermag, jo läßt dagegen die Wirklichkeit 
deö gegenwärtigen Daſeins und Lebens auch das Kleine, Trübe, 
Gewöhnliche zu einer klaren Erjcheinung werden. So liegt e8 
denn im Wejen des Naturalismus begründet, daß er gerade dieſen 
Zügen jeine bejondere Aufmerkſamkeit jchenkt, und auf allen Gafjen 
fann man den Vorwurf gegen ihn hören, daß er ſich darin gefalle, 
dad Niedrige, die Schattenjeiten in Handlung und Gefinnung vor= 
zuführen. Man bedenkt dabei nicht, wie der Künſtler mit ficherer 
Hand die zahlreichen Unwerthe des Lebens, der Natur in äjthetijche 
Werthe ummwandelt nnd dadurd den in der Wirklichkeit benach- 
theiligten, zurüdgejegten Erjcheinungen eine größere Bedeutung 

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 19 


290 Die äfihetiiche Gerechtigkeit. 


fihert. So fann das Unfittliche und Unangenehme, ja jelbit das 
Häßliche der realen Welt in den Kosmos der Kunjt aufgenommen 
und dadurch von den Faktoren befreit werden, die ein reine Ins 
tereffe an ihrem Inhalte nicht auffommen lafjen. Wie die Traum: 
gejtalten dämmernder Phantajie ziehen fie an uns vorüber, fein 
Handeln und feine wiljenjchaftliche Zergliederung fordernd oder 
ermöglichend, nur zur finnigen Betradhtung einladend. Aus jolcher 
Verjenfung in das Dargeitellte, aus Diejer theilnehmenden 
Empfänglichfeit erblüht ein Zauberreich äfthetijcher Geſtalten. 

Das it der Wunderftab der Kunſt, der uns im Bilde, im 
Gedicht eine Wirklichkeit bejcheert, die rein äjthetiich gewürdigt und 
genofjen werden fann. Treibt uns das den Gejeten des Rechtes 
und der Sittlichfeit widerjprechende Verfahren im Yeben zum 
thätigen Eingreifen, zur Verhütung des Böſen, des Unerlaubten, 
zur Beitrafung des Verbrechers, jo wird es uns in der poetijchen 
oder malerischen Schilderung zu einem Gegenitand der Nach— 
empfindung, der inneren Theilnahme, der bloßen Betrachtung. 
Armuth und Elend, Schmug und Verfommenheit juchen wir, wo 
fie uns als finitere Mächte im menjchlichen Dajein begegnen, zu 
lindern oder zu meiden; dem Kunſtwerk aber, das jie uns an- 
chaulich vorzuführen weiß, geben wir uns mit Geilt und Gemüth 
willenlos hin. Unjer Interejje an ihnen wird durch feinerlei Aus: 
brüche unjerer Neigung oder Abneigung zertheilt und gejtört. In 
freier, tiefer und reiner Theilnahme an der Bejchaffenheit des 
Gegenitandes verharren wir pajjiv und jchweigend auch gegen: 
‚über den gräßlichiten, entjeglichiten Vorgängen. Und vermag e: 
vollends ein Künjtler über den Unvollfommenheiten und Schwächen 
der beiten aller Welten die Sonne des Humors leuchten zu laſſen, 
dann entringt fich ung jene ewige, über Naum und Zeit erbhabene 
Heiterkeit, die unter Thränen lächelt. 

In dieſer Umwerthung der Werthe, einer wahreren um 
bejjereren, als jie Niegiche pathetijch verfündet hat, ruht die Ueber 


| 


legenheit der Kunjt über die Natur. Dieje äjthetiiche Gerechtigkeit | 


stellt ich ebenbürtig neben ihre Schweiter Themis. Während die | 


fegtere mit der Binde vor den Augen, auf feiner Waage, ohne 


Anjehen der Berjon das Gute und Böje, das Necht und das Un— | 


recht gegeneinander abjchägt, umfaßt jene mit allzeit offenem Blid 
das Stleine und Große, das Starfe und Schwache, die Güter und 
Uebel, die Fehler und die Vorzüge. Wo die jtrenge Schwester 
ihren Richtſpruch unnacdhjichtig Fällt, da tritt fie mild verjöhnend 





Die äfthetifche Gerechtigkeit. 291 


und ausgleichend ein. Sie iſt es, der nichts Menjchliches fremd 
bleibt, die das Niedrige, Gewöhnliche, Urmjelige aus feiner dunklen 
Pariaftellung emporhebt zur lichten Wärme eines äjthetijchen 
Interefjes. Alle Auswüchje und Stieffinder der Natur, von der 
öden unfruchtbaren Steppe bi8 zum jchmugigen SKehrichthaufen, 
von der Verworfenheit des unverbefjerlichen Böjewichts bis zur 
lächerlichen Hohlheit de eitlen Narren, von der widerwärtigen 
Habgier bis zur jündigen Fleifchesluft, von Haß und Neid und 
Radhjucht bis zur elenden Feigheit — fie alle verjammelt fie um 
ſich, ihnen allen ficherr fie eine Betrachtung jenfeitS von gut und 
böje. Die hochragende Warte des fittlichen Ideals, gejunder Kraft 
und Friſche der Empfindung wird dadurch wahrlich nicht in den 
Staub gejtürzt. Nicht die ethijchen Werthe werden dadurch ge: 
ändert, es wandelt jich dadurch nicht das Unfittliche in ein Sitt— 
liches, das Unerlaubte in ein Erlaubte um, jondern es wird nur 
der in dieſen Unwerthen verborgene äjthetifche Inhalt an das 
Tageslicht gefördert. Das Unangenehme bleibt unangenehm, das 
Gejegwidrige gejegwidrig, die Pflichtverlegung hört nicht auf eine 
Pflichtverlegung zu jein; aber dieſe Momente verjinfen vor der 
itillen Gelajjenheit der äjthetiichen Stontemplation, die wir jolchen 
Erjcheinungen entgegenbringen, jobald jie ſich in künſtleriſchem 
Gewande unjerem Blide zeigen. 

Darin aljo jehen wir das Berdienit des Naturalismus, daß 
er eine jolche äjthetiiche Gerechtigkeit übt. Das Gute bedarf ihrer 
jelbjtverjtändlich weniger als das Schlechte, das Erfreuliche weniger 
ald das LUnerfreuliche. Denn jenen wenden wir auch jchon im 
Leben unjere Theilnahme, unjer Interejje zu, und jo werden jie 
auch jchon in der Wirklichfeitt häufig von der genießenden An— 
Ihauung des äjthetifchen Zuftandes ergriffen. Aber von dieſer 
Anerkennung bleibt zugleich ausgejchlojien diejenige Kunſt, die ung 
vortäufchen möchte, daß Unrecht Recht oder daß Uebel ein Gut 
jei, die ſich in den Dienjt bejtimmter Theorien außeräjtbetijcher 
Art stellt. Aufreizung zum Klaſſenhaß, Propaganda für eine 
moderne Sittlichfeit und Lebensanjchauung, Borliebe für das 
Frivole und Gemeine liegen der echten naturalijtiichen Kunſt fern. 
Vo der Dichter jolche Ingredienzien in den Trank miſcht, den er 
uns reicht, da werden wir gewaltjam aus der Sphäre der reinen 
Kontemplation in ein gänzlich unäjthetiiches Verhalten hinein- 
gerijjen, da werden gerade Die praftijchen Beziehungen des von 
ihm gejchilderten Gegenjtandes zu uns, die dem Stunjtwerf gegen- 

19* 


292 Die äfthetifche Gerechtigkeit. 


über zurüdtreten und vergehen jollten, mit täpptijcher und rober 
Hand wiederhergeitellt. Nur eine von jeder Tendenz freie, unbe 
fangen die Schäden aufdedende fünftlerijche Arbeit fann den 
äjthetiichen Werth beanjpruchen, den wir dem Naturalismus zu: 
getheilt haben. 

Doc; nicht nur in dieſer Beziehung bedarf die Anwendung 
der äſthetiſchen Gerechtigfeit einer Einjchränfung. Wir müſſen aud 
noch darauf hinweijen, daß eine Schilderung der Mängel um 
Verfehrtheiten der Welt im allgemeinen nur in naturalijttjcher 
Form, d. h. in unmittelbarer Anlehnung an die Wirflichfeit erträg: 
lich it. Wie gerne lajjen wir ung von dem Künſtler in ein ideales 
Gebiet leiten, dejjen Vollkommenheiten nur in der freien Phantaſie 
Beitand haben! Aber von den Greueln und Schandthaten, die 
ung eine erhißte, eigens darauf zugejpigte Einbildungsfraft vor die 
Seele führen möchte, wenden wir uns mit Grauen und Abjcheu ab. 
Nur wenn wir das Bewußtjein haben, das, was wir wahrnehmen, 
jei der Natur abgelaujcht, jei treu und mit unbejtechlicher Wahr: 
haftigfeit nach realen Vorbildern berichtet oder gezeichnet, pflegen wir 
e8 zu dulden und äjthetiich zu würdigen. Dabei ijt es gleich; 
gültig, ob dieſe unjere Annahme begründet ijt oder nicht; ent- 
icheidend it vielmehr nur die Frage, ob wir das Dargeitellte nad 
Maßgabe unjeres Wifjens, unjerer Erfahrung für möglich Halten. 
Darum it es im Interejje der äjthetiichen Wirkung geboten, ſich 
mit der Schilderung der Nachtjeiten nicht in das Abjonderliche, 
Unwaphrjcheinliche, Seltene zu verjteigen, jondern das Typiſche, 
den meiſten Geläufige auszuwählen. Die äjthetijche Gerechtigfeit 
vergeudet ihre Huld nicht an den erträumten Uebeln, an den von 
einer verirrten Phantafie heraufbejchworenen Spufgejtalten, jondern 
jie neigt fich herab nur zu den Bildern einer beflagenswerthen 
Berfettung von Dingen und Ereignijjen, die in der Wirklichkeit 
möglich erjcheint oder für möglich gehalten wird. Es hängt das 
damit zujammen, daß ein allgemeines Snterejje für derartige 
Stoffe nur vorausgejegt werden fann, wenn fie jich durch eine 
innere Wahrjcheinlichfeit von bloßen Ausgeburten einer patholo— 
gischen Vorſtellungskraft unterjcheiden lajjen. 

Sp iſt es uns möglich geworden, mit Hilfe des Begriffes der 
äjthetifchen Gerechtigfeit dem Naturalismus einen Lorbeer zu 
pflüden, den ihm noch fein Mejthetifer gereicht hat. Nicht dem 
Prinzip, der Theorie, der Norm jei er geweiht, jondern der künſt— 
lerijchen Richtung jeines Namens. Aber auch nicht allem, was in 


Die äfthetifche Gerechtigkeit. 293 


der Kunjt unter diejer Flagge keck und frech daherjegelt, fünnen 
wir dieſen Preis ertheilen, jondern nur jenen echten und ernjten 
Werfen, die der erhabenen Idee der äjthetijchen Gerechtigfeit dienen 
und deren Aufgabe erfüllen. Jede Zeit hat ihre Kümmernifje und 
prägt den allgemeinen Unjegen, der auf der Welt lajtet, in ihrer 
bejonderen Weije aus. Der Naturalismus wird dafür der Spiegel, 
in welchem wir in leidenjchaftslojer Weiſe auch die Ktehrjeiten zu 
jchauen und zu würdigen vermögen. Wer der Kunſt verbieten 
will, uns in das Schattenreich) der Verderbniß zu führen, jtrebt 
nicht nur nach einer unerreichbaren Bejchränfung ihres Waltens 
und Wirkens, jondern trachtet auch in jeinem blinden Eifer danach, 
alles, was in jenem Neid) lebt und webt, jeglicher mitempfindenden 
Theilnahme zu berauben. Beruht die Kraft und der Reichthum 
des Idealismus auf der freien und hochgejtimmten Phantafie, die 
fih von der unvollfommenen Wirflichleit aus in ein glüclicheres, , 
teineres, bejjeres Gefilde rettet, jo haftet dagegen der Naturalismus 
an der Erde mit ihren Mängeln und Schwächen. Ohne Ver: 
jhönerung und doch in der einer künſtleriſchen Darftellung inne- 
wohnenden Verklärung giebt er uns die Wirklichkeit, wie fie it, 
mit ihren Schladen und Flecken. Offenen Auges wandeln wir 
heute vielfach in einer Traumwelt, die nur einen fleinen Bruch- 
theil der wirklichen bildet und doch den Anjpruch erhebt die ganze 
jein zu wollen. Bon der modernen Kunjt erhalten wir dann den 
tieferen Einblid in die ung fremd gebliebenen Sphären und lernen 
auch jie mit unbefangener Theilnahme erfajjen und tragen. Und 
jo gleichen wir in unferer äjthetijchen Gerechtigfeit jener höheren, 
von der es in der Bergpredigt heißt, daß fie „die Sonne auf 
gehen läßt über die Böfen und über die Guten und regnen läßt 
über Gerechte und Ungerechte.” 





Das MWirthichaftsleben der deutichen 
Südſeeinſeler. 


Von 
Hans Blum. 


Der weitaus größte Theil des deutſchen Südſeeſchutzgebiets 
wird von melaneſiſchen Stämmen bevölkert und zwar von ſolchen. 
die nach dem Vorgange des Profeſſors Dr. von Luſchan Weſt— 
melanejier genannt werden. Djtmelanefier mit ungewöhnlich 
langen, hohen und jchmalen Schädeln finden ſich auf einigen 
Injeln der Fidfchigruppe, vor Allem aber in Neu-flaledonien und 
auf den Neu-Hebriden. Kaijer Wilhelmland ift die Heimath des 
echten (melanefiichen) Papua. Der Küjte entlang find malaitjce 
Beimifchungen nicht zu leugnen — jo zweifellos nicht auf der 
Mattyinfel — aber auch ſonſt bis zur Ajtrolabebai hinab. Die 
inländischen Bergbewohner Neu-Guineas erinnern jtellenweije ſehr 
an den Auftraltypus, von ihnen haben wir indeß bis jetzt nur 
äußerjt jpärliche Kunde. In die Flußthäler find offenbar die 
Papua der Hüfte vorgedrungen, jo am Ramu und am Slaijerin- 
Auguftafluß, haben jich aber dort von malaiischer Mifhung ganz 
frei gehalten. Vom Feſtland Neu-Guinead gen Djten wandernd 
treffen wir auf den Franzöſiſchen Inſeln und auf Neupommern 
noch unvermijchte Papua bis zum Nordende der Gazellehalbiniel 
in den Bainingbergen. Die Gazellehalbinjel jelbjt, Neu-Lauen— 
burg und Neu-Medlenburg- Süd find von einer Raſſe bevöltert, 
die wahrjcheinlich einer melanefifch-polynefiichen (aljo malaiischen) 
Mengung ihr Dajein verdankt. Möglicherweije find Polyneſier 
von Oſten aus rüdwandernd in den melanefischen Injelgürtel 


Das Birtbichaftsleben der deutſchen Sübdjfecinfeler. 295 


dort eingedrungen. Auf den deutjchen Salomoinjeln begegnet uns 
wieder der echte Papua. Die öftlicheren Kleinen deutjchen Inſel— 
gruppen jind von WBolynefiern bejiedelt. Auf den Wdmiralität- 
injfeln herrſcht in einer Miſchraſſe malaiische Art vor; Aehnliches 
finden wir auf den Cremiten und Nnachoreten. Nördlich der. 
Linie, in dem jogenannten Mifronefien, zeigen die Marjhalls 
mehr Berwandtjchaft mit Polynefien, während die Bewohner der 
Karolinen vorwiegend mit melanejischem Blut durchjegt jind. 
Ein buntes Gewirr! Wo find die Fäden, die aus dieſem Raſſen— 
und Sprachencdhaos heraus zu den dunklen Spuren leiten, auf 
denen vor vielen hundert Jahren die erjten Menjchen jene Inſel— 
welt bejiedelten? Zweifellos hat die neuholländische Raſſe zu— 
allererjt Ozeaniens Küjten aufgefuht — und wahrjcheinlich fam 
auch fie aus dem Süden Djtafiens. Später, vielleicht Jahrtaujende 
jpäter, find die Oſt- und dann die Weſtmelaneſier von Djtindien 
über den malaiiſchen Archipel nachgedrängt, ihnen folgten Die 
Polynefier, als auch jie den Stärferen weichen mußten. Neuere 
Forſchungen führen zu der Annahme, daß jowohl Madagastar, 
die Keelinginjeln, al8® auch ganz Ozeanien — und noch früher 
Australien und Tasmanien — allmählih in großen Paujen von 
Stämmen bejiedelt worden find, die urjprünglich alle in Ojftindien 
heimijch waren. Die vordringende mongolijche und indische Raſſe 
trieb Die Ureingeſeſſenen gen Oſt und Weſt auf die See hinaus 
oder auf die unwirthlichiten Gipfel des indilchen Hochgebirges. 
Die Sprachforſchung glaubt in Madagaskar, in den einjfamen 
Hochlanden einzelner Striche Indiens, auf Neujeeland, auf Tahiti 
gleiche Wurzeln zu finden. Im Großen und Ganzen wird Hinter: 
indien daher wohl die Urheimath aller Südſeeinſeler jein, aber fie 
jind zu weit auseinander liegenden Zeiträumen in fleinen Trupps 
und Sippen gewandert, jind unjtät hin- und hergezogen, durch 
Wind und Wellen verjchlagen worden, haben vielfach ſich ge- 
mijcht und find jchlieglich auch wieder von Oſt gen Wejt rüd- 
gejtrömt. Ein einheitliches Bild diefer Wanderungen wird wohl 
nie zu Stande fommen. Gbenjowenig fönnen wir über die Zeit 
der Befiedlung Haltbares ermitteln: jie liegt jedenfalls näher, als 
man häufig anzunehmen geneigt iſt. Neuere Forſcher jegen den 
Beginn der Befiedlung Ozeaniens auf das Jahr 1000 vor Ehriftt 
Geburt an. Am jtaunenswerthejten jcheint uns der fühne Wagemuth, 
der die Heimathverdrängten hinaus aufs unbefannte Weltmeer 
trieb. Gewiß find die Yaunen des Waflers und des Windes viel 


296 Das Wirthſchaftsleben der deutfchen Sübfeeinjeler. 


häufiger die Wegweijer der Irrenden gewejen, als nach Richtung 
und Biel bejtimmte Pläne. Trotzdem waren es unerjchroden: 
Seefahrer und gewandte Sciffbaumeifter, die auf dem Einbaum 
die großartigite Bejiedlung leifteten, die wir aus der Gejchichte 
fennen. Die Annahme, Ozeanien jei ehedem ein feiter großer Erd: 
theil — das Südland! — gewejen, dejjen Gipfel heute als Inſel— 
ichollen aus dem Meere ragen, ijt ja nicht ohne Weiteres zurüd: 
zuweilen, wiewohl der Franzoſe Bernard für den weftlichen 
Stillen Ozean den geologijchen Nichtigfeitbeweis dieſer Muth: 
maßung erbracht zu haben glaubt, aber dieſes Südland it 
mindejtens in der Diluvial» vielleicht jchon in der Tertiärzeit eine 
Beute des Wafjers geworden. Die Menjchen, deren Nachkommen 
heute noch die Südjeeinjeln bevölfern, wohnten dorten jicher erit 
jeit wenigen Jahrtaufenden, die legten Nachwanderer (Polyneſier 
nicht einmal jo lange. Wir müfjen alfo in ihnen die Ueberreite 
von Stämmen erbliden, die ein fühnes Seefahrervolf waren lange 
bevor Europas Vorfämpfer auf dem Weltmeer die Geftade der 
Süpdjeeinjeln zum erjten Mal erjchauten. 

Die Entdedung diejer Injelwelt iſt vorzüglich mit dem Namen 
Cook verknüpft; freilich haben andere — Spanier und Portugiejen 
(Magelhaes 1520) — einzelne Schollen des Stillen Meeres 
Ihon Jahrhunderte früher gefichtet; die weftliche, jetzt deutſche 
Inſelwelt, war bereitS zu Beginn des fechszehnten Jahrhunderts 
befannt, Neu Guinea feit 1526 durch den Portugiefen Jorge de 
Menejes; aber die vielen Entdedungsfahrten der nachfolgenden 
Sahrhunderte haben wenig Kunde von Land und Leuten zum 
heimathlichen Norden getragen, vor Allem recht geringe, wirklich 
wijjenjchaftliche Ausbeute. Ueber die nunmehr deutjchen Südſee— 
jchußgebiete haben erſt die legten Jahrzehnte einigen Aufſchluß 
gebracht und das wirthichaftliche und gejellichaftliche Leben unjerer 
Südjeeunterthanen ift bis zum heutigen Tage unvollfommen er: 
forjcht, nur von wenigen engbegrenzten Bezirken, von der Gazelle 
balbinjel*) und von einigen Küſtenſtrichen Neu-Guineas haben wir 


*) Bor einigen Wochen ift bei Friedrich Vieweg in Braunſchweig ein Bud 
des Grafen Joahim Pfeil erfhienen, das gerade die Bewohner ber 
Gazellehalbinfel und ihre Sitten und Gebräudhe mit großer Sorgfalt 
und Genauigkeit behandelt: „Studien und Beobadhtungen aut 
der Südjee.“ 

Graf Pfeil hat e8 darin verftanden, feine eigenen Grfahrungen, 
Erlebies und Gelejfenes zu einem ſchönen künſtleriſchen Kranze feiner 
Darftellung zu verweben, die Jeden mit Befriedigung erfüllen muß, der 
an Natur und Neifebefhreibungen Freude und Intereffe Hat. Das 





Das Wirtbichaftsleben der deutſchen Südſeeinſeler. 297 


nähere Stunde; immerhin ijt auch das Wenige anregend und be- 
lehrend und bietet willfommene Gelegenheit zu einer Betrachtung 
primitiver Wirthichaftszuftände bei einem ung durch politijche Inter: 
ejjen näher gerüdten Naturvolfe, zu der die befannten Arbeiten 
Lavalleyes, Büchers, Ratzels und Anderer den eriten Antrieb 
gegeben haben. 

Allem vorausgejchidt jet, daß die deutichen Südjeeinjeler noch 
volljtändig in der Steinzeit lebten, als fie mit den Weißen in Bes 
rührung traten. Sie fönnen in gewiſſem Sinne als moderne 
Bertreter des von dem Palävanthropologen neolithijch genannten 
Zeitraumes gelten, ebenjo wie die nunmehr ausgejtorbenen Tas» 
manter vielleicht faum der paläolithijchen Periode entwachjen 
waren, al® Europäer das ferne Südeiland zum erjiten Mal 
erblidten. 

Bon der phyſiſchen Grundbedingung alles thieriichen Lebens 
ausgehend, betrachten wir zunächjt diejenigen Wirthichaftsformen 
und Einrichtungen, die zur Befriedigung der Leibesnothdurft am 
nöthigjten find: die Mittel der Ernährung. Der Gedanke, 
daß die Klüfte und Klamms Neu-Guineas je von Menjchenrudeln 
des Urzuftandes durchjtreift worden jeien, die von Wurzeln, 


durd feine Zluftrationen und durch feine ganze Ausftattung vorzüglich 
u einer Feitgabe geeignete Werk ift um fo mwertbvoller, als Gral feil 
—— wiſſenſchaftliche Forſchung und Prüfung aller Quellen zur Grund— 
lage ſeiner Arbeit gemacht hat, und es 4 eig vermeidet, Ber: 
—— nur Erdachtes, Phantaſien, Märchen aufzutifchen, wie es 
leider Werfen verwandter Gattung fo oft eignet. „Die Studien und 
Beobadtungen aus der Südfee” find mirklihe wiſſenſchaftliche Unter- 
fuhungen und Betradhtungen über die ethnologiſchen, anthropographiſchen, 
wirthſchaftlichen, religiöfen, rechtlichen, fozialen Zuftände auf jener fernen 
Anfelmelt, in Sonderheit im Bismardardipel, wo Graf Pfeil felber 
mehrere Jahre gemeilt und mande Forfhungszüge quer durch Neu— 
Medlenburg und Neu-Pommern unternommen bat. Und in jeiner 
Darftelung fommt nit nur gründliche wiffenfhhaftlihe Forihung, ſondern 
auch feine eigene feine Beobahtungsgabe voll zur Geltung und erhöht, 
verbunden mit einem flotten und liebenswürdigen Stil, den Reiz der 
Lektüre. Das fteigende Interefje für foloniale Intereffen findet in diefem 
Bud eine wilfommene und hoffentlich recht ausgiebig genugte Quelle 
der Anregung und Belehrung. 

In Anlehnung an Ddiefen Hinweis auf das Pfeilfhe Werk fei es 
mir auch geftattet, auf mein eigenes foeben erfhhienenes Bud „Reu- 
Guinea und der Bismardardhipel”“, Berlin, Schoenfeldt & Eo., 
aufmerffam zu machen, in dem dem Leſer zum erjten Mal im Bus 
fammenbang ein Bild des politifhen und wirthſchaftlichen Werdegangs 
unferes Eübdfeeihußgebietes geboten und der Werth befjelben unter 
wirthichaftlicher Beleuchtung der bisherigen agrifulturellen und geichäft« 
lihen Unternehmungen geprüft wird, das Buch enthält in Kürze Alles, 
was Heder über Neu-Guinea miffen müßte, dem unfere folonialen 
Beftrebungen nicht fernliegen. 


298 Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler. 


Früchten und jeglichem lebendem Gefleuch und Gefreuch in Durd- 
aus thierifcher Weije ein gehetztes Dafein frilteten, iſt abzulehnen: 
es fehlt die für eine jolche Urlebensweife nöthige Fauna, es 
mangelt an fruchtreichen Bäumen und Sträuchern und das Gelände 
ift zu zerriffen. Die erjten Bejiedler Neu-Guineas waren jchon 
primitive Aderbauer, als fie einwanderten, haben aber jich jeitdem 
faum etwas vervollfommnet. Noch heute gejchieht die Boden: 
bejtellung in der Form des urjprünglichjten Hadbaus, im Bismard- 
Archipel vorwiegend an leicht geneigten Hängen. Das einzige 
Geräth bejteht in einem gehärteten Spigholz, das mitunter einen 
badenförmigen Anja hat. Erdfrühte — Yam, Taro, Bataten, 
Tapiofa — Bananen und Tabak werden allenthalben angepflanjt, 
freilich nicht über den allerdringenditen Bedarf hinaus. In Be 
zirfen, in denen Sago- und Kofosnußpalmen in überreicher Menge 
gedeihen, bejchränft fich die Bodenbebauung auf ein Mindeftmas, 
jo um den Berlinhafen herum, wo die Güte der Natur ein jelten 
träges Volk allzu freigebig bejchenft. Kaum zwingt die Einerntung 
des Sagos — sack-sack genannt — dieje glüdlichen Faulpelze, 
denen naive, freudige Bejahung des Daſeins einzige Lebensweis— 
heit ijt, dazu, einige Wochen dem dolce far niente zu entjagen. 
Immerhin find ſolche von der Natur ganz beſonders bevorzugte 
Strihe auch in dem bodenfraftjtrogenden Neu-Guinea Ausnahmen. 
Sn der Regel erfordert die Gewinnung der Nahrungsmittel eine 
geregelte Arbeit im Felde. Dieje liegt fajt ausjchlieglich der Frau 
ob. Sie, die ehedem im Urzujtand des Hordenlebens Früchte und 
Knollen jammelnd den Hunger jtillte, hat dieje urjprünglichite 
Nahrungſuche allmählich in die Anfänge der Bodenbejtellung 
hinübergeleitet und dieſer Entwidlung gemäß tritt jie uns fajt bei 
allen Naturvölfern als alleinige Ausüberin landwirthichaftlicher 
Arbeit entgegen. In Neu-Guinea leijten die Männer höchiten! 
bei der Rodung und Einhegung der Pflanzungen — den jchweriten 
Berrichtungen — einige Hilfe. Da es mühelofer it, von Zeit zu 
Zeit mit Hilfe der jengenden Gluth des Feuers neue Urwald: 
jtreden zum Pflanzland herzurichten, al8 das alte von dem üppig 
aufichtegenden Jungholz zu jäubern, werden die Pflanzungen in 
Zeiträumen von zwei bis fünf Jahren verlegt. Hieran jchliegt jic 
mitunter eine geringfügige Verſchiebung der Wohnjite an; im all 
gemeinen herrjcht jedoch Seßhaftigkeit, als natürliche Folge dei 
Aderbaues, vor. Obwohl der Grundzug der Landnutzung der der 
rohen Bodenverjchwendung it, vermißt man nicht eine gemifie 


Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Südfeeinfeler. 299 


Sorgfalt in den Pflanzungen; einige Stämme zeichnen ich 
bejonder® aus, jo die Bewohner der Inſeln Tarawai und 
Valies (Bertrand: und Guilbertinjeln) an der Nordfüjte von 
Kaijer-Wilhelmland. Die Pflanzungen diejer Eilande werden in 
einer Weiſe gepflegt, daß man glauben möchte, ihre Beſitzer 
müßten dem Hadbau längjt entwachjen jein, und doc iſt ihr 
Geräth daſſelbe wie das aller Papua, der einfache Spigitod. 
Auch dies Beijpiel mag lehren, daß die Technif nicht allein die 
BZeugerin des Fortjchritts iſt. Der verjchwenderischen Bodennugung 
im Großen paart fich jtellenweije ein gewijjies Maß von Boden— 
geiz, injofern auf dem einmal gerodeten Lande eine Frucht: 
folge jtattfindet: Land, das der Erdfrucht müde iſt, wırd mit 
Bananen bejegt. Auf der Gazellehalbinjel it dieſe Uebung 
allgemein, in Saijer-Wilhelmland nur jehr vereinzelt. Düngung 
des Bodens findet nirgend jtatt, Ddesgleichen mangelt jegliche 
fünftliche Bewäjjerung; langjährige Erfahrung hat den Papua 
gelehrt, die Bejtellung jeiner Pflanzungen den örtlichen Wetter: 
verhältnifjen anzupafjen. An ein corriger la nature denft Die 
überlegungsarme Einfalt nicht, um jo jchlimmer trifft den Papua 
eine Mibernte; denn ganz abgejehen davon, daß Erdfrüchte und 
Bananen ſich nicht zu langer Aufjpeicherung eignen, fennt er feine 
Sorge für die Zukunft. Auch der Einfluß des Weißen und dejjen 
Nachfrage nad) Knollen und Früchten haben erjt eine jehr geringe 
Vermehrung des Bodenanbaues herbeigeführt, am meisten noch im 
Bismard-Archipel. Vor Allem wird dort die Kokosnußpalme jeit 
den letten Jahren über den Eigenbedarf der Eingeborenen hinaus 
angepflanzt. Derjelbe Erfolg tt auf den Mearjhallinjeln zu be— 
merfen, leider noch nicht in Kaifer-Wilhelmland. Die Palmen 
find zwar auch dort neben Brotfruchtbäumen, Galip, Mango, 
Ingwer, Betelnuß, Zuckerrohr u. dgl. die jteten Begleiter der 
Dörfer, aber nur nach Mafgabe der Bedürfnijje ihrer Inſaſſen. 
Nur jehr, jehr langjam dämmert das Verjtändnig vom Werthe der 
Gitererzeugung im Hinblid auf die Zukunft. Da aber durch den 
Aderbau die erjte Grundlage alles wirthichaftlichen Vorausberech— 
nens und Hinterherbedenfens einmal gegeben ift, fann und muß 
man auf ihr weiter bauen. Die deutjchen Südjeeinjeln jind durch: 
weg von einem bereits Aderbau treibenden Wolf bewohnt, die Er- 
zeugnijje defjelben bilden den Hauptjtod der gefammten Ernährung. 
Der phyfische, wirthichaftliche, ja auch joziale Zujtand jener Injel- 
völfer erhält dadurch jein bejtimmtes Gepräge. Von ihm muß der 


300 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Südſeeinſeler. 


Europäer ausgehen, will er fich dieſes Naturvolf nüglich und 
dienjtbar machen. 

Im Vergleich zur Bodenbebauung nehmen andere Quellen der 
Ernährung nur eine untergeordnete Rolle ein. Cine regelrechte 
Viehzucht bejteht nirgends, auch nicht in der Wechjelbeziehung 
zum Aderbau, jo daß diejer durch Zuführung von Viehdung ver- 
bejjert würde. Hunde, Schweine und Hühner werden, wie auf 
allen Südjeeinjeln, jo auch auf den Ddeutjchen gehalten. Die 
eriteren find jedenfalls jchon Hausthiere der Papua gewejen, als 
dieſe ihre indiſche Heimath verließen, haben doch jelbit die 
Auftralier, vermuthlich viele Jahrhunderte früher, den Dingo zum 
fünften Erdtheil geführt! Die klaffende Lücke zwiſchen der ein: 
heimischen Fauna aller Südlande und den Hausthieren der Einge: 
borenen weiſt gebieterijch darauf hin, daß erjt die Bejiedler der 
fernen Eilande Hund und Schwein in ihnen heimiſch gemadıt 
haben. Möglicher Weije ift das lettere erjt durch europätjche oder 
malaiische Seefahrer an einzelne Gejtade der Südjee gebradıt 
worden, jo nach Neujeeland erjt durch Cook; jicher gilt die8 vom 
Huhn. Diejes dient übrigens den Papua Neu-Guineas lediglich 
mit jeinen Federn zur Schmüdung des wolligen Kraushaars bei 
fejtlichen Gelegenheiten, nicht als Speife; im Bismardarchipel 
wird e8 dagegen von den Eingeborenen gegeſſen, jeine Eier indeß 
verjchmäht der Melaneje, wie der Bapua. Der Beſitzſtand an 
Schweinen ijt auf Neu-Pommern und Neu-Lauenburg größer als 
in Ktaifer-Wilhelmland — auch in dieſer Hinficht paßt fich der 
Bismardarchipel den Wünjchen der Weißen durch Vermehrung der 
Schweinezucht allmählid an — aber nirgends bildet Fleiſch— 
nahrung, zu der auch die Hunde einen wejentlichen Beitrag jtellen, 
eine dauernde regelmäßige Ergänzung der Koſt. Mageren 
Wochen folgen Tage des Ueberfluſſes an thieriſcher Nahrung 
gelegentlich eines Feſtes (sing-sing) oder einer Beerdigung. Denn 
auch ein trauriges Yamilienereigniß bietet den „Leidtragenden“ 
nur die willfommene und — nöthige Gelegenheit, in Schweine 
ichinfen und Hunderippen zu völlen. Nöthig deshalb, weil der 
Menjch der Fleiſchnahrung niemal® ganz entrathen fann, ohne 
einer jicheren Entartung, wenn auch erjt in einer Reihe von Ge: 
ichlechtern, entgegen zu gehen. In ihrer urjprünglichen Heimath 
hatten die Bewohner der Südjeelande thierifche Nahrung genug: 
jie waren gewöhnt an reiche Jagdbeute. Die armjelige Jauna 
der Schollen Ozeanien bot hierfür feinen Erjag, die Hausthiere 


Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdjeeinjeler. 301 


reichten bei Weitem nicht aus, aber die Natur verlangte ihr Ge- 
wohnheitsrecht, und nichts war folgerichtiger, als daß erbeutete 
Feinde eine willfommene Sleijchnahrung wurden. WBielleicht iſt 
dies nicht der einzige Grund des auf allen Südjeeinjeln heimijchen 
Kannibalismus, religiöje Vorjtellungen mögen diejen gleichzeitig 
begünftigt haben, gewiß aber it der Mangel an thierijcher 
Nahrung, den die Injulaner injtinktiv als Quelle des phyſiſchen 
und piychiichen Niedergangs empfanden, eine jtarfe Triebfeder 
des Menjchenfraßes gewejen, — und ijt e8 heute nod). 

In gewiſſem Umfange bot einen anderen Erſatz für Die 
fehlende und doch jo unentbehrliche Fleifchnahrung der Reichthum 
des Meeres an Fiſchen. Der Fiſchfang iſt in Mifronejien und 
im Bismardarchipel in der That ein weitverzweigte® und aus: 
gebildete8 Gewerbe, in Kaijer-Wilhelmland nur auf einigen Fleinen 
der Hauptinjel vorgelagerten Eilanden. Auf der Gazellehalbinjel 
und in NeusLauenburg bejteht ein bejonderes Fiſchereirecht: Die 
Binnenländer find von den Schägen des Waſſers ausgejchlofien, 
den Anwohnern der Küſte eignet jedesmal der an ihre Befigung 
anjchliegende Abjchnitt des Meeres, jedoch) iſt dieſe Scheidung, wie 
alle Eigenthumvertheilung, nirgends jtreng durchgeführt. Der 
Fiſchfang gejchieht mit Neben, Körben, Angeln, aucd mit Bogen 
und Pfeil, legteres jedoch) nur an den Küſten Neu-Guineas. 
Die Pfeile haben einen Spitenfranz von vier bis ſechs Enden. 
Das Fiſcheſchießen iſt vielfach ein Zeitvertreib halbwüchjiger 
Knaben, die ſich in der Dämmerung mit dem Bogen bewaffnet 
auf den Niffringen der Inſel und Inſelchen tummeln. Einen 
regelmäßigen Beitrag zur Nahrung liefert der Fiſchfang den 
Papua von Fatjer-Wilhelmland nicht. Gemeinjame Fiſchzüge in 
Kanuflottillen gehören zu den Seltenheiten. In dunklen Nächten 
bieten jolche auf Fiichfang ausziehende Kanus mit ihren Xocfeuer- 
bränden einen äußerſt malerischen Anblid. Die Neupommern der 
Blanchebai und die Neulauenburger dagegen betreiben die Fiſcherei 
mit großem Eifer und planmäßiger Taktik. Schon die Kinder, 
auh Frauen und Mädchen, verbringen die Zeit mit Eleinen 
(Schmetterling-)Negen im Küjtenwajjer fijchend, wie etwa unjere 
Kleinen im Wieſenbach Kaulquappen hajchen. Für die Großen 
it das Spiel der Kinder ernite Arbeit, die ihnen einen weſent— 
lihen Beltandtheil der Nahrung liefert. Unjeliger Weije hat das 
Dynamit der Weißen viele filchreiche Meeresitriche arg entvölfert. 
Schu der Seefifcherei durch die Regierung thut daher dringend noth. 


802 Das BWirthihaftsleben der deutfchen Sübdjeeinfeler. 


Die Schon erwähnte Armuth der Fauna Neu-Guineas erklärt 
den Mangel an jeglidem Jagdſport unter den Eingeborenen, 
Die wenigen Eleinen Beutel- und fliegenden Säugethiere find dem 
Menjchen weder gefährlich noch nußbringend. Der Papua jteht 
ihnen ganz gleichgültig gegenüber; bringt der Zufall irgend ein 
Gethier in jeine Hände, jo wird es verjpeijt ald Luxusnahrung, 
als Sonntagbraten. Auch verwejende Thierleichen finden ihre 
Liebhaber. In einigen Gegenden herrſcht eine ausgejprochene 
Vorliebe für angefaultes Fleiſch. Es ijt befannt, daß dieſe Sitte 
unter Naturvölfern eine ziemlich weite Verbreitung hat, vor Allem 
in Sübdamerifa. Die zahlreichen gefiederten Bewohner des Ur: 
waldes jind vor den Fallen und Pfeilen der Eingeborenen ziemlich 
jicher, ficherer al® vor den Nachitellungen des Weißen, der den 
fojtbaren Balg des PBaradiesvogel® und den Schmud der Kron— 
taube gegen Elingende Münze auf dem europäijchen Markt eintaujcht. 
In Kaijer-Wilhelmland hat jedoch die Anwejenheit und Begehr: 
lichfeit von Vogeljägern und Sammlern bislang wenig jpornenden 
Neiz auf den trägen Tamul ausgeübt. Anders in dem vogel: 
reicheren (nördlicheren) Holländijch-Neu:-Guinea. Dort haben die 
malaiiſchen und celebejjiichen Vogeljäger die Eingeborenen den 
wirthichaftlichen Werth der Paradiesvögel erkennen gelehrt: die 
Bapua des niederländischen Halbtheils der größten Injel der Erde 
find heute leidenjchaftliche Jäger, zum Segen für ihre joziale Ent: 
widlung. Denn abgejehen von dem Nachtheil, den der Mangel 
an Jagdbeute auf die Ernährung ausübt, leidet auch die Pſyche 
der männlichen Bevölferung unter der Thierarmuth der gewaltigen 
Südinjel. Der Mann, dem die Jagd, die Abwehr wilder Thiere, 
die von der Natur gegebene Urbejchäftigung war, findet in Neu: 
Guinea in diejer Hinficht feine Bethätigung: er wird träge, ja er 
verthiert wieder, da der Hebel fehlt, der ihn einjt der Thierheit 
enthob. 

Ungünjtig wird die Ernährung dadurch beeinflußt, daß fein 
feſtes Mengen: und Zeitmaß die Mahlzeiten bejtimmt: die Feld— 
bejtellung und der Fiſchfang ſetzen freilich) der Speijezeit eine 
gewilje Tagesjtunde, aber doch ohne zwingende Nothwendigkeit, 
wie bei fortgejchritteneren Völkern. Die Menge der Speije bängt 
jehr von der Laune des Zufall® ab: magere und fette Monde 
wechjeln ohne Wahl. Mihernten machen fich furchtbar fühlbar, 
da die Sorge für die Zufunft dem Papua nicht eignet. Die Zu: 
bereitung der Speiſen gejchieht durchweg mit Hilfe des Feuers, 


Das BWirthihaftsleben der deutschen Sübdfeeinfeler. 303 


das unabläſſig brennt. Die Salzung wird theild® Durch Ver— 
wendung von Meerwajjer, theil® durch Beimijchung bejtimmter 
Kräuter und Blätter erreicht. Als Getränk dient vorzugsweije die 
Milh der Kokosnuß, Waſſer, vor Allem jolches aus Lagunen, 
meidet man ob der Dysenteriegefahr. Beraujchenden Trunf her— 
zuitellen, ijt faum befannt, um jo leidenjchaftlicher huldigt der 
Bapua dem Tabak. Das Betelfauen ift mehr unäjthetijch für 
unjer Auge, als jchädlich, im Gegentheil erhält es die Zähne, die 
befanntlich in den Tropen wadliger fiten, al8 im Norden. Auch 
die Ernährung der Kinder ift naturgemäß eine pflanzliche: jchon 
dem Wöchling jtedt die Mutter vorher zerfaute Tarofrummen ins 
Mäulchen. Daneben währt die Stillung des Säuglings durch die 
Bruft jehr lange. Der Mangel an Kuhmilch macht ſich empfind- 
lich geltend. Man weiß, welche Rüdwirfung die langen Yaktations- 
perioden auf die HBeugfraft des Weibes haben und fann daran 
füglid den ungeheuren Einfluß ermejien, den die Zähmung des 
Rindes auc auf die Zucht eines gefunden und zahlreichen Nach: 
wuchjes unter den Menjchen ausgeübt hat. 

Im Ganzen zeigt die Lebenshaltung der Papua eine Stufe 
mit vorwiegender Pflanzenfojt, gewonnen durch Hadbau ohne 
Viehzucht, aber auch ohne dauernde thierijche Nahrung, die auf 
andere Weije erbeutet wäre, einen Zujtand, der den natürlichen 
Hilföquellen des Bodens angepaßt, wahrjcheinlich injofern einen 
Rüdjchritt bedeutet, als die jeßigen Bewohner der Südjeeinjeln 
in ihren urjprünglichen Wohnjigen eine reichere Fauna, mehr 
Kampf mit diefer und mehr Ausbeute aus ihr gehabt haben. Die 
Dazwijichenfunft des Weiten hat diefen Niedergang in etwas jchon 
gehemmt, da die bisherige, auf die Dauer zur Fortentwidlung 
einer Raſſe nicht ausreichende Ernährung durd) Zufuhr von Fleiſch 
und Störnerfrucht eine wejentliche Ergänzung fand; beides wird 
von den jchwarzen Arbeitern jehr bevorzugt. Die bejjere Er— 
nährung, die übrigens bis jeßt nur jehr Wenigen zu Theil ward, 
genügt aber allein nicht, um die wirthichaftliche Lage des Papua 
jo zu heben, daß er ein mügliches Glied in dem großen Wirth» 
jchaftsgebilde der heutigen Menjchheit werde, auch jeine technijche 
Bildungsfähigfeit fällt in die Waagjchale. 

Die Stoffveredelung hatte bei den Bewohnern der 
deutjchen Süpdjeeinjeln unter Berüdjichtigung der Nurſteinwerk— 
zeuge einen hohen Grad erreicht, als der Weihe jeine erjten Hütten 
an den Gejtaden Neu-Guineas erbaute. Freilich bejchränfte fich 


804 Das BWirthichaftsleben der deutſchen Sübjeeinfeler. 


ihre Gejchiclichkeit im Allgemeinen auf die Herjtellung von Schmud: 
gegenftänden, religiöfem Geräth und allenfall® noch von Waffen. 

Die Hütten find durchweg aus dem faum bearbeiteten Holz; des | 
Urwaldes, nach Form und Zwed als bloße Schußdächer errichtet. | 





Die Bekleidung erjtredt ji) nur auf die Verhüllung der Scham 
mit Baumfajergurten; ım Bismardarchipel verzichtete man vor 
zwanzig Jahren noch auf diefen Luxus: jetzt ijt es bejjer geworden. 
Einen großen Hausrath birgt eine Tamulwirthichaft nicht. Da: 
gegen find Waffen — Bogen, Pfeile, Speere, Keulen — weit 
über den Bedarf hinaus vorhanden. Die zahlreichen Schmud: 
gegenjtände, die vielen Lejern von der Ausjtellung her und aus 
Muſeen befannt find, geben ein beredtes Zeugniß von der Kunſt— 
fertigfeit der Bapua in Schnitz- und Kerbarbeiten. Man bedente 
nur immer, daß dieſe Ringe, Spangen, Bruftichilder, Haarpfeile, 
Prlöde aus Holz, Stein, Knochen, Perlmutt und Zähnen nur 
mit Steinwerfzeugen gefertigt wurden. DOft reichten viele Jahre, 
ja ein Menjchenalter nicht aus, um einen ſolchen Schmud zu 
vollenden! Die Flecht- und Gerbarbeiten der deutjchen Südjeer 
injeler, die Nee, Körbe, Matten, Umhänge, Gurte, ja Schlafjäde 
(am Ramufluß) find mit nicht geringerer Ausdauer aus Baum: 
fajern, Fruchtfajern, Lianen, Rotang gewunden und gebunden. 
Aber — alle dieje nicht unerhebliche handwerkliche Thätigkeit it 
faum als fejtes Glied in die Hauswirthichaft eingereiht, it faum 
regelrechte „Arbeit“, jondern fajt nur der Ausflug eines bloßen 
Thätigfeittriebes, der noch nicht zum vorjorgenden Erwerbfinn, zum 
zielbewußten Arbeitstrieb aufgejproßt tft, nicht mehr bloßes Spiel, 
noch nicht Arbeit, jondern Zeitvertreib für die müßige Stunde, 
oft einer auffachenden Begehrlichfeitslaune entjpringend, manchmal 
einem ndividualbedürfnig, jelten einem religiöfen genügend. 
Wenn jede menjchliche Thätigfeit in ihrem legten Grunde einem 
— vielleicht oft unbewußten — Geſetz der endlichen Nüglichkeit 
gehorcht, dann iſt dieſes in der gewerblichen Bethätigung der 
Papua jehr verblaßt, denn die wenigen Haus- und täglichen 
Gebrauchsgegenjtände erfordern einen jehr geringen Aufwand von 
Mühe und Zeit im Verhältniß zu der Herjtellung von bewunderns— 
werthen Schnigarbeiten. Dieje aber lajjen jchwer einen Nüglich- 
feitSwerth in wirthjchaftlihem Sinne erfennen und doch nehmen 
jie die Hauptrolle ein. Dabei jchafft jedes Einzelwejen nach jeiner 
eigenen bejonderen Neigung, nicht nad) dem Plane einer inein: 
ander greifenden Stammes oder auch nur Hauswirthichaft. Nur 


— u —ñi 


Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinjeler. 305 


für drei bejtimmte Gewerbe jind wenigjtens die Anfänge einer 
Arbeitsgliederung vorhanden, für Töpferei, Fiſchereigeräth und 
Kanubau. 

Die Töpferei hat ſich auf einigen Inſeln der Küſte Neu— 
Guineas entlang, ebenſo im Bismarckarchipel an gewiſſen Plätzen 
und auch in Mikroneſien als beſonderes Gewerbe herausgebildet, 
jo auf Bili Bili, Tami, Tamara, Port Moresby. Die Topf: 
formerei it dort ausjchließlich Frauenhandwerf. Die Erklärung 
hierfür findet man leicht, wenn man jich erinnert, daß die Frau 
die Heimjerin und Bereiterin der Feldfrüchte it. Da jie die im 
‚slechtwerf oder Bananenblatt heimgebrachten Knollen mit etwas 
Erde an den Rändern dieſer Behälter umgab zum Schuß gegen 
Ankohlen, fand fie die härtende Kraft, die das Feuer auf den 
Lehm ausübt. Die zufälige Entdedung ward der Ausgangspunkt 
des Töpfereigewerbes. Dertlich entfaltete es jich dort am günjtigiten, 
wo in der Nähe Thon gefunden wird. So erflärt jich die alleinige 
Musbildung der Töpferei an ganz bejtimmten engbegrenzten Pläßen. 
Yon dieſen ausgehend, hat der Thontopf ältere Gefähformen, 
theils Jolche aus gehärtetem Holz, theils aus gehöhltem Stein 
allenthalben verdrängt. Die Töpferei wurde ein ermwerbsmäßige 
Beichäftigung für gewifle Stämme, ein Haus: und Stammes: 
gewerbe. 

Die Technik der Topfbaukunſt it ſehr einfach, roh. Die 
Weiber formen die Gefäße aus Thon mit den Händen, höchſtens 
unter Zubilfenahme eines flachen Steines zum Glätten und eines 
feinen Holzſchlägels. Bejonders mühjam iſt die Ausfiebung des 
Yehmes von Steinen und Steinchen. Die rohgeformten Töpfe 
werden in der Sonne allmählich gleichmäßig gebrannt. Wer: 
jierungen ſind jehr jelten, dagegen finden ſich bejondere Zeichen 
aufgedrüdt, die Fabrikmarken bedeuten. Wie früh jich jchon das 
Bedürfnig des Waarenſchutzes herausjtellt! Analogien aus der 
deutichen vormittelalterlichen Gejchichte find ja allgemein befannt. 

Nicht jo Icharf durch Arbeitstheilung und Sonderfertigfeiten als 
<tammesgewerbe gefennzeichnet ijt die Heritellung von Fiſcherei— 
gerätd. Sie wird von allen Fiſchervölkern auf den Balaoinjeln, 
Mariannen, SKarolinen, Marihallinjeln, im Bismardarchipel be: 
trieben. Immerhin finden fich einzelne Dörfer, in denen die Netz— 
Hechtfunst, andere, in denen die Fiſchkörberei bejonders ausgebildet 
nd. Angelhafen, Reuſen und an den lüften Kaijer-Wilhelmlands 
süchpfeile werden von Jedem nach Eigenbedarf gefertigt. Die Fiſch— 

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 2. 20 


306 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdfeeinfeler. 


förbe, in zwei verjchtedenen Größen, jind bejonders an der Küſte Neu: 
Pommerns zu Haufe. Sie werden aus Notang geflochten und in | 
gemefjener Entfernung vom Lande mit Lianentauen verankert; an | 
der Meeresoberfläche find fie fenntlic) durch einen Kranz von 
Bambusjtäben. Im Herbjtmond iſt die Blanchebucht bejäet mi: 
jolchen Fijchermarfen, an denen als Wahrzeichen meijt ein tabu 
flattert. 

Die Netzflechterei zerfällt in zwei Arten: einmal fertigt ſich 
Jeder ſelbſt ein kleines Netz zum Handgebrauch, oft nur zum 
Spielzeug, dann aber thun ſich Mehrere, manchmal ganze Sippen 
zuſammen, um große Schleppnetze zu wirken, die bei einer Breite 
von zwei Metern eine Länge bis zu 60 Metern erreichen. Dieſe 
Geflechte werden derart verwendet, daß einige Kanus die mit 
langen Tauen verſehenen Netze ein paar hundert Meter aufs Meer 
hinausfahren, wo ſie ſorgfältig hinabgelaſſen und von den am 
Ufer Zurückgebliebenen zum Strande gezogen werden. Das Ver— 
langen nach größerer Ausbeute und gehöriger Arbeitsnutzung zeugt 
ſo eine Arbeitsgemeinſchaft. 

Dieſelbe Noth führt beim Kanubau zum Zuſammenſchluß 
Mehrerer zwecks gemeinſamer Arbeitsleiſtung. Im Uebrigen iſt die 
Schiffbaukunſt vielfach Stammesgewerbe, ſo auf Yap, auf Jaluit, 
auf Uatom und in Kabeira im Bismarckarchipel, auf Angell und 
auf Tarawai, dem Idhyll papuaniſcher Kultur, an der Küſte Neu: 
Guineas. Die Grundform des Kanus iſt der Einbaum mit aufgenähten 
Brettern, häufig mit jchnabeligen Bugverzierungen, mit einer aus 
Bambusjtäben gefertigten beiderjeitig überragenden Plattform in 
der Mitte und in der Negel mit Auslegern. Dieje find an der 
nördlicheren Küfte von Katjer-Wilhelmland jtellenweije nicht be 
fannt, auch fehlen fie den Booten der größeren Binnengewsäjler. 
In Neu-Guinea find große Segelfanus feine Seltenheit, im Bismard— 
archipel haben die Eingeborenen das Segel erjt durch den Weißen 
fennen gelernt, jich aber mit erjtaunlicher Gejchiedlichkeit dieſe Kunit 
dienlich gemacht. Sein Kanu it dem Neu-Pommer mehr werth 
als Weib und Kind, die er freilich auch nur als wirthichaftliche 
Kräfte zur Mehrung jeiner Behaglichkeit werthet. Er baut dem 
Fahrzeug eine bejondere Hütte am Strand, jchüst es in jeder Weiſe 
gegen Die zerjegende Sonnengluth und tüncht es jtetS mit Kalt, 
jobald er e8 aus dem Wajjer zog. Auf den Marfhallinjeln finder 
jich als bemerfenswerthe Sonderart nicht der Einbaum, jondern eine 
Kanuform, die ganz aus einzelnen Brettern zuſammengenäht üt. 


Das Wirthichaftsleben der deutfchen Südfeeinfeler. 807 


Neuerdings macht fich in den Injelbezirken, vor allem im Bismard: 
archipel, Nachfrage nad) europätjchen Booten bemerfbar. Die Ein» 
geborenen zahlen in Matupi willig ME. 600 bis ME. 1000 für ein 
Segelboot. Ueberhaupt haben Waſſerſport und Schifffahrt im 
Bismardarchipel durch die Dazwijchenfunft der Weißen einen er: 
freulichen Neuantrieb erhalten, das Kanubaugewerbe ijt neubelebt, 
jtrebt zu höherer Entwidelung auf und zwar unter Benugung von 
Hammer und Meipel. 

Leider hat das Eijen des Europäers nicht durchweg jolch einen 
günjtigen Einfluß auf die gewerbliche und handwerkliche Thätigfeit 
der Bapua ausgeübt. Im Gegentheil! Die Kluft zwijchen Stein- 
zeit und moderner Technik ift zu groß, als daß ein Wilder die 
Segnungen der legteren unvermittelt aufnehmen könnte. In jein 
Leben trägt das Eijenwerfzeug nur eine ungeheure Lücke hinein, 
die bisher durch die jahrelange mühevolle Bearbeitung von Stein 
und Holz dur) Holz und Stein ausgefüllt war. Er ward der 
Wohlthat des Erzes nicht durch) eigene Erfindung und Straft theil- 
haftig und erliegt der Wucht diefer Macht, die ihn von engen Feſſeln 
befreit, ohne ihm durch ſich jelbit die Anpafjungsfähigfeit un den 
gewaltigen Fortjchritt zu geben. Gelingt es dem Weißen, von jeiner 
Kulturhöhe einen Steg zur Steinzeit des Bapua zu jchlagen, indem 
er ihm nur gegen ernjte Arbeit jtufenweije die Vortheile jeiner 
Technik gewährt, jo fann den Neu-Guineern und uns die Erwerbung 
der Südjeeinjeln zum Segen gereichen. Die gegenwärtigen Zus 
jtände, bei denen die Kuriojitätenbegehrlichkeit der Europäer der 
armen Natureinfalt alle Schäge mühelos in die Hände jpielt, müfjen 
zum Untergang der Ureinwohner führen, gewiß zum größten Schaden 
für die Eroberer jelbjt, die der Schwarzen zur Arbeit im Feld und 
auf dem Wafjer bedürfen. Die Bernunft und die Menschlichkeit 
weijen als einzigen Weg: Anbauen an das, was vorhanden iſt, 
aber jachte, langjam, jchonend gleich der großen Künjtlerin Natur! 

Die unentwidelten Formen der Güterzeugung und Stoff: 
veredelung haben naturgemäß auch eine niedrige Stufe des Waaren- 
austaujches zur Folge. Kaifer-Wilhelmland hinft am meiſten nad). 
Ein Handel mit Nahrungsmitteln iſt jchon deshalb unnöthig, weil 
eine reine Naturalwirthichaft vorherricht, Jeder und jedes Dorf nur 
joviel anbaut oder fängt, als zum Leben unentbehrlich it. Da 
auch die Bewohner der fleinen von dem Hauptland losgeriſſenen 
Atolle ihre eigenen Pflanzungen — oft auf dem gegenüberliegenden 
Feſtlande — haben, jo ijt nicht einmal die Bedingung für eine 

20* 


308 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdfeeinfeler. 


Ergänzung der Bodenerzeugnijje durch die des Meeres gegeben, 
und nur die Töpferei als eigenthümliches Gewerbe einiger weniger 
Inieljajien hat einen Waarenaustaujch gezeitigt. Die Bewohner 
von Tamara, Bili-Bili, Tami verjorgen die ganze Küjte mit Thon: 
waaren, indem jie auf ihren jchmuden Sanus den Saum des 
Landes bereijen. Gegen ihre Töpfe taujchen fie meist Flecht- und 
Schnitwerf, Eberhauer und Hundezähne, jelten Nahrungsmittet. 
Dieje Handelsthätigfeit hat den gejchäftigen Injulanern ohne Zweifel 
eine gewiſſe gewerbliche und intellektuelle VBorherrichaft über die 
Bewohner der großen Hauptinjel erworben. 

Im Bismardarchipel herrſcht regeres Leben. Die natürliche 
Scheidung zwijchen den Fiſchern der Küjte und den Yandmirthen 
des Binnenlandes hat dort von altersher einen regelmäßigen Aus: 
tauſch der Seeerträgnijje gegen die Bodenerzeugungen hervor: 
gebracht. Die Weiten fanden bereits die Einrichtung von Märkten, 
Markttagen und Marftplägen vor, als fie ihre Füße auf die 
Gazellehalbinjel jegten. Seither find dieſe Märkte immer zahl: 
reicher und regelmäßiger geworden und bilden das wichtigjte Binde— 
glied von Weiß zu Schwarz. Die Bewohner der Marjhallinjeln 
und Starolinen find als kühnes jeefahrendes Handelsvolf befannt, 
von der WPalaogruppe aus beitehen alte Beziehungen zu den 
Philippinen. Allem Anjchein nach find die Handelsfahrten Diejer 
Süpdjeeinjeler früher ausgedehnter gewejen, als jegt. Hat doch in 
der Marjhallgruppe ehedem eine Seefarte den kühnen Schiffern 
als Wegweijer auf ihren Fahrten gedient. Diejelbe iſt aus mehre: 
ren Steinchen und Fäden zujammengejett und wird „Medo“ 
genannt. Die Steinchen deuten die Lage der einzelnen größeren 
Inſeln des Archipels mit überrajchender Genauigfeit an. Die Nutzung 
diejes Medo it aber heute faſt in Vergefjenheit geraten. Auf den 
Ktarolinen find Spuren ähnlicher Seekarten gefunden worden. In 
den gejchlojjenen Yandmajjen des Bismardarchipels und am Strande 
Neu:Guineas entlang herrſcht die Küftenjchifffahrt vor. Es war alſo 
wenig Beranlafjung zur Erfindung nautischer Hilfsmittel gegeben, die 
in dem zerriſſenen Injelchenchaos von Mikroneſien jchon eher nöthig 
waren. Um jo erjtaunlicher it der Ortöjinn der Papua und der 
Neu-Bommern: Bäume, die dem Auge des Weiken faum auffallen, 
prägen jich ihm jo feit ins Gedächtniß, daß er nach Jahren noch den 
Lauf jeines Schiffleins diejen natürlichen Seemarfen anpajjen fann. 

Dem ausgedehnten Dandelsverfehr zu Wajfer entjpricht fein 
gleichwerthiger auf dem Yande. In Neu:Guinea mag die Gelände: 


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Das Wirthſchaftsleben der deutjhen Süpdfeeinfeler. 309 


zerflüftung viel zu der feindlichen Abſchließung fait jeder einzelnen 
Dorfichaft beigetragen haben. Die Meeresanwohner und Die 
Bergiajien jind in Urfehde verfeindet, aber auch an der Küſte 
entlang und zu den nächiten Hügeln hin führen nur Tamulpfade, 
die jehr wenig begangen jind. Das Handelsbedürfnig hat dieſe 
Anfänge von Verfehrswegen jedenfalls nicht gezeitigt. Auf der 
Gazellehalbinjel dagegen verbindet ein ausgedehnteres und aus— 
getretenere® Pfadnetz die Marktpläße und neuerdings entjtehen 
unter dem wohlthätigen Drud der Landesverwaltung jchon breitere 
Neit-, ja Fahrwege. Die Marftweiber bleiben freilich noch ihren 
alten holprigen Saumpfaden treu. Daß bei der Unvollfommen: 
heit der Ueberlandverbindungen (und bei der jprachlichen und 
politijchen Zerrijjenheit der Papua) fein Botendienjt jic) aus— 
gebildet hat, auch nicht unter befreundeten Dorfſchaften, fann nicht 
Wunder nehmen. Die Neu-GÖuineabufchleute haben ſich aber auf 
andere Weije geholfen und mit Hilfe der Trommel einen trefflichen, 
weithin reichenden Fernſprechdienſt eingerichtet. Freilich dient 
derjelbe noch nicht zur Vermittlung von Termin» und Differenz: 
gejchäften, aber doch zur Benachrichtigung über außergewöhnliche 
Vorfommnifje, vor Allem über die Unternehmungen der Weißen. 

Das Interejiantejte in dieſen urjprünglichen Verkehrs- und 
Handelseinrichtungen iſt die Erjcheinung, daß der Handel jchon über 
die einfachſte Form des Taujches von Waare gegen Waare hinaus: 
gewachjen iſt. In Kaijer-Wilhelmland freilich herricht dieſe ur: 
anfänglichite Art des Güteraustaujches noch vor, immerhin fehlen 
auch dort abjtrahirende Werthbegriffe nicht ganz. „Geld“ in 
Bücherjhem Sinne, nämlich: „diejenige Taufchwaare für jeden 
Stamm, die er nicht jelbjt hervorbringt, wohl aber von Stammes 
freunden eintaujcht“ giebt e8 in Neu-Guinea allerdings noch nicht. 
Wenn trogdem Eberhauer und Hundezähne in gewijjem Sinne 
Werthmeſſer geworden jind, jo mag die Entjtehung diejes „Geldes“ 
darauf zurücdgeführt werden, daß neben dem Schmudwerth jolcher 
Thiergebijje Totemvorjtellungen eine Rolle im Seelenleben des 
Papua jpielen. Sie allein machen es erflärlich, daß die an und 
für ſich doch technijch, gewerblich und für die Ernährung bedeutungs— 
(ojen Eberzähne zur Wertheinheit wurden, anjtatt des ganzen 
TIhieres, das wegen jeines ungeheuren Nutzens für den Fleiſch— 
nothleidenden am eheſten geeignet war, in WBücherjchem Sinne 
„Seld“ zu werden, wie thatjächlich das Biel) (pecus, pecunia, fee) 
bei vielen Völfern Jahrhunderte lang Werthmaß gemwejen it. 


310 Das Birthihaftsleben der deutihen Sübdfeeinfeler. 


Sm Bismardarchipel hat die größere Mannigfaltigfeit des 
Wirthichaftslebens und jeine höhere Entwidelung (die größere ge: 
jellichaftliche Verunterjchtedlihung) früher und eindringlicher das 
Bedürfniß nach einem feſten Werthmaße wachgerufen. Das Miujchel: 
geld — Diwarra auf der Gazellehalbinjel, Bälle in der 
Neu-Lauenburggruppe — ijt jedenfalls jchon ſeit Jahrhunderten 
auf jenen Injeln eingebürgert. Gefunden werden die Diwarra— 
mujcheln an verjchiedenen Plätzen der Oſtküſte Neu Medien: 
burgs und im Süden Neu:Bommerns. Durch Bleichung erhalten 
jie eine möglichjt weiße Farbe und werden auf Fäden auf: 
gezogen, von denen ein ziveimetriger etwa den Werth eines 
Thaler® Hat. Ich Führe die Entjtehung dieſes Mujchelgeldes 
jowohl auf urjprüngliche Schmudgelüfte als auch auf religtöje 
Vorſtellungen zurüd: es geht die Sage, daß der Geijt des Vulkans 
Unafofor alles Diwarrageld gejchaffen und ausgejtreut habe. 
Jedenfalls bejtehen zahlreiche, noch nicht genügend geflärte Be- 
ziehungen zwijchen dem Diwarra und dem Kultus. Ohnedem 
wäre es jchwer, zu ergründen, wie eine winzige Mujchel von ge: 
tingjtem technischen oder woirthichaftlichen Subjtanzwerth den 
Funktionswerth des Geldes erlangen fonnte. Bei Salz, Vieb-, 
Metall:Geld iſt jtetS die Brücde von der Subjtanz zu der Funktion 
vorhanden, bei diejer werthlojen Mujchel fehlt jie ohne die Ver— 
mittlung religtöfer und äjthetijcher Elemente gänzlich. Trogdem 
hat das Diwarra einen jo feiten Geltungswertb, daß es ſich jogar 
zu dem europätichen Metallgeld mit überrajchender Schnellig- 
fett — in ein bejtimmtes Werthverhältniß gejett hat. Es läuft 
jegt neben diejem als Geldjurrogat (Gelderjagmittel) um. Aller— 
dings it die Vorliebe für Silbergeld — Einmarkſtücke und 
Shillings — jehr im Wachjen begriffen. Merfwürdig, aber jebr 
erflärlich it dabei die ausschließliche Bevorzugung nur einer 
Münze, für deren Vielfaches — in Thalern oder Fünfmarkitüden 
— nur jehr Wenigen langjam das Berjtändnig dämmert. Die 
große Bedeutung einer ſolch immerhin beachtenswerthen Ent: 
widlung von Geldwirthichaft unter einem tiefjtehenden Naturvolt 
liegt auf der Hand; fie ebnet dem Kulturbringer die Wege beiter, 
als Bibel und Gejangbud. Daß auf den Starolinen von alters 
ber ein Steingeld umläuft, it befannt; die Herkunft und Ent: 
ſtehung deſſelben dürfte gleichfalls in religiöje Vorjtellungen ein- 
münden, wie ja das gejammte Wirthjchaftsleben der Menjchen und 
am meiten noch das jolcher Naturvölfer in innigem Zuſammen— 


Das Wirthihaftsleben der deutfhen Südſeeinſeler. . 311 


hang mit Glauben und Seelenleben entſtanden iſt und ſich ſo 
fortbildet bis in unſere Tage hinein. 

In Neu-Guinea iſt dieſes Ineinanderweben von Volkspſyche und 
Volkswirthſchaft auf Schritt und Tritt noch ganz deutlich zu erkennen, 
vor Allem auch in den Anſchauungen über die Eigenthumsverhält— 
niſſe, bei denen wir noch einen Augenblick weilen müſſen. Einiges 
darüber iſt ſchon gelegentlich im Anſchluß an die Schilderung der Zu— 
ſtände in Landwirthſchaft, Gewerbe und Handel gejagt: es kann 
auch an diejer Stelle nur eine furze Zujammenfafjung der Eigen- 
thumsverhältnifje, wie jie im Großen und Ganzen Geltung haben, 
gegeben werden. Die vielerlei örtlichen Abweichungen werden dabei 
nicht berüdfichtigt. Der Grundzug allen Bejiges auf den deutjchen 
Südfeeinjeln ift das Mutterrecht, ſowohl für Liegenjchaften, als 
auch für bewegliche Habe. Die Erinnerung daran, daß die rau, 
die Hüterin des Herdes und Säerin des Feldes, auch die Schöpferin 
der Familie it, beherrjcht noch die gefammten NRechtsanichauungen 
über Eigenthum. Daß das Weib dabei der wirthichaftlichen Ausbeute: 
luſt und phyſiſchen Ueberlegenheit des Mannes zum Opfer fiel, hat ihre 
hiſtoriſche Stellung im wirtbichaftlichen Rechtsleben fait garnicht beein— 
flußt: das Erbrecht insbejondere fußt durchaus auf dem Mutterrecht. 

Brivat-EigenthHum am Grund und Boden ijt unbefannt. Das 
bebaute und das in den Bezirk einer Dorfichaft fallende Land 
eignet dem ganzen Dorfe. Berhandlungen und Berträge über 
Yandfauf müfjen daher mit der Gejammtheit der Inſaſſen, vertreten 
durch die Meltejten, geführt werden. Auf der Gazellehalbinjel 
icheint der Boden urjprünglich unter die einzelnen Sippen getheilt 
und danach jeder Bezirf benannt zu fein. Die Sippe, die meijt 
auch heute noch mit der Dorfjchaft nach Umfang und Abjtammung 
zujammenfällt, it die Eignerin des ihr von altersher gehörenden 
Yandes. Das Haupt der Familie oder Sippjchaft it nur der 
bevollmächtigte Vertreter der gemeinjam bejigenden Gejammtheit, 
wenn auch einige jolcher „Häuptlinge“ im Berfehr mit den Weißen 
gerne don „ihrem“ Grund und Boden jprechen. Ein jolches 
Zondereigenthumsrecht bejteht weder fraftdergejchichtlichen Entwidlung 
noch hat es jich unter dem Einfluß europätjcher Kultur eingebürgert. 
Se mehr freilich der Weiße als Anwerber auf Grund und Boden 
auf den Plan tritt, je intenjiver alſo die Bodennußung ſich ge: 
jtaltet, um jo jtärfer wird auch bei den Schwarzen das Bedürfnis 
nach Privateigenthum an Yand erwachen. Anfänge jolcher Um: 
werthung des Eigenthumsbegrifies jind bereit vorhanden. 


312 - Das Birtbihaftsieben der deutſchen Südſeeinſeler. 


Für andere unbewegliche Habe, jo für Kofosnuppalmen 
und jonjtige Fruchtbäume gilt jchon eher ein gewiljes Privat: 
eigenthumsrecht. Häufig werden einem Kinde bei der Geburt be- 
jtimmte Nugbäume zugejprochen oder junge eigens für den Neu: 
geborenen gepflanzt. Solcher Einzelbejis iſt äußerlich kenntlich 
gemacht durch Umwinden mit Blättern, Fäden, Tüchern, dem Tabu, 
der eine tiefe (religtöjfe) Scheu genießt. Im Uebrigen jind Dieb- 
itahl, Betrug, Hehlerei nicht nur dem Begriff nach befannt, jondern 
werden auc ausgeübt. Zivil: und Strafprozekordnung fehlen 
aber, Wiedervergeltung, Buße und Neugeld jind die Nechtsmittel 
gegen den Webelthäter. Miethe, Pacht, Darlehen, Bürgjchaft find 
unter den Neu-Pommern und Neu-Lauenburgern feine Seltenheiten, 
ım Saijer-Wilhelmland dagegen nur auf den höher entwidelten 
Inſelchen (Tarawai und Valies voran) befannt. 

Die wenigen beweglichen Habjeligfeiten des Papua tragen 
ausschließlich den Charakter des Privateigenthums, meiſt jind es 
ja nur die von jedem Einzelnen jelbit gefertigten Schmudjachen 
und Waffen, die-nach jeinem Tode theils die Neife zum Schatten: 
reich mitmachen, theil$ ins Tamboranhaus wandern oder auch nad) 
dem Muttererbrecht an die nächiten Verwandten, nicht an die Söhne, 
übergehen. Die jeefahrenden Stämme haben das Privateigenthum 
an beweglicher Habe jchon weiter gebildet. Der Bejig eines 
Kanus, neuerdings eines Segelbootes, giebt dem Eigenthümer nicht 
nur ein wirthichaftliches, jondern auch politijches Uebergewicht. 
Hier fann der Hebel der Kultur am erfolgreichiten einjegen. Auch 
das Mujchelgeld wird als Sondereigenthbum des Einzelwejens be 
trachtet, in der Kegel aber von dem Familienhaupte im Diwarra- 
haus aufbewahrt: der Einzelne hat daher feine freie Verfügung 
über dieſen todten aufgejpeicherten Schaß, deſſen Bedeutung er 
eigentlich nur empfindet, wenn er gezwungen iſt, jich Bundes: 
genojien gegen Feinde zu faufen. Nur für diefen Fall fühlt der 
Wohlhabende die Macht des Geldes; zur Verfeinerung des Yebens- 
genufjes, zu größerer Behaglichkeit, bejjerer Kleidung, Wohnung 
und Nahrung verwendet er jeine Neichthümer — noch nicht. Aber 
die Zeiten dieſes Kommunismus nahen ihrem Ende. 

Ein Eigenthumsrecht an fremde Berjonen, Sklaverei, bejtebt 
im Allgemeinen nicht, doch fennen die Neu = Pommern ein Wort 
dafür und die Bewohner der Injel Natom im Norden der Gazelle 
halbinjel jind jogar von Altersher berüchtigt, die Bergſaſſen der 
Yaining in Sklaverei zu halten und in fremde Knechtſchaft weiter 


Das Wirtbihaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler. 313 


zu verfaufen. Der Preis für ſolch' einen Unglüdlichen beträgt im 
Allgemeinen 10 Faden Diwarra. Kinderraub fommt allenthalben 
vor; auf den Salomoinjeln haujen gefürchtete Kopfjägerſtämme; 
aber Sklaven werden nur gehalten, wo der Haushalt fremder 
Arbeitsfräfte bedarf, in der Regel iſt die lebende Striegsbeute für 
die Mägen der hungernden Streiter bejtimmt. 

Die armfeligite Sflavenjchaft duldet aber im ganzen deutjchen 
Südſeeſchutzgebiet das weibliche Gejchleht. Um Geld oder Geldes: 
werth wird die ‚rau, oft jchon als Kind, vom Vater für den 
Sohn gekauft, und it außer dem Nurgejchlechtswejen, dem Weib: 
thier, das gebärt und ſäugt, lediglich das Arbeitspferd des 
Mannes. An jeinen „höheren“ religiöjen Interejjen, dem Dufduf 
und Ingietbund hat jie feinen Antheil. Wie wunderbar jpinnt 
die Natur ihre Fäden: Das Weib, die Finderin und Hüterin des 
Feuers, des Herdes, Die erite Säerin des Bodens, die Gründerin 
des Heims, dann fraft roher Körpergewalt die Sklavin des Mann: 
thieres und je höher und jchöner Gefittung und Bildung ſich 
emporwinden, die ebenbürtige Genojjin, die bejeligende Kraft— 
jpenderin des Mannes, der mit ıhr vereint um die höchiten 
(Hüter der Menjchheit ringt! 

Wenn wir zum Schluß die in großen Zügen angedeuteten wirth: 
ichaftlichen Zujtände bei den Bewohnern des deutjchen Südſee— 
ſchutzgebiets unter die Kategorien der theoretiichen Wirthichaftslehre 
zujammenfafjen, jo vermijjen wir zumächjt die Grundjäße der weit: 
gehenden Arbeitstheilung, ohne die wir uns einen großen wirth— 
jchaftlihen Bau garnicht vorzujtellen vermögen. Eine berufliche 
Gliederung it nicht einmal in ihren einfachiten Anfängen — Priejter, 
strieger, Händler — vorhanden. An dem Bund der Ingiet und den 
Dufduffejten kann allem Anjchein nach jeder erwachiene Mann Theil 
haben, jofern er jich dem Mummenjchanz der Aufnahmefeſtlichkeit 
unterzieht und — das nöthige Geld für die Vortänzer und Schreier 
aufbringen fann. Dieje aber Haben mit den „PBriejtern“ anderer Natur: 
oder Halbfulturvölfer aus Gegenwart und Antife nur das gemein, 
daß fie ihren „Zauber“ wohl zu eigenem wirthjchaftlichen Vortheil 
zu nützen wijjen. Die Briejter des Ibis und die Medtzinmänner 
der Delaware find ja auch gute Gejchäftsleute gewejen, und Die 
innige Beziehung zwijchen religiöjer Beherrſchung der Gemüther 
und Bereicherung der priejterlichen Faullenzer bejteht unter den 
Palmen der Gazellehalbinjel auch ſchon; vielleicht iſt Dies Der 
Beginn einer Ausjcheidung von bejonderen „Prieſterkaſten“ in 


314 Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler. 


dem Entwidelungsgang, den das Geje der Arbeitstheilung durd 
die Iahrtaujende hindurch gemacht hat. Urſache und Wirkung 
werden in dieſer Hinficht kaum reinlich zu fcheiden fein. 

Ebenjowenig fann von einem bejonderen Kriegerjtand die Nede 
jein: jeder waffenfähige Mann nimmt jeinen Antheil an den zahl: 
reichen Fehden, die von Urahnenzeit her die Bewohner Neu: 
Guineas aufreiben. Führer im Felde find die förperlich Stärfiten 
und Gewandtejten, aber auch nur für die Dauer des Kampfes. 
Nach jeinem Ende fehren Alle, gleich geachtet und nicht geachtet, 
zu ihrem QTagewerf, zu ihrem Yaulthierdajein zurüd. Waffenübung 
im Frieden unter bejonderer Leitung iſt nicht befannt. 

Daß Sich weder ein Aderbauer-, noch Händler- oder 
Handwerferjtand herausgebildet hat, ift bei der geringen Be: 
thätigung all! dieſer Zweige des wirthichaftlichen Lebens begreif: 
ich; um jo jchärfer jind die Wirkungskreiſe der männlichen und 
weiblichen Thätigkeit gejchieden. Die Beitellung und Wartung 
des Feldes, die Heimjung der Früchte, ihre Zubereitung, der Be: 
juch des Marktes, jegliches Lajtenjchleppen, die Töpferei, die Pflege 
und Beaufjichtigung der Kinder — kurz, man möchte jagen, alle 
Ichweren Arbeiten find dem Werbe gebürdet, der Mann jagt, 
fijcht, Ichnigt Waffen und Schmudwerf, baut allenfalls einmal eine 
Hütte oder ein Kanu, im Ganzen ıjt er ein Tagedieb und läßt 
lieber jeine halbwüchjigen (weiblichen) Kinder für fich arbeiten. In 
Mifronefien und unter dem Fiſchervolk der Blanchebucht jind die 
Gründe zu einer Bejlerung diejer Arbeitstheilung nad) Gejchlechtern 
ichon gelegt; dort beginnt auch der Mann zu jchaffen, aber lang- 
jam, jehr langjam. Das Mißverhältniß in der Bertheilung der 
Laſten zwijchen Mann und Weib jchneidet tief in das wirthichaft: 
liche und gejellichaftliche Yeben diejer Naturvölfer ein. Der Nieder: 
gang dieſes Volksthums, das einjt wie jämmtliche Bewohner 
Ozeaniens, jchon einmal den erjten FFlügeljchlag zu einem Aufflug 
gethan hatte, erklärt ſich in feinem legten Grunde vielleicht aus 
der würdelojen Stellung, die der Frau in diefem Wirthichaftd- und 
Sejellichaftsleben angewieſen it. Die Entwidlungsgejchichte der 
Menschheit ijt die umgefehrte Bahn gegangen, indem jie das Weib 
mehr und mehr von dem harten, allen Berjönlichkeitstrieben ent: 
gegenjtrebenden Geſetz der Arbeitstheilung befreite, und jie muß 
und wird — troß des widerjprechenden Schein der Gegenwart — 
dDiejen Weg weiterwandeln, wenn immer die Menjchheit höher 
und höher jteigen joll. 


Das Wirihſchaftsleben der deutſchen Sübdfeeinjeler. 315 


Eine technifche Arbeitsgliederung iſt bei dem niederen Stand 
aller handwerklichen Thätigfeit jo ziemlich ausgejchlojien. Wo An- 
fänge einer jolchen dämmern, it jchon gelegentlid) darauf hin— 
gewiejen. Am ehejten tritt eine Scheidung der technijchen Arbeits: 
leitung noch beim Kanubau zu Tage und fehlt dort auch feines- 
wegs. Aber im Ganzen iſt jeder Einzelne der Fertiger aller feiner 
Bedürfniggegenftände, der Befriediger aller jeiner Wünjche. Da— 
gegen macht jich das Geſetz der Arbeitstheilung, das ja wechjel- 
wirfend auch ein Geſetz des Arbeitszujammenjchlujjes it — 
cooperation simple et compliquee und labour cooperation — in 
der Erjcheinung geltend, daß mitunter ganze Sippen ſich gruppen, 
um ein größeres Werf zu leijten, jo die Flechtung eines großen 
Fiſchnetzes. 

Dieſer Umſtand — wenn auch nur vereinzelt auftretend — 
iſt für die Vergeſellſchaftung der Papua um ſo bemerkenswerther, 
als ſonſt faſt jede Bedingung zu einer geſellſchaftlichen und ſtaat— 
lichen Einigung und Gliederung fehlt. Boden- und Gelände— 
beſchaffenheit ſind den Beziehungen der Menſchen untereinander in 
Neu-Guinea nur hinderlich; ja fie ſchließen einen Verkehr geradezu 
aus. Die Thierwelt, deren ſchreckliche Vertreter in anderen Zonen 
die Menſchenrudel zuerſt zu engerem Zuſammenſchluß zwangen, iſt 
dem Papua ganz ungefährlich, noch dräuen fremde, feindliche 
Menſchenmächte. So ermangelt Neu-Guinea aller Bedingungen, 
die ein Anfangſtaatengebild zeugen könnten, und in der That iſt 
ſchränkenloſer Kommunismus das einzige Kennzeichen des öffent— 
lichen und joztalen Lebens. Es giebt fein Machtanjehen, nicht des 
Alters, nicht einzelner Gejchlechter, faum das der Meltejten in den 
wichtigiten Gemeinfragen. Der einzige Bezirk in Katjer- Wilhelm: 
land, in dem die Anfänge einer jtaatlichen Gliederung und Herr: 
ichaft vorhanden jind, it das Meich des Häuptlings Maſſoi auf 
den Inſeln Tarawat und Valies. Die Schöpferin diejer Daje in 
der papujchen Finfterniß it die malatische Kultur gewejen, die auf 
den gejegneten Eilanden von Altersher eine Pilanzitätte errichtet 
hatte. Die Berührung mit der Sundarafje hat die ohnehin in Folge 
ihrer Raumbejchränftheit arbeitjameren Inſelſaſſen den Werth des 
Schaffens und Beſitzens gelehrt und der Neichjte unter ihnen ward 
„König“, wie immer aus Urzujtänden heraus Tapferfeit (jo bet den 
Germanen) oder Bejit oder (geütige) Zauberfraft die erjten 
Bildner aller Klajjenunterjchtede gewejen jind. Dieſer joztologijche 
Differenzirungsprozeß aber bedeutet den Fortichritt, — in anderen 


316 Das Wirthſchaftsleben der deutfchen Sübdjeeinjeler. 


‚sormen auch heute noch: das Beijpiel von Tarawai giebt um: 
den Fingerzeig, wie dem entwidelungsfeindlichen Kommunismus 
der Papua beizufommen jei. ‘Freilich dürfen wir nicht unterjchägen, 
dat der Malaie jenen Eilanden eine Kultur zutrug, die ihrer eigenen 
unendlich viel näher jtand, als die unjrige. Um jo jchwerer üt 
unjere Aufgabe. Wir müfjen viele Mittellinien ziehen und werden 
janften Zwang und weiſe Selbjtbejchränfung unjererjeite üben 
müjjen. Anders kann es nicht gelingen, den Papua als nützliches 
Glied in unjern Wirthichaftsbau einzureihen ; dies Ziel aber ent: 
jpricht jowohl dem Selbjtinterefje als dem der Menschlichkeit und 
Menjchbeit. 

Auch im Bismardarchipel find faum die Anfänge einer Ttaat- 
lichen Gliederung vorhanden. Das höchite joziale Gebilde iſt die 
Sippe, die den ihr urjprünglich zugefallenen Landjtreifen benamtt, 
ohne damit den Begriff eines politischen Gemeinwejens zu verbinden. 
Immerhin hat die an und für jich die Papuafultur überflügelnde 
Wirthichaftsgliederung der Neu-Pommern und Neu-Lauenburger 
ichon eine Scheidung von Reich und Arm gezeugt. Dieje bat den 
Grund gelegt zu einer Anfangbildung von Ständen, indem die 
samilienhäupter (agala), die Anführer im Kriege (luluai), 
und die Reichen (uviana) als Träger bejonderer Würde geachter 
werden. Dieje Differenzirung bat die Yandesverwaltung mit Ge: 
chi ausgenugt, um eine dauernde gejellichaftliche Gliederung, 
richterliche und politische Gewalt zu jchaffen. 

Auf den Marjhallinjeln find ebenjo, wie im Bismardarchipel 
Häuptlingswürde und Reichthum nicht unbefannt. Freilich fann 
auch dort von wirklichen jtaatlichen Gemeinwejen nicht die Rede 
jein. Eher tft dies der Fall auf den Balaoinjeln, wo eine Reihe 
von fleinen Republifen unter angejehenen Oberhäuptern jchon die 
Grundlage eines größeren Verbandes erfennen läßt. In ganz Mikro 
nejien jcheidet jich die Bevölferung in gewiſſe Klaſſen, deren Ur- 
jprung wohl auf Einwanderung von Tagalen und Negritos zurüd: 
zuführen fcheint. Alte Beziehungen zu den Vhilippinen find ja 
allenthalben zu erfennen. Auf den Ktarolinen (Ponape) weten 
alte Ruinen und Steintafeln darauf hin, dag — wahrjcheinlich doch 
— die Urahnen der jeßigen Bewohner, oder vielleicht der älteiten 
Kaſte unter ihnen jchon einmal eine höhere Entwidlungsitufe er 
reicht hatten, die indeR wieder in Verfall und Vergeſſenheit gerietb, 
ebenjo wie die Steinfolojje und Höhlenbauten der Djterinjel nad 
den beiten Forſchungen die Werfe dejjelben polynefischen Stammes 


an 


Das Birthihaftsleben der deutſchen Sübdjfeeinjeler. 317 


jind, von dem jegt faum einige Hundert jtumpf ihrem legten Tage 
entgegenfichen. Das Zeichen des Krebſes jcheint über manchen 
Eilanden der Südjee zu jtehen; Spuren des Niedergangs mehren 
jich in Fülle, je genauer man zufieht, und es lohnt wohl, einen 
Augenblick noch den wahrjceinlichen Urjachen diejes Verfalls unjere 
Aufmerkſamkeit zu jchenfen. 

Die Räthjel des Bevölferungproblems geben uns die 
Schlüſſel an die Hand. Die Thatjache der Volksabnahme in 
Hamati, in Franzöfijch-Ozeanten, in Saledonien, in Neujeeland 
iſt allgemein befannt. Man hat den Alkohol, Seuchen, Kriege, 
religiöje Mafjenopferungen, Menjchenfraß, die würdeloje Arbeits: 
vtehjtellung der Frau dafür verantwortlich gemacht. Unter allem 
dieſem jcheint der legte Grund der ausjchlaggebendjte zu jein. 
Nicht nur die langen Laftationspertoden, fondern noch viel mehr 
die durch Jahrhunderte hindurd) geübte WVerfrüppelung des Weibes 
baben jeine Zeugfraft immer mehr beeinträchtigt, fie jelbit als nur 
gebärendes und jäugendes Gejchlechtswejen entartet. Dann aber 
bat die von Gejchlecht zu Gejchlecht währende Inzucht — Die bei 
der Stleinheit jo mancher Atolle und der Abgejchlojjenheit jeder 
Dorfſchaft erflärlih it — am Ende ihre furchtbaren Folgen ge: 
zeitigt. Die Alpenthäler, in denen Nehnliches jich heute vor 
unjeren Augen abjpieit, liegen ja nicht allzu fern und auf den 
Inſeln der Siüdjee wüthet und rächt ſich die Naturwidrigfeit jchon 
jeit Jahrhunderten; denn es iſt jicher, daß die rajende Abnahme der 
Bevölferung (jo in Neufeeland) jchon eingetreten war, bevor die Weißen 
ihren Branntwein und ihr Eijen an jene Gejtade getragen hatten. 
Tas legtere hat übrigens vielfach jchlimmer gewirkt al3 der Alkohol 
und die Pſyche des Südjeeinjelers härter getroffen als jenen Magen 
der Branntwein. In Katjer-Wilhelmland und dem Bismarcarchipel 
hat der legtere glüdlicher Weije jeinen Einzug nicht gehalten und doc) 
tritt auch dort mindejtens feine Vermehrung der Bevölferung ein. Die 
häufige wirthichaftliche Not), der ausgeprägte Kommunismus, der 
Mangel an jeglicher Hervorfehrung der eigenen Berjönlichkeit, aljv 
auch derer, die dejjelben Blutes jind, mehren die Urjachen des 
Bevölferungitillftandes: Kindertödtung und Abtreibung der Leibes— 
frucht ſind leider jehr im Schwunge; der Beweggrund mag dabei 
initinftiv die Nahrungsjorge jein, und ſolch' blühende Dörfer wie 
Tarawai und Valies mit ihrer jubelnden fräftigen Kinderjchaar, 
ihren arbeitjamen, aber doc) lebensfrohen rauen und vor Allem 
ihren im Feld und auf dem Waſſer geichäftigen Männern bilden 


318 Das Wirthſchaftsleben der deutihen Südferinfeler. 


eine herzerquidende Ausnahme, leider eine jehr jeltene Ausnahme. 
Und doc muß es der Zwed einer gefunden Wirthichaftspolitif au 
jenen Schollen des Weltmeers jein, die Papua, die Melanejier und 
die Mifronejier uns und fich jelbjt zu nützlichen Arbeitern zu 
erziehen. 

Die Mittel und Wege, die zu dieſem Ziele führen, jind ın 
Kürze folgende: Die Grundbedingung eines Erfolges aller 
erzieherifchen Thätigfeit unter den Südjeeinjelern tjt die 
Befreiung des weiblichen Geſchlechts von jeinen 
Ueberbürden. 

Im Zujammenhang damit müjjen Maßnahmen für 
eine geregelte Eheſchließung und Kinderzucht getroffen 
werden und es iſt dahin zu wirfen, daß eine größere 
Miſchung des Blutes eintrete. 

In unmittelbarer Anfnüpfung an die aderbauliden 
und jeemännijchen „Fertigfeiten der Papua muß man 
ihnen Gelegenheit geben, ſich — jei es im Dienjte der 
Weißen, jei es in ihrer eigenen Wirthſchaft — unter 
planmäßiger Nußgung der Segnungen unjerer Kultur zu 
vervollfommnen. 

Das Wejentliche ijt Dabei, daß man dem Papua nur 
gegen ernjte regelrechte Arbeitsleiftung nicht gegen Eth— 
nologica und Kuriojitäten jeine eben erjt erwachte Be- 
gehrlichfeit nach Eijen, Tuch und Berlen befriedige. 

Der Lohn für joldhe von Eingeborenen geleiitete 
Arbeit muß nach Maßgabe ihrer, nicht unjerer Werth: 
voritellungen abgeihäßt, er darf jedenfalls nicht zu 
hoc) jein. 

Die beiden legten Punkte umfaſſen eigentlich die Kernfrage der 
Erziehung des Papua zur Arbeit und find doch bisher am meiſten 
außer Acht gelajjen worden. Die Kuriofitätenwuth des Werken bat 
die wirtbichaftliche Leberlegenheit des Europäers über den Schwarzen 
geradezu in das Gegentheil verfehrt. Es thut dringend noth, ın 
beiderjeitigem Interefje, nöthigenfalls von Amtswegen, einen gelinden 
Drud zu üben, wie überhaupt die Yandesverwaltung in der Er 
ziehung der Eingeborenen ihre vornehmjte Aufgabe erbliden müßte. 
Wie fie hierbei den Schwarzen ein Hort gegen mögliche Uebergrifi: 
von Pflanzern und Händlern jein joll, jo muß ihr anderjeits ein 
milder väterliher Zwang gegen ihre braunen Unterthanen unter 
allen Umständen gejtattet jein. Es iſt bezeichnend, daß jelbit von 








Das Birthihaftsleben der deutihen Eübdjeeinfeler. 319 


maßgebender jozialdemofratijcher Seite die Heiljamfeit ſolcher Ein- 
geborenenpolitif anerfannt wird. Aus Zwang wird Gewohnheit, 
aus Gewohnheit Bedürfnig und it dieſes erſt vorhanden, dann 
fönnen wir getrojt hoffen, daß die Bewohner unjerer Südjeeinjeln 
nicht gleich den Kariben der Antillen vor vier Jahrhunderten unter 
dem Einfluß einer höheren Kultur zu Grunde gehen, jondern jich 
als nügliche Glieder in das weltumjpannende Wirthichaftsgebilde 
der heutigen Menjchheit fügen werden. Die fejte ehrliche Abjicht, 
diefem Ziele zuzuftreben und in diefem Sinne Bildung und Ge: 
jittung über unjere Tochterländer, über den ganzen Erdball zu 
breiten, fann allein einer großen jtolzen Nation, fann allein des 
deutfchen Volfes würdig jein. 


Voltaire als FFriedensvermittler. 


Yon 
Dtto Herrmann. 


So befannt es iſt, daß der gefetertite Cauſeur an Friedrichs II. 
Tafelrunde in Sansjouct zugleich als Dichter, Philojoph und 
Gejchichtsjchreiber ich ausgezeichnet hat, jo wenig hört man da- 
von, daß er auch in der Politif eine Rolle gejpielt und jpeziell 
während des jiebenjährigen Strieges jeine Hand mehrfach dazu ae 
boten hat, den Frieden zwijchen Preußen und Frankreich wieder: 
herzujtellen. Und doch it es einerjeits jehr begreiflich, dat Xoltaire 
ji) von dem jtillen Hafen der Dichtkunit auf das hohe Meer der 
Bolitif Hinauswagte, da ihn ja viele, zum Teil enge Beziehunger 
mit Fürſtlichkeiten, StaatSmännern und Günjtlingen Deutichland: 
und Frankreichs verbanden. Andrerjeits dürfte grade jeine Thätigken 
als Friedensvermittler, wenn jie auch jchlieglich ohne Erfolg blieb, 
wegen der ihr zur Grunde liegenden Motive und wegen der Auf— 
nahme, die fie namentlich bei Friedrich II. fand, nicht uninter: 
ejiant jein. Es ijt daher gewiß anzuerfennen, daß ein franzöſiſchet 
Hiltorifer, der Herzog von Broglie, in jeinem fürzlich erjchienenen 
Buche: Voltaire avant et pendant la guerre de sept ans dieſen 
Gegenſtand aufs Korn genommen bat. Yeider hat aber der Herzog. 
welcher Mitglied der Pariſer Akademie it und bereitS mehrer: 
große Werfe über das Fridericianiſche Zeitalter veröffentlicht bat, 
trot aller den Franzojen eigenen Klarheit und Eleganz der Dar 
jtellung in der vorliegenden Frage fein Necht, das letzte Wort ju 
beanjpruchen. Er hat nämlich) mit gleichfalls echt Tranzöfticer 
Sorglofigfeit eine jchon gedrudte Hauptquelle für die Friedens— 


Voltaire als Friedensvermittler. 321 


verhandlungen überjehen, die wichtiger iſt als jeine Mättheilungen 
aus ungedrudten Minijterialakten, und it auch nicht immer den 
Regeln der Chronologie gefolgt. So mußte er begreiflicher Weije 
mehrfach zu theils ungenügenden theils jchiefen Rejultaten fommen. 
Wir wollen daher im Folgenden den jo interefjanten Gegenjtand 
einer erneuten Betrachtung unterwerfen, indem wir verjuchen, die 
Fehler des franzöfiichen Autors nicht bloß aufzudeden, fondern 
auch zu repariren. — 

Schon vor dem Ausbruch des jiebenjährigen Krieges hatte 
Voltaire zweimal in die Beziehungen zwijchen Preußen und Frank— 
reirh einzugreifen gejucht, und zwar im Direften Muftrage der 
franzöfiichen Regierung: 1740 jollte er, unter dem Vorwande, den 
jungen König Friedrich zu feiner Thronbefteigung zu beglüd- 
wünjchen, ihn über jeine Pläne zur Eroberung Schlefiens aus» 
borchen; 1743 hatte er den Auftrag, den preußifchen König 
zum Wiederanjchluß an das Bündnig mit Ludwig XV. zu bewegen. 
Aber Friedrich, jo jehr er den Dichter Voltaire bewunderte, wollte 
doch von dem Spion Voltaire, den er durchjchaute, nichts willen 
und ließ ihn daher unverrichteter Weije abziehen. Wenn Broglie 
daher meint, die franzöfiiche Regierung hätte auch im Jahre 1750, 
als Voltaire der Einladung Friedrichs nach Berlin folgte, ihn als 
Spion verwenden jollen — Richelieu und Mazarin hätten dies 
jiher getan —, jo jcheint mir unjer Autor auf dem Holzwege zu 
jein; denn Voltaire würde damals, auch wenn er jich Mühe gegeben 
hätte, aus jeinem föniglichen Gönner ebenjowenig über dejjen 
politifche Anfichten herausgepreßt haben wie 1740 und 1743. 

Der Aufenthalt Boltaires am Berliner Hofe dauerte nur drei 
Sahre. Seine Habjucht, wie fie fich in der Einjchmuggelung in 
Preußen verbotenen ſächſiſchen Bapiergeldes zeigte, und jein 
Iitterarijcher Ehrgeiz, wie er in jeinem Streit mit Maupertuis, dem 
Präjidenten der Berliner Afademie, zu Tage trat, verjtimmten den 
großen König gegen den großen Dichter. Als dem Könige nun 
vollends eine Meußerung Boltaires hHinterbracht wurde, er babe 
feine Luft mehr, Friedrichs „schmugige Wäjche zu wajchen“, d. h. 
jeine franzöfijchen Verſe zu forrigiren, da erflärte Friedrich: „Man 
drüdt die Orange aus, dann wirft man fie weg“ und ertheilte dem 
gentalen Franzoſen, wenn auch ungern, die erbetene Erlaubniß zur 
Abreife. Voltaire beging nun nod) die Unvorfichtigfeit, einen Band 
Gedichte des Königs mitzunehmen, wurde deshalb in Frankfurt am 
Main durch den preußijchen Nefidenten, Baron Freytag, feſtge— 

Vreußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 21 


322 Roltaire als Friedensvermittler. 


halten und mußte bier, als er einen Fluchtverſuch wagte, ſich einem 
Arrejt unterwerfen, in Folge dejjen er nach jeinem eigenen Zeugnih 
franf wurde und aus dem ihn, nach Ablieferung jener Gedichte, 
nicht die Vermittelung jeiner Negierung, an die er ſich vergeben: 
wendete, jondern erjt eine Kabinetsordre aus Berlin befreite. 


Mochte Voltaire, wie Friedrich glaubte, mit jeiner Strankbat | 


nur Komödie gejpielt oder mochte die ihm widerfahrene wenig rüd: 
fichtsvolle Behandlung wirklich jo jchwer getroffen haben, die Krän- 
fung wirfte jedenfall jo lange in ihm nach, daß er vor Begunr 
des jiebenjährigen Krieges — er hatte fich inzwijchen auf ein Yan) 
gut in der Nähe von Genf zurüdgezogen — zunächſt mit einer ge 
wijjen Genugthuung jeinen früheren Gönner einer übermächtiger 


Allianz gegenüberjtehen jah. Er jchrieb damals an eine }Freundın | 


der Bompadour, eine Gräfin Yübelburg: „Sie erwarteten wohl nıdt 
daß Frankreich und Dejterreich eines Tages Bundesgenofjen ſein 
würden. So einjam und der Welt abgejtorben ich lebe, jo bin ıd 
doch übermüthig genug, mich über dieſes Bündniß zu freuen." 
Einige Tage jpäter fragte er die Gräfin, ob Maria Therejia Bor 


bereitungen zur Wiedereroberung Schlejiens treffe. „Der Moment | 


iſt jegt günjtig hierfür; wenn fie ihn vorübergehen läßt, wird er 
nicht wiederfommen. Freuen Ste ich nicht zu jehen, wie ze 
‚rauen, zwei Saijerinnen (Maria Therefia und Elijabeth) mi 
unjerm großen König von Preußen, unjerm nordijchen Salome 
Fangball jpielen? . . Und würden Sie jich nicht freuen, Salomı 
in Wien am Hofe der Königin von Saba zu jehen?“ 

In dieſer Zeit juchte Friedrich II. das freundjchaftliche Per: 
hältnig mit Voltaire wieder anzubahnen, indem er ihn zwar nid 
perſönlich — Dazu war er zu vorfichtig — aber durch jenen 
Sekretär und Vorlejer, den Abbe de Prades, zum Bejuch bei jıd 
aufforderte; er reichte ihm wieder die Hand, mit der er ihn, nad 
Broglies Ausdrud, furz vorher „jo brutal geohrfeigt hatte“. Ten 
Grund für dieſes Entgegenfommen jieht Broglie darin, daß Fried 
rich in Frankreich populär bleiben wollte, „in Theatern um 
Akademien beweihräuchert”, und daher „den furchtbaren Spötter‘ 
auf jeiner Seite zu haben wünjchte; mir jcheint eher das leiden: 
ichaftlihe Bedürfnig des Königs nach der geiftvollen Plaudern“ 
Voltaires den Anjtoß gegeben zu haben. Mag dem jein, wie ıhm 
wolle: der Dichter lehnte ab, er zog es vor, wie er jagt, rubig au 
jeinem von den Alpen überragten Yandgute mit jeinen „Büchern 
Gärten, Weinbergen, Pferden, Kühen“ weiter zu leben. Ti 


Voltaire als Friedensvermittler. 323 


Schwärmerei Voltaires für das Landleben wird ihn aber wohl 
ebenjowenig zu jeiner Ablehnung bejtimmt haben wie „die Wer: 
gänglichkeit der Ehrenjtellen“, die er an anderer Stelle vorjchüßte; 
es war vielmehr jedenfall® noch ein jtarfer Reit von Empfindlich- 
feit gegen jeinen früheren Mäcen in ihm zurüdgeblieben. Wie 
groß dieſe Empfindlichfeit war, fünnen wir aus einer Aeußerung 
Voltaires entnehmen, welche in die Zeit nach Friedrichs erjten Er— 
tolgen im jiebenjäyrigen Kriege fällt: „Diejer Teufelsferl von 
Zalomo jcheint das Uebergewicht zu befommen. Wenn er jtets 
alüclich und jtegreich bleibt, wird meine ehemalige Vorliebe für ihn 
gerechtfertigt werden; wird er gejchlagen, jo werde ich gerächt wer: 
den.“ Zugleich bat er den Marjchall von Nichelieu, jeinen „Heros“, 
wenn er nach Frankfurt fäme, ihm von Dort die Uhren des 
ſchurkiſchen Baron Freytag mitzubringen. 

Ueberwog hier noch das Gefühl der Rache, jo wurde dajjelbe 
vollfommen in den Hintergrund gedrängt, als Friedrich II. nach 
der Schlacht bei Kolin und ihren verderblichen Folgen in den Ab— 
grund des Berderbens hinabgejtürzt zu jein jchien: Voltaires ganzes 
Beitreben ging jetzt dahin, feurige Kohlen auf das Haupt des 
preußischen Königs zu jammeln. Er jah wie Broglie, freilich 
die ‚sarben etwas jtarf auftragend, bemerft — mit einem Schlage 
die Gelegenheit, fich durch einen Mft großen Edelmuthes berühmt 
zu machen, indem er den, welcher ihn furz zuvor unterdrüdt hatte, 
jegt aber „gedemüthigt zu jeinen Süßen lag“, vom gänzlıchen 
Untergang rettete, und zugleich mit Glanz wieder in den Kreis 
diplomatijcher und politischer Angelegenheiten einzutreten, von dem 
er zu jeinem Schmerze ausgejchlofjen worden war. Es war aljo 
nicht jowohl jelbitloje Dinneigung zu Friedrich oder ein Gefühl 
des Danfes für die jchöne Zeit, die er an der Spree und Havel 
in den föniglichen Schlöjjern verlebt hatte, als vielmehr perfönliche 
Gitelfeit, die Voltaire bewog, jett die VBermittlerrolle zu über- 
nehmen. 

Er wandte ſich zuerſt nicht an Friedrich direkt, ſondern an ſeine 
Schweſter, die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, deren enge 
Beziehungen zu ihrem königlichen Bruder er kannte und mit der er 
auch ſchon vorher forrejpondirt hatte. „Geſtatten Ste mir“, ſchrieb 
er ihr, wahrjcheinlich im Juli 1757,*) „dab ich Ihnen eine meiner 
Ideen mittheile. Sch bilde mir ein, daß der Marjchall von 

*) Die Daten des Briefmehjels zwifchen Voltaire, Wilhelmine und Friedrid) 
find in dieſer Zeit ſehr unficher. 
21* 


324 Voltaire als Friedensvermiltler. 


Nichelieu jich gejchmeichelt fühlen würde, wenn man ſich an ibn 
wendete. Es iſt meiner Anficht nach nothwendig, ein gemifjes 
Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, und ich glaube, daß es für ihn 
feicht jein würde, das Interejje jeines föniglichen Herrn mit dem 
Interefje jeiner Verbündeten und dem Ihrigen zu verjchmelzen. 
Lajjen Sie ihn gelegentlich jondiren: Niemand fann geeigneter 
jein als der Marjchall von Richelieu, eine ſolche Miſſion zu er 
füllen. Ich jpreche von diefen Dingen nur in der Vorausjetuna, 
daß Ihr Bruder, der König, gezwungen würde, Frieden zu jchlieken, 
und um Sie darauf aufmerfjam zu machen, daß er Ihnen in 
diefem Falle gewiß zu großem Danfe verpflichtet wäre, jelbit 
wenn die Umjtände ihn nöthigen jollten, Opfer zu bringen.“ 

Zu gleicher Zeit jchrieb Voltaire auch jelbit an Nichelieu, 
jeinen „Heros“, der im Jahre 1756 die Inſel Minorfa den Eng: 
ändern entrifjen hatte und gerade jetzt als Nachfolger des 
Marſchalls d’Ejtrees zum Kommandirenden der franzöjiichen Armee 
im nördlichen Deutjchland ernannt wurde. Um Politif befümmere 
er jich zwar, jo bemerkt er in feinem Brief an Nichelieu mit offen: 
barer Berjtellung und ich jelbjt gleich darauf widerlegend, genau 
ebenjo wenig wie um die Streitwagen der alten Aſſyrer, er babe 
aber doch nicht umhin gekonnt, der Marfgräfin von Bayreuth) den 
Wunjch vorzutragen, daß er, Nichelieu, die Rolle eines Feldherrn 
mit der eines Schiedsrichter vereinigen möge. Dieje jeine der 
jei fein Rath, jondern eben nur ein Wunjch, der Niemanden 
fompromittiren fönne, und der nur jeinem Eifer für die Perjon 
und den Ruhm des Marjchalld entiprungen jet. 

Der Rath Voltaires fiel jowohl bei Friedrich II., der durch 
jeine Schweiter informirt worden war, wie auch bei dem Marjchall 
von Nichelteu auf fruchtbaren Boden. Friedrich jchrieb am 6. Sep: 
tember 1757 einen Brief an Nichelieu, „den Mann, der die Iniel 
Minorfa troß ungeheurer Schwierigfeiten erobert hat, und der auf 
dem Punkte jteht, Niederjachjen zu unterwerfen“. Es handele ih 
um die „Kleinigkeit“, Frieden zu ſchließen, jo erflärte der König 
vorjichtiger Weije in diefem Briefe, um jeine Nothlage nicht ein- 
räumen zu müſſen. Er jet bereit, die alte, jechzehnjährige Ber: 
bindung mit Frankreich wieder aufzunehmen. Wenn Richelieu in 
Bezug auf die VBorjchläge, die er ihm mache, feine Injtruftionen 
habe, möge er jtch welche erbitten und den König von ihrem 
Inhalt in Kenntniß jegen. Der Marjchall antwortete hierauf, 
da er mit einem Helden wie Friedrich lieber verhandle als kämpfe: 


Voltaire als Friedensvermittler. 325 


da er in der That ohne Injtruftionen fei, werde er einen Kourier 
abfertigen, um die franzöfiiche Negierung von den „Eröffnungen“ 
des Königs zu benachrichtigen. 

Worin bejtanden dieje „Eröffnungen”, fragt Broglie, und be- 
antwortet die Frage dahin, daß wir leider gar nichts hierüber 
wüßten, weil „feine jchriftlihe Spur“ davon erhalten jei. Ein 
Irrthum des franzöfiichen Autors: nicht bloß eine, ſondern viele 
jchriftliche Spuren über dieſe Friedensverhandlung find erhalten. 
Weshalb hat Broglie diefe Spuren nicht entdedt? Weil er, wie 
wir oben jagten, mit echt franzöfiicher Sorglofigfeit die Haupt- 
quelle für alle politijchen Verhandlungen Friedrich IL, jeine 
Korrejpondenz, nicht benußt hat. Dieje „Politiſche Korrejpondenz 
‚sriedrichd des Großen“, welche jchon vor einigen Jahren bis zum 
Ende des jiebenjährigen Krieges geführt it, it ein monumentales 
Urfundenwerf gleich der Correspondance de Napoleon LJ., und es 
erjceheint uns Deutjchen fajt unbegreiflich, wie ein in Franfreich 
und über die Grenzen Frankreichs hinaus mit Recht berühmter 
Hiltorifer, der ſich Hauptjächlich mit der Periode Friedrichs II. 
bejchäftigt, jte überjehen fonnte. Der Fehler ijt um jo jchwerer 
verjtändlich, weil Broglie in jeinen früheren Werfen die Korrejpondenz 
benußt, ja jogar im vorliegenden Buche über Voltaire einmal 
zitirt bat. 

Nach der „Politischen Korreſpondenz“ ſchickte Friedrich am 
6. September den Kammergerichtsrath) von Eidjtedt, der Spezial: 
gejandter an den Ddeutjchen ‚sürjtenhöfen war, mit jeinem oben 
erwähnten Briefe und einer bejonderen Injtruftion an den Marjchall 
von Nichelieu. Auch in diejer Injtruftion iſt übrigens von feinen 
‚stiedensvorjchlägen des Königs die Rede; Eidjtedt jollte vielmehr 
danach, ähnlich wie Friedrich es in jeinem Briefe that, den 
Marjchall auffordern, jich „zu äußern“, falls er zu Vorjchlägen 
ermächtigt wäre, wenn nicht, jogleich an jeinen Hof zu jchreiben. 
Die Abjicht des Königs ging nach der Inftruftion dahin, „daß 
Sch den Frieden antragen lajje und durch Euch den Marechal 
über Die Conditions und Propofitiong, wie man jolchen zu jchließen 
vermeinet, jondiren laſſe.“ Der König folgte dem Nathe Voltaires 
aljo ganz genau, er bediente jich dejjelben Ausdrudes „jondiren“, 
den jener in jeinem Briefe an die Marfgräfin von Bayreuth an- 
gewendet hatte. Die Idee des Dichters fand demnach eine jehr 
günjtige Aufnahme bei ‚Friedrich, wenn er ihr auch nicht jofort 
folgte, jondern erſt dann, als jeine militärische Lage durch den Sieg 


326 Voltaire als Friedensvermittler. 


der Ruſſen bei Großjägerndorf jic noch mehr verjchlimmert hatte.*) De 
„Eröffnungen“ Friedrichs aber, von denen Nichelieu in feiner Ant- 
wort }pricht und die Broglie joviel Kopfzerbrechen machen, ent: 
halten, wie gejagt, feine detaillirten Vorſchläge zum Frieden. 

Am 20. September (Bolit. orrejpondenz Bd. 15, Nr. 935% 
überjandte Eidjtedt dem Könige nebjt der obigen Antwort Richeliu: 
einen Bericht über zwei Unterredungen mit dem Marſchall. Tu: 
nach hatte Ddiejer auch mündlich) die baldige Abjendung eine 
Kouriers nach Verſailles zugefichert, zugleich aber betont, daß de 
Friedensſchluß mit Preußen ohne Opfer diejes Staates bei jene 
Regierung auf Schwierigfeiten jtoßen werde, da Maria Thereitı 
den Franzoſen die öfterreichijchen Niederlande (etwa das heutic 
Belgien) verjprochen habe, falls jie ihr bei der Wiedereroberum 
Schlefiens helfen würden. Eickſtedt erhielt nun Befehl, wen 
Richelieu von Abtretungen oder dergleichen jpräche, „beicheiden‘ 
hervorzuheben, „daß Vorjchläge dieſer Art nicht das geeignete Mittel 
wären, um den Frieden in die Wege zu leiten;“ der Marſchal 
möge fich erinnern, was Ludwig XIV. 1672 in Utrecht paſſite 
(mit der Einnahme von Utrecht endete der Siegeszug Ludwigs AN. 
in Holland). Bon Abtretungen aljo wollte der König jett, an 
24. September, nichts wifjen, obwohl er noch furz vorher, am 
18. oder 19. September, jeiner Schweiter Wilhelmine gejchrieben 
hatte, er jehe voraus, „daß die beiten Bedingungen, die man von 
diefen Leuten (den Franzoſen) erhalten wird, demüthigend un 
jchreeflich jein werden.“ Aber das war nur der Ausdrud em! 
momentanen, bis aufs Höchite gejteigerten Niedergejchlagenbeit; in 
Allgemeinen hielt Friedrich, bei allem Wechjel jeiner durd du 
Kriegsglüd bedingten Stimmungen, von nun an mit eier 
Energie an dem Grundſatz fejt, lieber zu jterben als einen faulen 
Frieden, einen Frieden mit Yandabtretungen, zu jchließen. 

Die von dem preußiichen Könige ungeduldig erwartete Antwort 
der franzöfifchen Regierung traf um die Mitte Oftober endlich an: 
der Hof von Berjailles lehnte es ab, mit Preußen allein, ohn 
Zuziehung feiner Verbündeten, noch dazu bloß durch einen Genen 
über den Frieden zu verhandeln. Nach dem Berichte Eicjtedt! 
hatte Nichelieu diefer von ihm vorgelejenen Antwort jeines Hofet 
noch mündlicy hinzugefügt, ohne die Zeſſion Schlejiens ſei M 
Friede unmöglich. Damit war das Band der Verhandlung zunät 


*) Vergl. B. Bolz: Kriegführung und Rolitit König Friedrichs des Grob! 
in den erjien Jahren des ficbenjährigen Krieges, Berlin 1896. 


Voltaire als Friedensvermittler. 327 


durchichnitten, denn von Abtretungen wollte der König ja eben 
nichts wiſſen. Er war aber nicht verzweifelt, jondern hoffte, wie 
er jeiner Schweiter am 17. Oftober jchrieb, daß Die Franzoſen 
ihre Unverſchämtheit und, ihren Stolz noch bedauern würden. 
Drei Wochen jpäter jchlug er fie bei Roßbach. — 

Unmittelbar nachdem dieſe durch ihn veranlaßte erfte 
‚riedensvermittlung gejcheitert war, arbeitete der unermüdliche 
Voltaire bereits an einem zweiten Plane, um Frankreich und 
Preußen zu verjöhnen. Hatte er jic) das erite Mal eines Generals 
als Mittelsperjon bedient, jo wollte er diesmal einen Staatsmann, 
den mit der Markgräfin Wilhelmine befreundeten früheren franzö— 
jiichen Minister des Aeußeren, den in Lyon lebenden alten Kardinal 
Tencin, in Aftion treten lajjen. Voltaire wandte jich nicht direkt 
an Tencin, der ihn früher einmal bei einem Bejuche etwas ungnädig 
empfangen hatte, jondern an den Bankier Trondin in Lyon. Am 
20. Oftober jchrieb er ihm, er jei der Marfgräfin jehr zugethan, 
babe ihrem Bruder „angehört“ und finde es nicht in der Ordnung, 
dag man dem Haufe Dejterreich noch mehr Macht zufommen lafjen 
wolle, als es jelbit unter Kaiſer Ferdinand II. bejejien habe. 
Der König von Preußen müſſe freilich Opfer bringen, weshalb 
aber ihn jeines ganzen Befiges berauben? Welche jchöne Wolle 
fünne Ludwig XV. fpielen, indem er die für Frankreich jo ruhm: 
volle Zeit des weitphälischen Friedens erneuere! Da nun die Marl: 
gräfin in freundichaftlichen Beziehungen mit einer Perſon jtehe, 
die Tronchin oft jehe — Voltaire meint den Kardinal Tencin — möge 
jie an den König von Frankreich einen „rührenden“ Brief jchreiben 
und „die Berjon“ möge dann diejen Brief dem Könige mundgerecht 
machen. Ia „die Perjon“ — Voltaire vermeidet es, Tencins 
Namen zu nennen, um jich nicht bloß zu jtellen — die Perſon 
fönnte vielleicht jpäter jogar dem zu berufenden Friedenskongreſſe 
präfidiren und jo ihre bisherige Zurüdgezogenheit mit dem ehren 
volliten und edeliten Amte, welches es auf der Welt gebe, ver: 
taujchen. 

Dem alten Kardinal, einem Gegner des franzöftich = öjter- 
reichiſchen Bündnifjes, jchmeichelte die ihm zugedachte Nolle nicht 
wenig. Er war jogleich bereit, den Brief der Marfgräfin zu über: 
mitteln und empfahl ihr nur noch durch Voltaire, in diefem Briefe 
auch dem Abbe Bernis, dem derzeitigen franzöſiſchen Miniſter des 
Auswärtigen, einige Nojen auf den Weg zu itreuen, da er großen 
Einfluß in Verjailles habe. 


328 Voltaire als Friedensvermilttler. 


Bis hierher fünnen wir Broglie folgen. Seine weitere Dar: 
jtellung der zweiten Boltairejchen Friedensverhandlung it aber 
durchaus lücken- und fehlerhaft, weil er wieder die „Politiſche 
Korrejpondenz“ nicht eingejehen und auch die Daten verwirrt hat. 
Er nimmt an, die Boltaire-Tencinjche Friedensvermittlung je 
hauptjächlich durch Friedrichs Steg bei Roßbach und jeine darauf 
geitügten Ansprüche durchfreuzt worden; in Wahrheit fällt aber 
der größere Theil der Verhandlung — den Broglie gar nidt 
bringt — erjt, wie wir jehen werden, in die Zeit nad) diejer Schladt 
(5. November 1757). 

Nachdem Boltaire am 27. Oftober die Marfgräfin von jeiner 
neuen Idee in Kenntniß gejeßt, wandte fich dieje, wir wifjen nicht, 
an welchem Tage, aber doch frühejtens in den eriten Tagen dei 
November, an ihren Bruder mit der Bitte, ihr jeine Abfichten 
mitzutheilen und welche Antwort fie Voltaire geben jolle. Friedtich 
beſchied (13./14. November) die Markgräfin dahin, es jei ihm 
erwünscht, jich im Fall der Noth eine Hinterthür aufzuhalten, er 
dürfe ſich das aber nicht merfen lajjen. Wilhelmine jchloß hieraus 
jehr richtig, daß der König gegen ihren Briefwechjel mit Voltaire 
nicht8 einzuwenden habe, wenn jie den Anjchein vermeide, al: 
handle jie in jeinem Auftrage. Sie jtellte deshalb am 23. No 
vember Voltaire den Brief für Tencin in Ausjicht; dieſen Brief 
jelbjt hat fie, wir willen nicht aus welchen Gründen, erjt am 
27. Dezember abgehen lajjen, nachdem ihr Bruder ihr noch zuvor 
(18./19. Dezember) den Wunſch zu erfennen gegeben, zu 
willen, „wie man in ‚sranfreich über den Frieden dent.‘ 

Alfo nicht die Schlacht bei Roßbach hat die Tencinjche Ber: 
mittlüng jcheitern lafjen, jondern vielmehr ein von Broglie jelbit 
angeführter, den franzöfiichen Minifterialakten entnommener Befebl 
des Abbe Bernis an Tencin, ſich nicht um Dinge zu befümmern, 
die ihm nichts angingen, und der Marfgräfin höflich, aber ablehnen? 
zu jchreiben. Der arme Kardinal mußte das Konzept zu Diejem 
Schreiben, nachdem es Voltaire begutachtet, aud) Bernis vorlegen, 
der noch einige Ausdrüde dejjelben veränderte, die zuviel Ent: 
gegenfommen für Friedrich verriethen. 

So verlief Voltaires Vermittlung mit Hilfe des Politiker? 
Tencin ebenjo ergebnilos wie die mit Hilfe des Generals Kichelieu; 
jie hatte aber außerdem noch für den ehrgeizigen Dichter ein un 
angenehmes Nachjpiel im Gefolge. Frankreich jchwärmte damals 
für den Helden von Roßbach, der mit jeinem fleinen Heere fich jo 


Voltaire als Friedensvermittler. 329 


unvergängliche Yorbeeren erworben hatte. „Das ganze Königreich‘‘, 
jagt Bernis in jeinen Memoiren, „war preußijch geworden, unjere 
Armeen waren preußijch, jelbjt mehrere unjerer Minifter wären es 
gewejen, wenn jie gewagt hätten, die Maske abzuwerfen, und 
unjer Bündnig mit Dejterreich und Rußland wurde mehr in Paris 
als in London befrittelt.“ Da zu den Unzufriedenen bejonders die 
Itterarijchen Freunde und philojophiichen Glaubensgenofjen des 
Königs von Preußen gehörten, jo geriet) Bernis auf den Verdacht, 
daß Voltaire die Vermittlerrolle nur deßhalb übernommen habe, 
um jich bet jeinem alten Gönner, dem Feinde Frankreichs, wieder 
in Gunſt jeßen und zu ihm zurücfehren zu fünnen. Bernis hatte 
früher als junger Abbe und Ffleiner Verſemacher mit Voltaire und 
einem gewiſſen d'Argental in einem fröhlichen, literariichen Klub 
verkehrt und jich dabei wegen jeines wohlgenährten Ausjehens den 
Spignamen „Babette“ erworben; jet aber war er der zugefnöpfte 
Herr Minijter, der von früheren Scherzen nichts mehr wijjen wollte 
und dem Dichter jeine Anfnüpfungsverjuche mit dem Feinde jehr 
verübelte. Da er auf VBoltaires Briefe nicht antiwortete, ſo wandte 
jich Diejer nun in heller Verzweiflung an d’Argental mit der Bitte, 
ihn „bei jeiner lieben Babette* zu rechtfertigen. „Zerſtören Sie 
den Argwohn, daß ich mich noch für den Mann interejjire, über 
den ich mich jo jehr zu beflagen habe.“ Endlich ließ ſich Bernis 
erweichen, den Betheuerungen des Dichters zu glauben, und Vol: 
tatre jandte ihm nun einen feurigen Danfesbrief, welcher jchloß: „Ver: 
zeihen Sie dem alten Schweizer jein Gejchwäß, und möge Eure 
Eminenz ihm daſſelbe Wohlwollen bewahren, mit welchem die jchöne 
Babette ihn beehrte.‘ 

Wir fommen jet zu dem dritten und Schlußafte des Dramas: 
Voltaire als Friedensvermittler; er it länger als die beiden vor: 
angehenden Akte, endet aber ebenjo wie jie mit einem Fiasko des 
Helden. Zu jeinem Hauptmitjpieler hatte der Dichter in dieſem 
dritten Akte den Miniiter Choiſeul, wie im erjten Nichelteu und im 
zweiten Tencin. Unjer Autor Broglie muß, um im Bilde zu bleiben, 
diefen Akt nur halb gelejen haben, denn jeine Erzählung davon, 
jo hübjch fie klingt, enthält noch mehr Lücken und Fehler als jeine 
früheren Auseinanderjegungen. 

Nach der Schlacht bei Kunersdorf, im September 1759, nahm 
Voltaire, nad) fajt zwetjähriger Pauſe, zuerit wieder einen Anlauf, 
ſich dem preußifchen Könige als ehrlichen Makler für den ‚srieden 
in Erinnerung zu bringen. Aber die Folgen diejer Schlacht waren 


330 Boltaire ald Friedenspermittler. 


jür den König bei Weitem nicht jo verderblich als diejenigen da 
Niederlage bei Kolin. Die Nujjen wagten ihn bei Beuthen a 
der Oder nicht anzugreifen, jondern zogen ſich nach Polen zurüd: ; 
die Dejterreicher, welche Dresden erobert, hoffte der König durc 
Entjendung des Finckſchen Korps jchnell nach Böhmen zu werten 
um dann Dresden zurüdzuerobern. So lehnte er Voltaires Ar | 
träge zunächſt ab: er wiſſe, welches Unglüd er erlitten, aber dx | 
Schlaht bei Minden und der Berlujt Kanadas müßten aud dı 
Franzoſen vernünftig machen; möge doc Voltaire den Frieden ge 
nießen, den er bejige. Bald darauf aber erlitt das preußiſche Her | 
nicht minder wie der preußiiche Waffenruhm eine jchwere Einbuße 
indem eben jenes Finckſche Korps in offenem Felde die Wafter 
itredte. Der König fonnte nun weder die Dejterreicher aus Zadia 
vertreiben noch Dresden zurüderobern, und jeine Ausjichten für der 
fommenden Feldzug gejtalteten jich jehr trübe. Als Daher ir 
franzöſiſche Dichter zu Beginn des Jahres 1760 mit neuen Friedens 
erbietungen an ihn herantrat, ging er, wie wir jehen werden, ei: 
darauf ein. 

Voltaire hatte jich furz zuvor, im November 1759, durd | 
jeinen Freund d’Argental dem Herzog von Choijeul, Bernis’ Nad | 
folger al$ Premierminiſter, der ihn als Dichter jehr hoch jchäste 
obwohl er jelbit nicht, wie jein Amtsvorgänger, poetijcher Dilettant 
war, und der jeiner Hilfe im Kampfe gegen die Jejuitenparter be 
durfte, auch als politischen Agenten zur Verfügung gejtellt. Cr 
hatte Argental, „jeinen Schugengel‘“, flehentlich gebeten, den 
Herzoge Folgendes vorzujtellen: „Voltaire jteht in regelmäßiger 
Briefwechjel mit Luc“), obwohl er jehr aufgebracht gegen ihn ſein 
darf und muß, und er wird diefen Verfehr, mit weiterer Unter: 
drüdung jeiner Empfindlichkeit, um jo lieber fortjegen, wenn er 
dem Staate damit einen Dienſt erweilen kann.“ Er jtehe ferner ın 
Beziehungen mit mehreren fleinen deutjchen Fürjtenhäujern (Pral;, 
Württemberg, Gotha) und habe Freunde in England. Er könne 
überall hinreifen, ohne den mindejten Verdacht zu erregen. So 
möge man jich denn jeiner, wie ehemals des Abbe Gauthier vor 
dem Utrechter Frieden, als Agenten bedienen, um die Würde der 
Krone nicht bloßzuitellen, wie eine Jagdgejellichaft durch einen 
Piqueur erit das Yager eines Wildes umgehen laſſe, bevor fie ſich 
zum Stelldichein begebe. 











*) Unjauberer Beiname Friedrichs II. 


2 


Voltaire als Friedensvermitiler. 331 


Voltaire erzählt, daß jeine Bitten größeren Erfolg hatten, 
als er jelbit zu beffen wagte. Choiſeul habe ihn zum Diplo: 
matiſchen Kurier gemacht und ihm mehrere „ojtenjible‘ Briefe fr 
‚sriedrich II. überjandt, die jo abgefaßt waren, daß Defterreich 
gegen die franzöfiiche Negierung nicht mißtrauiſch werden fonnte. 
Sa, er habe jogar von dem preußischen Könige einen förmlichen 
‚sriedensentwurf erhalten, deſſen Bedingungen allerdings wenig 
annehmbar gewejen jeien. 

Nach Broglie verdient diefe Erzählung feinen Glauben. 
Voltaire habe ſich hier eine Bedeutung beigelegt, die ihm nicht 
zufomme, und die ganze Berhandlung zwijchen Friedrich Il. und 
Choiſeul jet nicht jo „ernithaft‘ gewejen, wie der Dichter glauben 
machen wolle. Von jenen „ojtenjiblen‘ Briefen, behauptet Broglie, 
jet feiner mehr erhalten. Gine Spur von dem Antwortjchreiben 
Friedrichs finde ſich zwar in den Briefen an die Herzogin von 
Gotha, aber in einer „geheimnißvollen“ Sprache und unter fingirten 
Namen, was die Kenntniß der Verhandlungen „unmöglich“ mache. 
Bisweilen entjchließe jich Friedrich wohl dazu, jelbit an Voltaire 
zu jchreiben, aber dann gejchehe es in Verſen und mit offenbarer 
Verjpottung des Dichters. Nachdem jich der König von Preußen 
eine Zeit lang, jagt Broglie, mit einem „Spiele“ bejchäftigt hatte, 
welches ihm im Grunde genommen „Eindiich‘ erjcheinen muhte, 
warf er plöglich die Karten weg, da der „unglüdliche Anfang‘ 
des Feldzuges von 1760 ihm nicht mehr erlaubte, jeine Zeit „mit 
Scherzen zu verbringen“; am 1. Mai 1760 erklärte er Voltaire, 
die Waffen erſt nach drei Feldzügen niederlegen zu wollen. 

Wenn an diefen Behauptungen unjeres Autors faum ein 
wahres Wort ift, und wenn er von den damals gepflogenen Wer: 
handlungen gar nicht mitzutheilen weiß, jo liegt der Grund hier— 
für eben wieder -darin, daß er es nicht der Mühe für werth ge— 
halten hat, einen Blid in die „Politiſche Korrejpondenz Friedrichs 
des Großen‘ zu werfen. Nach dem 19. Bande derjelben, welcher 
genügende Zeugnijje enthält, um Perſonen und Dinge far zu 
beurtheilen, joll in Folgendem das dritte Stadium der Voltaire: 
ihen Friedensvermittlung dargeſtellt werden, wobei ſich Gelegen— 
heit finden wird, Broglies falſche Anſichten, namentlich ſeine ver— 
kehrte Auffaſſung von der Politik Friedrichs II. zu berichtigen. 

Zunächſt lieg Choiſeul im Januar 1760 dem preußiſchen 
Könige durch Voltaire die Mittheilung zugehen, Frankreich wünjche 
jehnlichit, fich mit England und Preußen zu vertragen, jelbjt wenn 


332 Voltaire als Friedensvermittler. 


es jeine eigenen Berbündeten im Stiche lafjen müßte. England 
jollte gegen Minorfa und die franzöfischen Bejigungen in Afrika 
das jchon eroberte Kanada mit der Inſel Guadeloupe wieder 
herausgeben; Preußen jollte Sachjen räumen und dem Kurfüriten 
von Sachjen eine fleine Entjchädigung geben. 

Wie ernithaft Friedrich diejen „oftenjiblen‘ Brief Choijeuls 
aufnahın, geht daraus hervor, daß er jofort in einer eigen: 
bändigen Denkſchrift, „idees pour la paix“ betitelt, darauf ant- 
wortete. (E8 iſt dies jedenfalls der fürmliche riedensentwurf, 
den Voltaire erwähnt.) Mit Preußen, heißt es Darin, könne 
Frankreich fich leicht verftändigen. Denn gegen die Räumung 
Sadjens habe der König nichts einzuwenden, vorausgeſetzt, daß 
auch die Franzoſen die preußiichen Gebiete am Rhein und in 
Weitphalen räumten und daß die Ruſſen und Schweden fich ın 
ihre Heimath zurüczögen; der Kurfürjt von Sachjen möge, wenn 
erforderlich, durch Säfularijation von Erfurt entjchädigt werden. 
Schwieriger jet es, die Anjprüche Franfreich$ und Englands zu 
vereinigen. Da aber die Engländer feine franzöfiihe Yandung 
in England jelbjt mehr zu befürchten hätten und aljo noch 30000 
Mann nach Deutjchland werfen fünnten, da jie ferner auf dem 
Punkte jtänden, Martinique und PBondichery zu erobern und den 
jranzöfiichen Handel gänzlich zu zerjtören, jo jollte ein jo weiſer 
und aufgeklärter Miniſter wie Chotjeul jich nicht länger von 
Deiterreich als Statift gebrauchen lajjen, jondern lieber jeinem 
Herrn die glänzende Nolle verjchaffen, Europa zu beruhigen, und 
jich dadurch) jelbjt unjterblichen Ruhm erwerben. 

Stleichzeitig (23. Januar 1760) ſetzte ‚sriedrich den engltjchen 
Minijter Pitt durch jeinen Gejandten Knyphauſen von den Bor: 
ichlägen Choiſeuls in Stenntniß und bat ihn um jeine Anjichten 
darüber. Der Herzogin von Gotha aber, an die Voltaire jene 
Borjchläge zur Weiterbeförderung an den König überjandt hatte, 
ichrieb er von jeiner Hoffnung auf guten Erfolg. „Die Erjchöpfung 
ihrer Finanzen macht die Franzoſen jo weije wie lauter Blatos.... 
Die Dejterreicher werden jich dem Frieden anjchliegen müfjen, wenn 
ein jo mächtiger Berbündeter wie Frankreich fie verlajien bat.‘ 
Uebrigens möge die Herzogin ſich Voltaire gegenüber nichts davon 
merfen lajien, daß jie um das Geheimniß wilje; das fünne dem 
Herzog von Choiſeul, dem Schlußnagel (cheville ouvriere) der 
Verhandlung, unangenehm jein. Nach einer Meußerung gegen: 
über dem Herzog Ferdinand von Braunjchweig jah der König 


Voltaire als Friedensvermittler. 333 


ferner in dem „eparatfrieden mit Frankreich das einzige Mittel, 
um der Ueberzahl jeiner Feinde widerjtehen zu können; jonjt werde 
er ſich höchitens bis Ende Auguſt halten. 

Schon hieraus erjieht man deutlich, daß die Voltaire-Choiſeulſche 
Vermittelung Friedrich II. durchaus nicht als eine ‚Spielerei‘ er: 
ihten, wie Broglie meint. Der König ging aber noch weiter. 
Da die englifchen Minijter ihm riethen, Alles zu thun, um Die 
wirklichen Abfichten der franzöfiichen Regierung aufzudeden, jo ſchickte 
er, mit dem Einverjtändniß der Herzogin, den gothaiſchen Freiherrn 
von Edelsheim nad) Barıs. Er gab ihm eine Injtruftion für jich 
und einen Brief an den Bailli de Froullay, den Großmeiſter des 
Maltejerordens, den er von Potsdam ber fannte, mit auf den Weg. 
Er machte Froullay, wie in den „idees pour la paix,“ auf die 
Nachtheile aufmerfjam, welche die Franzoſen bei einer Fortjegung 
des Krieges erleiden würden, und bat ihn, als guter Franzoſe für 
den Frieden zu wirken ; Edelsheim jollte, bevor er Froullays Ant: 
wort erhielte, die Stimmung am Berjailler Hofe zu erforichen juchen, 
und, wenn Froullay ihn im Stiche ließe, ich direft an Choiſeul 
wenden. In einem Schreiben an die Herzogin von Gotha vom 
26. März fündigte der König ihr dann „die Ankunft“ an und 
theilte ıhr mit, daß der „B. de F.“ jogleich die Eijen ins Feuer gelegt 
habe, aber dieje Ausdrüde werden uns durchaus nicht, wie Broglie, 
geheimnißvoll erjcheinen. 

Inzwijchen hatte Friedrich durch Voltaire eine Aeußerung 
Choiſeuls erfahren, wonach, wenn der Frieden im Juni noch nicht 
geichlofien jei, er nur nad) der Zerjtörung dreier Reiche oder der— 
jenigen Preußens zu Stande fommen fünne. Schon dieje Neußerung 
mußte den König jtußig machen; er erklärte der Herzogin von 
Gotha, er jei fein Oedipus, um jolche Räthſel zu löſen. Noch miß— 
trauifcher machte ihn Die, wieder durch Voltaire übermittelte 
Forderung Choiſeuls, er jolle Wejel und das Herzogthum Kleve an 
Frankreich abtreten. Er meinte, wie er Voltaire jchrieb, der Minifter 
Choiſeul müfje „von zehn Legionen öjterreichticher Teufel‘ beſeſſen 
jein, um eine jolche Forderung zu ftellen. Es jtimmte ihn aud) 
nicht zuverfichtlicher, al$ der am 27. März in jeinem Hauptquartier 
sreiberg in Sachſen angelangte Baron Edelsheim ihm eine Ant— 
wort Froullays überbrachte, wonach Frankreich, laut einer Erklärung 
Choiſeuls, aus Rückſicht auf Maria Thereſia den Frieden mit 
Preußen nicht direkt, jondern durch Vermittlung Englands betreiben 
wollte, Er entjandte Edelsheim zwar nach Yondon, jchrieb aber 


334 Voltaire als Friedenspermittler. 


gleichzeitig an Knyphauſen, er jehe ein, daß Frankreich ohne ihn 
mit England Frieden jchliegen wolle, um gegen Preußen deſto 
freiere Hand zu haben und es zu Gebietsabtretungen zu nöthigen, 
in die er jedoch niemals einwilligen werde. 

Gerade in Ddiejer Zeit, als Sriedrich merkte, daß man ibn 
franzöfiicherjeit8 wohl doch nur dupiren wollte, erhielt er aus Kon— 
jtantinopel die erfreuliche Nachricht, daß die Türken bereit jeien, 
mit ihm ein Vertheidigungsbündnig abzufchliegen und an Oeſter— 
reich den Krieg zu erflären. Dieje Nachricht, der er allzu leicht 
Slauben jchenfte, und nicht der „unglücliche Anfang‘ des Feld: 
zuges von 1760, wie Broglie meint, bewog ihn am 1. Mai, jenes 
oben erwähnte Schreiben an Voltaire aufzujegen, in welchem er 
jeine Entjchlojjenheit zur Kortjegung des Krieges befundete, Unter 
dem „unglüdlichen Anfang” des Feldzuges fünnte man nur die Ver: 
nichtung des preußijchen Korps unter General Fouqué bei Yandes- 
hut in Schlefien verjtehen. Dieje fand aber erit am 23. Juni 
itatt, zum Theil veranlapt durch die Yeichtgläubigfeit des Königs, 
der Fouqué nicht unteritügte, weil er eben türfische Hülfstruppen 
erwartete. Im Mai dagegen rechnete der König bejtimmt auf 
friegertjche Erfolge; jo jchrieb er am 18. an Fouqué, er wolle in 
Böhmen und Mähren einfallen, den Türfen die Hand reichen und 
den Ktriegsjchauplat an die Donau verlegen. Wegen jeiner Sieges— 
zuverficht aljo, und nicht weil der unglüdliche Anfang des Feld— 
zuges ihm weitere „Scherze“ verbot, jchrieb der König am 1. Mai 
an Voltaire: „Wie aud Herr von Choijeul gejonnen jein mag, 
er wird mit der Zeit gar jehr auf meine Pläne hinhören müjien. 
Ich erfläre mich nicht näher darüber, aber in weniger als zwer 
Monaten wird man die ganze europätjche Bühne jich verwandeln 
jehen, und Sie jelbjt werden zugeben, da ich Necht hatte, Ihrem 
Herzog Kleve zu verweigern . . . Sch werde die Waffen erſt nad) 
drei Feldzügen niederlegen. Dieje Schurfen jollen jehen, daR jie 
meine Yangmuth mißbraucht haben : der König von England wird 
den Frieden nur in Paris, ich werde ihn nur in Wien unter: 
zeichnen.“ 

Das Vertrauen des Königs auf den Sultan aljo, oder „auf 
den Doftor der Medizin mit großer Müge, der den Kranken heilen 
wird, indem er denen, die den Stranfen nicht lieben, Arme und 
Beine abjchneidet‘‘, wie er der Herzogin von Gotha in einer nur 
Broglie, nicht uns „geheimnigvollen“ Weije jchrieb — das Ver— 
trauen auf die baldige Hilfe der Pforte war es, welches ihm, nebit 


Voltaire als Friedensvermittler. 335 


der Ueberzeugung, daß die Franzoſen ihn nur dupiren wollten, ein 
weiteres Entgegenfommen unterjagte, als er es jchon gezeigt hatte. 
Am 12. Mai jchrieb er Voltaire, der ‚sriede jet mit den Schmetter: 
lingen fortgeflogen, man werde jich jchlagen bis „in saecula 
saeculorum.“ Und als Voltaire jpäter, um die Mitte des Juni, 
im Einverjtändniß mit Choijeul, noch einmal erklärte, Frankreichs 
Abjicht wäre feineswegs, daß der König Schlejien verliere, er möge 
ſich nur vor einer großen Niederlage hüten, da antwortete Friedrich: 
„ch habe Alles gethan, was im meinen Sträften jtand, um den 
‚stieden ziwijchen Frankreich und England mit Einbeziehung 
Preußens in die Wege zu leiten, aber die Franzoſen haben mir 
auf der Naſe jpielen wollen, und jett laſſe ich fie ganz einfach 
jigen. Ich werde nicht ohne die Engländer, und die Engländer 
werden nicht ohne mich Frieden jchließen. Sch würde mich eher 
37 EN laſſen, als Euch Franzoſen noch einmal das Wort 
Frieden zurufen.‘ 

Dieje wiederholte runde Abjage machte den Dichter wieder 
empfindlich, und er mwünjchte jet ſogar, nur aus gefränfter Eitel- 
feit, daß Friedrich gedemüthigt werde. „Sorgen Sie nur für 
gute Truppen und gute Generale”, jo wandte er fi Ende Juni 
1760 an Choijeul, „und Ste werden nichts zu fürchten haben. 
Wenn Yuc verloren ift, werden Sie der Schiedsrichter des deutjchen 
Meiches, und alle Fürjten dejjelben liegen Ihnen zu Füßen.“ Die 
£leinen Erfolge der Franzoſen gegen die alliirte Armee bei Korbach) 
und Bergen jchienen ihm große Siege in ihrem Schooße zu ent: 
halten, und er bat Choijeul, den Frieden erit nach) einem triumph: 
reichen Feldzuge abzujchliegen. 

So endete auch der dritte und lebte Verſuch Boltatres, 
Europa den Frieden zu geben, mit einem fläglichen Miperfolge. 
Der Friede war, da der König von Preußen in feine Gebiets: 
abtretungen einwilligen wollte und da die franzöfiiche Regierung ent: 
jchlofjen war, ihren Berpflichtungen gegen Dejterreich getreulich 
nachzufommen, nicht eher möglich, als bis Maria Therejia auf 
Schlejien, den jchönjten Edeljtein in ihrer Krone, endgiltig verzichtet 
hatte. Diejer Verzicht aber wurde ıhr befanntlich erjt durch den 
Umjchwung der Dinge in Rußland aufgezwungen. — 

Faſſen wir zum Schluß noch einmal die beiden Hauptperjonen 
der Voltairejchen FFriedensvermittlung, den König und den Dichter, 
ins Auge. Der König hat die Hand, welche ihm Voltaire dreimal 
entgegenitredte, bald jchneller, bald langjamer, jedesmal aber be— 


336 Voltaire ald Friedensvermitiler. 


reitwillig und mit der Ausjicht auf Erfolg ergriffen. Es tft eine 
falſche Auffaſſung feiner Bolitif, wenn man mit Broglie annimmt, 
er habe dabei zuweilen mit Voltaire ein findisches Spiel getrieben, 
denn es war ihm, wie wir aus jeiner Korreſpondenz jahen, jtets 
voller Ernit. Auch uns muß es freilich auf den erjten Blick jelt- 
jam erjcheinen, daß ein jo klarer Kopf die Unmöglichkeit eines Er- 
folges nicht von vornherein erfannte, und die Ihatjache, daß er 
Voltaire einmal als Friedensengel bejungen und in diejer Eigen 
ſchaft noch) über Birgil geftellt hat, muthet uns bei einem jo be: 
rechnenden Berjtande gleichfalls jeltfam an. Aber der König war 
eben nicht bloß eine flar berechnende, jondern auch eine von 
augenbliclichen Stimmungen jehr abhängige, phantajtiiche Natur, 
ja diejfe Stimmungen beherrichten zuweilen jeinen Verjtand. Diese 
Eigenthümlichfeit jeiner Individualität, die ihn jo oft und Jchnell 
ohne genügenden Grund von einem Extrem ins andere übergehen 
ließ, ließ ihn auch die Voltaireſche Vermittlung, die ihm doch nicht 
viel mehr als dem Ertrinfenden ein Strohhalm nützen fonnte, zu: 
erit hoffnungsfreudig ergreifen und dann, auf jenes unfichere Wer: 
jprechen der Türfen bin, ebenjo jchnell wieder fahren. Mit Diejer 
Eigenthiümlichkeit hängt auch jeine „Manie” zum Dichten zufammen, 
wie er fie genannt hat; es war ihm ein Herzensbedürfnig, jeinen 
wechjeinden Stimmungen und Grlebnifjen in Verſen Ausdrud zu 
geben, mochte der Gegenjtand auch dem jo aktuellen und unpovetijchen 
Gebiete der Politik entlehnt jein. 

Die Gründe, welche Voltaire bewogen, das Delblatt des 
Friedens bin und ber zu tragen, hängen ebenfall® auf Engjte mit 
jeinem Charafter zujammen. Die Baterlandsliebe hat jedenfalls 
auf jeine Friedensideen den geringiten Einfluß gehabt, denn er 
jpottete nicht minder über jeine Yandsleute, wie er jich den Spott 
des preußischen Königs über fie gefallen ließ. Im erjter Linie 
jtachelte ihn der Ehrgeiz, nicht bloß als Dichter, jondern auch als 
Bolitifer eine Nolle zu jpielen und fich in der Gunjt eines Hofes, 
jei es Verjailles oder Sansjouci, zu jonnen. Sodann jchmeichelte 
es jeiner Eitelfeit, gerade dem Manne zu helfen, der ihn jchwer 
gefränft hatte und jo vor aller Welt im Lichte der höchſten Groß— 
muth zu erjcheinen. Endlich war es, wie Broglie mit Recht 
bervorhebt, eine „magnetische Anziehungskraft“, die ihm immer 
wieder zu Friedrich hinzog und ihn bewog, ihm zu helfen. „Es 
gab einmal“, jo heißt es in einem Briefe Voltaires an den 
König, „einen Yöwen und eine Watte. Die Ratte verliebte ſich 


— e — — 


Voltaire als Friedensvermitiler. 337 


in den Löwen und machte ihm den Hof. Der Löwe gab ihr 
einen fleinen Schlag mit der Tate; die Natte ging in ihr Loch, 
liebte aber den Löwen weiter. Und als fie eines Tages jah, wie 
man ein Neß ausfpannte, um den Löwen zu fangen und zu tödten, 
zernagte fie eine Majche defjelben.“ 


* * 
* 


Die obige Unterſuchung hat gezeigt, wie ſehr der Herzog von 
Broglie den Grund-Charakter der politiſchen Verhandlung, mit 
der ſich ſein Buch bejchäftigt, verfannt hat. Aber wir würden 
dem illuftren Autor Unrecht thun, wenn wir nicht in den Lefern 
auch eine Vorjtellung von dem Glanz feiner Darjtellung und der 
eindringenden, pjychologijchen Feinheit feiner Charafteriftif zu er— 
weden juchten. Wir haben nicht viel in Deutjchland, was fich 
in dieſer Art mit den Franzofen meſſen fann. Laſſen wir einen 
Franzoſen jelber jprechen: A. Meziere8 hat im „Temps“ Die 
Charafterijtit Broglies folgendermaßen wiedergegeben: 

Dans les dispositions d’esprit ou Voltaire a quitte la Prusse, il ne 
faut pas s’etonner qu’en 1756 il fut du petit nombre de ceux qui 
applaudirent au rapprochement de la France et de l’Autriche. Il 
prenait sur le passe une sorte de revanche lorsque Frederic II recom- 
mencait à lui faire des avances pour s’epargner des &pigrammes, pour 
ne pas ajouter a tant d'inimities coalisees l’hostilit€ des philosophes 
qu’un mot de Voltaire pouvait dechainer contre lui. 

Il n’eut cependant pas la cruaut€ de souhaiter que Frederic füt 
reduit aux dernieres extremites. Il eut möme ä ce sujet un bon mou- 
vement; en apprenant que le roi de Prusse ne voulait pas survivre & 
la perte de ses Etats, il lui &crivit pour le dissuader du suicide. 
Paroles sensees, humaines, mais trop generales, peu appropriees aux 
circonstances, peu appropriees au caractere de l’homme. Il y a dans 
l’äme de Frederic des parties stoiques et-heroiques dont l'intelligence 
de Voltaire, si ouverte qu’elle soit, ne comprend pas la grandeur. 
Les sentiments de cette nature lui sont à lui-même si etrangers qu’il 
n’y entre pas facilement. Le bel esprit, le philosophe couronne avec 
lequel il echange des pieces de vers et des propos philosophiques est 
avant tout un soldat et un roi, decide a remplir jusqu’au bout les 
devoirs de sa fonction. 

On peut le vaincre, on peut le deposer, On ne l’humiliera pas, 
il ne tombera pas vivant aux mains de ses ennemis. Sur ce point, 
sa correspondance est catögorique. Chaque fois qu’il touche à ce sujet, 
on y sent la resolution arrätee d’un homme qui a beaucoup reflöchi 
aux vicissitudes humaines et dont le parti est pris avec une fermete 


Preußifhe Jahrbücher. Bb. XCVIII. Heft 2. 22 


338 Voltaire als Friedensvermittler. 


inebranlable. Dans la mauvaise fortune, Frederic pense et sent en Ro- 
main. Si. comme le dit Voltaire, il etait un composé de César et 
de l’abbe Cottin, il y avait aussi en lui quelque chose de Brutus. 

Ce que M. le duc de Broglie met surtout en lumiere avec beau- 
coup de sagacite, c'est le gout persistant qui, apres tant de griefs et 
de motifs d’irritation, finit toujours par rapprocher les deux amis. 
Quelques raisons qu’ils aient de se mepriser l’un l’autre, Frederic et 
Voltaire meprisent encore plus le reste du genre humain. Eux 
seuls se sentent de plain pied dans les regions superieures de l'esprit, 
au-dessus des prejures et des erreurs ol se complait la sottise humaine. 
Des qu'une occasion se presentait pour eux de reprendre leur conver- 
sation brutalemwent interrompue, ils la reprenaient à distance à travers 
les obstacles, en t&eınoignant une jvie sincere de rentrer en communication 
l’un avec l’autre. Ils ressemblent a deux amoureux qui ne parviennent 
pas à se brouiller compl&tement et qui ont, par instant, des retours 
de tendresse. L’opinion qu’ils ont l’un de l’autre ne change pas, mais 
de même qu’on prut encore aimer une femme qu’on meprise, chez tous 
deux l’attrait naturel survit a l’estime disparue. 

Dans l'intimite, au milieu de leur entourage, ils ne se menagent 
guere. Voltaire ne prut s’empecher de dire que le roi. au fond, n'est 
qu’un vaurien. Frederic ne prononce jamais le nom de Voltaire en 
presence de son &tat-major sans accoler à ce nom une serie d’epithetes 
injurieuses qu'ı) srrait difficile de eiter toutes, dont les plus douces 
sont crlles de dröle et de fripon. Voltaire essaye-t-il d’obtenir que 
Mine Denis rentre en gräce aupres du roi, le roi fait r&pondre imme- 
diatement: „Que je n’entende plus parler de cette niece qui m’ennuie. 
On parle de la servante de Molıere, mais personne ne parlera de la 
niece de Voltaire“. 

Vienne au contraire une occasion de correspondre directement, 
tous deux la saisiront avec einpressem=nr et se diront au besoin les 
choses les plus aimables. „Vous manquez a mon bonheur, éerit Voltaire 
au roi, j'aime vos vers, votre pro=e, votre philosophie hardie et ferme. 
Je n’ai pu vivre ni sans vous ni avec vous; je ne parle pas au roi, 
au heros, e’est laffnire des souverains; j- parle a celui qui m'a enchante, 
que jai aime et cont“- qui je suis toujours fäche.* Frederic repond 
sur le möne ton: „Vons etes la creature la plus seduisante que je 
eonnaisse, capable de vous faire aimer de tout le monde quand vous 
voulvz. Vous avez tant de gräc- dans l’esprir. que vous pouvez offenser 
et meriter en meine fenps I’.ndulgence de ceux qui vous connaissent. 
Enfin, vous series parfait si vous n’e'iez pas homme.“ 

l.a verite nons oblige à dire que dans cet &change de paroles 
gracieuses Frelerie n'éorit pas une ligne qui puisse faire tort & 
sa mémoire, dunt puiss-nt rougir pour lui ses descendants, Dans 


Voltaire als Friedensvermittler. 339 


ses €panchements les plus intimes avec un Francais, il reste 
jusqu’au bout roi de Prusse. Il caresse l’'homme et ne flatte pas le 
pays. Jamais sa verve ne s’exerce en notre faveur aux depens de ses 
soldats. Il ne dit rien dont il nous soit possible de tirer parti contre 
la grandeur et la gloire de son regne. Malheureusement, Voltaire 
n'observe pas la möme reserve. Apres la bataille de Rosbach, il regoit 
une Epitre singulierement injurieuse pour les troupes frangaises, et ila 
le triste courage de s’associer, par des vers celebres, à l’ironie du 
vainqueur. En rapprochant ainsi les deux illustres representants de deux 
grandes nations, il faut bien convenir que les Prussiens n’ont point & 
se plaindre du leur, et que le nötre, malgre tout son esprit, ne nous 
donne pas une entiere satisfaction. M. le duc de Broglie &crit avec 
trop de nuances pour le dire expressement, mais il le laisse entendre 
presque a chaque page de son tres attächant et tres spirituell reeit. 


29% 


Notizen und Beiprechungen. 


Pädagogit. 


Neue Schriften zur Schulreform. 


Wenzel, Der Todesfampf des altipradlihen Gymnafial-Unterrichts. 
Berlin, (Karl Dunder). 1899. 47© Mi. 1,—. 

Aler. Wernide, Die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Forſchung in 
ihrer Stellung zum modernen Humanismus. Berlin (Otto Salle) 1898. 
18 ©. in 4. Mt. 1,—. 

Julius Asbach, Darf das Gymnafium feine Prima verlieren? Düſſel— 
dorf (2. Schwann) 1899. 18 ©. 

Die beiden erjten der hier vorliegenden Schriften fünnen injofern zu: 
fammengejtellt werden, als beide die gleiche Thatjadhe zum Ausgangspunkt 
nehmen: daß der philologiihe Schulunterridt, wie ihn früher das Gym: 
nafium bot, zur Zeit nicht nur aus feiner Machtſtellung verdrängt ift, 
fondern fi in der Lage des Unterdrüdten befindet. 

1. In der rüdhaltlojen Anerkennung diefer Thatjahe liegt dad Haupt: 
verdienit, wenn ouch nicht das einzige, der Ausführungen von Wenzel. 
Es giebt immer noc Freunde des Gymnaſiums, welche ihm dadurch einen 
Dienjt zu ermweifen meinen, daß ſie verjichern, ed vermöge mit dem latei- 
niſchen und griechifchen Unterricht, wie er jeßt betrieben wird, etwas 
Tüchtiged zu leilten. Die Preußiichen Jahrbücher haben ſchon im ver- 
gangenen Jahrzehnt, als noch der Lehrplan von 1882 galt, dieje Auffaſſung 
bejtritten. In einer Reihe von Aufjägen, zuerjt*) im Januarheft 1889, 
wurde der Nachweis geführt, daß die alte Zateinjchule, in dem Bejtreben 
ihre äußere Alleinherrichaft zu behaupten und um dieſes Preijes willen 
aud allen modernen und realijtiichen Anforderungen gerecht zu werden, 


*) „Die Gefahr der Einheitsſchule.“ Diefe Abhandlung ift mit anderen 
von verwandtem Inhalt zufammengefakt in meiner Schrift: Suum cuique, 
Fünf Auffäge zur Reform dee höheren Schulweſens. Kiel und Leipzig, 
1889. 


Rotizen und Beſprechungen. 341 


gar zu viel verjchiedenartige Stoffe neu in ihren Lehrplan aufgenommen 
und dafür die alten, in denen ihre Kraft beruhte, gar zu jehr eingeichräntt 
babe. Die Verkürzung ſei jchon jo weit gediehen, daß die Beſchäftigung 
mit Latein und Griechijch zwar immer noch mande Mühe made, aber 
feinen fühlbaren Gewinn mehr bringe. Ganz ebenſo urtheilt Wenzel über 
den gegenwärtigen Zuftand, der freilich — jeit der neuen „Reform“ 
von 1892 — die jchlimmen Erjcheinungen, die fich ſchon damals beobachten 
ließen, in erhöhtem Grade zeigt. Auch in den Folgerungen, die er aus 
der gewonnenen jchmerzlichen Erfenntniß zieht, bewegt ſich der Berfafler 
in derjelben Richtung wie wir: er verlangt, daß dad Gymnafium jeden 
Vorzug an Äußeren Berechtigungen vor den beiden Schweiter-Anftalten 
aufgebe und dafür die Freiheit eintaufche, ich im Inneren mit feinem 
eigenen Lehrplan jo einzurichten, daß damit wieder etwas Rechtſchaffenes 
erreicht werden könne. 

Es giebt eine Erzählung von einem vorfichtigen Manne, der gehört 
batte, daß man unter Federbetten jehr warm liege. Che er fich entichloß 
ein ſolches anzuſchaffen, wünſchte er die Eigenichaften dieſer Betten in 
fleinerem Maßjtabe kennen zu lernen: er ließ jich eine von ganz 
geringem Umfange anfertigen, legte ji) darunter — und fror. Nun war 
fein Urtheil gebildet: wenn es jich jchon unter einem Kleinen Federbett jo 
unbehaglich liegt, wie viel jtärfer mwirde das Mifbehagen unter einem 
größeren fein! Natürlich hütete er fih nun, Geld für ein ſolches aus— 
zugeben, und freute fich, daß er jo jchlau gewejen war erjt im Kleinen 
die Probe zu machen. 

Diefe Geſchichte drüdt jo ziemlich diejenige Beurtheilung des alt= 
ſprachlichen Gymnafial: Unterrichtes aus, die wir ſeit Jahren zu widerlegen 
fuchen. Es ift ſehr erfreulich, hierfür einen Bundesgenofjen zu finden; 
und defjen Eintritt in den Kampf erwedt um fo mehr friche Hoffnung, 
al3 er ganz jelbjtändig erfolgt iſt. Wenzel hat von dem, mas Die 
Preußischen Jahrbücher über jein Thema gebracht hatten, feine Kenntniß 
gehabt.*) 

2. Bom Standpunkte der fiegreichen Bartei aus ſpricht Alexander 
MWernide, aber in mildem und verjöhnlihem Sinne Wie in jeinem 
größeren Werke: „Kultur und Schule“, über das an diejer Stelle vor 
zwei Sahren berichtet wurde (Bd. 89 ©. 371 ff.), fo überjchüttet er auch 
diedmal den Leſer mit einer Fülle kultur und literargeſchichtlicher Einzel— 
heiten, deren innere Verbindung und geiftige Verarbeitung nicht volljtändig 
gelungen ift. Nicht einmal das Thema ijt klar formulirt; ungefähr dürfte 
es durch einen Gedanken ausgedrüdt werden, der öfter wiederfehrt und auf 
©. 12 jo lautet: „Sollte der Gegenſatz von Geijteswifjenjchaften und 
Naturwiſſenſchaften wirklich jo groß fein wie man gelegentlih behauptet?* 


*) Auf den Inhalt der Wenzelihen Schrift geht etwas genauer ein meine 
Anzeige in der Wochenſchr. für klaſſ. Philologie, 1899 S. 1089. 


842 Rotizen und Beſprechungen. 


Wenn die Frage ſo geſtellt wird, ſo antworten auch wir getroſt mit 
„Nein“; denn „gelegentlich“ behauptet „man“ gewiß recht Verkehrtes und 
Uebertriebened. Der Berfafjer aber jcheint num wieder nad) der entgegen- 
gejegten Seite vom Richtigen abzuweichen, indem er den Unterjdied 
zwijchen beiden Wifjensgebieten als geringfügig darzufiellen judt. .Ihre 
Methode“, jagt er, „it im Weſentlichen diefelbe; fie it die induftiv- 
deduftive Methode der modernen Wiſſenſchaft, welche jchließlich überall dem 
Prinzipe der gejegmäßigen Entwidelung folgt.“ Gewiß ift e8 möglich, 
wifjenfchaftliche8 Denken in jo allgemeinen Worten zu bejchreiben, daß 
damit beide Arten von Forſchung, die hijtorifche und die naturwiſſenſchaft— 
fiche, gleichmäßig getroffen werden. Darum bleibt ed doch wahr, daß auf 
beiden Seiten nicht nur die Stoffe grundverjchieden find, jondern auch den 
Stoffen entſprechend die Aufgaben, die gelöjt werden jollen, und die Wege, 
die zum Biel führen. Wie jtörend diefer Gegenjag wirkt, wenn er verfannt 
wird, wie fruchtbar er wird, wenn man tiefer nachgräbt, davon haben wir 
gerade Eiirzlic) in dem Streit um die Methode der Geſchichtswiſſenſchaft 
Proben erlebt. Auch an zujammenfafjenden prinzipiellen Crörterungen 
des inneren Verhältnifjeg zwijchen den beiden großen Wifjensreichen Hat 
e3 jet wie früher nicht gefehlt. *) 

Nur injofern könnte Wernide Recht haben den Gegenjag zwijchen 
Natur: und Geiſteswiſſenſchaften zu leugnen, als das Verhältniß zwiſchen 
beiden fein feindliches zu fein braucht. Er ſelbſt mahnt ja zur Eintracht, 
zu gegenjeitigem Verjtehen; nur der Name „Geiſteswiſſenſchaften“ jcheint 
ihn wie andere gefränkt zu haben. Wirklich ift die Bezeichnung, wenn aud) 
nicht ohne Sinn, doc, ungejchicdt gewählt, und geeignet einen oberflächlichen 
Betrachter irre zu führen. „Hiſtoriſche Wifjenfchaften“ klingt' befcheidener 
und ift treffender. Aber wenn hier etwa wie Ueberhebung aus dem 
Namen herausgelejen werden fann, jo wird ſolche von manchen Vertretern 
der anderen Seite und unter ihnen auch von Wernide (S. 14) wirklich 
geübt, indem jie meinen, „Wiſſenſchaft“ ſei überhaupt nur diejenige 
Forſchung, die nach den Gejegen der „exakten Wiſſenſchaft“ verfahre. 

Bon dem bunten Inhalt der vurliegenden Schrift in der Kürze eine 
Vorftellung zu geben, ift nicht möglid. Suchen wir den Gejammteindrud 
alle3 dejjen, was der Verfaſſer beigebracht Hat, feitzuhalten, jo iſt es 
diejer: auch in den Zeiten, die von den Ankängern philologiſcher Bildung 
als die glänzenditen angejehen werden — im griechiſchen Alterthum, im 
Zeitalter der Renaiſſanee und des Humanismus — Hat doch zugleich die 





*) In erfter Linie ift bier immer wieder an die Heidelberger Reltoratsrede 
von Helmbolg zu erinnern: „Ueber das Berbältnik der Raturmiffen- 
Ihaften zur Gefammtheit der Wiſſenſchaft“ (1862). Aus neuefter Zeit ver 
dient die bei gleicher Gelegenheit gehaltene Rede von Windelband über 
„Geſchichte und Naturwiſſenſchaft“ (1894) Beadhtung. Insbejondere von 
Seiten der Methode ift der Unterfchied erörtert in meinem Vortrag über 
„die Methode des Birkelfhluffes“, Preuß. Jahrbüder 92 (1898) ©. 48 ff. 


Rotigen und Beſprechungen. 848 


Erforihung der Natur einen wichtigen Pla eingenommen und mächtige 
Fortſchritte gemacht. Dies ijt richtig. und wird auch dem, der es nicht 
ohnebin wüßte, durch die von Wernide gejammelten Belege anjchaulid. 
Aber was folgt daraus? — Die Erwartung, jcheint mir, daß nun umge— 
fehrt in einer Periode, die von den Anhängern der naturmwiljenjichaftlichen 
Bildung ald eine beſonders glänzende angejehen wird — eben in unjerer 
Bet — aud der philologiſchen Wiſſenſchaft ein wichtiger Pla einge- 
räumt und die Sraft, Großes für die Menjchheit zu leilten, zugetraut 
werden muß. Etwas der Urt hat wohl auch Wernide jagen wollen; denn 
er giebt auf den legten Seiten feiner Schrift jelbit Material, durch welches 
der mathematifhe und naturwifjenjchaftliche Unterricht nady der geſchicht— 
fihen und philologiihen Seite hin ergänzt werden fol. Dieſe kurzen 
Mitteilungen find wirflid) werthvoll und anregend. Gie berühren ſich 
nahe mit den Vorſchlägen, die kürzlich Profefjor Mar E. P. Schmidt*) 
gemacht Hat, nur daß beide Schulmänner von entgegengejeßten Eeiten her— 
fommen. Schmidt ijt Philologe und wünſcht den Unterricht feines Faches 
dadurch zu bereichern und im feinem Niedergang aufzuhalten, daß 
beim Lateinifhen und Griehijhen mehr als bisher auch auf das 
geachtet wird, was die beiden alten Bölfer in Geographie, Natur- 
forſchung. Mathematik geleijtet haben. Wernide jet die Worherrichaft 
der realiitiichen Fächer ald gegeben voraus und empfiehlt jeinen 
Fachgenofjen, innerhalb diefer Fächer den Anforderungen des hiftorischen 
Dentend dadurd gerecht zu werden, daß ſie nad) Möglichkeit auf Die 
Geichichte der exakten Forſchung, bejonderd® auf ihre Anfänge im 
Altertum, hinweiſen, wozu oft jchon eine etwas aufmerkjamere Betrachtung 
der Terminologie den Anlaß giebt. Schade, daß der Verfaſſer ſich auf 
fnappe Andeutungen bejchräntt hat. Er jchöpft hier aus dem Vollen, aus 
eigenfter Erfahrung, und würde durch etwas reichere Ausführung an diejer 
Stelle fi) mehr Dank verdient. haben als durch die zufammengeraffte 
Motizenmenge der vorhergehenden Abichnitte. 

Bei aller Freundlichkeit, die Wernide fo zuleßt der philologiichen Seite 
des Uinterricht3 ermweijt, bleibt er doc fern davon, fie in ihrer wirklichen 
Berehtigung anzuerkennen; es ijt eben nur freundliche Duldung, was er 
gewähren will. Und dies hat im lebten Ende darin feinen Grund, daß 
er fi, hierin der Mehrzahl der Philologen ganz ähnlich, nicht entichließen 
fann, verjchiedene Arten von höherer Geijtesbildung neben einander gelten 
zu lafjen. Das Phantom einer „allgemeinen Bildung“ beherrſcht auch ihn. 
So lange man fi) aber don diefem nicht frei mat, wird es nie gelingen, 
in dem Lehrplan einer höheren Schule die Wiſſenszweige jo anzuordnen, 
daß feiner zurüdgedrängt wird und verkümmert. Wir leben in einer Zeit 
der Goethe-Erinnerungen; und da ift es wohl angezeigt, einen Saß wieder 


*) Schmidt, Zur Reform der klaſſiſchen Studien auf Gymnaſien, Leipzig 
(Dürr) 1899. 40 S. Mt. 0,75. 


844 Rotizen und Beiprehungen. 


aufzufriichen, in dem der Alte von Weimar jeine reiffte Ueberzeugung aus— 
geiprochen hat: „Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jeßt die Welt 
ohnebin auf, wir brauchen und deshalb darum nicht weiter zu bemühen; 
dad Bejondere miüfjen wir und zueignen.“ 

3. Die Thatjache, von der Wenzel und Wernide ausgehen, wird von 
dem Berfafjer der zulegt genannten Schrift ausdrücklich beſtritten. Asbach. 
Direktor des Kgl. Gymnafiums in Düfjeldorf, verſichert: „Wir fönnen 
an zahlreiden, zum Theil glänzenden Beifpielen den Beweis liefern, daß 
die Primaner von heute, wenn die Schule ihre Pflicht gethan, mindejtens 
ebenjo gut vorgebildet wie früher zur Univerfität übergehen. Die Lektüre 
der lateinischen und griechiſchen Autoren bereitet ihnen feine größeren 
Schwierigkeiten als der früheren Generation.“ Da kann id nur wieder, 
fo wie kürzlich Oskar Jäger gegenüber, befennen, daß meine Erfahrungen 
durchaus entgegengejegter Art find. Doc möchte ich glauben, daß mein 
verehrter Herr Kollege im Grunde ganz ähnlich gefonnen ift; denn auch 
er jtellt unter den praftiichen Borjchlägen, die er nachher madıt, -an den 
eriten Pla (S. 13) die Forderung, daß das Lateinifche im Unterricht ver- 
jtärft werde, und begründet dies durch einen Hinweis auf die mangelhafte 
Kenntniß diefer Sprache, die fi bei den Studenten gewifjer Fächer neuer- 
dings gezeigt habe. 

Die eigentliche Abjicht der Asbachſchen Schrift lag übrigens nicht in 
der Erörterung diejes Punktes, jondern war allgemeinerer Art. Er wollte 
gegen einen Plan protejtiren, den furz vorher Wilhelm Münch — früher 
Provinzial-Schulrath in Koblenz, jegt Honorar-Profefjor an der Berliner 
Univerſität — in zwei viel bemerkten und viel bejprochenen Aufjägen *) 
angedeutet hatte. Münch hatte vorgeſchlagen, ſchon von Oberſekunda auf: 
wärts, entjprechend dem künftigen Berufe und den beginnenden wijjenjchaft- 
lihen Neigungen der Schüler, eine Differenzirung des Lehrplanes eintreten 
zu lafjen, jo daß ein Theil derjenigen Unterrichtsjtunden, an Denen jeßt 
Alle theilnehmen müſſen, durch fakultative erjegt würde, für die zwiſchen 
alten Sprachen, neueren Sprachen und exakten Wiſſenſchaften die Wahl frei 
ftünde. — In einem Bedenken hiergegen, dad von Münch im Voraus er: 
wähnt und dann aud von Asbach beſonders betont wird, jehe ich gerade 
einen Borzug ded Planes: er durchbricht das bisherige „Prinzip der all: 
gemeinen und gleihmäßigen Ausbildung“. So nähert er und der Mög— 
lichkeit, daß jeder Schüler gerade die Bildung erhalte, die ihm und jeinen 
Anlagen gemäß if. Dabei würden in Zukunft nur für einen Theil der 
Primaner, etwa für ein Drittel, Griechiſch und Latein die Hauptmajje des 
Lehritoffes ausmachen; die Wenigen aber, die freiwillig fommen, würden 
fi) — bei neu vermehrter Stundenzahl — mit den alten Sprachen und 
ihrer Literatur viel eingehender beſchäftigen und viel werthvolleren Ertrag 


) Wilhelm Münch, Einige Gedanken über die Zukunft unſeres höheren 
Schulweſens. National⸗Zeitung, Novbr. 1898. 


Rotizen und Beſprechungen. 845 


davon haben können, als jet die Vielen, die und von miderftrebenden 
Eltern aud Sorge um die Berechtigungen zugeführt werden. Weit entfernt 
aljo, feine „Prima zu verlieren“, würde dad Gymnafium durch eine folche 
Einrichtung erjt wieder hergeftellt und zu neuem Leben gefräftigt werden. 
Denn jeine Stärke beruht doch — im Ganzen jo gut wie im Einzelnen — 
niht in der Menge der Scüler, die ihm zufjtrömen, fondern in ber 
Gründlichfeit und inneren Einheit der Geijtesbildung, die es geben kann. 
Daß dieje Bildung ihrer ganzen Art nad) nicht für die Vielen ijt, hat man 
zum Unglüd vergefjen; Münch erinnert wieder einmal daran. 

Der Münchſche Gedanke unterjcheidet jich der Sache nad) faum von 
dem, was die Preußifchen Jahrbücher jchon jeit lange fordern und was — 
zu meiner Freude — ſchließlich (S. 17) auch Asbach billigt: daß den drei 
vorhandenen Formen der höheren Schule die gleichen äußeren Rechte und 
jo in freiem Wettfampf Gelegenheit gegeben werde, zu zeigen, was jede 
vermag. Ob das Biel bejjer auf dem von und empfohlenen Wege oder 
auf dem etwa3 verjchlungenen, den Münch juchen will, erreicht werden 
fann, ift nur noch eine äußere Frage, über die eine Verjtändigung wohl 
zu erzielen fein würde. Leider giebt Mind in einer jüngſt veröffent- 
lihten*) Rezenfion, die jih mit Asbachs Kritik auseinanderjeßt, zu ver- 
ftehen, daß die Ausfichten auf Verwirklihung feine Planes inzwiſchen 
geringer geworden feien. Er klagt nicht ohne Grund über die Hemmungen, 
unter denen organifatoriihe Vorſchläge in Deutichland und zumal in 
Preußen zu leiden haben; diesmal liegt doch ein Theil der Verantwortung 
für den mangelnden Erfolg bei ihm jelbjit. Die Art, wie er feine Ge— 
danken vortrug, war nicht recht geeignet Freunde mitzuziehen, geſchweige 
denn Gegner zu überzeugen. Mit ehrenwerther Aufrichtigfeit gedachte er 
der technifchen Schwierigkeiten, die einer Organifation, wie jie ihm vor» 
ſchwebt, entgegenftünden; aber er jagte nicht3 über die Frage, wie denn 
diefe Schwierigkeiten zu löſen feien. Die ganze Auögeftaltung feiner Idee 
ſchien er Anderen überlafjen zu wollen; und da hat fich denn freilich Keiner 
gefunden. Vielleicht entjchließt er jelbit ſich nachträglich, der praktiſchen 
Seite jeiner Entwürfe näher zu treten und und — in den Hauptzügen 
nur — zu entwideln, wie er fich die Durchführung denkt. Sicher würde 
dadurch die Literatur der Schulreform um einen gedanfenreichen, hoffent= 
lich auch um einen folgenreichen Beitrag vermehrt werden. 

Düffeldorf, 8. Oktober 1899. Paul Eauer. 





*) Deutſche Literaturzeitung 1899 ©. 1503 f. 


846 Notizen und Beiprehungen. 


Hochſchulfragen. 


A. Riedler, Unſere Hochſchulen und die Anforderungen des zwanzigſten 
Jahrhunderts. Berlin (A. Seydel) 1898. 120 ©. Groß-Oktav. ME. 1,00. 

Derfelbe, Die techniſchen Hochſchulen und ihre wifjenjchaftlichen Be 
ftrebungen. Rede, zum Antritt des Reltorates der Kgl. Techniſchen 
Hochſchule zu Berlin gehalten am 1. Juli 1839. 17 ©. 


Bor acht Jahren erichien eine inhaltreiche und verdienjtliche Schnit 
eined inzwijchen verjtorbenen Beamten der Bauverwaltung, Egon Zölle: 
„Die Univerfitäten und techniſchen Hochſchulen“, auf die wir an dieler 
Stelle (Bd. 67 ©. 718 j) aufmerkfjam gemacht haben. Riedler behandelt 
ein ähnliches Thema, ohne übrigen® von feinem Vorgänger Notiz zu 
nehmen. Sein Bud ijt im Kreiſe der Fachgenojjen viel gelefen und 
beijprochen worden; e3 verdient aber auch darüber hinaus befannt zu 
werden. Fragen von allgemeiner Bedeutung werden darin zwar ın er 
müdender Breite, aber mit offenbarer Sachkenntniß erörtert, und mit nt 
fchlofjenem Urtheil, das denn freilich mitunter zu Konjequenzen führt, de 
den Widerſpruch herausfordern. Eben jetzt hat der Berfajjer durch feine 
frifh und flott gehaltene Rektoratsrede erneuten Anlaß gegeben, ſich mit 
jeinen Gedanken zu bejchäftigen. 

Die Grundlage, auf der das Ganze derjelben beruht, ijt eine lebhafte 
Ueberzeugung von dem hohen Werthe, der der Berufdarbeit des Techniters 
zufommt. Daß ein Baumeijter, um aud nur Ausreichendes zu leilten, 
während jeiner Studienzeit viel mehr arbeiten muß als ein Philologe oder 
gar ein Juriſt, kann wohl nicht bejtritten werden. Und was die Dieniie 
betrifft, die der Techniker für die menſchliche Gejellichaft feiftet, jo braudt 
man nur einmal fich der veränderten äußeren Bedingungen bewußt ju 
werden, unter denen heute im Vergleich etiwa zu der Zeit vor hundert 
Jahren unjer Leben jich abjpielt, um den freudigen Stolz gerechtfertigt 
zu finden, der den Berfafjer im Gedanken an feinen Beruf erfüllt. Wenn 
er in einzelnen Aeußerungen diejer Gefinnung (S. 5 f.) über das Bid 
hinausſchießt, jo iſt das erflärlich; denn er jteht im Kampfe gegenüber der 
zu geringen Achtung, die Staat und Geſellſchaft der Arbeit des ngenieurs 
zollen. Sollten die Züge von leichgiltigkeit der eignen Werwaltung 
gegen hervorragende Verdienfte, die Riedler (S. 65 f.) anführt, nicht ver- 
einzelt dajtehen, jondern Proben einer herrichenden Anſchauungsweiſe je, 
jo verjteht man feinen Unmuth und — man lernt unjere Unterricht‘ 
verwaltung ſchätzen. Weniger begründet jcheint mir die Klage, dab aud 
die Gejellichaft für bedeutende Leiftungen der Technik nicht genug Verjtändnik 
und Interefje habe. E3 mag ja in verjchiedenen Gegenden Deutichlands ver» 
ichieden damit jtehen; dann iſt aber, was der Verfaſſer jagt, mindejtens ın 
dieſer Allgemeinheit unrichtig: „Ueber den Zujammenhang der ngenieur: 
werfe mit der Nulturentwidlung weiß der Gebildete überhaupt nicht?“ (S. 45). 


Rotizen und Beſprechungen. 847 


Eine andere Beſchwerde, die er gegen die Gelellichaft erhebt, wird 
man anerkennen müfjen: fie giebt noch immer der Unriverjität und Allem, 
was zu ihr gehört, einen Vorzug, der in den thatſächlichen Verhältniſſen 
niht mehr begründet iſt. Riedler betont dad Recht und den Adel der 
ſchaffenden Wifjenjchaft neben der forjchenden. Wenn er fie fogar über 
jene jtellen möchte, jo ift das eben eine Uebertreibung, wie fie der Eifer 
des Streite® mit fi bringt, und ijt ein Beiſpiel des jo oft begangenen 
Schlerd, daß man meint, Dinge ald größer und kleiner, bejjer und 
jchlechter vergleihen zu müſſen, die viel mehr der Art nach ald dem 
Grade nad, von einander verjchieden find. Für die Eigenart des Uni— 
verfitätsunterrichteö zeigt der Verfaffer nur mäßiges Verjtändniß, indem 
er gelegentlich (S. 92) verlangt, es müfje „eine jcharfe Grenzlinie gezogen 
werden, um der bisherigen VBermengung von Forihung und Lehre vor- 
zubeugen“; wogegen er das Wejen der technijchen Berufsbildung vortrefflic) 
Ichildert, ald ein Charakteriftiiches dabei das „Bewußtjein der Berantwort- 
lichkeit“ hervorhebend, das fie im Menjchen erziehe (S. 67). 

Wenn Niedler für das äußere Anſehen ſeines Standes kämpft, jo tft 
died nur Mittel zu feinem eigentlichen Zweck; es ijt die nothwendige Vor: 
ausfegung für das, was er erreichen will: Vermehrung und befjere Orga- 
nijotion der technifchen Hochſchulen. Dieſer Zufammenhang ift einleuchtend. 
Die bejtimmten Vorjchläge aber, die nun in erjter Linie gemacht werden, 
find — zwar nicht an fid) überrafchend; denn Nehnliche® hat man öfter 
gehört — aber als Folgerungen aus den vorher dargelegten Thatjachen und 
Buftänden etwas befremdlih. ES ijt, ald ob der Verfaſſer mit plöglichem 
Ruck jeine Haltung änderte, vor eben den Mächten, die er ſiegreich befämpft 
hat, fich verneigte und bejcheiden bäte, nun doc ihn und die Seinen 
freundlich aufzunehmen. Angenommen, die „allgemeine Bildung“ dächte 
wirklich jo geringihäßig von den Werfen der Technik und ihren Schöpfern, 
wie Niedler meint, jo wäre das eben nur ein Beweis mehr, daß die joge- 
nannte allgemeine Bildung nicht? taugt, daß wir ihr je eher je lieber den 
Laufpaß geben und und bemühen jollen, eine Anzahl bejonderer Bildungen 
an ihre Stelle zu jeßen, unter denen denn auch der Gedankenkreis des 
Techniferd und die Art, wie er die Welt anjehen muß, zu ihrem echte 
fommen würden. Statt dejjen hält NRiedler die allgemeine Bildung wie 
etwas an ſich Gutes fejt, hofft nur, fie jo zu erweitern, und das heißt zu— 
gleich zu verdünnen, daß auch von den Berühmtheiten der Technik wenigitend 
ein wenig in ihr Plaß finde (S. 20. 45). Bon den Univerfitäten urtheilt 
er nicht mit Unrecht, daß fie aus ihrer langen Geſchichte manches Ueber- 
febte an Formen und Einrichtungen mitjchleppen, wodurch es ihnen er— 
ſchwert wird, den fich ändernden VBedürfnifjen einer neuen Zeit recht zu 
genügen. Und doch weiß er für die techniichen Hocichulen, die eben aus 
dem Leben diejer neuen Zeit erwachjen find, nichts Schöneres zu wünſchen, 
als daß jie ald neue Glieder in den alten Organismus eingefügt werden 


8348 Notizen und Beiprechungen. 


(S. 75 - 81). Er plant eine Geſammthochſchule mit etwa 12 Fakultäten, 
von denen die Hälfte auf technijche Fächer fommen würde. In diefem Zu— 
fammenhange wird dann natürlich aud dad Recht der Doltor-PBromotion 
für die neuen Fakultäten gefordert. — Das Fehlen einer ‘langen Tradition, 
die Vorausſetzungsloſigkeit des Schaffens ift zugleich ein Mangel und eine 
Stärke. Man follte meinen, die Techniker würden lieber die Seite der 
Stärke hervorfehren, anjtatt immer an den Mangel zu erinnern; fie müßten 
einen Stolz darin finden, etwas durchaus Neues, Eigenartiged, Lebenskräf— 
tige8 neben dad alternde Gebilde der Schweiteranitalt zu jtellen. Der 
Verfaſſer erwähnt dieje Anficht ald eine unter feinen Berufsgenojjen*) ver: 
tretene (S. 80), läßt aber erfennen, daß er jelbit den anderen Weg, die 
Vereinigung mit der Univerfität, vorziehen wiirde. 

Nur für den Fall, da es dazu nicht kommen jollte, geht er auch auf 
jene Möglichkeit ein und giebt bier, wo es ſich um die Ausgeitaltung eines 
ihm vertrauten Inſtituts handelt, ſehr praftiihe und beherzigensmwerthe 
Rathſchläge. Er warnt davor (©. 94 f.), das Privatdozententhum, jo wie 
e3 ſich an den Univerfitäten entwidelt hat, einfach herüberzunehmen, weil 
ed, noch mehr als dort, für die techniſche Hochichule darauf anfommen müſſe. 
„wifjenjchaftlich Hochitehende Kräfte aus der Praxis“ zu Lehrern beran- 
zuziehen. — Sodann protejtirt er gegen den Verjud), an den man wohl ge= 
dacht habe, die Univerfitäten dadurch zu vervollitändigen und zu moderni— 
firen, daß einzelne Fächer, die ihrer Natur nad) auf beiden Seiten Anſchluß 
finden können (Geometrie, Phyſik, angewandte Chemie u. a.), von Der 
technischen Hochſchule abgejplittert und ganz mit der Univerfität verbumden 
würden. Dadurdy würde man die Hochſchulen der Techniker zu bloßen Fach— 
ſchulen herabdrüden, während Riedler verlangt und in feiner Rektorats— 
rede aufs Neue begründet, daß auch fie in ihrer Weije einen univerfalen 
Charakter tragen jollen. Deshalb empfiehlt er, ähnlich wie dies jeiner Zeit 
mit eingehenderer Begründung Zöller gethan Hatte, eine Befejtigung und 
Erweiterung der hier und da fchon mit dem Polytechnikum verbundenen 
allgemeinen Abtheilung, die „mehr biete, als das tägliche Brot der grund 
legenden und Hilfswifjenihaften“; bier jollen ji die Studenten über 
ſolche Gebiete orientiren können, die nicht zu ihrem eigentlichen Fache ge— 
hören, mit denen aber ihr Beruf fie in nahe Berührung bringen wird: 
Nechtökunde, Staatöwifjenfchaften, Hygiene, VBolldwirthihaft u. U. Dem 
allen würden wir rüdhaltlos zuftimmen fünnen, wenn der Verfaſſer nicht 
die Ungerechtigkeit beginge, eben die Verkürzung, die er von den techniichen 
Hochſchulen abwehren will, für die Univerfitäten zu fordern (S. 92. 96); 
das darf natürlich nicht zugegeben werden. Es jchadet ja gar nicht, wenn 


*) Einer derjelben bat ganz neuerdings den „Doktortitel der Techniker“ 
abgelehnt mit Gründen, die den oben angedeuteten verwandt find, 
und mit einer beinahe trogigen Selhftahtung, vor der man Reſpelt 
haben kann. Sonntagsbeilage der Kölniihen Zeitung vom 8. Ditober. 


Rotizen und Beiprehungen. 849 


beide Anftalten, ungehindert und ohne Fünftliche Verſchmelzung neben ein- 
ander geitellt, in einem Theile der ®egenjtände, die fie behandeln, über- 
einftimmen. Die Art der Behandlung wird dann eben veridhieden fein 
und, indem fie von zwei Seiten her wirkt, um fo kräftiger in den Stoff ein= 
dringen, wie fich das für Mathematit und Phyſik jchon bisher genugſam 
bewährt hat. | 

Diefe Möglichkeit des freien Wetteiferd der beiden Schmweiteranftalten 
auf einzelnen gleichartigen Gebieten möchten wir auch in Bezug auf den 
dritten Punkt empfehlen, den Riedlerd praktifche Vorſchläge betreffen, die 
Lehrerausbildung. Er will davon nicht3 wiſſen — was Zöller befürmwortet 
hatte — daß etwa für Gymnafiale und Realſchullehrer dad Studium in 
Mathematik und Naturwifjenichaften der techniſchen Hochſchule zugemwiejen 
werde; aber für deren eigene künftige Dozenten fordert er (S. 93) einen 
gemilchten Bildungsgang etwas fomplizirter Art, ohne zunächſt einen ge— 
naueren Plan dafür vorzulegen. Mir jcheint, man müßte fich hier wie 
andermwärtd vor zu vielem Reglementiren hüten und ruhig den Weg weiter 
gehen, den kürzlich die preußijche Unterrichtöverwaltung, wenn auch erjt mit 
ganz bejcheidenen Anſätzen, bejchritten hat: in der neuen Prüfungsordnung 
für das höhere Lehrfacd (1898) ift den Kandidaten der Mathematik und 
der Naturmwifjenichaften gejtattet, biß zu drei Semeftern an einer technijchen 
Hochſchule zu ftudiren. Wenn foldhe Freizügigkeit, in erweitertem Maße, 
herüber und hinüber zugelajjen wird, jo werden ſich gegenfeitige Anregung 
und fruchtbarer Austaufh von Gedanken und Anjchauungen von jelbit 
einjtellen. 

Ermähnt fei nod), daß Riedler zum Schluß auch die äußerlich drin- 
gendjte Frage, die der Neugründung von techniihen Hochichulen, umfichtig 
erörtert. Er verlangt mindeſtens zwei für den öjtlichen Theil der Monarchie, 
eine in Danzig, die ja inzwijchen der Verwirklichung ein Stüd näher gerüdt 
ift, und eine in Breslau, und empfiehlt eine dritte, die er ebenjo wie in 
Breslau mit der Univerfität vereinigen möchte, für Kiel. 

Wir jchließen hier zwei Reden an, in denen namhafte Vertreter der 
Univerjität, beide auf Niedlerd Buch Bezug nehmend, verwandte Themata 
behandelt haben: 

Felir Klein, Univerfität und technifche Hochſchule. Rede, vor der Ver— 
fammlung deutſcher Naturforjcher und Aerzte zu Düfjeldorf am 19. Sep- 
tember 1898 gehalten. 

Wilhelm Waldeyer, über Aufgaben und Stellung unferer Univerfitäten 
jeit der Neugründung des deutjchen Reiches. Berliner Rektoratsrede, 
am 15. Oftober 1898 gehalten. Berlin (Aug. Hirihwald) 1898. 31 ©. 

Der Göttinger Mathematifer, jelbjt ein Kind der großen niederrheinis 
ſchen Snduftriejtadt, jteht den Erfolgen wie den Forderungen der Technik 
mit vollem PVerjtändniß gegenüber. Er erkennt an, daß die beiden Hoch— 
ſchulen gleichartige Anjtalten find und daß, worauf ſchon Riedler hinge— 


350 Rotizen und Beiprehungen. 


deutet hatte, dad Polytechnitum faum in anderem Sinne eine Fachſchule ift 
als die drei fogenannten oberen Fakultäten der Univerjität. Bei der vierten, 
der philofophifchen, findet er allerdings ein Ueberwiegen des rein alademi- 
fhen Betriebes, kunftatirt aber mit Befriedigung, daf feit einiger Zeit eine 
Bewegung begonnen hat, die dahin geht, die Art, wie die fünftigen Gym— 
nafiale und Neallehrer wifjenichaftlic, ausgebildet werden, den Bedürfniſſen 
ihre praftifchen Berufes etwas mehr anzupafjen. Klein fieht ein Mittel, 
durch welches die Profefjoren feines eigenen Faches, die der Geſchichte, der 
Spraden mit dem Leben des Berufes, für den fie doch vorbereiten jollen, 
Fühlung gewinnen, in den „Ferienkurſen“, die ſich an mehreren Univerjis 
täten bereit eingebürgert haben. Während er hier wünjcht und hofft, daß 
die zu frühzeitige Epezialifirung, das einſeitige Betonen der wiſſenſchaft— 
lihen Forichung, das der Freude am fpäteren Lebensberuf leicht jchatet, 
durch praftiihe Rückſichten ergänzt werde, empfichlt er umgekehrt den tech— 
nischen Hochſchulen die Einführung eine® Spezialunterridtes, der den 
tüchtigjten ihrer Zöglinge ähnlihe Gelegenheit zu wifjenichaftlicher Ver— 
tiefung und jelbitändiger Forichung geben joll, wie fie die Univerjität in 
ihren gelehrten Seminaren bütet. Auf diefe Weife jollen beide Anjtalten 
von einander lernen und fich innerlich näher femmen. 

Der Eindrud dieſer durchaus gefunden, furz und treffend begründeten 
Gedonfen wird ein wenig dadurd) beeinträchtigt. daß auh Klein zum 
Schluß, wiewohl nur zaghaft, für den Pan einer aud) äußeren Verbindung 
der techniſchen Hocichule mit der Univerfität feine Sympathie zu erfennen 
giebt. Dieſe Wendung hängt wohl damit zufammen, daß er fih von dem 
Glauben an die Möglichkeit einer einheitlichen „allgemeinen Bildung“ nod 
nicht ganz frei gemacht hat. Ererzählt, vaß vor dreißig Jahren der damalige 
obırite Beamte unjered NRegierungsbezirfed ihm zu beweiſen gejucht Habe, 
ed gebe zwei Arten höchſter wiljenichaftliher Bildung, die techniſch-natur—⸗ 
wifjenichaftlide und die humaniſtiſche; dagegen habe er nah Kräften 
protejtut. — Ob die Namen völlig zutreffend gewählt waren, mag 
zweijelhaft bleiben; noch mehr, ob dıe Zweizahl gegenüber der zunehmenden 
Fülle moderner Geijteskultur ausreicht: in der Hauptiadhe hatte jener Herr 
gewiß recht. Je mehr man die Eelbitändigfeit verichiedener „Bıldungen“ 
anerfennt, deſto mehr. wird gerade dad erreicht werden, was Klein im 
Grunde wünjht: der Austaufch fruchtbarer Anreaungen zwiichen den 
Nachbargebieten. Auch für die höheren Schulen, dıe an die Schwelle der 
Hochſchule führen, läge die Rettung in folder friedlichen Auseinander— 
feßung. So haben, um durch einen Bergleihh zu iprechen. Preußen und 
Deiterreich einen förderlihen Bund erjt ichließen können, als fie nicht mehr 
in die enge Form einer gemeinjamen Verfaſſung gezıwangt waren. 

Der Anjicht, die wir vertreten, und auf die Klems Gedanten bin 
dräng n, jteht Waldeyer mit bewußter Ablehnung gegenüber. Er wıll die 
Vergleihung auch nur der medizinischen Fakultät mit einer technijchen 


Rotizen und Beiprehungen. 351 


Fachſchule nicht recht gelten laſſen. „Das Weſen der Univerſität liegt“ 
feiner Meinung nad „darin, daß fie für alle gelehrten Berufe die grund— 
fegende wifjenfchaftlihe VBorbildung geben will und muß“. Für die Zeit, 
in der die. überlieferte Form der Univerjitäten begründet wurde, war das 
gewiß richtig. Seitdem aber hat fich das Gebiet der gelehrten Berufe 
und ihre Zahl erweitert; und ob fie immer noch alle auf der Univerfität 
ihre Vorbereitung finden, läßt fich nicht au3 einer begrifflichen Definition, 
fondern allein durch Beobachtung der Thatfachen feſtſtellen. Thatſache 
aber ift, daß der Arditelt, der Maſchinenbauer, der Bergmann für feine 
Arbeit nicht geringerer Wifjenichaft bedarf als der Direktor einer chemischen 
Fabrik, ald der Arzt und der Amtsrichter, daß es aljo eine ganze Reihe 
durchaus „gelehrter* Berufe giebt, für die man befondere Anjtalten zur 
wiflenschaftlihen Vorbildung Hat einrichten müſſen. Diefen modernen 
Hochſchulen vermag Waldeyer von feinem Standpunkte aus nicht ganz ge- 
recht zu werben. 

Uebrigens bildet in feiner Nede dad Berhältniß der Univerfität zum 
Polytechnikum nur einen Theil des Themad. Er erörtert weiter, und 
zwar in vorurtheilslofem Sinne, die Frage des Frauenſtudiums und Die 
Bewegung der University extension, die er in der modifizirten Form, die 
fie in Berlin angenommen hat, dem Intereſſe jeiner Kollegen empfiehlt. 
Bulegt geht er auf die akademische Selbjtverwaltung ein, die neuerdings 
in Gefahr fei, von Regierung und Boltövertretung verfannt und deshalb 
verfürzt zu werden (S. 25). Waldeyer warnt vor foldhen Verſuchen mit 
erfreulicher Entjchiedenheit. Und dabei wendet er ſich nicht bloß gegen die 
politiijhen Mächte, die geneigt fein fünnten in das Leben der Univerjitäten 
einzugreifen, fondern auch an feine Berufägenofjen, denen er zeigt, wie jie 
jelber durch die Art ihrer Thätigkeit dahin wirken fünnen, daß fremde Ein» 
miſchung ausgeſchloſſen bleibe. Unter den beiden Aufgaben des afademijchen 
Lehrers jtellt er dad Lehren dem Forjchen voran: zum Forſchen fühle jich 
ein Jeder von felbjt angetrieben; aber die Lehrarbeit jei „da8 mühjamere 
Verf, wenn fie mit dem ganzen Ernjte und mit der vollen Hingebung 
durchgeführt wird, wie eine gereifte Hörerfchaar und die hohe Aufgabe der 
Univerjität dies fordern“. Man wird faum jagen können, daß diefe Auf— 
fafjung heute die herrichende jei. Sollte ſie es wieder werden, jo würde 
darin allerdings die bejte Gewähr dafür liegen, daß nicht Außenjtehende 
fi) veranlaßt jehen, die Univerfität an die Dienjte zu erinnern, die fie der 
Gefellichaft leiften foll, und um deren Willen fie geichaffen worden iſt. 

Düfjeldorf, 29. September 1899. Paul Eauer. 


Theater:Korrefpondenz. 


Deutfhes Theater: Ein glüdlihes Paar. Luftipiel in drei Aufzügen 
von Hermann Faber. — Das Friedensfeſt. Schaufpiel in drei 
Akten von Gerhart Hauptmann. 


Berliner Theater: Baumeifter Solnef. Schaufpiel in drei Aufzügen 
von Henrik Ibſen. Deutjch von Dr. Sigurd Ibſen. 


Hermann Faber hat das aus mir unbekannten Verdienſten ftammende 
große Glück gehabt, zwei Stüde im Zeitraum von etwa einer Woche an 
zwei erjten Bühnen Berlins zur Aufführung gebraht zu jehen. „Emige 
Liebe” fiel im Schaufpielhaus durch. ch hatte von vornherein fein Ber: 
trauen dazu und rettete mir den Abend dur Fernbleiben. Zu dem 
Luſtſpiel „Ein glüdlices Paar” ging id. Denn ich vertraute und baute 
auf das „Deutjche Theater“, das durd die Klugheit feines Direktor aber 
auch durch andere Umftände mehr äußerer Art in den verdienten Ruf ae 
fommen ift, der Yiteratur zu dienen. Doch man darf wohl niemals blinv 
vertrauen. Bon dem Stüf des Herrn Faber jage ich nicht3 Anderes — 
und ich fage das als ernftes Urtheil ohne die Abficht der Uebertreibung —, 
als daß Mojers Werke als Haffiih im Verhältnig zu dem Faberſchen Stüd 
zu bezeichnen find. Was mich in diefem Fall interejfirt, wäre einzig umd 
allein die Beantwortung der Frage: Was fann den Direktor Brahm zur 
Annahme dieſes Machwerks veranlaft haben? Ich mei Feine Antwort 
darauf. — 


* 

Die Aufführung des Hauptmannſchen „Friedensfeſtes“ war eine 
herrlihe Auferjtehungsfeier. Es mar das zweite Werk, mit dem Haupt: 
mann vor die bejchränfte Deffentlichkeit der „Sreien Bühne“ vor faft zehn 
Jahren trat. Ich Halte dieſes Stück für das beite Drama, das dem 
Dichter überhaupt gelungen ift; und ich verftehe hier den Begriff des 
Dramas in dem Sinne, wie ihn Hebbel im Vorwort jeiner „Maria 
Magdalena” vdefinirt hat. Darnach hat und das Drama das Leben und 
die Weltzuftände in der Gebrochenheit darzuftellen, wozu das „Moment der 
Idee“ zu treten hat, in der das Yeben „die verlorene Einheit wiederfindet“. 
Die dramatische Auffafjung des Weltprozejjes ift aljo durchaus dialektiſcher 


Theater-Rorrefpondenz. 353 


Natur. Gegenjäte, aus der Tiefe des Weltjeins jtammend, bewegen fich 
gegeneinander und offenbaren fich nah aufen hin als das, was mir im 
Drama „Handlung“ zu nennen pflegen. Die Handlung ift aljo mit dem 
Weſen des Dramas und des in Ddiefem dargejtellten Weltvorganges aufs 
Innigſte und Innerſte verfnüpft und nicht etwas, das mit Rüdficht auf die 
äußere, effeftvolle Bühnenmwirfung erft von klugen Technifern hinein: 
getragen ift. Hauptmanns „Friedensfeſt“ enthält in vollfommener Weife 
jolde Handlung, die aus dem den Dingen ureingeborenen Zwieſpalt 
hervorgeht. 

Der Dr. med. Fris Scholz hat in jüngeren Jahren weite Reifen 
durch die ganze Melt gemacht. Nirgends konnte er Ruhe finden. Er ift 
eine jener ruhelojen, modernen Naturen, die an dem Zwieſpalt zwiſchen 
Schnjuchtsfülle und Erfüllungsmöglichkeit jchwer zu leiden haben. Nichts 
genügt den Sinnen und dem Denken. Das Denken möchte eine ganze 
Melt einheitlih umfaſſen und ihr Geheimniß auf einen Sclag löjen. 
Das geht nidt, und nun beginnt die Zerfplitterung und Berfajerung, 
Scholz hat ſich bejonders lange in der Türkei, dem Yande der Harems, 
und in Japan, dem Yande der Geishas, aufgehalten und dabei natürlic) 
mitgenommen und ausgefoftet, was jolche Yänder an bejonderen Genüfjen 
bieten. Aus dem unfteten Yeben des Weltwanderers fällt er plößlich in 
das Ertrem des infiedlerdafeins. Er miethet ſich ein „einfames Land— 
haus‘ und nimmt fih ein Weib. Er vertaufcht die zerjtreute und berufs- 
mäßige Sinnlichkeit der türfiichen und japaniihen Schönen mit der indivi- 
duellen Yiebesfraft eines robuften Mädchens aus dem Wolfe, das auf ihn 
allein feine unverbrauchten Sinne fonzentriren wird. So meint er für fein 
leibliches Theil gejorgt zu haben. Das einfame Yandhaus hat zwei Etagen, 
eine untere und eine obere. In die obere zieht fih Scholz zurüd, um hier 
einfam zu finnen, zu Denken, zu träumen, zu phantafiren. Hier lebt er 
gewiſſermaßen ald Gehirnmenidh. in der unteren lebt er mit feinem Weibe 
zujammen und zeugt finder. So führt er ein gebrochenes Yeben der Seele 
und des Yeibes. Die Ehe des geijtreihen, von Natur tief veranlagten und 
hochſtrebenden Dr. Scholz mit dem derben Mädchen aus dem Wolfe ftellt 
die Gebrochenheit des Yebens in einen leiblichen und einen geiftigen Theil 
offenfundig dar. In diefen Zwieſpalt find vom Beginn ihres Dafeins die 
Kinder ſolcher Ehe gejett. Jeder Theil will fie für fich haben. Der Vater 
will fie in jeiner oberen tage in ein Yeben des Geiftes hineinzmingen 
und meint, ihnen zu dem Zweck in einjeitigjter Weiſe Weisheit eintrichtern 
und einprügeln zu müſſen. Die Stinder laufen ihm davon und halten es 
lieber mit der Mutter, die ihren Trieben und Neigungen freien Yauf läßt. 
So fommt es zu Szenen, in denen das Kind — mie Wilhelm erzählt — 
vom Vater am einen und von der Mutter am anderen Arm gezogen wird. 
Schließlich muß der Vater als der weniger robuste Theil nachgeben. Die 
Kinder tragen am Ende dazu bei, daf der Vater immer mehr jich auf 
jeine Etage bejchränkt, ſich immer mehr abjondert, immer abjonderlicher wird. 
Er wird in feinem Denfen und Fühlen von Niemand in feinem Haufe 
veritanden. Er fühlt fih — nicht ohne Grund beargwöhnt, belauert, 
beladht, befeindet. Er zieht ſich immer mehr in fich zurüd. Cine unheim— 
liche Furht und ein tüdisher Haß überfommen ihn, der in feinem 

Preußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2 23 


354 Theater-Rorrefpondenz 


Seelenleben jih von der robuften, brutalen Yeiblichfeit der unteren Etage 
immer mehr und mehr bevränat fühlt. Er haft dieſe Yeiblichkeit, er 
verachtet jie und er fürchtet fie auh. Er hält fie für etwas Gemeines, das 
zu Allem fähig it. So kommt er dazu, jeine Ehefrau dem Knecht 
gegenüber hinterrüds des Chebrudys zu bezichtigen. Das ijt zweifellos 
niederträchtig, feige, ehrlos, Es tft aber in feiner innerften Bedeutung 
doc immer das Aufbäumen einer in Furcht und Haß geſetzten Seele gegen 
die verabjcheute Uebermacht des Sinnlihen und Xeibliden. In dem 
Moment aber, in dem das Geiftige ſich aufs Tiefjte erniedrigt und ins 
Segentheil feiner Beftimmung verkehrt hat, erhebt ſich aus dem Yeiblichen 
ein Jdeal in Gejtalt der Liebe des Kindes zu dem Yeibe, der es getragen 
hat. Der empörte Sohn jchlägt aus Yiebe zur Mutter den Water ins 
Angefiht. So find die Verhältniffe zur äuferften Spite getrieben. Diejes 
Leben in dem einjamen Yandhaufe ift von Grund aus zerflüftet. Water 
und Sohn gehen aus dem Haufe. Die Familie Scholz hat aufgehört zu 
eritiren. Es find Die zentrifugalen und atomifirenden Tendenzen des 
Yebens, die den alten Scholz früher in Uneinigfeit mit fich jelber durch 
die ganze Welt getrieben haben und die jeßt die von ihm begründete 
Familie auseinanderiprengen. 

Es giebt aber auch zentripetale Kräfte, die darauf ausgehen, zu ver: 
einigen, was getrennt iſt und zujammenzuführen, was auseinander: 
itrebt. Es wirft unter den Menſchen eine Araft der Yiebe, die es nit 
begreift, daß Haß die auseinander halten follte, die zujammengebören. 
Dieſe Kräfte wirken in der Familie Buchner. Mit ihr dringt zum erften 
Mal Wärme und Freude in das einjame Yandhaus. Ida Buchner hat 
fih mit Wilhelm Scholz, dem aus dem Haufe gegangenen Sohn, verlobt. 
Da iſt es erklärlich, daß die Mutter, die jung vermwittwete ſchöne und edle 
Frau Marie Buchner, den innigen Wunjc hat, den Bräutigam ihrer 
Tochter mit feiner Familie wieder auszjujöhnen. Der Zufall will es, daß 
zugleih mit Wilhelm, am Weihnachtstage, auch deſſen Vater nad) jechs 
Jahren zum erjten Mal mieder fein Haus betritt. Der alte, jchredliche 
Gegenſatz könnte vielleicht wieder aufleben. Frau Buchner übernimmt die 
Vermittlung. Und jie findet den Boden zur Verföhnung bereitet. Denn 
in der Trennung haben die mit Sehnſucht an einander gedacht, Die mit 
einander ſich jo bitter haſſen. Der Kerzenglanz des Weihnahtsbaumes 
ftrahlt über eine verföhnte und glüdliche Familie. Das Weihnahtsliev, 
das da fingt, wet mit holven, reinen Tönen die >artejten und ſüßeſten, 
befeligendjten Empfindungen — aber auch die böfeften Dämonen. Diefer 
Umſchwung, der während des Yiedes hereinbricht, ift von ungeheueriter 
dramatischer Aunft und Kraft. Wilhelm liebt feine Braut aus tiefjtem 
Herzensgrund. An der zarten Reinheit ihrer unbefledten Seele glaubt er 
jelber reiner und bejjer werden zu können; ihre ftarke und opferfähige Güte 
wird die feiner Seele eingeborenen wilden Hräfte zu bezwingen wiſſen 
Doch auch der ältere Bruder Robert hat das Verlangen, dur die Mact 
der Yiebe zu genefen. Und als die Yiebe in Geitalt das zum eriten 
Male holdſelig und ſonnig in das düftere Haus tritt, da entbrennt der 
Unglüdjelige in Yiebe zu feines Bruders Braut. Er kämpft jein Gefühl 
jtandhaft nieder. Denn er ift im allertiefften Grunde feiner Seele aut. 


Theater-Rorrefponden;. 355 


Als nun aber das Yied Aller Seelen löſt und die Empfindungen auf: 
wühlt, da kann fi Robert in feinem Schmerz, in feiner milden 
Sehnfuht, in feinem innigen Glüdsverlangen kaum beherrſchen. 
Er mill fih aber noch beherriben und fo fommt er dazu, hinter die von 
ihm vielfach gebrauchte Maste des Cynismus zu flüchten. Er bezeichnet Die 
ganze Szene als jentimentale Albernheit Dagegen braujt der im Augen- 
blide hingebendjten Glüdsgefühls jäh verlegte Wilhelm auf. Die Brüder 
gerathen aneinander. Der Vater wird bei dem ausbredhenden Streit an 
das furchtbare Geſchehniß erinnert, das ihn vor Jahren aus dem Haufe 
trieb. Der geiftig zerrüttete Mann verwechjelt Gegenwart und PVergangen- 
heit. Er mähnt, die Angriffe ſeien wieder gegen ihn ſelber gerichtet. 
Furchtbar aufjchreiend bricht er zujammen, um in ein tödtliches Fieber zu 
fallen. Die Yiebe trat in dieſes Haus, um ihr frommes Werk zu thun. 
Es ſchien gelungen. Da jollte es fich ermweifen, daß in diefem Haufe, bei 
dieſen von der Hand des Schidfals ſchwer belajteten Menjchen auch die 
viebe zum Unheil ausichlägt. Die Yiebe wollte erretten und fie vollendete 
beim Rettungswerk das Nerderben. 

War die Kraft und das Wefen diefer Yiebe vielleicht noch nicht jtarf 
und rein genug? Auch die jelbitlofeite Liebe läuft, in diefe Welt der Sinne 
gebannt, Gefahr, beflekt zu werden. So muß denn aud die cdle und 
gütige Frau Marie Buchner befennen, Wilhelm nicht ganz ohne allzu 
perjönlihes Wohlgefallen in ihr Haus gezogen und ihrer Tochter zum 
Bräutigam erwählt zu haben. Auch die Welt der Yicbe ift in dieſem 
Drama eine zerbrochene und im innerjten Wejen gejpaltene. Nah allen 
Seiten hin und mit unerbittliher Konjequenz ijt der Weltproze in feinem 
Gebrocenjein dargeftellt. Aber Wilhelm und Ida werden dody glüdlich 
werden. Gerade im Augenblid des tiefiten Elends ſchließen fie fi, mie 
es ſcheint, fefter denn je aneinander. Sie glauben bejtimmt an das Glüd 
ihrer Zukunft. Auch der Zufchauer fönnte es glauben. Vielleicht jogar 
hat es auch der Dichter jo gemeint, jo daß Wilhelm als ein armer Heinrid) 
aufzufaflen wäre, dem durch eines reinen Mägdeleins Opferfähigkeit Glüd 
und Leben bejchievden wäre. ch halte diefen Schluß für ſchwächlich und 
glaube nicht an ihn Robert mit feinem allzu fcharfen Blid für die Nacht: 
jeiten des Yebens hat Recht, wenn er auf Wilhelms Trage nad) das 
Zufunft an feiner Seite erklärt: Die wird wie die Mutter, d. h. die alte 
Frau Scholz. da würde das nie und nimmer zugeben. Doc fie täufcht 
jih über fih und ihre Liebe Es tft das im tiefiten Grunde garnicht nur 
die erlöjfende und jelbitlofe Liebe der reinen Jungfrau. Unbewußt ſteckt in 
diefem Trieb zu heilen und zu erlöfen auch ein finnlicher Schauer vor dem 
Abgrund, der ſich aufthut. Wilhelm ift der leivende, aber auch ein wenig 
der dämoniſche Mann, der ſchreckt und im Schreden zugleich anzieht. Solche 
Schauer find gemijcht aus Luſt und Unlujt, d. h. fie find Wolluft. Mit 
der Erlöfung des Mannes durch Weibesliebe ift das doch jtets jo eine 
eigene Sade. Es handelt ſich da wohl immer mehr um einen poetijchen 
Mahn als um eine praftiiche Wirklichkeit. Das Schidjal der Familie 
Scholz ift unabänderlid durch alle Generationen hin beftimmt. Es iſt ein 
Yeben der Gebrocenheit, ein Dafein in grauenvoller Nacht; aber aus dieſer 
Nacht ftreden die Menfchen flehend die Arme empor zu den Sternen der 


28* 


356 Theater-Korrejponden;z. 


Liebe und des Friedens, nach denen unabläfjig, aber immer vergeblich ihre 
Sehnfuht ringe. „Das Friedensfeſt“ ift in Wirklichkeit eine gemaltiae 
Tragödie des Haſſes, in der Idde aber zugleich ein Schaufpiel der Yiebe. 
Darin liegt die ungeheure dramatische Kunſt und tragiſche Wirkung, das 
wir in jedem Augenblid, in dem diefe Menſchen ſich haſſend zerfleijchen, 
zugleich ihr herzliches Bedürfniß nach erlöfender Liebe herausfühlen. Sie 
möchten ſich lieben und müſſen fich halfen. So iſt ihr Schidjal in der 
Dialeftit des Weltprozeſſes graufam bejtimmt. 

Dieſe tiefe Tragödie wurde im „Deutjchen Theater” mit hoher Voll: 
endung Ddargeftellt. An eriter Stelle jei Mar Reinhardt als Fris Scol; 
genannt. Er verzichtete richtiger Weife auf alles pathologiihe Beimerf. 
Es jpielt da nämlih ganz unnöthig ein Stüd Gehirnerweihung hinein. 
Diefe Pathologie in der Poefie ift eine naturaliftiiche Schrulle, die aus einer 
oberflächlichen und falfchen Auffajiung Ibſens ftammt und heute längit 
überwunden tft. Herr Reinhardt entwarf ein tiefergreifendes Seelen: 
gemälde und jteigerte im Augenblid der Kataftrophe die Tragif zu einer 
Gewalt, die wahrhaftig im alten Dr. Scholz einen alten König Year er 
bliden lie. Sehr gut war Rudolf Rittner als Wilhelm, ganz Cholerife: 
und durhaus der Sohn feines Vaters, auf den ſich das jpezielle Schickſal 
diefes Waters vererbt hat. Mit individuelliter Charakterijtif jtellte Emanuel 
Neicher den Nobert auf die Bühne, den Cyniker mit dem hellen, harten 
Bid für die Nachtjeiten des Lebens, der im tiefunterjten Seelengrunde doch 
von der Sehnfucht nad) einem deal verzehrt wird. Annie Trenner mar 
eine gute Augufte Scholz, die mit dem einen Bruder den Cynismus, mit 
dem andern das cholerifsche Temperament gemeinfam hat. Hans Fiſchers 
Hausfnecht Friebe war ein eindringlid) charakterifirtes \ndividuum. Frau 
Marie Buchner ijt die einzige individualitätsloje blafje Figur des Stüdes. 
Aus ihr machte Youife Dumont, was zu machen tft. In der Rolle ver 
Ida liegt doch viel mehr, als Giſela Jurberg herauszuholen vermochte. 

* * 

Unter Ibſens Dramen iſt „Baumeiſter Solneß“ am ſchwerſten zu ver 
ſtehen und am meiſten der Auslegung bedürftig Es iſt klar, daß die 
ſämmtlichen Vorgänge des Dramas ſymboliſch gemeint find. Hinter den 
materiellen NWorgängen auf der Bühne fteht eine andere Welt mit einem 
tieferen Leben. Das gilt es zu begreifen oder zu empfinden. Ob man beatei' 
oderempfindet, ift aber ein grundlegender Unterſchied. Bei Maeterlind genügt es. 
zu empfinden, bei Ibſen muß man begreifen. Maeterlind dichtet aus einer 
lyriſchen und mufifaliihen Erregung heraus ; Ibſen dagegen jchafft meh: 
mit dem Hirn aus philofophiicher Grundjtimmung. Den Dramen Maeter 
linds liegt das wogende Meer der Gefühle zu Grunde, die Werfe Ibſens 
jtammen aus dem hohen Himmel der Jdeen. Maeterlincks Dichtungen ſtehen 
wir gegenüber wie einem Mufitftüf. Das regt bejtimmte Gefühle in uns 
auf, die tiefer, heftiger und geheimnifvoller find, als die unjeres Jonitiacn 
Yebens. Wir ahnen etwas, und in diefem Ahnen empfinden wir Yuft. 
Ibſen dagegen giebt ein Näthjel auf. das veritandesgemäß gelöjt werden 
muß. Solche Löſung erfordert aud) das Räthſeldrama vom Baumeiiter 
Solneß. 


Theater-Korreſpondenz. 357 


Solneß iſt „in einem frommen Hauſe auf dem Lande“ aufgewachſen 
und er hat Alles das, was in einem ſolchen „frommen Hauſe“ als heilig 
und ewig und ſittlich gelehrt wird, als heilig und ewig und ſittlich in ſich 
aufgenommen. Er iſt „Baumeiſter“ geworden, nicht „Architekt“; „denn 
dazu hat er nicht gründlich genug gelernt,“ wie er ſelbſt erklärt, er hat 
nicht alle vom Staate vorgeſchriebenen Kurſe durchgemacht und Examina 
abgelegt. Er hat aber Genie und in ſich das Bewußtſein, das Schönſte 
und Größte, was es nur giebt, bauen zu können. Doch das genügt ſelbſt— 
verſtändlich nicht, die Leute zu veranlaſſen, dem Unbekannten und noch 
Unbewährten Aufträge zu ertheilen. Nun bewohnt er aber ein altes Haus 
mit einem großen Garten rund herum, das er von der Mutter ſeiner Frau 
ererbt hat. „Von außen nahm es ſich aus wie ein großer, häßlicher, dunkler 
Holzkoſten. Aber inwendig war's doch ganz nett und gemüthlich.“ Würde 
dieſes Haus abbrennen, dann könnte er den großen frei gewordenen Platz 
benußen, um auf eigene Rechnung zu bauen. Er hegt den Wunſch, das 
Haus möge abbrennen, damit er dur den Brand in die Höhe fommen 
fönnte -- und das Haus brennt thatjählih ab: denn es giebt ‚einzelne, 
auserforene, auserwählte Menfchen, denen die Gnade verlichen ward und 
die Macht und die Fähigkeit, etwas zu wünſchen, etwas zu begehren, etwas 
zu mwollen — jo beharrli und jo — jo unerbittlih, — daß ſie es zulegt 
befommen müſſen.“ Solne gehört zu Ddiefen „Auserkorenen“. Indeß 
„allein wirfet einer jo große Dinge nit”. U nein, — Die Helfer und 
und die Diener, — Die müſſen ſchon auch dabei jein, wenn's „zu was 
werden ſoll“. Dieje Helfer und Diener bedeuten die günjtigen Umſtände 
und glüdlichen Zufälle, die der Wünfchende und Wollende klar zu erfennen 
und flug zu benußen fähig jein mul. Solche günjtige Umjtände befördern 
den Brand des Haufes thatjächlich, in Geſtalt einer „Rite im Schornitein“, 
die eine ftändige Feuersgefahr bedeutete und auf Die Solneß feine 
Hoffnungen und Wünſche in Beziehung auf den Brand baute. Allerdings 
bricht jchließlich das Feuer nicht, wie erwartet war, durch die Ritze aus, 
Jondern anderswo, — — Zur Zeit des Brandes hatte des Bau: 
meijters Gattin Aline gerade Zwillinge geboren. Der Schreden erjchütterte 
ſie jo entjeglich, daß fie das ‚Fieber befam, „und das ging in die Mild 
über”. Die Kinder jtarben daran. Doc Solnef; hat erreicht, was er 
erreichen wollte: die Möglichkeit zum Bauen; und er baute, und bald tft 
er ein großer Baumetjter, gerühmt von allen Menjchen, unter denen er 
lebt, ein Baumeiſter, der das Herrlichjte baut, was jene Menichen zu bauen 
haben: Kirchen! 

Als Solneß mieder einmal eine Kirche zu bauen hat, in einer fleinen 
Stadt hoc im Norden, in Yyjanger, wo er in der Einjamfeit „Orübeleten 
ungejtört nachhängen“ fonnte, da „erforichte und prüfte er jich jelbit“, 
und das Ergebniß tft, daß er, im Bemuftiein einer bisher gleihjam latenten 
Kraft, am Tage der Einweihung felber den Thurm erjteigt und den Kranz, 
nad; Yandesjitte, an die Spite hängt. Bisher hat er nie gewagt, „hoch 
und frei hinaufzujteigen“, weil er an Schwindel litt. Wie er nun da 
hoch oben, über der Menge, in freier, E£larer Yuft, ſteht, da jpricht er 
zu Gott, dem er bisher gedient hat: „seht höre mich an, du Mächtiger! 
Non heute an will ih auch freier Baumetiter jein. Auf meinem Gebiet. 


358 Theater-Rorrefponden;. 


Wie du auf dem Deinigen. Nie mehr will ich Kirchen für dich bauen. 
Nur Heimjtätten für Menſchen.“ Er baut fortan Heimjtätten, darin ſich 
ein Jeder jo einrichten kann, wie ed ihm bequem ift, wie es feiner Natur 
entipricht, unbefümmert um die Anderen. 

Es ijt unverkennbar, daß die gejchilverten Borgänge nur Spmbole 
find: Jenes alte, ererbte Haus, darin es fih jo „nett und gemüthlic“ 
wohnt, bedeutet die alten überfommenen Ideale, die von Geſchlecht zu Ge: 
ſchlecht unbeſehen herübergenommen find, bedeutet den einfältigen Glauben, 
die überlieferten Autoritäten, die frommen, in gutem Glauben aufge: 
nommenen Lügen, die alle die dummen, aufdringlichen ragen nach dem 
„Woher“ und „Wozu“ bequem beantworten. Die „Kirchen“ find 
der Gipfelpunft aller joldyer vermeintlichen Ideale und Wahrheiten, 
jte find das Aelteſte, Chrmwürdigite, Heiligite innerhalb der Gejellihaft, die 
Verförperung der offiziellen Anfchauung. 

Solnef, in einem „frommen Haufe auf dem Lande“ erzogen, d. h. 
dort erzogen, wo die gekennzeichneten Anfchauungen am üppigjten mwucern, 
will, im Bemußtjein jeines Genies und feiner Kraft, einer der Erſten, cin 
Führer der Gefellichaft werden. Zu dem Zmwede indeß muß er fih Raum 
Ihaffen, muß er Diejenigen verdrängen, die vor ihm den Pla und ven 
Ruhm bejegt haben. Mit der rüdfichtslofen Kraft feines Willens, eines 
eifernen, brutalen Erobererwillens, jchafft er fich diefen Pla: er veranlagt 
den Brand des Hauſes, d. h er vernichtet gemaltfam, was ihm im Wege 
ſteht. Dod fein Sieg ift nicht jo volljtändig, wie er gedadt hatte: Er 
fannte genau die Schwächen feiner Gegner, er war gemillt, diefe Schwächen, 
dieje „Helfer und Diener‘ zu benußen, doch das miflingt zum Theil. Wir 
fönnen hier an die Vorgänge bei Revolutionen denken: mit aller Kraft jegen 
die Nevolutionäre die Hebel an die jchwächiten Stellen der zu vernichtenden 
Sefeliichaft und meinen, den Sturz genau vorausberechnen zu Fönnen. 
Meiftens aber brechen vie Flammen unerwartet an ganz anderer Stell: 
hervor, und bei dem jähen Sturz erleiden auch die den Schaden, melde 
zuerft und zumeift an diefem Sturz gearbeitet haben. So geht es aud 
Solneß. Es wird jetzt klar fein, was jene Ritze im Schornftein des alten 
Gebäudes, die an anderer Stelle hervorbrehenden Flammen und der 
Verluſt der Kinder bedeutet. 

Hat der Baumeijter auch nicht ohne eigene, jchwere Verluſte fein Ziel 
erreicht, Jo hat er es aber immerhin erreicht. Jetzt hat er Plat und freien 
Weg zur Herrichaft und zum Ruhm. Bald it er einer der Eriten, der 
Führer; er baut Kirchen mit höheren, gemwaltigeren Thürmen, als man fie 
bisher gebaut hatte, d. h. er baut das überlieferte Gebäude der Gejellichaft 
weiter aus, er vertritt am fühnjten und bedeutenditen die überlieferten 
Glaubensſätze. ch möchte jagen: er tjt ein genialer Reaftionär. 

Aber er bleibt es nicht. Se höher er jteht, um jo weiter reiht fein 
Geſichtskreis, um jo einjamer wird es um ihn. Er durchſchaut das Schein 
heiligthum des vermeintlichen Heiligthums, er erkennt das Todte, Ge 
ſpenſtiſche der vermeintlich ewigen Jdeale. Er giebt feine bisherige Welt: 
anſchauung auf, er will feine Kirchen mehr bauen, jondern „Heimſtätten mit 
hohen Thürmen und Spigen‘‘, d. h. er will die Menjhen aus der Mover 
athmojphäre todter deal: emporheben in die klare Yuft, ins helle Sonne: 


Theater:Rorreiponden;. 359 


licht; er will in Jedem die Perfönlichkeit weden, er will der Individualität 
Raum ſchaffen, damit fie fi, unbefümmert um Andere, in allen ihren 
Trieben und Gedanfen frei und ganz ausleben fann. Dod es ift ſchwer 
und mühevoll, als Perfönlichkeit, als Einzelner, nur auf fich jelbft geitellt, 
zu leben; es iſt viel bequemer, überfommene Gedanken aufzunehmen, als 
neue zu denken; es ift viel gemüthlicher, fich in irgend ein Syſtem ein: 
zuhüllen, das durd fein Alter heilig geſprochen iſt, als ſich eine Welt: 
anjhauung neu zu erringen. Und die Menjchen lieben das Bequeme und 
SGemüthliche, es ift jo fiher, wenn der Eine fih an den Zmeiten u. ſ. f. 
anlehnen fann. Damit hatte der fühne Baumeifter, der fühne Neformator 
nicht gerechnet. Die Menfchen wollen gar nicht feine Heimftätten mit hohen 
jpigen Thürmen; er hat vergeblih gebaut, er hat die Menſchen überjchäßt. 

Und er hat auch noch etwas Anderes überſchätzt: feine eigene Willens: 
fraft. Die Menſchen hat er nicht glücklich gemacht, feine eigenen Kinder 
hat er verloren, die Lebensfreude feiner Frau hat er zerftört. Seine brutale 
Thatfraft iſt in vielen Kämpfen zerrieben und nad) Erreichung des Jirles, im 
Beſitz, ſchwach geworden; von jenem ehemaligen rüdjichtslofen, chernen 
Erobererwillen iſt fajt nichts geblieben. Dafür aber hat die Neue in feinem 
Herzen Plat genommen, Gewiſſensbiſſe zernagen feine Seele. Sein Getit 
ift verwirrt und zerrüttet, er it dem Wahnfinn nahe. Nur ein einziges, 
phantajtijches Glück malt er fi) noch aus, eine einzige, lächerliche Hoffnung 
heat er: obwohl thatjächlid und zweifellos der Bejit von Kindern für ihn 
ausgejchlofien it, und obwohl er das jelbjt genau weiß, jo wartet er doc 
immer, wie mit der Hoffnung eines Jrrfinnigen. auf dieſe Kinder, auf Das 
„Unmögliche“, und daher hat er in feinem finderlofen Haufe „Kinderſtuben“, 
nicht eine, — drei. 

In dieſe Situation tritt Hilde Wangel. Sie kommt aus Yyjanger, 
aus jenem Städtchen hoch im Norden, wo Solneß vor Jahren Die oben 
erwähnte Kirche gebaut hatte. Sie fommt „ohne Geld und ohne Koffer“, 
d. h. ganz frei, nur auf ſich angemwiefen, ohne Worurtheile, ohne jene 
Ideale, die ſonſt innerhalb der Gefellihaft hoch im Kurs ftehen. Sie 
fommt mit der ungebrodenen Kraft der Jugend, mit ebenderjelben 
rüdfichtslofen Energie, die Solneß bei Beginn jeiner Yaufbahn zu eigen 
gewejen ift. Sie tritt in das Haus des Baumeijters, um ein erhaltenes 
Verſprechen einzulöjen und um ihr Glüf zu gewinnen. Damals, als 
Solneß in Lyſanger war, hatte er ihr gejagt, daß fie ausjehe wie eine 
fleine Prinzejfin, und wenn fie erft groß fein würde, dann jollte fie feine 
Prinzeſſin fein. „Und als ih dann fragte,“ jo erzählt Hilde, „wie lange 
ich warten jollte, da jaaten Sie, Sie kämen in zehn Jahren wieder — 
wie ein Unhold — und entführten mid. Nach Spanien oder irgend jo 
einem Yande. Und dort würden fie mir ein Königreich kaufen, verfprachen 
Sie.” Und darauf hatte er das Mädchen gefüßt. 

Hilde Wangel hat dieſen Vorgang in den zehn feither verflofienen 
Jahren nicht vergefjen. Dem fühnen, genialen Baumeifter fühlte fie fich 
qleichgeartet, wahlverwandt. Daß jie ihn da oben den Kranz an die 
Spite hängen jah, das „war ja jo entjeglich jchön und jpannend! Ich 
fonnte mir nicht denken, daß es in der ganzen Welt einen Baumeijter 
gäbe, der einen jo ungeheuer hohen Thurm bauen könnte. Und dann, 


360 Theater-Rorreiponden;. 


daß Sie jelber droben jtanden, an der alleroberjten Spite! Ein wirklicher 
lebendiger Menſch! Und dab Ahnen garnicht ein bischen ſchwindlig murde! 
Das mars eigentlich, wovor einem am allermeiften — jo — ſchwindelte“ 
Als er fie dann geküßt hatte, da hat fie ihn von Stund an als ihr 
eigen, als ihren Kameraden betrachtet, und als die zehn Jahre verfloiten 
find, da kommt jie nun und präjentirt ihre Forderung. Natürlich will ſie 
et nicht mehr das Königreich in Spanien; was fie will, das iſt ein 
Yeben in Freiheit und Selbitbeftimmung, fi ausleben will fie, un: 
gefejlelt durch alle Jdeale und Vorurtheile und PBeritellungen und all das 
Yächerliche und Komiſche, was die Menſchen gewöhnlich hoch und heilia 
halten — das will jie, und Solneß als den Genojjen ihrer Freiheit. 

Sie findet in Solne nicht ihr deal wieder; jie findet ihn frant 
und Schwach geworden, als einen gänzlich Anderen. Und darum, eben 
weil er ein Anderer geworden tft, hatte er auch das Intereſſe an jener 
Begegnung mit Hilde verlieren müflen, mit der Veränderung feiner Seele 
mußte auch jenes Ereignig mehr und mehr in jeiner Erinnerung ver: 
blajjen, — und in der That, als Hilde davon zu jprechen beginnt, weiß 
er nichts mehr von diefer Begegnung. Aber jo ganz ijt Die alte, kraft— 
volle Seele doch nicht in ihm gejtorben, fie iſt nur gewiſſermaßen ein- 
geſchlafen, hat nur ein Traumleben, ein Yeben des Unbewußten geführt. 
Er geſteht: „Iſts nicht jonderbar? — Ne mehr ich jest darüber nachdente, 
— da fommts mir vor, als wär ich lange Jahre herumgegangen und hätte 
mich damit abgequält — — auf etwas zu fommen — jo etwas Cr: 
lebtes, von dem ich meinte, ich müßte es vergejlen haben. Und nie fan 
ich heraus, was das jein könnte.“ Wie nun Hilde alle Details aus 
jener Zeit ihm vorführt, wie fie gewiſſermaßen an ihm rüttelt, da erweckt 
jie die eingejchlafene Seele, da friſcht fie die verblafte Erinnerung wieder 
auf. Mit aller Kraft jest Hilde ihr Bemühen ein, den Baumetjter wieder 
völlig zu ihm ſelbſt zurüdzuführen. Zu dem Zmwed muß jie Alles be: 
jeitigen, was den Baumeifter zu dem Veränderten, Schwächeren gemadıt 
hat. Sie erfährt ſein Schickſal, die Geichichte von dem Brande des alten 
Gebäudes. Ste erfennt mit jcharfem Blid die Schuld, welche des Bau- 
meiſters Umgebung an feinen Yeiden trägt. 

Da iſt zunächſt Kaja, Buchhalterin bei Solneß, ihrer äußeren Stellung 
nah. Sie jteht aber auch in einer inneren Beziehung zu ihm. Sie ge 
hört zu den nervöfen, heftig empfindfamen anjchmiegenden Frauennaturen. 
die das Große fühlen, wo fie ihm begegnen, die fich ihm ganz hinaeben, 
wie einer dämoniſchen Macht, die aber jonjt nichts weiter vermögen, 
als eben ſich hinzugeben, ganz in das Andere, Große aufzugeben, 
ohne aus eigenem Kraftvorrath einen pofitiven Einfluß ausüben zu 
fünnen. In der Thea Elvitevt des Dramas „Hedda Gabler“ hat 
Ibſen bereits einmal einen jolden Charakter gezeichnet. Naja empfindet 
das Bedeutende und Starke in Solneß, fie bewundert und liebt ihn mit 
Yeidenjchaft, ihr ganzes Weſen geht in ihm auf. ber fie bat feine 
Ahnung von der früheren Größe des Baumeijters, fie begnügt fi mit den 
Trümmern diejfer Größe, fie fann ihn nie heben und ftärfen. Sobald ver 
jtärfere Einfluß Hildes auf Solne wirkt, muß Naja aus ihrer Position 
verdrängt werden. Die rüdjichtslofe und jtarfe Hilde vernichtet die ſchwache 


Theater-Forreipondenz. 361 


Kaja gerade jo, wie Thea Elvftedt an Hedda Gabler ihren Einfluß auf 
Löoborg verliert. 

Drüdender uno jtärfer als das Verbindungsband mit Kaja iſt Die 
Kette, durch welche Solneß an jeine Gattin Aline gefeilelt if. Was dem 
Charakter. Alines das Gepräge giebt, das iſt ihr Begriff der „Pflicht“. 
„Pflicht“ ift ihr Alles, das ganze Yeben iſt ihr eine „Pflicht“. Das 
Haus iſt abgebrannt, fie hatte das Fieber, fie follte die Kinder nicht 
nähren und fie that es dennoch: denn es war ja ihre „Pflicht“ — und 
die Kinder ftarben an dieſer „Pflicht“. Das erlittene Unglück zehrt an 
ihr, aber fie klagt nie laut, freudlos und jchmeigend wandelt fie umher, 
ein leibhaftiges Jammerbild, — denn zu dulden und zu jchweigen ift ja ihre 
„Pflicht“. Sie hat für des Gatten Beftrebungen nicht das mindeite Ver- 
itändnif, nur Mifbilligung, aber fie bringt es nie zu einer Ausſprache 
und Verftändigung, denn fich zu unterwerfen tft ja ihre „Pflicht“. Sie be- 
ſorgt die Wirthichaft, denn das iſt ja ihre „Pflicht“ ; fie beforgt die Ein- 
fäufe für Hilde, obwohl ihr das Mädchen tief unſympathiſch iſt, denn das 
it ihre „Pflicht“. Kein Saft, feine Kraft ift in dieſem Gejpenjt, Fein 
Muth, dem Wunfche des Herzens Raum zu geben und die Forderung, das 
Necht auf eigenes Glüd zu vertreten. Alles Warme, Belebende tft erftict 
und Ddurchfältet in der eifigen, jonnenlojen Atmofphäre diejer „Lrlicht”. 
„Pflicht“ — das hört ſich „io falt und ſpitzig und jtechend“ an, bemerkt 
Hilde. An „dieſe Todte“ iſt Solneß bei lebendigem Yeibe gefettet, er, der 
ein freudelofes Yeben nicht tragen kann; dieſe Frau hat er beitändig um 
ih, an der jeder Blid, jede Bewegung eine ftumme lage und Anklage 
bedeutet, und die fich garnicht bewußt it, welche Qualen folche ſtummen 
Nlagen der Umgebung bereiten. Solneß glaubt an dem Unglüd jeiner 
rau einzig und allein jchuldig zu fein, an ihrem Unglüd der Kinder— 
lofigfeit; er meint, mit dem Tode der Kinder damals bei dem Brande jet 
ihr ganzes Lebensglück mit getödtet. Cr jagt: „line, die hatte aud 
ihren Beruf im Yeben. Ebenſowohl, wie ich den meinigen. — — — 


Aline, — die hatte auch ihre Anlagen zum Bauen. — — — Neine 
Häufer und Thüren und Pfeiler — — nichts von dem, mas ich jelber 
treibe. — Kleine Hinderjeelen aufzubauen, Hilde. Kinderſeelen aufzubauen, 


jo daß jie groß werden im Gleichgewicht und in jchönen, edlen Normen. 
So daß ſie fich erheben zu geraden, erwachjenen Menjcenfcelen. Das 
war's, wozu Aline Anlagen hatte.* — 

Solneß täufcht fich jehr, er hat Frau Aline viel zu hoch geichät. 
Eines Bejleren werden wir belehrt aus einem Gejpräch zwischen Hilde und 
Aline. Erſtere beklagt das traurige Schidjal der Frau Solneß, bejonders 
ven Tod der Kinder. Doch Frau Solnej meint, der Verluft der Kinder, 
das wäre eine höhere Fügung. Die hätten es jett jo gut, wie man cs 
fich nur denken fünne. Ueber die ſollte man fich bloß freuen. Und dann fährt 
ſie fort: „Nein, es find die fleinen Verlujte im Yeben, die einem wehe 
thun bis in die Seele hinein. Wenn man das Alles verliert, mas andere 
Yeute fajt für gar nichts adhten. Da verbrannten zum Berjpiel alle die 
alten Porträts an den Wänden. Und alle die alten jeidenen Kleider, die 
der Familie wer wei mie lange gehört hatten. Und die Spitien der Mutter 
und der Großmutter — die verbrannten aud. Und denken Sie nur — 


362 Theater⸗Korreſpondenz. 


die Schmuckſachen! (ſchwermüthig) und dann alle die Puppen. — Frau 
Aline hatte „neun wunderſchöne Puppen“, mit denen ſie immer zuſammen 
geweſen war, auch nachdem ſie erwachſen war, und auch, nachdem ſie ver— 
heirathet war, — und „dann verbrannten fie ja die armen Dinger‘. Die 
zu reiten, da dachte Niemand dran. Ad, das ift ein trauriger Gedanke. 
Auf ihre Art waren die ja auch lebendige Weſen.“ — Nun fennen mir 
Frau Aline — 

Aus dem Geſpräch mit ihr geht Hilde, der „etwas recht Warmes und 
Herzliches” nothmendiges Yebensbedürfnif ift, hervor wie aus einem „Grab: 
gewölbe*. Es iſt flar: von diefer Frau muß Hilde den Baumeifter be: 
freien, wenn fie ihn retten will. Aline fteht zwiſchen ihm und feinem 
Glück. Und Hilde fann und will ed nun nicht begreifen, „daß einer nad) 
jeinem Glück nicht greifen darf. Nach feinem eigenen Yeben nit! Bloß 
weil Jemand dazmwilchen fteht, den man fennt!” Ind nun fommen mir 
zu einem Wortaustaufch zwischen Hilde und Solneß, der recht eigentlich 
die Are des Dramas bedeutet, den Schlüjjel für das Verſtändniß des 
ganzen Stüds bietet: auf die foeben zitirten Worte Hildes bemerkt der 
Baumeifter: Jemand, an dem man nicht vorbei darf. 

Hilde: Ich möchte wiſſen, ob man das im Grunde nicht dürfte. — — 
Sie find krank, Baumeister. Schwer frank glaub ich fait. 

Solneß: Sagen Sie verrüdt, denn das meinen Sie je. 

Hilde: Nein, am Berjtande, glaub ich, fehlt Ihnen weiter nichts. 

Solneß: Wo fehlt’s mir denn? Heraus damit! 

Hilde: Ob die Sache nit die ift, daß Sie mit einem fränflichen 
Gewiſſen zur Welt gefommen find. 

Solneg: Mit einem Fränkliden Gewiſſen? Was tft denn das für 
ein Teufelsding? 

Hilde: Ich meine, daß das Gewiſſen bei Ihnen recht ſchwächlich it. 
So — zart gebaut. Daß es feinen Stoß verträgt. Daß es das, mas 
ſchwer tft, nicht heben noch tragen kann. 

Solnef: Hm! Wie follte denn das Gewiſſen fein, wenn ich fragen darf! 

Hilde: Ber Ihnen möcht ic am liebften, dah das Gewiſſen jo — 
jo recht robuft wäre. 

Ein wenig weiter heißt es, man märe glüdlicher, „wenn man ein 
recht Fräftiges, von Geſundheit ftrotendes Gewiſſen hätte. So daß man 
ſich das getraute, was man am liebjten möchte“. Darauf meint Solneß: 
Ich meinerfeits glaube, da die Meiften in dem Punkte ebenjo große 
Schwächlinge find, wie ich jelber. 

Hilde: Mag jchon fein. 

Die zitirte Szene legt den Kernpunkt des Dramas, das Tragiice 
darin bloß: Diejes Tragijche beruht auf dem Doppelcarafter des Menſchen 
als Egoiſt und Altruift. Hilde will, wie bereits gejagt it, dem Bau 
metiter feine alte Araft und Freiheit wieder verſchaffen. Sie will dem 
egoiftiichen, individualijtiichen Prinzip, das die Grundlage ihrer beiden 
Charaktere it, zum Siege verhelfen. Sie führt Solne immer wieder 
jeine frühere thatkräftige Senialität und Kühnheit vor Augen. Er ke 
raufcht fich in dieſer Erinnerung an fich jelbit; er will wieder der jein, 
der er war, er will den Beweis dafür geben, dal; er es bereits iſt, er 


Theater-Rorrefponden;. 363 


will von Neuem ein Probeftüd liefern. Er entjchließt ji, den Thurm 
jeines eben gebauten, neuen Wohnhaufes am Tage der Einweihung wieder 
ſelbſt zu befteigen. Der Baumetjter ſoll jelber jo hoch fteigen, wie er 
bauen fann. Und wenn er dieſen Thurm bejtiegen hat, dann mill er 
nur nod eins bauen, etwas, das noch nie dagewejen iſt, zujammen mit 
Hilde, etwas jo Herrlihes und Großes, wie es fih nur die fühnite 
Phantaſie ausmalen fann: ein „Luftjchloß“, aber ein Luftſchloß mit einer 
„Grundmauer“, und da hoch oben wollen die beiden dann leben. Dieies 
„Luftſchloß“ iſt im Grunde gar nicht verjchieden von den vorher beiprochenen 
„Heimjtätten“ mit jpıigen hohen Thürmen. Es it dadurd jymbolifirt die 
völlige Ausbildung der Perjönlichfeit, der kraſſeſte Individualismus, ein 
Yeben in höherer freiheit und Selbjtherrlichkeit, als in jenen „Heimftätten für 
Menſchen“ eine jo ungeheure, ſchwindelnde, fonnennahe Höhe, wie es ſich die 
fühnfte Phantaſie nur ausmalen fann; aber es joll doch Fein Phantaſieſtück fein, 
es joll eine reale Unterlage, die Grundmauer haben, es joll aljo beruhen 
auf der ins Ungehcure gejteigerten, genialen Kraft Hildes und des Bau- 
meijters. Beide trauen fih eben eine jolde Kraft, ein ſolches Nietzſcheſches 
Uebermenjchenthum zu. 

Der Tag, da das erwähnte Wohnhaus eingeweiht werden foll, ift da. 
Solnef bejteigt den Thurm — bis zur Spite — ein Schwindel ergreift 
ihn — er ſtürzt — zerjchmettert liegt er am Boden. Cr hatte ſich eben 
nur an feinem eigenen Bilde aus früherer Zeit beraujcht, er glaubte die 
frühere Kraft mieder zu bejisen, aber dieſe Kraft war jeht nur eitel 
Vhantajterei. Die einmal gebrochene Kraft ijt nicht mehr zu heilen. Und 
Hilde? — Der Tod des Baumeifters trifft fie tief ins Herz, mie irr ftarrt 
jie auf ven Fallenden. Aber fie ift zu fraftvoll und muthig, um beim 
eriten Anfturm des Schidjals gebrochen zu merden. Wenigjtens gelang es 
ihr doch, den Baumeijter wieder jo hoch zu jehen, wie fie ihn fchon einmal 
gejehen hatte, wenn er ſich auch nicht dauernd und ficher auf der Höhe 
halten fonnte. Den Baumeijter wieder jo hoch geſehen zu haben, das tjt 
ihr ein Triumph. Und mährend jo gleichzeitig an Irrſinn grenzender 
Schmerz und triumphirende Freude ihre Seele durchftürmen, jagt fie, „wie 
in jtillem, irrem Triumph”: „Aber bis zur Spite fam er. Und ich hörte 
Harfen hoch oben. Mein — mein Baumeijter!“ 

Es mu etwas Gkitatiiches, Vifionäres in der Art liegen, wie jie 
diefe Worte fpriht. Denn dahinter liegt noch die Vorjtellung verborgen, 
daß ſie jelbjt nicht nur eben jo hoch jteigen, jondern fich auch jo hod) 
dauernd halten wird, in Freiheit und Selbjtherrlichfeit, aus eigener Kraft 
dem eigenen Glüde lebend. Wird fie es? — Mein! — Wohl vertritt 
fie jegt noch, jung und im Grunde unerprobt, die Theorie von des Herzens 
Härtigfeit und der Seele Mitleidloſigkeit Sie iſt eine Illuſtration zu dem 
Sate des Philofophen Nietzſche: „Gebunden Herz, freier Geiſt. — Wenn 
man fein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man jeinem Geiſte 
viele Freiheiten geben.“ Aber auch in ihr jchlummern jene Krankheits— 
feime eines zu „zarten Gemijjens;“ und menn jie auch noch nicht groß 
gewachſen find und die ganze Seele durchwuchert yaben, — von Zeit zu 
Zeit regen fie fih doch ganz leife: Als Hilde mit Aline Solneß ſpricht, 
da überjchleicht auch fie das Mitleid mit der unglüdjeligen Frau, wenn 


364 Theater-Rorrefpondenz. 


auch nur vorübergehend. Als ein gewiſſer Nagnar Brovik den Baumeiſter 
um eine Empfehluug bittet, legt fie für ihn Fürſprache ein, obwohl Solne 
dieje Empfehlung nur mit Schädigung jeiner eigenen Intereſſen geben kann. 
Als fie den auch oben zitirten Sat verfiht, man dürfe an dem vorüber 
gehen, was hindernd im Wege fteht, da meint fie doch: „Ach, wenn man 
doch die ganze Gejchichte verjchlafen könnte.” Und endlich: In der erften 
Nacht unter des Baumeiſters Dah träumt ihr, fie ſtürze „von einer un— 
geheuer hohen, fteilen Felsmand hinab.“ Auch Solnef; träumt öfter der: 
aleihen. Diefer Traum vom Fallen iſt die ſymboliſche Darftellung jenes 
Sefühls der Schwäche, von dem fehr bedeutende Männer rüdjichtsloie 
Ihat in geheimjten unbewachten Augenbliden überfallen werden: ſolche 
Menſchen ftehen auf denkbar höchjter Höhe menjchlicher Macht, fie halten 
jih für unbezmwinglih, wie vom Schidjal auserwählt und gefeit, um 
doh haben fie Augenblide: da taucht in ihren Seelen wie aus einem 
tiefiten, verborgenften Winkel das Gefühl menjchliher Gebrechlichkeit 
empor, erhebt fich grauenvoll und gefpenftiih die Ahnung nahen Sturzes. 

Aus allem Dargelegten ergiebt jih als Problem des Dramas dus 
Verhältniß zwiſchen Egoismus und Altruismus. Cs tft dajjelbe Problem, 
das ſich auch in anderen Dramen Ibſens findet und das ich bei der Be 
iprehung von ‚„‚Rosmersholm‘ unlängit dargelegt habe. Was den Geſammt 
werth diejes Dramas betrifft, jo dürfte es wohl das ſchwächlichſte unter allen 
jein. Auf der Höhe feines Könnens hat Jbjen die große Fähigkeit, den 
mit Fleifh und Blut zu umkleiden und individuell darzujtellen. ‘a 
„Baumeijter Solneß“ dagegen find die Ideen doch nur zu einem Schatten: 
dafein gebracht. Wir haben es mehr mit perjonifizirten Begriffen zu thun. 
Auch die oft geradezu ins Mleinliche gehende Symbolik iſt als ein Vortheil 
nicht anzuerkennen. Doc bleibt es immer ein Werf \bjens, das der cin: 
gehenden Behandlung trog aller Mängel werth ift. 

Warum das Berliner Theater feine Abonnenten mit diejer Aufführune 
beglüct hat, ijt nicht zu erjehen. Weder Publikum noch Schaufpieler find 
hier ibſenreif. Was foll man dazu jagen, daß die Nolle der Aline von 
der Daritellerin komiſch aufgefaßt wurde! Aline iſt unſympathiſch, aber 
doch eine durchaus tragische Geſtalt. Das Rublitum übrigens ging auf die 
verfehlten Intentionen der Darjtellerin mit größten und aufrichtigem Ver— 
anügen ein. Beſondere Heiterkeit erregten die neun Puppen, mit denen 
Aline geipielt hat. Die Damen, die im Parfet und in den Yogen ſich 
vor Lachen jihüttelten, wiffen gar nicht, daß fie jelber, auch wenn fie ſchon 
Großmütter fein follten, noch immer mit ſolchen Puppen im Ibſenſchen 
Sinne jpielen. Rühmend fann ich Fräulein von Pazatka nennen, die die Kaya 
mit richtigem Verftändni und der eigenthümlichen, vom Bann der Suggeftion 
erzwungenen Hingabe ſpielte. 


19. 10. 99. Max Lorenz. 








Politiſche Korrejpondenz. 


Aus Dejterreid. 
15. Oftober 1899. 

Dad Minifterium Thun hat jein Ende erreicht. Seit Monaten 
war an demjelben nicht mehr zu zweifeln, da es feinen Weg gab, die dem 
Grafen Thun von der Krone gejtellte Aufgabe, den Reichsrath lebensfähig 
zu machen, in irgend einer Form zu löfen. Im Augenblide des Abſchluſſes 
der Negierungsthätigkeit de3 genannten Grafen und feiner parlamentarischen 
und bireaufratijhen Mitarbeiter legt man fich nothwendig die frage vor. 
wie dieje Herren überhaupt jemals daran denken fonnten, mit Erfolg zu 
arbeiten, und man fann darauf feine andere Antwort geben, als daß die 
einzelnen Elemente dieſes Minijteriums von jehr verichiedenen Voraus: 
jegungen ausgegangen jind und daß der gänzliche Mangel eines auf die 
zu erwartenden Ereignifje berechneten, deutlichen Programmes den Sturz 
dejjelben zur Folge haben mußte. 

Das Nuftreten des Grafen Thun läßt fi ſachlich in gar feiner 
Weije erklären, ed kann wohl nur auf ganz perjönliche Beweggründe 
zurücgeführt werden; denn es ift ganz unmöglich, einem Manne, der 
als Vermwaltungsbeamter die wejt-öjterreichiihen und namentlich die böh- 
mischen Berhältnifje kennen gelernt hatte, diejelben phantaftiichen Wor- 
jtellungen von der Macht und den Mitteln eines öſterreichiſchen Minijter- 
präfidenten zuzujchreiben, von denen Graf Badeni erfüllt geweſen war. 
Diejer hatte Galizien zu regieren verjtanden und war der Meinung, daß 
die Künſte und noch mehr die rüdjichtslofen Nechtsbeugungen, die ihm 
dort über alle Schwierigkeiten Hinweggebolfen hatten, auch in den 
Erbländern zum ‚Ziele führen würden, wenn man nur rückſichtslos 
genug in der Anwendung jei. Seine Zuverſicht war durch die Wolle, 
die ihm bei der Bejeitigung de3 Ktoalitionsminijteriums Windiichgräß- 
Plener zugefallen war, begreifliher Weije geiteigert worden, ſie hat ihn 
von einem faljchen Schritte zum anderen fortgerijjen und hätte wohl zu 
noch gefährlicheren Gewaltthätigfeiten geführt, wenn die Krone bereit ge- 


366 Politifhe Korreipondenz. 


weien wäre, ihm dieſelben zu gejtatten. Graf Thun hat die Gelegenheit 
gehabt, den Irrweg feined Vorgängerd zu beobachten und den Schluf 
daraus zu ziehen, daß der offene Krieg gegen die Deutichen nicht geführt 
werden fünne, ohne die Grundlagen und die ſeit Maria Thereſia be— 
ftehenden bewährten Einrichtungen des Staated preißzugeben. Er fonnte 
nicht im Unflaren darüber fein, daß die Tichechen in feiner Weije geeignet 
find, die Aufgaben zu übernehmen, die biäher den Deutſchen zugefallen 
waren, dab fie am allerwenigiten gejammtöfterreihijche Intereſſen ım 
Auge haben, fondern abjichtlic) Verwirrung und Feindjeligkeit unter den 
Öjterreichiichen Nationen fördern, um im Trüben — ihren böhmijchen 
Staat herausfiihen zu können. Sie wollen jo wenig von einer Kon: 
föderation der Nationen etwas wiljen, als von einem die nationalen Be- 
dürfniffe gerecht abjchäßenden, die Einheit der Verwaltung jedoch unbedingt 
fejthaltenden Zentralismus; ihnen ſchwebt immer nur die Abjiht vor, aus 
Böhmen ein zweited Ungarn zu Eonjtruiren, einen Staat, in weldjem die 
Tichechen ebenſo alleinherrichend werden. wie es die Magyaren in der 
jenfeitigen Neichshälfte thatjächlich geworden find. Darüber konnte ſich 
Graf Thun feinen Täufchungen Hingeben, auch wenn Herr Dr. Kaizl es 
versucht haben jollte, ihn von der Loyalität der tichechiichen Aniprüche zu 
überzeugen. Auch den Einfluß der Polen und der deutichen Kierifalen 
fann er doch nicht überichägt Haben, er fann nicht angenommen haben, 
daß dieſe im Stande jein würden, ihre politiichen Freunde zu jreiwilligem 
Verzichte auf alle ihre Lieblingspläne zu bewegen, nur damit Graf Thun 
Minijterpräfident bleiben Eönne? — 

Es ijt nicht wahrjcheinlih, daß die geheimen Pläne Thuns jemals 
das Licht der Deffentlichfeit erbliden werden, man wird jeinem Auftreten 
daher auch kaum jemals eine bejondere Bedeutung beilegen fünnen. Seine 
Regierung hat feinen anderen Zwed gehabt, als den Ausgleid mit Ungarn 
in Oejterreich zu oftroyiren und die Unhaltbarkeit der Badenischen Sprachen: 
verordnungen ad oculos zu demonjtriren; das Lebtere hat fie mit aller 
wiünjchenswerthen Bolljtändigkeit erreicht. Daß dazu auch der Bertrauensmann 
der Jungtſchechen mitwirken mußte, mag diejen wohl jehr unangenehm 
jein; es ijt daher begreiflich, daß fie ihren Groll den einjt jo gefeierten 
Kaizl fühlen laſſen; dennoch fönnen jie es nicht ungefchehen maden, das 
jie die Regierung in Händen gehabt haben und nichts damit anzufangen 
wußten. Es geht nicht an, die Betheiligung der gegenwärtigen Neich:- 
rathsmajorität am Minifterium Thun zu verjchweigen oder abzuleugnen 
und von einem zulünftigen Minijterium der Rechten al$ einer vielver: 
iprechenden parlamentarischen Neuheit zu Sprechen, der die Löſung der 
öjterreichifchen Berwidlungen gelingen könnte. Die Herren Dipauli, Kai! 
und Kaſt waren Vertreter der Rechten im Minifterium Thun, die echte 
bat ſich wiederholt demielben zur Verfügung geftellt; mehr könnte ſie nicht 
tun, wenn auch noch die Ebenhoch und Ferjancic mit Minifterportefewilles 


Politiſche Korrefpondenz. 367 


ausgeitattet würden. Nicht Thun allein, auch die Rechte ijt unterlegen, 
indem fie das Erbe Badenis anzutreten verjucht hat. 

Dad neue Minijterium, das jich als ein Uebergangsminifterium 
eingeführt hat und nur aus vier Minijtern, im Uebrigen aus „Leitern“ 
der verwaiiten Minijterien beiteht, hat gar Feine Beziehungen zu den 
parlamentariichen Parteien, es joll die Gejchäfte im Auftrage der Krone 
jo lange führen, bi8 auf dem Wege der Koalition ein neues parla= 
mentarijches Minifterium entitehen kann. Mit diefer „Widmung“ ijt ihm 
vielleicht eine längere Dauer zugedacht, als die gegenwärtige Majorität des 
Reichsrathes annehmen zu wollen jcheint. Der Minifterpräfident Graf 
Manfred ClarysAldringen, früher Landes: Präfident von Schlejien, jeit 
Bacquehems wohlverdientem Berjinfen in ruhmloje Bergejjenheit Statt: 
halter von Steiermarf, bringt feine anderen Vorbedingungen für fein 
ſchwieriges Amt mit, al3 die genauejte Kenntniß der Bedürfniffe der Ver— 
waltung und der arbeitenden Bevölferung im Norden und Süden der 
Donau, dazu die unbejtrittene Eigenichaft, als Beamter den Verfehr mit 
allen reifen eifrig gejucht und daraus Belehrung über alle VBerhältnifje 
in den von ihm verwalteten Ländern geichöpft zu haben. Man weiß, daß 
er ein überzeugter Katholik it, fich jedoch niemals den Ultramontanen an— 
geichloffen hat. ein Umijtand, der für Selbitändigfeit in Auffaſſung und 
Willen jpricht. Er hat ji für alle Fälle darauf eingerichtet, die Regierung 
jo fange zu leiten, ald man feiner bedürfen wird; die Nefjortangelegen- 
heiten werden gewiß mit Geſchick behandelt werden: Männer wie Körber, 
Witteck, Hartel, Stribat find vollkommen geeignet, für die tadelloje Fort— 
führung der Gejchäfte zu bürgen. Graf Clary war von vornherein ent- 
ichlofjen, die Sprachenverordnungen für Böhmen einfach aufzuheben, „weil 
fie einfeitig und auf eine Weije zu Stande gelommen jeien, welche die 
Deutjchen verlegen mußte“; er beruft den NeichSrath. nachdem der Zujtand 
wie er vor dent Jahre 1897 in allen Sprachenangelegenheiten geberricht 
bat, wieder hergejtellt it; er wird dem Reichsrathe in fürzejter Friſt ein 
Spracengejeg zur Berathung unterbreiten, dad mit Berücjichtigung der 
von den nationalen Parteien namentlich aber in dem Pfingitprogramme 
der Deutjchen geäußerten Wünſche dad Staat3interefje zu wahren geeignet 
fein ſoll. Dies hat er nicht nur zu dem Vertretern der deutichen Parteien 
fondern auch zu den Jungtichechen geäußert, worauf dieje nicht anjtanden, 
ihn ihrerjeit3 ald einen Feind des tichechischen Volkes zu erklären, das 
befanntlidy ein angeborened Recht darauf zu bejigen vorgiebt, daß in jedem 
Orte des Königreiches, wenn derjelbe auch ausjchließlih von Deutjchen 
bewohnt ift, tichehhisch Gericht gehalten und verwaltet wird. Die Be: 
ziehungen des tichechiichen Bolfes zu dem Lande, dad vom Erzgebirge, 
Niefengebirge, vom Böhmerwalde und von einer im böhmiſch-mähriſchen 
Geſenke laufenden Linie begrenzt wird, bilden nämlich den Inhalt 
jenes geheimnißvollen Staatsrechtes, deſſen Wortlaut Niemand, aud) 


368 Politifhe Korrefponden;. 


fein Jung- und fein Alttſcheche Fennt, das aber das Palladium dei 
tſchechiſchen Volkes, oder vielmehr aller jener auf tichechiichem Boden 
überſchüſſigen Sünglinge bilden joll, die als Beamte in deutjchen Städten. 
Märkten und Dörfern angejtellt werden wollen. Daß auch die böhmiihen 
Feudalen dem Minijterium Clary die Oppofition ankündigen, fann nid 
Wunder nehmen. Diele Herren träumen davon, in dem neu zu errichtenden 
böhmischen Staate die erjte Geige jpielen zu dürfen und glauben, went 
nur erſt die demofratiichen Sungtichechen die Kajtanien aus dem Feuer 
geholt haben werden, jie mit Hilfe ihrer klerikalen Gefolgſchaft beieitigen 
und ſelbſt im Sejuitenfinne vegieren zu fönnen. Ihr öſterreichiſcher 
Patriotismus, von dem fie jtet3 überfließen, richtet Sich in erjter Linie 
gegen die bejtehende Ordnung im Staate und gegen die Tradition der 
regierenden Dynaſtie. Mit dieſen Ddejtruftiven Elementen wird fein 
öjterreichiiched Minifterium jemals rechnen Fönnen. 

Die katholiſche Volkspartei und die Polen find jedenfall nicht ab: 
geneigt, mit dem Grafen Clary zu unterhandeln, jie danken ihm die Cr 
löjfung aus einer Geiellichaft, die ihnen jchon viel zu theuer geworden il. 
um fie nicht auch einmal gerne zu entbehren. Entſcheidend für die Miſſier 
des „Uebergangs-Miniſteriums“ wird aber felbjtverjtändlih die Haltung 
der Deutſchen jein. Nach Allem, was bis jetzt jowohl von der Anfid! 
des Kaiſers über die Gejtaltung der Verhältnifje im Staate und über di: 
Aufgaben der Regierung befannt geworden ift, kann ein erniter Zeil! 
über das, was den Deutichen bei der gegebenen Sadlage frommt un) 
nüßlich werden wird, faum bejtehen. Sie haben die Hand zu ergreifen. 
die ihnen geboten wird, fie haben die Regierung zu unterjtüßen, durd 
welche die Badenischen Sprachenverordnungen aufgehoben worden. Oppoſitio— 
gegen diejelbe wäre nicht etwa nur ein politiicher Fehler, jondern er 
Widerſpruch mit dem eigenen Programme, ein jelbjtmörderijcher Narrer- 
jtreih. Mögen unjere Radikalen immerhin noch Bürgichaften darsı 
verlangen, daß nicht wieder einmal im Verordnungswege der Beitt 
jtand der Deutjchen angetajtet werde; bis jie dieſe Bürgjchaften ix 
formuliren vermögen, twerden die Deutihen doch nicht umbin fönner. 
jenen Minijtern ihr Vertrauen zu bezeugen, die den Kampf gegen di 
Tſchechen nöthigenfalis aufnehmen, und fi für den Fall dieſes Kampie 
auch jeder anderen Regierung zur Verfügung zu jtellen? Wenn jemal: 
jo mögen fie ſich jegt den Rath Bismarcks zu Gemüthe führen, daß — 
vor Allem darauf ankommt, ſich wieder in den Sattel zu ſchwingen, de 
Reiten werden ſie dann vielleicht erlernen. Dazu gehört jedoch eine a 
wiſſe Mäßigung der Forderungen, für die unfere Radikalen aller 
dings wenig Verjtändniß zeigen. Der vielgenannte Abgeordnete ol’ 
dejjen Popularität längit über die Schönerers hinausgewachſen ift, verlanc: 
u. U. eine Zuficherung der Krone, nie wieder von dem im 8 14 des & 
jepes über die Nechtsvertretung der Negierung eingeräumten Rechte der 


Politifhe Korreſpondenz. 369 


Gejeggebung im Berordnungswege Gebrauch machen zu wollen. Davon 
fann wohl nicht die Rede fein, folange die Objtruftion eine Waffe der 
Minoritätparteien bleibt; denn man fann doch von einer Negierung 
nicht erwarten, daß fie fich freiwillig jede Mittels benimmt, die Staats— 
geſchäfte fortzuführen für den Fall, daß das Parlament feine Mitwirkung 
hierzu versagt. Die Deutſchen müfjen an der Regierung theilnehmen, dann 
werden fie nicht in die Gefahr fommen, durd) den $ 14 vergewaltigt zu werden; 
ihre Aufgabe ift ed, nachdem die Krone ſich von der Slloyalität der 
Tſchechen überzeugt hat, eine Negierung zu ermöglichen, welche ebenjo den 
nationalen Bedürfnifjen der Deutichen wie den gejammtftaatlichen Intereſſen 
entſpricht. Die verewigte Verfafjungspartei hat fich dazu unfähig gezeigt: 
e3 wird ſich num erweijen, ob. die auf Grund eines nationalen Programms 
geeinigten deutſchen Parteien durch die Erfahrungen der legten Jahre 
klüger und widerjtandsfähiger geworden find. Unter diefen Erfehrungen 
ift nicht die werthlofefte, daß die Tichechen nur deshalb aus der Regierung 
entfernt werden, weil fie mehr für jich in Anſpruch genommen haben, als 
der öjterreidhiiche Staat ihnen gewähren kann und darf. hre politische 
Unmäßigfeit hat ihren Fall verurfaht. Die Deutichen können Die 
angejtrebte neue Koalition ruhig abwarten, vorausgejeßt, dab fie 
das Minifterium lary-Aldringen, da3 feiner überwiegenden Mehr: 
beit nad) aus ehrlichen Deutſchen zufammengefegt ijt, im Amte erhalten. 
* 


Der ſozialdemokratiſche Parteitag in Hannover. 


Der vom 9. bis 14. Oftober in Hannover abgehaltene ſozialdemo— 
fratifche Parteitag iſt ein Ereigniß, an dem wir hier nicht mit einigen 
furzen Bemerkungen vorbeigehen können, das im Gegentheil eine genauere 
Betrachtung verlangt. Er jtellt eine neue bedeutfame Etappe auf der 
Bahn des Wandel3 der ſozialdemokratiſchen Anjchauungen dar, er iſt viel- 
leicht die wichtigſte Tagung der deutichen Sozialdemokratie jeit der Auf— 
hebung de3 Sozialijtengejeges. 

Schon jeit dem Erfurter Tage (1891), auf dem der Marxismus als 
geichlofjened Syitem in dem neuen WBarteiprogramm zur offiziellen Ans 
erfennung gelangte, geht durd die fozialdemokratiiche Partei ein Zwieſpalt 
zwijchen der alten revolutionären und einer neuen reformerijchen Richtung, 
die ſich allmählih in einen immer entjchiedeneren Gegenſatz zu den 
marziftiihen Boltrinen gejeßt hat. Zunächſt lediglich die Wichtigkeit der 
Aufgaben der Gegenwart dem revolutionären Endziel gegenüber betonend 
und fi auf die praftifchen politiichen und gewerfjchaftlichen Fragen be— 


Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 24 


370 Politifhe Korrefpondenz. 


ichränfend, ging diefe Richtung dann, ald durch das eingehende Studium 
der Agrarfrage der Glaube an die abjolute Gültigkeit der marriftijchen 
Theorien in weiten Kreiſen der Partei erjchüttert war, zu einer gründ« 
lihen Kritik der theoretiihen Grundanfchauungen über, die in dem be 
fannten Buch Bernjteins*) und in jeiner Verwerfung faſt des ganzen 
marziftiichen Syſtems gipfelte. 

Um das Ergebniß der Verhandlungen des hannöverſchen Barteitags, 
die hier im Allgemeinen ald aus der Tagesprefje befannt vorausgejeßt 
werden miüjjen, richtig beurtheilen zu können, muß man jich in aller 
Kürze den wejentlihen Inhalt der bisherigen fozialdemokratiichen Gedanken— 
welt vergegenwärtigen. 

Die revolutionäre ſozialdemokratiſche Theorie, wie fie von Marr be: 
gründet und von Engels weiter ausgebaut ift, wurzelt in der Ueber: 
zeugung von der abjoluten Hoffnungslofigfeit der Lage der arbeiten: 
den Klaſſen innerhalb der heutigen Gejellichaftdordnung., Denn der 
Kapitalismus erzeuge durch die rajtloje Ausdehnung und VBervolllommmung 
des majchinellen Großbetriebes „eine das durchichnittliche Beſchäftigung— 
bedürfniß des Kapitals überſchreitende Anzahl disponibler Lohnarbeiter. 
eine vollſtändige induſtrielle Reſervearmee, disponibel für die Zeiten, wo 
die Induſtrie mit Hochdrud arbeitet, aufs Pflafter geworfen durch den 
nothiwendig folgenden Krach, zu allen Zeiten ein Bleigewicht an den 
Füßen der Urbeiterklajje in ihrem Eriltenzlampf mit dem Kapital, ein 
Negulator zur Niederhaltung des Arbeitslohnes auf dem, dem 
fapitaliftiihen Bedürfniß angemesjenen niedrigen Niveau" 
(Engel3, Herrn Eugen Dühringd Ummälzung der Wiſſenſchaft, S. 24. 
„Das Gejeß, welches die indujtrielle Rejervearmee jtet3 mit Umfang und 
Energie der Napitalalfumulation im Gleichgewicht Hält, jchmiedet den 
Arbeiter feiter an das Kapital, als den Prometheus die Meile de 
Hephäjto® an den Fellen. Es bedingt eine der Affumulation von 
Kapital entfprehende Allumulation von Elend. Die Altumulation 
von Reichthum auf dem einen Pol ift aljo zugleich Akkumulation von 
Elend, Arbeitöqual, Sklaverei, Unwiſſenheit, Brutalifirung und moraliſchet 
Degradation auf dem Gegenpol* (Marz, Kapital I, ©. 611). „Und von 
der kapitaliſtiſchen Produftionsmweije eine andere Vertheilung der Produkt 
erwarten,“ ſetzt Engel hinzu, „hieße verlangen, die Elektroden einer 
Batterie jollten dad Waſſer unzerjegt Iafjen, folange fie mit der Batteri: 
in Verbindung jtehen, und nicht am pojitiven Bol Sauerjtoff entwideln 
und am negativen Wajjerjtoff.“ 

Aus diejer gänzlich hoffnungslofen Lage kann fid) die Arbeiterklafje nur 
durch Die Befeitigung des Kapitalismus, durch die Eroberung der Staat&gemalt 


*) Die Borausfegungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial 
demofratie. Bon Eduard Bernftein. Stuttgart 1899. 


Politiſche Korreipondenz. 371 


und Die revolutionäre Umgeſtaltung der ganzen Fapitaliftischen Gejellichafts- 
ordnung retten. Dieje Umgeftaltung wird durch die Akkumulation des 
Kapitald und die Konzentration der Betriebe vorbereitet; denn 
dadurch wird einmal die fozialiftifche Organifation der Gejellichaft weſent— 
lich vereinfacht und außerdem wird durch zunehmende Proletarifirung der 
Mittelichichten das revolutionäre Proletarierheer bejtändig vergrößert, bis 
e3 jchließlic die große Mehrheit der Bevölkerung umfaßt und damit zu 
einer uniderjtehlihen Macht geworden ijt. 

Der Zuſammenbruch des Kapitalismus wird durch den in ihm ent- 
baltenen Widerſpruch zwilhen Broduftion und Ronfumtion be= 
jchleunigt. Durch die Beichränfung der Konjumtion der Mafjen auf ein 
Hungerminimum untergräbt fich der Kapitalismus den eigenen inneren Marf; 
er ijt gezwungen, den ganzen Erdkreis nad neuen Konſumenten abzu= 
jagen; die Ausdehnung des Abſatzes kann aber mit der Ausdehnung der 
Produktion niht Schritt halten. Die Kollijion wird unvermeidlich; 
periodijche Kriſen jtellen fid) ein, in denen die fapitoliftiiche Produktions» 
weije ihrer eigenen Unfähigkeit zur fjerneren Verwaltung der Produktiv— 
fräfte überführt wird, bis dann jchließlih mit dem Stoden der weiteren 
Ausdehnung der Märkte der Kapitalismus in einer ungeheueren Kriſis 
zujammenbredhen muß. Alsdann tritt die Arbeiterklaffe in Aktion, ver— 
itaatlicht oder vergejellichaftet die Produftiongmittel und hebt damit den 
dem Kapitalismus immanenten Widerjpruch zwijchen Broduftion und Kon— 
jumtion endgültig auf, um im Sozialismus „eine ununterbrodyene, ſtets 
rajcher fortichreitende und praktiſch jchranfenloje Steigerung der 
Produftion herbeizufuhren, die „allen Gejellichaftögliedern die voll— 
ftändig freie Ausbildung und Bethätigung ihrer körperlichen und geijtigen 
Anlagen garantirt“. Und nicht in nebelbafter Ferne liegt diefe Möglich: 
feit; im Gegentheil, fie iſt ſchon jegt da. Schon jetzt hat Die Ent- 
widelung der Produftion einen Höhrgrad erreicht, auf dem Die Leitung 
der Gejellichaft durch die Kapitalijtenklajje „nicht nur überflüffig, jondern 
auch ökonomiſch, politiih und intelleftuell ein Hinderniß der Entwidelung 
geworden ift. Iſt der politiiche und intellektuelle Bankerott der Bourgeoifie 
ihr jelbft kaum nod ein Geheimniß, jo wiederholt ſich ihr ökonomiſcher 
Banterott regelmäßig alle zehn Fahre.“ 

Dad ift — großentheild® mit Engeld eigenen Worten — in aller 
Kürze der Hauptinhalt der jozialdemokratiichen Lehre, deren jtrenge logiiche 
Konfequenz, die Prümifien einmal zugegeben, fait Jeden, der ihr näher 
getreten ijt, für längere oder fürzere Zeit in ihren Bann gezogen bat. 
Das it das Zauberlied, das ſeit Jahrzehnten der deutichen Arbeiterichaft 
immer wieder erflungen iſt und Hunderttaujende, ja Millionen begeijtert 
hat. Es ift durch und durd) revolutionär; das Endziel, die Bejeitigung des 
Kapitalismus, ericheint in greiibare Nähe gerüdt; praktiſche Arbeit 
auf_dem Boden der heutigen Gejellihaft hat nur geringen Werth. 


24* 


872 Politiſche Korrefpondenz. 


Dad war die Stimmung, die den größten Theil der Sozialdemokratie 
unter dem Sozialiftengejeß und namentlich in den Fahren 1890 und 1891 
erfüllte, ald die großen Wahlerfolge im Februar 1890, Bismarcks Ent- 
loffung und die Aufhebung des Sozialiftengefeges ihr Selbftvertrauen und 
ihren Optimismus aufs Höchſte gejteigert hatten. Damals konnte Friedrid 
Engel3 den „Umſchwung der Dinge von Grund aus“ für 1898 in Au: 
fiht ftellen, damal3 fonnte Bebel auf dem Erfurter Barteitage erflären: 

„Die bürgerliche Gejellichaft arbeitet jo kräftig auf ihren eigenen 
Untergang los, daß wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem 
wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben. (Zuſtim— 
mung). Da, ih bin überzeugt, die Verwirflihung unjerer 
legten Ziele ijt jo nahe, daß Wenige in diefem Gaale jind, 
die diefen Tag nicht erleben werden.“ (Bemegung). 

„Wenn wir nun jehen, was für eine folofjale Ummwälzung auf öfone- 
mifhem und politiichem Gebiet jtattgefunden hat, wenn wir jehen, wie alle 
Berhältniffe ſich allmählih jo entwidelten, daß fein vernünftiger 
Menſch mehr darüber im Zweifel fein kann, daß die Dinge auf eine 
längere Dauer jo nidht mehr weiter gehen fünnen und darum 
die Kataſtrophe nur noch eine Frage der Zeit ijt, dann iſt ed 
nicht nur natürlich, dann ift es nothwendig, daß man zu Anjchauungen. 
wie ich fie habe, fommt und fie auch ausſpricht.“ 

Mocte Bollmar auch jhon damals Bebeld Anfichten al3 den Wunder: 
glauben eined fitatiferd verhöhnen, die überwältigende Mehrheit der 
Partei jtand unzweifelhaft grundjägli auf der Seite von Engel! und 
Bebel, obwohl die dem Kapitalismus noch gewährte Gnadenfrift manchem 
etwas allzu kurz erjchienen jein mag. 

Zu wiederholten Malen Hat Bebel auch in der Folgezeit den 
„Kladderadatich“ als bevoritehend prophezeit, unter dem er nicht, wie viel: 
fach) angenommen worden ijt, eine fiegreiche revolutionäre Erhebung der 
Arbeiterflafie, jondern ganz im Engelöihen Sinne den Zufammenbrud 
des kapitaliſtiſchen Syſtems in einer ungeheueren Kriſis verjteht, der die 
Gejellichaft zur Einführung des Sozialismus zwingen würde. Won dieſer 
phantaftiihen Anjchauung ijt Bebel und mit ihm ein Theil der Partei 
auch heute noch erfüllt. In Hannover hat er erklärt, er fei auch heute 
noch davon überzeugt, daß einmal — wenn auch nicht jo bald, wie er 
früher geglaubt — in Folge der Ueberproduftion und bei der Unmöglichkeit, 
neue Exportgebiete zu finden, eine Periode chronischer Kriſen eintreten 
werde, in der — bei Arbeitern wie Unternehmern — die „allgemeine 
Ueberzeugung entiteht, jo kann ed nit mehr weiter geben, 
die Grundlage der bürgerlichen Gejellichaft ift abjolut unhaltbar, wir 
müfjen und zur Schaffung einer neuen Grundlage entichließen.“ Nur 
jo ijt es zu verjtehen, daß er auf einer Seite den Gedanten an eine ge 
waltjame, revolutionäre Erhebung ſtets mit Entrüftung von ſich wies, auf 


Politiſche Korrefponden;. 373 


der anderen Seite aber von der baldigen Verwirklichung des Sozialismus 
träumte. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe fein, die naive Vorjtellung, der 
Zuſammenbruch unferer Exportinduftrie würde die Arbeiter ins gelobte 
Land ded Sozialismus führen, näher zu fritifiren. Ich bejchränfe mich 
hier darauf, referivend feſtzuſtellen, daß dieſes Hauptitiid des bisherigen 
jozialdemofratiihen Katechismus auf den hannoverſchen Parteitag nicht nur 
von den Neformern, jondern auch von den jcharffinnigeren Köpfen unter 
den Radikalen rüdjicht3[los verworfen worden iſt; Bebel jtand hier mit jeiner 
bedingten Bertheidigung diejer Idee ganz allein. Bernitein und David 
lehnten fie rundweg ab, Auer hat die Kladderadatſch-Idee graufam ver- 
böhnt, aber auch Kautsky will nicht3 von der „lädherlichen Zufammenbruchd- 
theorie“ wiſſen; er hält fie für jo „idiotiſch““ daß er fie jogar — allen 
unzweideutigen Stellen in Engels Schriften*) zum Trotz — einfach für 
„legendär“ erklärte. „Hätte Engeld da3 gejagt, jo wäre er nicht der große 
Denker gewejen, der er war, er wäre ein ſolcher Idiot geweſen, daß 
fein einziger Wahlkreiß ihn zu feinem Delegirten auf den Varteitag ge= 
wählt hätte.“ Auer war jo bo8haft, jofort darauf aufmerkſam zu machen, 
wie wenig jchmeichelhaft diefer Sag für Bebel fei, nachdem jchon vorher 
David Kautskys Verleugnungen der Srijentheorie gegenüber ausgerufen 
hatte: „Soll fie nicht mehr gelten, gut, jagen wir das, dann find wir 
einig! Spielen wir aber nicht Verjted, jagen wir, wir haben dieje 
Theorie al3 ein läherlihes Märchen erfannt.“ 

Mit der Aufgabe der Zujammenbruchstheorie hat die Sozialdemokratie 
eines ihrer faszinirenditen Argumente aufgegeben. Ihr feljenjefter Glaube 
en das herrliche ſozialiſtiſche Jenſeits beruhte in eriter Linie auf der 
kühnen und großen Perſpektive, daß das kapitaliſtiſche Diesjeitd an jeinen 
inneren Widerſprüchen in nicht ferner Zeit von ſelbſt zuſammenbrechen, 
unter der unendlichen Fülle des Reichthums, den es nicht zu verwenden 
vermag, von jelbit erſticken werde. 

Giebt man dieje Lehre auf, jo kann man den Sieg ded Sozialismus 
nur noch von der Sonzentration und Alkkumulation der Betriebe und 
Kapitalien erwarten; damit ſetzt man an die Stelle einer baldigen drama— 
tiihen Kataſtrophe, in der der angebliche vollſtändige Wahnjinn unjerer 
Geſellſchaftsordnung ſich offenbart, einen fomplizirten und langwierigen 
Prozeß, der — mie jelbjt die Nadifalen für die Landwirthſchaft nicht un— 
bedingt leugnen — zahlreiche gegentheilige Tendenzen aufweiſt, dejjen Ab— 
wicklung beftenfalld noch viele Jahrzehnte, vielleicht viele Sahrhunderte dauern 
muß, und der jchon deshalb nicht geeignet ijt, die Mafjen mit unbedingter 
Siegedzuverficht und revolutionäre Begeifterung zu erfüllen. 


*) Mit Marx liegt es in der That anders; eine fo jchroff zugelpigte Krijen« 
theorie, wie fie Engels im Antivühring entmwidelt bat, findet jih im „Kapital“ 
nicht. 


374 Politifhe Korrefpondenz. 


Mit dem Fallenlafjen des grenzenlojen Optimismus für die jozia- 
lite Zukunft geht die Aufgabe des abjoluten Peſſimismus für die Fapita- 
fiftiiche Gegenwart Hand in Hand. Auch die Lehre von der zunehmenden 
DVerelendung oder mindejtend der unbedingten Hoffnungsloſigkeit 
der Arbeiter unter dem Kapitalismus kann nad) den Verhandlungen in 
Hannover al3 von allen Seiten aufgegeben gelten. Der von Bebel geprägte 
Begriff der „relativen Verelendung“ fann nur als ſchwache Verhüllung des 
eingetretenen Rückzuges gelten, und mit Recht Hat David aud im diejer 
Frage fich gegen das „Verſteckſpielen“ gewandt: „Spielen wir nicht Verited, 
fondern erllären wir ruhig: dieſe Pojition des Programms über 
die Verelendung ift ein Irrthum.“ 

Damit bricht aber auch der andere Eckſtein des Revolutionarigmus 
aus. Sit die Lage der Arbeiter in der heutigen Gejellihaft3ordnung 
feine unbedingt hoffnungsloje, findet fchon Heute ein Aufſteigen der 
Arbeiterklafje jtatt, ermöglicht ſchon die Gewerkſchaftsbewegung, die 
jozialpolitifche Gejeßgebung , die genofjenfchaftliche Organifation u. A. m. 
die jtändige Hebung ihrer Lebenslage, dann gilt ed doch, alle Kräfte auf 
dieje Aufgaben zu fonzentriren, jtatt in peſſimiſtiſcher Verzweiflung ar 
der Gegenwart alle Heil vom zukünftigen Kladderadatſch oder von dem 
fürchterlichen Salto mortale der jozialen Revolution zu erwarten. 

Heberlegt man jich das Gejammtergebniß der Bernjtein-Debatte auf 
dem diesjährigen Parteitag, jo fieht man, daß die beiden Haupttheorien 
der bisherigen jozialdemokratijchen Gedanfenwelt, auf denen ihr Revolu 
tionarismus in erjter Linie beruhte, die Theorie von der abjoluten Hof: 
nungslofigfeit der Lage des Proletariat3 unter der heutigen Gejellichaft:: 
ordnung und die Lehre vom baldigen Zuſammenbruch des Kapitaliämus 
in einer ungeheueren Krifis, im Großen und Ganzen von der radikalen. 
wie der opportuniftiichen Seite als thatſächlich aufgegeben gelten können: 
joweit man unter allen möglichen Verklaufulirungen fcheinbar noch an 
ihnen jejthält, hat man fie wenigſtens aller praftifchen Bedeutung ent 
Heide. Der Sieg der Neformer ijt in diejen beiden Punkten ein vol; 
jtändiger, ſodaß fich der prinzipielle Gegenjag der beiden Richtungen 
im Wejentlichen auf eine verjchiedene Auffafjung der Konzentration: 
theorie zujpißt. 

Für die Radikalen hat die Konzentrationstheorie abjolute Bedeutung; 
in der Indujtrie, wie in der Landwirthichaft und im Handel vollzieit 
fi nach ihnen eine Zufammenballung der Kapitalien, dringt der Grof- 
betrieb ſiegreich vor und jchafft die technijchen und adminijtrativen Bor: 
bedingungen für die Sozialifirung der Produktion. Trotz der nicht mehr ae 
leugneten Berjchiedenheit der Formen, in denen fich dieier Prozeß im Ge 
werbe und in der Landwirthſchaft abjpielt, ift das Endergebniß nach ihnen über: 
all dafjelbe: Proletarifirung der Mitteljchichten, der Handwerker und Bauern 
bejtändige Vergrößerung der „Tozialrevolutionären Armee,“ die allmählich 


Bolitiſche Korrefpondenz. 375 


jo anjchwellen wird, daß fie die Staatdgewalt niederwerfen und in der 
revolutionären Diktatur des Proletariatd die völlige Umgejftaltung der 
Gejellichaft vollziehen fann. Am deutlichiten kommt dieſer Gedanfengang 
in den Reden der Roja Quremburg zum Ausdrud: 

„Die Genoijen, die glauben, in Ruhe, ohne Kataklysmus die Gejell- 
ichaft in den Sozialismus hinüberleiten zu fünnen. jtehen durchaus nicht 
auf Hijtoriihem Boden. Wir erjtreben eine gänzlihe Umbildung der 
berrichenden kapitaliſtiſchen Gejellichaft3ordnung, die nicht auf dem 
Wege der joztalen Reform herbeigeführt werden kann.“ 

Diejen Anjchauungen jtehen Bernftein und feine Anhänger durchaus 
ablehnend gegenüber, indem fie der Slonzentrationdtheorie nur eine jehr 
bedingte Gültigkeit zujprechen. Fir das eine große Gebiet alles wirth— 
ichaftlichen Lebens, für die Landwirthichaft, leugnen fie ihre Richtigkeit 
rundweg und behaupten, daß bier die Entwidelung viel eher in der 
Richtung der weiteren Ausbildung des Mittel- und Slleinbetriebed ver: 
laufe. Die in Induſtrie und Handel unzweifelhaft in hohem Grade 
vorhandene Tendenz zur Betriebsfonzentration erkennt Bernitein an, 
obwohl er ihre Intenfität etwas zu unterfchägen ſcheint. Mit vollem 
Recht betont er aber, daß die veränderten gewerblichen Organijations- 
formen jehr mannigfaltige, fomplizirte und ſich gegenjeitig kreuzende 
Intereſſengegenſätze jchaffen, nicht aber einfach, wie die Radikalen annehmen, 
ein einheitliches jtändig wachjendes „jozialrevolutionäres Heer” einer Kleinen 
Ausbeuterklaffe gegenüberjtellen. 

Der Entwidelungslehre Bernjteins und feiner Anhänger fehlt jede 
revolutionäre Spige; jie ijt durchaus und bewußt evolutionijtiich. Bernſtein 
fennt feine abgrundtiefe Kluft zwiſchen kapitaliſtiſcher umd ſozialiſtiſcher 
GBejellichaftsordnung, die nur die Revolution zu überbrüden vermöchte. 
Sein Sozialismus ift im Grunde genommen nicht Anderes ald die Vor- 
ftellung einer ftändig fortichreitenden Verbeſſerung der volföwirthichaftlichen 
Organifation, auf die Staat und Gejellihajt immer größeren Einfluß 
gewinnen, verbunden mit einer allmählichen Hebung der Lage der arbei- 
tenden Klaſſen. Das find Unfchauungen, die auch bei den jogenannten 
bürgerlichen Parteien nur vereinzelt auf prinzipiellen Widerſpruch jtoßen 
werden. Wer leugnet, daß unjere volk3wirthichaftlihe Organifation im 
hohen Grade verbefjerungsbedürftig ijt, und wer wird bejtreiten, daß 
unjere Zeit von der Tendenz beherrſcht ijt, alle Stantsthätigfeit mehr 
und mehr in Wirthichaftspolitit und Sozialpolitif zu verwandeln! 

Obwohl die Anjchauungen Bernjteins und feiner Anhänger zu den 
revolutionären Doltrinen der Sozialdemokratie, die ſich vor weniger als einen 
Dezennium noch der unbeitrittenen Anerkennung erfreuten, in unverſöhn— 
lihem Gegenfaß ftehen, obwohl er Alles verbrennt, was die Partei bisher 
angebetet hat, hat fi) der Parteitag nicht entichliegen können, mit den opportus= 
niftiichen Ideen reinen Tiſch zu machen. Während jeinerzeit die „ungen“, 


376 Bolittide Korreipondenz. 


deren Anfichten ſich nur unmefentlid von der offiziellen Parteiboftrin 
unterſchieden, kurzer Hand außgejchlofjen wurden, hat es der Sozialdemokratie 
diesmal troß alles vorherigen Gejchreies der jächfiichen Revolutionäre an 
der erforderlichen Energie zur entjchiedenen Stellungnahme gegen den 
Opportunismus gefehlt, die allerding® wohl die Partei in zwei Stüde 
zerriffen hätte. „Der Sceiterhaufen war ſchon da,“ wie Bollmar böhnte, 
„aber die Zündhölzchen wollten nicht anbrennen, und die Kraft hat nicht 
audgereiht, und auf den Sceiterhaufen zu werfen!“ Anjchauungen, die 
die volljtändige Negation der Marx-Engelsſchen revolutionären Ideen 
bedeuten, können nunmehr al3 legaler Bejtandtheil der jozioldemofratijchen 
Gedantenwelt angejehen werden: dad iſt dad wichtigſte Ergebniß des 
hannoverſchen Parteitags. 

Aber nicht nur, daß die Einheitlichkeit der ſozialdemokratiſchen An— 
ſchauungen zerriſſen iſt, auch der Radikalismus ſelbſt hat ſich dem Einfluß 
opportuniſtiſcher Vorſtellungen nicht zu entziehen vermocht. Auch unter 
den Revolutionären dürfte Niemand fein, der an den baldigen Zujammen- 
bruch unjerer Gejellihaft3ordnung glaubte, der die Lage der Arbeiter in 
der Gegenwart für unbedingt hoffnunglos hielte. Auch für den Radikaliamus 
in der jozialdemofratifchen Partei ift, wie jchon oben angedeutet, der 
Sozialidmus nur ald Endprodukt eined langwierigen und fomplizirten Ent- 
widelungsprozejje3 denkbar, der nicht nur der revolutionären Propaganda, 
fondern aud; und in erjter Linie der praftiichen Arbeit, der Iangjamen 
Hebung der Arbeiterklafje gewidmet fein muß. So wild ſich der Revolu— 
tionaridmus einer Luxemburg und Zetfin noch gebärdet, jieht man genauer 
zu, jo hat er doch jchliehlich einen recht akademijchen Charakter. Die 
Revolution ift auch den Radikalften der Radikalen nicht mehr die gejprenate 
Thür, durch die der Arbeiter aus der tiefiten Nacht des kapitaliſtiſchen 
Elends auf einmal in das jonnenbeglänzte Paradied des Sozialidmus ein- 
tritt; fie ift auch ihnen jeßt nur der Schlußjtein, oder vielleicht richtiger 
die deforative Spige eines großen Gebäudes, das noch nicht allzu weit über 
die Fundamente gediehen ift. 

Das interefjante Redeturnier in Hannover hat die Fülle von Intelligenz, 
von frijchem, geiftigen Leben, die in der Sozialdemokratie ſteckt, deutlich 
offenbart. Mit derjelben rückſichtsloſen Schärfe, mit der fie bisher die 
bejtehende Geſellſchaftsordnung kritiſirt hat, Fritifirt fie jeßt ihre eigenen 
Anſchauungen; was die Prüfung nicht bejteht, wird kurzer Hand zum alten 
Eijen geworfen. Die Ummandlung aller Ideen, die ji) vollzieht, ijt jchon 
weit vorgejchritten und für Jeden, der die Augen nicht abfichtlich ver: 
ihließt, offenkundig. Sieht fi) doc) jelbit die „Kölnische Zeitung“ zu der 
Erklärung genötbigt: „Der Streit, ob die Sozialdemokratie in einer lang: 
ſamen Mauferung begriffen ift, ift für ernithafte Yeute erledigt, mögen die 
Scharfmacher auc noch jo betrübte Gejichter machen.“ 

Welchen Einfluß wird der Wandel ihrer theoretiihen Anjchauungen 


Poliliſche Korreſpondenz. 377 


auf die praktiſche Politik der Sozialdemokratie und auf die weitere Ent— 
widelung der deutſchen Parteiverhältnifje haben? Das ift die wichtige und 
ſchwierige Frage, die ſich und jet aufdrängt, deren Erörterung aber einer 
jpäteren Betrachtung vorbehalten bleiben mag; vielleiht wird ſich ſchon im 
nädjten Heft Gelegenheit bieten, auf diefen Punkt genauer einzugehen, 
wenn wir willen werden, ob der Verſuch ded Abgeordneten Bafjermann, 
eine wirklich arbeiterfreundlihe Politit zu treiben, eine Spaltung der 
nationalliberalen Partei zur Folge hat oder nicht. V. 


Der Ausbruch des ſüdafrikaniſchen Krieges. 


Der ſüdafrikaniſche Krieg iſt durch das Ultimatum des Präſidenten 
Krüger ſchneller zum Ausbruch gekommen, als man annahm. Die Buren 
haben nicht abwarten wollen, bis England ſeine Rüſtungen vollendete und 
ſeine geſammelte Streitmacht an ihren Grenzen aufmarſchiren ließ, um 
ſeine Forderungen auf der Spitze des Schwertes zu überreichen, ſondern 
haben ihrerſeits die Initiative ergriffen, ihre Mannſchaften zuſammen— 
gezogen und den Krieg provozirt. Seit Napoleons Tagen, haben die 
engliſchen Staatsmänner geſagt, ſei in ſolcher Sprache nicht zu ihrem 
Lande geredet worden. Nicht mit Unrecht. Aber nicht aus Uebermuth 
haben die Buren dieje herausfordernde Haltung eingenommen, fondern 
da der Krieg ihnen einmal unvermeidlich deuchte, jo wollten fie fich die 
jtrategifhen Vortheile, die ihnen ihr Vorjprung in der Mobilijation ges 
mwährte, nicht entgehen Infjen und warfen den Engländern den Handſchuh 
ins Geſicht. Dad Ultimatum war nicht geftellt, um angenommen zu 
werden oder noch irgend eine Verhandlung zu ermöglichen, jondern im 
Gegentheil, um fie abzujchneiden und den Krieg auf der Stelle zu 
erzwingen. 

Auch auf den Urſprung und den eigentlichen Grund dieſer kriegeriſchen 
Ereigniſſe wirft dieſer Vorgang ſein Licht. Wie ſo häufig bei großen 
hiſtoriſchen Kataſtrophen iſt auch hier der letzte Differenzpunkt, der zum 
Kriege führt, anſcheinend ſo klein, daß man wohl fragen mag, was 
eigentlich den blutigen Waffengang nöthig macht. Die Buren haben die 
Hauptforderung der Engländer, den Uitlanders nad) fünfjährigem Aufenthalt 
das Stimmredt zu verleihen, im Prinzip zugejtanden, dieje Konzejjion je- 
doch an die Bedingung gelnüpft, daß England feinen Anſpruch auf Suzeränität 
aufgebe und die volle Suveränität Trandvaald anerfennee Wenn man 
nun bedenft, daß die Majorität der Einwohner Transvaals bereit3 engliſch 
ift und bei der Ausdehnung des Minenbetriebed noch in jtetem Wachjen, 


378 Bolitiſche KRorrefponbenz, 


daß alfo im Laufe weniger Jahre auch die Majorität der Wähler un der 
Nepublif aus Engländern beftehen müßte, jo jieht man, daß die Suveränitäts 
frage praftiich garnicht die große Bedeutung hat, die jonjt dem Prinzip 
innewohnt. Ungenommen, die engliihe Regierung hätte auf alle umd 
jede Suveränitätsrechte über Transvaal verzichtet, jo wäre Ddiejer Staat 
mit der Zeit dennoh ein englijch regierte® Gebiet geworden, und 
die Regierung in diefem Gebiet hätte wegen de3 natürlichen Gegen: 
ſatzes gegen das in die Minorität geworfene Buren =» Element ihren 
Anſchluß bei England gefucht, und England hätte damit vielleicht 
mehr Einfluß gewonnen, als bei dem unbejtimmten und bejtrittenen 
Recht der Suzeränität, dad fortwährend zu Sompetenztonflitten Anl; 
giebt. Weshalb hat die engliiche Regierung alfo dieſe natürliche Ent 
widlung nicht einfach) abgewartet? Die Antwort: aus Herrſchſucht und 
Habiucht, aus unerfättlicher Eroberungsgier, mit der man heut in Deutid- 
land bei der Hand ift, genügt doch wohl nicht zur Erklärung. Dieler 
Krieg iſt von fol einer Tragweite, daß die engliichen Staatdmänner jıd 
wohl werden überlegt haben, ob jie fich darauf einlafjen jollen. Der 
Vergleich von einem Rieſen, der über einen Zwerg berfällt, paßt midi 
ganz. Die fede Art, mit der die Buren endlich, ohne die legte Möglichlen 
von Verhandlungen zu erjchöpfen, auf ihren Gegner losgegangen jind und 
ihm mit ihrem Ultimatum ins Gejicht geichlagen haben, zeigt ten 
Zwergenbewußtjein. In einer Siung des jüngjten Geographenfongreiie 
jtreifte Herr Poultney Bigelow, der Südafrika ganz gut kennt, den bevor: 
jtehenden Konflitt und jagte, feine Sympathie jei immer mit den 
Schwächeren, deihalb gehöre jie in diefem Streite — den Engländern. 

Die engliihen Minifter verfichern jept, fie hätten den Krieg nich 
gewollt und erſt dad Krüger'ſche Ultimatum Habe ihn unvermeidlich ge 
macht. Solchen PVerfiherungen pflegt man wenig Glauben zu jchenten. 
aber es jcheint mir in dieſem Falle nicht ganz unmöglich, daß man gehofft 
bat, wenn erjt die englijche Krieggmaht in Südafrika verjammelt ie. 
unter ihrem Drud zu irgend einem Abkommen ohne Blutvergießen mit 
den Buren zu gelangen. Was England durch den Krieg zu gewinnen bat 
ijt, wie wir gejehen haben, gar nicht jo jehr viel; nur ein paar Jahre 
Geduld und ed mußte fait von jelber fommen., Die Gefahren aber, dw 
der Krieg für Englands ganze Weltjtellung mit ſich bringt, ſind jebr 
groß und die Mojten werden unter allen Umjtänden ungeheuer jein. War 
braucht aljo keineswegs in den Engländern die reinen Humanitätsfreunde 
und jelbjilojen Vorlämpfer liberaler Ideen zu jehen, um ihnen doc zw 
zutrauen, daß fie diejen Krieg nicht gewollt haben, jondern ganz ital 
gewejen wären, durch Drohungen ein gutes Abkommen von den Burer 
bewilligt zu erhalten. 

Das aber wollten die Buren eben nit. Auch fie find fich natürlıs 
ganz klar darüber, daß die Bewilligung des Stimmrechts fie einem en« 


Politiſche Korrefponden;. 379 


liſchen Regiment außliefert. Ein foldes Regiment wäre ja noch nicht der 
Tod für ihre Nationalität: im Kapland leben die Holländer unter englijcher 
Regierung und leben recht gut. Sie beherrichen ſogar das Parlament. 
Sch wiederhole, was ich ſchon das vorige Mal gejagt habe, daß Das 
Holländerthum ſich durc das Vereinigen der Burenrepublifen mit Kapland 
in Südafrika befjer jtehen würde, ald durch die Fortexiſtenz dieſer Repu— 
blifen. ber diefe Buren wollen nit bloß Holländer, fie wollen vor 
Allem Buren bleiben. Das ift daS Entjcheidende. Diejer eigenthümliche 
joziale Zuftand, der fich durch die Jahrhunderte gehalten hat und geheiligt 
ift, dieſes chriftlich-halbbarbarifche Hirten» und Bauern-Dafein, ohne Ein- 
mijchung anderer Elemente, ohne aufregende Aenderungen und Reformen, 
abgejchloffen von der Welt und allein auf fich bezogen, das iſt das deal, 
das fie nicht fahren lafjen wollen. 

Wären die Engländer jehr vorfichtig vorgegangen und hätten ſich 
auf die eine Forderung des Stimmredtes jür die jpäteren Einwanderer 
beichränft, jo hätten fich die Buren dem wohl auf die Dauer faum ent= 
ziehen können. Uber die günftige politifche Konitellation, wie wir fie im 
vorigen Heft geichildert haben, hat die Engländer verführt. Sie haben 
die Hände gerade frei und wollen den Augenblick benugen. Sie jtellten 
Forderungen, die direft in das Innere des Staatdlebend Transvaals ein- 
griffen, wie die Gleichberechtigung der englifchen Spradye und die Schleifung 
des Sohannisburger Fortd, das die dortigen Uitlanders in Reſpekt 
halten joll. Sie beriefen ji) auf ihr Recht der Suzeränität, was, wenn 
auch nicht ganz abzuleugnen, doch auch nicht ganz einwandfrei zu behaupten 
und in feinen Grenzen ganz unjicher ijt. Aber nicht ſowohl auf den 
Anhalt der einzelnen Forderungen fam ed an, jondern darauf, daß 
England fid als die Vormacht von Südafrika Hinjtellte, und wenn e3 
das durchſetzte, zukünftig auch Deutjchland, Portugal und Frankreich 
gegenüber damit auftrumpfen konnte. Herr Ehamberlain, der mit dem 
vollen Selbjtbemußtiein des meltbeherrichenden England dieſe Politik 
führte, bedachte nicht, daß er gerade damit den Buren die Waffe in 
die Hand gebe. Auf dem Standpunkt eined dauernden Verjagend des 
Stimmredted an die Witlander hätten fi) die Buren jchwer behaupten 
tönnen. Aber entichlofjen, den Konflikt aufzunehmen, benußten fie mit 
vollendeter diplomatifcher Gejchidlichfeit das Aufwerfen der Suzeränitäts- 
frage, um den Streit auf diefen Boden hinüber zu jpielen. Hier hatten 
fie das natürliche Recht und die öffentlihe Meinung der Welt gegenüber 
dem englijhen Großmadtsdünfel von vornherein auf ihrer Seite, und ala 
nun die Engländer drohten und rüjfteten, jchlugen jie zu. 

Wie wird der Krieg verlaufen? Ein Blid auf die Geſchichte des 
letzten Menſchenalters lehrt, wie ſchwer es ijt, den Ausgang eines Krieges 
vorauszufehen. Wer hat genlaubt, daß die Spanier vor den Amerikanern 
jo gänzlich ohnmächtig fein würden ? Wer hat geglaubt, daß die Griechen, 


380 Politiſche Korrefpondenz. z 


die den Türken jo muthig zu Leibe gingen, ſich auf Nichts als auf? Aus 
reißen verjtehen würden ? Wer bat den Japanern zugetraut, daß fie die 
Ehinejen jo vollitändig über den Haufen rennen würden? Wer bat ge: 
glaubt, daß die Türken den Ruſſen 1877 einen jo zähen Widerjtand leiſten 
würden? Wer hat geglaubt, daß das franzöfiihe Kaiſerreich 1870 
Deutjchland jo wenig gewachſen wäre? Wer bat geglaubt, daß 1866 
Preußen mit Oejterreich binnen wenigen Tagen fertig würde ? 

Die Buren find augenblidlid in der denkbar günftigjten jtrategiichen 
Lage. Sie haben offenbar in aller Stille fertig mobilifirt und dann durch 
das Ultimatum den Krieg zum Ausbruch gebracht, während die Engländer 
noch viele Wochen nöthig haben, um nur eine den Buren annähernd gleiche 
Streitmaht in Südafrika aufjtellen zu können. 

Die Frage ijt, wie weit fie im Stande find, den Vortheil der jtrate- 
giihen DOffenfive wirflih auszunugen. Shre natürliche Stärke beruht in 
der jtrategijchen und wohl ouch taktischen Defenfive. Das liege in der 
Natur des Heered ald eined Bürgeraufgebot3. Kommt der Feind ins 
Land, fo ſammeln fich ſehr jchnell alle erwachſenen Männer mit ihren 
eigenen Waffen, in deren Gebrauch fie gut geübt find, auf ihren eigenen 
Pferden, die Brujt jedes Einzelnen erfüllt von der höchſten Eriegerijchen 
Entjchlofjenheit. Fehlt auch die eigentliche militärische Führung, jo find die 
Umjtände doc) fo einfach, daß die Leitung der Bürgeroffiziere genügt. Die 
Waffe, bei der das Fachmäßige jchlechterdingd nicht zu entbehren ift, die 
Artillerie, ift bei den Buren natürlich am ſchwächſten, aber immerhin haben 
fie doch für eine Anzohl vortrefflicher Gejhüge gejorgt, und die Mann: 
ichaften follen gut eingeibt fein. Kommt alſo der Feind in ihr Land, io 
wird er ſchwere Arbeit haben. Als die Dejterreiher 1878 Bosnien 
offupierten und die Bevölkerung fich zum Theil dagegen auflehnte, mußten 
ihließlich nicht weniger als 262000 Mann mit 300 Geſchützen aufgeboten 
werden, um das Land völlig zu unterwerfen und im Baum zu halten. 
Dabei wurden die Infurgenten nur auf 80000 Mann veranichlagt. Co 
groß ift die Widerſtandsfähigkeit einer kriegeriſchen Bevöllerung auf dem 
eigenen, von Natur defenſiv günjtigen Boden. 

Um die Widerjtandsfähigkeit der Buren abzumejjen, fehlt vor Allem 
jeder jichere Anhalt für ihre Zahl. Es heißt, weil im alten Tejtament die 
Bollszählung verboten war und König David für die Uebertretung dieſes 
Verbots bejtraft wurde, wollten die bibelfejten Buren aud) Heute noch 
feine Volkszählung veranjtalten. Die Angaben für Transvaal ſchwanken 
zwijchen 80000 und 150000 Geelen, dazu fommen noch etiwa 
halb foviel im Dranje-freijtaat, aljo im Ganzen 120000 bi3 220000 
Seelen. Wahricheinlih it die geringere Zahl die richtige. Nehmen 
wir die höhere und rechnen als dad Marimum derjenigen, die 
die Waffen tragen können, ein Fünftel, jo gäbe da8 45000 Mann, 
dazu noch 5000 Mann Freiwillige anderer Nationalitäten, macht 50000 


Politiſche Korrefpondenz. 381 


Kombattanten. Könnten die Buren mit 50000 Mann in diefem Augenblid 
eine rüdficht3lofe jtrategiiche DOffenfive unternehmen, jo könnten fie wohl 
den größten Theil Süd-Afrikas innehaben, ehe die Engländer mit gleich 
jtarfen Truppen zur Stelle find. ber der Fehler ift, daß diejer Armee 
die Offenfiv-Eigenfchaft fehlt. Man bedenke, was es heißen will, 20 % 
der Bevölkerung in die Waffen zu rufen. Preußen bat 1813 nur 5!/, % 
aufgejtellt und das gilt für eine unerhörte Leijtung. 1870 hatte Deutich- 
land etwa 3 % in Waffen. 20 % ins Feld zu jtellen ift nur möglich auf 
ganz furze Zeit und auf ganz kurze Entfernungen, aljo im eigenen Lande 
oder an jeiner unmittelbaren Grenze zur VBertheidigung. Das Wirthichafts- 
leben macht Anjprüche, die genau jo unabweisbar auftreten wie Hunger 
und Durjt. Als die Tiroler 1809 Innsbruck genommen hatten, gingen fie 
zunächſt nad Haufe, „um das Heu einzubringen,“ und mittlerweile 
famen die Franzoſen wieder zurüd. 

Bon Mafeling und Glencoe, wo jebt gefämpft wird, bis nad, Kap— 
jtadt ijt etwa jo weit zu marjchiren, wie von Königsberg und Memel bis 
nach Bajel, und die engliihen Truppen haben an verjchiedenen Stellen 
Befeitigungen angelegt, die nicht jo ohne Weiteres zu erjtürmen find. Mit 
modernen Waffen ijt auch eine Minderzahl in der Defenfive jehr ſtark und 
was die burifche Artillerie gegen die fachmäßig gejchulte englifche leijten wird, 
muß ſich erjt zeigen. 

Um mit ihrer Offenfive einen wirklichen. d. h. nicht bloß einen vor: 
übergehenden, jondern definitiven Erfolg zu erreichen, müßten die Buren 
wirklich 50000 Mann ftark fein (was doch jehr unwaährſcheinlich ijt), und 
müßten ferner irgend welche wejentliche Hilfe, ſei e8 durch eine Erhebung 
der Eingeborenen, fei ed der Holländer im Kapland erhalten. Die 
Holländer im Kapland haben gewiß eine jtarfe nationale Sympathie für 
die Buren, aber daß fie fid) in einen furchtbaren Krieg jtürzen jollten um 
ihretwillen, ift doc wohl faum zu erwarten. Und wenn die Kaffern ſich 
erheben, jo muß ſich zeigen, ob jie vorziehen, gegen die Engländer oder 
die Buren zu kämpfen. 

Gelingt ed nun den Buren nicht, mit ihrer Offenjive einen großen 
Bortheil zu erlangen, ein ganzes engliſches Truppen-Korps zu vernichten, 
oder menigjtend ganz Natal zu erobern, jo hat ihnen die Offenfive nicht 
nur feinen Nutzen, jondern jchweren Schaden gebracht. Wohl mögen jie 
einige Eijenbahn-Brüden und ſonſtige Anlagen zerjtören und dadurd) den 
zufünftigen Vormarſch der Engländer erſchweren, aber was jie ihrerjeits 
dabei zujeßen, ift doch noch koſtbarer. 

Das Ueble für fie ift ja, daß ein ſehr großer Theil ihrer Leute nicht 
gar zu lange von Haufe wegbleiben fann. Fallen fie nad) ein bi zwei 
Monaten aus der Offenfive in ihre eigentliche Pofition, die Defenfive 
zurüd, jo find ihre Kräfte ſchon zum großen Theil verbraudt. Die Leute 
drängen nad Haufe, und das Land ijt zu groß, um fie fo ganz jchnell 


382 Bolitifche Korrefponbenz. 

wieder auf bedrohte Punkte zu verfammeln. Beide Sreiftaaten zufamr 
find nicht viel Heiner, als das beutfhe Reich und fie haben ut 
mehr al3 drei oder vier Eiſenbahn-Linien. Ein Landſturm, der erft eine 
Woche marfchiren muß, bi8 er an die Stelle fommt, wo der Feind er- 
wartet wird, wird, wenn der erite Enthufiagmus verraucht ift, immer 
gewaltige Lüden aufweifen. Stehende Heere haben eben auch vor dem 
beiten Landfturm fehr große Vorzüge. 

Ein eigentlicher Unterwerfungäfrieg gegen die beiden Buren-Staaten 
würde für die Engländer immer ein fehr ſchweres Stüd Arbeit bleiben. 
Aber vielleicht werden fie Hug genug fein, darauf garnicht auszugeben, 
fondern den Buren, jobald fie ihnen irgendwo eine Niederlage beigebradt 
haben, einen Kompromiß anzubieten. Selbft wenn die Suzeränitätäfrag: 
formell unentjchieden bleibt und nur dad Stimmredt für die Witlander 
fejtgehalten wird, jo haben die Engländer ja Alles, was fie gebrauden. 
Umgekehrt die Buren fönnen, ſelbſt wenn fie fiegen, die Konzeſſion dei 
Stimmrechts an die Witlanderd unmöglich für alle Ewigkeit verfagen. Auf 
bei ihnen wird aljo für die Stimmung, „wozu eigentlih das Blut- 
vergießen?“ bald genug Raum werden. Wenn es ihnen wirklich ge 
länge, die Engländer völlig aus Südafrifa zu vertreiben und einen 
hulländiihen Bundesitaat vom ap zum Limpopo zu errichten, würd 
diefer Krieg eine welthiltoriiche Bedeutung erlangen. Daran iſt abe 
jchwerli zu denken. Umgekehrt, wenn die Engländer jehr ſchnel 
und volljtändig fiegen jollten, wird ihr Selbſtbewußtſein, das jet jchen 
groß genug iſt, ind Unermeßlihe anfchwellen. Die pofitive Mad 
verjchiebung würde nicht jo jehr bedeutend fein, da das gährende, unter 
drüdte Buren = Element noch lange eine kranke Stelle am engliſchen 
Staatsförper bilden würde. Aber der moraliihe Impuls, die kühne 
Eroberungspolitit weiter und weiter zu verfolgen, das Biel, Afrile 
englisch zu machen von Alerandrien bi8 zum Kap, nunmehr ohne Zaudern 
ins Auge zu fajjen, würde jehr jtark jein, und die Macht, mit der England 
dann zunächit zujammenftößt, ift — Deutſchland. 

21. 10. 99. D. 


383 


Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu- 
iufzjegangen, verzeichnen wir: 


7 Schleiermacher, Fr. — Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Ver- 
ächtern. Zum Hnndertjahr-Gedächtniss ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprüng- 
lichen Gestalt neu bera geben und mit Uebersichten und Vor- und Nachwort 
versehen von R. Otto. it 2 Bildnissen Schleiermachers. XII. 182 8. Oktarv. 
Eleg. kart. M. 1.50, in Lwbd M. 1.80. Göttingen, Vandenhoerk & Ruprecht. 

— A. v. — Das Rad in Reimen. 1888, M.1. Kiel und Leipzig, Lipsius & 

ischer. 

Untersuchungen über die Lage der Hausirgewerbes in Deutschland. 8. und 5. Bd. 
Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXIX. LXXXI 308, 858 S. Leipzig, 
Duncker & Humblot. 

Untersuchungen über die La des Hausirgewerbes in Schweden, Italien, Gross- 
britannien und der Schweiz. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXXIIL 
223 S. Leipzig, Duncker & Humblot. 

Die Verhandlungen des 10. evang.-sozialen ar re abgehalten in Kiel am 25. und 
26. Mai 1890. (138 S.) M. 2,—. Göttingen 1899, Vandenhoeck & Ruprecht. 

Fogel, Dr. Jul. — Goethes Leipziger Studentenjahre, geb. M. 4.—. Leipzig, Carl Meyers 
Graphisches Institut. 

A.2...:.. W. A. — Monte-Carlo. Roulette et Quarante. (51 8.) O Pf. München 1899, 
Carl Haushalter. 

Welter, N. — Frederi Mistral, der Dichter der Provence. Oktav. (356 8.) M. 4.—. Mar- 
burg, N. G. Elwert. 

Wiedemann, R. — — dere vorn 18. Juli 1899, M. 1.80. Selbstverlag 
des Herausgebers, Halensee-Berlin, Friedrichsruherstr. 18. 

Achelis, Prof. Dr. Th. — Soziologie. 145 S. M. 080. Leipzig, G. F. Göschen. 

Der Bote für deutsche Litteratur. Organ des Scheffelbundes. 2. Jahrg. Heft 5—10. 
Leipzig. G. H. Meyer. . 

Bräunlich, Lie. theol. Pfarrer. — Leo Taxil. Ein Miniaturbild a. d. grossen Ver, 
zweiflungskampfe der römischen Priesterherrschaft um ihren Bestand. 15 S. 
München, S. F. Lehmann, 

Bräunlich, Lie. theol. Pfarrer. — Die österreichische Los-von-Rom- Bewegung. 08 5. 
M. 0.60. München, 8. F. Lehmann. 


Brix, Theodor. — Der nationale Grössenwahn und der Kampf mit den Dänen. 31 S. 
Berlin, Imberg & Lefson. 
Danietson, Joh. Rich. — Finlands Vereinigung mit dem russischen Reiche, Oktav. 


188 S. Helsingfors, Weilin & Göös. 
Dreyer, Max. — Lautes und Leises.,. 105 S. Leipzig, G. H. Meyer. 
—— rnotd. — Die Waffen hoch! 74 S. Braunschweig, Albert Limbach. 
. m. b. H. 

Hoarrassonitz, Otto. — Die schwedisch-norwegische Union und ihre staatarechtliche 
Grundlage. (A. d. Stockholmer Ztg. Nya Dagligt allehanua). 24 S. Stockholm, 
Hasse W. Tullebery. 

Hartmann, M. — Der Islamische Orient. Berichte und Forschungen. I. (40 S.) M. 1. 
Berlin 1890, Wolf Peiser Verlag. 

Hase, Karl von. — Kirchengeschichte, 10 Lieferungen je 50 Pf. Liefr. I. Berlin. 
Breitkopf & Härtel. 

Harsindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Oesterreich. Bd. 2. Die Haus- 
in«ustrie der Frauen in Berlin. 616 S. Oktav. Bd.8. Mittel- und Westdeutsch- 
land, Oesterreich. 550 S. Ortav. Bd. 4. Gesetzgebung, Statistik und Uebersichten, 
2778. Oktav. Leipzig, Duncker und Humblot. 

Lehmann-Hohenberg, Professor Dr. — Bismarcks Erbe. Los von Rom, — gut deutsch 
allewege 478. Oktav. München S. F. Lehmann. 

Livps, Dr. G. F. — Grundriss der Psychophysik. 16435. M.0.80. Leipzig, G. F. Gösuben. 

Löwenstimm, Aug. — Der Fanatismus als Quelle der Verbrechen. 88 S. Berlin, 
Johannes Räde, 

Menge, Dr. H. — Die Oden und Epoden des Horaz. (505 S.). Berlin, Langenscheidt- 
sche Verlagsbuchh. 

— — Ernst. — Altrheinische Geschichten. 208. Dresden und Leipzig, Karl 

issner. 

Müller, Leonhard. — Badische Land geschichte, Erster Theil: Der Anfang des 
Landständischen Lebens im Jahre I819. (223 S). Berlin, Rosenbaum & Hart 
Neubürger, Emil. — Goethes Jugendfreund Friedr. Maximilian Klinger. 35 S. Frank- 

furt a. M., Reinhold Mahlau (Mahlau & Waldschmidt). 

Ompteda, Frh. e. — Freilichtbilder. Novellen. 248 S. Berlin, F. Fontane & Co. 

Oncken, W. — Die Sendung des Fürsten Hatzfeld nach Paris. Sonderabdruck a. d. 
„Deutschen Reyue*“. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt. 

Pan 189. 5. Jahrgang, 1. Hälfte. Berlin, F. Fontane & Co. 

Pfutlf; Otto 8. 4. — Bischof von Ketteler. (1811—1877). 2. Bd. 240 8. Oktav. Mainz, 
Franz Kirchheim. 

Pichler, Adolf. — Letzte Alpenrosen. Erzählungen a. d. Tyroler Bergen. 168 8. 
Leipzig, G H. Meyer. 

Riesen, E. ve. — Gedanken über eine ee S. Berlin, Emil Apolant. 

Schulze-Smidt, R. — Die drei Romane. Bd. 1 2198. 2256 S. Dresden u. Leip- 
zig, Kari Reissner. 

Seidier. — Die gesetzlich unmöglichen Verurtheilungen des Amtsgerichtsrath Seidler 
124 S. Oktav. Berlin, Imberg & Lefson 

Sewett, Arthur. — Der Armenpastor. Ein sozialer Roman. 27 S. Dresden u. Leipzig, 
Karl Reissner. 


Stiltich, Dr. Oskar. — Die Spielwaaren - Hausindustrie des Meininger Oberlandı 
100 8. M. 2—. Jena, Gustav Fischer. 

Verwattungsbericht der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Berlin für d. 
Rechnungsjahr 1898, 

X: ot, A. D. — Les Principes Fondamentaux de l’Histoire. Oktav. 3488. P 

est Leroux. 

Bernheim, Dr. Benedikt. — Der ambulante Gerichtsstand der Presse. Referat e 
am 1. Juli 1889 i. d. Tonhalle zu Zürich gelegentlich des VL allgemeinen 
— und Schrittstellertages 189. 2 S.Oktav. München, Knorr 

20. b. 

Brix, Theodor. — Was in dem „Lande der Denker und Dichter“ passiren kann. 
Oktav. Berlin, Herm. Walther. 

Caspari, Prof. ©. — Das Problem über die Ehel vom — — 
und sozialen Geschichtspunkte. 126 8. Oktav u. VI 2—- F 
J. D. Sauerländers Verlag. 

Deritz, Franz. — Bebel — v. Bogislawski — Bleibtreu. Neuere Betrachtungen 
Deutschlands Heer und Wehr. 128 S. Oktav. Berlin, Herm. Walther. 

„_F_— Bibliographie der deutschen Zeitschriftenlitteratur. Band 

Leipzig, Felix Dietrich. 

Ernst, Otto. — Ein frohes Farbenspiel. 191 S. Leipzig, Staackmann. 

Euler, Carl. — Friedrich Friesen. 2, Aufl. 102 S. eipzig und Wien: A. P 
Wittwe & Sohn. 

Flugschriften der deutschen Volkspartei. 1. Heft: Die Verfassungsrevision in W 























Fredericg, Paul. — L’Enseignement sup6rieur de l’Histoire. 
Paris, F. Alcan. Gand, J. Vuylsteke. 


licher Grundlage. 8 Oktav. (274 S) M.8.-. Berlin, Verlag von Conrad 
Kögel, Gottfried. — Rudolf Kö Bd. 1. +72 S, Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 
Langmesser, Dr. A. — Jakob —— der Freund Lavaters, Lenzens, Kli 
(216 S) M.4.— Zürich, E. Speidel. 
Latscha, J. uw. Pfr. W. Trudt. Nationale Ansiedelung und Wohnungsreform. 2, 
83 8, Frankfurt a. M., Richard Ecklin. 
Das Leid als die Wurzel des Glückes. Ein Beitrag zur Reformation des Gla 
Von einem Christen. 472 S. Oktav. Leipzig 1 Eduard Schmidt, 
Leist, Dr. Alexander, Prof, — Vereinsherrschaft und Vereinsfreiheit im kün 
Reichsrecht. 54 S. Oktav. M. 1.20. Jena, Gustav Fischer, 


Manujfripte werden erbeten unter der Adreſſe des Her 
geber3, Berlin- Charlottenburg, Sinejebeditr. 30. 

Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entf 
über die Aufnahme eined Aufjages immer erjt auf Grund einer j 
Prüfung erfolgt. 

Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite ded Papi 
jchrieben, paginirt fein und einen breiten Rand haben. 

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Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück, 
Berlin -Charlottenburg, Knesebeckstr. 30. 


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(lern. 


er 


Dom deutfchen Gott. 


Bon 
9 Gallwitz. 


Der Gott, welcher unjern Borvätern von den chriftlichen 
Miſſionaren verfündet worden iſt, war zunächit ein fremder Gott. 
Nicht der Gott, welchen Jeſus Chriſtus verfündigt hat, jondern der 
Gott, welchem die römiſch-katholiſche Kirche diente. Dieje jelbjt 
hat mit ihrer Gotteslehre eine Erbjchaft von der griechijchen Kirche 
angetreten, aber nicht ohne diejes Erbe jelbjtändig umzugejtalten 
und zu mehren. Ehe von dem deutjchen Gott geredet werden fann, 
wird es nöthig jein, von dem griechischen zu handeln. 

Für das Verjtändnig des griechifchen d. h. des Platonijc)- 
Pythagoreiſchen Gottesbegriffs tt feitzuhalten, daß die Griechen 
fein Ziel für die Fortentwicklung des Menjchengejchlechts und feine 
daraus jich ergebenden Aufgaben fannten. Die Abgrenzung der 
Völker jchien ihnen ebenjo eine unverrüdbare Naturordnung zu 
jein, wie die Gliederung der Stände innerhalb der Bürger chaft 
und die Nothwendigfeit des Sklavenjtandes als der breiten Grunde 
lage für das bürgerliche Gemeinwejen. Der Gedanfe, den Gegen 
ja von Freien und Sklaven zu verwijchen, jchien ihnen ebenjo 
unvollziehbar, wie die Aufhebung des Nangunterjchtedes zwiſchen 
Griechen und Barbaren. Die jittlicfe Weltordnung in ihrer da= 
maligen gejchichtlichen Ausprägung galt als eine unabänderliche, 
die Hauptfunftion der oberiten Gottheit war die Gerechtigkeit, 
nämlich die Pflicht, die gegebenen Grenziteine zwijchen den einzelnen 
Völfern, den Ständen und den damaligen Normen von Gut und 
Böje unverrüdt zu erhalten. 

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 25 


386 Bom deutſchen Gott. 


Was für ein Interejje konnte dann noch vorliegen, die Idee 
einer über der Welt thronenden Gottheit auszubilden, wenn es feın 
Ziel gab, dem die Gejchichte entgegengeführt werden jollte? Kein 
anderes als das Bedürfniß, die Widerfprüche und Mängel, welche 
allen irdijchen Dingen anhängen, abzujtreifen und mit der logijch 
gejchulten Denkkraft zur Idee eines höchiten, in ſich widerjpruchs- 
freien göttlichen Wejens aufzufteigen. Die Gottheit mußte die 
VBerförperung des nad) der Schäßung des Philojophen höchiten 
Organs des Menjchen, der Denkkraft werden; die Weltanjchauung 
jelbjt konnte nur eine äfthetijche nicht eine teleologijche jein. Bier 
liegen die Wurzeln der Platoniſchen Ideenlehre jowie die Triebfräfte 
ihrer Fortbildung zum Neuplatonismus, und hieraus will das 
Wejen des griechiichen Gottes verjtanden werden. 

Der Mann, welcher ihn in die firchliche Glaubenslehre ein— 
gebürgert hat, mag er auch jelbjt darüber zum Ketzer geworden 
jein, ijt Origenes. Der Grundgedanfe jeines Syſtems it: Gott iſt 
reiner Geift, daher unmwandelbar und nur durch das Gejet der 
logischen Nothwendigfeit beherricht. Von Ewigfeit hat er alle 
Dinge, auch den Fall der Menjchen vorhergewußt, welcher, da 
Gott durch feine außer ihm befindliche Kauſalität eingejchränft jein 
fann, auch von Ewigfeit gewollt und nothwendig gewejen iſt. Die 
Schöpfung diejer Welt, die den Menjchengeijt zu einem natürlich: 
jinnlichen Leben nöthigt, it ein Strafaft für den vorzeitlichen 
Sündenfall, und das Erlöjungswerf bejteht nicht in einer fittlichen 
Neujchöpfung, jondern in der Erhebung des Geijtes über die Biel: 
heit und Unruhe der natürlichen und gejchichtlichen Welt. Nüdfehr 
zum reinen Geift, Anjchauen der Ewigfeit Gottes ift der Weg zur 
Heiligung und Seligfeit. In dem fünftigen Zuftand der Vollendung 
wird für die erlöjte Seele auch die bunte Fülle der verjchtedenen 
räumlichen Anjchauungen und Formen untergegangen jein, ſie 
wird in der einzig vollfommenen, reinen Form erjcheinen, der 
Kugelgeitalt. 

Da göttlich Ewiges und gejchichtlich Menjchliches grundjäglich 
unvereinbar jind, muß auch das Erlöjungswerf Chriſti ebenjo wie 
der Sündenfall in die Ewigfeit zurücdverlegt werden. Das chrijto- 
logische Problem tt das der ewigen Zeugung; Jeſus Chriftus iſt 
wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigfeit geboren, er ijt die Idee, 
durch deren Anjchauen jich der Menſch über die Sündhaftigfeit und 
Bergänglichfeit jeiner Natur erhebt und die Gewißheit jeiner Er- 
löjung in fi) aufnimmt. Sind nicht die göttlichen Eigenjchaften 


Vom deutfhen Gott. 387 


der Allgegenwart, Allwifjenheit, Allmacht, Unveränderlichkeit, kurz 
die Züge des reinen Geijtes in Jeſus Chrijtus nachzuweiſen, jo 
ift den Menjchen die Hoffnung auf ewiges Leben und Theilnahme 
an der göttlichen Natur abgejchnitten. 

Aus diefem griechiichen Gottesbegriff find die theologischen 
Probleme herausgewachjen, welche bis in die neueite Zeit das 
Denfen der Dogmatifer bejchäftigt haben: die Lehre von den gött- 
lichen Eigenjchaften, der Trinität, der Schöpfung aus Nichts, die 
Lehre der zwei Naturen in Chriftus, die von der Prädejitination 
und der Unfreiheit des menjchlichen Willens, d. h. der Unverein- 
barkeit des menschlichen Willens mit dem göttlichen, endlich auch 
die Lehre von dem Wirken des Geijtes durch die Saframente. Der 
Weg zu Gott iſt für die Gebildeten das philojophijche Denten, 
welches jich mit der Kraft des heiligen Geijtes dedt. Ihnen ver: 
bürgt die in Chrijtus gejchenfte reine Gotteserfenntnig Erlöſung 
und ewige Leben, während für die ungebildete Menge in der 
Myſtik und in der Asfeje die Wege vorgezeichnet find, auf welchen 
jie aus der Welt des wechjelnden und aufregenden Scheins flüchten 
und zum Genuß der ewigen Ruhe in Gott fommen fönnen. Da 
Gott als eine in fich gejättigte, unmwandelbare dee vorgejtellt 
wird, jo jind gejchichtliche Aufgaben für das Reich Gottes in der 
Welt nicht zu löſen. Die Natur und mit ihr der Menjchengeift 
vermag nicht mit dem göttlichen Geiſt in Wechjelwirkung zu treten, 
beide jind nur Spiegel, in welche die göttlichen Ideen hineinleuchten 
fünnen, um die ihnen wejensverwandten Stoffe in die obere Welt 
zurückzulocken. | 

Der Gott der griechiichen Bhilojophie it geboren in der Zeit 
des beginnenden Niedergangs der hellenischen Kultur. Die Blüte 
Griechenlands war verwelft, ohne Frucht angejeßt zu haben, die 
ichaffenden und gejtaltenden Kräfte waren erlahmt, als die reflef- 
tirenden, anjchauenden auf den Plan traten. Da eine hoffnungs- 
volle Aufgabe für die Zufunft fehlte, jo blieb auch den Göttern, 
von welchen die Philojophen redeten, nichts mehr zu jchaffen übrig. 
Die reiche Zeit lag rückwärts im goldenen Zeitalter; damals herrjchte 
noch ein fräftigeres Göttergejchlecht, während das gegenwärtige an 
dem allgemeinen Niedergang theilnahm und ebenjo wie die Philo— 
jophen von des Gedanfens Bläſſe angefränfelt war. 

Die Platonische Philojophie mündet daher auch folgerichtig in 
das neuplatonijche Denken aus. Nachdem es auf diejer Welt den 
Gegenjtand jeines Denfens und Handelns verloren hat, irrt es in 

25* 


388 Vom deutfhen Gott. 


den weiten Himmelsräumen der Ewigfeit unjtät umher, bemüht, Die 
irdijchen Sinne und das auf ihnen fich erbauende, räumlichzzeitliche 
Erfennen von ſich abzuthun und ein neues Organ bei ſich auszu— 
bilden, vermitteljt dejjen e8 das Ewige, Unfaßbare, Unnennbare 
unmittelbar in jich aufnehmen und nachempfinden fünne. Um aber 
einen Ausgangspunkt für das Denfen über die Welt zu gewinnen, 
mußte der Neuplatonismus ein bejtimmtes Bild des Weltorganismus 
vorausjeßen und fand es in dem römischen Weltreich, welches in 
itarrer, fajt ewiger Rechtsordnung einen Theil des WVölferchaos 
zur Einheit zujammenjchlog und in der äjarenvergötterung ich 
als die Verjinnlichung der göttlichen Weltherrjchaft und Weltord- 
nung daritellte. 

Nachdem der Cäſar Chriſt und Oberhaupt der chrijtlichen 
Staatsfirche geworden war, ward e8 auch dem chrijtlichen Denfen 
geläufig, jeine Herrjchaft als Abbild des göttlichen Weltregiments 
zu jchauen und ihn als den Wächter und Garanten der orthodoren 
Lehre zu betrachten, wie es in der rujjiichen Kirche bis zur Gegen- 
wart der Fall tft. Noch leichter mußte es dem römischen Bijchof 
werden, nachdem er al8 Oberhaupt der abendländijchen Kirche an- 
erfannt war, mit dem Anjpruch aufzutreten, Gottes Statthalter zu 
jein und jein Haupt mit dem Strahlenfranz göttlicher Weisheit und 
Gerechtigkeit bis zur Unfehlbarfeit zu jchmüden. Diejer Ehebund 
zwijchen Neuplatonismus und römischer Weltfirche ift von Auguſtinus 
eingejegnet worden und hat die Jahrhunderte bis zur Gegenwart 
überdauert. 

Es ijt nicht zu verwundern, daß dieje griechijche Denfart auch 
in der römischen Kirche und Theologie ein unheilvolles Wirken 
entfaltet hat. Der Ehriltengott wurde zu einer blutleeren greijen= 
haften Gejtalt; nicht zum König, der zum Kampf aufruft, um jein 
Neid) aufzurichten, jondern zum griechiichen Denfer, der jich mit 
den beitehenden Berhältnifjen jo gut als möglich abzufinden und 
der beitehenden Weltordnung noch möglichjt viele vernünftige Züge 
abzugewinnen jucht. 

Yag die goldene Zeit der Bolllommenheit am «Anfang der 
menschlichen Entwidelung und durfte auf eine neue aufiteigende 
Entwidelung nicht gerechnet werden, jo blieb der chrijtlichen Theologie 
nichts Anderes übrig, als rückwärts zu jchauen und die Urjache, 
welche den urjprünglichen Zujtand aufgehoben hatte, zu bejeitigen. 
Wie fann der Siündenfall für uns aufgehoben 'werden?, jo hieß 
das Thema, welches das theologijche Denfen bejchäftigte. Wie 


Bom deutihen Gott. 389 


fann das von Adam Gejchehene, was auf der Menjchheit ohne ihr 
perjönliches Zuthun dauernd als Schuld lajtet, ungejchehen gemacht 
werden? Dieje Frage beherrjchte die Gemüther derartig, daß feine 
‚sreudigfeit und Kraft übrig blieben, um an die pofitive Ausbildung 
der von Gott verliehenen Anlagen zu denfen. Troß aller Ber: 
jicherungen, welche die Kirche in ihrer Glaubenslehre wie in den 
Saframenten über die Sühnung jener anfänglichen Schuld darbot, 
fam e3 niemals zu der freudigen apojtolifchen Heilsgewißheit: das 
Alte it vergangen, es iſt Alles neu geworden; es ijt ein neuer 
Bund gejchlofjen zwijchen Gott und den Menjchen, in welchem der 
vergangenen Schuld nicht mehr gedacht werden, und ein neues, 
fruchtbares Reben erblühen joll. Die Kirche ward aus einer Heils- 
anjtalt mehr und mehr ein Gefängniß, in welchem die Menjchheit 
jene anfängliche Schuld abzubüßen hatte, und verrannte jich der— 
artig in ihr Mißtrauen gegen die natürliche Austattung und Ent: 
widelung der menschlichen PBerjönlichkeit, daß fie ein Leben außer: 
halb des Gefängnijjes nicht für möglich hielt und das Bewußtjein 
verlor, daß Gott der Schöpfer, Erhalter und Regierer der Natur: 
ordnung tt, und daß feine menschliche Naturanlage ohne jein 
bejonderes Wirken entiteht. 

Die griechiiche philojophiiche Weltverneinung und die im 
römischen tatholizismus der Völferwelt aufgezwungene, die Mannig— 
faltigfeit der Individualitäten in jtarrer Einheit zuſammenfaſſende 
Weltbejahung find das geiſtig jittliche Erbe der alten Welt, welches 
die germanifchen Völker angetreten, und von welchem jie Jahr— 
hunderte hindurch gezehrt haben. Den göttlichen Herrjchaftsanjpruch 
der römischen Kirche haben jie im jechzehnten Jahrhundert zurüd- 
gewiejen, aber Stimmung und Art des griechiichen Denfens find 
von ihnen beibehalten worden, dieſe haben noch im neunzehnten 
Sahrhundert die idealiftiiche Philojophie in Deutjchland beherrjcht 
und auch die Gedanken des chrijtlichen Glaubens geformt. 

Luther ijt der Neformator der Stirche und der Prophet einer 
neuen Zeit geworden, weil in ihm Gott jich auf eine neue un— 
mittelbare Art offenbart hat, wie es jeit den Tagen der Apojtel 
nicht gejchehen war. Aber zu einer in jich abgeflärten evangelijchen 
Weltanſchauung hat es Luther nicht gebracht, vielmehr die Theologie 
der alten Kirche unbejehens in die Stirche der Reformation herüber- 
genommen. 

Die freie, gläubige, fruchtbar jchaffende, chrijtliche Perſönlichkeit, 
welche in Xuther zuerjt auf deutjchem Boden erjchienen iſt, bedarf, 


390 Bom deutfhen Gott. 


wenn jie über jich jelbjt Har werden und ſich in der Welt recht: 
fertigen will, einer neuen Gottes: und Weltanjchauung im Gegen: 
ja zu der griechifchen, welche Ausdruf der Stimmung der ſich 
auslebenden Antife it. 

Der deutjche Gott ijt nicht der gelehrte Denker, der in jeinem 
Innern ein harmonijches ideales Weltbild zu jchaffen und feit- 
zubalten weiß; er ijt der König oder Herzog, welcher fein Reich 
aufrichtet und gegen Die Feinde der Wohlfahrt und des Lebens 
zu Felde zieht. Er lehrt Güter jchaffen und rohen Stoff geſtalten, 
den Urwald lichten und aus der Fülle verjchiedenen Samens den 
geeignetjten und fruchtbarjten auf das Feld ausjtreuen. Er lehrt durch 
Liit und Gewalt jchädliche Thiere ausrotten und dem Ungeſtüm 
der Elemente Schranfen ziehen. Er will die in die natürliche Welt 
wie in die Menjchenbrujt gelegten edlen Keime entwidelt und die 
widerjtrebenden Kräfte vernichtet oder doch niedergehalten jehen. 
Er kann nicht unterwürfige, willenloje Sklaven als blinde Werf: 
zeuge in jeinem Dienjt gebrauchen, ihn verlangt nad) erworbener 
Ueberzeugung und jelbjtändiger Verantwortung der Seinen. 
Ebendarum fann er auch feine Sicherheit geben, daß ein bejtimmtes 
Weltziel unvermeidlich erreicht werden muß, wie e8 den Griechen 
fejtitand. 

Nach dem griechiichen Glauben hat der Weltverlauf feinen 
pofitiven Fortſchritt. Da die Erkenntniß Gottes, welche ewiges 
Leben bringt, in der Offenbarung fertig gegeben tft, jo handelt es 
ji) nur darum, ob eine größere oder geringere Zahl von Ehrijten 
zum Genuß diejer in ſich gleichartigen Seligfeit gelangt, in welcher 
die Individualität vermwijcht, und ein Geift dem andern gleich fein 
wird. Nach den Inftinkten des deutjchen Glaubens läßt fich das 
Neich Gotte8 nur durch einen wirklichen Kampf Chriſti und der 
Seinen auf Erden aufrichten. Diejer Kampf it das Thema der 
Weltgejchichte und erhält die Herzen aller Mitfämpfer in bejtän: 
diger Spannung. Da es feine logische Nothiwendigfeit giebt, daß 
ein bejtimmtes Ziel des Gejchichtsverlaufs erreicht wird, jondern 
Gottes Pläne nur durch freie menschliche Mitarbeit ausgeführt 
werden fünnen, jo it dadurch die Verantwortung und zugleich der 
Wert der Einzelperfönlichfeit ins Unendliche gejteigert. Ahr iſt 
Gottes Ehre anvertraut, wie dem TFahnenträger die Ehre des 
Regiments und des oberiten Kriegsherrn. Der Sieg des Gottes: 
reiches über das Reich der Welt kann glänzender oder dürftiger 
ausfallen, die Ernte fann reicher und geringer jein. Durch menſch— 


Bom deutfhen Gott. 891 


liche Trägheit, Selbjtjuht und Charafterlofigfeit werden dem 
Neiche Gottes unmiederbringliche Verluſte beigebracht; die Zu: 
funft der Gejchichte, nicht nur des eigenen Volks, ſondern auch der 
Menschheit it der Chriftenheit und jedem Einzelchriiten auf das 
Gewiſſen gelegt. 

Durd) dieje Ungewißheit über den Ausgang der Weltgejchichte 
wird der ganze Reichthum der geiſtigen und leiblichen Anlagen 
zu energijcher, Zebensentfaltung gerufen: Nicht nur perjönliche 
Verantwortung und perjönliches Schuldgefühl über Verſäumniſſe, 
jondern auch Freude über Erfolg, Demuth und Stolz, Furcht und 
Hoffnung nicht in Bezug auf das armelige leibliche Ich, ſondern 
um die Ehre Gottes und den Sieg jeiner Sache, aud) in Bezug 
auf Größe und Bedeutung des Waterlandes und des eigenen 
Lebenswerfes. Alles was der moderne Menjch als den bejonders 
werthvollen Inhalt jeines inneren Lebens hoch zu jchägen liebt, it 
aus der Wurzel des deutjchen Glaubens hervorgewachſen, den Gott 
in Yuther gewirkt hat. 

Aber diejer Gott jelbjt iſt zunächit ein verborgener, unbefannter 
Gott geblieben, er hat nur theilweije von Luthers Berjon Beſitz 
ergreifen fönnen: Gefühl und Willen hat er fich unterthan zu 
machen vermocht, aber über den Kopf iſt der alte Gott der Griechen 
Herr geblieben. Die überlieferten Glaubenslehren hat Luther nicht 
antajten wollen, jo fühn er die ärgerliche Firchliche Brarıs befämpft 
hat, welche daraus hervorgewachjen war. 

Die Frage, weshalb der kühne Bibelfritifer und Bejtreiter der 
Unfehlbarfeit der Konzilien nicht auch die überlieferten Glaubens: 
lehren der Väter als gleichgiltig und gefährlich für den perjönlichen 
Heilsglauben bei Seite geworfen hat, it pſychologiſch nicht leicht 
zu entjcheiden. Luthers Schriften enthalten die jtärfiten Ausdrüde 
gegen die Vernunft. Er verjteht unter ihr nicht die von Gott ver: 
liehene vernünftige Ausitattung des Denkens, vielmehr hat er diejem 
neben der göttlichen Offenbarung in der heiligen Schrift eine 
jouveräne Stellung angewiejen. In dem Befenntnig auf dem 
Wormjer Reichstag jind die beiden Fundamente, auf welche er den 
Bau jeines Glaubensgebäudes ſtützt: die heilige Schrift und helle, 
flare Gründe der Vernunft. Was er als des Teufels Hure be: 
fämpft, iſt die entartete, verfnöcherte Vernunft, wie jie ihm in dem 
entarteten, mittelalterlichen Erbe der Scholaftif und ebenjo in der 
formalen humaniſtiſchen Bildung jeiner Zeit entgegentritt. Er be— 
fämpft, um ein modernes Wort zurüd zu datiren, den theoretijchen 


392 Vom deutfhen Gott. 


Menjchen, deſſen unmittelbares Empfinden und Wollen unter der 
Herrſchaft der wiljenjchaftlichen Methode verknöchert ijt, und der 
darum auc das Zeugniß des lebendigen Gottes an jeinem Herzen 
nicht mehr zu vernehmen vermag. Gott jelbjt hatte unter der 
logijchen Zergliederung der Schultheologen jein Leben eingebüßt, 
er war entweder zu einer Abjtraftion geworden, welche der gejchulte 
Dialektifer nach Willfür jeinen Zweden dienjtbar machen konnte, 
oder zu einem fernen Lichtglanz hoch über diejer Welt, zu dem der 
Myſtiker mit jehnjüchtig ahnungsvollem Herzen aufjchaute, ohne 
doch die jeltenen flüchtigen Augenblide völliger Erleuchtung und 
jeligen Friedens länger fejthalten und mit den Weltaufgaben ver: 
einigen zu fönnen. 

Die Vernunft der Scholaftif wie die des Humanismus jind 
die nachgeborenen Kinder des griechiichen Gottes, jo daß Luther 
im Recht war, ihre Lehrjäge im Vergleich zu der Gottesfindjchaft, 
deren er jich im Glauben unmittelbar bewußt war, wie Hurenfinder 
und Teufelsbälge zu behandeln. Den altkirchlichen Lehren über 
Gottes Wejen und Eigenjchaften, über die Vereinigung der gött— 
lichen und menjchlichen Natur in Chriftus, über die Saframente, 
bei welchen Prieſterwort den heiligen Geiſt ebenjo mechanisch mit 
der Materie zujammenjchliegt, wie die göttliche und menjchliche 
Natur in Chriſtus zujammengefügt tt, jah Luther diefen Bajtard- 
charafter nicht mehr an, jondern behandelte fie als echte Kinder 
des in der heiligen Schrift waltenden Gottesgeiites. 

Auch it er von begreiflicher Scheu befangen gewejen, an Die 
Nevifion und Umarbeitung der Gejammtglaubenslehre der Kirche 
heranzutreten und vielleicht gerade in der Erwägung, daß dabei 
der Vernunft, d. h. der jcholajtiichen Methode und dem Heiden 
Aristoteles ein allzugroßer Einfluß eingeräumt werden müjje, und 
der lebendige Gott, der in Furcht und Liebe ihn zu fich gezogen 
hatte, jich zu einer todten Formel verflüchtigen werde. 

Wenn wir erwägen, mit welchen Mitteln der nominaliftijchen 
Dialeftif Luther die Konjubjtantiation jeiner Abendmahlslehre und 
die in der Kindertaufe fich vollziehende Wiedergeburt zu bemweijen 
gefucht hat, jo werden wir befennen müjjen: Es it ein Segen 
für die weitere Entwidelung des Broteitantismus, dat Luther nicht 
wie Augujtin jeine Hauptwirfjamfeit in wijjenjchaftlich-theologifcher 
Schriftjtellerei gejucht hat. Es hätte noch größere Gefahr bejtanden 
als bei Augujtin, daß die Stimme des Propheten von der des 
Thilojophen und Theologen zum Schweigen gebracht worden wäre 


Bom deutſchen Gott. 393 


oder von den Epigonen überhaupt nicht mehr hätte herausgehört 
werden können. Die Zeit der Reformation, welche nur in den 
ſchulmäßigen Formeln des weltmüden griechiſchen Geiſtes zu denken 
vermochte, konnte wohl einen neuen Glauben in ihr Herz aufnehmen, 
aber ihn nicht als giltige, durchſichtige Weltanſchauung aus— 
geſtalten. 

Dieſe Aufgabe, deren Löſung allein der Reformation zum 
Abſchluß und der evangeliſchen Kirche zum Zuſammenſchluß ver— 
helfen kann, iſt in den zwei letzten Jahrhunderten wohl oft ver— 
ſucht, aber nicht erfolgreich durchgeführt worden. 

Der Pietismus beſaß in ſeinen führenden Perſönlichkeiten 
ſtarke Kräfte, um gegen ſittliche Verbildungen den Kampf aufzu— 
nehmen; er hat auch das Innenleben der Einzelſeele bedeutend 
vertieft, aber alle Erkenntniſſe zu einer chriſtlichen Weltanſchauung 
zujammenzufajjen, und die Olaubenserfahrungen mit den Er: 
gebnijjen der Welterfenntnig zujammenzujchliegen hat er nicht als 
Aufgabe anerfannt. Sein natürlicher Sohn, der Kationalismus, 
welcher unter der breiten Mafje der Bevölkerung in Stadt und 
Land Begeilterung für Berjtandesbildung jowie Eifer für fittliche 
Zucht und ehrbares Leben eingebürgert hat, it zwar bemüht ge— 
wejen, eine vernünftige Weltanjchauung zu jchaffen; da er aber 
den Nuten, d. h. das jinnliche Wohlergehen der Kreaturen als 
legten und höchiten Weltzwed fette und unter dieſem Gefichtspunft 
die Zwecmäßigfeit des Weltalls wie der Menjchheitsgejchichte zu 
rechtfertigen unternahm, fonnten jeine Ergebniſſe nicht anders als 
fünjtlich) gejucht und trivial ausfallen. Sobald der Optimismus 
des vorigen Jahrhunderts mit jeiner Anbetung der vollfommenen 
Welt und der menjchlichen VBortrefflichfeit angefichts des Zujanmımen= 
bruch$ der alten Weltordnung in der franzöfiichen Revolution das 
‚seld räumte, war der Nationalismus dem Fluche der Yächerlichkeit 
verfallen. 

An der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts haben in 
Deutfchland drei Männer: Goethe, Kant, Schleiermacher, an der 
Bertiefung der fittlichen und religiöjen Ideen mit jolchem Erfolg 
gearbeitet, daß die Gegenwart noch immer damit bejchäftigt ift, 
aus der Fülle ihrer Gedanken Anregung und Befruchtung zu 
ihöpfen. Allen Dreien ijt aber der griechiiche Gott, welchem jie 
unmijjentlich dienten, verbängnigvoll gewejen, und hat die Offen» 
barungen, welche der deutjche Gott unmittelbar in ihnen gewirkt 
hatte, in fremdartigen Formen ausgeprägt, jo daß jie dadurch ent= 


394 Vom deutfchen Gott. 


jtellt und unverjtändlich geworden find und nur die Herzen derer, 
welche gelehrte Bildung bejaßen, zu bewegen vermocht haben. 

Goethes Jugendftreben ift ganz vom deutſchen Gott geleitet. 
Fauſt im erjten Theil ringt danach, alle Anlagen und Triebe der 
deutjchen Individualität in jich zu entfalten, um fie zu harmonijcher 
Einheit zujammenzujchliegen und in ihrer Neinheit zu erhalten. 

Der Ehebund mit der Helena hat feinen fühnen Getitesflug 
gelähmt und ihn an der Abgejchlojjenheit und Selbitgenügjamteit 
der griechifchen Natur Gefallen finden lajjen. In feinem Alter 
läßt er fi) an dem Genuß der Elafjischen Schönheit und an der 
Freude, welche technijche Betriebjamfeit gewährt, als an dem 
höchſten, vollauf befriedigenden Lebensinhalt genügen, nicht ohne 
Einbuße jeines Berjönlichfeitslebens. Die zarten Gewijjensregungen 
der Jugendzeit find überwunden, die überweltlichen Ziele find dem 
zunächjt Erreichbaren angepaßt. In der Jugendzeit wallt jein 
Herz in freudigem, unermüdlichem Zufunftshoffen: der Gott, den 
er im Herzen trug, hat ihn zum Kampf angefeuert gegen das in 
die Welt eingedrungene Böſe und ihn mit Abneigung erfüllt gegen 
den niedrigen Gefährten, der dem edlen Gottesfind in der 
Menjchenjeele beigejellt iſt; ſpäter hat er die Ruder eingezogen 
und den Kahn jeines innern Lebens auf dem Strom des Welt: 
lebens treiben lajjen: 


„Ueber's Niederträchtige nimmer dich beflage; 
Denn es ift das Mächtige, was man dir auch fage.“ 


Er hat zwar auch im Alter innere Harmonie und tapferes 
Hoffen troß verjtärkter Refignation nicht verloren, aber fie haben 
ihr jicheres Fundament in dem Glauben an einen perjönlichen heiligen 
Gott, der jein Gottesreich auf Erden aufrichten will, eingebüßt 
und führen als Stimmungen ein unficheres, jchwanfendes Dajein. 

Carlyle, nach Luther wohl der gewaltigite Prophet Gottes 
unter den germanijchen Männern, hat ſich ganz bejonders an der 
Hoffnungsfreudigfeit einer Goethejchen Ode aufgerichtet, welche er 
den Marjch nennt, nach dem das tapfere teutonifche Geſchlecht 
durch) die Dede des ihm beitimmten Abjchnitte8 der Emigfeit 
marjchirt: 

„Die Zukunft dedet 
Schmerzen und Glüde 
Scrittweis dem Blide; 


Doch unerichredet 
Dringen wir vorwärts. 


Bon deutſchen Gott. 395 


Und ſchwer und ſchwerer 
Hängt eine Hülle 

Mit Ehrfurcht. Stille 
Ruhn oben die Sterne 
Und unten die Gräber! 


Doch rufen von drüben 
Die Stimmen der Geifter, 
Die Stimmen der Meifter: 
Berfäumt nicht, zu üben 
Die Kräfte des Guten! 


Hier winden fih Kronen 
In ewiger Stille, 

Sie follen mit Fülle 
Die Thätigen lohnen! 
Wir heißen euch hoffen.“ 


Aber diejer Hymnus it zur WVerherrlichung der Maurer ge: 
ichrieben, der Bertreter der immerhin jeichten Aufklärung und 
ſchwächlichen Menjchenliebe des vorigen Jahrhunderts, welche in 
Deutjchland weder durch Opferwilligfeit noch durch Heldengröße 
jih einen Namen gemacht und verhältnigmäßig wenig gethan 
haben, eine neue Zeit heraufzuführen. 

Die jtärkite erneuernde Straft an der Wende des vorigen Jahr: 
hunderts tt ohne Zweifel von der Begeijterung für den fate- 
gorischen Imperativ der Kantjchen Philojophie ausgegangen. Durch) 
den jtegreichen Erfolg der aus ihr herausgewachjenen Erhebung 
des deutſchen Bolfes gegen die Napoleonijche Sinechtjchaft it ihr 
der Stempel echter göttlicher Offenbarung aufgedrüdt. Kants 
fritiiche Philojophie it nach zwei Seiten eine echte Weiterbildung 
des Werfes der deutichen Neformation. Sie hat der Perſönlichkeit 
die WBerantwortlichfeit zugejchoben, 1) für ihre empirischen Er— 
fenntnifje, 2) für ihren moralichen Glauben. Die Erfenntnif 
des Menjchen und zwar Die auf jinnliche wie auf überjinnliche 
Dinge gerichtete, it damit zu einer ethischen Funktion geworden; 
der Philojophie als planlojer Uebung des menjchlichen Scharfjinns 
oder als Mittel, jeden beliebigen Sat als einleuchtend und wahr: 
icheinlich hinjtellen zu können, ijt binfort die Wurzel abgegraben. 

Aber wie bei Luther die Denkthätigfeit nicht aus den Geleijen 
des griechiichen Geijtes herausgefommen tft, ebenjowenig hat Kant 
vermocht, das unbedingte Soll des Sittengejeges, welches von Gott 
unmittelbar in die Bruſt gelegt jein joll, mit den aus jeiner Er: 
kenntnißtheorie jich ergebenden Erfahrungsjägen zu einer wider: 


396 Vom deutfhen Gott. 


ſpruchsloſen Einheit zu verbinden. Seine idealiſtiſche Philojophie 
ift, wie fchon ihr Name andeutet, die Erbin der griechijchen Ideen, 
der Denfweije des verwelfenden Heidenthums, dem die Welt ent: 
göttert war, und welches nun jenjeits der wirklichen Welt jich eın 
Neich der Ideen erbaute. Die platonijche Ideenlehre bedeutet für 
die wirkliche Welt den Verzicht auf Weiterentwidelung; höhere Ziele 
des fittlichen Lebens, welche erreicht werden fünnten, jind aus: 
gejchlojien. Diejen Charakter des Fertigen trägt auch das Kantjche 
Denken. Das jeweilige Inventar der Ideen der menjchlichen Ver: 
nunft gilt ihm al8 das Map, wonach das Wejen des Seins zu 
bemejjen und als die Form, in welche jeine Fülle hineinzuzwängen 
it. Es ijt ein zeitlojes, mit der Gejchichte nothwendig auf Kriegs 
fuß stehendes Denken. Da die ewigen Dinge dem Gejeß des 
Werdens nicht unterjtellt jind, jo müſſen die Urtheile der menſch— 
lichen Vernunft, wenn fie zur logijchen Klarheit entwidelt find, bei 
Allen diejelben jein, jo daß für Jeden der Grundſatz giltig it: 
Handle jo, dat die Marimen deines Thuns zur Norm einer all: 
gemeinen fittlichen Gejeggebung erhoben werden fünnen. Der 
menschlichen Individualität darf, weil fie nicht der reinen Vernunft 
angehört jondern empirisch bedingt tt, feine Bedeutung zuerkannt 
werden. 

Dieje jpröde Schale griechiicher Ideen hat bei Kant ebenjo die 
fruchtbare Entfaltung der in ihm zum Leben drängenden jittlichen 
Kraft verhindert, wie in Luther durch die herrjchende ſcholaſtiſche 
Methode die Neubildung der evangeliichen Glaubenslehre ver: 
fümmert iſt. Und ebenjo it es leicht, bei der Iheologie Schleier: 
machers, des genialen Erneuerers des religiöjen Empfindens, des 
fräftigen Mitarbeiters an der fittlichen Wiedergeburt Deutjchlands, 
denjelben verhängnigvollen Einfluß griechiicher Denkweiſe nach— 
zuweilen. 

Die Neligion als jchlechthinniges Abhängigfeitsgefühl von Gott 
fann fich mit den fchaffenden fittlichen Kräften nicht organiſch ver: 
binden und muß dieje mit jtetem Mißtrauen betrachten. An einem 
Siegesfejt muß die Frömmigkeit folgerichtiger Weije trübjelig bei Seite 
jtehen, weil ihr Gott die kräftigen Affefte, welche dabei zur Ent: 
faltung fommen, nicht als ſich wejensverwandt anerfennen fann. 
Ebenjo hält die jchlechthinnige Abhängigkeit das perjünliche Ver: 
hältniß der Einzeljeele zu Gott nieder, entjprechend dem Sat des 
Spinoza: Wer Gott liebt, darf nicht erwarten, dal er von Gott 
wiedergeliebt werde. Den Gegenitand der Vorjehung Gottes bildet 


Vom deutihen Gott. 397 


nicht die einzelne geheiligte, zur Vollendung ihrer Eigenart ge— 
fommene Berjon, jondern die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, 
welche ebenjo wie die Berjon ihres Stifter bei Schleiermacher alle 
Merkmale einer griechiichen Idee trägt. 

Die Kant-Schleiermacherjchen Gedanken haben in verjchiedenen 
Schulen die ſyſtematiſche Theologie der evangelijchen Kirche das 
legte Jahrhundert hindurch beherrjcht, ohme jemals fich von der 
Gebundenheit des griechiichen Geiſtes losmachen zu fünnen und die 
Bedeutung der menfchlichen Einzelperjönlichkeit, welche durch un: 
mittelbare Gemeinjchaft mit Gott ihren jelbitändigen Wert erhält, 
in der Glaubens: und Sittenlehre praftifch durchzujegen. Das 
Wort von der Nechtfertigung durch den Glauben ohne des Geſetzes 
Werk ift im Protejtantismus Deutjchlands noch nicht verwirklicht, 
nur daß es nicht mehr das Geſetz des jüdijchen oder römijchen, 
jondern des griechiichen Geiſtes ijt, welches auf uns lajtet. 

Der griechijche Gott ift nicht der Schöpfer der Welt; er jteht 
als Idee oder reiner Geiſt der Materie als einer fremdartigen Macht 
gegenüber; er mag wohl unter bejonderen Umjtänden einmal ın 
die Welt eingreifen, jo lange der Denfer durch das Schema des 
Naturgejeges jich nicht gehindert fühlt, der Willkür und dem Zufall 
in der Welt freien Zugang zu gewähren, aber die Grundvorjtellung 
it: das Wirken der Gottheit it von allen Analogien des irdijchen 
Geſchehens und menschlichen Handelns frei zu denfen. Alle räum— 
lichen und zeitlichen Schranfen find aus dem Gottesbegriff zu ent— 
fernen. Die Süße von der Idealität von Naum und Zeit Jind 
‚solgerungen der platonijchen Sdeenlehre. 

Wir Menichen find durch unjre Sinne genötigt, alle Dinge 
außer uns räumlich nebeneinander zu ordnen. Da Jeder jeinen 
eigenen Horizont bejitt, und es nicht ausbleiben fann, daß von 
verschiedenen Standpunften aus die Perſpektiven fich verjchieben, 
jo hat die Ehrfurcht vor dem überweltlichen Gott daran gehindert, 
dem Raum in Gott einen Bla anzuweiſen. Man hat Gott Die 
menschliche Raumanjchauung abgejprochen und die Jdealität des 
Raumes behauptet, wober unbejtimmt blieb, ob der Nebeneinander: 
ordnung der Dinge im Raume, welche wir durch unjere Seh- und 
Tajtnerven vorzunehmen gezwungen find, auch irgend eine Qualität 
oder Kraft in der Wirklichkeit entipreche. Dagegen muß fejtgejtellt 
werden: der Naum, welchen unjer Auge beherrjcht, nämlich das 
Sonnenſyſtem, welchem unjer Planet unmittelbar angehört, unter: 
jteht einer räumlichen Gliederung, über welche jich unbejchadet der 


398 Vom deutfhen Gott. 


Verfchiedenheit der finnlichen Wahrnehmung genaue Urtheile be- 
ſchaffen lajjen. 

Wie wir die Willfür unjerer jubjeftiven Wärme: und Kälte: 
empfindung durch den Thermometer regeln, d. h. eine Naturfraft 
der andern zur Kontrolle jegen, ebenjo müfjen auch die ſich drehenden 
GSejtirne jelbit anzeigen, in welchen Kurven jie jich bewegen, welche 
Abſtände fie von einander halten und mit welcher Gejchwindigfeit 
fie fich durchs Weltall bewegen. Die pünftliche Genauigkeit, mit 
welcher jie den auf menjchliche Beobachtungen beruhenden Be: 
rechnungen wirklich entjprechen, it der Beweis, daß die von uns 
wehrnehmbare räumliche Nebeneinanderordnung der Gejtirne im 
Weltall nicht eine unwejentliche Zugabe iſt, jondern mit dem Geſetz 
der Gravitation und damit der Grundlage alles organischen Lebens 
unabtrennbar verbunden iſt. Dann aber ift das Geſetz der räumlichen 
Beziehungen zwijchen den ebenjoviele raftzentren darjtellenden Welt: 
förpern auch von Gott gejchaffen und muß von ihm bei jeiner Welt: 
regierung rejpeftirt werden. Das wäre ein jchlechter Meiiter, welcher 
bei einem Bau bejtändig die von ihm gelegten Grundlagen ändern 
müßte, um den Bau weiterführen und zum Abjchluß bringen zu fönnen. 

Dagegen wird der Einwand erhoben: Gott ijt reiner Geijt 
und jteht daher erhaben über der mechanischen Wechjelwirfung der 
Natur. Aber diejer Einwand, der Gottes Wejen vor Vermijchung 
mit der Welt bewahren will, führt dahin, auch jede Wirkung Gottes 
in der natürlichen Welt und damit Weltjchöpfung, Erhaltung, Ne- 
gierung, wie jie der chrijtliche VBorjehungsglaube fordert, für un: 
möglich zu erklären. Iſt die Wechjelwirfung der mechanijchen 
Kaufalität, welche als Vorausjegung der Natur und Grundgejet 
des Seins anerfannt werden muß, nicht von Gott gejegt, jo braucht 
jie aud) Gottes Gedanken nicht dienjtbar zu jein. Iſt ſie aber bei 
ihrem Werden Gottes Geijt unterthan gewejen, jo darf Gott nicht 
als reiner Geijt in der von Kant geprägten Wortbedeutung be- 
jchrieben werden. Weil die mechanijche Kaujalität das Werf Gottes 
iſt und die Züge jeines Geijtes an jich trägt, darum vermag Gott 
auf ſie und durch fie zu wirfen, während er im entgegengejegten 
Falle nach einer Yüde im Naturgejeß juchen müßte, um noch eine 
Wirfjamfeit auf Erden ausüben zu fünnen und vor den sort: 
jchritten der modernen Naturwijjenjchaft ſich in Wahrheit in den 
leeren Raum jenjeit3 der Sterne zurücdziehen müßte. 

Wenn der Pjalmjänger Gottes Nähe und Wirkjamfeit überall 
jpürt, wohin er auch eilen mag in allen drei Dimenfionen des 


Vom deutfchen Gott. 399 


Raumes, jo liegt dem nicht eine mathematische Anjchauung von 
der abjtraften Unendlichkeit und Unbegrenztheit des leeren Raumes 
zu Grunde, vielmehr fieht er, joweit Wirklichkeit gegeben ift, auch 
göttliche Wirfjamfeit. Gottes geijtiged Wejen und Wirfen wird in 
den Pſalmen mit einem natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren 
Prozeß verglichen, mit dem Licht, dejjen erjtes Aufleuchten nach 
dem mojfaijchen Bericht das Schöpfungswerf eingeleitet hat, welches 
zu erleuchten, zu wärmen, Xeben zu zeugen und zu heilen vermag. 
Mögen die Alten das Licht als etwas Jmmaterielles der ftofflichen 
Welt entgegengejegt haben, jo hat die genauere Forſchung dod) 
diefe Scheidung aufgehoben, und läht auch die uns wahrnehmbaren 
Erjcheinungen des Leuchtens und Wärmens auf den naturgejeglich 
gebundenen Wırfungen eines Stoffes, des Aethers, beruhen. Sit 
nun das Licht zu etwas Stofflichem geworden, jo hört es doc) 
nicht auf, ein geeignetes Sinnbild der Gottheit zu jein, es bleibt 
für alle Zeit das beite Abbild des Geiſtes, aber e8 mahnt uns, 
daß wir den Geiſt nicht in ausjchliegenden Gegenjat zum Körper: 
lichen jeten, vielmehr ihn nach Analogie des Lichtes als die feinste 
Art des Stoffes und der jtofflichen Wirkſamkeit zu verftehen juchen. 
Hat man früher von einem unvereinbaren Gegenſatz zwijchen Körper 
und Geiſt geredet, jo fam dies daher, daß man dem Stoff das 
Prädifat der Undurchdringlichkeit jeitens anderer Stoffe zujchrieb 
und Deshalb dem Geist, welcher mit dem menjchlichen Leibe that: 
jächlich eine Verbindung eingegangen tft, eine jchlechthin andere, 
wenn auch nicht weiter vorjtellbare Bejchaffenheit als reiner Geiſt 
zugejchrieben hat. 

Iſt gegenwärtig der Nachweis gelungen, daß verjchiedene 
Körper, welche früher als undurchleuchtbar galten, von bejtimmten, 
jtofflich vorzuftellenden Lichtjtrahlen durchdrungen werden, jo tt es 
auch der Phantaſie unverboten, den die Welt erfüllenden und re— 
gierenden Geift, davon auch wir einen Theil in uns bejigen, als 
einen allerfeiniten Stoff aufzufajien. 

Dabei muß freilich davon abgejehen werden, ıhn als eine 
träge, ruhende Mafje allenthalben in der Welt gleichmäßig vertheilt 
zu denfen. Da er die treibende und leitende Kraft alles Werdens 
it, und alle Bewegungen von ihm ausgehend zu denfen find, jo 
muß er vorgejtellt werden, wie er von einem oder von verjchiedenen 
Zentren ausgehend die dazwijchenliegenden trägen und dunfeln 
Bartien zu bewegen und zu durchleuchten jich bemüht, wie er jic) 
theilt, um von verjchiedenen Seiten einen fonzentrijchen Angriff 


400 Bom deutfhen Gott. 


vorzunehmen und ſich aus der Zerjtreuung wieder an bejondern 
Bunften zu größeren Majjen jammelt. Die unterjchiedsloje Stetig- 
feit und Gleichförmigfeit des göttlichen Wejens und Wirfens, welche 
man im Snterefje der göttlichen Einfachheit und Welterhabenheit 
ausgejagt hat, jteht in Widerjpruch zu der Art des natürlichen und 
geichichtlichen Werdens. Nirgends in der Welt giebt es eine Gleich: 
fürmigfeit des Lebens. Die Oberfläche der Erde iſt nicht regelmäßig 
geitaltet und bietet daher auch nicht gleichmäßige Lebens- und 
Entwidlungsbedingungen dar, weder für die Pflanzen: und Thier- 
welt, noch für das gejchichtliche Leben der Menjchen. Scheinbar 
regellos und zufällig geht hier und da über ein Bolf ein befruchtender 
Geitesregen nieder. Hier tjt es eine einjame, riefenhafte Perſön— 
fichfeit, auf der Gottes Geijt in bejonderem Maß ruht, welche aber 
unveritanden unter einem Gejchlecht von Zwergen wandelt. Dort 
wendet ſich der Geiſt produftiven Schaffens und fruchtbarer Er: 
fenntniß gänzlich von einem Volk, nachdem es Jahrhunderte hin- 
durch feinen Mangel an jchöpferiichen Geiltern gehabt bat. Bei 
auserwählten Bölfern und in bejonderen Zeitabjchnitten fünnen 
die erleuchteten Geijtesträger jo zahlreich jein, daß von dem ganzen 
Volk oder der ganzen Zeit ein gleichmäßig heller Lichtichein aus: 
jtrahlt wie von der Milchitraße, jo daß aus weiter Entfernung der 
Glaube entitehen fann, es jei die Helligkeit gleichmäßig über den 
ganzen Naum verbreitet, ohne von einzelnen Zentren auszujtrömen. 

Eng verbunden mit Allgegenwart pflegt Allwijjenheit von Gott 
ausgejagt zu werden. Soweit Gott räumlich als allgegenwärtig 
anerfannt werden muß, darf ihm auch Allwifjfenheit nicht ab: 
gejprochen werden. Was er geijtig durchdringt, geht auch in jein 
Bewußtjein ein oder ijt bereits im Voraus darin gegeben. Die 
göttliche Allwifjenheit will aber nach der Lehre der Kirche mehr 
bejagen als das gleichzeitige, allbeherrichende Ueberjchauen alles 
dejien, was gejchieht. Gott joll jederzeit ein Bewußtſein aller 
Dinge haben, der zufünftigen ebenjo wie der gegenwärtigen. Die 
Gejchichte Joll bis zum Abſchluß in allen Einzelheiten durchjichtig 
vor jeinen Augen ausgebreitet liegen, die Zeit und das ihr inne: 
wohnende Geſetz der Entwidlung beitehe nicht für ihn, er jehe alle 
Dinge sub specie aeternitatis. 

Eine jolche Darlegung hebt die Perſönlichkeit Gottes wie das 
lebendige Vertrauen zu ihm auf. Ein Technifer, der eine Majchine 
fonjtruirt hat, vermag das Jneinandergreifen der Näder und die 
Umwandlung der zugeführten Rohſtoffe in das fertige Fabrikat in 


Vom deutihen Gott. 401 


zeitlofer Folge als nothwendig gegeben jich vorzujtellen. Ein 
Mathematiker, der eine Riejenrechenaufgabe richtig durchgeführt hat, 
vermag den Gejammtverlauf der Rechnung in einem momentanen 
Anjchauungsbilde jich vorzuhalten. Jener operirt mit jtarren, ans 
nähernd unveränderlichen Stoffen und Kräften, diejer mit fertigen 
Begriffen und Zahlenbildern. Das zeitloje Borherjchauen des 
Zieles ermöglicht jich bei beiden dadurch, daß fie nicht mit lebendigen 
und unberechenbaren Sträften zu thun haben, jondern mit todten 
und genau abgemefjenen Größen. Sobald eine derjelben jich ändert, 
fällt auch die Sicherheit der Berechnung dahin. Wird von Gott 
schlechthin ein Vorauswillen alles Zufünftigen ausgejagt, jo wird 
damit der Menſch auch nur als ein todte Ziffer oder ein willen: 
(ojes Rad in einer Maſchine angejehen, es wird ihm jein Erit- 
geburtsrecht vor allen Kreaturen abgeftritten: jeine Individualität, 
jeine Freiheit, furz jeine Entwidlungsfähigfeit und die Damit gejeßte 
Unberechenbarfeit ſeines Wejens. 

Der Gott, welcher jede Sünde, jede Katajtrophe von Ewigfeit 
vorberjieht, it entweder ein Gott, der nur von ferne der Welt: 
geichichte zujchaut, alle Ereignijje vorausweig, aber nicht im 
Stande ijt, in fie einzugreifen und fie zu hindern, oder er ijt nahe, 
er fönnte helfen, aber er hat feinen Eifer, fein Erbarmen. 

Beide Gedanfenreihen widerjprechen den Ausjagen, welche wir 
aus dem Munde der Begründer und Erneuerer fruchtbarer reiner 
Sotteserfenntniß bejigen. Ihnen liegt vor Allem am Herzen, die 
vertrauenerwedende heilige Perſönlichkeit Gottes zu behaupten. 
Dieje haben jie mit allen Affekten ausgejtattet, welche aus dem 
Augenblik geboren werden und auf der Unfenntnig der Zukunft 
wie auf dem Gegenjat beruhen, den Vergangenheit und Zufunft 
zur Gegenwart bilden. Gott trauert über die Entartung eines 
Menſchenkindes oder den Verfall eines Volkes, er zürnt über die, 
welche jeine Bundestreue verachten, er einpfindet Neue, daß er an 
Unwürdige jeine Wohlthaten verjchwendet hat, er it eiferjüchtig 
auf die fremden Gottheiten, denen die Liebe jeines Volkes zufällt. 
Er hört nicht auf zu mahnen, zu warnen, zu jtrafen, zu tröjten, 
feine Hände gegen jein Volk auszubreiten. Er thut, was nur ein 
Menſch thun fann an einem Freunde, oder ein Vater an jeinem Kinde, 
foweit er in deſſen Entjchließungen und Nöthe Einblid hat, um es 
nach Kräften vor Sünde und Untergang zu bewahren. 

Sicherlich bejigt der Gott, welcher jedes Menjchen Anlage 
geichaffen, die Eltern und Boreltern geleitet hat und alle Einflüjfe, 

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 26 


402 Vom deutfchen Gott. 


die jeine Natur bejtimmt haben, von Anfang an überjchaut, eine 
vollfommenere Ktenntni des Menjchenherzens, als fie ein Menjchen: 
find auch bei den nächſten Angehörigen fich anzueignen vermag. 
Deshalb ijt ihm auch ein viel umfafjendere® Vorherwiſſen des 
menjchlichen Entwidlungsganges eigen als unferer bejchränften 
Einjicht, aber gleichwohl muß es für Gott in der Individualität 
des Menjchen ein dunfles Gebiet geben, welches er mit jeinem 
Vorherwiſſen nicht zu durchdringen vermag. Er mag vorausjehen, 
wie dieſer oder jener Eindrud auf diejes oder jenes Individuum 
wirken, und welde Stimmungen und Thaten er zeitigen wird: 
aber ob die Perjönlichfeit dem Eindrud fich treu und gemwifjenhaft 
bingeben und ihn in Wirkjamfeit umfegen, oder ob fie träg und 
gleichgiltig alsbald in ihre Nuhe zurüdfehren und die Wogen der 
innern Erregung alsbald durch die Deltropfen äußerer Nücdhjichten 
aufhalten und glätten wird, iſt nicht vorherzujehen. 

Ohne dieſe Schranfe giebt es für uns Menjchen feine 
Sittlichkeit, fein Fürchten und Hoffen, feine Opferfreudigfeit und 
Hingebung, weder Glauben noch Treue. Wenn dieſes unjer 
Slaubensleben uns immer mehr gottähnlih macht, jo iſt der 
Schluß nicht abzuweijen, daß auch in Gottes Geijt, wenn in ihm 
Glauben und Hoffen wohnen ſoll, eine Schranfe jeines abjoluten 
Vorherwiſſens gegeben jein muß. 

In dem menschlichen Geiftesleben it das Wiſſen eine Begleit- 
erfcheinung des aus der dunfeln Tiefe der unbewußt triebhaften 
Negungen aufiteigenden Wollens und Handelns. Wir fordern, daß 
ein Mensch jeine Triebe möglichtt vom Bewußtjein durchleuchten 
und klären lajje, ehe er jie in Thaten umfegt. Wir erfennen 
wohl bei jchöpferischen Geiltern ein Wirfen an, weldyes über die 
bewußten Regeln und Grundjäte und Einfichten hinausgeht; aber ein 
dauernder Zwiejpalt zwijchen Wiſſen und Wollen darf bei einer 
menjchlichen Berjönlichfeit nicht angenommen werden, jie würde 
damit den Charakter der normalen Gejundheit verlieren. Wo 
derartige Erjcheinungen fich einstellen, deuten fie auf franfhafte 
Entartungen oder vorübergehende Krijen. Wird Gott nach Art 
des menjchlichen Geiſtes als Perſönlichkeit gedacht, jo darf fein 
Widerjtreit zwiſchen Wiſſen und Wollen in ihn hineingetragen 
werden, d. h. Gottes Entjchliegungen dürfen niemals den bewußten 
Srundjägen und Erfenntnifjen widerjprechen, während es doch nicht 
ausgejchlofjen it, dat es auch bei ihm ein Handeln giebt, welches 
über das Handeln nach bewußten Zwedjegungen hinausgeht. 


Bom deutſchen Gott. 403 


Wird Gott abjolute Allwifjenheit auch in Bezug auf Die 
fünftigen Dinge und insbejondere alle bevorjtehenden menjchlichen 
Entjchliegungen und Thaten zugejchrieben, jo muß ihm auch uns 
bedingte Allwirkjamfeit zufommen. Wider jein Wiffen und damit 
auch wider und ohne jein Wollen fann auch nicht das Geringjte 
gejchehen, daher ijt jeder bejtehende gejchichtliche Zuſtand auf ihn 
als die letzte verantwortliche Urjache zurüdzuführen. 

So iſt es thatjächlich in der unter der Tradition des Neuplato: 
nismus erwachjenen Dogmatik der Fall. Die widerfinnigen Folgerungen 
diejer Behauptung, daß Gott auch der Urheber der Sünde jei, 
haben die Dogmatifer abzujchwächen verjucht, indem jie theils die 
Wirklichkeit der Sünde geleugnet, theil8 in Gott eine Scheidung 
zwijchen unmittelbarem und mittelbarem Wirfen, zwijchen Wirfen 
und Zulaſſen, oder zwijchen dem Gebiet des Wiſſens und Wollens 
durchzuführen verjucht haben. ine Löjung der Schwierigfeit, 
welche in dem Sat von der Allwirkjamfeit Gottes liegt, ijt Dadurch 
nicht erreicht worden. 

Daß die Naturordnungen, joweit jie ſich den menjchlichen 
Einwirkungen entziehen, ausjchließlich geleitet werden vom Willen 
Gottes, der fie gejchaffen hat, bedarf feiner Erörterung. Dagegen 
fordert es eine jorgfältige Prüfung, inwieweit der menjchliche 
Wille dem göttlichen erfolgreichen Widerjtand entgegenzujegen ver: 
mag. Die Thatjache einer jolchen Kreuzung des göttlichen Willens 
durch den menjchlichen wird von der heiligen Schrift mit aller 
Unbejangenheit anerkannt. Jeſus flagt über die Einwohner 
Serujalems: Wie oft hab ich euch verfammeln wollen, wie eine 
Henne ihre Küchlein jammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht 
gewollt, und wiederholt damit nur die Klage, welche fort und fort 
von den Propheten gegen ihre Zeitgenofjen erhoben ift. Die jchein- 
bar entgegenftehenden Ausjagen, welche die unwiderftehliche Wirk— 
jamfeit Gottes auch auf dem Gebiet zu behaupten jcheinen, welches 
der menjchlichen Entjcheidung vorbehalten it, erflären jich daraus, 
daß von jolchen Berjönlichkeiten die Rede iſt, welche ſich von 
Gottes Geift leiten lafjen und immer tiefer in Gotte8 Gedanken 
eindringen. In ihnen wirft Gott Wollen und Bollbringen nad) 
jeinem Wohlgefallen; ihre Herzen lenkt er wie die Waſſerbäche. 
Sie erkennen auch in jcheinbar zufälligen Erlebnifjen den tiefen 
Zujammenhang des göttlichen Wirfens. David urtheilt über die 
Beichimpfungen, welche er von Simei zu erdulden hatte 
(2. Sam. 16, 10): Der Herr hat es ihn geheißen, um zum Aus— 

26* 


404 Bom deutfhen Gott. 


drud zu bringen, daß er in dieſen Schmähungen den von Gott 
geordneten Zujammenhang mit feinen früheren Verjchuldungen er: 
blide. Ebenſo fann mit Recht behauptet werden, daß Gott die 
einzelnen Menjchen auch ohne ihr Wiljen benugt, um ſie jeinen 
Zielen dienjtbar zu machen. Eine ſolche Benußung menschlicher 
Willenskräfte geht nicht über die Analogie der Einflüjje hinaus, 
welche ein bedeutender Menſch auf das Wollen Anderer ausübt. 
Endlich unterliegt auch feinem Zweifel, daß Gott in jedem Augen: 
blid die Macht bejitt, die Ausführung eines menjchlichen Willens: 
aftes zu hindern, da, wenn er jeine Hand von dem Menjchen ab- 
zieht, deſſen Leben ein Ende findet. 

Die jpezielle Frage: Wo findet Gottes Allwirkjamfeit eine 
Grenze?, it auf das Gebiet des perjünlich ethijchen Lebens bejchräntt 
und läßt jich auf die Formel bringen: Vermag der Menjch den 
heimlichen Einwirkungen Gottes, durch welche ein erhöhtes heiliges 
Leben in ihm gejchaffen werden joll, Widerjtand zu leijten oder 
nicht? Jeder wird aus jeiner eigenen Erfahrung darauf bejahende 
Antwort geben. Wir fünnen durch Leichtjinn und Trägheit mandıe 
Anlagen unjerer Natur verfümmern und entarten lafjen, jo daß 
die gejammte Perſönlichkeit minderwerthig wird. Falls ein jo 
Entarteter jein Gejchi auf unentrinnbares göttliche8 Verhängniß, 
auf unverbejjerliche angeborene Berbrechernatur zurüdführen wollte, 
jo wird doch im Widerjpruch zu ihm Die Pädagogik wie Die 
Strafrechtspflege, jede um ihrer Selbjtbehauptung willen, feithalten 
müjjen, daß ein bejcheidenes Maß von Selbitzucht auch bei der 
ungünjtigiten Beanlagung mitgejeßt it und durch geeignete Be 
handlung gejtärft werden fann. Stommt es nicht zu diejen Aften 
der Selbitzucht, jondern entartet die Perſönlichkeit weiter, bis ſie 
unter die Herrichaft zuchtlojer, gewaltthätiger LXeidenjchaften oder 
in geiftige Verblendung hineingerätb, jo ift auf diefem Punkt der 
göttliche Heilswille in der Welt nicht durchgedrungen, und die un: 
beilvollen Wirkungen, welche von dem Verhalten jolcher Perſönlich— 
fetten ausgehen, find nicht von Gott gewirkt, jondern durch Wider: 
ſtand gegen Gottes Willen durchgejegt. 

Will man von der Wirfjamfeit der Inquifition, welche durch 
Ausrottung des evangeliichen Glaubens in Spanien, Italien und 
Frankreich den allmählichen Niedergang diejer Yänder verurjacht 
hat, ausjagen: Gott hat es jie geheifen? Will man die plan: 
mäßige Ausrottung der Indianer Nordamerifas durch den weißen 
Mann, die Vergiftung Chinas durch Opium, der Negerrajien durd 


Vom deutjchhen Gott. 405 


Branntwein auf Gott abjchieben mit der Folgerung: Gott hat es 
zugelafjen, darum entipricht es jeinem Willen, andernfalls hätte er 
es zu hindern vermocht? Wir Menfchen bejiten eine weitgehende 
Vollmacht, auf die Gejeße unjerer Anlage und auch des uns be— 
fannten Naturzufammenhanges eine Einwirkung auszuüben, nicht 
nur die verborgenen Anlagen des organischen und geiltigen Lebens 
zu entfalten, jondern ebenjo auch fie zu zeritören und das ung 
von Gott überwiejene Material zu verunjtalten. Gott hätte den 
Prozeß der Degeneration, welcher als Thatjache vorliegt, unter: 
drüden fönnen, dann hätte überhaupt das menschliche Leben aufs 
gehoben werden müſſen. Läßt Gott dem Prozeß der Entartung 
bis zur völligen Selbjtauflöjfung freien Lauf, jo it er nicht jchuldig 
an den dadurch gewirkten Uebeln. Sie find nicht von Anfang an 
mit der Schöpfung als nothwendig gejeßt, jondern fallen der 
menschlichen Sünde in ihren mannigfaltigen Formen und Ab: 
ſtufungen zur Laſt. 

Wird dieſe Thatſache anerfannt, jo muß die gewohnte An— 
jchauung von der durchgängigen Bolltommenheit in der Welts 
ordnung eingejchränft werden. Der Kampf ums Dajein oder der 
Kampf um die Macht ıjt eine göttliche Ordnung, er hat in der 
Welt jeinen Pla behauptet, noch ehe der Menjch in ihr erichienen 
it. Das organische Leben erbaut ſich auf dieſem Geſetz des 
Stärferen gegen das Schwache als auf feiner heilfamen, 
reinigenden, erziehenden Grundordnung und würde längjt entartet 
jein, wenn es anders wäre. Daß bei der Herrjchaft diejes Grund: 
gejeges in der Schöpfung immer höhere und feinere Organismen 
ſich gebildet haben bis zum Abjchluß der Schöpfung, dem Menjchen, 
welcher als das jchwächjte und bedürfnigreichite aller Gejchöpfe in 
die Welt getreten ift und doch durch geiftige Beanlagung die Zügel 
der Weltherrichaft in die Hand befommen bat, liefert den Beweis, 
daß der Geijt die ſtärkſte Macht in der Welt bildet und das Gejet 
der Selektion auf allen Stufen jeinem Endziel dienftbar zu machen 
gewußt hat. 

Dagegen verjtößt es gegen dies göttliche Grundgejet, wenn 
der Menjch, der Träger des Geijtes und berufene vernünftige Herr 
der Schöpfung, eine Sklave der niederen Mächte wird, um elender 
und thierijcher als jedes Thier zu jein. Wohl find Unfälle, Altern 
und endliche Auflöfung des Leibes unvermeidliche Bedingungen 
des natürlichen Lebens, wie auch der Schmerz jeine heiljame Leben 
erhaltende, vor Gefahr warnende Bedeutung im Haushalt des 


406 Vom deutſchen Gott. 


thieriſchen und des ſeeliſchen Lebens beſitzt. Damit iſt aber nicht 
das ganze Heer von Schmerzen, Seuchen, und verunglückten 
Exiſtenzen auf Gottes Weltordnung zurückzuführen. Die menſch— 
liche Sünde trägt die Schuld, wenn das geſunde Blut in Millionen 
verdorben iſt, wenn in manchen Gegenden bis fünfzig Prozent der neu— 
geborenen Kinder innerhalb des erſten Lebensjahres wieder ſterben, 
oder wenn das Durchſchnittsalter der Männer in Ständen, welche 
unter ungünſtigen ſozialen Verhältniſſen leben, bis unter das 
dreißigſte Jahr heruntergeht. Das unüberſehbare Heer der giftigen 
Krankheiten, die ſich durch Generationen hindurchziehen, ſind nicht 
Gottes urſprüngliche Schöpfung, ſie können auch wieder beſeitigt 
werden, wie ſie in die Geſchichte eingetreten find. Die Welt— 
geichichte hätte einen viel bejjeren Fortgang nehmen und Zeiten 
prächtigerer Blüthe und reicherer Ernte aufweijen können, wenn 
manche Entartungen nicht eingetreten wären. 

Solche Erörterungen flingen der Gegenwart unfromm. Es iſt 
ein Lieblingsjaß der dDurchjchnittlichen pajjiven Frömmigkeit: Man 
muß fich in Gottes unabänderlichen Willen ergeben und auch in 
jedem Leid jeinen guten und gnädigen Willen erbliden. So zu 
jprechen mag vom Standpunkt des abjterbenden Griechenthums, 
des Buddhismus und des Islam richtig und geboten fein, dem 
chrijtlichen Glauben entjpricht e8 nicht. Wird der gefammte Welt: 
(auf mit jeinen chriftlichen Berbildungen und Entartungen auf Gott 
als lette und ausreichende Urjache zurüdgeführt, jo it Gott nicht 
mehr als fittliche Perſönlichkeit vorgejtellt, jondern er iſt der Welt 
gleichgejeßt und nur als logischer Begriff, als causa prima von 
der natürlichen Welt unterjchieden. Er hat Schuld an dem lang: 
jamen Fortichritt der Zivilijation, an dem Untergang zahlreicher 
Völker, welche troß hoher Begabung für die Kultur feinen Gewinn 
gebracht und nicht einmal vor ihrem Abjterben den Frieden einer 
reinen Gotteserfenntnig gefunden haben. Seine unmittelbare 
Ordnung müßte es jein, daß die geoffenbarte Religion jowohl im 
alten Bunde wie im neuen die unbeilvolle VBerbildung in der 
Hierarchie des Judenthums wie der römischen Kirche genommen 
hat, wodurd) der Sieg des Reiches Gottes über die Erde viel 
jtärfer aufgehalten iſt als durch den Aberglauben der heidnijchen 
Volfsreligionen und die Verfolgungen der römischen Cäſaren. Bei 
diejer Annahme würde Gott wohl der allmächtige, durch feine 
ethiichen Geſetze und Nücjichten eingejchränfte griechiiche Deipot 
jein, aber nicht eine PVerfönlichkeit, welche Vertrauen und Glauben 


Vom deutſchen Gott. 407 


und Treue fordern darf, ſo wie der Deutſche ſich nicht nur ſeinen 
König, ſondern auch ſeinen Gott vorſtellt. 

Hieraus folgt zugleich, daß der Glaube an eine jeden Orga— 
nismus der natürlichen Welt liebevoll umfaſſende und ſchützende 
Vorſehung unhaltbar iſt. Ein ſolcher liegt mehr im Intereſſe eines 
gedankenloſen Optimismus als einer ihrer Verantwortung bewußten, 
wahrhaftigen Frömmigkeit. Die natürliche Theologie des vorigen 
Sahrhunderts glaubte beweijen zu fünnen, daß wir in der beiten 
aller denkbaren Welten leben; fie hat folgerichtig zu dem Satz 
von der endlichen Erlöjung und Seligfeit aller vernünftigen Wejen 
fortjchreiten müſſen und für jede jchmerzliche Ziwedwidrigfeit eine 
Necdhtfertigung Gottes gejucht, wobei es unmöglich war, Plattheiten 
und Ungereimtheiten zu vermeiden. Die Urkunden des chrijtlichen 
Glaubens wijjen nichts von einer alle Menjchen gleichmäßig ums 
fafjenden Vorſehung Gottes. Nur die allgemeinen Bedingungen 
des Lebens find für Alle mit der gleichen Umficht geordnet: Gott 
läßt jeine Sonne aufgehen über Gute und Böje und läßt regnen 
über Gerechte und Ungerechte. Eines bejonderen Schußes fünnen 
jih nur Diejenigen erfreuen, welche zu den Auserwählten Gottes 
gehören. Bei einem bejonders erjchütternden Unglüdsfall, welcher 
im Tempel während des Opferns vorgefommen war, hat Jeſus die 
Folgerung gezogen, daß der Tempel nicht mehr Gottes Offenbarungs— 
ftätte und Iſrael nicht mehr Gottes Volk je. Ev. Luc. 13. 

Die bejondere Borjehung, welche früher über Ijraei gewaltet 
hatte, wird auf Diegenigen übergehen, welche fortan das Bolt 
Gottes bilden. Die, welche durch Ehrijtus zur wahren Gottes- 
erfenntniß gebracht jind und ihre Kräfte aufrichtig in Gottes Dienjt 
jtellen, dürfen für ihr Lebenswerk auf eine bejondere Förderung 
und Bewahrung rechnen: Ihre Haare auf dem Haupte jind alle 
gezählt, über ‚ihnen wachen Gottes Engel und behüten fie auf 
allen ihren Wegen. Da ihnen jelbjt ihr leibliches Wohlbefinden 
nicht als höchites Gut gilt, jondern ihr Lebenswerk, dem jie ihre 
beiten Sträfte weihen, jo bejigen jie die Verheißung, daß ihr Werf 
gegen blinden zerjtörenden Zufall gejchügt fein, und daß auch ihr 
Leben, joweit es zur Erreichung dieſes Zieles unentbehrlich it, 
erhalten werden joll. 

Aus dem Obigen ergeben ſich die Folgerungen: Eine gleich: 
mäßige göttliche Vorjehung, welche alle Intereſſen der Menjchen 
zu fürdern geneigt wäre, ijt weder verheigen noch wahrnehmbar. 
Die natürliche Weltordnung erfordert von Menjchen ein bedeutendes 


408 Vom deutfhen Gott. 


Maß von Umſicht, Thatkraft und Selbitbeherrichung, wenn das 
Leben erhalten und verfeinert werden joll. Der Leichtjinnige und 
Träge wird erbarmungslos von den lebensfeindlichen Mächten ver: 
ichlungen. Dagegen wird jeder Chrijt, welcher in Gottes Dienit 
arbeitet und deswegen in bejonderem Maß mit Widerwärtigfeit 
zu thun hat, die Erfahrung machen, daß eine bejondere Vorjehung 
über ihm waltet, die ihn befähigt, auch gegen eine Welt von 
Hindernifjen feine perjönlichen Zwede, weil jie Gottes Zwecke find, 
durchzujegen. 

Wo ein ftarfer, an eigenen Erfahrungen ſich nährender Bor: 
jehungsglauben vorhanden tjt, beweiit er nicht, daß eine durch— 
gängige Teleologie die ganze Welt beherrjcht, er ift vielmehr ein 
individueller Erwerb diejer gläubigen Perjönlichkeit und fann nicht 
ohne Weiteres von einem beliebigen anderen Menjchenfind auf die 
eigene Perſon bezogen und verallgemeinert werden. Gottes höchites 
auf die Erziehung freier fittlicher Berjönlichfeiten gerichtetes Wert 
fann nicht jtetig und gleichmäßig feinen Fortgang nehmen, wie die 
rohe mechanische Wechjelwirfnng, es ıjt abhängig von der Empfäng- 
lichfeitt und Mitarbeit, welche es im Menjchen findet. Gottes 
jittliches Wirfen darf weder nach phyſiſchen noch logijchen Kate: 
gorien berechnet, jondern nur nach Analogie des produftiven 
menjchlichen Schaffens vorgejtellt werden. Die geijtige Wirkſamkeit 
einer Berjönlichfeit verläuft nicht jtetig und unveränderlich, vielmehr 
bedingt durch die Anregungen, welche von der Umgebung auf fie 
ausgehen. Einem Redner, Lehrer, Mujifer iſt befannt, wie durd) 
eine veritändnißvolle eifrige Zuhörerjchaft die eigene Leiſtungs— 
fähigfeit gemehrt wird. Je feineres Verſtändniß ein Menjch bei 
einem andern findet, um jo rücdhaltlojer fann er jein Herz aus 
jchütten, dadurch jeine Gedanken und Stimmungen flären, jowie 
die Kraft jeines Wollens jteigern. Eben aus derjelben unerläßlichen 
Wechjelbeziehung zwijchen Gottes Wirfen und menſchlichem Ent: 
gegenfommen erklärt jich die Thatjache, daß die Geſchichte des 
geiftig-fittlichen Lebens feine Stetigfeit aufweilt, jondern ſprunghaft 
fortjchreitet. 

Es ijt daher der Tod der ‚srömmigfeit, wenn Gott eine jtarre 
Unveränderlichkeit zugejchrieben wird. Er würde der Sphinr gleichen, 
welche mit demjelben unbeweglichen Ausdrud des Gefichts Die 
Sahrtaufende der Gejchichte am ſich vorüberziehen jieht und den 
Wünjchen und Enttäufchungen des Menjchenherzens nur Theil— 
nahmlojigfeit entgegenbringt. Er wäre nicht ein Gott, vor welchem 


Vom deutfchen Gott. 409 


ein Gebet möglich wäre, d. h. auf Erhörung rechnen dürfte. Jedes 
Gebet jet voraus, daß eine Veränderung in Gott vorgehen fann. 
Gott wartet auf Das Gebet der Seinen, um feine Hilfe nieder- 
itrömen zu lafjen, wie die Negenwolfen, welche über die Erde 
ziehen, warten, daß eine von der Erde aufjteigende Strömung fie 
aufhalte und ihre Schleujen öffne, während fie über wüſtem Gefilde 
weiterziehen müjjen, ohne das verdurjtete Land tränfen zu fünnen. 

Gottes Unveränderlichfeit — nicht in metaphyfiichem, aus dem 
Begriff des reinen Seins gewonnenen Sinn, jondern in fittlichem 
Sinn — iſt jeine Treue. Dieje aber ijt nicht unveränderlic), 
jondern wie der Magnet in dauerndem ZJujammenhang mit Eijen, 
in welches jeine Kraft übergehen fann, dieje jelbjt erhöht, jo wächſt 
auch Gotte8 Treue gegen die, welche in jeinem Dienjt treu find. 
Sn ihnen fann er um jo reichere Wirfungen ausüben, fie dürfen um 
jo zuverjichtlicher beten und ihm Erhörung jolcher Bitten abdrängen, 
an welche ein Anderer zu denken nicht wagen darf. Sie dürfen 
unter Umständen bitten, daß Gott ihnen das Schwert jeiner All 
macht, jeine Wunderfraft anvertrauen möge, deren Gebrauch für 
jelbjtjüchtige bejchränfte Menjchen unheilvoll jein würde. 

Ein Luther hat das Leben jeines todfranfen Mitſtreiters Me— 
lanchthon von Gott jtürmijch fordern dürfen, wie ein bewährter 
Mintiter bei jeinem Monarchen wohl die Kabinetsfrage jtellt, um 
eine von ihm für unentbehrlich gehaltene Maßregel durchzujegen. 
Bei der Erfranfung jeiner Tochter hat er nicht gewagt, das ihm 
perjünlich teure Leben von Gott zu fordern. 

Solche lebensvolle perjönliche Wechjelwirfung zwijchen Gott 
und Menjch ijt das Merkmal des deutichen Glaubens, der bejondern 
Offenbarung Gottes in der deutjchen Individualität. Der deutjche 
Gott hat innerliches jelbjtändiges Berjonleben gewirkt in der Fülle 
von originalen Anlagen und Charakteren, durch welche unjer Bolt 
ausgezeichnet gewejen it. Er hat gewohnt in der unendlichen Zahl 
der geijtlichen und weltlichen Liederdichter, welche alle natürlichen 
Stimmungen der Seele mit Frömmigkeit zu durchdringen und zu 
heiligen gewußt haben: Geduld und Ergebung im Leiden, todes- 
verachtenden Muth und Kampfesluſt, Troß gegen brutale, hierarchijche 
Gewalt und Berachtung aller freiheitsfeindlichen Mächte, inniges 
Naturverjtändnig und jprudelnden Uebermuth, zarte Minne und 
eheliche Liebe. Ja jelbit die das Leben erhöhenden Wirfungen des 
Weines haben die Seele von E. M. Arndt in Andacht zu Gott 
erhoben, jo daß er von dem edlen Geift des Traubenblutes rühmt : 


410 Vom deutſchen Gott. 


„Es wäre Glaube, Liebe, Hoffen und alle Herzensherrlichkeit 
Im naflen Jammer längft erfoffen, und alles Leben hieße Leid, 
Märft du nicht in der Waffersnoth des Muthes Sporn, der Sorge Tod!“ 

Und Fr. v. Hardenberg fann Sich die Seligfeit des künftigen 
Lebens nicht vorjtellen ohne die verflärende Wirfung eines neuen 
edlen Tranfes : 

„Die Sternwelt wird zerfließen zu golbnem Lebenswein ; 
Wir werden ihn genießen und lichte Sterne fein.“ 

Die Stimme des deutjchen Gottes klingt ſeit zwei Jahrhunderten 
fait ohne Pauſe aus den Tonjchöpfungen der großen Ddeutjchen 
Muſiker heraus. Nicht nur die Protejtanten Händel und Bad, 
auch der Katholif Beethoven beweijen, daß dieſer Gott auch in 
Zeiten des Niederganges und jeichter Aufklärung in dem deutjchen 
Bolfe gelebt und in den Herzen jeiner auserwählten Propheten 
Klänge von jolcher Majejtät und Stlarheit, Tiefe und Sehnjucht zu 
weden vermocht hat, daß alle Völker der Welt mit frohem Staunen 
herbeieilten, um zu laujchen und ihm die Ehre zu geben. 

Derjelbe Gott hat den deutjchen Denkern fich perjönlich offen- 
bart, jo daß fie ihn in ihren Willen aufgenommen und jeine 
majejtätijge Nähe in Ehrfurcht angebetet haben ; aber fie haben 
bisher in fremden Zungen von ihm geredet, es iſt ihnen noch nicht 
gelungen, den Gebildeten und Ungebildeten unjeres Volks Gottes 
Wejen und Wirken in anfchaulichen Bildern überwältigend vor 
Augen zu führen. Gott al$ „Ding an jich“ als „reiner Geijt“ mit 
den unperjönlichen, abjtraften PBrädifaten des reinen Seins: der 
Allgegenwart, Allwiffenheit, Allwirkſamkeit, Unveränderlichkeit hat 
als unheilvolles Erbe des griechischen Volkes Denken und Ausdruds- 
weije der idealiftiichen Philojophie beherricht, jo lange dieje lettere 
jelbjt die Herrichaft behauptet hat. 

Im legten Menjchenalter hat in Folge des Aufblühens der eraften 
Naturwiſſenſchaft eine andere Grundanjchauung von der Welt jich 
im öffentlichen Bewußtjein eingebürgert: der Materialismus. Er 
bildet die nothwendige Neaftion gegen die in der idealiſtiſchen 
Philoſophie ausgejprochene Verachtung der Materie und hat diejer 
zu der ihr gebührenden Bedeutung zu verhelfen gefucht, nicht ohne 
in der Belämpfung des reinen Geijtes die Materie zu einer ebenjo 
unbrauchbaren Abjtraftion zu machen. 

Was iſt die Materie ? Diejes große Näthjel hat man damit 
zu löjen verjucht, daß man die allergröbjte und roheite Wirfungs- 
form der Natur, die mechanijche Kaujalität, welche bei feinem den 


Vom deutſchen Gott. 411 


Sinnen wahrnehmbaren Vorgang geleugnet werden fann, als die 
einzige Wirfungsart der Materie anerkannte und aus blinder, ſinn— 
lojer mechanischer Staujalität allein den geheimnigvollen Aufbau 
aller Yebensorganismen bis zum Menjchen und auc) den aufiteigenden 
Lauf der Menjchheitsgejchichte abzuleiten, um nicht zu jagen zu er— 
flären, verſuchte. Es iſt dies diejelbe Anmaßung, welche fich in 
Spinozas tidealijtiichem Syitem offenbart, alle Vorgänge der wirf: 
lichen Welt aus den zwei geiftigen Wbjtraftionen, Denken und Aus: 
dehnung, zu fonjtruiren. Beidemal ergiebt ſich eine Welt der Ein— 
bildung, welche der Wirklichkeit nicht gerecht wird. 

Der jetige Materialismus jteht, wenn er auch theoretijch gegen 
den Glauben an Gott eifert, gleichwohl Gott näher als die jogen. 
pofitive idealijtiiche Philojophie. Er jett einen angeblid) uns 
vernünftigen Urftoff voraus, durch dejjen Bewegungen alle Dinge 
entjtanden find, und zwar ohne daß ein nach Analogie des Menjchen 
gedachter Geiſt mitgewirkt hat. Aber die der Materie innewohnende 
Unvernunft it viel weijer als der menjchliche Geijt, fie iſt von einer 
Zwedmäßigfeit bejeelt, welche das menschliche Denken noch immer 
nicht voll und ganz ergründet hat. Sie hat das Licht des Geijtes 
aus dem Menjchenleib hervorbrechen lajien und hat den Menjchen, 
das empfindlichite, Hilfsbedürftigite aller Gejchöpfe, in die Herrichafts- 
itellung über die Schöpfung erhoben. Wenn die geiftigen Heroen, 
welche durch jchöpferifche Gedanfen eine neue Zeit heraufgeführt 
haben, mit ihrem Vertrauen auf den möglichen Fortgang der Welt: 
gejchichte zu Ende waren, dann hat dieje „blinde Materie” immer 
noch neue Ziele und überrajchende Wendungen bereit gehabt. 

Diejer Materialismus it frömmer als eine idealiftiiche Philo— 
jophie, welche von dem griechischen Dualismus den Ausgang ihres 
Denfens genommen hat und darum nie dazu gefommen it, Natur 
und Gott in eins zu jchauen. 

Die von dem Materialismus gepredigte Sittenlehre nennt ſich 
Egoismus im Gegenja zu der vom griechiſchen Geijt gepredigten 
Abtödtung des individuellen Selbjt, mag dieje fich durch leibliche 
Asfeje oder durch Aufopferung der perjönlichen Affekte und eigenjten 
Initinfte im Dienſt des überweltlichen Denfens vollziehen. 
In dieſem Gegenjat bezeichnet der Egoismus eine vertiefte 
Sittlichkeit. Gilt das Denken als das die Menjchen zu Gott 
erhebende Clement, jo it für die Entfaltung der menjchlichen 
Eigenart fein Raum mehr, in der Beziehung zu Gott jind 
alle Menjchen gleich, da ſie alle diejelbe vernünftige Aus: 


412 Vom deutjhen Gott. 


jtattung des abjtraften logischen Denkens empfangen haben. Die 
jeßige chriftliche Sittenlehre ijt dadurch, daß jie aus dem griechtijchen 
Denfen herausgewachjen ijt, nicht nur mit den Ausſagen Chriſti 
in Widerjpruch gefommen, jondern auch außerordentlich langweilig 
und widerjpruchsvoll geworden. Daß die chrijtliche Religion die 
Gleichheit der Menjchen vor Gott lehre, it eine der landläufigen 
Lügen, welche nur durch die philojophijche Verbildung der chriſt— 
lichen Religion erflärlich it. Das Chriſtenthum der heiligen Schrift 
it weit davon entfernt, die Menjchen als vor Gott gleich anzu: 
jehen oder von dem unendlichen Werth einer jeden gejchaffenen 
Menjchenjeele in Gottes Augen zu reden. Es fennt eine fleine, 
verhältnigmäßig feine Schaar von Auserwählten Gottes. Wer 
jich gegen das Evangelium verjchließt, iſt und bleibt im Tode, er 
bringt es nicht zu der mit der Gottesfindjchaft bezeichneten 
Berjönlichfeitsbildung und befigt feinen Werth in Gottes Augen. 

Die chriftliche Religion will eine Scheidung unter den Menschen 
herbeiführen, die tiefer und jchärfer iſt als alle natürlichen Unter: 
ichiede. Sie fann daher auch nicht gegen alle Menjchen diejelben 
Pflichten predigen. Gegen den chrijtlichen Bruder fordert jie Yiebe, 
volle Herzensgemeinjchaft und die dazu gehörigen VBorausjegungen: 
Offenheit und Vertrauen; gegen „Jedermann“ iſt nur ein ehrerbietiges 
Verhalten, unter Umjtänden hilfreiche Barmherzigkeit gefordert. 
(1. Betr. 2,17.) Wenn von der Feindesliebe die Rede iſt, wie in 
dem befannten Spruch: Liebet eure Feinde u. j. w., jo ijt damit 
nicht ein allgemeines jtetiges Verhalten gegen Jedermann be: 
zeichnet, jo wenig wie mit den Borjchriften: So dir Jemand 
einen Streich giebt auf den rechten Baden u. j. w.; Diele 
Mahnungen wollen für die Fälle, in denen ein Chriſt unter 
der Bosheit eines ihm perſönilch mißgefinnten Gegners leidet, 
ein Mittel und zwar das allerfräftigite angeben, um feurige 
Kohlen auf das Haupt des Feindes zu jammeln und jein SDerz 
zu überwinden. 

Die ganze Sittenlehre des biblischen Chriſtenthums fann ın 
dem Schema des Egoismus dargejtellt werden: Laß dein Ic, 
deine Perjönlichfeit zur möglichiten Entfaltung fommen nach dem 
Bilde des vollfommenen gottähnlichen Menjchen Jeſus Chriitus. 
Paulus it jo wenig ein Gleichheitsapoftel, daß er die Chriſten 
in Korinth) ermahnt, alle Kräfte anzufpannen, um Andere zu 
iibertreffen und vor ihnen mit bejonderer Würde befleidet zu 
werden, wie es den Siegern bei den Iſthmiſchen Spielen zu Tbeil 


Vom deutfhen Gott. 415 


wurde. Ebenjo haben wir ein Wort Chrijti, welches als jelbit- 
veritändlich vorausjegt, daß es auch im ewigen Leben Unterjchiede 
des Ranges und Ehrenpläße zu jeiner Rechten und Linken geben 
wird. Dieje zu erlangen, hängt aber nicht allein ab von dem 
Map des Eifer und der geijtigen Kraft, die Jemand im Dienit 
Gottes aufwendet, jondern wejentlich von der geijtleibluhen Aus— 
ftattung, die er von Gott empfangen hat. (Matth. 20, 23.) 

Es iſt ein jeltfames Verhängniß, daß dieje biblijchen Gedanfen- 
reihen über den Kampf um die Nusleje nicht durch die Predigt der 
Ktirche, jondern erjt durch Vermittlung der materialiftiichen Natur: 
wifjenjchaft unjerm Bolf befannt geworden find und noch immer 
vom Bewußtjein der Kirche als unchriftlich geächtet werden. Als 
Ausdrud der chriftlichen Sittenlehre findet man fajt durchweg bis- 
ber eine Anjchauung, welche eine fräftige Entfaltung der In— 
dividualität für gefährlich) anjieht. Demüthige Ergebung in die 
Verhältnifje, Zufriedenheit auch mit unmwürdiger Lage, ein gleich: 
mäßig auf alle Mitmenjchen vertheiltes Wohlwollen, Bedürfnik- 
lojigfeit für die eigene Perſon, eine gleichförmige Gemüthsrube, 
welche fich von Höhepunften und Tiefpunften der Stimmung, von 
kräftiger Liebe und fräftigem Haß möglichjt weit entfernt hält, find 
ungefähr die Grundzüge in dieſem Sittlichfeitsideal, welches viel: 
mehr den Lebensinterejjen eines Diogenes als eines chritlichen 
Apojtels entipricht. 

Im injtinktiven Gegenjat dazu verlangt der Protejtantismus 
der Gegenwart nach Entfaltung der Individualität des Einzelnen, 
nach Behauptung der Standesinterejjen, Sicherung der materiellen 
Lage, Erhöhung des Einfommens, um an den Gütern des Lebens 
in höherem Grade Antheil zu gewinnen und größere Macht aus: 
üben zu fünnen. Nicht nur der Gelehrte ſieht jeine Wiſſenſchaft als 
Mittel an, das ihm zur Macht verhelfen joll, auch die evangelijchen 
Pfarrer treten mit gutem Gewiljen zu Verbänden zujammen, um 
ihre Standesinterefjen zu jchügen und ihre materielle Yage zu ver: 
bejjern. Mag dieje Erjcheinung von Vielen als Zeichen des Nieder: 
gangs von der früheren Höhenlage des Idealismus verdächtigt 
werden, jo fann jie mit demjelben Necht auch als die Bor: 
bedingung einer fraftvolleren, glaubensfroheren Sittlichfeit ge— 
deutet werden. Der deutjche Gott erjcheint aufs Neue auf dem 
Kampfplatz, um fein Volk aus dem geiltigen Dienjthauje zu führen 
und von dem fremden Geſetz eines vergangenen, abgejtorbenen 
Zeitalters zu befreien. 


414 Vom deutfhen Gott. 


Mögen auch zur Zeit gewaltige führende Geijter fehlen, jo tt 
doch der Blid der großen Mafjen nicht mehr rüdwärts, jondern 
vorwärts gerichtet. In den breiten Schichten unjeres Volks it 
eine Thatkraft erwacht, wie fie bisher nur bei unjeren angel» 
ſächſiſchen Stammesbrüdern befannt war. Die weibliche Jugend 
fühlt in fich Kraft und Freudigkeit, ſich neue Arbeitsgebiete zu er- 
jchliegen und jcheut nicht zurüd, auch den Konkurrenzkampf mit 
den Männern aufzunehmen. Die Knaben, welche früher nur ihre 
Phantafie mit Lederjtrumpfs und Robinjons Abenteuern genährt 
haben, während jie dabei von ängjtlicher Scheu bejeelt blieben, aus 
den gewohnten, ficheren, heimathlichen Berhältnijjen herauszutreten, 
haben begonnen, ihre Thatkraft zu üben, um ihre perjönliche 
Leiltungsfähigfeit zu erhöhen. Mag aud) der Eifer für das Sport- 
wejen jich noch nicht aus der Periode jeiner Kinderkrankheiten 
herausgearbeitet haben, jo hat er doch einen frijchen, hoffnungs— 
rohen Geiſt bei der Jugend geweckt, der geeignet it, Die geijtige 
Sticluft des Rauchens, Biertrinfens und Startenjpielens, die in 
den früheren Jahrzehnten die Atmojphäre der deutjchen Jünglinge 
und Männer während ihrer Erholungszeiten bildete, zu vertreiben 
und die Brujt tiefer aufathmen zu laſſen. Endlid hat den 
Arbeiteritand ein heißes Verlangen nach allgemeiner Bildung und 
itraffer Selbjtorganijation ergriffen, und er giebt troß bedauerlicher 
Ausschreitungen Proben einer fittlichen Kraft, welche die oberen 
Stände theils mit Bewunderung, theils mit eiferfüchtiger Sorge erfüllt. 

Das neuerwachte, auf zukünftige Ziele gerichtet, jeiner Kraft 
frohe Streben hat zunächjt nichts mit chrijtlicher Frömmigkeit zu 
thun, es fühlt jich injtinktiv im Gegenjag zu einer Kirche, welche 
die alte gute Zeit rühmt, gern in der Sprache der Vergangenheit 
redet und Beugung unter die Erfenntnigformeln und Symbole 
vergangener Jahrhunderte vorschreibt. Die neue zum Licht der 
Welt erwachte Ihatkraft weiß noch nicht, daß. alle neuen geijtigen 
Lebensfeime von Gott gepflanzt werden, und daß jie jich nur 
dann fruchtbar und jchön entfalten fünnen, wenn ihre Art, Her— 
funft und Beltimmung vom Bewußtjein richtig erfaßt werden. 
Bisher ijt meiſtens nur, wenn es ſich um Entjagen, Selbjtüber: 
winden, Kampf gegen die Natur handelte, von Gott und Gottes 
Gebot die Nede gewejen; dazu muß die Ergänzung gefügt werden: 
Auch die jchaffenden, erneuernden, begeijternden Lebensfräfte in 
uns jind Gottes Werk, in ihnen joll Gottes Nähe ebenjo empfunden 
werden wie in Heimfuchungen des Leidens. Dann wird das Wort 


Bom deutfhen Gott. 415 


Gottes nicht als läftiger Zwang, jondern als frohe Botjchaft ver- 
fündigt wie einjt in der Fülle der Zeit. 

Wenn gegenwärtig ernite Stlagen laut werden, daß unter den 
Deutjchen feine führenden Geijter von weltumfajjender Bedeutung 
zu finden jeien, und daß auf dem Gebiet der Künſte und Wiſſen— 
ichaften die Deutjchen im Niedergang begriffen jeten und hinter 
andern Nationen zurüdtreten, jo mögen die Thatjachen zugegeben 
werden, aber jie rechtfertigen nicht das tiefe Verzagen, aus dem 
die Klagen entjpringen. Der deutjche Geiſt hat alle feine Kräfte 
anzujpannen, um in wirthichaftlicher Betriebjamfeit, in fühner 
Unternehmungsluft, in organifjatorischer Selbitzucht den angel» 
jächjischen Vettern nachzufommen; ihm fehlt jet das gejättigte 
Behagen und der abgejchlofjene Horizont, welche zu künſtleriſchen 
und wijjenjchaftlichen Leitungen erften Ranges unentbehrlich find. 

Die deutjche Kultur und zwar ebenjo auf protejtantischem wie 
auf katholiſchem Boden bedarf einer neuen tieferen, unmittelbareren 
Sotteserfenntnig. Sie braucht Propheten, welche den Ddeutjchen 
Stämmen und Ständen zurufen: 

Siehe da ift euer Gott! Er ift euch nahe, er iſt zu euch ge— 
fommen in dem Ringen um die politische Verfafjung, in den blutigen 
Kämpfen um die Einigung Deutjchlands, in dem fühnen Unter: 
nehmungsgeift, welcher die deutſche Flagge über das Weltmeer 
geführt hat, in dem milden, hochherzigen und doc) fraftbewußten 
Geiſt, dem die Sozialpolitif entjtrömt ift, und auch in dem rück— 
ſichtsloſen Streben nach Erweiterung der politischen Nechte, welches 
die Arbeiter und Subalternbeamten durchdringt. Gott jelbjt ijt in 
dieſem Sturmwind braujender Antriebe und gährender Gedanfen 
zu jeinem deutjchen Volk herniedergefahren, um es aus der Stid- 
luft der Niederung auf eine Höhe zu führen und ihm einen freieren 
Ausblid in das neue Jahrhundert zu gewähren. „Gott iſt es, der 
in euch wirfet beides, das Wollen und das VBollbringen nad) jeinem 
MWohlgefallen, darum jchaffet euer Heil mit Furcht und Zittern“, 
jo hat Paulus einjt den Chriſten in Philippi die Beichen der 
jtürmijchen Zeit gedeutet. 

Wir warten auf die Propheten, welche den einzelnen Ständen 
und Gruppen unjeres Volks, joweit die deutjche Zunge Elingt, in 
verständlichen, ungelehrten Lauten zurufen werden: Siehe da tt 
euer Gott! 

Sie werden nicht Streitfragen über die Vergangenheit hervor: 
ziehen, ſondern die Zufunft deuten und mit Luft und Liebe die 


416 Bom deutfhen Gott. 


Gegenwart verjtehen lernen; jie werden Gott nicht durch Ueber: 
lieferung in ſich aufnehmen und durch Verſtandesſchlüſſe fich feiner 
vergewijjern, jondern jie werden feine Herrlichkeit mit Augen fchauen 
und jein Wort mit ihren Ohren vernehmen und jeine Kraft in 
ihrem Willen jpüren. Und dann wird auch an uns Deutjchen die 
Berheigung erfüllt werden: Sie jollen mein Volk fein, jo will ich 
ihr Gott jein! 


Sigmaringen. 


Die Lage in Indien und ran. 


Bon 
Albreht Wirth. 


Die Ereignijje in Transvaal haben jchon zur Zeit des Jameſon— 
Einfalles eine ungeahnte Rüdwirfung auf die politische Lage der 
ganzen Welt ausgeübt: Gegenjat der Deutjchen und Briten; An: 
näherung zwijchen Berlin, Paris und Lijjabon; Sinfen des englifchen 
Preitiges in Süd» und Dftaften; Sympathiefundgebungen zwijchen 
Deutjchen, Vlamingen, Buren und Deutjch-Amerifanern; endlich . 
Beichleunigung der aujtralifchen Bundesbewegung und der Imperial 
Federation in allen britijchen Kolonien. Die Wucht der jebigen 
jüdafrifanischen Ereignifje wird noch viel allgemeiner und viel 
jtärfer in der Weltpolitif empfunden werden. Bereits drängt Die 
england=feindliche Strömung der um ihre aujtralajiatiichen und 
füdamerifanischen Kolonien bejorgten Niederlande zum Zollanjchluß 
an das Deutjche Reich und die burenfreundliche Schweiz denkt an 
ein gleiche8® Vorgehen. Ebenjo haben Frankreich und Rußland 
ſchon längjt für die Buren Stellung genommen. Die Vereinigten 
Staaten jind mit ihrer Meinung und ihrem Beifall noch getheilt, 
aber es läßt fich mit Sicherheit erwarten, daß die Iro-Amerikaner 
für Krüger Partei ergreifen und jo den Riß in dem  britijch- 
amerifanijchen Einverjtändnig, den das Scheitern der fanadijchen 
Grenzfommijjion und die Platform derer um Bryan und Crofer 
hervorrief, noch beträchtlich erweitern werden. Für Indien vollends 
wird der Ausgang der Dinge in Südafrika von entjcheidender 
Bedeutung jein; da aber Berfien und Afghanijtan eng mit Indiens Ge— 

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 27 


418 Die Lage in Indien und Sran. 


ichiden verknüpft find, auch für Iran. Die Erhebung der Zulu unter 
Kekwayo wurde von hervorragenden englischen Offizieren unmittelbar 
auf die Verlegenheiten, die damals General Roberts in Kabul 
hatte, zurücdgeführt: ähnlich wird der Donnerhall des jegt in Süd— 
afrifa ſich abjpielenden Dramas unzweifelhaft in Sübdafien jein 
itarfes Echo finden. 

Es wird jich empfehlen, zunächit die Beziehungen Indiens zu 
Südafrifa im Lichte der jüngjten Gejchehnifje darzuftellen und dann 
auf die gegenwärtige Gejammtlage in Iran und Indien einzugehen. 

Wie Japan und China im reger Wechjelwirfung mit der 
amerifanijchen Gegenküſte des Stillen Meeres jtehen, jo zwar, daß 
viele Zehntauſende der gelben Raſſe von Aſien nach Amerika, 
aber nur wenige Hunderte von Weißen den umgefehrten Weg 
gewandert jind; jo hat auch die Bevölferung der jüdajiatijchen 
Küjten ſtets rege Verbindung mit der Gegenküſte des Indiſchen 
Ozeans im Schwarzen Erdtheil gepflegt, mächtige Auswanderungs- 
tluthen nad) Afrifa werfend, aber jo gut wie feine Einwanderung 
von dort empfangend. Indiſche Kaufleute bejuchten in der erſten 
Zeit des Chriftentyums Abeſſynien, Somaliland, Sanfibar und 
wahrjcheinlich auch jchon die Sofala und Madagaskar. Mastats 
Smane errichteten im Anfang des achten Jahrhunderts mit Hilfe 
belutjchijcher Söldner die Sultanate von Sanfibar und Kilwa und 
brachten, die Ophirfahrten Salomos wieder aufnehmend, Gold von 
Zimbabwe und der Sofala nach Indien, jowie jchwarze Sklaven 
bis nach Kanton und Futſchau. Malayifche Stämme aus Inſel— 
ajien eroberten im zehnten Jahrhundert*) den Often Madagastars. 
Wenig jpäter jegten jich Araber im Norden der großen Inſel feit, 
die fie el Komo oder Mondinjel benannten. Marko Polo weiß 
vom regjten Verkehr zwijchen Südindien und Sanfibar zu be 
richten. Da Gama findet in der Gegend von Quilimane gold: 
beladene Dhaus, die nach Indien jegeln. So jehr war Oſtafrika 
in Staatsleben, Handel und Kultur von Südafien abhängig, daß 
es überhaupt gar feine andere Außenwelt fannte. Auch die An: 
funft der Europäer änderte an dieſem Zujtand zunächit nur jehr 
wenig. Für Portugiejfen wie Holländer waren ihre jüd- und oft: 
afrifanischen Beſitzungen faſt ausschließlich Stationen der Indien: 
fahrt, jet's zur Verproviantirung, ſei's als jtrategifche Puntte, um 


*) Das (bisher völlig unbelannte) Datum erfhliche ih aus einer Stelle 
des „Buches der Wunder,” einer arabifhen Sammlung von Schiffer 
geihichten aus dem 10. Jahrh. 


Die Lage in Indien und Iran. 419 


das Indische Meer zu beherrichen. Das holländische Kap und 
Mauritius wurden demgemäß von Batavia, und das portugiefijche 
Mojambik bis in die Mitte unjeres Jahrhundert® von Goa aus 
regiert. In Folge jolcher Verbindung famen muhammedanijche 
Malayen nad) Kapitadt — ihre Zahl wird jetzt auf 15000 an- 
gegeben — und Schaaren von Goanejen nach Moſambik. Mit 
der englischen Flagge änderte ich die Lage. Europäiſche Ein» 
wirfungen gewannen die Ueberhand. Allein die Hauptbedeutung 
des Kaps wurde immer noch darin gejehen, daß es für den Wer: 
fehr nach Aſien unentbehrlich war, jowohl vor wie nach der Er- 
öffnung des Suezfanals, jowohl für Handel wie für Krieg. In 
der That erwies fich die Beſetzung Südafrikas als ausjchlaggebend, 
als 1357 die Meuteret in Indien ausbrach; es wird behauptet, 
daß Sir George Grey, der eigenmächtig, unter bedenflichjter Ver— 
antwortlichfeitt die abgelöjte Bejatung jtatt heim-, nach Kalkutta 
ſchickte, das indische Neich jeinem Wolfe erhalten habe. Umgekehrt 
wurden jehr häufig indifche Truppen für die Dämpfung jüdafrifa- 
nischer Aufitände und Unruhen verwandt. Gewöhnlich wurden 
auch die Statthalter am Kap aus Männern genommen, die 
in Indien hervorragende Poſten befleidet. Im Gefolge der 
europätjchen Kolonijation ftrömten jodann die indifchen Krämer 
und Kaufleute noch zahlreicher nach Oſt- und Südafrika; deren 
Kleinhandel von Makdiichu*) im Norden bis nach Durban it zu 
Zweidrittel in ihren Händen. Indische Kulis aber gingen in 
Schaaren nad) Mombaja, die Bahn nad) Uganda zu bauen, und auf 
die Pflanzungen von Ujambara und Sciresland (zwiſchen Nyaſſa 
und Sambeji) und nach Natal, das ein wahres Waradies für 
jie geworden iſt, injofern nad) Ablauf ihres Stontraftes, 
der meilt auf fünf Jahre läuft, die Kulis unter jehr günjtigen 
Bedingungen ich anjiedeln fünnen. Ihre Zahl in Natal iſt raſch 
im Wachjen und fann auf 90000 gejchäßt werden.**) Dieje weit: 
liche Erpanjion der Inder tt von Wichtigfeit, denn Regierungen 
wechjeln, aber die Mafje des Volkes bleibt und fie ift es jchließlich, 
die dem Lande jeinen Charakter verleiht. Auch it diefe indiſche 
Maſſe nicht leb- und hilflos, denn jie bejteht nicht lediglich aus 
Sudras und Banyanen, jondern hat Männer der höchiten Kaſten 
in ihrer Mitte, die regen geiltigen Austaufch mit der Heimath 


*) Bon einem deutfhen Schriftiteller jüngft phantaftiih auf 1 Mill. an— 


gegeben. 
*") An der Somali-Küjte. 


420 Die Lage in Indien nnd Fran. 


unterhalten und die über alle weltbewegenden ragen wohl unter: 
richtet find. Diele diejer Hindusflaufleute haben jogar in den 
Augen der Buren Gnade gefunden, die ja jonjt auf „Kleurlinge“ 
ichlecht zu jprechen find. Merfwürdig it, daß gelegentlich Aighanen 
jich den auswandernden Hindu anjchliegen, freilich nur, um, jobald 
fie etwas Geld verdient, in die ferne Heimath zurüdzufehren. 
Nach den Erwerb juchenden Zandsleuten, den Kaufleuten, Haufirern, 
Handwerkern und Pflanzungsarbeitern fommen als flüchtige Gäjte 
indifche Soldaten nad) Afrifa, zumeist Sikhs aus dem Pendichab. 
Sie wurden zuerjt von Mac Donald in Uganda, dann in den Kämpfen 
gegen die Sflavenjäger am Schire verwandt; jpäter am Nil und 
als Bolizeitruppe in Matabeleland. Für diefe auswärtigen Wirr: 
niffe, an denen es vollfommen unjchuldig it, muß Indien 
mitzahlen, indem die Unterhaltung der indiſchen Regimenter der 
indischen Staatsfafje aufgebürdet wird. Im Krieg gegen die Buren 
jollen jedoch Feine farbigen, jondern bloß anglo:indische Truppen 
verwendet werden, angeblich) um nicht Eingeborene daran zu ge 
wöhnen, gegen Weiße zu fechten — ein Grundjag, den England 
oft genug verlegt hat, denn am Ohio hat es Nothhäute gegen die 
Franzoſen geführt, am Ganges Sepoys gegen Holländer, Deutjche 
(Oſtende-Kompagnie) und Franzoſen benußt, am Oranje die Bajuto 
den. Buren entgegengeworfen. Auch rechnet man jtarf auf die 
Sikhs und Gurkhas gegen die Ruſſen. Der Grund ijt vielleicht, 
daß man feine Zeugen etwaiger Niederlagen haben will. 

Bon anglosindijchen Truppen jollen im Ganzen 17 000 nad) 
Durban verjchifft werden. Die Mobilijation derjelben und ihr 
Transport ijt, joweit ausgeführt — zur Zeit, daß ich jchreibe, 
7000 Mann — viel glatter und jchneller von Statten gegangen, 
al8 dies die Militärbehörden in England jelber fertig brachten. 
Durch fortgejegte Grenzfriege hat die Bereitjchaft der engliſchen 
Ktolonialarmee einen viel höheren Grad erreicht, als das Heer der 
Heimath; jo waren die Provinzialarmeen eines Vespafian und 
Severus jtet8 den Truppen der Hauptjtadt überlegen. Nur im 
Sanitätswejen hat fich ein jchwerer Mangel gezeigt, da die Zahl 
der anglosindijchen Nerzte unter das Minimum gejunfen, jchon vor 
zwanzig Iahren für gefährlich gering erklärt wurde, und außerdem 
durch die Peſt noch bejonders in Anjprud) genommen tt. Auch erlitt 
die Verſchiffung der Neiterei Aufjchub, da im Hafen in Karatſchi 
eine Krankheit unter den Pferden ausbrach, die man jedoch der 
Dberleitung jchwerlich zur Laſt legen fann. 


Die Lage in Indien und Iran. 421 


Die Entfernung von 22 Prozent der weißen Truppen aus 
Indien bedeutet einen militärischen Schritt von großer Tragweite. 
Zu dem Zulufrieg waren mehrere anglosindiiche Negimenter ab- 
gegangen und noch früher hatte Beaconsfield, ald Demonitration 
- gegen Rußland bei den Präliminarien von ©. Stefano, 7000 Sepoys 
nach Malta gejchidt; niemals aber fam es zu einer Truppenverjchtebung 
von der Ausdehnung wie gegenwärtig. Die Frage entiteht, ob 
dadurch nicht die Bertheidigung des Indiichen Reiches gegen 
innere Feinde und gegen Rußland wejentlich erjchwert wird. Offen— 
bar fühlen ſich die Engländer jehr ficher. Sie befürchten feine 
Aufitände und willen fich im Befit einer „wiſſenſchaftlichen“ Grenze 
gegen Nordweiten. Iſt das Sicherheitsgefühl gerechtfertigt? Die 
stage fann vermuthlic) bloß praftijch entjchieden werden, denn 
jehr bedeutende militärische Autoritäten haben erklärt, daß es Wahn— 
jinn jei, an einen ruſſiſchen Angrıff auch nur im Traume zu denken, 
und ebenjo bedeutende Männer haben jich dahin geäußert, daß 
nicht8 Elarer, als daß ein jolcher Angriff erntlich beabjichtigt und 
unabläflig vorbereitet werde. Je nachdem die eine oder die andere 
Partei in England überwog, iſt man an der Nordweitgrenze vor: 
oder zurüdgegangen und hat man die indijche Armee vermindert 
— 1885 bloß 57000 Weiße — oder vermehrt. Die Whigs er: 
achteten das Vorrüden für eine unnöthige Geldvergeudung und 
eine gefährliche Herausforderung, die Tories waren meijt für eine 
itarfe Bolitif. Im Allgemeinen war die Mehrzahl der Stimmen 
für weije Selbjtbejchränfung; jelbjt Tory-Redner und »Schriftiteller 
wiejen darauf hin, da man durch unaufhörliches Weiterdrängen 
lediglich jichere Stügpunfte verlajje und ſich unnöthig exrponire. 
Trotzdem iſt, wie einem verborgenen Gejeß der Schwere folgend 
oder wie fortjchreitende Meereswellen, die Grenze, nach furzen 
Schwanfungen und Rückſchlägen, im Wejentlichen immer weiter, 
vorgerüdt. Afghaniſtan und Südwejtperjien wurden freilich wieder 
aufgegeben, aber Kandahar und Schulter waren eben jowenig wirf- 
liche englifche Grenzen, wie Amten® und Orleans vor einem 
Menjchenalter deutjche.. Man konnte fich einfach in Afghaniitan 
nicht halten, weil „eine große Armee dort verhungert, eine fleine 
von den Bewohnern aufgerieben wird“. Dafür wurden 1893 
Hunza und Nagar, 1895 Tichitral, 1897 Swat, im Norden und 
Nordweiten von Kaſchmir angegliedert, 1898 wurde Tira gewonnen, 
1899 Stelat amtlich) dem britischen Beludjchiitan einverleibt und 
eine neue Karawanenjtraße von Quetta, dem jtärfiten und vor: 


422 Die Lage in Indien und Iran. 


gejchobenjten englijchen Waffenplag im Wejten, über Nuktſchi nad) 
Mejched eröffnet. Acht Jahre früher war Quetta durch den be- 
rüchtigten Bolanpaß mit der Feſtung Jafobabad und in Folge dejien 
mit dem Indusgebiet mitteljt Eijenbahn verbunden worden. Auch 
wurde eine jtrategiiche Bahn wejtlich vom Indus zwiſchen 
Safofabad und Peſchawar begonnen und ijt zur Hälfte fertig. 
Diejem, wie es nach englischen Zeugnifjen jcheinen jollte, durchaus 
widerwillig unternommenen Erweitern der eigenen Grenze jteht 
bloß ein höchſt geringes VBordrängen der Ruſſen gegenüber. That: 
jächliche Gebietsausdehnung iſt jeit fieben Jahren im Grunde gar 
feine zu verzeichnen, mit Ausnahme etwa einiger unbeträchtlicher 
Bojten auf dem Pamir, nur eine große wirthichaftliche und 
militärische Erjtarfung in dem bereits Gemwonnenen: die Bahn 
bis Tajchfend und Andiſchan fortgejett, der Handel immer mächtiger 
in DOjtturfeitan unter Verdrängung der englijchen Waaren, 
Expeditionen nach dem Pamir und Ihian-Schan. 

Paul Rohrbach hat in dieſen Jahrbüchern den ruſſiſchen 
Standpunft dargelegt und von den Offizieren in Turkeſtan be- 
richtet, daß jie nicht davor zurüdjchreden würden, jelbjt im Winter 
den Hindufujch zu überjchreiten. Die engliſche Auffafiung hält 
blog Sommerfeldzüge für möglich, wie denn jelbjt nicht einmal 
eine Handelsfarawane nach Mitte Oftober Kajchmir verläßt, und 
man glaubt, dat, wenn je rufjiiche Truppen Srinagar oder Peſchäwar 
erreichten, fie dies nur als Gefangene thun fünnten. Ueber den 
Hindukuſch führen zwanzig Päſſe, allein ſämmtlich jind jie äußerſt 
ſchwierig und die wichtigjten dazu noch durch britijche Forts ver: 
jperrt; meiſt jind fie von reißenden, bis einhundertundzwanzig 
Meter breiten Flüſſen und Gebirgstobeln durchjtrömt, die fünf 
und zehn Mal die Straße kreuzen, nirgends aber überbrüdt find. 
‚ Die Furthen werden in der Regel von mehr oder weniger großen 
Stantonnements beherricht. Häufig it der Weg bloß ein ab- 
ichüffiger Stletterpfad, auf dem eine Abtheilung bloß im Gänje- 
marjch vorgehen fann; von Kanonen feine Rede. Mitunter üt 
auf jieben bis zehn Tagereifen, wie vom Wularjee bis Gilgit, Die 
Gegend jo nadt und fahl, daß jelbit das Gras für die Maulejel 
mitgeichleppt werden muß. Heike Fieberſchluchten wechjeln mit 
Ichneejturmdurchtobten Hochjochen. Kommen aber wirklich einige 
taujend Mann nach Kajchmirs lachender Ebene, jo war längit 
Zeit, dorthin die dreifache Zahl indischer Soldaten zu werfen. 
Der Weg nad Kaſchmir iſt noch der fürzejte, trotzdem wird ein 


Die Lage in Indien und Iran. 423 


Heer von mindejtens dreigigtaujend Mann zwei Sommer dazu 
brauchen. Biel länger ijt der über Afghaniſtan, das zudem erjt 
noch zu unterwerfen iſt; an achthundert SKtilometer durch den 
Khaiberpaß und taujend Stilometer über Kandahar. Ueber die 
Suleimanberge, die Afghanijtan von Sindh und dem Pendſchab 
trennen, führen nicht weniger als fünfzig Bälle, aber nur drei bis 
vier jind brauchbar und auc) die nur wenige Monate: wenn es im 
Weiten diejer Päſſe jchon zu jchneien beginnt, ijt der Oſten noch 
eine fieberbrütende Einöde, unpajlirbar wegen Ueberſchwemmung 
und Hitze. Der Indus aber it tief und reißend und durch 
Banzerflußdampfer gejchügt, während die Brüde bei Suffur durd) 
die jtarfen Pläte Jafobabad und Multan, wohin man leicht in 
zehn Tagen vierzigtaujend Mann von Süden, Ojten und Norden 
werfen fann, und durch befondere Brücdenfort® ausreichend gededt 
it. Selbit wenn eine Bahn von Buchora bis Kabul gebaut iſt, 
jo vermindert das nicht die Schwierigfeiten, denn eine Armee von 
fünfzigtaufend Mann würde, vorausgejegt, dat Alles ganz glatt 
geht, wenigſtens einhundertundzwanzig Tage zum Transport 
brauchen. Im Südwejten ijt vollends die einzige Feſtung Quetta 
ausreichend, jede Invaſion zu vereiteln. 

Gejchichtsfundige Leute haben nicht verfehlt, darauf hinzu— 
weifen, daß thatjächlich Indien hundert Mal vom Wejten und 
Nordweiten angegriffen worden iſt. Vielleicht jchon von Den 
Skythen, auf die man die Takhs von Tarila und einige Rajput— 
jtämme zurüdleitet, dann von Darius, Alerander und Seleufus; 
jpäter von den Juntjcht, den Parthern, den Saſſaniden; nach 
den erjten Werjuchen der abbajidischen Araber in Sindh und 
Kajchmir die jechzehn Einfälle Mahmuds des Ghasnaviden, 
darauf die Goriden, die Mongolen Dichingisthans, die Tataren 
Timurs, jelbft die Chinejen über Tibet; in neuerer Zeit Nadir 
Schahb der Perjer und verjchiedene Herrſcher der Afghanen. 
Dieſer gewaltigen hiſtoriſchen Reihe jtellen aber die Engländer 
mit Necht entgegen, daß alle jene Eroberer mit einem Saufen 
uneiniger Bölfer und Stämme, niemals wie jegt mit einem großen 
einheitlichen Staate zu thun hatten, daß unjere Schußwaffe die 
ganze Ktriegstechnif von Grund aus verändert, daß damals weder 
Eifenbahnen noch Telegraphen noch gepanzerte Flußdampfer be— 
itanden. Es fann ohne Weiteres zugeltanden werden, daß Die 
englifche Grenzitellung in Indien thatjächlich ungemein ſtark iſt, 
und daß namentlich das Netz jtrategiicher Bahnen faum etwas zu 


424 Die Lage in Indien und Iran. 


wünjchen läßt. Dagegen leidet die englische Auffafiung an dem 
unverbejjerlichen Fehler, daß fie den Gegner ganz und gar nad 
der eigenen Schwäche beurtheilt. Der englifche Soldat ijt jehr 
verwöhnt, er jcheut den Winter und die Alpen, er fann nicht 
jo leicht brüdenloje Flüſſe pajfiren. Der Koſak fühlt ſich im 
Schnee höchſt wohl und hat e3 gelernt, durch eine kunſtreiche Vers 
fnüpfung jeiner Yanzen und der leeren Kochtöpfe gute Flöße her: 
zujtellen. Vor Allem aber bedarf der englijche Soldat eines un- 
verhältnigmäßigen Gepädes, bedarf der Offizier feiner Zigarren, 
jeiner Badewannen, jeiner Wein: und Whiskyflaſchen. Auf zehn: 
taujend Mann fommen zwölftaufend Troßfnechte und fünfzig- 
taujend Kameele. Auf jolcher Grundlage fußend berechnete nod 
jüngiteng eine englijche Autorität, Oberjt Hanna, daß eine rujfische 
Invaſion mindeſtens Ddreihundertfünfzigtaufend Kameele haben 
müjje. Nun jei aber in dem fahlen Afghaniitan ſelbſt für die 
genügjamen SKameele fein Futter, daher — ſechs Pfund Gerite 
für den Tag, gering gejchäßt, für jedes Thier — wiederum eine 
Million und jechzigtaujend Kameele für Gerjte nöthig jeien; ein 
Gerſte tragendes Thier fünne indeß ebenjo wenig von der Luft 
leben wie eines, das Zelte trägt, aljo weiter drei Millionen 
Kameele und mit Grazie ins Unendliche. Dabei nimmt der Oberit 
jtet3 einen Mearjchtag, ebenfalls nach engliſchem Mufter, von 
zwanzig Stilometer an. Derartige Sindereien werden vom eng- 
liſchen Publikum und nicht minder von militärischen Fachmännern 
durchaus ernjt genommen; aber wie, wenn die Koſaken gar feiner 
Kameele bedürften? wenn jie alles Nöthige im Manteljadf mit jid 
führten? wenn endlich ein Turfmenenroß zehn Tage lang je ein 
bundertundjechzig Kilometer zurüdlegen fann und jelbjt jein 
‚Sutter (KKlöße aus Schafsfett) aus einem vorgebundenen Beutel 
im Traben zu ſich nimmt? Das giebt der Invaſion Indiens 
ein verzweifelt anderes Geficht. Dazu haben die Engländer die 
GSefälligkeitt gehabt, gerade die unzugänglichiten Alpenpäſſe und 
die jchlimmjten Wüſten durch gute Straßen und Eifenbahnen zu 
einem großen Theil gangbar zu machen. Jede Meile, die jie 
den Ruſſen entgegengehen, macht es für ihre Feinde leichter. 
Nach vielem Tajten und fruchtlofem Mühen, vielen Siegen 
und Niederlagen und unentjchiedenen Gefechten haben die Engländer 
bejchlofjen, Afghaniſtan in Ruhe zu lajjen und als Pufferftaat zu ver- 
werthen. Dafür haben jie mit Erfolg jich bejtrebt, im Süden von 
Afghaniſtan eine Einflußiphäre zu jchaffen und ihre indische Grenze 


Die Lage in Indien und Jran. 425 


bi8 nad) Perfien auszudehnen. Die Ausdehnung der Bahn von 
Quetta bi8 Nuſchki ward jchon vor zwanzig Jahren empfohlen; 
Zweige diefer Bahn jollten, jo meinte jpäter Sir Charles Dilfe, 
nah Seiſtan (zwijchen Khorafjan, Afghaniſtan und Belutjchijtan) 
und nach dem perjiichen Meerbujen gelegt werden. Seiſtan jelbit 
wurde 1873 durch britiiche Vermittlung — Sir Charles Gold: 
jmith, Leiter der perjiichen Telegraphenlinie — zwijchen den per: 
fiichen und afghanischen Nebenbuhlern getheilt. Kelat wurde, wie 
oben erwähnt, jüngſtens anneftirt, und mehrere britifche Erpeditionen 
durchzogen in den legten Monaten den jchlecht befriedeten Süden 
Belutſchiſtans, während die Küjte von Keratſchi bi8 Gwadar durch 
indische Kanonenboote völlig beherrjcht wird. Alle dieſe Operationen 
haben nicht den geringjten wirthichaftlichen Vortheil, fie find ledig- 
(ich unternommen, die indische Grenze zu jichern. Das Gleiche gilt 
zum großen Theil von den Berjuchen, in Sübdperjien, von deſſen 
jonnverbranntem Boden wenig zu holen it, die ausjchlaggebende 
Stellung zu erringen. Die Verſuche gehen bis auf den Anfang 
des achtzehnten Jahrhunderts zurüd, als einige Beamten der 
britiſch-oſtindiſchen Gejellichaft über Land nah Ispahan reiiten, 
und richteten jich damals gegen die Holländer; fie erneuerten jich, 
als Napoleon Gejandte nad) Teheran jchicte, einen Ueberlandzug 
nach Indien planend, und als die Zaren Mlerander I. und Nikolaus 1. 
den Schah befriegten. Im Jahre 1856 fuhr eine britijche Ab» 
theilung den Karunfluß bis Schujter hinauf und eine andere eroberte 
Buſchir; die offupirten Pläge wurden wieder herausgegeben, aber 
fortan betrachteten Balmerjton und Nachfolger den perfiichen Bujen 
für einen englijchen See. Sodann trachteten die Engländer dar- 
nach, ganz Perfien wirthichaftlich zu unterwerfen. Sie gründeten 
eine Reichsbank, riſſen den Handel an fi) und jchidten jich an, 
den Tabaf zu monopolifiren. Die Ausdehnung der Ruſſen in 
Dagheſtan, ihre Dampfjchiffe auf dem Kaſpiſee und ihr Schienen- 
jtrang in Turkeſtan vereitelten jedoch diefe Bemühungen und ver— 
fliehen Rußland das Uebergewicht. Sobald jich der weiße Zar 
rühren will, fällt ihm Khoraſſan zu. Dadurch wird Herat ernitlich 
bedroht. Zugleich rüdt der Indische Ozean näher. Hier iſt dem: 
nad; eine neue Gefahr für das Indiſche Reich und ein neuer 
Grund für die Ausdehnung von dejjen Wejtgrenze. Hier vorzus 
bauen, hier ruffischem Vordringen zu begegnen, haben die Engländer 
drei Mittel erfonnen. Zunächſt die unbedingte Seeherrjchaft an 
der iranijchen Küſte; ferner das Gewinnen der halb oder ganz 


426 Die Lage in Indien und Iran. 


unabhängigen Stämme Südperjiens; drittens eine Eijenbahn, die 
Karatjchi oder Quetta mit dem perfiichen Golf verbindet. Mit der 
See iſt es ihnen bisher geglüct, fie haben nicht nur die politischen 
Entwürfe der Franzoſen im perfiichen Golfe abgewiejen, jondern 
auch die Dampferlinien der Franzoſen und Deutjchen (von Bremen) 
dort aus dem Felde gejchlagen; ebenjo wenig haben bislang ſich 
die Ruſſen in Bender Abbas fejtgejegt.*) Mit den Luren und den 
Bakhtirern haben neuerdings die Engländer innige Freundſchaft 
gejchlojjen, und haben durch ein Haus in Bagdad (Lynch und Co. 
an fünfzigtaufend gute Gewehre in die Hände der friegerijchen 
Ber Lam zwijchen Tigris und Puſcht-i-Kuſch und ihrer 
Nachbarn, der Luren, gebradt; jie hoffen, jowohl der Luren, deren 
Tüdliche Horden bis nad) Bender Abbas jchweifen, wie der Kurden 
jich einjtens gegen die Ruſſen bedienen zu fönnen, namentlich wenn 
Leptere nach dem Schatzel:Arab Berlangen trügen. In gleichem 
Sinne find fie damit bejchäftigt, eine Straße von Schufter, die 
Ihon vor zehn Jahren ein indischer Major in geheimem Auftrag 
refognoszirt hat, nad) Ispahan zu bauen, als Vorbereitung für 
die militäriſche Beherrſchung Südwejtperfiens. Dieje ganze geräuſch— 
los ins Werf gejegte Befejtigung englifchen Einflujjes dient zugleich 
dazu, ihre Stellung am unteren Euphrat zu fräftigen, die nun: 
mehr nicht bloß von einem rufjischen Vorſtoß, jondern auch von 
den Deutjchen bedroht it. Die Verlängerung unjerer anatolijchen 
Bahnen bis Bagdad, die gejichert jcheint, ijt naturgemäß den 
Briten ein verdrieglicher Dorn im Auge, und jie wenden alle ihre 
Kraft darauf, ſich wenigitens jüdlich von Bagdad zu behaupten. 
Denn der Augenblid it nahe, um den jeit Jahrzehnten gebegten 
Lieblingsgedanfen einer jüdajtatiichen Ueberlandbahn vom Mittel- 
meer bis an den Stillen Ozean endlid” in Wirklichkeit umzujegen. 
Eine derartige Bahn joll entweder von Aleppo oder bejjer, da der 
Sultan widerjtrebt, von Suez ausgehen, den Norden des Nadſchd 
durchſchneiden, deſſen unabhängiger Emir, jo iſt die zuderfichtliche 
Hoffnung, jich freundlich erzeigen wird, Basra oder Mohammerab 
berühren, zwijchen Bujchir und dem hoben Tafellande hindurch nach der 
jüdperjiichen Landſchaft Yariitan führen, jodann Belutjchtitan durch: 
queren, wonach das indische Syitem ſich anjchliegt, und von Aſſam oder 


=) Ih war neulidy dort und merkte, daß das hartnädige, von Bombay 
aus unterhaltene Gerücht einer ruffifhen Bejeßung fih auf einen ein« 
zigen Arzt bezog, den die Ruffen gegen die Belt ausgeihidt Hatten, den 
einzigen Europäer des Drtes. 


Die Lage in Indien nnd Jran. 427 


dem birmanijchen Chamo (am Irawaddi) dem oberen Jangtje zuftreben 
und zulegt Schanghai erreichen. Die Linie wäre zugleich ein Gegen: 
gewicht gegen die jibirische Bahn. Andere Engländer bevorzugen 
eine Verbindung der indischen Nordweitbahn mit der turfeftanijchen; 
die Berbindung jei viel fürzer und die Grenze jei hinreichend 
geichügt, um jolches Wagnis zu unternehmen. Auch bejteht, muß 
zugejegt werden, fein hindernder Vertrag wie der, daß feine Bahn 
ın Berjien bis November 1905 gebaut werden darf, es jet denn 
von einer rujjiichen Gejellichaft. 

Aus der Verlängerung von Eijenbahnen, wie überhaupt der 
Einführung wejtlicher Kultur, ergiebt jich nicht ohne Weiteres und 
nicht ohne Reſt eine entjprechende Vergrößerung europätjchen 
Einflufjes im Orient. Wirkung ruft Gegenwirfung hervor. Wir 
erleichtern und bejchleunigen den Berfehr, und die Drientalen 
benugen dies, um in regere Beziehungen miteinander zu treten. 
Wir greifen halb verfallene Einrichtungen und Staaten an, und 
die Bedrohten werden aus ihrer Ruhe geſchreckt, um fich zu 
tärferem Widerjtand zu rüften. Bereits jteigt in dem von hundert 
Raſſen, Sprachen und Religionen zerrifjenen Indien in ungewiſſer 
Dämmerung die Idee einer gemeinjamen Nationalität auf, Die 
früher nie bejtand; bereits beginnt der gemeinjame Gegenjat 
gegen das Chriſtenthum die Todfeinde innerhalb des Islams, 
Sunniten und Schiiten, einander näher zu bringen; bereits offen= 
baren jich Anjäge zu einer neuen, wejtlich angeregten, aber öjtlich- 
national beitimmten Kultur, wie jie jo glänzend in Japan fich 
entwickelt hat. Die Waffen des Wejtens werden gegen ihn jelbjt 
gefehrt. Die wichtigjte dieſer jüngiten Erjcheinungen ijt der 
Panislamismus. Seit mehreren Jahren it der Schah auf dem 
treundjchaftlichiten zuge mit dem Zultan, und ich habe die Ueber: 


zeugung — obwohl meine Freunde in Iran, von örtlichen Ein» 
drüden geblendet, fajt durchgehends vom Gegentheil durchdrungen 
jind — wenn je wieder im Jehad (heiligen Kriege) die grüne 


sahne des Propheten entfaltet wird, Sunna und Shia ſich nicht 
gegeneinander, jondern zujammen gegen die Europäer fehren werden. 
Ich habe ferner die Leberzeugung, daß im näheren Orient auc) 
politiſch daſſelbe gejchichtliche Gravitationsgejeg zu arbeiten an— 
fängt, wie im ferneren Djten, wo es Die beiden Feinde, China 
und Japan, im gemeinjamen Widerjtreit gegen die Wejtmächte zu 
verjöhnen und zu vereinen jich anjchidt. Die trennende Kluft 
örtlicher Interefjen fällt zur Zeit noch mehr in die Augen, allein 


428 Die Lage in Indien und Iran. 


die dauernde und unzerjtörbare Wahlverwandtichaft in Art, Sitte 
und Anjchauung wird, jobald einmal zum Bewußtjein ermedt, 
zulegt den Ausjchlag geben. Unzweifelhaft hat das Bewußt— 
werden in den Beziehungen der junnitifchen Staaten ſchon be: 
gonnen. Die Afghanen und ihr Emir hören auf den Sultan, die 
muhammedanijchen Maharadjchas und ihre Unterthanen unterhalten 
einen regen Berfehr mit der Pforte; Derwiſche durchitreifen pre: 
dDigend, belehrend und anjtachelnd alle Lande von Oſtturkeſtan 
und Birma bis zum Mittelmeer, wie denn ihrem Antrieb die 
Unruhen jo im indischen Nordweiten, wie in QTurfeftan (Andijchen 
1898), wie jogar in Kurdijtan zugejchrieben werden. In Mekka 
vollends, wohin auch Schiiten pilgern, ift der große Sammelpuntt 
nicht nur für religiöfe und fulturelle Nachrichten aus der ganzen 
Welt des Islams, jondern auch für politifchen Meinungsaustaujd. 
Kun iſt es aber notorifch, daß infolge der Dampfichiffe das 
Wallfahrten nach Mekka, gerade auch von Indien, legthin ungemein 
zugenommen hat. Der Panislamismus bildet zugleich ein neues 
geiftiges Band zwijchen Südafien und Oſt- und Südafrika, ein - 
Band, das die Interejjen der halben Bevölkerung der Gegenküſten 
vereinheitlicht und ſtärkt. Eine ähnliche VBermittelungsrolle ſpielt 
der jchwächere Bruder des PBanislamismus, der neu aufitrebende 
Hinduismus, der zwar nicht jo viel Bedeutung beanspruchen dari, 
weil er vorläufig bloß religiös, nicht politijch fich entfaltet, und 
ferner weil er nicht jo weltweite Ausdehnung hat, deſſen jteigende 
Macht aber nichtsdejtoweniger fich jcharf bemerkbar macht. Bei 
dem Hinduismus hat jich zweimal die Erfahrung gezeigt, die bei 
uns der römischen Kirche zu Theil ward, Wie der Katholizismus 
aus dem Angriff der WProtejtanten geläutert und mit neu er 
wachender Straft hervorging, jo hat der Brahmanismus den Angriff 
der Buddhiſten überdauert, hat einige von dejjen Elementen auf 
genommen und jich infolge Ddejjen (unter Mijchung mit Volks— 
aberglauben) zum Hinduismus umgestaltet und hat nunmehr, von 
den Ehrijten bedroht, jich zum Widerjtand aufraffend, aus eigener 
Yebensfülle eine zweite, vielverjprechende Wiedergeburt erreicht. 
Was übrigens an äußerer Wucht dem Hinduismus abgeht, erjegt 
er durch die Zahl; jeine Anhänger werden auf 150 Millionen 
geichägt, während die indischen Muhammedaner, obwohl gleicher: 
maßen bejtändig zunehmend, faum auf 55 Millionen fich belaufen. 
Neben den Neligionen liefern ein bleibendes und unverwüſtliches 
Gegengewicht gegen die weitliche Kultur die Sprachen. Auch ihr 


Die Lage in Indien und Iran, 429 


Einfluß in dem Widerjtreite wejtöftlicher Wechjelwirkungen iſt im 
Wachjen begriffen, denn durch den Drud von oben wurden die 
jtärferen Sprachen in die Breite getrieben und zerdrüdten bei 
ihrem Croberungsgange die jchwächeren. Wie fi) unter dem 
Drud der Araber und Europäer Suaheli in Afrifa und Malayijch 
in Inſelaſien ausbreitet, jo unter der Fremdherrſchaft in Indien 
das Urdu oder Hindojtani. Der Herrjcher begünjtigt eine einheit- 
liche Sprache bei feinen Unterthanen, weil dialektiſche und jprachliche 
Buntheit jeine Verwaltung jtört. Wir jelbjit juchen bewußt in 
Neuguinea einer der zahllojen PBapua-Mundarten den Vorrang 
zu verjchaffen, einfach der Handlichfeit halber. So iſt es ge- 
fommen, daß gegenwärtig Hindojtani von 95 Millionen gejprochen 
oder verjtanden wird. Ebenjo ijt in Iran, das durch wejtliche 
Einwirkungen, bejjere Straßen, Zelegraphen, Außenhandel zu 
größerem Zentralijiren veranlaßt wird, das Perſiſche in einem 
Stadium der Ausbreitung. 

Sch habe mehrfach betont, daß die mächtigen Strömungen, 
die eine innere Konjolidation des Orients zu verurjachen oder zu 
befördern geeignet find, zwar bereit fichtbar, indejjen wejentlic) 
noch im Entjtehen, keineswegs in voller Entfaltung und Wirkſam— 
feit begriffen jind. Gegenwärtig werden die Verjchiedenheiten noch 
zehnmal klarer und jchärfer empfunden, al® Die Ueberein— 
jtimmungen, und auf Grund Diejer Verjchiedenheiten herrſcht 
Europa. In PBerjien nimmt der Oſten feinen Antheil am Wejten 
und der Norden hat feine Sympathie für den Süden, die jeßhafte 
Bevölferung iſt wider die Nomaden und die Beamten wider das 
Volk. Der tüchtigite Stamm des Reiches, die Leute von 
Aferbeidjchan, sprechen türfifch, der äußerſte Südwejten Spricht 
arabijch, im äußerſten Südoften jind Belutjchen; Kurden und 
Luren und Bakhtiaren und Gilaner und Majenderaner haben je 
ihre bejondere, meijt ans Pehlewi erinnernde Sprache und werden 
von den Farſi Redenden nicht verjtanden. Dazu noch Armentjch, 
das Sprijch der Nejtorianer und das jeltjame Patois der Juden. 
Der Südweitjaum und ein Theil der Kurden gehört der Sunna 
an, der größere Reſt der Schia. Mehnlich wird in Belutjchiitan 
arabijch, belutjchiich und brahui gejprochen, während Farſi Die 
Schriftjprache it. Afghaniſtan zerfällt linguiftiich in eine Unzahl 
afghanijcher Mundarten (Bujchto), türfijch, ſeiſtan-perſiſch, ſartiſch 
und die Sprachen Kafiriitans und der Nachbarländer. Indien 
vollends ijt fein Land noch ein eich, jondern ein ganzer Erd— 


430 Die Lage in Indien und Jran. 


theil; Kap Komorin it von den Gipfeln Kaſchmirs joweit ent- 
fernt, wie Stodholm von den Nil Kataraften, dem entjpricht denn 
auch die ungeheure Mannigfaltigfeit jeiner Raſſen, Sprachen 
und Zivilifationen. Urrajjen find die Ktolarier des Ganges und 
Brahmaputra und die Dravida des Defhans, noch jetzt beiderjeits 
viele Millionen umfaſſend; jpäter famen die Mrier, deren Ab— 
fümmlinge reinen Blutes faum zwanzig Millionen betragen, nod 
jpäter Türfen und Mongolen. Dazu wurden im Often und Nord: 
often Birmanen und tibetanische Stämme angegliedert. Diejer 
Völkermiſchmaſch enthält an neunzig Hauptſprachen. Das wichtigite 
Trennungselement aber iſt der ſtets lebendige und legthin höchſtens 
noch verjchärfte Gegenjaß zwijchen Hinduismus und Islam. Das 
herrichende Volk bedient ich dieſer Gegenjäge meijterhaft. Es 
nimmt jeine Soldaten aus den arischen Sikhs und den nepalijchen 
Gurkhas (den Tibetanern verwandt), den Dogra Kaſchmirs und 
den Karen des Salwen und Irawaddi, und denft jogar daran, 
eine chinejische Grenztruppe zu errichten; es nimmt jeine Beamten aus 
den hinduiftischen, jtolzen Nadjchputen und den muhammedanijchen, 
feigen Bengalen, und refrutirt jeine Polizei aus allen Klaſſen der 
Eingeborenen vom Pendſchab bis nach Madras und Birma, Wie 
die Völfer, jo unterjcheiden ſich die Zivilifationen: Kopfjagende 
Kannibalen und höchjtgebildete Denker und Künſtler. Die erjtaun- 
liche Zerflüftung und Zerjplitterung Indiens hat das Erobern 
und Herrſchen verhältnigmäßig leicht gemacht. Die Engländer 
weifen mit Genugthuung darauf hin, daß einhundertundvierzig- 
taujend Weiße im Stande find, zweihundertundneunzig Millionen 
Eingeborene des indo=birmanijchen Reiches im Zaum zu halten, 
und daß bei Plafjey, wo der Grundjtein der jegigen Herrichaft ae 
(legt wurde, fünfzigtaujfend Bengalen vor den dreitaufend Mannen 
Elives flohen. Auch wir behaupten mit wenigen Hunderten unjer 
oſtafrikaniſches Reich von fünf Millionen recht rauflujtiger 
Einwohner. 

Die Engländer haben Indien gewonnen und dadurch 
Itrategiich und finanziell ihre Weltherrichaft begründet und er: 
halten. Auch hat, troß der vereinzelten Agitation einflußlojer 
bengalijcher Journaliften und Advofaten, ihr Regiment vorläufig 
feine irgendwie erniten Gefahren im Inneren zu erwarten. Selbit 
die Mordanfälle fanatijscher Muhammedaner auf Europäer in 
Yahore, Peſchawar, der Provinz Audh, haben nur örtliche Be- 
deutung, da einjtweilen der indijche Islam einer fejten Organijation 


Die Lage in Indien und Iran. 431 


noch ermangelt. Die eingeborenen Truppen, deren Unterhaltung 
vielen Maharadichas gejtattet ift, fünnen, außer etwa dem Heere 
des Nizam in Südindien, feine Bejorgnijje erregen, da jie zu 
ichlecht disziplinirt find. Ein Theil gerade der gebildetiten Hindu 
und Moslems jind aufrichtige und überzeugte Freunde Englands. 
Am bedenklichiten it noch, dak die Werken allmählich die Fühlung 
mit den Yandesfindern verlieren. Früher, vor den Dampfern 
und vor Suez, gingen die Weißen auf eine halbe oder ganze 
Yebengzeit nach Indien und verjchmolzen in Sitte und An: 
ihauung mit dem Volke; jet auf wenige Jahre mit Urlaub in 
die Heimath dazwijchen, ſodaß die Interefjengemeinjchaft völlig 
erlojchen it. Früher ehelichten ſie Töchter des Landes, jegt nur 
weiße Frauen; früher bezogen fie ungeheure Summen und legten 
jie in großartigen Paläſten und prunfvoller Haushaltung an: das 
gefiel und imponirte den Ortentalen; jebt jind die Gehälter Fleiner 
und möglichit viel von ihnen wird für die Heimath gejpart. 
Andererjeit8 jteigen die Babu, die eingeborenen Beamten, empor. 
Da dem Sahib die indischen Sprachen nicht mehr wie früher gleich 
einer zweiten Mutterjprache geläufig jind, erjegt ihn der jtrebfame 
und billigere Babu. Da ferner der Babu mit wenig Geld nad) 
Yondon reifen fann und er dort viele Arme und Elende jieht und 
nicht verfehlt, dies daheim zu erzählen, jo jinkt jeder Sahib in 
der allgemeinen Achtung. Schon jeßt iſt dreiviertel der Verwaltung, 
der Gerichte, der Bojten und Telegraphen, des Eijenbahndienftes 
und ein jehr großer Theil des Außenhandels in den Händen der 
Eingeborenen. Die Bejiegten nehmen im Frieden zurüd, was die 
Sieger im Kriege genommen. Wie Walleniteind Bauern oder wie 
die Ehinejfen von den Mandjchu. Die Sache wird um jo leichter, 
je weniger die Eroberer als Ktoloniiten im unterworfenen Yande 
Fuß gefaßt haben. Während nach Sibirien allein in den legten fünf 
Sahren rund eine Million ruſſiſcher Bauern gewandert iſt und 
Turkeſtan in zehn Jahren an 35000 rujfiiche Siedler empfangen 
bat, haben die Engländer ein ganzes Jahrhundert durch in 
Indien nichts für nationale Einwanderung gethan. Im Gegentheil, 
ein bürgerlicher Siedler, weder Militär noch Beamter, jtört Die 
amtlichen Kreiſe. Bloß in Ajjam find einige Theepflanzer jchottijcher 
Herkunft. Der Fehler wird fich blutig rächen, denn auf die Dauer 
it ein erobertes Land, jelbit ein tropiſches, ohne Koloniſten der 
Grobererrajje nicht zu halten. Das haben Phönizier, Griechen, 
Römer und jelbit die viel gejchmähten Spanier und WBortugiejen 


432 Die Lage in Indien uud ran. 


bejjer verjtanden. Dabei war der Fehler jo leicht zu vermeiden. 
An den Abhängen des Himalaya, im herrlichen Feenlande von 
Kaſchmir, in den Thälern der Suleimankette, in den Alpenweiden 
des jüdlichen Pamir ijt das prächtigjte Klima und viel guter Boden 
für britijche Siedler. In Indien fann fi) Jedermann jein Klima 
und jeine Ackererde ſelbſt ausjuchen, er hat die größte Auswahl, 
von der mittleren Indusebene, wo es heißer ijt als in der Sahara, 
bis zu den nebligen Triften unter den Gletichern des Gaurtjanfar. 

Die neueren auswärtigen Beurtheiler der britijchen Herrichaft 
in Indien haben jämmtlich bloß Lobens- und Bewundernswerthes 
gefunden;*) jo der bedächtige Freiherr von Hübner, der jenjationell 
geijtreiche Orientaliſt Darmejteter, der burjchifos Tiebenswürdige 
Plauderer Ehlers, die gelehrten Politiker Yacheval-Clavigny und 
Barthelemy:St. Hilaire, unterjchiedliche amerikanische Miſſionare 
und mehrere deutjche Philologen, Zoologen und Ethnologen. Ge: 
wöhnlich mit vortrefflichen Regierungsempfehlungen verjehen, famen 
diefe Beurtheiler zumeijt oder ausschließlich mit Engländern zu: 
jammen oder folchen Europäern, die bereits englijcher Art jich an: 
geähnlicht Hatten. Bielleicht iſt es nicht unnöthig, and) einmal 
eine abweichende Meinung zu Worte fommen zu lajjen. Ich habe 
joeben hervorgehoben, daß ein wurzelhafter Grundfehler des ganzen 
Syitemd der Mangel eigener Ktolonijten it. Die Majchinerie des 
Syitems mag noch jo vollfommen, noch jo fein ausgearbeitet jein, wie 
die unabläjjige, angeitrengte Arbeit mehrerer Gejchlechter fie nur hat 
ichaffen können, die einzelnen Schrauben und Räder mögen noch 
jo glatt ineinandergreifen und jtörende Neibungen noch jo vorjichtig 
vermieden werden: das Syjtem bleibt ein fünjtliches und wird nun 
und nimmer ein organijches; es iſt wie ein leichter Güter-Schuppen 
über der Erde, nicht wie ein feſtes Haus in die Erde hinein: 
gebaut oder gar wie ein Baum aus ihr hervorwachjend. Daher 
bedarf es feines Erdbebens, noch eines Bulfanausbruches, jondern 
bloß eines mäßigen Sturmes, um das Gebäude zu erjchüttern. 
Es ijt richtig, daß einige Tauſende der Landesſöhne in englijchem 
Geijte leben und wirken, daß zwei bis drei Millionen die englijche 
Sprache verjtehen, allein die Zahl der Erjteren ijt zu unbeträchtlidh 
und eine Sprache, die bloß dem bequemeren Berfehr dient, iſt wie 
ein Kleid, das an- und abgethan wird; aud) hat weder ihr Spaniſch— 

*) Einer Zeitungsnachricht zufolge macht bloß ein franzöfilher Maler eine 


Ausnahme, defjen Namen ich leider vergeffen. Der Maler ſieht viele 
ihlimme Zeichen und prophezeit den baldigen Sturz der Engländer. 


Die Lage in Indien und Jran. 433 


Neden die Tagalen den Spaniern, noch das gemeinjame Holländijch 
die Hottentotten den Buren geneigter gemacht. Diejenigen aber, 
die von den Engländern einträgliche Stellen empfangen, wähnen 
ohne fie noch fettere Aemter an jich zu reißen. Wirkliche Anhäng- 
lichkeit an die Fremdherren hat unter Taujenden faum Einer, aber Alle 
beugen fich dem Zwange oder klammern fic) an den zeitweiligen Nußen. 
Mit dem Scharfblid des Schwachen und dem argwöhnijchen Neid 
des Drientalen erjpähen die gebildeten Inder rajc die Blößen 
ihrer Herren, während der Pöbel von jedem noch jo unficheren 
Gerüchte wie Laub vom Wirbelwinde bewegt wird und auf ihn 
nicht der geringjte Verlag iſt. Dilfe, Roberts, Rawlinſon geben 
jelbjt zu, daß die geringjte Schlappe in einem Feldzug gegen die 
Ruſſen der Achtung vor England jofort einen groben Stoß ver: 
jegen würde und leicht jofort zu einem allgemeinen Aufitand an- 
reizen fönnte. Größere Niederlagen, durch‘ die Hand des Zaren 
oder jest in Südafrifa erlitten, werden daher für die englijche 
Stellung in Indien unheil- oder gar verhängnißvoll fein. Bon 
ji) aus wagen gegenwärtig die Orientalen fajt nichts, mit Hilfe 
von Weißen aber fajt Alles. Das Scidjal Indiens hängt mithin 
von Der inneren Zage nur wenig ab und fajt nur von auswärtigen 
Ereignijien. Die Frage it nun jehr oft aufgeworfen worden, ob 
die jegige Lage, ob die britijche Herrjchaft ein Glüd für das Land 
jei und ob von anderer Regierung Bejjeres zu erwarten? Mit 
einer gewiſſen Dürftigfeit der Phantaſie ward dabei die andere 
Regierung ſtets mit einem Einfall der Ruſſen unausweichlich ver- 
fnüpft, in jedem Falle aber wurde die Frage von den erwähnten 
Beurtheilern jämmtlich dahin beantwortet, daß die jetige Ver: 
waltung die denkbar bejte und geeignetite jei, die Eingeborenen 
glücklich zu machen. Hier möchte ich nun zunächit fejtlegen, daß 
Abjicht und Wirkung nicht verwechjelt werden dürfen: was aud) 
immer das Ergebnik des bisherigen Negimes gewejen ijt oder jein 
mag, das Ziel der Engländer war einzig und allein, England jtarf 
und reich und glüdlich zu machen. Da uns Bismard gelehrt hat, 
einzig und allein für Deutjchland zu jorgen und für andere Leute 
feinen Finger zu rühren, jo dürfen wir darin fein Arg jehen. Sind 
jedoch die Inder glücklich? Nein. Das kann nun ihre eigene 
Schuld jein und iſt es auch zum Theile, da tadeljüchtige und halt- 
oje Menjchen jchwer zufrieden zu jtellen find, oder fann Schuld 
der hochmögenden Herren fein. Ob indejjen die Unzufriedenheit 
berechtigt oder unberechtigt, das iſt wiederum wohl für den 
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 28 


434 Die Lage in Indien und Iran. 


Moraliiten von Belang, aber ganz und gar nicht für den Politiker, 
dem es lediglich darauf anfommt, wie tief und verbreitet die Un: 
zufriedenheit ift und welche Wirkungen fie hervorrufen fann. 
Sordan verbreitet jich in den „Sebalds“ über das träge 
saullenzerleben der Seehunde von San Franzisko. Sie werden 
vom Staate gefüttert, Niemand darf ihnen was zu Leide thun, fie 
fünnen jich frei im Meere bewegen und thun was fie wollen; fein 
Käfig, feine Schranfen. Und trogdem entdeckt der Dichter, daß 
dies Schlaraffenleben den Thieren zur Laſt ift. Der ſtärkſte und feinjte 
Neiz fehlt. Kein Hunger, darum fein Genuß; feine Gefahr, darum 
feine echte Lebensfreude. Nehnlich it das Gefühl der einjtigen 
Herrjcherklafjen Indiens, jo der Radjchputen und der Mahrattas, wie 
der Mogulsmannen. Sie beziehen glänzende Benfionen und jchwelgen 
in Ueppigfeit und Sinnenlujt, aber es iſt doch nur ein Schatten- 
dajein, denn es it unthätig und unnüß. Gehen wir weiter zu 
den einflußreichen Heiligen und Gelehrten der Brahminenfajte, jo 
fann von ihnen feine Sympathie für den Weften erwartet werden, 
der überall ihrem Einfluß in den Weg tritt und der für ihre 
tiefiten Gedanfen nur Spott hat. Die zahlloje Beamtenfajte ferner 
ärgert jich täglich über die gejellichaftliche Zurüdjegung, die jie 
von den weißen Vorgejetten erfährt, jowie über den verdrießlichen 
Umjtand, daß fie nicht nach edler orientalischer Sitte unterjchlagen 
und erprejien fann. Die Maſſe des Volkes endlich hat Zweierlei 
gegen ihre Herren vorzubringen. Bor Allem find diefe nicht ihres 
Blutes noch Glaubens noch Lebenswandels, es find eben Fremde, 
unverjtanden und jelbjt ohne Verſtändniß. Obwohl daher die 
Verwaltung jo ziemlich aller native states, in denen ein dem 
Namen nach jelbitändiger Vaſallenfürſt unter „Beirath“ eines 
Reſidenten waltet, jchlecht und forrupt und volfsbedrüdend ift, jo 
it e8 doch für die Engländer ein jteter Gegenjtand der Verwunde: 
rung, daß jchier fein Menjch aus diefen Maharadjcha-Staaten nad 
den doc) jo unendlich viel befier verwalteten Provinzen auswandert, 
die unmittelbar unter englijcher Fauſt jtehen. Die zweite Klage 
des Volkes ift Die, daß es immer ärmer, während der Sahib immer 
reicher werde; früher jet der Durchjchnitt des Tageslohnes das 
Doppelte und Dreifache gemwejen wie jeßt, da er auf 16 Pfennig 
gejunfen. Wie weit das richtig, wage ich nicht zu entjcheiden, 
jedenfalls hört man es allgemein behaupten. Alle Inder aber 
empfinden auf das Bitterjte das Eingreifen in ihre Lebensgewohn— 
heiten. Um den Staat fümmern fich jchließlich auch bei uns 


Die Lage in Indien und Iran. 435 


nur die Wenigjten: wenn man ihnen aber ihr Bier oder ihre 
Pfeife nimmt, werden ſie ungemüthlih. Die Koreaner haben vor 
drei Jahren eine Revolution gemacht, weil man fie ihrer Zöpfe 
berauben wollte, und die Perjer, weil jie feine Zigaretten rauchen 
wollten, die von ungläubigen Händen zubereitet. Ebenjo erzeugt in 
Indien oft das Eingreifen in tägliche Sitte und Gewohnheit 
Widerwillen und Feindſchaft gegen die Negierung. Diejelbe hatte 
viel zu dulden, weil fie die Wittwenverbrennung verbot, und jeßt, 
weil jie ihren Untertanen nicht erlauben will, an der Peſt und 
Cholera zu jterben. Vielen ijt eben der Tod nach eigener Wahl 
lieber, als das Leben nach fremder, ein jelbjtverordnetes Leiden 
lieber, als Gejunden durch fremdes Nezept. Auch bei uns wäre 
und iſt noch ein asketiſcher Katholik höchjt unwillig, wenn man ihn 
bei jeiner Fleiſchestödtung jtörte. Kurz, britischer und orientalischer 
Geiſt jind jo unvermijchhar wie Waſſer und Del. 

Das Verhältnig des englijchen Eroberer8 zu den Eroberten 
wird am klarſten dadurch bezeichnet, daß er fich möglichit von ihnen 
abjondert, möglichjt wenig direft mit ihnen verfehren will. Mit 
Ausnahme der tapferen Eingeborenen-Kegimenter haft und ver— 
achtet er fie. Sein Hund und fein Pferd jtehen ihm näher als 
jie. Sie haben feinen Theil an jeinem Leben. Es find wind: 
Ichiefe Linien, die in aller Ewigfeit jeine Zirkel nicht freuzen. 
Einige unbedeutende Ausnahmen bejtehen: ein Nadjcha wird ein 
berühmter Kridet-Spieler, ein rühriger Buddhiit oder Jaina wird 
von der Londoner Gejellichaft geehrt, vereinzelte Hindu und Parſi 
werden in indijche Freimaurerlogen aufgenommen. Im Wejent- 
lichen jedoch wird die colour line auf das Strengite bewahrt. Man 
jollte nun denfen, daß im gelobten Yande der Kaſten jolche Aus: 
Ichließlichkeit fein jonderlich Befremden hervorrufen fünne, allein 
jeltjamer Weiſe gilt jie für natürlich bei Indern, aber für tadelns- 
werth bei Europäern. Vielleicht jchwebt der Gedanfe vor, daß 
der Herricher mit Jedermann und allen Klajjen auf gutem Fuße 
jtehen jolle. So verfehren bei uns Burjchenjchaften nicht mit Korps, 
aber Häufig Profejjoren unparteiijch mit beiden. Das Verhalten der 
Engländer erregt um jo mehr Anjtoß, weil e8 nicht gleichmäßig 
it. Denn, ohne jich irgend näher einzulafjen, bevorzugen jie that- 
Jählih Hindu vor den Muhammedanern, welch lettere jich was 
Bejjeres fühlen als ihre „götzendieneriſchen“ Nebenbuhler. Bor 
einigen Wochen noch ging ein Sturm des Unwillens durch ganz 
Yahore, weil der Statthalter des Pendſchab bei einem offiziellen 

28* 


436 Die Lage in Indien und Jran. 


Bejuche bloß den anmwefenden Hindu, nicht den Moslimen die 
Hand gedrüdt. 

Indien iſt für Großbritannien eine unerjchöpfliche Quelle des 
Reichthums. Die Gehälter der engliichen Offiziere und Beamten 
belaufen ſich auf 1,6 Milliarden Mark, Ein Unter-Leutnant be— 
fommt 340 Markt monatlich, ein Negierungspräfident jährlich 
60—120 000 Mark, der Vizekönig 600 000 Marf. Eine derartige 
Befeitigung der leitenden Klaſſen Englands ijt offenbar für das 
britifche Reich jelbjt von unjchägbarem Nuten. Die Abficht, ein— 
fach britifchen Bürgern zu einträglichen Stellen zu verhelfen, liegt 
oft Ear zu Tage. Schon die Offiziere und Soldaten verbringen 
faft ein halbes Jahr in angenehmer Muße auf den ſanitäriſchen 
Höhenftationen, bei vielen hohen Beamten ijt aber ihr Amt gar 
bloß eine Sinefure. Ein Mann wie Sir H. Nobertjon, der poli— 
tiſcher Offizier bei dem afghanijchen Kronprätendenten Ajub Khan 
ijt, mithin jo gut wie nichts zu thun hat, bezieht 75 000 Mar. 
Sodann ijt der Außenhandel Indiens, der über 21/; Milliarden 
Mark beträgt, überwiegend in britiichen Händen und das Beitreben 
geht troß des gerühmten Freihandeliyftems genau wie in Negypten 
darauf hin, fremde Mitbewerber „wegzuefeln“. Waaren aus 
fontinentalen Staaten Europas werden bei der Zollunterjuchung 
oder jchon beim Löſchen der Ladung geflifjentlich gejchädigt, während 
britiiche Waaren glatt durchfommen,*) und jo weit geht die Klein— 
lichkeit, daß 3. B. — ein Fall, der mir perjönlic befannt iſt, — 
ein Franzoſe nie Preislisten heimischer Firmen lejen konnte, weil 
jie ing Meer" getaucht und die Seiten aneinander geflebt waren. 
Der ewigen Quängeleien müde, bejtellte der Franzoſe zulett bei 
englijchen Firmen. Die Kolonialpolitif anderer Nationen wird für 
proteftionijtijche Willfürherrjchaft erklärt, aber Indien wird despotijch 
regiert und Freihandel bejteht hHauptjächlich in der Theorie. Drittens 
werden aus dem indijchen Staatsjchag britifche Stationen und 
Unternehmungen außerhalb Indiens bezahlt. Ein anderes Volk 
würde, jobald in den Beſitz „der Schatfammer der Welt“ gelangt, 
es vermuthlich gerade jo machen, nur jollte die angeljächjiiche Preſſe 
nicht den Spaniern vorwerfen, daß fie vom Golde der armen 
Kubaner ihre Gejandtjchaft in Waihington unterhielten. Das 
indijche Neich zahlt die Gehälter der britiichen Gejandtjchaft im 
Teheran und jämmtlicher Nefidenteu von Maskat bis ind Somali— 


*) Die Varteilichkeit war in Aegypten fo offenkundig, daß deutſche Kaufleute 
einen Prozeß anhängig madten, der lange die Diplomaten beſchäftigte. 


Die Lage in Indien und Fran. 437 


land, es unterhält die fojtipielige Feſtung Aden, die Wachtichiffe 
und Leuchtthürme im Berfijchen und Rothen Meere, die britijchen 
Telegraphenlinien durch die Türkei und Perſien, die Bolizeitruppen 
von Singapur und Hongkong und es hat endlich aufzufommen für 
die Kriege und Eijenbahnen nicht bloß in Belutjchiitan, Birma 
und der jüdchinejischen Grenze, jondern auch für die meijten Kriege 
in Oftafrifa, injofern dieje mit indischen Truppen geführt werden. 
Englische Politiker jelber haben das Syitem als ein höchſt unge— 
rechtes bezeichnet, auch richtet fich dagegen bejonders die Aftion 
des indischen Kongrefies, jener Jahresverfammlung von Hindus 
Agitatoren. 

Perſien ijt mit jeinen neun Millionen Einwohnern weit 
weniger wichtig als Indo-Birma mit zweihundertneunzig. Ueber 
jeine gegenwärtige Lage ijt nicht viel Gutes zu berichten. Seit— 
dem Mujafar den Thron bejtiegen, iſt das Land unaufhörlich zurüd- 
gegangen. Noch nie waren die Straßen, jelbjt die Hauptfarawanen> 
wege, jo unjicher und noch nie die Finanzen jo ärmlich. Das Heer 
it in unaufhaltjamem Verfall und eine Flotte iſt nicht vorhanden. 
Die Verwaltung it jchlecht und bejtechlich wie immer, Es wird 
nicht lange dauern, jo wird auch Perſien in europäijche Gewalt 
fommen. Dabei ijt, mit Ausnahme der gänzlicd) verworfenen 
Schirafer, das Volk tüchtig und fernhaft; aus den Kurden ließe 
jich eine Grenztruppe herjtellen, wie fie fein Reich fich befjer wünjchen 
fann; es fehlt nicht an Kraft und Intelligenz, an jtaatSmännijcher 
wie fommerzieller Fähigkeit. Bloß die Regierung it hoffnungslos. 
Wie einjt die Parther aus einem unwifjenden, unbedeutenden Grenz: 
ſtamme fich zum Herrjchervolf emporjchwangen, jo fünnten jeßt die 
fraftvollen Kurden, deren Gejammtzahl fait zwei Millionen it, das 
Szepter an fich reißen, wie jie es unter Obeidullah jchon 1880 
verjuchten; fie haben gegenwärtig eine ähnliche Stellung wie die 
Iren in Großbritannien und die Buren in der Stapfolonie. Allein 
das unaufhaltjame Wordringen der Europäer wird es zu einer 
nationalen Entwidlung der Kurden vorläufig nicht fommen lajjen. 
Gewöhnlich wird eine Theilung Perſiens zwijchen Rußland und 
England erwartet, und die Perſer jelbit haben fich in eine jolche 
Ausficht Schon im Voraus hineingefunden. Beachtenswerth it, daß 
auch eine deutjche Partei bejteht. .Unjer Handel iſt mächtig im 
Wachen, ſowohl der über Trapezunt und Reſcht wie der über 
Buſchir und Bagdad, unjere Ingenieure haben die Khanifin-Straße 
gebaut, mehrere Deutjche jind im Dienjte das Schah, jchlieklich 


438 Die Lage in Indien und Iran. 


wird eine Verlängerung unjerer anatoliichen Bahn Berjien berühren 
oder wenigitens der Grenze jehr nahe fommen. Ich habe Perſer 
getroffen, die jogar eine Dazwiſchenkunft von unjerer Seite erhofften, 
um Iran vor Ruſſen und Engländern zu erretten. Abdurrahman 
aber war von der Rede des Kaiſers in Damaskus und jeiner 
Freundſchaftserklärung an die muhammedaniiche Welt jo entzüdt, 
daß er jtehenden Fußes einen deutjchen Lehrer für jeine Söhne 
nach Kabul entbot und hinfort von allen Ungläubigen die Deutichen 
am höchjten jtellt. Jedenfalls haben Deutjche und Franzoſen ein 
bejjeres Berjtändniß und durchgehends auch mehr Sympathie für 
orientaliiches Wejen als die Engländer, während bei den Ruſſen 
jih mehr ein dumpfes Gefühl der Rafjen- und Wahlverwandtjchaft 
geltend macht, als überlegene Intuition. In der That hat unjere 
Völferfunde und Biychologie und Naturwifjenjchaft einen Fond 
von Sympathie und Brennpunkte deutjcher Kultur in ganz Aſien 
geichaffen, woran eine folgenreiche Entwidlung fich fnüpfen wird. 
Ueberall wirken in ihrer Heimath Armenier, die auf unjeren Hoch: 
jchulen ihre Bildung erlangten: Araber, Türfen und Perſer wiiien, 
daß wir uns eifrig mit ihrem Schrifttyum und ihrer Kultur be- 
fajjen; Inder und Chinejen, bei denen gelehrtes Wifjen jo unend— 
lich viel mehr gilt als bei den genannten drei Rafjen, legen großen 
Werth darauf, daß wir in der Sanskritliteratur und der Sinologie 
den erjten Rang einnehmen; Japan tt jo jehr der deutjchen Wiſſen— 
ichaft geneigt, daß an der Univerjität von Tofio mehr Profejjoren 
aus Deutjchland find als aus allen anderen Nationen zujammen 
und daß namentlich die japanische Medizin und fait das ganze 
Necht deutjch find. Die ſibiriſchen Stämme haben zwar feine 
Ahnung noch von unjeren Arbeiten, aber auch bier haben Deutjche 
das Beite geleiftet, und es ijt wohl möglich, dat einjt die Gelehrten 
der Burjaten und Jakuten das anerfennen. 

Auch Iran wird dem Schiedjal europäijcher Herrichaft nicht 
entgehen, allein es hat noch immer eine erjtaunlicze Lebenskraft 
bewiejen und der nationale Geilt hat noch immer der Kultur der 
Erobernden obgefiegt. Es hat die Skythene und Hunneneinfälle 
und hat die Griechen überdauert; e8 hat in Wifjenjchaft und unit 
der arabijchen Herren bald das Uebergewicht erlangt, es hat die 
Mongolen zulegt abgeſtoßen und unter den einheimischen Sefaviden 
eine hohe Blüthe erlebt, e8 hat die Osmanen aus Ajerbeidjchan 
und die Ruſſen aus Gilan und Mazendaran vertrieben. Wenn es 
aus den wejtlichen Ideen jet frijche Anregung erhält und unter 


Die Lage in Indien, und Iran. 439 


wejtlichem Drude zu jtarfer Einigkeit jich jammelt, fann es in ferner 
BZufunft von Neuem eine nationale Wiedergeburt und ein glänzendes 
Zeitalter heraufführen. 

Die Kräfte, die ein Wiedererwachen orientalijcher Macht und 
Kultur ermöglichen fönnen, wirfen indeß langjam und in der 
Stille. Bloß in einem jo einheitlich entwidelten und jo national 
jelbjtbewußten Lande wie Japan fonnte eine völlige Umbildung 
und Neorganijation des Staate8 und Volkes in wenigen Jahr: 
zehnten vor ſich gehen; in jo zerjplitterten und zerflüfteten Ge: 
meinwejen, wie fie in Border: und Südaſien bejtehen, dauert ein 
jolcher Prozeß viel länger. Auch wenn die Umwandlung durch 
einen religiöfen Anſtoß bedingt iſt: jo hat der Buddhismus 
zwei, das Chriſtenthum drei Jahrhunderte gebraucht, bis Die 
religiöje Bewegung ſich in politiiche Macht umgejegt, und aud) 
der raſch wie frejiend ‚Feuer um fich greifende Islam hat ein 
Jahrhundert nöthig gehabt, um bis Spanien und Indien vorzu: 
ſchreiten. Dazu iſt der wirthichaftliche Verfall wenigjtens in Iran 
jo ungeheuer und die durch Dürre und Entwaldung verurjachte 
Verödung des Bodens jo entjeglich, daß fünfzig Jahre Aufforjtens 
und gewiljenhafter Landwirthichaft noch nicht Hinreichten, um 
früheren Wohlitand zurüdzubringen. Dagegen iſt ein baldiger 
bedeutender Aufichwung des Landes durch den wejtöjtlichen Handel 
zu erwarten, der in jüngjter Zeit unverfennbar darauf ausgeht, 
die uralten Verfehrsjtragen, die über Yand nach Indien führen, 
aufs Neue zu beleben. Diejem Handel vor Allem verdankte einjt 
Sciras feine Blüthe im jpäten Mittelalter, und Isfahan, das 
noch) vor einem viertel Jahrtaujend eine Million Einwohner 
zählte (gegen jechzigtaujend jett), und das bis zur Zeit Peters des 
Großen und der englijch-perfiichen Handelsgeſellſchaften die größte 
und reichite Stadt ganz Vorderajiens war. 

Gegenwärtig iſt der wichtigite Faktor in der Yage jo Indiens 
wie Süd-Irans Großbritannien. Die britijche Machtjtellung jedoch 
it von zwei Stombinationen bedroht, einem Yandangriffe von 
Nordweiten und einer Umgeitaltung der Meachtverhältnijje im 
Indischen Ozean. Beiden Möglichfeiten gegenüber arbeitete 
England mit Eifer daran, jich eine eigene Bahnverbindung 
zwijchen Aegypten und Indien zu jchaffen, zum Schu und zur 
Abwehr nach Norden zugleich und nad) Süden. Zu Lande hat 
es dem Vordringen der Deutjchen von Anatolien, der Ruſſen von 
den SKajpigegenden, der Franzoſen vom Mekong zu begegnen. 


440 Die Lage in Indien und Sran. 


Zur See verjucht Frankreich von Dichibuti, Madagasfar und 
Tonfin aus Einfluß zu gewinnen; Rußland möchte ji) an der 
Küſte in der Nähe Abeſſyniens feitiegen und hofft auf einen 
perjiichen Hafen. Es jcheint zweifelhaft, ob da eine Ueberland— 
eifenbahn den Engländern wirklich viel helfen fünne. Sie fann 
nicht vertheidigt werden. Die britijchen Kenner behaupten freilich, 
jie könne auch nicht angegriffen werden. Die Linie jei allent- 
halben von menjchenleeren Wüften umgeben, die für größere Heere 
unpajjirbar jeien. Die Meinung verräth indeß nur wiederum 
einen Mangel an Einbildungskraft. Wir haben bereit3 die Er- 
richtung von militärischen NRadlerabtheilungen erlebt, dem wird 
die Benugung des Automobil auf dem Fuße folgen, wie dasjelbe 
thatjächlich jchon auf den Philippinen in Anwendung jein joll. 
Dem Automobil aber find Wüjten nicht unüberwindlid. Auch 
abgejehen von folcher Zufunftsmufif zeigt die Durchbrechung der 
englijchen Linie von Kimberley nach Mafefing, wie unmöglich es 
it, jelbit von naher Bafis aus eine Wüjtenbahn mit Erfolg 
zu jchüßen. 

Die einzige und wichtigjte Stüte für das Britiiche Reich 
bleibt immer dejjen Seeherrichaft. Die bisherige Erfahrung lehrt, 
daß Südafien weſentlich nur durch die Beherrſchung der jüd- 
aſiatiſchen Gewäſſer dauernd behauptet werden fann. Dies er- 
fannten bereit3 Darius und Alerander. Beide entjandten Flotten 
von der Indusmündung nad) dem Rothen Meere. Die Be: 
herrjcher Perjiens, von den Arabern und Mongolen bis zu Abbul 
Abbas und Nadir Schah juchten, jobald fie zu Lande einiger: 
maßen jejt jtanden, auch im Indijchen Ozean ihr Gebot geltend 
zu machen. Schah Ruf verjuchte und Nadir Schah vollbracdhte 
die Eroberung Masfats; Abbas gründete Bender Abbas und 
nahm die Injel Ormus. Noch belangreicher war natürlich das 
Meer für die fernen Europäer. Ste mußten, um auf dem jüd- 
afiatiichen Feitland Fortjchritte zu machen, aller Häfen von Natal 
bi8 nach Malakka jich verfichern. Sobald dies den Portugiejen 
gelungen, fiel ihnen der Handel von Perſien und Indien von 
jelber zu. Die Holländer begannen ihre öjtliche Laufbahn damit, 
daß fie in Aden, Masfat, Ormus, Diu (nördli) von Bomban), 
Geylon, Kalikut, Madras und Malaffa die Portugiefen angriffen: 
erjt nachdem jie zur See überwiegende Erfolge errungen, fonnten 
ſich die holländischen Soldaten und Kaufleute in Indien und 
Perjien entfalten. Als jpäter die Franzoſen ıhre Mugen auf 


Die Lage in Indien und Iran. 441 


Indien warfen, gewannen jie zunächjt eine Bafis in Madagaskar 
und den umliegenden Injeln, bombardirten jiamejtische Häfen und 
berannten Mombaja, Sanjibar und Delagva; darauf erjt gingen 
fie unter Dupleir zu Zanderwerbungen im Inneren Indiens vor. 
Selbit die Dejterreicher leiteten ihre beiden ojtindischen Unter: 
nehmungen im vorigen Sahrhundert durch Bejegung von Delagoa 
und den Nifobaren ein. Aus diejer Weberficht erhellt, daß zum 
Mindeften ojtafrifanische Herrjchaft jtetS mit indijcher verbunden 
war. Die natürlichen und die jtrategijchen Bedingungen werden 
aber weder durch Dampfichiffe noch dur; Dum-Dum wejentlich 
geändert; deshalb wird auch jegt noch Indien mit Oftafrika jtehen 
und fallen. Niemand hat dieje Erfenntniß deutlicher gehabt und 
folgerichtiger ihr gemäß gehandelt, als England jelbjt. Es ift 
zwar mehrfach gejagt worden, am eindringlichiten jüngjt von 
Pafjarge, daß England die transafrifanijche Bahn und den Er: 
werb des Transvaals anjtrebt, um für einen etwaigen Berlujt 
Indiens in einem abgerundeten afrikanischen Grofreiche Erſatz zu 
finden; allein wenn je jo wird jetzt Aut Caesar aut nihil Eng— 
lands Gejchid jein. 


Die Pflicht zur Schönheit. 
Bon 
Alexander Freiheren von Gleihen-Rubwurm. 





Die Natur ijt der Lehrer des Menjchen. Aus ihrem ewig 
reichen Born jchöpft der Künjtler und der Philojoph, ihr entlehnt 
der Dichter jeine Bilder und ihr entnimmt der Erfinder die Kräfte 
für jeine Majchinen. Und jie it jchön. Im ewigen Eije der 
Sletjcher, in der unermeßlichen Sandfläche der Wüſte liegt Die 
Schönheit der Ruhe und, wenn am dunklen Firmament die Stern- 
bilder glänzen und durch den nächtlichen Wald ein leijes Naujchen 
geht, athmen wir befriedigt auf. Ein Gefühl breitet ſich in unjerer 
Seele aus, das wir in die Worte fajjen möchten: Es iſt jchön. 
Aber wir jchweigen. Denn lauten Jubel verträgt die Schönheit 
nicht. Wirkt ihr Zauber auf uns ein, jo iſt es ein jtiller Frieden, 
der die Ahnung auffeimen läßt, daß das Gefühl der Schönheit 
jelig und daß Seligfeit jchön jei. 

Sm Gewitterjturm, im Toben des Meeres fühlen wir die 
Schönheit der Macht und jede Bewegung in der Natur vom 
srühlingswind, der das Blumenblatt zur Erde fächelt, bis zum 
Orkan, der Bäume zerbricht, als wären ſie ein Spielzeug für 
Stinder, ijt jchön. Die Schöpfung wäre ein Meijterwerf, wenn der 
Menjch nicht die Häßlichkeit Hineingetragen hätte. 

Sehen wir durch das gewaltige Fernrohr des Aitronomen — 
nicht als mejjende Gelehrte, bei denen jich alle Begriffe in Zahlen 
verwandeln — jondern als Menjchen mit offenen Mugen und 
Herzen, jo enthüllt jich ung eine Weite und Herrlichkeit, ein un 
endlicher Raum voll bewohnter Welten, dejien Bild, in unjer 


Die Pflicht zur Schönheit. 443 


fleine® Menjchenauge zujammengefaßt, Einblid gewährt in Die 
unendliche Harmonie des Großen. Lautlos gleiten die Weltförper 
auf ihren Bahnen und, was wir Sphärenmufif nennen, iſt das 
Wiederflingen des großen Schweigens in unjerer Seele. Halten 
wir aber das Auge an das Glas eines Mikroſkops und beobachten 
der geringjten Dinge eines, den Flügel der Fliege oder einen 
Tropfen Wafjer, jo finden wir auch hier Farbenpracht und Fein— 
beit der Zeichnung, Leben und XLebensfähigfeit bis in das 
fleinjte Atom. 

Leben an fich joll aber jchön jein, denn es iſt die Blüthe des 
Organismus, die höchite Entfaltung jchlummernder Kräfte. Es joll. 
Doh der Kampf um's tägliche Brot, die Sucht, um jeden Preis 
das Neuejte neben dem Neuen anzuhäufen, it am Werf, den 
edlen Keim des ewig Schönen zu erjtiden und jtatt dem fräftigen 
Yebensbaum mit jtrogenden Blättern, duftender Blüthenpracht und 
reihem Früchtefegen entjteht eine blajje, fümmerliche Pflanze, die 
nichts weiß von Schönheit und Kraft und froh it, wenn ein 
elender Zweig bis zum Sonnenlicht fommt. So find wir Menjchen; 
ein Gefühl für das Schöne liegt in uns, aber unjerem 
Bewußtſein ift die Pflicht entjchwunden, in den Werfen 
der bildenden Kunſt, in unjeren Dichtungen und im 
Gange des Lebens eine Richtfchnur fejtzubalten, welcde 
die Linie der Schönheit bezeichnet. 

Kampf it überall, von den Bakterien, die zerjtörend in den 
menjchlichen Organismus eingreifen, bis zu den Weltförpern, die 
in ungemejjenen Fernen dröhnend aufeinander jchlagen, aber wir 
brauchen ihn, denn im Genuß friedlichen Dämmerns erjtirbt der 
Yebenstrieb und das Nirwana der Buddhijten fann niemals das 
deal fraftvoller Naturen jein. Nur die Häßlichkeit, die Rohheit 
des Gefühle muß aus dem Dajeinsfampf unter Menjchen verbannt 
werden. Yuch die Edeljten fünnen in Wettjtreit gerathen, aber jie 
veritehen es, jogar in der höchiten Leidenjchaft ihres Krieges die 
Gemeinheit fernzuhalten. 

Nach Neuem ringt der Menjch, jeit er jich der Fähigkeit des 
Erfennens bewußt ist, aber das Neue muß für uns hochentwidelte 
intelleftuelle Naturen nicht nur auf dem Gebiete des praftijchen 
Lebens, jondern auch in der Verfchönerung der Welt in uns und 
um uns einen Fortſchritt bedeuten. Die Befriedigung förperlicher 
Triebe ohne den Genuß des Schönen erniedrigt den Menjchen 
unter das Thier, denn leben wollen, heißt jchön jein, 


444 Die Pflicht zur Schönheit. 


ſchmückt ich doch im Augenblide der Liebe jedes Lebewejen mit 
aller ihm zu Gebote ftehenden Pracht. Die Natur jchafft und 
befist die Schönheit ohne Nachdenken und Ueberlegung, der Menſch 
hat die Pflicht, fie für fich jelbjt und feine Umgebung zu er: 
werben, denn fie iſt das höchite Gut aller Zeiten und Völker. 


I. 

Es genügt nicht, zu wifjen, daß im Schooße der Erde ver: 
borgen ſich Goldadern befinden, man muß ihre genaue Stelle 
entdeden, Bergwerfe anlegen, das edle Metall fördern und läutern; 
Gedanken allein — und wären es die herrlichjten — find nicht im 
Stande, ein vollendetes Ganzes zu bilden. Man muß jie innerlich 
verarbeiten, zu Tage bringen und mit dem Handwerk jeiner Kunſt 
etwas aus ihnen geftalten. Ein Stunjtwerf zu fühlen hat feinen 
Werth. Nur, wer es machen fann, ijt ein Künftler. Gold muß 
man prägen, Gedanken fajlen wie edle Steine; erjt der Kopf des 
Fürſten macht die Münze aus dem Metall, erit das Wort des 
Dichters, die Farbe des Malers, der Ton des Komponijten giebt 
dem Gedanken bleibende Kraft. 

Warum aber einem Ding, das dauern joll, den Stempel der 
Häßlichkeit aufdrüden?” Man ſucht nad) dem Gold in der 
Erde, man joll ebenjo nach dem Schönen auf der Erde juchen. 
Wer durch das Schlechte abgejtumpft ijt oder in einem üden 
Sinnentaumel vertrauert, wer unter dem Wahren ausjchließlich 
das Gemeine und äſthetiſch Verlegende verjteht, joll mit feinem 
Singer an das Heiligtum der Kunſt rühren, mag er auch mit 
vollendeter Meijterjchaft jein Handwerk beherrichen. Der Wille 
zum Schönen muß wie ein Zaubermantel über jedes Kunjtwert 
ausgebreitet jein und, wer es jieht, hört oder liejt, joll mit einem 
Gefühle der Befriedigung von ihm jcheiden. Der höchſte Schmerz, 
der gewaltigjte Kampf fann in jeiner Darftellung etwas Ber: 
jühnendes bergen, das ihn aus dem Gemein-Menjchlichen heraus: 
hebt, die größte Häßlichkeit fann durch einen Strahl von Güte 
oder Geiſt das Abjtoßende verlieren. Jeder Menjch und jedes 
Geſchöpf hat wenigjtens einen Augenblid im Leben, der ihm den 
Adel der Schönheit oder den Reiz der Anmuth verleiht. Diejen 
Zuſtand fejtzuhalten it die Aufgabe des Künſtlers, er joll nicht 
verlegen, jondern muß erfreuen oder erheben, wagt er ſich aud 
daran, ein Medujenhaupt darzuitellen. 


Die Pfliht zur Schönheit. 445 


Im klaſſiſchen Alterthum formte die Kunjt jchöne Götter und 
Menschen und begnügte fich, voll jubelnder Freude das „Sein“ 
zum Ausdruck zu bringen. Der Menjch wurde im Bild zum Gott 
uud der Gott zum vollendeten Menfchen. Als in der chriftlichen 
Revolution die üppige Heidenwelt zujammenbrad) und der neue 
itrenge Glauben das orientalische Verbot nad) Europa brachte, 
Gott abzubilden, trat langjam das „Bedeuten“ an die Stelle des 
„Seins“. Statt Götterbildern begann man Symbole zu jchaffen. 
Die jogenannte „altchrijtliche* Kunſt fuchte alles dem Heidenthum 
Entjtammte zu verbannen uud verneinte das griechijche Schönheits— 
ideal. Sie erreichte erſt nach vielen unbeholfenen Verjuchen, dem 
Schönen nahefommend, das Erhabene, indem die byzantinijchen 
Bilder von Ehrijtus und der Madonna einen Zug jtiller Größe, 
böchjten Leides und höchſter Verklärung enthielten. Die Annahme, 
daß der Heiland häßlich gewejen, gejtügt auf eine Stelle in den 
Propheten, wich im Bilde einer idealeren Auffafjung, denn die 
Schönheit hatte fich unbewußt in die jtarre Form gejchlichen. 

Als ſich Sokrates in Platos Gejprächen mit einem Sophijten 
über das Wejen derjelben unterhält, führt er den eitlen Mann 
allmählich auf den Gedanken, daß Alles auf der Welt Vergleich 
jet und das Schönere der Feind des Schönen. Darin liegt das 
Prinzip von Fortjchritt und Kampf auf dem Gebiete der Kunit. 
Wer heutigen Tages genau wie die Alten malen oder Dichten 
würde, fönnte feinen Beifall erwarten, denn jede Zeit hat ihr 
Ideal und ihre Naivetät, jede Epoche eine andere Auffaflung vom 
„Ewigichönen“. Deſſen ungeachtet bleibt, herrlich und jung, ver: 
jtändlich und bewundernswerth für immer ein Werf, das innerlich) 
den Anforderungen der eigenen Zeit voll entjprochen und im Ge: 
wande der Schönheit das Wahre zum Ausdrud gebracht hat. Nur 
die fanatiihe Moral verblendeter Mönche, die blutgierige 
Zerjtörungswuth mißhandelter Völker und die verbohrte Einfeitigfeit 
vor Wiljen dumm gewordener ?sachgelehrter verliert die Achtung 
vor dem heiligen Kunſtwerk und zerjtört es jelbjt mit der fampf- 
bereiten Fauſt oder jeine Wirfung auf unjer Gemüth mit der Kraft 
des zerjegenden Wortes. Die Rohheit der Maſſen und ein zum 
Schlagwort erhobenes, thörichtes Prinzip find in gleicher Weije 
Feinde der Kunſt. 

Das Leben der Völker iſt wie das Meer, Sturm fährt in die 
ſpiegelglatte See und die Woge wirft erſt nach wildem Wetter die 
Muſchel mit der Perle ans Land. Auf Perioden des Genuſſes 


446 Die Pfliht zur Schönheit. 


und der Vollendung, in denen die Menjchen vor den Altären der 
Schönheit opferten, folgten immer Zeiten des Verfalls und Nieder: 
gangs. Das Lied begeijtert auch den fämpfenden Krieger, aber 
die höchite Kunst blüht nur dann, wenn der Sänger am Herdfeuer 
in die Harfe greift, wenn durch die veredelnde Daritellung des 
Streites die Disharmonien des Lebens in freien Akkorden fünit- 
lerifcher Berflärung ausklingen. Ueber die Bitterfeiten der Parteien 
erhaben, fern vom Schmuß der Straßen und vom Staub unjerer 
Wohnungen gedeiht einzig und allein echte Poejie. Auch gerechter 
Hat muß ſich im Herzen des Künſtlers läutern, che Worte ihn 
fünden oder Farben ihm bleibenden Ausdrud verleihen. Cs 
brauchen nicht Könige und StaatSmänner zu fein, mit denen ſich 
die Phantaſie bejchäftigt. Homer verjtand es, den „göttlichen 
Sauhirten“ uns lebendiger vor Augen zu jtellen, al3 mancher moderne 
Dramatiker jeine „Eleinen Leute“, wenn auch der Duft von Kuchen 
und Kaffee von der Bühne her leibhaftig in unjere Naſen zieht. 

Die Daritellung des Natürlichen it zum Fluch geworden. 
An Stelle des fieghaften Humors und der zügellojen Phantafie it 
die Langeweile getreten. Der Wahrheit zuliebe wird oft die er— 
Ichütternde Tragif durch Gähnen unterbrochen. Es iſt ein Ueber: 
gang, den wir durchmachen. Seit Napoleon in Erfurt dem alten 
Goethe die berühmten Worte über Politif und Kunjt gejagt hat, 
haben die gährenden und wechjelnden äußeren Berhältnijje das 
Gefühl für die Schönheit im Menjchen zurüdgedrängt. Eine Wolfe 
it über die Sonne gezogen, in deren Schatten viel Großes und 
Nützliches entjtanden it, aber die Zeit muß wiederfommen, in 
welcher der höchjte Ausdrud des Lebens nicht eine große Waffen» 
that, jondern ein jchönes Kunſtwerk it. 

Die Blüthe des GriechenthHums waren die Tage des Perifles 
in Athen, die römische Republik fand am Hofe eines Augujtus ihre 
Vollendung und aus den deutſchen Keformationsfämpfen ging 
Luthers Bibelüberfegung hervor, die unjerer Sprache das Rüdgrat 
gab. Die Gejchichte der Päpſte gipfelt in den Namen Rafael und 
Michelangelo, von der Größe Venedigs find Bilder und Bauten 
geblieben, und als ewige Frucht aller Kämpfe der Aufflärungszeit 
dauern die Werfe unjerer Klafjifer. Aber mit der Kunjt gebt es 
wie mit dem Ader. Hat er reiche Früchte getragen und jeinen 
Herrn mit einer fchönen Ernte erfreut, jo muß er brach liegen, bis 
er neue Kraft in fich aufgejammelt, wieder ein Samenforn zu 
entwideln und den Halm zur Reife zu bringen. 


Die Pflicht zur Schönheit. 447 


In einer Generation jchlummern die Kräfte, die in der nächſt— 
folgenden zur vollen Entfaltung gelangen. Wenn nach einer Zeit 
allgemeinen fünjtleriichen Durchdringens ſich die Idealgeſtalten 
großer Geilter in öde Abjtraftionen verlieren, wenn fich im Bud) 
und auf dem Theater, im Bild und am Bauwerf flache Nach: 
ahmungen vergangener Größe jtatt Geitaltungen der eigenen über- 
zeugenden Gedanken breit machen, begeijtert ein neues ſelbſtem— 
pfundenes Werf unendlich leichter als die jchönjte Epigonenarbeit, 
mag es auch derb, vielleicht jogar verlegend wirfen. Für feine 
Zeit iſt es jchön, enthält es an ich auch viel des Unkünſtleriſchen 
und Häßlichen. Es fann relativ bedeutend und abjolut vollitändig 
ungenügend jein. 

Man fonnte demnach glauben, das Wejen der Schönheit unter: 
liege dem Wechjel, jogar der Mode, bejonders wenn man die ver: 
ichiedenen Erklärungen der Philojophen lieſt, die ſich von Plato 
bis Niegiche bemühten, den Begriff des Schönen feitzulegen. Am 
einfachiten drückt fich für uns dieſer Wandel in den Worten aus: 
Schön iſt, was gefällt, was den Beſten, Höchitentwidelten unter 
uns gefällt. Haben wir doch ebenjo gut ein äjthetijches Gewifjen 
als ein moralijches! Freilich fann es durch die Ungunjt der Ber: 
bhältniffe dumpf und ftumpf werden, aber unterdrüden läßt es fich 
ebenjo wenig als jenes. Das tiefinnerjte Wejen der Schönheit 
bleibt ich gleich im Wandel der Zeiten, aber wir ändern uns, wir 
ganz allein. Im Aufundabwogen der Entwidlung, von Jahr: 
hundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk, von Glaube zu Glaube 
war der Begriff, den man ſich von der Schönheit machte, bis zu 
einem gewiſſen Grade veränderlich, je nachdem das äjthetijche Ge: 
wiſſen reiner oder trüber im Menjchen lebte. War es nicht da$- 
jelbe mit Gut und Bös? mit unjerem moralijchen Gewiſſen? Wie 
oft jchwanft es bei der Beantwortung verwidelter pjychologijcher 
tagen. Sollte den jchwierigen Räthſeln unſerer mannigfaltigen 
Kunſt gegenüber das äjthetijche Gewiſſen ſtets jicher gehen? 

Am unbefangenjten jtehen wir vielleicht dem Porträt gegen 
über, denn der Menjch bezieht jeden Begriff vor Allem auf jich 
jelbit. Dem Bild einer Perſon gegenüber, das ſonſt nichts will 
als ähnlich jein, wird uns der eigene Schönheitsbegriff am leich- 
teten flar. 

Wirft man einen Blid auf die Gejchichte der Porträtfunit, jo 
iallen uns zuerjt die masfenartig gemalten Gejichter auf den 
ägyptiſchen Mumien in die Augen. Die Griechen fanden es bereits 


448 Die Pflicht zur Schönheit. 


geichmadvoller, den menjchlihen Körper in Stein zu hauen und 
Alles an jeiner TDaritellung nad einem edlen Maße zu ordnen. 
Vielleicht beitand zwiichen Modell und Kunijtwerf nur Familien— 
ähnlichkeit. Das Bedeutende blieb, während das Zufällige unter- 
drüdt wurde. An den Sofratesföpfen fann man das Verhältniß 
der Griechen zum Häßlichen jtudiren. Die Materie wurde vom 
Geifte bezwungen und der Ausdrud eines leuchtenden Beritandes 
wußte die Fehler der Form zu bejiegen. Die Römer ſchwankten 
bereitö zwijchen fonventioneller Schönbildnerei und kraſſem Realis- 
mus, aber ihrem Wejen lag die Hauptgefahr aller Porträtfunit 
fern, der Hang zum Sleinlichen. Das frühe Mittelalter zeigt uns 
in Miniaturen und Grabjteinen eine traurige Kunit. Ein unflares 
Schönheitsgefühl war allein aus allem Reichthum vergangener 
Zeiten übrig geblieben. Schier götzenhaft jteht in Ravenna die 
Gejtalt der Gala Placidia vor uns. Man hielt es jogar für 
nöthig, mit findiicher Hand ihren Namen beizujchreiben, denn 
erfennen fonnte jie Niemand. Auf den meiiten Grabplatten ver: 
mist man jedes Schönheitsgefühl, es jei denn, es habe jich in . 
jenen Ausdrud tragiicher Stille geflüchtet, den die fromm ge- 
falteten Hände und die jtreng anjchliegenden Gemwänder verleihen. 
Ein bedeutender Fortjchritt liegt in den individualifirenden Dar: 
jtellungen der Donatoren auf manchem SHeiligenbild des Mittel: 
alters. Sie jind mit Wahrheitsliebe und einer gewiljen Lebens— 
freude gemalt; der unbedeutendite Ausdrud iſt oft durch den Ernit 
aufrichtig frommer Gejinnung veredelt. Immer mehr bejtrebt jich 
der Künſtler, jeine Bejteller „ſchön“ zu malen und in beſſeren Ein- 
Hang mit der himmlischen Umgebung zu bringen. Kühnen Muthes 
brachen die Italiener mit der Tradition, jie jahen das Herrlichite 
auf Schritt und Tritt und hielten die menſchliche Schönheit für 
würdig, göttliche Gedanken zu verkörpern. Frei behandelte man 
das Heiligenbild, nur dem Geſetze des Schönen gehorchend, frei 
das Bildniß des Menjchen, der damals als Selbitzwed und Mittel: 
punft der Erde galt. Der Sage nad jah Gott am letten Tage 
der Schöpfung mit Befriedigung auf dieje Krone des Werks und 
mit Ehrfurcht ging man daran, e8 dem Ebenbilde würdig darzu— 
jtellen. Leonardo da Binct gab in jeinem „Trattato della Pittura* 
die Negel, ein Porträt habe den leibhaftigen Menjchen in einem 
vortheilhaften Augenblid zu bringen. So malte Raphael Julius 
den Zweiten. Der wilde Charafter des wie ein Landsfnecht 
fluchenden Papſtes jpricht aus jedem Zuge, aber die innere Größe 


Die Pfliht zur Schönheit. 449 


des Freundes von Kunjt und Alterthum it nicht vergefjen. Das 
Gefühl, dem Bilde eines bedeutenden Mannes gegenüber zu jtehen, 
erfüllte uns, wüßten wir auch nichts von ihm und jeinen Thaten. 
Raphael blieb mit jeinen Porträts in den Grenzen jchöner Menjch- 
lichfeit. Ueber fie hinaus führte uns Michelangelo mit dem wunder: 
baren Standbild des Lorenzo Medici „il pensieroso*“. Niemand 
folgte ihm in dieſer heroiſchen Darjtellung des Einzelnen. Auch 
in germanijchen Ländern befolgte man die Regel des großen 
Leonardo. KLeuchtend und jchönheitsdurjtig glänzen Dürer3 Augen 
auf feinem wunderbaren Selbjtporträt und wir möchten gerne jedem 
biederen Niederländer auf Rembrands Bildern die Hand drüden. 
Schön dünkt es ung, van Dyfs Damen die feinen Fingerjpigen zu 
küſſen. Doch jelbit die allzu zierlichen Züge der Herren und 
Damen auf den Rokokoporträts berühren nicht unangenehm, er: 
innern fie doch an das reizende Plaudern jener Zeit, an das Be: 
itreben, liebenswürdig und geijtreich zu fein. Es wird erzählt, daß 
gewijie Maler im vorigen Jahrhundert mit fertigen Bildern, denen 
nur der Kopf fehlte, von Schloß zu Schloß zogen. Wie fommt 
es, daß troß jolcher Handwerfsmäßigfeit die jogenannten Ahnen: 
bilder meiſtens den Eindrud jtiller VBornehmheit machen? Sie 
ftören nicht, bewohnen würdig unjere Näume und wir jehen gern 
in ihre Eugen, freundlichen Züge. Gemijjen modernen Malern 
blieb es leider vorbehalten, unangenehme Porträts zu malen, bald 
nebelhaft verjchwimmend, bald von beängitigender Unruhe, bald 
erjchredend brutal oder nichtsjagend wie Wachsfiguren. 

E83 gäbe viel weniger Unfinn auf der Welt, wäre man über 
die urjprüngliche Bedeutung gewiſſer Schlagworte im Klaren. 
„Konventionell* heißt der Popanz, mit dem viele tunjtjünger von 
der Bahn des Schönen abgejchredt werden. Konvention (das heißt 
Uebereinfommen) ijt e8 freilich, wenn man mit apodiftifcher Sicher: 
heit behauptet, eine Naje 3. B. müſſe griechifche Form haben, um 
Ihön zu fein. Aber ebenjo fonventionell it es, wenn man unter 
Künstlern übereinfommt, daß es nicht erlaubt jet, etwas Herz— 
erfreuendes zu malen. 

Bon einer italienischen Landſchaft entzüdt, jagte eine Dame 
zu einem modernen Maler: „Das ijt schön, das jollten Ste malen!“ 
Ernithaft antwortete er: „Das fann ich nicht, das iſt ja gar nicht 
wahr.“ Einem blauen See die Wahrheit der Erjcheinung, Die 
Berechtigung der fünjtleriichen Wiedergabe abzujprechen, um Wahr: 
beit und künſtleriſches Intereſſe etwa dem Startoffelfeld allein zus 

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 8. 29 


450 Die Pfliht zur Schönheit. 


zuerfennen, jollte dies nicht fonventionell jein? Der blaue Ze 
und das Kartoffelfeld find beide wahr und mindeſtens gleichberechtigt 
vor der Kunit. 

Eine jeltfame Erjcheinung im heutigen Leben iſt ein gewiſſer 
Hat gegen das Schöne. Es ijt der Haß des Kraftlojen, der in 
jeiner Ohnmacht den Gürtel der jpröden Wunderjungfrau nicht zu 
löjfen vermag und es dem Sonntagsfind mikgönnt, Kraft und 
Willen in jich zu tragen. Aber das Sonntagsfind iſt zumeilen der 
dumme Hans und läßt ſich von Neidlingen aufjchwägen, es wäre 
eines Mannes würdiger, Jungfer Schönheit fahren zu lajien, um 
einer plumpen Dirne nachzulaufen. 

„An und für fich iſt Nichts jchön. ES wird erjt jchön durd 
Die Art, wie e8 gemacht wird.“ Auf diefen Sat aus Platos 
Gajtmahl bauten die modernen Realiſten ihre Theorien und 
ichufen eine Stilrichtung, die unter der Yajt der Wahrheit die 
Anmuth vergaß und in der Wahl des Stoffes oft eine Ge 
jchmadlofigfeit fundgab, die lebhaft an die pathologijche Seite 
des Affekts in den Marterdarjtellungen der Maler vom Ende 
des jechzehnten Jahrhunderts erinnerte. Damals gab es Myſtiker 
und WBathologen unter den Künſtlern wie heute, weil Dinge 
dDargejtellt werden jollten, die malerijch nicht faßbar waren. An 
und für fich iſt freilich nichts jchön, aber e8 muß den Keim zur 
Schönheit enthalten, wenn aus ihm durch vollendete Technik ein 
Kunſtwerk im heiligjten Sinne des Wortes werden joll. Nur ein 
Meiſter wie Nembrand vermag aus einer anatomischen Szene 
etwas künſtleriſch Großes zu jchaffen. Das Genie überwindet 
einen Stoff, an welchem Talente elend zerjchmettern. 

sm Mltertdum und in der Nenaifjance juchte man den 
Stoff für die bildende Kunſt vor Allem im Körper des Menichen, 
uns bietet ihn das gejammte Weich der Natur. Schon im 
vierzehnten Jahrhundert wich der goldene Hintergrund der 
Heiligen einer Landjchaft und die Heimath des Künſtlers gab 
die Folie für das Legendenbild ab. Pinturicchios Darjtellungen 
des damaligen Rom in den Borgiazimmern find von glänzender 
Farbe und wundervoll zu den bibliichen Szenen gejtimmt, 
aber jie jtehen wie die Dekoration im Theater gegen die 
Figuren zurüd. Erſt die Kunjt des neunzehnten Jahrhunderts 
hat die Yandjchaftsmalerei zu ihrer jetigen Bedeutung erhoben. 
Dies beweiit, daß unjere Zeit troß allen gegentheiligen Be: 
bauptungen ein jtarfes Gefühl für die Lyrif befigt. Denn der 


Die Pflicht zur Schönheit. 451 


Reiz einer ſchönen Landſchaft ruht in der Stimmung, fie it das 
Yied in der Malerei. 

Seine Liebe und jeinen Haß, jeinen Zorn und jeine Hoffnung 
will man aus den Berjen des Dichters heraushören, jeine 
Stimmungen joll man in den Naturjchilderungen des Landjchafters 
wiederfinden. In den Zeiten: Claude Yorrains und Pouſſins 
bedurfte man der Stilifirung. Die Natur an jich jagte den 
Menjchen nichts, ehe jich die allgemeine Umwandlung der Gefühle 
in Rouſſeaus „Konfejlions* fryitallifirt hatte. Die Leute aus der 
Biedermeierzeit und ihre Nachfolger verlangten die gemalte jchöne 
Ausficht ohne inneres Empfinden und unjere Stürmer und Dränger 
juchten in einem künſtleriſch aufgebaujchten Gegenjag zu jenen 
mit einem möglichjt häßlichen Stüdchen Erde und den gewagteiten 
‚sarbenfombinationen myſtiſche und jymbolische Gefühle zu er: 
weden. 

Jetzt endlich jcheint man auch auf diefem Gebiete die Pflicht 
der Schönheit zu erfennen. Sch habe in einer modernen unit: 
ausitellung eine Landſchaft bewundert voll holder Einfalt und von 
überzeugender Wahrheit wie ein Heinejches Gedicht. Ein reifendes 
Kornfeld vom Walde umrahmt, tiefblauer Sonnenhimmel und 
hoch in der Luft eine einjame Gabelweihe. Frieden und Sonne 
lag über diejer Yandichaft. Frieden und Sonne jenfkte ji) in das 
Herz des Schauenden. Ein jolches Bild im Zimmer zu haben 
it ein Glüd. Vom Kunſtwerk muß eine jchöne erhebende Stimmung 
ausgehen, erfüllt es jeinen Zwed, uns das fleine alltägliche Leid 
vergeſſen zu lajien. 

Die Epigonen unjerer Klajjifer und die fraftvollen Männer 
aus den FFreiheitsfriegen hatten ihr Augenmerk hauptjächlich auf 
das Nützliche gerichtet, ihnen genügte der Deldrud über dem 
Plüjchjopha in der Miethsfaferne. Unter dem Freiheitsgefühl 
der politifchen Menjchen war der Sinn für die Schönheit eriticdt. 
Wir genießen die Früchte ihrer Arbeit und in uns entwidelt id) 
langjam aber jicher das Gefühl: Alle bildenden Künſtler, mögen jie 
Häufer und Kirchen, Bahnhöfe und Iheater bauen, mögen jie 
Denkmäler errichten oder Statuetten für unjere Zimmer jchaffen, 
mögen jie gewaltige Flächen mit Fresken ſchmücken oder uns ein 
feines jtimmungsvolles Interieur geben, haben die einzige Pflicht, 
Dinge zu jchaffen, die an ſich jchön, ihren Zweck und ihrer Um— 
gebung entjprechend auf uns — empfindende und gejchmadvolle 
Menjchen — wohlthuend wirken. 

29% 


452 Die Pflicht zur Schönheit. 


II. 

Eine Dijjonanz, die an ſich unjer Ohr verlegen würde, wirft 
Schön durch die Art ihrer Auflöfung. Wenn jchreiende Gegenſätze 
harmonisch ausklingen, find jie Fünjtlerijch verwendbar, denn in der 
Dichtung it nur das Hoffnungsloje abjolut häßlich. 

„Lasciate ogni speranza“, jagt Dante, ehe wir die Hölle 
betreten und jpricht in diejen einfachen Worten die höchjte Qual, 
das Entjeglichite des ewigen Verderbens aus. Unjer Dajein tft in 
der Hoffnung begründet. Sie iſt das pojitive Gefühl in uns, 
Lebensnerv und Triebfraft, ohne die wir rettungslos dem phyfiichen 
und geijtigen Untergang geweiht wären. Der hoffende Menjch will 
Schönes jchaffen und jchön jein. 

Wenn durch eine Dichtung die Hoffnung zittert, und jich die 
Wahrheit mit vollendeter Form vereinigt, dann ijt fie abjolut jchön 
und wird auf uns als relativ jchön wirfen, jo lange ihre Hoffnung 
in ung einen freudigen Widerhall findet, jo lange uns ihre Wahr: 
heit als wahr erjcheint. Je weniger Tendenz; und je mehr wirk— 
liches Leben ein Werf enthält, dejto länger fann es veritanden, 
bewundert und geliebt werden. 

Was und — jolange wir Kinder waren — äußerjt werthvoll 
erichien, belächeln wir heute und, was uns heute als höchſtes Ziel 
vorjchwebt, erjcheint uns jpäter vielleicht wenig erjtrebenswerth und 
gering. Der Alltagsmenſch iſt veränderlich wie die Wölfer, Die 
Woche ungleich wie das Jahrhundert, aber durch den Einzelnen 
wie durch die Nation, durd) den Tag, wie durch die Zeiten flutet 
der gleiche eleftrijche Strom, die Hoffnung, die uns das Bewußtjein 
giebt, daß etwas Bejjeres, Schöneres unjerer wartet, die ung Die 
Pflicht auferlegt, dem Guten und Schönen näher zu fommen. 

Das Ideal einer Zeit jchlummert in allen ihren Kindern und 
wird zuerit in den freien Dichterijchen Naturen gewedt, die im 
Stande find, ihm Form und Ausdrud zu verleihen. In Homer 
und Sophofles zeigt fi) das Wollen und Leben der Griechen, in 
der platoniichen Geſtalt des Sofrates ihr philojophiicher Getit, 
in der Bibel leuchtet das tiefe, orientalijche Denken der Juden, aus 
der Edda jtrömt uns die jalzige Seeluft des Nordens entgegen und 
aus Allen die Hoffnung nad Schönheit verlangender Menjchen. 

Unjere Dichter, die jich theils aus VBejcheidenheit, theils um 
einem ſtatiſtiſchen Bedürfniß zu genügen, Schriftiteller nennen, haben 
das Glüd, Dank der fortgejchrittenen Kultur überall her jchöpfen 
zu fünnen. Die Welt liegt wie eine Yandfarte vor und aus 


Die Pflicht zur Schönheit. 453 


gebreitet und wir fönnen in einem Jahr verjchtedenartigere Eindrüde 
in uns aufnehmen als unjere Vorfahren in einem Lebensalter, aber 
die bejchaulie Muße fehlt ans; Gedanken, Anregungen, ein 
Ktinematograph wechjelnder Bilder jtürmen auf uns ein, doc) wir 
fönnen nichts in uns behaglich ausreifen lajien. Das fojtbarite 
Hut, die Zeit, ıjt im neunzehnten Jahrhundert abhanden gefommen. 
Darın liegt vielfach der Verluſt an Schönheit begründet. Eile 
verträgt jich nicht mit einer abgerundeten Bewegung, Eile jchadet 
dem Dichter, verfaßt er jein Werf, Eile vernichtet die Wirkung des 
Werfes, überfliegt es der Lejer, jtatt e8 zu genießen. Ueberhaſtetes 
Treiben erniedrigt den Menjchen zur Ameije und nimmt ihm Die 
Freude am Lebensgenuß, die Freude am Schönen. e breiter die 
Maſſen werden, deren Anjpruch an ein jogenanntes, bejjeres Da: 
jein den Zug der Zeit immer demofratijcher geitaltet, dejto jchwerer 
wird es, einem Ideale zu dienen. Wie jich der Standpunft von 
Dichter und Publikum langjam dahin veränderte, läßt jich am 
beiten an den dramatijchen Werfen verfolgen. 

Als in Religion und myſtiſcher Schwärmerei die einzige Trieb» 
fraft des Lebens jtedte, erjchöpfte jich die dramatiſche Kunjt in 
geiftlichen Spielen. Die Kirche herrjchte über das ganze Dajein, 
ihrer gebieterijchen Hand ordneten jich die Künjte unter. Prächtige 
Höfe traten in den Vordergrund, das Leben wurde immer ges 
waltiger in jeiner äußeren Entfaltung und wenig jpäter, als unter 
Päpſten und Medicäern Michelangelo und jeine ZJeitgenojjen Ewiges 
ichufen, brachte am Hofe der Königin Elifabeth Shafejpeare die 
Tragödie der Staatsaftion zur höchjten Vollendung. 

Der Drang nach Bildung wurde allgemeiner, revolutionäre 
Ideen bemächtigten jich, durch die Enzyklopädiſten angeregt, der 
Menjchen und Beaumarchais griff in jeinem Luſtſpiel „Figaros 
Hochzeit“ mit Fräftigem Spott die Zitten der damaligen Macht: 
haber an. Das erjte politische Tendenz-Lujtipiel war gejchaffen. 
In Deutjchland hielt Schiller mit jeiner fräftigen „Louiſe Millerin“ 
der Welt den Spiegel der Wahrheit vor Augen und jchuf das erite 
bedeutende bürgerliche Trauerjpiel. Doch ihn und jeinen glüdlichiten 
Nachfolger auf diejem Gebiet, Hebbel, verließ nie die tragiſche Größe 
und fie vermieden es, durch Eleinliche Züge eine faljche Wirklichkeit 
zu erzeugen. Das Leben darzujtellen, wıe es uns umgiebt mit 
jeinen fleinen Mühen und Xajten, mit den blauen Flecken, die ung 
ein Stoß an die Kante verurjacht, ohne die Grenzen der Schöne 
heit zu überjchreiten, it eben nur mit Humor möglich. Ein Didens 


454 Die Pfliht zur Schönheit. 


fann Dinge bejchreiben, die einem Tragifer verjchlofien find. 
Freilich geht das alltägliche Leben jeinen gleichmäßigen Gang, 
während jich die Charaftere immer jchroffer gegenübertreten und 
ſich die Kataſtrophe entwidelt. Die Uhr jchlägt ihre Stunden un: 
geachtet der Qualen und Freuden in der menjchlichen Brujt. Aber 
wie man jic) das Leben vergällt, wenn ſich die Stimmung durch 
jede jtörende Kleinigkeit und durch jeden förperlichen Schmerz ver: 
derben läßt, jo jchwindet aus der Dichtkunſt der Hauch von Poefie 
und Größe, wenn uns jtatt fortjchreitender Entwidlung interejjanter 
Menjchen und Handlungen nur ein noch jo fein beobachteter 
Ausschnitt aus dem täglichen Leben geboten wird. Hoffnungslos 
gemein jind ſolche Einblide gar oft, fie erjchüttern uns nicht, ſie 
efeln uns an, wir jehen nirgends eine wohlthuende Auflöjung vor— 
bereitet, wir hören nur Diſſonanzen und jehnen ung nad) Schön: 
heit, denn wir verlangen nad ihr. Iſt doch das Schönheitögerühl 
ein mächtiger Unterjchied, der uns — die Menjchen allein — aus 
allen übrigen Gejchöpfen heraushebt. 

Hätten wir überhaupt eine Kunſt ohne den Trieb zur Schön: 
heit? Hätten wir ein Ideal ohne den Begriff des Schönen? 

Was in uns an edleren Empfindungen jchlummert, wird ge— 
wedt durch dieſe Wirfung auf uns und Die reine Freude jteht 
bimmelhoch über allen jinnlichen Genüfjen, denen das Thier mit 
gleicher Luſt zu fröhnen vermag. 

Wer im Theater nichts verlangt als den Kitel überreizter 
Nerven, wer in der Venus von Medici nichts Anderes jieht als 
das jchöne Weib und nichts als die eigene ungejunde Phantajie 
mit den Werfen der Dichter zu nähren jucht, it ein Barbar, 
ichlimmer als jene, die mit frevelnder Hand Statuen zertrümmerten 
und Tempel verbrannten. Er jteht nicht höher als Tieks berühmter 
„geitiefelter Kater“, der den Tönen der Nachtigall laujchend jich 
bereits die Schnauze nach dem herrlichen Braten ledte. 

Wie fann aber ein Werk, das im Gemeinen wurzelt, den 
Menſchen erheben, wie fann die ausschließliche Darjtellung niedriger 
Xeidenjchaften und armjeliger Schmerzen ohne Hoffnung auf 
Löjung, ohne Strahl göttlicher Größe die Ziele eines Kunſtwerks 
erreichen ? 

Seit Plato jeine Gedanken über „to xaAsv xar dyadsv' nieder: 
gejchrieben, gehören das Gute und Schöne in edler Vereinigung 
zujammen und jind nur dadurch getrennt, daß die Freude am 
Guten in jeiner Wirfung liegt, die Freude am Schönen aber in 


Die Pfliht zur Schönbeit. 455 


ihm jelbjt. Die gute That gefällt in ihren Erfolgen, das jchöne 
Werk erfreut uns einfach durch jein VBorhandenfein. 

Die Flügel der Seele wachen und feimen beim Anblid der 
Schönheit, jagt Plato, und jie jollen uns hinübertragen über Ge- 
brechen und Krankheit, über Schmuß und Elend, über rüdjichtsloje 
Semeinheit und niedrige Streberei. Das alles giebt es freilich 
überall in reichem, überreichem Maße und wer es leugnen wollte, 
ijt ein Narr und wer es als Künftler unterdrüden wollte, wäre 
ein Idealiſt, der den Boden unter jich verloren hätte. Aber über 
dem häßlichen Gewürm blüht die Blume und neben dem Schatten 
des Lebens leuchtet eine herrliche, glüdjpendende Sonne. Nur 
wenn man Dunfel und Licht einander gegenüberjtellt, wie jie draußen 
auf der Straße, draußen in der weiten Natur ineinanderfließen, 
ichafft man ein Kunjtwerf, das Wahrheit und Schönheit mit ein: 
ander vereinigt. In der Photographie fehlt Farbe und Wärme, 
in der genauen Schilderung einer Bauernjtube auf moderne Art 
fehlt der würzıge Hauch, den die Menjchen hineintragen, fommen 
ſie aus Gottes freier Natur. 

Schönheit ijt nicht Gejchmadjache, obwohl ſich mit den An: 
jchauungen das Urtheil über fie ändert, jie wirft immer über: 
wältigend auf empfängliche Gemüther. „La beaute est composee 
d’un jugement et d’un sentiment, enveloppes l’un dans l’autre. 
(Cousin, fragments philosophiques). 

In der Natur liegt fie latent — wie alle großen Kräfte — 
der Menjch allein it im Stande, jie zu empfinden und durch 
Intuition zu erweden. Aber nach Plotin bemerken nur jchöne 
Seelen die Schönheit, für Andere ijt jie eine jchlummernde Kraft 
ohne Nuten und Werth. 

Verjpüren auch einige Künjtler-Naturen das Vermögen in jich, 
zu eigener Freude und zum Frommen der Andern mit einem 
Schönheitsideal vor Augen zu jchaffen, jo verhallt ihre Stimme 
umjonjt, wenn jie fein Echo findet. Bon Alters her wurde Die 
Schönheit mit dem Lichte verglichen und der betende Menjch neigte 
fi) vor der Sonne. Aber der Sonnengott, der jtrahlende Helios- 
Apollon, war der Bater der Mujen. 

Licht jet die Kunjt! In der Welt unjerer Empfindungen und 
Gedanken eine jtrahlende Sonne, die Yeben verbreitet, Wärme und 
Luft, wie das Tagesgejtirn auf unjerer armen Erde. 

Mag der tiefe Realismus eines Spinoza oder der oberflächliche 
Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts im Schönen nur einen 


456 Die Pflicht zur Schönheit. 


angenehmen Reiz der Empfindungsorgane entdedt haben, uns jet 
e8 wieder innere Freude und Gebet und das Wort „jchöne Literatur“ 
flinge nicht mehr wie ein Hohn auf die Schilderungen der hoffnungs= 
lojen moralischen und phyſiſchen Verkommenheit, jondern werde 
zur Wahrheit! 

Die Schönheit jollte und könnte wie die Liebe bis ins Kleinſte 
dringen, wir müßten fie täglich, jtündlich genießen, wollten wir 
Menjchen im höchjten Sinne des Wortes werden. Nicht eine 
Sammlung fonventioneller Bollfommenheiten ijt wahre Schönheit. 
Ich las einmal in einem Märchen, wie jich Hans ein Weib wünjchte 
mit Lippen wie Korallen, Wangen wie Milch und Blut, und Haaren 
wie Gold. Doch all’ die machte das Weib nicht jchön, denn als 
es dor ihm jtand in der Pracht der verlangten Eigenjchaften, wollte 
es ihm fajt wie ein Ungeheuer erjcheinen. 

Nicht jolche fonventionelle Dinge bilden die Schönheit der 
Frau. Wenn jtatt indischer Gefalljucht ernite heilige Ueberzeugung 
jie beherrjcht und in ihr die Pflicht lebt, jo jchön als möglich zu 
jein, wird jede Geberde und jede Bewegung zur anmuthigen Ber: 
föürperung edler Gedanken, ihre Sprache und ihr Lächeln behalten 
den Zauber der Jugend über die Jahre hinaus. Bittoria Colonna 
war eine alte Frau, als jie jtarb, aber wie jchön mußte fie zu 
jein verjtanden haben, daß ein Michelangelo in Verzweiflung ihre 
Hände fühte und fich vorwarf, daß er nicht den Muth gehabt, auch 
die jchöne Stirn zu berühren, vielleicht die Lippen, von denen jo 
viele anmuthige Worte geflojien. 

Wir haben jet taujend Mittel mehr als früher, die Schönheit 
zu fajjen und zu erwerben. Wie ein ftolzer König jeine Braut 
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit führt, fann der Menjch in gerechtem 
Stolze zeigen, was er auf Erden vermag. Er hat mit der Natur 
im Wetteifer gejchaffen und die Welt, die er jic gebaut, braucht 
jih vor dem Borhandenen nicht zu jchämen. Was jind Die 
jchönjten Tropfjteine gegenüber den jteinernen Wundern der Gothif, 
wie armjelig jind die wilden Früchte im Vergleich mit den berr- 
lichen form: und farbvollendeten, die der Menjch zu erzielen ver: 
ſteht. Derjelbe Menſch, der Stoffe in allen Farben des Regen 
bogens weben fann, jchillernder, jchimmernder als die Fügel der 
Libelle und des Schmetterlinge. Ja! wir find gewaltige Zauberer! 
Mitten im Winter haben wir gelernt, alle Blüthen des Frühlings 
eritehen zu lajjen, um unjer Leben mit ihnen zu jchmüden. Aus 
der einen Gentifolie find hunderte von Roſenarten entjtanden, jede 


Die Pfliht zur Schönheit. 457 


für ji) ein Märchen an Schönheit und Duft. Der Mann, der 
uns um eine Blume bereichert, verdient größere Bewunderung als 
der Erfinder eines neuen Geſchützes. Wir jind Zauberer, Könige 
auf Erden, Göttliche wohnt in ung. Vergeſſen wir das nicht! 
Seien wir zu jtolz, um Häßliches und Gemeines zu ertragen! 
Empören wir uns gegen die Häßlichfeit und jehen wir nicht mit 
jeiger Gleichgültigfeit zu, daß die Ehrfurcht vor der Schönheit ab» 
nimmt, die Freude an ihr verblaßt, daß jchöne alte Gebäude an— 
geblicher Nüslichkeit weichen und das Stleinod idealer Gejinnung 
mehr und mehr aus dem Herzen unjerer Zeitgenojjen jchwindet. 

Je mehr das Schöne aus alter Zeit vergeht, dejto roher wird 
der Gejchmad, denn unjer Gemüth verlangt Anfnüpfen an das 
Beitehende und verbietet uns, mit der Vergangenheit zu brechen. 
Ohne Gemüth ift jedes Werk der Nohheit verfallen. Aber das 
eigenfinnige, Eleinliche Feithalten an der Tradition wird ebenſo— 
wenig ein wahres Kunjtwerf hervorbringen als die franfkhafte 
Sucht nad) Originalität. Der Menjch muß Lehrling, Gejelle und 
dann erjt Meijter werden, die Augen immer mit Andacht nad) der 
Göttin Schönheit gerichtet. 

Wehe den faljchen Propheten, die uns zurüdjführen möchten 
in die Finjternig unter dem Vorwand, das Leben dürfe nicht jchön 
jein und biete nur Naum für nütliche Arbeit. „Sinjterlinge“ 
nennen die ruſſiſchen Bauern jelbjt ihren vermeintlichen Freund 
Tolſtoi und dejjen Jünger, die eine Rückkehr zu primitiven Sitten 
mit Wort und That predigen. „Wie“, jpricht der praftijch ur= 
theilende Bauer, „diefer Mann, unjer Herr, iſt durch die Gunit 
des Himmels und das Glück feiner Ahnen reich) geworden. Er 
fünnte Kirchen bauen und Gärten anlegen zu Stolz und Zier der 
Gegend, er fönnte für unjere Jugend Muſik jpielen laſſen und 
Märchen erzählen, aber er zieht es vor, Stiefel zu fliden und Holz 
zu jpalten. Er will in unjere Finſterniß hinunterjteigen, als ob 
es Dadurch bei uns heller würde.“ 

Sp lautet das Urtheil über jold) jonderbare der Schönheit 
und Kunſt jpottende Schwärmer. Ein gejund empfindender Menjc) 
fann fic) ohne Neid an allem Schönen erfreuen, fann er es auch 
nicht als Eigenthum erwerben. Was mein Auge und mein Ohr 
ergößt, it mein. Doch hätte ich um theures Geld das Eojtbarjte 
Stunjtwerf befommen und jtände ohne Verſtändniß davor und liebte 
es nicht und ließe nicht Andere an meiner Freude theilnehmen, 
dann gehörte es mir nicht wirflic) trog meines Kaufvertrages. 


468 Die Pflicht zur Schönheit. 


Es iſt menſchenunwürdig, wenn Einzelne praſſen wie Lucull. 
aber ebenſo unwürdig, die ſchwarze Suppe der Spartaner für alle 
kochen zu wollen. Das Mädchen Griechenland iſt nicht unſterblich 
wegen des eiſernen Ringes Sparta, den es am Finger trug, 
ſondern wegen des Zauber-Goldreifs Athen. 

„A thing of beauty is a joy for ever.“ (Keats.) 

Wer dem Menſchen eine ſolche immerwährende Freude ſchafft, 
dem kann Vieles vergeben werden. Giebt es noch einſichtige 
Menſchen, die es nicht begreifen, daß Leo der X. während der 
Geſpräche mit Raphael und Michelangelo das ferne Grollen der 
Reformation überhörte? Schönheit macht uns zwar nicht zu 
moralijch vollfommenen Menjchen, aber fie bejjert ung und bändigt 
zuweilen den böjen Geift, wie Davids Harfe das Gemüth König 
Sauls. Das Höchite ift freilich, wenn die Liebe zum Schönen 
Eitelfeit, Ruhm und Gewinnjucht joweit zu zähmen vermag, wie 
bei jenem Tyrannen Demetrios, der die Eroberung von Rhodos 
unterließ, weil dabei ein Stadttheil in Flammen aufgehen fönne, 
der ein berühmtes Gemälde enthielt. 

Ihre Kunſtſchätze jollten eine Stadt wie Rom bejjer vertheidigen 
als die fleinen, elenden Forts, welche die Campagna verunzieren. 

Ehrfurcht vor der Schönheit, Freude an ihr, Fähigkeit, Be 
geiiterung zu empfinden, it das jchönjte Necht und eine gewaltige 
Pflicht der Jugend. Wer über jolches jpottet, der jpottet jeiner 
eigenen Menjchenwürde. Wie edel dachten jene Handwerfsleute in 
Florenz — die Genojjen der „arte della Jana“ — die Stein um 
Stein, Geldjtüdchen um Geldjtüdchen 'herbeitrugen, ihren Dom zu 
erbauen. Die Florentiner find uns überhaupt ein jchönes Beijpiel, 
bejonders als fie fingend und jubelnd Gimabue mit jeiner 
Madonna auf dem Wege nach Santa Maria Novella umringten, 
jo froh über das Ereigniß, es jei etwas mehr an Schönheit in 
die Welt gefommen, daß der ganze Borgo nach ihrem Jubel 
benannt ijt und noch heute „Borgo allegro* heißt. 

Sie ahnten unbewußt den großen Sieg, der darin liegt, daß des 
Menjchen Hand und Herz den jpröden Stoff zur Schönheit bezwungen, 
denn jie ijt nichts Meußerliches und Ueberflüſſiges in unjerem Leben, 
fie it ein hohes Gut, deſſen Beſitz zu erringen Menjchenpflicht it. 

„Weißt du aud, was die Schönheit fei? 

Sieh zu, ob ich's verfehle: 

Ein Gleichniß beut die Liebe mir, 

Sie geht vom Körper aus glei ihr 

Und endigt in der Seele.“ (Srillparzer.) 


Die Pfliht zur Schönheit. 459 


III. 

Unter Feuerbachs Einfluß jchrieb Richard Wagner: „Das Ziel 
it Der jtarfe und jchöne Menſch. Die Revolution gäbe ihm 
Stärfe, die Kunſt die Schönheit!“ 

St e8 auch nicht die Revolution im damaligen Sinne des 
Barrifadenfämpfers, jo it es doch eine Auflehnung gegen das 
Häßliche und Hoffnungslofe, die uns Stärke verleiht. Im Kampf 
fräftigt jich der Körper, jtählt ſich der Geiſt und wenn unjer 
Idealismus, Schönes zu jchaffen und e8 in einem fchönen Leben 
zu genießen, nicht fern in den Wolfen ein ewiger Traum bleiben 
ſoll, muß er zum Schlachtruf werden gegen die trübe Lehre des 
Häßlichen und Gemeinen. Im der Kunſt zeigt ſich das Leben mit 
feinen Zielen, die Anjchauungen einer Zeit jpiegeln ſich in Bild 
und Wort und, wer ein jchönes Werf aus feiner Gedanfenwelt in 
die Wirklichkeit zaubern will, muß verjtehen, in der Harfe des 
Lebens nicht Disharmonien, jondern Akkorde zu greifen. Wollen 
wir eine lichte Kunjt haben, jo müfjen wir die Heilung an unjerer 
Perſon beginnen, nur dem Schönen Einfluß gewähren und das 
Nüsliche mit dem Gewande der Anmuth befleiden. Ernjte Männer 
werden den Kopf jehütteln und den Mahnruf des Idealiften in der 
Hera der Majchinen und in den Zeiten der unruhigen Hajt vor: 
läufig belächeln, aber ihr Spott wird jchwinden, wenn fie den 
Werth des Schönen wirklich begreifen. Zieht Hoffnung in der 
Menjchenjeele ein, herrjcht Zufriedenheit, wenn auch nicht mit dem 
gegenwärtigen Zultand, jo doch mit dem, was man bei ruhiger 
Entwidlung erreichen fann. Nur zufriedene Menjchen verlangen 
darnad, ji) und ihr Leben zu jchmücden. Schönheit wird ihr 
Streben, Schönheit wird ihr Gedanfe. Sie find an Leib und 
Seele gejund und brauchen nicht in betäubendem Genuß franfe 
Nerven zu reizen, jondern empfinden am wahrhaft Schönen reine, 
glüdbringende Freude. Diejer Durſt gebildeter Menjchen wurde 
ihon oft unter dem Schlagwort „Rückkehr zur Natur“ zuſammen— 
gefaßt, it aber nichts Anderes als das zurücdgedrängte Bedürfnik 
nach Schönheit, der Wille des Samenkorns, den Stengel und die 
Blüthe zu treiben. 

Warum jo häßlich? fragen wir uns, wenn wir den überarbeiteten 
Schulbuben blaß, mit Brille und jchweren Büchern bepadt nad) 
Haus wandern jehen. Warum jo häßlich? wenn ein dicker Student 
mit zerhadtem Gejicht, aufgetrieben vom Biergenuß zur Kneipe 
geht? Die Schüler, die zu den Füßen der alten Bhilojophen 


460 Die Pflicht zur Schönßeit. 


andächtig laujchten, jahen anders aus. Die Männer, deren Jugend 
ein Hauch phyſiſcher Schönheit umwehte, blieben frijcher und jünger, 
als die armen biergetränften Bureaufraten unjerer Zeit. Wer 
prinzipiell die Vergangenheit bewundert, findet freilich nur Fehler 
in der Gegenwart, wer jedoch die eigne Zeit liebt, auf Die Zukunft 
vertraut und das Schöne verjchwundener Epochen nicht vergejien 
will, bedauert, daß dem einjeitigen, gewaltigen Fortjchritt der große 
Rückſchritt andererjeits gegenüberjteht. 

Die Kultur des Alterthums wurzelte unter einem Himmels— 
jtrich, der ein Yeben ım Freien ermöglichte, und der langjame Puls: 
fchlag der Zeit geitattete den Menschen, faltenreiche Gewänder zu 
tragen und in jchönen langjamen Bewegungen dahinzujchreiten. 
Bedurften jie der Ktraftentwidelung und Gelenfigfeit, warfen jie 
das Kleid ab. Sie waren jchön, was brauchten fie jich zu ſchämen. 
Eine Rückkehr zum antifen Gewand erlaubt weder unjer Klima 
noch die Art und Weije unjeres Lebens. Kohlenſtaub füllt die 
Luft unjerer Städte, und Hände, die früher der Bedienung des 
Einzelnen zur Verfügung jtanden, jchaffen jetzt mit gewaltigen 
Majchinen an der Heritellung von Meajjenartifeln. Das Nützlich— 
keits- und Gleichheits-Prinzip iſt der Schönheit feind, denn für Alle 
fünnen nicht Meiiterwerfe gejchaffen werden und wer nur auf den 
Gebrauchswerth der Dinge jein Mugenmerf richtet, betrachtet die 
Welt vom Standpunfte des Ihiers, nicht aber von dem des be: 
jeelten vernünftigen Gejchöpfes. 

Es fehlt weder an Mitteln noch an Kenntnijien, unjere Um— 
gebung viel jchöner als je zu gejtalten. Wann gab es Merzte, die 
dem Körper die gleiche Sorgfalt zu theil werden ließen als jest? 
Wann it in dunkler Nacht eine Lichtquelle hervorgezaubert worden, 
wie heute die eleftrijche Flamme? Wann war es möglich, das 
belebende Wort fajt gleichzeitig in allen Theilen der Erde zu verbreiten? 

Im Norden wenn Wind und Wetter über das Yand jagen, 
ſchmücken die jchönjten Blumen unjere Tafel, aber wir winden uns 
feinen Kranz mehr aus ihnen und legen ihn um unjere Stirn, 
denn wir würden uns lächerlich und grotesf vorfommen. Was wir 
aber als lächerlich empfinden, tjt der wichtigjte Unterjchied im 
Wandel der Sitten. Die Schönheit vergangener Zeiten eignet jich 
nicht mehr für die rußgejchwärzte Gegenwart nnd wir müfjen, auf 
der Bahn der Entwidelung fortichreitend, eine neue finden, die jich 
Eingang erzwingt in die Paläjte und Hütten, die unjerer Kultur 
und unjerer Gejchichte würdig üt. 


Die Pfliht zur Schönheit. 461 


Ein unruhiges Tajten macht jich jeit einigen Jahren bemerf- 
bar, man jucht dem Buch, der Wohnung, dem Gebrauchsgegenitand 
einen perjönlichen Stempel aufzudrüden, der das Verlangen nad) 
Schmud und Schönheit enthält, aber man vergißt die Hauptjache: 
ſich jelbit. Der Menjch, zu deſſen Füßen bezähmte Naturfräfte 
ächzen, dejjen Gedanke den Erdball beherricht, hat die Zeit und 
die Luft verloren „ſchön zu jein.“ 

Wir lachen über die vornehme Frau des achtzehnten Jahr: 
bunderts, die ſich noch auf dem Todtenbett pudern und jchmücden 
ließ und vergejjen, welches erhabene Pflichtgefühl fie zu Diejer 
äußeriten Anftrengung leitete: die Pflicht zur Schönheit. Wir 
jind im Kampfe des Lebens und in der Ueberfülle der Arbeit zu 
ernſt geworden, um klaſſiſcher Heiterfeit Eingang zu gewähren, 
deren größtes Ergebniß eine gejunde Seele in einem gejunden 
Körper it. Wur auf dem Boden diejer Gejundheit fann fich das 
Schöne entwideln, nur, wem eine fräftige Revolution gegen 
Krankheit und Unterdrüdung Stärke verleiht, wird in jeinem Da: 
jein Schönheit erreichen. 

Ihr Feind iſt vor Allem die Einjeitigfeit und das bejtimmte 
Ziel, deſſen fi) die Erziehung vom Knaben an jchuldig macht. 
Hat der Egoismus des Staates, Fräftige Soldaten zu erziehen, 
auch dem Turnen und Fechten Eingang verjchafft und bildet er den 
erwachjenden Süngling zum fräftigen Mann, jo verliert fich bei 
den Meiſten bald die Yujt an körperlicher Uebung oder wird im 
beinahe berufsmäßig betriebenen Sport zur Ueberanjtrengung, die 
den Menjchen ebenjo verhäßlicht wie das Gegentheil. 

Die Luft zu unnatürlicher Steigerung und die Sucht fich 
einander zu überbieten, nimmt unjerer Zeit den vornehmen 
Ausblidt auf das Ganze, das bejtändige Berdunfelnwollen 
einer fremden Sonne raubt uns die Freude am eigenen be— 
jcheidenen Stern. Wir müjjen die Welt wieder mit den Augen 
des Idealiſten betrachten, nicht zweifeln und fürchten jondern 
wollen und hoffen. 

Wie viel mehr Elend und Häßlichfeit gab es früher und wie 
erhob fich in immer mächtigeren Wellen die Fluth der Schönheit 
in der Mntife, der Renaiſſance und der deutſchen klaſſiſchen Zeit. 
Immer größer wurden die Streije, die der gewaltigen Göttin unter: 
lagen und wenn ſich jegt wieder Propheten regen, die vom Menjchen: 
thum mehr verlangen als Wifjen und Können, die im getjtigen 
Genuß des Gejchaffenen, in der Freude am Schönen allein ein 


462 Die Pfliht zur Schönheit. 


würdiges Ziel erbliden, jo liegt darin eine fröhliche Ausficht auf 
die Zukunft. 

Man hat von der politijchen Gleichheit und von der Wiſſen— 
ichaft ein neues reiche8 Leben erwartet und wurde enttäujcht. 
Die nationale Eitelfeit jollte Wunder wirfen und entflammte nichts 
als gemeinen Streit. In Habſucht und Interefjenfampf löſte ſich 
das einjeitige Leben für Handel und Induftrie. AU dieſe jorg- 
fältig gepflegten Objtbäume im Garten des Daſeins gaben nur 
Knojpen, die Wind und Regen vom te rifjen, während der ver- 
achtete Strauch in der Hede jich mit wunderbaren Blüthen bededte 
und nur weniger Pflege bedarf, um uns mit ſüßen Früchten zu 
überjchütten. 

Vom Baume der Erfenntniß zu ejjen war dem Menjchen ver- 
boten und er aß doch. Neben ihm aber blühte unbemerft der 
Strauch der Schönheit. 

Aus den Worten der Philojophen von den alten Indern und 
Plato bi8 zu den Denfern des heutigen Tages geht Elar und deut- 
lid) die Lehre hervor, mögen jie das Dajein des Schönen an fich 
leugnen, zerlegen und anerfennen, daß im reinen Empfinden der 
Schönheit der höchite Ausdrud des Menjchenthumes liegt, weil 
jih in ihr feine Befriedigung unjerer nothwendigen Bedürfnifie 
findet, jondern weil fie allein zu unjerer Freude dient. 

Sie jchlummert im Kinde, das in Feld und Wald Blumen 
jucht, jie zum Heinen armjeligen Strauße zu verbinden, jie rubt 
in den Anjchauungen niedrig jtehender Völker, die jich mit Mujcheln 
und Federn jchmüden und in ihre Haut bunte Figuren ätßen. 
Aber fie hat fich entwidelt und feite Negeln gewonnen und im 
griechifchen Ideal ihren höchjten Ausdrud gefunden, der jich den 
wechjelnden Zeitanſchauungen anjchmiegend in jeinem abjoluten 
Wejen nicht mehr verändert hat. 

Mögen uns Nörgler zurufen: ihr Idealiſten ſchwärmt für den 
Hermes des Prariteles und für die Venus von Milo, aber ihr 
jeht aus wie die Starifaturen in den fliegenden Blättern, ihr redet 
euch die Lippen wund über die Zeiten des Perifle8 und der 
Hypathia und jiht zwiſchen engen jchmudlojen Wänden aneinander- 
gedrängt ohne Raum und Zeit zur Entfaltung, ihr habt die Najen 
ın der Yuft und fallt in den Schmutzhaufen zu euern Füßen! jo 
antworten wir ohne Zögern: Wir haben einen Bejen in der Hand, 
vor unjerer Wanderung die Straßen auszufehren, unjere Kunſt 
wird die Wände jchmücden, jo jchön, vielleicht fchönee als früher 


Die Pflicht zur Schönheit. 463 


und unjere reiche Gedanfenwelt wird aus der Enge hinausjtreben. 
Der Wunjch jcehöner zu werden wird uns zur Erfüllung verhelfen. 
Alles it Wille im Leben und wer die Pflicht zur Schönheit ernit 
nimmt, fann jeinen Kräften entiprechend etwas erreichen, das durch 
das Gejammtwollen der Menge zum Ziele führt. Nicht Jeder 
muß Dichter oder Maler jein, aber Jeder kann Freude an den 
ichönen Werfen der Auserwählten empfinden. 

Daß unjer Dajein troß der großen Schäte, über die wir auf 
allen Seiten verfügen, mit Bewußtjein immer häßlicher geworden 
it, Liegt darin, daß wir in dem Bejtreben, reich zu werden, darauf 
verzichten, reich zu fein. Der moderne Menjch ift zwar ein Egoijt 
wie Die moderne Nation, aber es geht Beiden, wie der berühmten 
Frau Gilebeute in Göthes Fauſt, die in dem Verlangen, immer 
mehr und mehr zufammenzuraffen, die werthvolliten Stücke wieder 
aus ihrer Schürze fallen läßt. 

Das Yeben iſt kurz, doch es tt lang genug, um jchön zu jein, 
wenn wir unjere Wiünjche mit unjferem Können in Einklang zu 
bringen wijjen. Das Mädchen vom Lande iſt in feiner Tracht 
mit einem Sträußchen veralteter Gartenblumen an der Bruſt in 
jeiner Art ebenjo jchön wie die Dame im Glanze der Juwelen, 
aber die Bäuerin mit ihrem jonnverbrannten Gejicht iſt häßlich, 
wenn jie einen jtädtifchen Hut auf ihren Kopf jeßt, wie die alte 
Kofette, wenn fie fich mit jugendlichen Farben ſchmückt. 

Wie oft find es nur Nleinigfeiten, die uns die Freude am 
Daſein vergällen, geringfügige Dinge, die der Schönheit den Ein- 
tritt ins Leben verwehren, aber es fehlt die Gelegenheit oder der 
Sejchmad, jie aus unjerem Kreiſe zu entfernen. Die eritere zu 
ichaffen it Pflicht des führenden Theiles der Menjchheit. Geſetz— 
geber, Dichter und Künftler haben die große Nufgabe, außer dem 
Schädlichen das Häßliche zu entfernen nicht durch Verbot, jondern 
durch Beijpiel und Preis des Schönen. Wird das Häpliche hier: 
bei der Lächerlichfeit preisgegeben, um jo bejjer, denn nichts bildet 
den Gejchmad des Einzelnen und des Volkes leichter, als wenn 
man es lehrt an richtiger Stelle zu lachen. Keine Strenge und 
feine Strafe heilt einen Schaden jo gut als das bejchämende Ge— 
fühl der fomijchen Wirkung. 

Der Gejchmad aber ift die Krone einer langen Kulturentwick— 
lung und der Fluch der Emporföümmlinge liegt in jeinem ‘Fehlen. 
Durchaus individuell gehorcht er feinem Gejeh und wird, jo lange 
es Menjchen unjerer Art giebt, die wirkliche thieriſche Gleichheit 


464 Die Pfliht zur Schönheit. 


von uns fern halten. Gejchmad und Schönheit jind das Palladium 
unferer Kultur und Bildung, ftreng arijtofratijch dienen jie Den 
Beiten allein und werden immer den llnterjchted zwijchen den 
innerlich Hochjtehenden und der Maſſe bilden. Je weiter die Kreiſe 
werden, denen jie ſich offenbaren, deſto fortgejchrittener ijt unjere 
Welt und wenn fich wieder ein perifleijches Zeitalter vorbereitet. 
jo wird es fich nicht auf den Marftplag von Athen jondern auf 
die Gejammtheit der aebildeten Nationen erjtreden. 

Daß aber mitten in dem waffenjtarrenden Europa der ideale 
Gedanfe immer mehr um fich greife und dadurd) das Weich der 
Schönheit an Boden gewinne, jet Sorge Mller, deren Her; und 
Horizont über das Kaſſenbuch, den blauen Aftendedel oder die 
Spite des Säbels hinausgeht. Die Nenaijjance der Italiener und 
unjere Elafjiiche Zeit trafen zwar mit politiichem Niedergang und 
fremder Knechtſchaft zuſammen und man hört oft, die Größe Des 
Staates hindere die Entfaltung der Kunft, weil jie die erjten 
Geijter an das öffentliche Leben fejlele, aber im unabläfjigen 
Drang nach vorwärts, der uns die Waffe oder die ‘Feder, Den 
Hammer oder den Zirfel in die Hand drüdt, wird das Verlangen 
immer deutlicher: nicht nur nüßlich, jondern auch jchön, nicht 
wahr allein, jondern erhaben! 

Wer fein Talent daranfegt, den niedrigen Yeidenjchaften der 
Anderen zu dienen, und wer jeine Schäte an Zeit, Kraft und 
Verſtand vergeudet, Gemeines oder Häßliches, jei e8 zu jchaffen, 
jei es zu genießen, der gleicht jener Königin des Alterthbums, Die 
ihre jchönjte Perle in den weingefüllten Becher warf und ihrem 
Geliebten zum Tranfe gab. Der Wein ward nicht bejier und die 
Perle war verloren. 

Die Schönheit diene zum Schmud, nur dann erhebt fie uns 
über die Kämpfe des täglichen Lebens. 

Sm Traume wanderte ich einjt durch einen wunderjchönen 
Garten, Blumen dufteten auf allen Seiten und wendeten ihre 
farbigen Stelche der Sonne zu und Bögel jangen. 

Zwijchen dem Yaub der Bäume über blühende Sträucher 
hinweg jah man ins weite Land und mit gejchärftem Auge fonnte 
ich erfennen, wie der Yandmann friedlich jeinen Acer bejtellte und wie 
Schaaren fröhlicher Menjchen von ihrer Arbeit heimwärts wanderten. 

Sie waren jtarf und jchön. Man jah ihnen an, daß fie thätig 
waren, aber die Arbeit hatte nicht ihre Geitalt noch ihren Ausdrud 
verdorben. 


Die Pfliht zur Schönheit. 465 


Id) wanderte weiter und fam in einen Hain, in Ddejjen 
Schatten herrliche Statuen thronten. Sie ftellten Menjchen dar, 
fchön, wie ich ſie vorhin gejehen, nur noch edler, ruhiger — 
und nadt. 

Da weitete ji) vor mir der Hain, die uralten Bäume traten 
zurüd und vor mir lag, in NRojenbeete gebettet, ein Tempel. Es 
jtiegen Leute die Stufen hinan, ich jchloß mich ihnen an und fam 
in große, bildergejchmüdte Räume. Sc bemwunderte, denn Alles 
war jchön, wahr und einfach. Ic hatte das Gefühl, all dieje 
Werfe müßten jo und fünnten nicht anders jein. 

Und die Menjchen um mich bewegten fich, als wären ihre 
Bewegungen Muſik und, jie waren freundlich und jchienen froh. 

Da famen wir in einen Raum, in deſſen Mitte jtand ein 
Altar und vor dieſen trat ein Mann. Site jagten, er jet ein 
Dichter. 

Und er jprad: 

„Sterbliche, die ihr den Tempel der Schönheit betretet ...“ 


Da erwachte ich und wußte, daß ich von einem Fabelland 
geträumt hatte. Draußen aber durch den Sommermorgen riefen 
die Sloden und luden zu einem Gottesdienjt ein, der jo ſchön 
fein könnte und jo himmliſch, wenn nicht auch er allzu irdiſch 
geworden wäre. 

Der Traum eines Dichters ijt zu weit von der Wirklichkeit, 
um Wahrheit zu werden, aber jeine Gedanken verdichten fic zu 
Worten und jeine Worte erregen Sehnjuht in den Gemüthern. 

Pflicht it aber, daß beide zur Schönheit mahnen: Die Ges 
danfen und das Wort. 





Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 30 


Sven Hedins und Landors Reifen 
in S$nnerafien. *) 
Bon 
Paul Rohrbad. 





Die Erforfhung Innerafiens hat ihre größten Fortſchritte nicht 
jo jehr durch den rein geographijchen Entdedertrieb wie Durch die 
politijchen Bejtrebungen der Ruſſen und Engländer in jenen 
Gegenden gemacht. Ruſſiſche und englische Neifende find es auch 
bei Weitem zum größten Theil, denen wir die Erweiternng unjerer 
Stenntniß über das hohe Innere des Kontinents verdanfen — und 
zwar waren die Neifenden bezeichnender Weije meijt Offiziere und 
Beamte. Die beiden Unternehmungen, die den Gegenjtand diejes 
Berichts bilden jollen, fallen aus der Sphäre jolcher mehr politijchen 
Entdederthätigfeit heraus: jie jind von Privatleuten und mit 
privaten Mitteln ins Werf gejebt, und fie haben rein wijlenjchaft: 
lihen Zielen gedient. Sven Hedin, der Glüdlichere der beiden 
Neijenden, it Schwede; das Gebiet jeiner Forſchungen bildet das 
HBentrum der gewaltigen, abflußlojfen Gebiete Hochafiens, das jand: 
erfüllte einftige Meeresbeden zwijchen dem Thian-ſchan und dem 
Kwenlun, jammt feinen hohen Randlandjchaften. Landor, der vom 
Mißgeſchick Verfolgte, iſt Engländer und hatte jich die Aufgabe 
geitellt, nördlich) vom Himalaya, dem Laufe de8 Brahmaputra 


*) Sven Hedin, Durd Aſiens Wüſten. Drei Jahre auf neuen Wegen 
in Bamir, Yop«nor, Tibet und China. Mit 256 Abbildungen, 4 Chromo— 
tafeln und 7 Rarten. 2 Bände, Leipzig 1899, F. A. Brodhaus. Preis 
20 Marl. Henry ©. Landor, Auf verbotenen Wegen. Reiſen 
und Abenteuer in Tibet. Mit 202 Abbildungen, 8 Ehromotafeln und 
einer Karte. Dritte Auflage. Leipzig 1898. F. A. Brodhaus. Preis 10 Mt. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 467 


folgend, Lhaja, die unzugängliche, verbotene Hauptitadt Tibets, zu 
erreichen. Wenn man die beiden Männer nicht nad) ihren Erfolgen, 
jondern nad) ihrer perjünlichen Kühnheit und dem Opfermuth im 
Dienste ihrer Idee mißt, jo wird feiner von ihnen dem Andern 
nachitehen; nichtSdejtoweniger aber iſt Sven Hedin doch ohne 
Zweifel der bedeutendere, jtärfere Genius. Man fühlt ich jelbjt 
gegenüber jolchen wirklichen Bionteren der Forſchung, jolchen jtählernen, 
der Wiſſenſchaft ſich opfernden Charakteren Eein — jehr ein, 
auch wenn man jich jagen darf, daß man zu Wajjer und zu 
Yande ein Stüd von der Welt durchzogen und Gegenden fennen 
gelernt hat, die nicht häufig als Neijeziel dienen und bereit außer: 
halb jelbjt der Peripherie des europäischen ulturfreijes liegen. Immer: 
bin, gegen Hedin und Landor find das unerhebliche Ausflüge, 
und jelbit ein Monat unter den kurdiſchen Banditen in Hoch» 
armenien und dergleichen mehr bedeutet gegen ein wochen: 
langes Ningen auf Tod und Leben mit dem Dämon Durjt in der 
Wirte oder gegen Martern, wie jie nur eine raffinirte Graujamfeit 
erjinnt, nicht mehr als ein Spaziergang in den Bergen gegen eine 
Hochgebirgstour. Auf der andern Seite geben aber eigene, wenn 
auch bejchränfte Erfahrungen injofern ein Recht, auch Größeres 
einer Würdigung zu unterziehen, als ein richtiges Augenmaß und 
zutreffendes Schäßungsvermögen für Leitungen in der Art Hedins 
und Landors ſich erjt einjtellen, wenn man jelber eine praftijche 
Vorjtellung davon hat, was eine jolche Erpedition bedeutet. Wer 
jelbjt das Satteln und Lagern fennt, Tag um Tag, die Freude 
am flotten Vorwärtsreiten in freier milder Natur, in Klüften und 
Einöden, durch Berge und Steppen, wo es noch feine Kultur giebt, 
und die jpärlichen Bewohner des Landes über den Fremden, den 
Europäer, nod) erjtaunen — wer jelbjt mit vollen Zügen den Reiz 
des epijchen Erlebens im Barbarenlande genojjen hat: das Zus 
ſammentreffen und Verhandeln mit den Eingeborenen, die Bejuche 
in ihren Häufern, bei ihren Würdenträgern, auf ihren Beluftigungen, 
das herrliche Gefühl der Freiheit, zu bleiben, zu reiten, zu rajten, 
wo, wohin ich will, befehlen, jpenden, verjagen zu fünnen, mit 
einem Wort, Führer zu jein, der jeine Ziele vor Augen jieht, 
jeine Leute, feine Karawane jeinen Zwecken dienen läßt, mag 
er dabei auch noch joviel mit Reibungen, Widerjtand, Hindernijjen 
zu fämpfen haben — wer, jage ich, von alledem hat fojten dürfen, 
der Lieft jolche Werfe wie Hedins und Yandors Bücher jozujagen 
mit einer Art follegialen Empfindens, und jollte diejes jelbjt ein 
80* 


468 Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraften. 


, wenig dem Gefühl verwandt jein, mit dem der fleine Provinzial: 
jchaujpieler vom „Kollegen“ von der Refidenzbühne jpridt. Ganz 
abgejehen aber von diejer bejonderen Art des Genufjes, den ic 
perjönlic) bei der Lektüre gehabt habe, it e3 doch das Erleben und 
das Erzählen der Helden an ich, „der Nimbus des Heroischen und 
Abenteuerlichen, das poetische Gefühl eines naiven odyijeushaften 
Heldenthums“*) in Gebieten, die zum großen Theil noch nie vom 
Fuße eines Europäers betreten worden find, was Seden, der eins 
der Werfe in die Hand genommen hat, jo jchwer von der Lektüre 
wieder aufitehen lafjen wird. Noch wird es ja eine Weile dauern, 
bis der legte große weiße led von der Erdfarte verjchwindet, aber 
Sven Hedin hat ein mächtiges Stück diejes bisher noch unbetretenen, 
unfolorierten Gebiet3 mit dem Gelb der Wüjte, dem Blau der 
Flußadern und Seen, dem Grün der Dajengebietes und dem Braun 
der Bergländer überzogen! Es iſt hHinreißend zu leſen, wie er 
arbeitet, jtrebt kämpft: vorwärts, vorwärts, wie er jeine jieges- 
gewiſſe, fühne Mannesjtimmung in jchlichter Offenheit reden läßt, 
jchildert, wie das Geheimnigvolle, Abenteuerliche ihn lodt, mit 
dämonijcher, magnetijcher Gewalt an ſich zieht — und wie doc 
wieder auf jeder Seite der ernite, müchterne gejchulte, mejjende, 
zeichnende, Gejteine, Gras und Kraut wie Münzen und Götter: 
bilder jammelnde Jünger der Wifjenjchaft jich zeigt: der ebenbürtige 
jchwedische Bruder des norwegiſchen Helden Nanjen. Glücklich, 
wem die Götter ſolchen Sinn, ſolches Wiljen, ſolches Können, 
jolches Erreichen verliehen ! 

Als Hedin jeine Neije antrat, war fein Vorhaben, Ajien von 
Weiten nach Oſten zu durchqueren: von der faspijchen Niederung 
bis nach Peking, im Durchjchnitt auf der Breite des vierzigiten 
Parallelfreijes. Das mittlere Stück diefer Route, zwijchen Kajchgar 
und dem Hoang-Ho, liegt in einem bisher bejonders unbefannten 
Theile des Stontinents, in der wejtlichen Gobi, d. i. dem wiſſen— 
Ichaftlich Höchjt interefjanten und wichtigen Beden des Tarimflujjes, 
zwijchen dem fünfundjiebzigiten und dem neunzigjten Yängengrade. 
Hedin giebt jelber an, daß er von den rund 10500 Kilometern, 
die er fartographijich aufgenommen hat, auf 3250 der Erſte, auf 
dem Reſt der Yweite, Dritte bis höchjtens Vierte war, der dieſe 
Wege ım Dienjt der Wiſſenſchaft ging. Fragt man nad) den Re: 

*) Dieſe vortreiflib charakterifirende Wendung fommt aus einer vom ®er: 


leger mitgetbeilten Bejprehung in Weſtermanns AJlluftrirten deuiſchen 
Monatsheiten. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 469 


jultaten jeiner Reife, jo treten jolche für das große Publifum nicht 
ganz in jo erfennbarer, flagranter Weije hervor, wie bei den Eırpe- 
ditionen eines Stanley, Schweinfurt oder Nanjen, aber e8 wäre 
ein großer Irrthum, fie deshalb für gering zu halten. 

Da der Schwerpunft der Forichungen Hedins im Tarimgebiet 
liegt, jo jet es gejtattet, zunächjt den Yejer über diejes merkwürdige 
Stüd der Erdoberfläche furz zu orientiren. Quer durch Ajien 
zieht ji) vom Oftfuß das Pamir bis gegen die Mandjchurei hin 
ein fait 4000 Kilometer langes und im Durchjchnitt 700 — 800 
Kilometer breites Wüjtengebiet hin, das unter verjchiedenen Namen 
begriffen wird. Der größere, öftliche Theil wird gewöhnlich Gobi 
oder Schamo genannt, der fleinere, wejtliche heißt Takla-Makan; 
die Chineſen nennen das Ganze auch Hanshat, d. i. trockenes 
Meer. Dies Gebiet ift gegen die hohen Nandlandichaften, welche 
es umgeben, jtarf eingejenkt; im Weſten betragen die Differenzen 
in der Höhe mehrere Taujend, im Djten gleichfalls noch Hunderte von 
Metern. Der Boden der großen Mulde zeigt jelber feine jehr bedeuten— 
den Niveauunterjchiede, wohl aber ijt ihr weitlicher Theil in einen viel 
gewaltigeren, höher aufragenden Landblock hineingejchnitten, als 
der öjtliche. Die Höhe der Sohle des Bedens liegt, wenige tjolirte Er— 
hebungen ausgenommen, zwijchen 700 und 1100 Metern; nur an einer 
Stelle, nahe dem Schnittpunft des 90. Längen- mit dem 42. Breiten 
arade, nördlich vom Lob-nor, findet fich eine wenig ausgedehnte 
Deprejjion von etwa 50 Metern unter dem Meeres: 
jpiegel. Das ganze weite Gebiet iſt der Boden eines ver— 
jchwundenen Binnenmeeres, das wahrjcheinlich noch zur Tertiärzeit 
eriitirt hat und etwa Diejelbe Größe und auch annähernd die 
Geſtalt beſaß wie unjer Mittelländisches Meer. Welche Umjtände 
das Verjchwinden dieſer mächtigen Wafjerfläche veranlagt haben, 
läßt ſich mit annähernder Sicherheit noch nicht jagen — ebenjo 
wenig, wie man für das Einjchrumpfen des andern, mit jeinen 
Reiten bis in die Gegenwart hineinragenden, inneraftatijchen 
Binnenmeeres, des turanijchen, dejien Boden jett gleichfall8 größten- 
theils Sandwüſte ift, eine haltbare Erklärung zu geben im Stande 
ift. Thatſache iſt jedenfalls, daß fich ein langhingejtredtes immenjes 
Ländergebiet, vom Kaufajus und dem jüdrujjischen Steppengebtet 
an bis zu den die Monjune auffangenden NRandgebirgen im 
äußerjten Oſten Ajiens, gegenwärtig in einem Zuftande jtarfer und 
ftetig fortdauernder Austrodnung befindet. Gerade Hedins Reifen 
haben das mit neueu Beobachtungen belegt. 


470 Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien. 


Berjegt man ſich in Gedanfen auf den gewaltigen Muitag- 
ata, den „Vater der Eisberge* am Djtrande des Daches der Welt 
auf dem Bamirplateau, wo Hedin einen großen Theil jeiner 
Erpeditiongzeit zugebracht hat, und blidt von dort gen Oſten, io 
wird man von dem eigenen Standort aus zur Rechten und zur 
Linken und im weiten Bogen am Süd» und Nordhorizont, jo weit 
das Auge reicht, jich fortjegend, einen ungeheueren Hocdlandswall 
erbliden, der, in jtarfer Böjchung aufiteigend, ein mehrere Taujend 
Meter tiefer liegendes, ebenes Beden umjchließt, das in der Haupt- 
jache von Majjen graugelben Wüftenflugjandes erfüllt it. Nach 
Diten, in der äußerjten Ferne, verlaufen die beiden Flügel des 
um dieje Ebene emporgebauten Hochlandes weit jenjeits der Grenze 
des Gefichtsfreijes; da, wo nördlich und jüdlich die legten deim Auge 
noch jichtbaren Grenzpfeiler emporragen, bleibt zwiſchen dieſen 
eine breite Lücke, wo der Horizont endlos erjcheint wie auf dem 
Meere: dort jegt fich die Ebene gleich den Hochlandsrändern, Die 
jie überragend begleiten, noch ins Grenzenloje hinein fort. Denken 
wir uns auf unjerem fajt 8000 Meter hohen Standpunft unjer 
Auge mit der zwanzigfachen Sehjchärfe des Adlers begabt, jo 
würden wir jehen, daß rundum von dem Gebirgswall ſtarke 
Wafjeradern hinabrinnen. Wo die Flüffe fließen, durchzieht ein 
langer, grüner Streifen die Wüfte; dazwijchen aber ijt alles Sand, 
Sand, nichts als Sand, zu hohen Dünenfetten zujammengeweht! 

Die meiſten der zahllofen grünen Bänder, die vom Pamir, 
vom Stwenslun und vom Thiansjchan konzentriſch gegen Die 
mittlere Yängsare des Tarimbedens zu herunterfommen, dringen 
nur wenige Tagereifen weit in die Wüſte vor; dann werden 
fie immer dünner, löſen ſich in einzelne unzujammenhängende 
Baum: und Gebüjchgruppen auf, und jchließlich hat der Sand 
den lebten Tropfen des Waſſers, das zulegt nur noch unter: 
irdiſch weiterficerte, verjchludt: Dann herrſcht nur noch der 
Tod. Bon diefem Schidjal der Hunderte von jterbenden Waſſer— 
läufen machen einige mächtige Adern eine Ausnahme. Sie ver: 
einigen ich zu einem großen Strom, dem Tarim, der mit feiner 
Wafjermajjie ojtwärts fließend den Sand auf einer Strede von 
mehr als 1500 Kilometern bejiegt. Zuletzt aber erliegt auch er 
dem furchtbaren Feinde; mächtige Schilffümpfe und weite, flache, 
fortgejegt verdunjtende Wajjerlachen, die man unter dem Namen 
Lob-nor zujammenfaßt, bezeichnen das Ende des Stromes ; hinter 
dem Lob-nor herrjcht dann wieder als einzige Siegerin die Wüſte. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 471 


Das Tarimbeden ift ein Oval von etwa 1500 Stilometern 
Länge und halb jo viel größter Breite, das jind ungefähr die Ent: 
fernungen von Warjchau nad) Baris und von Brüfjel nach Venedig. 
Der Tarim jelber fließt mehr auf der Nordjeite der großen Mulde 
und empfängt daher vom Thian-jchan eine Reihe von Zuflüfjen, 
die jtarf genug find, die hier im Durchjchnitt wenig über 100 Kilo— 
meter breite Sand» und Steppenbarriere bis zum Hauptſtrom zu 
durchbrechen. Auf der Südjeite, vom Kwen-lun her, gelingt das 
nur einem einzigen Gewäſſer, dem Khotan-darja, und auch diejer 
erreicht den Tarim nur bei Hochwajjer. Weiter ojtwärts dringt 
der SKterijasdarja tief in die Wüſte hinein vor, aber fünf bis jechs 
Tagereifen trennen noch den Punkt, wo jein letztes Wajjer verficert, 
von dem großen Fluß. Ein dritter Strom endlich, der Tſchertſchen— 
darja, der gleich) den beiden vorigen von dem Nordrande des 
Kwen⸗-lun-Syſtens fommt, läßt jeine Wafjer im Lob-nor-Gebiet jelber 
mit dem des jterbenden Tarım zujammenfließen. 

Mit diejer Skizze haben wir bereits einen Theil der Nejultate 
und Erfenntnifje umjchrieben, die wir erjt Hedin verdanfen. Wenden 
wir uns nun den Cinzelheiten jeiner Kreuze und QUuerzüge und 
Erpeditionen zu. Ende Februar 1894 brach Hedin von Margelan, 
der Hauptjtadt des rufjiichen serghanagebietes, nach jeinem erjten 
Neijeziel, dem Pamir, auf, und Mitte Oftober langte er in Kaſchgar 
im chinefischen Oſt-Turkeſtan an, welche Stadt nun für lange Zeit jeine 
jtets wieder aufgejuchte Operationsbafis wurde. Die jiebenmonatliche 
Durchforjchung des Pamir, namentlich jeiner Seen und der Gletſcher— 
welt am Muftag-Ata, bildet den erjten, vorbereitenden Theil jeines 
Werkes. Der eigentliche Kern der Unterfuchungen, die Hedin hier 
angejtellt hat, ift jo jehr jpeziell fachwijjenjchaftlicher Art, daß der 
Forſcher in den betreffenden Stapiteln, die etwa die Hälfte des erjten 
Bandes füllen, jeine Ziele und Nejultate bloß andeutet. Bejondere 
Bublifationen, deren genaue Ausarbeitung vorausfichtlich noch ges 
raume Zeit in Anjpruch nehmen wird, fjollen das ganze Material 
jammt den Nejultaten, zu denen Hedin gelangt, der gelehrten Welt 
vorlegen. Nichtsdejtoweniger lejen ſich die Schilderungen vom 
Bamir im höchiten Grade interefjant, jtellenweije prächtig jchön. Als 
Probe möge die Szenerie des Lagerplates vom 16. Auguſt in 
6300 Metern Höhe am Fuße des Eispanzers auf dem Muftag-ata 
dienen. 

„sc hatte einen malerischen Sonnenuntergang erwartet; er 
war aber nicht bejonders ungewöhnlid. Die Sonne verjanf hinter 


472 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


gelbroth jchimmernden Wolfen, die noch) lange nad) Sonnenuntergang 
leuchteten, und auf denen die Gebirge von Pamir jich als jcharfe 
Silhouetten abzeichneten. Das ganze Sarif-fol-Thal lag jchon eine 
gute Weile im Schatten, als die Sonne nod) ihre legten Strahlen 
über den Muſtag-ata ergoß. Doch bald wurde auch unjer Lager 
von dunflen, falten Schatten umhüllt, der Gipfel des Berges er: 
glänzte einen Nugenblid wie ein jcharlachrother Wulfanfegel, um 
gleich darauf ebenfalls in Dunkel gehüllt zu werden. 

Ic trat in die Nacht hinaus, um den Vollmond aufgehen zu 
jehen. Wir hatten nicht weit nach dem unendlichen Weltenraum, 
daher trat der Herricher der Nacht hier in jo blendendem Glanze 
auf, daß man ihn nur mit Anjtrengung betrachten fonnte. In 
jtiller Majejtät jtieg er hinter der dunfeln, jäh abfallenden Fels— 
wand an der gegenüberliegenden Seite des Gletjchers empor. Tief 
unten im Abgrunde lag der Gletjcher im Schatten. Manchmal 
hörte man einen dumpfen Stnall, wenn eine neue Spalte ent: 
itand oder das Gepolter eines Blodes, der vom Wanzereije her: 
unterſtürzte. .. .... 

Am ſchönſten iſt die Szenerie da, wo der Mond ſteht. Schon 
die Architektur der Natur iſt ein kühnes Meiſterwerk! Hier dehnt 
ſich der blaue Gletſcher aus, von ſeinen beiden, mit Eis- und 
Schneefeldern gepanzerten Felswänden eingefaßt; dort erhebt ſich 
der fünfköpfige Bergrieſe hoch zum Himmel empor. Die Felswand 
uns gerade gegenüber fällt in ſo tiefen Schatten, daß wir nur 
mühſam unterſcheiden können, wo das durchſichtige Manteleis auf 
ihrem Grate endet und das ſchwarze Geſtein anfängt. 

Alles iſt jtill; das Echo der Felswand dort auf der anderen 
Seite antwortet nicht. Die dünne Luft ijt nicht zu fühlen und 
braucht eine Yawıne, um in Vibration zu gerathen. Man jieht den 
Athem der Yaks*), aber man hört ihre Athemzüge nicht, jtill und 
regungslos jtehen die Thiere da. Ein jeltjames Gefühl ergreift die 
Sinne. Es wird uns jchwer zu begreifen, daß vier Welttheile 
unter unjeren Füßen liegen und daß eine durch den Punkt, auf 
dem wir uns befinden, um die Erde gelegte fonzentrijche Kugel 
nur die Spiten einer leicht zu addirenden Zahl von aſiatiſchen 
und jüdamerifanischen Bergen abjchneiden würde. Man glaubt 
an der Grenze des jchweigenden, grenzenlojen Weltraumes zu 
jtebel: 4 4. 


*) Mal, das als Reit und Laſtthier gebrauchte, hödertragende, jhmwarz- 
baarige Rind Hodhafiens. Es lommt wild und gezähmt vor. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 478 


Es war eine unheimlich lange Nacht, die fein Ende nehmen 
zu wollen jchien. Wie jehr wir auch in unjere Nejter (in der Jurte, 
der kirgiſiſchen Filzhütte) hineinfrochen und die Knie bis unters 
Kinn heraufzogen, der Körperwärme war es doch unmöglich, den 
Steg über die von außen überall hereindringende Kälte davonzus 
tragen. Steiner konnte auch nur einen Augenblid jchlafen. Erſt 
gegen Morgen fiel ich in eine Art Halbichlummer, wachte aber 
immer wieder vor Yuftmangel und ängjtlichem Ringen nach Athem 
auf... Endlich ging die Sonne auf!” 

Ein Jahr nach feinem Mufbruch von Margelan, im Februar 
1895, machte ſich Hedin von jeinem Standquartier Kaſchgar auf 
den Weg nad Ojften, der Wüjte entgegen. Sein Diener Islam 
Bai, ein rufjischer Kirgife aus der Stadt Oſch in Ferghana, war 
unter jeinen Begleitern. Diejer Islam Bai jollte für Hedin ein 
unvergleichlicher Schaß werden. Das Ziel war die Wüſte Takla— 
mafan, jpeziell die Negion zwiſchen dem Jarkend-darja oder Tarim 
und dem Khotan-darja. Beide Flüſſe vereinigen ſich unter einem 
Ipigen Winfel; Hedin beabjichtigte, von einem Punkte am Jarkend— 
darja, etwas über 200 Stilometer oberhalb des Zujammenflufjes, in 
jüdöftlicher Nichtung quer durch die Wüſte auf den Khotan-darja 
(oSzugehen. Die Entfernung ſchätzte er nach den ihm vorliegenden 
Karten auf 287 Kilometer — 15 Tagereijen. In Maralbajchi be- 
ſuchte ein achtzigjähriger Greis Hedin vor dem Antritt jeiner Reiſe 
und erzählte ihm, er habe in jeiner Jugend einen Mann gefannt, 
der fich einjt in der Wüſte verirrt und dort eine alte Stadt ge— 
funden habe; in den Häuſern hätte eine Menge chinefiicher Schuhe 
gejtanden, aber jo mürbe vor Alter, daß fie bei einer Berührung 
in Staub zerfielen. Wieder ein Anderer habe, gleichfall8 an einer 
Auinenftätte in der Wüſte, viel Silber gefunden, aber von einer 
Schaar Wildfagen ſei er jo erjchredt worden, daß er davonlief und 
die Stelle nachher nicht wiederfinden fonnte. in verjchuldeter 
Mullah aus Khotan jei in die Wüſte gegangen, um dort zu jterben; 
er habe jedoch in ihr Gold und Silber gefunden und jei jegt ein 
reicher Mann. Hedin war fajt überzeugt, daß dieje Erzählungen 
einen bejtimmten Grund haben müßten. 

„Wie laſſen ſich“, jchreibt er, „Dieje Legenden von der großen 
Stadt des Alterthums, Takla-makan, erklären? St es nur ein 
Zufall, daß diefe Sagen von Khotan über Jarfend und Maral- 
bajchi nad Akju von Mund zu Mund fliegen, und daß die alte 
Stadt überall unter demjelben Namen befannt iſt? Wollen die 


474 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien, 


Eingeborenen ſich nur dadurch interefjant machen, daß jie ver 
lajjene Häufjer, die fie gejehen haben wollen, bis in die fleinjten 
Einzelheiten bejchreiben und bejtimmt verfichern, e8 habe in grauer 
Vorzeit im Innern der Wüſte große Wälder gegeben, Aufenthalts: 
orte für Mojchusthiere und anderes Wild?... Wie ein Kind 
laujchte ich diejen abenteuerlichen Sagen, die mir die gefährliche 
Fahrt, die ich zu wagen beabjichtigte, mit jedem Tage verlocdender 
erjcheinen liegen. Sie hypnotifirten mich; ich wurde blind gegen 
jede Gefahr, die unheimliche Wüſte verherte mich; jogar die Sand: 
jtürme, die ihre Wurzel in der Tiefe der Wüſte haben, erjchienen 
mir prachtvoll und bezaubernd. 

Und dort Hinten am Rande des Horizonts thürmten die 
Dünen ich in edel gerundeten Formen auf, die zu betrachten ic 
nie müde wurde, und hinter ihnen lag in der Ruhe der Grabes- 
jtille das unbefannte verzauberte Land, von deſſen Dafein nicht 
einmal die ältejten Urfunden eine Ahnung haben — das Yan), 
das ich als der Erjte betreten wollte!“ 

Das Land, in dem Hedin weilte, Oft-Turfejtan, gehört zu 
China und mit chinefischen Beamten hatte er es in eriter Linie 
überall zu tun. Die Sprache des Volkes iſt aber türfijch und in den 
jiebziger Jahren diejes Jahrhunderts beitand hier unter dem berühm- 
ten Rebellen Jakub-Bek von Kajchgar auch eine jtarfe, national 
türkische und muhammedanijche Herrjchaft; ſeit Jakubs Ermordung 
iſt es aber den Chineſen geglüct, ihre Autorität wiederherzuftellen. 
Als ein Dentmal des landesväterlicden Waltens der chinefijchen 
Negierung fand Hedin in einem Dorfe, Namens Meinet, bei 
Maralbajcht folgendes Plakat in chinefischer und türkischer Sprache. 
mit dem faijerlichen Namen darunter, angejchlagen: „Da ich (der 
Katjer) gehört habe, day einige Bels dem Volke ungejegliche 
Steuern auferlegt und jich das FFiichereirecht angemaßt haben, will 
ich, daß derartige Uebergriffe beim nächiten Dao Tat (Gouverneur) 
gemeldet werden. Wenn diejer nicht auf die Klagen hört, joll das 
Bolf jich direft an mich wenden. Kuang-Tſü. 

„Der arme Kuang-Tſül Er hat nie etwas vom Dorfe 
Meinet gehört und kümmert ſich den Kuckuck um den Fiſchfang im 
Jarkend Darja* — jagt unjer Neijender dazu. 

Erjt am 10. April fonnte die Expedition aufbrechen, nachdem 
die nöthigen Nameele und Borräthe bejchafft waren. Acht Thiere 
zählte die Karawane, das Stüd zu 135 Marf gefauft. An Leuten 
hatte Hedin außer jeinem getreuen Islam Bat noch drei Ein: 


Sven Hedins und Zandors Reifen in Innerafien. 475 


geborene angeworben — nur einer von Ddiejen follte die Wüjten- 
reije überleben. Eiſerne Waſſerkiſten und Schläuche bildeten außer 
dem Proviant und den njtrumenten den wichtigiten Beitandtheil 
des Gepäds; dazu ein beträchtliches Quantum Sejamöl zur Er: 
nährung der Stameele in der Wiüjte. Wenn das Kameel täglich) 
einen halben Liter Del befommt, fann es einen Monat lang ohne 
jede andere Nahrung marjchiren. Im Frühjahr, der Jahreszeit, 
in der die Erpedition aufbrach, jollten die Kameele den dritten Tag 
bereits nicht gut ohne Waſſer aushalten können, im Winter aber 
und auf ebenem Terrain jogar jechs bis jieben Tage und jelbit 
noc) länger. 

Die eriten Tage des Wüſtenmarſches verliefen glüdlich; man 
hielt jich in der Nähe des Jarkend-darja und fand öfters Waſſer. 
Am 23. April gab Hedin beim legten Wajjerplat den Befehl, die 
Züternenbehälter zur Hälfte, d. h. für einen Marſch von zehn 
Tagen, zu füllen, überzeugte jich aber nicht perjönlich, ob jeine 
Anordnung gewiljenhaft befolgt wurde. Die beiten Starten gaben 
die Entfernung bis zum Khotan-Darja noch auf hundertdreigig 
Ktilometer — ſechs Tagereijen — an; Hedins eingeborener Führer 
behauptete jogar, es fünnten nur vier fein. 

Der folgende Tag war glühend heit. Der Sand begann 
jich zu langen Dünenzügen aufzuhäufen, und je weiter nach Djten, 
deito mächtiger wurden die Ketten. Die Ktameele Eletterten jedoch 
bewundernswerth ficher an den jteilen Abhängen hinauf. Auf einem 
gigantischen Sandwall machte die Karawane Halt; die Ausjicht 
über das Dünenmeer war endlos. „Daß ich nicht vor Entjegen 
erbleichte*, jchreibt Hedin, „als mein Bli nach Oſten hinjchweifte, 
über diejes Meer mit den Niejenwogen von feinem, gelbem Sande, 
das uns jeßt überall umgab, fam wohl daher, daß ich nicht glauben 
fonnte, mein Glücksſtern, der jtetS jo hell gejtrahlt, würde jet 
erlöjchen . . . . Desiderium incogniti, die Sehnjucht nach dem 
Unbefannten, hieß der Zauber, der mich unmiderjtehlich nach dem 
Schlojje des Wüſtenkönigs Hinzog, wo ehrenvolle Entdedungen und 
die verborgenen Schäße der Sagen meiner warteten... . „Vor— 
wärts!“ flüjterte der Wilitenwind. „Vorwärts“! jang das Erz der 
Starawanengloden. Taujend und aber taufend Schritte dem Ziel 
entgegen, feinen einzigen rücdwärts!“ 

Am 24. April furchtbarer Sandjturm, Dünen über Dünen, 
ein uferlojeg Meer von ungeheuren Sandmengen. Schon nach 
dreizehn Kilometern war die Karawane erjchöpft und jchlug Lager. 


476 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


Keine Spur von organijchem Leben mehr; fein Nachtjchmetterling, 
der ans Licht flatterte; Fein dürres, vom Winde getriebenes Blatt 
mehr. Am 25. April ſah Hedin nad) dem Waſſer und fand, das 
es nur noch für zwei Tage reichte: die Leute hatten in der Ueber: 
zeugung, bald an den Khotan-darja zu fommen, und um die 
Stameele leichter zu beladen, weit weniger Wajjer mitgenommen, als 
ihnen befohlen war. Nun erhob ſich die Frage: umfehren zum 
Waſſer oder vorwärts in der Hoffnung, bald neues zu finden? 

Den 26. April. Die Kameele begannen zu verjagen; Das 
wenige noch übrige Waſſer wurde gehütet wie Gold. Nachmittags 
machte man einen merfwürdigen Fund — die weißen mürben Ge— 
häuſe einiger Schneden und mehrere vom Wajjer rund gejchliftene 
Nolliteine. Wie lange Zeit mochte vergangen fein, jeit das Meer, 
das einjt hier brandete, ihnen dieje Form gab. Abends verjuchten 
die Leute einen Brunnen zu graben. In zwei Metern Tiefe wurde 
der Sand feucht; man grub mit verdoppeltem Eifer und tranf von 
dem Reſt des Wajjerd ohne Gewiſſensbiſſe, denn der Brunnen 
jollte ja die leeren Zilternen wieder füllen. „Mittlerweile war es 
Itodfinjter geworden, und zwei Lichtſtümpfe wurden in fleine Nijchen 
in der Brunnenwand gejeßt. Der Inſtinkt trieb alle Thiere nad 
der Schachtmündung. Die Kameele jtanden mit vorgejtredten Hälſen 
da und bejchnupperten den fühlen, feuchten Sand ..... Wir 
dachten nicht daran, nachzugeben. Wir wollten, wenn es jein 
mußte, den ganzen nächjten Tag hierbleiben, aber Waſſer mußten 
wir haben.“ Da plöglich jtöpt der Mann in der Tiefe einen halb 
unterdrücten, entjegten Schrei aus: er war mit einem Male wieder 
auf völlig trodenen Sand gejtoßen; alle Arbeit, der ganze Kräfte— 
verbrauch, waren vergeblich gewejen. 

Den 27. April. Alles, was zurückgelaſſen werden fann, wird 
geopfert, um die Thiere noch einige Zeit bei Kräften zu erhalten. 
Die Dünen erreichten an diefem Tage ihre Martmalhöhe, jechszig 
Meter. Zwei Kameele jtürzten, um nicht wieder aufzujtehen. Gegen 
Abend erblidten die Neifenden im Wejten dicke Negenwolfen; aber 
fie zogen nach Süden ab und jchenften feinen Tropfen. Die Ein: 
geborenen gaben jeßt die Hoffnung auf, am Leben zu bleiben. 
Am 28. April neuer Sandjturm. Der Marjch fiel Allen jchwer, 
denn von der Umgebung war vor wirbelndem Sande nichts zu 
jehen. Die Leute jpotteten in ihrer Verzweiflung über Hedins 
Kompaß, der jie doch nur in die Irre führe; es jei zwecklos, ſich 
überhaupt noch mit langen Märjchen anzuitrengen. „Verlor man 


Sven Hedins und Landors Reifen iu Innerafien. 477 


die Andern außer Sicht, jo konnte man den Sturm weder dur) 
Rufen noch durch Flintenjchüjje übertönen; man verirrte ſich und 
wäre rettungslos verloren gewejen. Man ſah nur das nädhite 
Kameel; die übrigen verjchwanden in einem undurcdhdringlichen 
Schleier. Nur ein eigenthümlich pfeifender, ſauſender Ton 
ließ fich hören, wenn die Milliarden von Sandförnern vorbei- 
eilten.“ An dieſem Tage ging das dritte Kameel verloren. Am 
Abend wurden alle entbehrlihen Sachen im Lager zurüds 
gelafien: „Proviant auf drei Monate, Zuder, Mehl, Honig 
Neis, Kartoffeln, Gemüje, Maffaroni und ein paar hundert 
Stonjervendojen, alles wurde fajjirt. Mehrere Pelze und Filz: 
deden, Kiffen, einige Bücher, ein großer Bad Zeitungen, der Koch— 
apparat mit dem WBetroleumvorrath, Kochtöpfe, Porzellangejchirr 
u. j. w. wurden zurüdgelafjen.“ Allerdings hoffte man, jobald 
erit Wafjer gefunden wäre, die Sachen wiederzuerlangen; e8 wurde 
auch ein hohes Merkzeichen bei dem Depot aufgerichtet. Nur 
jolche SKonjerven, die Feuchtigkeit enthielten, namentlich etwas 
Wajjer, wurden weiter mitgenommen, Doch ließen jich die ver: 
ichhmachtenden Leute erſt dann herbei, davon zu genießen, als jie 
ji) überzeugt hatten, daß Fein Schweinefleifch dabei ſei. An 
Wafjer eriftirten noch zweit Liter, in zwei Kannen, aber am 
näditen Morgen war die eine leer! Man hatte Verdacht auf 
Solltichi, einen der Leute, aber es ließ fich ihm nichts beweijen. 

29. April. Man fand einen uralten verdorrten Bappeljtamm, 
ohne Wurzeln, und jchöpfte einen Augenblick Hoffnung, fich jetzt 
dem Gebiete der beginnenden Vegetation zu nähern. 30. April. 
„Wir hatten noch zwei Glas Waſſer in der etjernen Kanne. 
Während die andern Männer mit dem Beladen der Stameele be: 
jchäftigt waren, überrajchte Islam Bat den Jolltſchi, wie er, mit 
dem Rüden nach) den Stameraden gefehrt, die eiſerne Kanne vor 
dem Munde hatte... Bor Wuth fochend jtürmten Islam Bat 
und Kaſim auf Solltjcht los, jchlugen ihn zu Boden, ohrfeigten 
ihn, jtießen ihn mit den Füßen und würden ihn umgebracht haben, 
wenn ich ihnen nicht jtreng befohlen hätte aufzuhören.“ Am 
Abend wurden Die Lippen der Männer mit den lebten übrig: 
gebliebenen Wajjertropfen angefeuchtet. Bis hierher hatte Hedin 
am Schluß jedes Tages die Kraft gefunden, ausführliche Auf: 
zeichnungen mit Tinte in jein Tagebuch zu machen. Bon jegt ab 
wurden e3 nur ganz furze Notizen mit Bleiftift auf ein Stüd 
Bapier: die Peilungen der Himmelsrichtung mit dem Kompaß, 


478 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


die Zahl der Schritte in jeder Richtung und der allgemeine Gang 
der Ereignijje. 

Am 1. Mai trank Hedin, von Durjt entjeglic) gequält, ein 
Trinkglas voll jchauderhaften chinejischen Branntweins, was ihn 
für den ganzen Tag des Neftes feiner Energie beraubte. Schon 
um halb zehn Uhr Vormittags waren jeine Kräfte zu Ende. Das 
Belt wurde aufgejchlagen, um die Tageshite bi8 zum Sonnen: 
untergang bejjer zu überjtehen. Hedin dachte, daß nun Alles zu 
Ende jei; Phantafien und Träume bei offenen Augen jtellten ſich 
ein. Unzählige Male jah er dabei nach der Uhr, und jede Stunde 
erichten wie eine Ewigfeit. Gegen Abend wurde es fühler, und 
die jchredliche Wirfung des Branntweins verflog. Je mehr die 
Sonne fich dem Horizont näherte, dejto fräftiger fühlte jich Hedin 
wieder. Ja, er glaubte fähig zu jein, Tage und Nächte hindurch 
zu Fuß weiter zu wandern. 

„sh brannte vor Ungeduld aufzubrechen, ich wollte nicht 
iterben .... Wenn man todtmüde ift, ift Die Ruhe ſüß. Man 
fällt bald in Betäubung und jchlummert jchmerzlos in einen langen, 
jchweren Schlaf hinüber, aus dem man nicht mehr erwacht. Man 
fühlt jich jehr verjucht, ſich dieſer ſüßen Betäubung zu überlajien, 
doch bei dem Gedanken an die Meinigen hatte dieje Ber: 
juchung jest ihre Macht über mich vollitändig verloren.“ 
Die Unglüdlichen griffen nun zu den verzweifeltiten Mitteln. Sie 
hatten noch ein Schaf mit und jchlachteten es, um jein Blut zu 
trinfen; aber der dide, rotbraune Strahl gerann fait augenblidlic 
an der heißen Luft. Dann fingen jie ameelurin auf und mijchten 
ihn in einem Becher mit Ejjig und Zuder. Hedin und der Diener 
Kaſim waren die einzigen, die nicht davon tranfen, und das war 
ihr Glüd, denn die Anderen mußten mit heftigem, die legten Kräfte 
verzehrendem Erbrechen dafür büßen. Abermals wurde das Gepäd 
reduzirt; was zurücdblieb, wurde in acht Kiſten verpadt und auf 
die nach innen umgejchlagene Leinwand ins Zelt gejtellt, um 
diefes auf dem Kamm einer Düne als weithin jichtbares Kenn» 
zeichen fejtzuhalten — fall8 man noch einmal zurüdfehren jollte. 
Zwei Diener, Mohammed Schah und Jolltjchi, waren im Sterben 
und blieben hier zurüd. Blutenden Herzens und voller Selbit: 
vorwürfe, daß er dieſe Leben auf jein Gewijjen geladen hatte, 
nahm Hedin von ihnen Abjchied. ES war finjtere Nacht, und nur 
das Lagerfeuer beleuchtete qualmend den Eleinen Flecken der Wüſte 
zwijchen den furchtbaren Sanddünen, den einzigen Zeugen des 


Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraſien. 479 


Unterganges der Karawane. Wenige Dünenkämme waren erit 
überwunden, als wieder ein Kameel jtürzte und jich zum Sterben hin— 
legte. Mit Laterne und Kompaß jchritt Hedin durch die Nacht voran, 
die iiberlebenden Diener und Thiere hinterher. Um Mitternacht 
brach Islam Bai zujammen, bat, mit den Stameelen liegen bleiben 
zu Dürfen und jagte, er wolle jterben. Hedin und Kaſim nahmen 
Abſchied von ihm, um allein, ohne Gepäd und Kameele ojtwärts 
vorzudringen. Der Khotan-darja konnte nicht mehr weit jein, 
aber dennoch fündigte nicht das kleinſte tennzeichen jeine Nähe 
an. Die brennende Yaterne blieb neben dem zujammengebrochenen 
Islam Bai auf einem Diünenfamme jtehen und war den beiden 
vorwärtsdringenden Männern noch lange jichtbar. Zwei Chrono- 
meter, eine Uhr, ein Kompaß, ein Federmeſſer, ein Bleijtift und 
ein Stüd Papier, eine Doje Hummer, eine Büchje Kakao und zehn 
Zigaretten — das war alles, was Hedin von den acht Kameel— 
lajten, mit denen er ausgezogen war, noch weiter mit jich nahm. 

2. Mai. As es heiß wurde, gruben jich die beiden Männer 
tief in den Sand und ruhten bis zum Abend. Die Nacht hin— 
durch und am nächiten Morgen wanderten jie mit Unterbrechungen 
weiter. 

3. Mai. Kajims Falfenaugen entdedten am Rande des öjt- 
lichen Horizonts eine grünende QTamarisfe. Auf dieje fonzentrirte 
jich jeßt die ganze NRettungshoffnung. Als fie erreicht war, fauten 
die Beiden wie Thiere an ihren jaftigen Nadeln. Bald erjchten 
ein zweiter Strauch und nach Oſten hin waren noch mehrere zu 
jehen. Den Tag über wurde wieder im Sande geruht. Abends 
um zehn Uhr stieg man im Dunkeln plöglich auf eine Gruppe von 
drei prächtigen Bappeln mit zwar jaftigen, aber bitteren Blättern. 
Dort jammelten fie trodene Zweige auf und zündeten als Signal 
für Islam Bat, fall8 er noch lebte, und für andere Menjchen, falls 
jie jchon dem Fluſſe nahe jein jollten, ein gewaltiges Feuer an. 
Ein Berjuch, nach Waſſer zu graben, war bei den ganz gejchwächten 
Kräften nutzlos. Kaſim briet ſich eine mitgenommene Scheibe von 
‚dem jaftigen Fettichwanz des Schafes, und Hedin würgte etwas 
Hummer hinunter. Dann wurde Alles fortgeworfen bis auf die 
ausgeleerte Stafaobüchje, um daraus von dem Wajjer des Khotan— 
Darja zu trinfen. 

4. Mai. Kaſim blieb liegen und Hedin ging allein durd) 
Nacht und Sand weiter. An diefem Abend mußte er Die legte 
Zigarette allein zu Ende rauchen — bis dahin hatte Kafim immer 


480 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


die zweite Hälfte befommen. Um Mitternacht ſank Heden nieder. 
Da hörte er eine Menjchenjtimme. Es war Stafim, der jich erholt 
hatte und nachgefommen war. Nach einer Weile entdedten jte 
plöglich) Menjchenjpuren im Sande — aber es waren ihre eigenen. 
Sie waren jtundenlang im Kreiſe herumgegangen! 

5. Mai. Endlich erjchien am Horizont eine dunkle Linie; fie 
fonnte nichts anderes bedeuten, al8 den Wald am Ufer des 
Khotan=zdarja! In der folgenden Nacht gelangte Hedin endlich, 
nachdem auch Kafim noch — jchon im Uferwalde — liegen ge 
blieben war, in das ausgetrodnete Flußbett. „Während ich ging“, 
jchreibt er, „hielt ich den Blick bejtändig auf den Mond gerichtet, 
in der Erwartung, unter ihm einen Silberftreifen im Waſſer des 
Fluſſes zu jehen. . . . . Nach einer Wanderung von zweieinhalb 
Kilometern unterjcheide ich jedoch die dunkle Waldlinie des anderen 
Ufers. Sie wird immer deutlicher. Dort fteht ein dichtes Gebüſch 
von Sträuchern und Schilf, und eine halb umgefallene Pappel 
liegt jchräg über einer Vertiefung im Flußbett. Ich habe nicht 
mehr viele Schritte bis ans Ufer, da fliegt pfeiljchnell eine aufge 
icheuchte Wildente mit pfeifendem Flügeljchlag auf. Ich höre ein 
lätjchern, und im nächjten Augenblide ſtehe id — am Rande 
eines faum zwanzig Meter langen Tümpels mit friſchem, faltem, 
herrlichem Wajjer! 

Am Abend des 30. April war der legte Tropfen Waſſer über 
Hedind Lippen gefommen, nachdem jchon vorher die Nationen 
tagelang aufs Aeußerſte bejchränft worden waren. In der Nacht 
vom 5. auf den 6. Mai erreichte er die Lache im trodenen Bett 
des Khotan-darja! Das macht über fünf Tage, etwa einhundert: 
undfünfundzwanzig Stunden — und das in der Wüjte bei glü— 
hender Tageshige und nächtlichem Marjchiren oder vielmehr fort: 
gejegtem Stlettern über hunderte und aberhunderte von bergehoben 
Dünenfetten. Der Lejer wird fragen, welches die Empfindungen 
Hedins waren, als er an dem rettendem Wajjer jtand. Cr deutet 
an, daß jein erjter Gedanke ein religiöjer war, der zweite — wie 
viel Schläge in der Minute jein Puls zählte! ES waren neun- 
undvierzig. Darauf tranf er, trank... trank . .. tranf. Eins 
undzwanzig Mal füllte und leerte er jeine E£leine, blecherne Kafao- 
büchje, die etwa ein Trinfglas fahte, im Laufe von zehn Minuten. 
Dann zog er jeine hoben, wajjerdichten Stiefel aus, füllte jie bis 
an den Rand, 309 die Strippen auf die beiden Enden eines Stodes, 
und machte jich damit auf den Weg zu Kaſim. Der lebte noch — 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 481 


und leerte beide Stiefeljchäfte hintereinander auf einen Zug! Bald 
darauf traf Hedin mit Hirten zufammen, von denen er Nahrung 
erhielt, und einige Tage jpäter fand er den treuen Islam Bat, 
der jchlieglich doch noch aus eigner Kraft mit dem lebten Kameel 
und den werthvolliten Sachen, namentlich den wijjenjchaftlichen 
Aufzeichnungen und Apparaten, mehr todt als lebendig am 7. Mai 
Morgens das trodene Flußbett erreicht hatte. Dort brach er zu: 
jammen, als er fein Wajjer fand und legte jich zum Sterben nieder; 
aber wenige Stunden jpäter ritten durch eine glüdliche Fügung 
Kaufleute auf dem Wege, der durch das Flußthal führte, vorüber 
und retteten ihn! Der Brave hatte faſt Hebermenjchliches geleijtet; 
Hedin und er gejtanden ſich jpäter gegenfeitig, daß, als fie fich 
trennten, Jeder die Hoffnung aufgegeben hatte, den Andern wieder: 
zujehen. Islam Bat hatte bei den Pappeln, wo Hedin und 
Kajim das Signalfeuer angezündet hatten, mit der Art einen 
tiefen Spalt in einen der Baumjtämme gehauen und daraus etwas 
Saft gejogen — das rettette ihn, denn er befam erjt dreißig Stunden 
jpäter al8 Hedin Wajjer! 

Nachdem jich die drei Ueberlebenden wieder gefräftigt hatten, 
machte Hedin noch einen Verjuch, das in der Wüſte zurüdgelajjene 
Gepäd wiederzuerlangen, doch ohne Erfolg. So blieb ihm nichts 
übrig, als nach Kajchgar zurüdzufehren, um von dort aus jich für 
feine weiteren Pläne eine vollitändig neue Ausrüftung aus Europa 
fommen zu lajjen. Die Zeit bi8 zum Eintreffen der Sachen be— 
ſchloß unjer Neijender wieder auf dem Pamir zuzubringen, wo, 
wie er wußte, gerade eine große engliſch-ruſſiſche Kommiſſion mit 
der Feitjtellung der Grenzlinie zwijchen dem indobritijchen Gebiet 
und dem Zarenreich bejchäftigt war. Es ift interefjant und amüjant, 
von Hedin zu hören, mit welch einem Aufwand von Sekt, fran— 
zöjischen Weinen und Delifatejjen, von Muſik und gegenjeitiger 
Liebenswürdigfeit bei jplendiden Diners die Rivalen ihre Aufgabe 
erfüllten. Den Höhepunft erreichten dieje Feſtlichkeiten, als das 
Telegramm über die Genehmigung der von rujjijcher Seite vor= 
gejchlagenen Grenzlinie durch Lord Salisbury eintraf. Hedin in 
jeinem fadenjcheinigen Reijeanzug — von Manjchetten und Stragen 
war natürlich feine Nede — fam ſich unter den Gala-Uniformen 
und Ordensiternen wie die Krähe unter den Pfauen vor, wurde 
aber wegen feines Todesmarjches hoch bewundert. Es gab Gänſe— 
leberpajtete und Spargel und viele andere gute Dinge in diejer 
welt und menjchenfernen Hochgebirgs:Wildnig — wohl zum erjten 

Preußiſche Jahrbücher. Bd, XCVIII. Heft 3. 3 


482 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


und legten Mal, jeit die Gipfel der ewigen Bergriefen des Pamir 
gegründet stehen. Am dritten Oftober war Hedin wieder in 
Kajchgar und im Beſitz einer neuen Ausrüftung. 

Mitte Dezember brach Hedin auf, abermals der Wüſte, die 
ihm jo verhängnigvoll geworden war, entgegen. Diesmal führte 
jeine Route am jüdlichen Rande des Tarimbedens, auf Khotan 
zu, das an der Stelle liegt, wo der Khotan-darja aus dem 
Gebirge heraus und in das Wüſtengebiet eintritt, jechs jtarfe 
Tagemärjche oberhalb der Stelle, wo die Trümmer der Unglüds- 
karawane endlich an das Flußbett gelangt waren. Khotan oder 
Iltſchi ift heute eine unbedeutende Stadt, aber eine jehr alte 
Anjiedlung. Den Ehinejen, denen fie gehört, it fie von Alters 
her wichtig durch das Vorkommen des von ihnen hochgeichäßten 
Nephrit, eines hellgrünlichen, harten Minerald vom Werthe eines 
Halbedeljteines, in der Nähe. Der Nephrit wird wie Gold ge 
graben; gute Stüde fojten mehrere Hundert Mark. Die Umgegend 
von Khotan iſt außerordentlich reich an Alterthümern, von denen 
viele in die altbuddhiſtiſche, andere in die helleniftifche Zeit zurüd- 
weijen; namentlich zahlreiche Gemmen und Terrafotten liefern einen 
Beweis dafür, wie jtarf die Nachwirfungen des Aleranderzuges 
bis in dieſe entlegenen Gebiete hinein jpürbar gewejen find. In 
Khotan jpuften wiederum die Erzählungen von der alten, be- 
grabenen Stadt in der Wüjte. Ein Mann erzählte Hedin, daß er 
einmal draußen in der Wüſte jold) eine Stadt gefunden habe und 
in ihr noch Leichen in jißender Stellung, als ob ein plößlicher 
Sandjturm fie eingebettet habe. Bereits ein chinefischer Reiſe— 
bericht aus dem Jahre 632 n. Chr. erzählt aber von einem alten 
KKönigreiche Tuholo, nach Hedin ohne Zweifel dasjelbe Wort wie 
Takla, das „jchon jeit Langem“ in eine Wüfte verwandelt jei, und 
dejjen Städte in Ruinen lägen. Bejonders intereffant it es noch, 
daß Hedin auch chriftliche AlterthHümer fand. Noch im Jahre 1274 lebten 
nach Marco Polo im chinefiichen Oſt-Turkeſtan Jafobuschriften und 
Nejtorianer, die ihre eigenen Kirchen hatten. Jetzt ift jchon lange 
die legte Spur des alten Chriſtenthums in diefen Gebieten ver: 
ſchwunden, doch giebt e8 jeit Kurzem in mehreren Städten ſchwediſche 
Miſſionare. Hedin urtheilt mit Hochachtung über ihre Motive und 
ihren jelbjtverleugnenden Muth, aber er bedauert es, daß jie an 
einem unfruchtbaren und unflugen Werfe arbeiten. Ganz Turfejtan 
ijt befanntlich jtodmuhammedanijch, und Muhammedanermiffion in 
einem Gebiete mit, wenn auch nur lofaler, muhammedanijcher 


Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraſien. 483 


Obrigfeit, vollends dort, wo der Islam noch ganz und gar nicht 
durch europätjche Kultureinflüfje, vor alem durch den modernen Ver: 
fehr zerjegt wird, ift und bleibt eine Thorheit,wenn auch eine gut» 
gemeinte. Darin fann ich Hedins Urtheil aus eigner Anjchauung 
der orientalischen Verhältnijje heraus nur unbedingt beipflichten. 
Am 14. Januar 1896, falt zwei Jahre, nachdem er in 
Meargelan, der Hauptitadt des rujjiichen TFerghanagebiets, den 
Boden jeines zentralafiatiichen Forſchungsgebietes betreten hatte, 
brach er von Khotan, dem Yaufe des feſt zugefrorenen Fluſſes 
nordwörts folgend, auf, diesmal ohne Zelt und Bett. Statt deren 
diente ihm ein aus Ziegenfellen zufammengenähter Schlafjad, und 
das bei einer Kälte, die Nachts oft unter zwanzig Grad minus 
janf. In dem legten menschlichen Wohnplag am Fluſſe wurden 
‚sührer nach der NRuinenjtadt in der Wüſte genommen. Bon hier 
bog die Karawane rechtwinklig vom Flußlauf nad Dften ab, 
wieder in das Sandmeer hinein. Am fünften Marjchtage er— 
reichte fie einen großen abgejtorbenen Wald mitten in der Wüſte. 
Gebleichte niedrige Stämme und Baumjtümpfe, jpröde wie 
Glas, und zahllofe Wurzeln bededten eine weite Fläche 
und lieferten ein unvergleichliche8 Brennmaterial. Am jechsten 
Tage ſtieß man wirklich auf die alte Stadt. Allerdings 
machte die Stätte eher einen merkwürdigen als einen impojanten 
Eindrud, denn die Häujer waren nicht aus Steinen oder Yuftziegeln, 
jondern aus Holz, Binjen und Stud gebaut gewejen. Auf einem 
Gebiet von drei bis vier Kilometern im Durchmejjer waren zahl— 
[oje hohe Pfojten oder Balfen fichtbar, mit Spuren von Wänden 
dazmwijchen, die auf eine ganz eigenthümliche Art hergeitellt waren. 
Bwijchen den jenfrecht in die Erde gerammten Balfen, die ın 
größerer oder geringerer Anzahl, gleich den Pfojten eines Zaunes 
nebeneinander jtehend, das Gerippe der Außenwände bildeten, liefen 
zahlreiche dünne, horizontale Querlatten, an die in feiten Büjcheln, 
eins dicht neben dem andern, Schilf gebunden war. Hierüber war 
eine Schicht mit Häckſel vermijchten Lehmes gejtrichen und die 
ganze — in einem Falle noch einen Meter hohe — Wand weiß 
getündht. Eins diejer Häujer nannten die Eingeborenen Bud— 
Chané, d. i. einen Buddha-Tempel. Die Wände waren gejchidt 
bemalt: betende Frauen, jchwarzbärtige Männer, Hunde, Pferde, 
auf Wellen jchaufelnde Schiffe waren da zu jehen, auch ein Stüd 
„Papier“ mit unlesbaren Schriftzeichen. In einem anderen Hauje 
fand Hedin eine Menge Gipsfiguren, die offenbar Buddhabilder 
81* 


484 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien, 


darjtellten, ebenjo halbnadte Frauenbilder, Leiften, Frieje, Blumen 
und Guirlanden von Gips, Thonjcherben, einen gewaltigen Mühl: 
jtein aus Porphyr und andere Dinge. Lange jchnurgerade Doppel: 
reihen von PBappelftümpfen, Spuren von Pflaumen: und Aprikojen- 
bäumen und eine ausgedörrte Seidenraupenpuppe lieferten den 
Beweis, daß es hier einjt Gartenanlagen und Geidenzucht, aljo 
Maulbeerbäume, gegeben hatte. Ausgrabungen zu machen, erwies 
fi) wegen der fließenden, ſtets nachrutjchenden Sandmajjen als 
jo gut wie unmöglih. Nur ein relativ fleiner Theil der Ueber— 
bleibjel — das, was gerade auf dem Grunde der Dünenthäler 
lag — war überhaupt fichtbar; weitaus das Meijte jtedte unter 
den Sandmafjen der mächtigen halbmondförmigen Kämme be: 
graben. 

Die Eingeborenen nannten den Ort Tafla Mafan. Hedin iſt 
der erjte Europäer, der ihn gejehen hat, was ihn mit ebenjo 
begreiflichem wie gerechtem Stolze erfüllt. Wer aber hat Ddieje 
Stadt gebaut, und woher fommt es, daß fie jeßt mitten in Der 
Wüſte begraben liegt? Bon den Ruinen find es nad) Weiten über 
fünf Tagemärjche bis zum nächſten Gewäfjer, dem Khotan-darja — 
ojtwärts aber erreichte die Karawane nad) drei Tagemärjchen 
den nächjten Fluß, der, von dem füdlichen Hochlande herabfommend, 
tief nach Norden in die Wüjte hineindringt: den Kerija-darja. 
Hedin iſt der Meinung, daß der Kerijä-darja einjtmals bei der 
alten Stadt vorbeigeflofjen jet, im Laufe der Zeit aber jein Bett 
immer weiter ojtwärts verlegt und auf dieje Weije die Stadt dem 
allmählichen Untergange geweiht habe. Thatjächlich zeigen ſehr 
viele Flüſſe Turfeftans dieſe Neigung, ſich nad) Ojten zu verjchteben. 
Unter Berüdjichtigung der herrjchenden Winde und der Schnellig- 
feit, mit der die Dünen wandern, berechnet Hedin 1500 Jahre, 
eher jogar noch ein halbes Jahrtaufend mehr, als das wahrichein- 
liche Alter der Stadt. Der terminus a quo ijt das Eindringen 
des Buddhismus in QTurfejtan, ein Vorgang, der fich ficher bereits 
mehrere Jahrhunderte vor Chrijto vollzog; der terminus ad quem 
iſt die arabtijiche Eroberung, die zugleich die Muhammedanijirung 
des Yandes brachte, zu Anfang des achten nachcehrütlichen Jahr: 
bunderts. Bor dem eriten Termin it es undenkbar und nad) dem 
zweiten höchſt unmwabhrjcheinlich, daß eine buddhijtiiche Kultur 
hier geblüht Haben jollte — ein buddhiftiiches Volt aber hat das 
alte Tafla Mafan, wie aus den gefundenen Altertyümern ſicher 
hervorgeht, bewohnt. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 485 


Hedin behält ſich vor, in jpäteren Veröffentlicjungen auf dies 
hiſtoriſche Problem noch bejonders zurüdzufommen. In jeinem 
jegigen Werfe deutet er nur jeine VBermuthung an, daß es nicht 
die Vorfahren der heute im Lande haujenden Turkſtämme gewejen 
jeinen, von denen die Stadt bewohnt wurde. In Betreff der 
geologischen Berhältniffe meint er, daß zur Zeit der Blüthe von 
Takla Mafan mindejtens der Raum zwijchen jener alten Ortslage 
und der heutigen Südgrenze des Sandes noch nicht Wüſte 
gewejen jei, mit andern Worten: daß damals Tafla Mafan wahr: 
icheinlich ebenfo am Rande der Wüſte auf bewäfjertem Fruchtlande 
lag wie heute Khotan, Kerija und alle die anderen Städte in der 
Grenzzone zwijchen dem Fuße des Kwen-lun-Syſtems und dem 
janderfüllten Tarimbeden. Wenn Hedin Recht hat und dem wirflich 
jo tft, dann muß noch in Hiftorischer Zeit die Wüſte um mehr als 
100 Kilometer jüdwärts vorgedrungen jein, und noch zur Zeit 
Aleranders des Großen hätte jich eim großes, fruchtbares und 
bevölfertes Land dort ausgedehnt, wo e8 heute nur die todtbringenden 
Flugſanddünen giebt. Es iſt dann allerdings nicht nöthig, mit 
Hedin anzunehmen, daß gerade der Kerija-darja in jener Vorzeit 
bei Tafla Makan vorbeigefloffen und dann in der Folge drei 
Tagereijen weit oſtwärts gewandert it; wenn zwijchen der alten 
Buddhiitenitadt und dem Kwen-lun damals noch fein Wüftenjand 
lag, jo fann ebenjo gut eins der andern zahlreichen und ftarfen 
Gewäſſer, die vom Gebirge herabfommen und jet vom Sande 
verjchludt werden, der Gegend ihr Leben gegeben haben. Merk: 
würdig tt in jedem Falle, daß fich die Ueberbleibjel des großen 
Waldes bei den Ruinen und jogar ein jo vergängliches Baus 
material wie die Binjen der Häujerwände durch) mehr als ein 
Sahrtaujend erhalten haben — fraßen doch jogar die Ejel und 
Stameele munter von eben jenen Binjen — aber Hedin verjichert, 
daß die Ueberdedung mit dem feinen trodenen Sande der jtetig 
wandernden Dünen eine im höchjten Maße fonjervirende Wirkung 
auf organijche Stoffe ausüben. Noch wunderbarer erjcheint 
es, daß ſich noch erheblich weiter in die Wüſte hinein, 
eine Tagereife wejtlich vom Serija=darja, ſechs Tagereiſen öſtlich 
von der Stelle, wo Hedin im Herbit des vorhergehenden Jahres 
nad) jeiner Schredensreije an den Khotan-Darja gelangt war, die 
Ruinen einer zweiten alten Stadt fand, die zwar jchlechter er— 
halten war, aber jonjt ganz denjelben Typus zeigte wie die erjte. 
Sogar ganz im Norden des Bedens, am mittleren Tarim jelbit, 


486 Sven Hedind und Landors Reifen in Innerafien. 


wußten die Eingeborenen von einem eben jolchen Orte in der 
Wüſte zu erzählen, den fie Schar = ı- Köttef nannten, d. h. die 
Stadt im todten (abgejtorbenen) Walde. Diejen legteren Punkt hat 
Hedin nicht zu finden verjucht, da die Angaben gar zu unbejtimmt 
waren. Jedenfalls ijt aber jchon das, was er thatjächlich gefunden 
hat, von der höchiten Wichtigkeit, und der modernen phyſikaliſchen 
und hijtorischen Erdfunde iſt durch die Entdedung jener verhältnik- 
mäßig jungen Denkmäler einer hochentwidelten Kultur mitten in 
der jchredlichiten Wüſte Ajiens ein Problem gejtellt, das interejjanter 
und wichtiger it, als Alles, was bisher an vergleichbaren Vor- 
fommnijjen befannt ijt. 

Zur Ergänzung der Gedanken Hedins über das vernichtende 
VBordringen des Sandes in Folge der herrſchenden Windrichtung 
aus der Wüjte jüdwärt® möchte ich auf ganz parallele Be- 
obachtungen aufmerffam machen, die im rujjiichen Transfaspien 
angejtellt worden find. Dort liegen die Verhältnijie in etwas 
fleinerem Maßjtabe ähnlich, wie in Oft-Turfejtan, im Großen: eine 
Sandwüſte, Narasfum, dehnt fich im Norden aus, und ein Streifen 
Fruchtland erjtredt jich am Fuße eines Gebirges, des Kopet-dagh, 
im Süden als ein jchmales, grünes, fultivirtes Land von Weiten 
nad) Oſten. Der Wind fommt auch hier überwiegend aus Norden 
und die Folge it, dat der Sand erfolgreich bejtrebt ift, die etwa 
25 Kilometer breite, von zahlreichen jpäter in der Wüſte ver: 
jiegenden Bächen bewäjjerte Nulturzone zu verjchütten. Der 
rujjische General Obrutjchew*), hat die Wanderjchnelligfeit des 
Sandes bier auf 4—5 Kilometer im Jahrhundert berechnet und 
gemeint, in 500—600 Jahren würden die Dünen direft am Fuß 
des Kopet-dagh liegen. Das jtimmt fajt genau zu Hedins Be 
rechnung für Taflasmalan: etwas über 100 Kilometer VBordringen 
in rund 2000 Jahren. 

Am 20. Februar, fünf Wochen nach dem Aufbruch von Khotan, 
erreichte Hedin den Urwaldgürtel des großen Tarim und ging zwei 
Tage jpäter über den fejt zugefrorenen, hier 156 Meter breiten Strom. 
Einundvierzig Tage nad) dem Beginn dieſer Reife langten jie in 
einem Ffleinen Städtchen nördlicd) vom Strome an, in Schah > jar. 
„Hier fam mir eine große Idee“, jchreibt Hedin: Er beſchloß, nicht 
erit, wie anfänglic) geplant, nad) Khotan zurüdzugehen und ſich 
dort für eine neue große Expedition auszurüften, jondern, wie er 


*) vgl Radde, Transkaspien und Nord-Choraſan, im Ergänzungsband 
zu Petermanns Mittheilungen, 1898. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 487 


ging und jtand, gleich oftwärts zur Löſung der Lob-nor— 
Frage aufzubrechen. Bei diejer handelt es fich um eins der 
wichtigiten Probleme der Geographie Inner-Aſiens. 

Es iſt eine befannte Ihatjache, daß abflußloſe Seebeden, die 
jeit langer Zeit von einem rejp. mehreren Flüſſen geſpeiſt worden find, 
Jalziges Waſſer enthalten, und das ijt überhaupt nicht anders 
denkbar. — Der Erdboden enthält überall in größerer oder ge— 
ringerer Menge Salze, die vom Flußwaſſer aufgelöft und mitge- 
führt werden; wenn nun der Fluß in ein abflußlojes Beden 
mündet, jo entiteht dort zunächit ein See, deſſen Spiegel jolange 
jteigt, bis die Fläche jo groß geworden iſt, daß die von ihr ver- 
dunjtende durchjchnittliche Waſſermenge dem jährlichen Zufluß gleich 
it. Während nun das einjtrömende Waſſer fort und fort ver- 
dunſtet, müjjen natürlich die zugeführten Salztheilchen in dem 
Beden zurüdbleiben, und mag ihre Menge auch Anfangs noch jo 
gering jein, jo muß fich durch ihre Jahrtaujende lange fortgejegte 
Summirung jchlieglich doch ein jtarfer Salzgehalt des Seewaſſers 
ergeben. Auf dieje Weije find die meijten Salzjeen entjtanden, und in 
einzelnen Fällen, namentlich in der warmen Zone und wenn die 
Flüſſe ſchon an jich jalzhaltigen Boden durchfliegen, jteigert ſich 
der Salzgehalt ihrer Mündungsjeen bi8 zu dem Charafter einer 
Lauge oder gejättigten Sole, wie 3. B. beim Todten Meer oder 
dem Elton-See in der Kaspiſchen Niederung. Da Wafjer nicht 
mehr Salz in gelöjtem Zujtande in ich aufnehmen fann, als 28 
bis 29 Gewichtsprozente, jo muß natürlich, jobald dieje Grenze 
erreicht iſt, das überjchüjjige Salz ausfryitallifiren und, je nach 
feinem jpezifiichen Gewicht, entweder zu Boden jinfen oder oben: 
auf jchwimmen. Das leßtere it z.B. bei dem berühmten Tus- 
Tſchöll, dem Tatta lacus der Alten, auf der Hochebene des inneren 
Kleinafiens der Fall, wo im Sommer eine meterdide Salzichicht 
gleich einer fompaften Eisdede, auf der man gehen und reiten 
fann, über dem Wajjer lagert. Angefichts diejer Erwägungen und 
Beifpiele it es theoretiich mit abjoluter Sicherheit zu erwarten, 
daß aucd das Meündungsbeden des Tarim ein Salzjee it. Daß 
der Strom in einen See mündet und nicht etwa allmählich im 
Sande verrinnt, das jtand durch das einhellige Zeugniß der 
hiftorischen und geographijchen Urkunden fejt. 

Man kann ſich das Eritaunen der wifjenjchaftlichen Welt 
denken, als der große ruſſiſche Neijende Prſchewalſkij im Jahre 1876 
als erjter wijjenjchaftlich gebildeter Europäer das Ende des Tarim 


488 Sven Hedins und Landors Neifen in Innerafien. 


erreichte und einen Süßwajfjerjee fand. Außerdem lag Diejer 
jüße Lob-nor viel jüdlicher als die alten chinefiichen Karten und 
Erzählungen angaben. Als dieſe Nejultate in Europa befannt 
wurden, erklärte der Berliner Geograph Freiherr von Richthofen, 
die Lob-nor-Frage ſei durch Prichewaljfij, unbejchadet der jonjtigen 
Verdienſte diejes großen Mannes, nicht endgiltig beantwortet, denn 
man müſſe es als eine abjolute Unmöglichkeit bezeichnen, da in 
Wirklichkeit das wahre Mündungsbeden des Tarım Süßwaſſer enthält 
— zumal, da die Gegenden, durch die der Fluß jein Waſſer hindurch: 
führt, befanntermaßen zu den jalzhaltigjten der Erde gehören. 

Die Löjung des Räthſels, die Hedin fand, iſt jehr eigen: 
thümlich: Der Tarim wechjelt mit jeiner Mündung zwijchen zwei ver: 
jchiedenen, ziemlich weit von einander abliegenden Beden, Deren 
eines immer troden wird, wenn das andere jich füllt. 
Brichewaljfij hatte vollfommen Necht, al8 er 1876 einen Süßwaſſerſee 
als Endbajfin des Stromes fand; aber er wußte nicht, daß Diejer 
See erſt wenige Jahre exijtirte, geographiich gejprochen, „von 
geſtern“ war. Darnad) hat e8 natürlich nichts Wunderbares, wenn 
er noch nicht zur Salzpfanne geworden war. In den jechziger 
Sahren noch floß aber die Hauptmajje des Tarimwajjer® in das 
nördlichere Beden, wo fie auch während der letten hundert Jahre 
wahrjcheinlich) dauernd jich hineinergojjen hat, und gerade zur Zeit, 
da Hedin am Lop-nor weilte, zwanzig Jahre nad) dem Bejuche 
Brichewaljfijs, war der jüdliche See jchon wieder im Verjchwinden 
und der nördliche in der Füllung begriffen. Natürlich hatten einit- 
weilen noch beide ſüßes Wafjer.*) Nur die durd) Sandanhäufungen 
abgejchnürten Randlagunen zeigten bereits bradiges und jelbit 
jalziges Wajler. 

Immerhin ift es merfwürdig, daß ein Fluß von der Waſſer— 
menge des Tarim nicht einen dauernden Mündungsjee von einiger 
Größe zu Stande bringt, aber die enorme Verdunſtung in der 
trodenen Luft der umgebenden Wüſte und die Gier des Sand» 
bodens, in dem das Bett liegt, find ſtarke Gründe, die es ſchließlich 
doch erklären. Gegenwärtig endet der Tarim in folofjalen Schilf- 


) Ich darf den Lefer zum näheren Berftändniß für einen jolden Wechſel 
einer Strommündung zwiſchen zwei verjchiedenen Bepreifionen auf das 
verweifen, was ich im Sabre 1897 anläßlich der Beichreibung meines 
Ausflugs nad Zurkeftan in diefen Jahrbüdern über die Mündung des 
Amu-Darja in den Aralſee refp. den Sary Kamyſch und über den alten 
Oruslauf ausgeführt habe. In der Buchausgabe meiner Reife (Berlin, 
Georg Stille 1898) ift es Seite 135 ff. 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 489 


wäldern, zwijchen denen fich nur noch wenige Beden und jchmale 
Kanäle mit offenem Wafjer finden. Das Scilf jteht undurch- 
dringlich, wie eine kompakte Holzwand, bis zu fünf Meter über 
der Wajjerlinie hoch. In diejen dichten Maſſen halten die Loplik 
(Leute vom Lop-nor) des Fiichfanges wegen jogenannten Tſchappgane 
offen — ſchmale, forridorartige Kanäle von einem Meter Breite, 
deren Eingänge meift faum fichtbar find und über denen fich in 
der Höhe die Schilfwände dicht zujammenjchließen. In dem 
Tichappgan werden Fiichnege ausgelegt, und Hedin jah Hunderte 
davon auf dem Grunde des flaren, mehrere Meter tiefen Wafjers 
liegen, während er in einem mit Zopleuten bemannten großen Ein» 
baum darüber hinglitt. 

Am äußerſten Ditende jeiner Lop-nor-Route befand ich Hedin 
Ichlieglich über taufend Kilometer von feiner zeitweiligen Operations» 
baſis Khotan, wo fajt fein ganzes Gepäd und der größte Theil 
jeiner WReijefajje lagen. In den legten Apriltagen trat er den 
Rückweg an und ritt am 27. Mat, nach einer Abwejenheit von 
piereinhalb Monaten, wieder in Khotan ein. Jetzt blieb ihm nur 
noch das letzte Stüd des Programms, das er ſich vorgenommen 
hatte, zu erfüllen übrig: die Durchquerung Nord-Tibets. Man 
fann jagen, daß es heute nirgends auf der Erde mehr, außer in 
den Wolargebieten, ein zujammenhängendes Stück von jolcher 
Ausdehnung giebt, von dem wir in geographijcher Hinficht jo 
wenig wüßten, wie von dieſem verjchlojienen Lande Tibet. Nur 
der verhältnigmäßig kleine wejtliche Zipfel am oberen Indus, der 
zu dem indosbritiichen Wajallengebiet von SKafchmir gehört, 
ijt einigermaßen gut befannt. Alles Uebrige ijt ein großer weißer 
Fleck mit vielen hypothetijchen und nur jehr wenigen ficher feitgelegten 
Seejpiegeln, Gebirgszügen und Wajjerläufen. Tibet jteigt in jeiner 
mittleren Höhe in einer Ausdehnung von mehreren Millionen 
Quadratfilometern über 4000 Meter hoch empor, d. h. eine Fläche 
der Größe Mitteleuropas liegt theils nahe dem Niveau der Montblanc- 
Spite, theild noch höher. Wirklich bewohnt find daher nur Die 
relativ am tiefiten gelegenen Theile im Süden, die Thäler des 
Indus und Brahmaputra, wo die großen Städte Leh, Schigatje 
und Lhaja in etwa 3600 Meter Höhe, aljo nur eine Stleinigfeit 
unter dem Gipfel des Groß-Glodner, liegen. Weitaus das Meijte 
von Tibet, der ganze Norden, iſt völlig menjchenleer. Gerade hier 
aber, wo der riejenhafte Kwen-lun, das längjte Hochgebirge Ajiens 
und das ältejte der Erde, das Land erfüllt, harrt eine ganze Reihe 


490 Sven Hedins und Landor Reifen in Innerafien. 


der wichtigjten geographiichen ragen und Probleme der Antwort. 
Um nur eins herauszugreifen, jo jet auf die eigenthümliche Boden: 
bildung in abflußlojen Gebieten hingewiejen, über die hier Be 
obachtungen im größten Maßſtabe gemacht werden fünnen. Da die 
Derwitterungsprodufte der Gebirgsgrate, Gipfel und Abhänge nicht, 
wie in andern Gebirgen, durch fließendes Waſſer fortdauernd zum 
Meere hHinabgejchafft werden fönnen, jo bleiben die bejtändia 
wachjenden Maſſen auf den Flanken der Bergzüge und in den 
Deprefjionen zwijchen ihnen in Gejtalt unermeßlicher Schuttmajjen 
liegen, und das ganz Gebirgsſyſtem erjcheint unter diefen Trümmern 
fürmlich begraben. Die gewaltige Durchjchnittshöhe namentlich der 
nördlichen Theile Tibets iſt, wenigjtens bis zu einem gewiſſen Grade, 
eine Folge diejer Abflußlojigfeit, die jede einjchneidendere Thal- 
bildung durch Erofion zur Unmöglichkeit macht. Im diejer Hinficht 
das Beobachtungsmaterial zu erweitern, jowie Studien über die 
Elimatischen und geologijchen Berhältnifje im Allgemeinen, über 
bydrographijche und atmojphärische Vorgänge im Bejonderen an- 
zujtellen, war eine Aufgabe, die auf diefem jungfräulichen und nad) 
allen jeinen Berhältnijjen einzigartigen Forjchungsgebiet für Hedin 
den höchjten Reiz haben mußte. 

Sn den eriten Julitagen jtand Hedin mit einer großen Kara- 
wane von 56 Pferden, Ejeln und Stameelen bei Dalai-fturgan am 
Fuß der ungeheuren Nordfette des Kwen-lun, etwa unter dem 
85. Grade öjtlicher Länge. Er hatte jech$ zuverläjjige turfeitantjche 
Diener mit ich; außerdem wurde hier eine große Anzahl von 
Tagliks — Eingeborene der Gegend bei Dalai-Kurgan — engagirt. 
Der Kwenslun hieß hier Toffus-dawan. Am 7. Auguſt wurde der 
Kamm in 4780 Meter Höhe auf dem Jappkaklik-Paſſe überjchritten. 
Als am Abend das Lager aufgejchlagen wurde, nannten die Ein: 
geborenen, die in großer Zahl für die eriten Reijetage als Begleiter 
und Helfer engagirt waren, den Ort: Bulaf-bajchi, d. i. Haupt 
der Quelle. Das war der lette Name, den Hedin nach dem Be: 
ginn des Vordringens in Tibet notirte, zugleich auch der letzte 
türkische Name auf feinem Wege durch Ajien. Bis dorthin famen 
im Sommer noch einige Goldgräber aus Turfejtan, aber nur vom 
Sult bis September erlaubt es die Witterung zu arbeiten. Von 
bier an mußte Hedin die Lagerpläge, Seen, Flußläufe und 
Gipfel nummeriren, denn nie war ein Menjch hierher ge 
langt, der ihnen hätte Namen geben können. Nur Chulane 
(Wildejel) und Yaks belebten die Gegend. Sie nähren ſich 


Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 491 


von dem dünnen, mageren Graje, das in den Thälern und 
auf den Abhängen wächit, und das fie während des größten Theils 
des Jahres unter dem Schnee hervorjuchen müfjen. Die Tagliks 
begannen zu dejertiren, da jie Furcht hatten, immer weiter ins 
menjchenleere Yand hinein mitgenommen zu werden; auch Hedins 
chineſiſcher Dolmetjcher wurde bald mit einem Begleiter zurüd> 
geichidt, da er furchtbar an der Bergkrankheit zu leiden 
anfing. Die Lager mußten öfters mehr als 4700 Meter hoch auf: 
geichlagen werden; Nachts fiel das Thermometer Anfang Augujt 
auf — 7°; der Inhalt des Tintenfafjes gefror zu einem Eisflumpen ; 
nur ganz wenige genügjame Pflanzen dauerten in diejer Region 
aus, und die Slarawanenthiere mußten von dem mitgenommenen 
Mais leben. Einige zwanzig Ejel trugen die Maisjäde; e8 war 
vorauszufehen, daß die armen Thiere allmählich unter den Strapazen 
des fortgejegten Marjches, in dem Maße, wie fich das Futter ver: 
minderte, zu Grunde gehen würden. Auch eine Heerde Schafe und 
Biegen ging als lebender Proviant mit. 

Die Karawane war jebt zwijchen zwei Ketten des Kwen-lun, 
der nördlichen, bereits überjchrittenen, und einem mächtigen, jchnee- 
tragenden Kamm, dem Arkastag im Süden. Hedins Marjchrichtung 
war direft öjtlich, aber, um in die Gegenden zu gelangen, wohin 
er wollte, mußte er den Arka-tag überjteigen. Ienjeits diejes Ge- 
birges wollte er dann wieder jeinen öjtlichen Marjch zum Stillen 
Ozean fortjegen. Die Bergfrankheit, von der Hedin übrigens ver- 
ſchont blieb, machte die Leute immer verdrofjener. Bei Yager 4 
fehlte nur noch eine Kleinigkeit an 5000 Metern Höhe. Reis und 
Fleiſch Fochten nicht mehr weich, da der geringe Luftdruck das Wajjer 
viel zu früh zum Sieden brachte. Nach) 3 Uhr Nachmittags fiel 
das Thermometer bereits unter Null, und Hedin jchreibt, daß Die 
Pfeife das Einzige war, woran man überhaupt noch) etwas ‘Freude 
hatte. Bei Lager 5 — Höhe 4975 Meter — glaubte Hedin von 
einem jchweren Schlage betroffen zu werden ; jein Islam Bai er: 
franfte. „Eigentlich“, heißt e8 im Neijetagebuch, „war er es jtets, 
der unjere Karawanen zujammenjtellte und ordnete... .. Zehn 
Mann hätten ihn nicht aufiwiegen fünnen ; er ijt unerjeßlich. Und 
nun liegt er da, gebrochen ‚wie ein GreiS und röchelt wie ein 
Sterbender. Es wäre bitter, wenn er jeßt jtürbe, nun da er im 
dritten Jahre fein ruhiges Leben in Oſch aufopfert.... Unjer 
Lager gleicht einem Kranfenhauje und mit Invaliden umberzuziehen 
it unmöglih. Man fühlt jich unter jolchen Verhältnijjen wie fejt- 


492 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


gefettet und hat feine andere Wahl, als die Kranfen unter Be 
defung zurüdzulafien oder — umjzufehren! Bor der letteren 
Alternative fühle ich jedoch ein wahres Grauen; ich muß die un: 
befannten Hochländer, die jich im Süden des Arkastag ausdehnen, 
unterjuchen.“ 

Wie unvergleichlich Hedin jelbjt durch Temperament, Charakter 
und Konſtitution zu feinen Forjchungsreijen ausgerüftet war, dafür 
mögen noch einige weitere Worte jeine® Tagebuch von diejem 
Zagerplag als Beleg dienen: „Wie herrlich it es hier oben im 
Gebirge, in der Elaren, frijchen Luft zwijchen bejtändig wechjelnden 
Landjchaftsbildern, im Gegenjag zu den einförmigen Wüſten mit 
ihrem grauen Himmel, ihrer Stidluft, ihren Sforpionen, Zeden 
und Mücden und ihrem Wafjermangel! Ic bin überglüdlich in 
dem Gedanfen, jene Gegenden hinter mir zu haben. Aber meine 
Diener fürchten die jtillen Berge und jehnen ſich nad) dem Tief: 
lande zurüd.“ 

Nach einigen Tagen erholte jich Islam Bat, und man machte 
den Berjuch, den Arka-tag zu überjchreiten. Mit unjäglicher Mühe 
arbeitete jich die Karawane zu einem Paß in die Höhe, der jüds 
wärt® hinüber zu führen jchien — um oben zu jehen, daß 
der jchneebededte jcharfe Hauptfamm, durch eine breite, tiefe 
Senfung von ihnen getrennt, noch weit jüdwärts lag, allein Anjchein 
nach hier unüberjteigbar. 5253 Meter hoch wurde gelagert; am 
Morgen gab es Fein Teuerungsmaterial, und Hedin mußte mit 
Kakao in Eiswafjer vorlieb nehmen, was ihm in der Wüſte Takla- 
mafan entjchieden lieber gewejen wäre als hier bei 59 Kälte. 

Bei Lager Nr. 8 erfannte Hamdan Bai, einer der Taglifs, 
Die Gegend wieder: er hatte im vorigen Jahre mit dem eng— 
lifchen Reiſenden Littledale Tibet jenfreht auf die Route 
Hedind von Norden nach Süden durchquert und bejann fich jest 
darauf, daß fie damals in diefer Gegend einen Paß über den Arka— 
tag gefunden hatten. Da trat ein Ereigniß ein, das alle weiteren 
Pläne Hedins über den Haufen zu werfen drohte: jämmtliche Tagliks 
dejertirten in der Nacht vom 18. auf den 19. Augujt. Als Hedin 
und jeine wenigen turfejtanischen Diener am Morgen aufwachten, 
jahen ſie jich allein; dazu fehlten eine Menge Ejel, Pferde und 
Vorräte. Sofort ſchickte Hedin jeine vier zuverläfjigiten Leute gut 
bewaffnet auf den beiten Pferden den Flüchtlingen nad. Um 
Mitternacht jahen die Berfolger deren Lagerfeuer, jprengten ohne 
einen Augenblid zu zögern heran und drohten Jeden niederzujchießen, 


Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien., 498 


der ſich widerjegen oder zu entfliehen verjuchen würde. Wider: 
jtandslos ließen die Durchbrenner jich die Hände auf dem Rüden 
zufammenbinden und zum Lager der Karawane zurüdtransportiren. 
Dort wurde Gericht gehalten. Die Turfejtaner drangen auf tüchtige 
Prügel für die Dejerteure, aber Hedin ließ die Körperitrafe durch 
zwölf leichte Hiebe eigentlich bloß marfiren; im Uebrigen lautete 
jein Urtheil dahin, die Leute hätten alle ihre rechtlichen Lohn— 
forderungen verwirft, ob ſie jchließlich etwas befommen würden, 
jollte von ihrem ferneren Benehmen abhängen und vorläufig 
müßten fie Nachts gebunden jchlafen. Dieje Milde,. verbunden mit 
der jtarfen moralijchen Demüthigung, erwies fich al8 das Bejte, was 
Hedin thun konnte. Auch diejer Zug zeigt jeine unvergleichliche 
Begabung als Forjchungsreijender. 

Täglich zwifchen ein und zwei Uhr Mittags jtellte jich jet 
ein furzer aber heftiger Hageliturm ein, der die Gegend weiß ein— 
hüllte. Beim Aufjtieg zu Littledales Paß ſtieß man auf einen 
Ejelfadaver von der englijchen Expedition: das mumienartig ein- 
getrodnete Thier war ganz unverjehrt. Alſo nicht einmal Wölfe 
und Naubvögel gelangten hierher! Erjt am 24. Auguſt wurde der 
Arkastag überjchritten — Paßhöhe 5544 Meter. Jetzt hatten fich 
Alle an dieje enormen Höhen gewöhnt und Steiner litt mehr an der 
Bergkfrankheit. Von oben erjchten jüdwärts ein Seebeden, dem 
alle Gewäſſer vom Kamme herab zuzujtrömen jchienen: das Strom: 
gebiet des Lop-nor lag endlich im Rüden und das abflußloje Hoch: 
fand von Tibet war erreicht. Die Szenerie war überwältigend: 
völlig todt und jchweigjam — aber phantajtische Wolfenbildungen, 
Schneefetten, jchwarzblaue Bergwände und jchaurig = jchöne Be— 
feuchtungseffefte bewegten die Seele des Neijenden. 

Fünf Wochen lang zog Hedin jet gen Oſten durch unbe: 
fanntes, unbewohntes Gebiet. Zwanzig abflußloſe bitterjalzige 
Seebeden hintereinander wurden pajjirt. Zuletzt wartete Alles 
mit faſt brennender Ungeduld auf die erite ſüße Wajlerfläche — 
als ein Zeichen, daß die abflugloje Region endlich durchzogen jei. 
Eins nach dem anderen von den Thieren fiel, um nicht wieder 
aufzuftehen; zulegt auch Hedins treues Neitpferd. Am 27. September 
fanden die Leute ein tibetanijche® Obo: einen Haufen he= 
jchriebener Schieferplatten. Man hatte aljo einen Ort erreicht, 
wo Menjchen hinfamen! Bald mehrten fich jolche Funde. Hedin 
machte jich einmal an das Kopiren einer ſolchen Inschrift — als 
er eine halbe Stunde lang die fremden Charaktere nachgemalt 


494 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


hatte, merkte er, daß fich nach je fieben Zeichen immer diejelbe 
Sruppe wiederholte! Es war die buddhiftiiche Gebetsformel: 
„Om mani padme hum“ (DO, das Kleinod im Lotos, Amen), die 
wohl viertaujendmal auf jiebenundvierzig Platten gejchrieben ſtand. 
Der Xejer wird ſich den Merger und die Enttäufchung des 
Reiſenden denfen fünnen. Am 1. Oftober endlich fand man die 
eriten Menjchen — mongolijche Nomaden, wo Hedin neue Pferde 
und Proviant faufen fonnte und freundliche Aufnahme fand. Am 
9. November wurde der gewaltige Koko-nor oder Blaue See er: 
reicht. Von bier an hört die eigentliche Forſchungsreiſe auf; 
e3 handelte fich für Hedin jegt nur mehr darum, jo jchnell wie 
mögli Peling und die Heimathb zu erreichen. Am 
taujendunderjten Tage jeiner Reife durch den aſiatiſchen 
Kontinent jah er die Stadtmauer von Peking vor ſich auftauchen. 
Begreiflicher Weiſe wollte er jich erjt einen menschlichen Anzug 
machen lajjen, bevor er Europäer aufjuchte, aber als er bei der 
ruſſiſchen Botjchaft vorbeifam, hielt er es nicht aus und jtürmte 
hinein... ..! Am 10. Mai 1897, dreieinhalb Jahre nach dem 
Verlafjen der jchwedischen Heimath, tauchten die Thürme von 
Stodholm vor den Augen des fühnen Neifenden wieder auf. 
Große Ehren warteten jeiner. 


* * 
* 


Kann nad) den vorgeſteckten Zielen, nach den erreichten 
Nejultaten und nicht zum Mindeiten noch der Methode und den 
Mitteln, mit denen der Genius feine Ideen verwirflicht, fein 
Zweifel daran jein, daß Hedin ein Forjcher großen Stils iſt, eben- 
bürtig den Livingjtone, Nachtigal, Nordenjtjöld? — jo wird fid 
Henry ©. Yandor, der jein Unternehmen begann, als Hedin 
durch Rußlands Ebenen der Heimath zueilte, mit einem etwas be 
jcheideneren Plage begnügen müſſen. Nicht nur, daß er im Gegen: 
ja zu dem ebenjo glüdlichen wie fühnen Schweden vom Miß— 
gejchid verfolgt wurde und nur einen fleinen Theil jeines Planes 
verwirklichen fonnte — jeine Berjönlichkeit entbehrtauch in etwas jener 
ruhigen Größe, die nur durch ihre Bejcheidenheit, wie durch die Höhe 
der Aufgaben, die ſie Sich jtellt und die fie durchführt, imponirt. 
Yandor ijt ein verwegener Draufgänger, ein Menjch von 
phänomenaler Widerjtandskraft gegen alle Uebel und von beinahe 
unbegrenzter förperlicher Xeijtungsfähigfeit, den das für unmöglid 
GSeltende an jich reizt. Diejer Veranlagung entjpricht jein Ziel: 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 495 


nach Xhaja, der verbotenen Hauptjtadt Tibets, vorzu— 
dringen, und zwar von Indien aus. 

Der legte Europäer, der Lhaſa gejehen hat, ift der franzöfijche 
Mijfionar Pater Huc, der zujammen mit jeinem Kollegen Gabet 
im Jahre 1845 die Stadt von Peking aus über den Kofo:nor er: 
reichte. Schon in der erjten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts 
war der Franziskaner-Mönch Odorich von Pordenone, päpitlicher 
Sejfandter in China, in Lhaſa; im fiebzehnten und achtzehnten 
Ssahrhundert haben Sich franzöfiiche Jeſuitenmiſſionare jogar 
fängere Zeit dort aufgehalten. Sie Wlle erzählten die merf- 
würdigiten Dinge von dem Yande und namentlich der Hauptitadt, 
vom Dalai Yama, dem buddhiftiichen Papſt, der in Lhaja refidirt, 
von dem eigenthümlichen Kultus, der bejfonders an diefem Zentrum 
der tibetaniſch-buddhiſtiſchen Kirche die frappanteiten Aehnlichkeiten 
mit fatholischen Riten aufweiſt — aber jeit der Mitte diejes Jahr: 
bunderts verjchließen die Tibetaner ihr Yand, vor Allem aber die 
zentralen Gebiete um Lhaſa herum mit jolcher Hartnädigfeit, daß 
es feinem Europäer mehr gelungen it, hineinzufommen. 

Bonvalot und Prinz Henry von Orleans gelangten Anfang 
1890 bis auf wenige Tagereifen an die Stadt heran. Sie waren 
vom Lop-nor aufgebrochen, überjchritten nacheinander von Norden 
nach Süden zahlreiche Ketten des Kwen-lun-Syſtems und gelangten 
durch die unbewohnten Theile Nord-Tibets, ohne Menjchen zu 
jehen, bis in die Nähe des gewaltigen Sees Tengrisnor, der nur 
noch hundert Kilometer nördlich von Lhaſa liegt. Dort fängt das 
Yand an, bewohnt zu werden, und fie wurden von Eingeborenen 
bemerft, die ihr Nahen meldeten. Zwei Tagereijen jüdlich vom 
Tengrisnor verjperrte ihnen eine jtarfe Abtheilung tibetanijcher 
Soldaten den Weg und troß jiebenwöchentlicher Unterhandlungen 
gelang es nicht, den Weg frei zu befommen. Mit einem großen 
Bogen nach Oſten erreichten die Franzoſen jchlieglich Tonfing. 

Landor wählte jeine Einbruchsitelle nach Tibet weit wejtlic) 
von Lhaſa unfern der Gangesquelle. Bor allen Dingen fam es 
für ihn datauf an, die Tibetaner über jeine Abjichten in Unkenntniß 
zu erhalten. Aber gleich dieſe nothwendige Worbedingung des 
Erfolges gelang es nicht, zu erfüllen. Der tibetantjche Gouverneur 
jenjeit8 der Grenze erfuhr durch Spione von Yandors Plan und 
ließ die Bälle über den Hauptlamm des Himalaya bewachen. 

Während Hedin eine unvergleichliche Stübe an jeinen muham— 
medanifchen QTurfeftanern und namentlih an Islam Bat beſaß, 


496 Spen Hedins uud Landors Reifen in Innerafien. 


war Landor darauf angewiejen, jich jeine Diener aus der zwar 
förpeilich brauchbaren, aber zaghaften und durch jede Gefahr aus 
der Faſſung zu dringenden Bergbevölferung in den jüdlichen 
Himalaya-Thälern zu nehmen. Dieſe Leute, die jogen. Schofas, 
find Heiden, und es ijt fein Zweifel, daß der Muhammedaner ſich 
im Allgemeinen tüchtiger und unerjchrodener zeigt. Auch in Indien 
jelbit fann man dieje Beobachtung machen. Da Landor wußte, 
daß der Iong Pen (Statthalter), der in der Grenzfeitung Taklakot 
jaß, die Wege gegen fein Eindringen bewachen ließ, jo faßte er 
die Idee, über einen jechstaujendjiebenhundert Meter (!) hohen Paß 
zu gehen, wo natürlich, zumal um dieſe Jahreszeit, unendliche 
Schneemafjen lagen. Niemand hätte ihn an diejer Stelle erwartet; 
einmal drüben, wäre er tief in das jchwach bevölferte Yand hinein- 
gefommen, ohne entdedt zu werden, und jobald die Grenzwächter 
erit jeine Spur definitiv verloren hatten, hoffte er, vermöge jeines 
großen Vorjprungs, nicht mehr erwijcht zu werden. Freilich lief 
er dann immer noch Gefahr, beim erjten Begegnen mit Tibetanern, 
auc) jolchen, die garnichts von ihm wußten, als Europäer erfannt 
und den Behörden denunzirt zu werden. Aber in diejer Beziehung 
verließ er fich auf jein gutes Glüd. In der That jollten nad 
einigen Wochen jeine Gefichtsfarbe einen jo dunfeln Ton und jeine 
Kleidung ein jo reduzirtes, undefinirbares Ausjehen annehmen, daß 
ihn die Tibetaner zeitweilig für einen Indier hielten. 

Bevor Landor jeinen eriten Einbruchsverſuch machte, jchidte 
er einen kräftigen Schofa aus, um den Paß zu refognosziren. Der 
Mann wurde unterwegs beinahe von einer Lawine verjchüttet, 
fehrte um, bevor er die Höhe erreicht hatte und meldete, da je 
fein Durchfommen. Landor, ein Arzt Dr. Wiljon, der ihn Anfangs 
begleitete, und mehrere Eingeborene machten ſich nun auf den Weg, 
um jelber nachzujehen. Bei jechstaujend Meter fingen alle an, 
an Bergfranheit zu leiden. Bald blieb der Doktor zurüd, dann 
einer von den Dienern, dann noch einer. Landor bejchreibt die 
Situation folgendermaßen: „Ein dider Nebel fiel und umhüllte 
uns, was dag Emporklimmen bedeutend erjchwerte. Unſere An: 
jtrengungen, weiter zu fommen, waren verzweifelt ; unjere Lungen 
waren in frampfhafter Thätigfeit, als ob fie beriten wollten, unjere 
Bulje bejchleunigt. Unjere Herzen Elopften, al® wollten fie jich 
einen Weg aus dem Körper herausbahnen. Erjchöpft und von 
einer unwiderjtehlichen Schlafjucht ergriffen, erreichte ich mit dem 
Nongba (der einzige Diener, der mit aushielt) ſchließlich dennoch 


Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraften. 497 


die Höhe. Trogdem ich mir jchon lange die Unmöglichkeit klar 
gemacht hatte, meine Leute auf diefem Wege hinüber zu bringen, 
war es eine Genugthuung, hierher gelangt zu jein und eine folche 
Höhe erreicht zu haben.“ 

Es war elf Uhr Nachts und jchneidender Nordojtwind; heller 
Mondichein lag über den endlojen, hoch überjchneiten Bergzügen, 
und die Sterne funfelten unbejchreiblich hell. Unter dem Stand: 
ort Zandors lagen Nebel; als jie ſich ein wenig hoben, zeichnete 
jic) auf ihrer wallenden, brauenden Oberfläche die Gejtalt Landors 
im Mittelpunkt eines leuchtenden Kreiſes als ein großes dunfles 
Gejpenjt unheimlich und phantaftijch ab; er jtand innerhalb eines 
Mondregenbogens. Wlöglich überfiel die beiden Männer der Schlaf. 
Troß alles Anfämpfens brachen fie auf dem Schnee zujammen; die 
Wirkung glich der eines jtarfen narkotijchen Mittels. Der Rongba 
ftöhnte vor Schmerzen, und Landor widelte ihn aus Mitleid in 
jeine Dede. Aber die Eleine Anjtrengung genügte, um ihn im 
Kampf gegen den Schlaf unterliegen zu laſſen. Nach rüdwärts 
auf den Schnee fallend, machte er noch) eine letzte verzweifelte An— 
jtrengung, zu den gligernden Sternen emporzubliden, dann trat 
Bewußtlojigfeit ein In diefem beginnenden Erjtarrungsichlaf hatte 
Landor eine ſchreckliche Viſion: er jah jich mit allen jeinen Ge— 
fährten in einem weiten Grabe von durchjichtigem Eije eingejchlojjen, 
dejien Wände ich jchnell nach innen zujammenzogen. Der Alp 
preßte ihm einen lauten Schrei aus, er erwachte entjegt, be— 
griff mit dem Reſt jeines Bewußtjeins die Situation, rüttelte 
feinen Gefährten auf, und Beide erreichten glücklich die weiter unten 
Wartenden. 

Biel weniger jchlimm als dieſe jchredliche Paſſage war der 
mehr al3 5700 Meter hohe Uebergang, auf dem man schließlich 
nach Tibet gelangte, auch nicht. Sehr bald traf die Karawane 
auf tibetanische Spione, aber die beiden Europäer waren bereits 
durch die Sonne und die Wirfung der biendenden Schneeflächen 
ftart verbrannt und trugen Qurbane und Schneebrillen, daß Die 
Spione die Gejellichaft in dem Glauben verließen, einen Hindu— 
doftor mit jeinem Bruder und Dienern gejehen zu haben, die auf 
einer Bilgerfahrt zum heiligen Manjarowar-See und dem Berge 
Kelas jich befinden. 

Zwei Tage darauf jtieß Yandor auf eine große Abtheilung 
Soldaten. Nach) langem WBarlamentiren gelang es ihm, Den 
Weitermarjch bewilligt zu erhalten — da verriet) ihn einer jeiner 

Breußifhe Jahrbücher. Bd. XCVIII Heft 3. 82 


498 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien, 


eigenen Leute als einen Sahib („Herr“ = Europäer). Nun fahte 
er den Plan, die Tibetaner durch eine andere Liſt zu täujchen. 
Er that jo, als ob er ſich in jein Schiedjal ergebe, kehrte zum 
Himalaya um und entwich in einer jtodfinjtern Sturmnacht beı 
fürchterlichjem Schneetreiben mit nur ſechs Mann, die er glücklich 
zum Mitgehen bewogen hatte, aus jeinem Lager, während ver 
Doftor Wilfon mit der Mehrzahl der Leute zurüdblieb. Den 
ganzen folgenden Tag über blieb das Lager jtehen, um einen Auf: 
enthalt Landors an diefem Punkte zu markiren. Die Liſt jchien 
geglüct zu fein, und für mehrere Tage verloren die Tibetaner Die 
Spur der Eindringlinge. Da, als Alles gut zu gehen jchien, 
machte Zandor eine niederjchmetternde Entdedung: in der Eile Des 
Aufbruchd war viel zu wenig Proviant eingepadt worden. Mur 
ein fühner Entjchluß fonnte Rettung bringen. Bier Schofas 
jollten verkleidet nach Taflafot gehen, Speife einfaufen und jid) 
einzeln wieder zurücdjchleichen. Yandor jelbjt mit zwei Leuten blieb 
in einem verborgenen Schlupfwinfel zurüd. Dort lebten die drei 
fünf Tage lang von jungen Nefjeln und jahen während diejer 
Zeit öfters tibetanische Soldaten unterhalb ihres horitartigen Ber: 
jtedS auf der Suche nad) ihnen vorüberreiten. Schlieglidd kamen 
die Leute mit Lebensmitteln zurüd, aber nur, um jich in der 
nächjten Nacht den Preis von fünfhundert Rupien zu verdienen, 
den der Jong Pen von Taflafot auf Yandors Kopf gejett hatte. 
Zu ihrem Unglüd waren fie dumm genug, die Gejchichte von dem 
Preife Landor zu erzählen. Dadurch wurde Ddiejer mißtrauiſch, 
und als in der Nacht ein Schofa mit jeinem großen Mejjer heran 
jchlich, befam er von Landor furchtbare Prügel mit dem Flinten— 
folben. Tags darauf, nachdem man eben aufgebrochen war, 
merfte Landor noch im legten Augenblid, daß ihn die Leute, die 
vor der tibetanischen Tortur eine furchtbare Angſt hatten und 
fic) durch) feine Auslieferung zu retten hofften, geradenwegs einem 
feindlichen Wachtpojten in die Hände führen wollten. Die 
Folge beitand wiederum in einer freigebigen Tracht Prügel 
für die getreuen Diener. Nur auf zwei von ihnen, Tjchanden- 
Sing und Man-Sing, fonnte fi) Landor unbedingt verlajien. 
Leider litt Man:Sing am Ausjat in jeinem beginnenden Sta: 
dium. Die weiße, glänzende, jtraff gejpannte Gefichtshaut und 
die gefrümmten verzogenen Finger waren untrüglice Zeichen. 
Nach einem erniten Balaver willigten die Schofas endlich, jchein- 
bar ergeben und fügjam, ein, Zandor bis zum Maium-Paſſe, 


Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 499 


der vom Indus» bis zum Brahmaputragebiet hinüberführt, zu 
begleiten. 

Borläufig waren die Tibetaner getäufcht. Freilich hatte Landor 
jtatt der dreißig, mit denen er aufbrach, nur noch ſechs Leute mit 
ſich, aber er konnte ſich mit diejen jchneller bewegen und eher dem 
Berdacht entgehen, daß er ein Europäer fein. Sein nächjtes Ziel 
waren Die beiden Seen Manjarowar und Nafastal, der heilige 
und der Teufelsjee. Nördlich von dieſen beiden großen Wajjer: 
beden, die nur durch einen jchmalen langen Felsdamm von ein= 
ander getrennt, in 4700 Meter Höhe neben einander liegen, erhebt 
ji) die merlwürdig geformte Pyramide des fait 7000 Meter hohen 
heiligen Berges Kelas, der in Nordindien, Nepal und Tibet als 
ein Thron der Götter gilt. Zahlreiche Pilger wallfahrten jährlich 
dorthin und umwandern den Berg an feiner Bafis, was gewöhnlich 
drei Tage dauert; die frömmiten legen den ganzen Weg friechend 
wie Schlangen zurüd, andere gehen auf den Händen und Knieen, 
noch andere rücdmwärts, um das Verdienjt ihrer Pilgerjchaft zu er- 
höhen. Die Situation war einjtweilen für Landor eine leidliche; 
man verfolgte ihm nicht und es war daher möglich, Feuer anzu— 
zünden und warme Speiſen zu genießen. Als fie am Nafastal 
angefommen waren, zeigte einer der Diener auf einen Felſen im 
See: „Sahib, ſiehſt Du jene Injel? Auf ihr wohnt ein Lama: 
Einfiedler, ein heiliger Mann. Er ijt dort allein und lebt von 
Fiſchen und Schwaneneiern; nur im Winter, wenn der See ge: 
froren ift, werden ihm Vorräthe gebracht. Der Einjiedler jchläft 
in einer Höhle, fommt aber ins Freie, um zu Buddha zu beten.“ 
Während der folgenden Nacht trug der Wind ein undeutliches 
Geheul vom See her den Lagernden zu. „Was iſt das?“ fragte 
Zandor die Schofas. „Es ijt der Einfiedler, der zu Gott jpricht“, 
antworteten fie. Jede Nacht Flettert er auf den Gipfel des Felſens 
und richtet von dort jeine Gebete an Buddha, den Großen!“ Am 
See gab es mehrmals fleine Nenfontres mit Räubern, die aber 
feinen ernjthaften Ueberfall zu machen wagten. Ein Trupp ver: 
juchte, durch die Neize zweier Weiber, die ſchmutzig und jtinfend, 
die Gefichter, um das Aufipringen der Haut zu verhindern mit 
ichwarzer Salbe bejchmiert, am Wege ftanden und winften, die 
Reifenden zum Ausplündern in jein Zeltlager zu loden, hatte aber 
feinen Erfolg. Mit einer anderen Bande war das Zuſammen— 
treffen nüßlicher. In wilden Galopp verfolgte ein ganzer Schwarm 
Landors Eleinen Zug. Als der Befehl erfolgte, zu halten und die 

gar 


500 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


Näuber zu erwarten, waren die Schofas vor Furcht wie gelähmt; 
Landor dagegen nahm faltblütig die Flinte in die eine, feinen 
photographijchen Apparat in die andere Hand und ging den 
Banditen entgegen. Mit den jchlechten tibetanijchen Yuntenflinten 
it e8 nur auf ganz furze Entfernung möglich zu jchießen — 
Landor jtellte daher feine Kamera ruhig ein und wartete, bis er 
die Räuber gut auf der Bifirfcheibe hatte. Die nun folgende 
Szene ijt jo fojtbar, daß fie nur mit Landors eigenen Worten 
wiedergegeben werden fann: „Dann löjte ich den Momentverichluf 
aus, als jie nur nod) dreigig Meter entfernt waren und eben von 
ihren Pferden herunterfletterten. Nachdem die Kamera ihre Schuldig- 
feit gethan hatte, legte ich jie jchnell auf die Erde, und nun fam 
die Büchſe dran. Sch jchrie ihnen zu, die Waffen niederzulegen, 
und um meinem Befehl mehr Nachdrud zu geben, legte ich meinen 
Mannlicher auf fie an. 

Sch glaube, eine janftere Räuberbande iſt nicht zu finden, 
obwohl diejes Gelichter oft tapfer ift, wenn es für fie leicht iſt, 
muthig zu fein. Ihre Luntenflinten flogen mit unglaublicher 
Schnelligfeit von den Schultern auf die Erde. Die juwelenbejegten 
Schwerter, die jie trugen, wurden rajch neben die Feuerwaffen 
gelegt. Die Banditen fielen nieder, nahmen ihre Müten mit beiden 
Händen ab und jtredten zum Zeichen des Grußes und der Unter: 
würfigfeit (jo iſt es Sitte bei den Tibetanern) die Zunge heraus. 
Ich konnte nicht umhin, ein zweites Momentbild von ihnen 
aufzunehmen, denn fie jahen gar zu komiſch aus.“ Nun befamen 
auch Landors Diener wieder Muth und redeten die Räuber ım 
Auftrag® ihres Herrn an: „Sie jollen mir einige Yaks und Pierde 
verfaufen, ich werde fie gut bezahlen.“ Nach vier Stunden Han- 
delns waren zwei Vals zum Tragen der Laſten eritanden — Preıs 
vierzig Nupien (eine Silberrupie = annähernd einer Mark), Nah 
dem Handel wurde ein Mahl gehalten ; Tſamba und Thee waren 
die Hauptbejtandtheile. Die Tjamba iſt die Nationaljpeije der 
Tibetaner; fejter Hammeltag und Gerjitenmehl werden verfnetet 
und mit heißem Wafjer zu einem Brei vermijcht. Den Thee ri» 
ten fie mit Butter und Salz vermijcht an, und wenn jie jich eın 
bejonderes Feſteſſen machen wollen, jo bereiten fie jich die Tſamba 
itatt mit heigem Wajjer mit diejer Brühe. Aus dem Brei werden 
mit unjagbar jchmugigen Fingern Kugeln geformt und eine nad) 
der andern in den Mund gejchoben. Nach dem Eſſen wurde es 
warm, und Männer und Weiber entledigten fic) ihrer diden Pelz 


Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien. 501 


fleidung, die jie auf dem bloßen Körper tragen, ungenirt bis zu 
den Hüften. Die Pelze find zu allen Jahreszeiten nothiwendig, 
denn die Temperaturjchwanfungen betragen auf dem tibetanijchen 
Hochlande auch im Sommer im Laufe von vierundzwanzig Stunden 
bis zu fünfzig Grad, 

Am Manjarwar:-See liegt eine große Gomba, ein buddhi— 
jtiiches Klofter mit einem Tempel. Landor fühlte ich jo ficher, 
daß er dort einen Beſuch zu machen bejchloß, um Lebensmittel zu 
erlangen und das Kloſterleben unter den Lamas fennen zu lernen. 
Zwijchen zwei und drei Uhr Nachts langten die Neijenden vor der 
eriten Hütte des Klojterdorfes an und Elopften jo gewaltig, daß fie 
beinahe die Thür einjchlugen. „Ihr jeid Dakoit“ (Räuber), jagte 
eine heijere Stimme von innen, „jonjt würdet Ihr nicht um Dieje 
Stunde fommen.” „Nein, das find wir nicht ; bitte, öffnet, wir 
jind wohlhabende Leute. Wir wollen Niemandem etwas zu Xeide 
thun und für Alles bezahlen.“ „Kann nicht jein, nein! hr jeid 
Dakoit, ich werde nicht öffnen.“ Statt der abermaligen Antwort 
traten Landors Leute jet die Thür ein und jeßten jich, ehe der 
Beier des Haujes ein Wort jagen fonnte, um das Feuer, das 
Drinnen brannte. Der Wirth berubigte ich, als er einige Silber: 
münzen auf jeiner Handfläche fand. 

Am nächſten Morgen badeten die indifchen Diener Landors 
alle im heiligen See Manjarowar, in dem nach ihrem Glauben 
Siva, der größte aller Götter lebt. Wer in diefem Waſſer gebadet 
bat, wird in ganz Nord: Indien hochgeehrt. Gleichviel, welche 
Verbrechen er vorher begangen haben mag, ein Eintauchen des 
Körpers genügt, die Seele zu reinigen. Um die Leute zu erfreuen, 
jchleuderte auch Landor einige Geldjtüde in den See, dann betrat 
er fühn das Innere des Tempels und lieg nur zur Vorſicht jeinen 
Tſchanden-Sing mit geladener Büchſe am Eingang Poſto faſſen. 
Kluge Devotion und, was noch wirfjamer war, reichliche Silber: 
fpenden vor den zahlreichen Götterbildern gewannen Landor bald 
die Freundſchaft der Yamas. 

„Welches find die böjen Eigenjchaften, die man am meijten 
vermeiden muß ?* fragte Landor den Einen von ihnen, der ihn 
führte. „Wolluft, Stolz und Neid,“ antwortete diefer. Dann er: 
griff er die Hand des Fremden und öffnete fie. Kaum hatte der 
Lama einen Blid hinein gethan, jo fing er an, Xandor mit ſelt— 
jamer Unterwürfigfeit zu behandeln. Er jtürzte fort und theilte 
den Anderen irgend etwas mit, das ſie alle in große Bejtürzung 


502 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


verjegte. Jeder wollte jegt Landors Hand jehen, und dies Be— 
nehmen war ein vollftändiges Näthjel für ihn. Er jollte jpäter 
den Grund erfahren. 

Nun folgen in Yandors Buch zwei außerordentlich interefjante 
ftapitel über das tibetaniſche Mönchthum der Lamas und Die 
mannigfaltigen religiöjen, medizinischen und jonjtigen Borjtellungen, 
jowie die jozialen und fittlichen Verhältnijje des Volkes. Ich ſtehe 
nicht an, dieſe Stüde, jowie überhaupt Alles, was Yandor an Be: 
obacdhtungen über das Leben und den Charakter der Tibetaner 
bringt, für das Werthvollite in jeinem Buche zu erflären. Auch 
die Schilderungen der merkwürdigen Natur des Landes find vor: 
trefflid) und, was hervorgehoben zu werden verdient, es wird jchwer 
jein, ein beſſer und unterrichtender illujtrirte® Buch über eine 
Reife zu finden, als das jeinige. Nicht auf derjelben Höhe iteht 
ed in rein geographijcher und geologifcher Hinfiht. Um nur ein 
Beijpiel zu nennen, jo giebt er zwar auf jeiner Starte an, daß die 
beiden Seen Nafastal und Manjarowar, obwohl jie genau im 
gleichen Niveau liegen, doch feinerlei Kommunikation mit einander 
haben, aber er bemerkt nichts über den Salzgehalt ihres Wajjers, 
was wichtig zu erfahren wäre, denn der Rakastal ijt der Quellfee 
des jtarfen Induszufluffes Sadletih und muß daher Süßwaſſer 
haben, der Manjarowar aber jalziges, wenn er wirklich ohne Ber- 
bindung mit dem Erjteren und daher abflußlos ift. 

Bald nad) dem Aufbruch aus dem Kloſter verlor Yandor 
jeine jämmtlichen Schofas. Einen Theil entließ er freiwillig, da 
er jah, dat die Leute völlig demoralifirt und eher eine Gefahr 
für ihn als eine Hilfe waren ; zwei, die Anfangs weiter mitgehen 
wollten, dejertirten bei der nächjten Gelegenheit des Nachts 
und nahmen den ganzen mühjam erhandelten Proviant, jowie 
eine Menge nothwendiger Sachen mit. Jetzt war er allein mit 
jeinen beiden getreuen Hindu-Dienern Tjchanden-Sing und dem 
armen, ausjägigen Man-Sing, jowie den beiden Yaks. Trotdem 
bejchloß er jeinen Marjch fortzujegen. Aber jchon am erjten Tage 
jah er, daß die Tibetaner doch Kenntniß von jeinem Aufenthalt im 
Lande erhalten haben mußten. 150 Soldaten verfolgten ihn. Auf 
einem hohen Berggipfel wurde er eingeholt und obwohl es ihm bei 
der Feigheit dieſer „Krieger“ gelang, die ganze Gejelljichaft in die 
Flucht zu Schlagen und jogar noch Lebensmittel von ihnen zu er- 
beuten, jo war Doch jeine Yage jegt verzweifelt. Zwar fam er unter 
unjäglichen Bejchwerden noc etwa dreihundert Kilometer weiter 


Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien. 503 


auf dem Wege nad) Lhaſa und entdedte unterwegs die zweite Haupt: 
quelle des Brahmaputra, aber bei einem Flußübergang ging ihm 
fajt jein ganzes Gepäd und alle Munition bis auf die 
wenigen Batronen verloren, die er und jeine beiden 
letten Getreuen bei jich trugen. Damit war jein Schidjal 
bejiegelt. Vortrefflich jind die Beobachtungen, die‘ aud) während 
des legten jo gut wie hoffnungslojen Bordringens jelbjt nach diejem 
Schlag noch gemacht wurden, und man fann dem eijernen Troß 
des Mannes, der nicht eher einen Schritt rüdwärts thut, als bis 
er gefangen und gefejjelt fortgejchleppt wird, unmöglich die höchjte 
Bewunderung verjagen — aber aller Muth Landors und alle Treue 
der beiden Hindus wurden jchlieglich an dem unabwendbaren Schid= 
jal zu Schanden. In der höchjten Noth jchien noch einmal das 
Glück zu lächeln. Man traf Tibetaner, die Pferde und Lebens: 
mittel verfaufen wollten, aber das Ganze war faljches Spiel. 
Während Landor fid) bücte, um den Fuß eines der Pferde zu unter: 
juchen, jtürzten ich einige dreißig fräftige Männer auf ihn, ein 
Strid wurde ihm um den Hals geworfen und dann fejjelte man 
ihn und jeine gleichfalls hinterrüds überfallenen Yeute — nod) 
etwa zwölf Tagereifen von Lhaſa. 

Was nun folgt, it geradezu jchredlich zu lejen. Unter den 
furchtbariten Martern jchleppten die Tibetaner die drei Unglüdlichen 
den Weg zurüd, den fie gefommen. Mit jeinem Blute zeichnete 
Landor unterwegs heimlich, dort wo die Route von jeinem Hin— 
marjche abwich, eine Kartenſkizze des Weges, aber ficherlic) wäre 
er jchließlich doch zu Tode gepeinigt worden, wenn der Pombo oder 
Großlama (Provinzialjtatthalter), dem er in die Hände gefallen 
war, nicht auf den Gedanfen gefommen wäre, erjt ein Orakel ein= 
zubholen, ob man den Fremdling tödten oder am Leben lajjen jolle, 
Dazu brauchte er einen Fingernagel des Gefangenen und als die 
Singer an Yandors gebundenen Händen gejpreizt wurden, um Dies 
Erfordernig zu bejchaffen, geriethen die Tibetaner wiederum in Dies 
jelbe eritaunte Aufgeregtheit, wie früher in dem Kloſter am See 
Manjarowar. Das hochnothpeinliche Berfahren wurde jofort ein= 
geitellt, und der Pombo befahl, nachdem er Yandors Hände gleich: 
falls bejichtigt hatte, daß er noch am jelben Tage, wenn auc) ge: 
fejjelt, die Rückreiſe nach der indischen Grenze antreten und jammt 
jeinen Dienern freundlich behandelt werden jolle. Erjt nach jeiner 
Befreiung erfuhr Landor den Grund diejer Seltjamfeit: jeine Finger 
jind etwas höher hinauf zujammengewachjen, als es bei den meiſten 


504 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


Menjchen der Fall ift, und die Tibetaner glauben, wer jolche Finger 
befigt, dejjen Leben jei durch Zauber gefeit; was man auch mit 
ihm anjtelle, ihm fönne fein Leid gejchehen! Thatjächlidy hatte 
Landor jchon geradezu Unbegreifliches zum Erjtaunen jeiner Quäl— 
geifter ausgehalten. Faſt das Schlimmjte waren die Tortur durch 
das Ungeziefer, das fich in den zerlumpten von Blut und Schweik 
durchtränften Kleidern majjenhaft anfammelte. Nur einmal durften 
die Gefangenen, als fie auf dem Nüdtransport an den Manjarowar: 
See famen, baden. An derjelben Stelle, wo er im Frühjahr die 
Grenze zwiſchen Indien und Tibet überjchritten hatte, wäre Yandor 
ichlieglich doc) noch um ein Haar einem fichern Tode ausgeliefert 
worden: der Statthalter weigerte jich, ihn direft über die Grenze 
zu entlafjen, und wollte ihn zwingen, einen Umweg von jechzehn 
Tagereifen über einen unwegjamen Paß nad, Indien zu machen, 
damit er unterwegs vor Hunger und Schnee umfäme, ohne da 
man direft Hand an ihn zu legen brauchte. Jetzt waren die Drei 
Männer aber nicht mehr gefejjelt; in ihrer Verzweiflung, da fie 
jowiejo den fichern Tod vor Augen glaubten, griffen fie ihre aus 
zahlreichen Soldaten und Offizieren zu Fuß und zu Pferde be: 
itehende Esforte mit aufgelejenen Steinen an und — die ganze 
Wache riß aus. Als halbe Leichen gelangten fie, nachdem fie noch 
einige aufregende Zwiſchenfälle bejtanden hatten, glüdlid nad 
Taflafot, unter deſſen Mauern jie ſich befanden, hinein, denn 
Yandor hatte erfahren, daß der Doktor Wilfon und ein eingeborener 
Agent der indijchen Regierung in der Stadt jeien. Sie waren 
über die Grenze gefommen, um von dem tibetanijchen Gouverneur 
Gewißheit über Yandors Schikjal zu erlangen. Wilfon und der 
Anent hatten mit ihrer Begleitung ein bejonderes Lager in der 
Stadt aufgejchlagen. Als Landor in das Zelt des Doktors trat, 
jah er in einer Ede eine Quantität Kandiszuder liegen; er war 
jo verhungert, daß er jofort große Stüde davon verjchlang. Dann 
wurde er gebadet, verbunden und gepflegt, ebenjo die beiden 
Diener, die nicht weniger erlitten hatten, al8 ihr Herr. In den 
nächiten Tagen gelang es, von den tibetanifchen Behörden einen 
großen Theil von dem fonfiszirten Gepäd Landors, darunter jein 
Tagebuch jammt Karten und Skizzen, zurüdzuerlangen, und mehrere 
Monate jpäter wurden noch über vierhundert photographijche Negative 
durch Bermittlung der indischen Regierung an ihn ausgeliefert. 
Etwas eigenthümlich berührt e8 und wäre wohl bejjer unter: 
blieben, daß Yandor am Schluß jeines Buches ein ausführliches 


Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 505 


ärztliches Atteit des Doktor Wilfon über die vielen jchredlichen 
Wunden abdrudt, die jein Körper bei der Befreiung zeigte, und 
ein gewijjes Kopfjchütteln wird der Lejer auch nicht unterdrüden 
fönnen, wenn er auf Seite 481 eine Scene photographirt fieht, 
wie Landor ſich nad) jeiner Befreiung von Tichanden-Sing, 
während er mit bloßen Füßen auf dem Schnee jteht, bei elf 
Grad Froſt eine Schale Eiswajjer über den nadten Rüden gießen 
läßt. Landor jchreibt, daß er diefe Szene wiedergebe, um zu zeigen, 
was er troß jeines gejchwächten Zuſtandes noch zu ertragen im Stande 
war. Aehnliches fommt öfter in dem Buche vor, und der Ber: 
fajjer unterläßt auch nicht, darauf hinzuweiſen, daß er auf jeiner 
ganzen Reiſe fajt nie eine andere Kopfbedeckung gebraucht habe, 
als einen Strohhut oder ein Feines Müschen. 


* * 
53 


Ich hoffe, durch dieje theilweife recht ausführliche Auswahl 
ous dem reichen Inhalt der beiden großen Neijewerfe, die der 
Brodhausjche Verlag feinen Traditionen getreu in mufterhafter 
Ausjtattung und zu einem verhältnigmäßig geringen Preiſe dem 
deutjchen Publiftum vorgelegt hat, bei dem Lejer den Wunjch er: 
wedt zu haben, die Bände möglichit bald vor fich zu jehen. Won 
Hedin haben wir allerdings noch eine bejondere Publikation über die 
jtreng wijjenjchaftliche Musbeute jeiner Reife zu erwarten, worüber 
ich voraussichtlich ihrer Zeit den Freunden dieſer Jahrbücher werde 
berichten fönnen. Alsdann, wenn der geniale jchwedijche Forjcher 
den letzten und tiefiten Ergebnifjen jeiner Arbeit jelbjt die end— 
gültige, für die Deffentlichkeit bejtimmte Form gegeben hat, wird 
es auch an der Zeit jein, näher auf Die jpeziell erdfundlichen 
Details und neuen Einfichten in die geologiiche Entwidlungs- 
gejchichte Innerafiens einzugehen, die uns Hedin voraussichtlich 
mittheilen wird. Cinjtweilen iſt die bloße Wiedererzählung der 
vorzüglichiten Erlebnifje für ihn wie für Landor der bejte Tribut, 
den man den Xeijtungen und dem Muthe beider Männer zu zollen 
im Stande iſt. 

Hedin ift übrigens jchon vor einigen Monaten wieder nad) 
Tibet aufgebrochen. Islam Bai begleitet ihn wieder und die 
ruffiiche Regierung hat ihm eine geradezu unjchägbare Unterjtügung 
gewährt: eine Esforte von drei Kofafen, die er überall hin mit: 
nehmen darf. Beſſere Begleiter, als Dieje Leute, die europäijche 
Dipziplin und Entjchlofjenheit mit aſiatiſcher Bedürfnißlofigfeit 


506 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 


und Widerjtandsfähigfeit gegen phyfijche Unbilden verbinden, kann 
jich ein ?Forjcher in jenen Gegenden garnicht denken. 

Wie es heißt, haben fich Hedin bei der Bearbeitung jeiner 
gewonnenen Schäße unerwartet jo wichtige Nefultate, an die ſich 
neue ragen fnüpften, ergeben, daß er jich ganz plößlich zur aber: 
maligen Reiſe entjchloß, die wieder auf nicht weniger als Drei 
Sahre projektirt if. Auch Nanjens „Tram“ ift ſchon wieder 
draußen. Es find doch jchneidige Menfchen, diefe Nordländer! 


Notizen und Beiprechungen. 


Literariſches. 


Willibald Beyſchlag, Zur deutſch-chriſtlichen Bildung. Halle 
a. ©., Eugen Strien. Preis: Broc. 5.00, eleg. gebd. 6,00 Mt. 


„Zur deutjchschriftlichen Bildung“, „populärstheologische Vorträge“, jo 
benennt jich das neuejte Werk von Willibald Beyichlag, das fein bewährter 
und verdienjtvoller Verleger Eugen Strien joeben auf den Büchermarkt 
bringt. Wie der Verfaffer in einem kurzen Vorwort und mittheilt, fündet 
fi) diefe Sammlung als zweite Auflage eines im Jahre 1880 erjchienenen 
Buches an, ift aber in Wirklichkeit ein zu zwei Dritteln neues Bud. in 
welches nur fünf von früheren Vorträgen aufgenommen find, während zehn 
Vorträge ganz neu find. 

Vorträge aljo find ed, um die es ſich in diefem Buche handelt, Vor— 
träge über Fragen chriſtlicher Bildung und firchlicher Zeitbewegung, weldye 
der Berfafjer während jeines fajt vierzigjährigen Lehramted in kirchlichen 
Vereinen umd Stonferenzen gehalten hat. Wenn der Berfafjer ed als einen 
tiefgreifenden Mißſtand unjerer deutjch-proteftantifchen Zuftände empfindet, 
daß unjere allgemeine Bildung und unjere Theologie jo wenig Fühlung 
mit einander haben, jo wird ihm wohl jeder der Sache näher Stehende von 
ganzem Herzen zujtimmen. Und wenn er nun auf die Fragen chrüjtlicher 
Bildung und kirchlicher Beitbewegung mit bejonderer Sorgfalt eingeht und 
jeine Anſichten hierüber in einer Sammlung geijtreiher Vorträge und 
Eſſays einem größeren Leſerkreiſe darbietet, jo kann ihm diejed, fofern es 
diefen bewegenden Fragen nicht gleichgiltig gegenüberjteht, nur Dant 
dafür willen. — 

Zu einer Anbahnung näherer Fühlung unferer allgemeinen Bildung 
und unjere Theologie erjcheint faum ein Anderer jo berufen, wie gerade 
Willibald Beyſchlag. Der Mann, der fich in jeiner alademijch langjährigen 
Laufbahn und in einer Reihe ernjt wifjenichaftlicher Werke auf dem Gebiete 
der ſyſtematiſchen und eregetiichen Theologie als ein Gelehrter im jtrengiten 


508 Notizen und Beiprehungen. 


Sinne des Wortes hinlänglich dofumentirt hat, der dann in feinen Selbit- 
biographien und mehr noch in dem nach meiner Meinung Bejten, das er 
je geſchrieben: in dem „Leben eines Frühvollendeten“ durch alle hiſtoriſchen 
und wifjenichaftlirhen Erörterungen dad warm pulfirende Blut, das reiche 
Gemüth des Poeten hindurch bliden läßt, der ſchließlich in feinen Gedichten 
und jeinem Märchen „Godofred“, aller wifjenjchaftlichen Strenge entkleidet, 
nur al3 Dichter zu uns fpricht, diefer Mann hat nicht nur den immerhin 
jhwierigen Kompromiß des Gelehrten mit dem Poeten in einer für beide 
erjprießlihen Weiſe geichlojjen — er fann ihn in feiner vermittelnden 
Stellung nun aud mit Erfolg übertragen auf das Gebiet wifjenjchaitlicher 
Forſchung und allgemein literarifcher, ja dichteriicher Bildung. So ent— 
halten die hier gejammelten Vorträge eine Reihe wechſelnder Bilder. Die 
eriten „Jeſus und das alte Teſtament“, „Die Idee und Thatſache der 
Berföhnung“, „Die Offenbarung Johannis“ juchen theologische Fragen und 
Probleme in allgemein veritändlicher Weife zu löſen — unter den fol- 
genden, die literariichen Inhalts find, ift der neuejte und zeitgemäßeite: 
„PBrotejtantijches in Goethe“. Der Verfafjer geißelt hier mit gutem Rechte 
die DVerunglimpfungen von Goethed Charakter, wie fie aus Anlaß des 
Straßburger Denktmaldunternehmens von der ultramontanen Seite auf das 
Plumpite erhoben worden jind. Er nimmt Goethe gegen fie in Schuß und 
hebt al3 tiefiten Grundzug ſeines Wejend die Wahrhaftigkeit hervor und 
die Herzensgüte; er verhüllt aber auch nicht die peinlihe Schattenjeite in 
jeinem Charakter: den Mangel an Selbitzuht in feinem Verhältniß zu 
Frauen. „Es iſt da nichtö zu vertujchen oder zu bejchönigen. Die Tragif 
jeine8 Lebens verräth die ganze Größe diejer fittlihen Schwäche. Diejelbe 
hat ihn um das Glüd und den Segen einer edlen Häußlichfeit, einer eben— 
bürtigen Ehe gebracht“ (©. 139). 

Näher geht der Berfafjer dann auf das Verhältniß Goethes zum 
Ehrijtentyum ein. Die Preußiſchen Jahrbücher haben erjt vor Kurzem 
einen größeren Aufſatz über Goethes Verhältniß zur Religion aus berufener 
Feder gebracht. In diejem ift die viel umitrittene Frage unſeres größten 
Dichters zum Chriſtenthum jo eingehend behandelt und nad) meiner Meinung 
jo glücklich gelöjt worden, mandjes Duntel ift hier jojcharf beleuchtet worden, daß 
ich an diejer Stelle nicht nody einmal auf den Gegenitand eingehen würde, 
wenn es jeßt nicht um jo interefjanter wäre, auch Beyſchlags Anſichten 
über ihn. fennen zu lernen und wenn diejfe Anfichten nicht ein jpezielleres 
Merkmal trügen: fie behandeln nämlich mit liebevoller Vertiefung die be— 
jondere Stellung Goethes zur reinjten Ausprägung des Chriftenthums : 
zum Protejtantismus. 

Für das Verhältnig Goethe zum Chriſtenthum als ſolchem muß es 
auch Beyichlag für die jüngere Periode Goethes bei der geltenden Anficht 
bewenden lajjen, daß Goethe wohl ein frommer Menſch gewejen, daß jeine 
Frömmigkeit jedoch in feiner jüngeren Periode feine jpezifiich chrijtlichen 


Rotizen und Beiprehungen. 509 


Züge trägt. Ganz anders aber jtellt fi) Beyichlag zu der älteren Periode 
im Leben Goethes; überzeugend weiſt er nad), wie der Dichter, je mehr er an 
Alter und Erfahrung wuchs, je mehr Schwankungen und Wechſelfälle eines 
längeren Lebens hinter ihm lagen. um jo näher der chriftlihen Religion 
trat. Seine Iphigenie, die ethiſch Zarteſte jeiner Schöpfungen, jpiegelt 
ahnungsvoll das tiefite Geheimniß des Chriſtenthums wieder, daß der Fluch) 
eines jchuldvollen Geſchlechts durch die Liebe einer reinen Seele gelöjt 
werden fann. Sein Fauft vollendd ruht auf dem Gedanken, daß der 
Menſch, irrend jo lange er jtrebt, gerade in diefem unermüdlihen Streben 
erlöjungsjähig bleibe. Und nicht nur erlöjungsfähig, jondern erlöft, denn 
die Liebe von oben nimmt Theil an ihm und ftredt ihm verjühnt die ret- 
tenden Gnadenhände entgegen. 

Als Chriſt aber ift Goethe von Haus aus ein Find des deutjchen Pro— 
teſtantismus gemejen, geboren und erzogen im Schooße der evangelifch- 
lutheriſchen Kirche. Der Verfaſſer zeigt, wie feine geijtige Entwidelung in 
eine Zeit fällt, in welcher die Bervegung und Erhebung de3 deutichen Geiſtes 
ausſchließlich auf protejtantiihem Boden wurzelt, denn von Gottſched und 
Gellert an bis zu Goethe und Schiller findet ſich in der ganzen Literatur: 
geichichte auch nicht ein einziger Fatholiicher Namen und während ein Klop— 
jtod, Zejfing, Herder, lauter Söhne deutjcher Reformation, dem deutjchen Geiſte 
den Aufihwung bahnen zu einem in feiner Weije einzigartigen und welt- 
geichichtlichen Höhepunkt, liegt der katholiiche Volkstheil, nad) den Greueln 
der Gegenreformation den Jeſuiten ald Grabeswächtern überantivortet, 
im tiefen Todesichlaf. Die VBorbedingungen zur Entfaltung des Goethejchen 
Genius wären hier jchlechterdingd nicht vorhanden geweſen“ (S. 147). 
Und Niemand ijt fich dieſes Kindesverhältnifies zur deutichen Reformation 
jo dankbar bewußt gewejen wie Goethe. Das jpricht jo recht aus einer 
Yeußerung über Shafejpeare: „Der größte Lebensvortheil, den ein Dichter 
wie Shafejpeare hat genießen können“, jagt er, „it gewejen, daß er als 
Protejtant geboren und erzogen wurde. ben daher erjcheint er als 
Menſch mit dem Meenichlichen volllommen vertraut, ohne daß er ald Dichter 
jemald die PVerlegenheit gefühlt, das Abfurde vergöttern zu müſſen. 
(A. v. Dettingen, Vorleſ. über Goethes Faujt I S. 55). — „Luther“, jagt 
er an einer anderen Stelle, „war ein Benie jehr bedeutender Art, er wirft 
nun ſchon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen 
Sahrhunderten aufhören wird, produktiv zu jein, iſt nicht abzujehen“ 
(Edermann Il ©. 229). — Bor Allem betrachtet Goethe die Reformation 
gerne als eigenthümliche That des deutjchen Geijtes, ald Durchbruch des 
der germanijchen Art eigenen Freiheitstriebes: 

„Sie lagen nur in halbem Schlaf, 

Als Luther die Bibel verdeutiht jo brav; 
Sanft Paulus, wie ein Ritter derb, 
Erſchien den Rittern minder herb. 


510 Notizen und Beiprehungen. 


Freiheit erwacht in jeder Bruſt, 
Wir protejtiren Alle mit Luſt.“ 


Bekannt ijt ed, mit welcher Liebe und Verehrung Goethe lebenslang 
das greifbarite Segenerbe der Reformation, die Bibel, umfaßt hat. Sie 
it die liebjte Nahrung feines kindlichen Geiſtes geweſen — er hat das 
alte wie das neue Tejtament in den Grundſprachen gelejen, er hat fich bei 
fortjchreitender Bildung auch der aufflärenden Bibelkritif nicht entzogen, 
aber dieje Kritik hat ihm den göttlichen Kern nicht zerjeßt. ihm nicht, mie 
den ungläubigen Ratholiten Voltaire, zum Spott herausgefordert. „Ic 
für mein Theil“, jagt er in Wahrheit und Dichtung, „halte fie (die Bibel) 
lieb und werth, denn jajt ihr allein war ich meine jittlihe Bildung 
ſchuldig.“ 

Kühler und zurückhaltender freilich als zur Bibel ſtand Goethe zur 
proteſtantiſchen Kirche als ſolcher — vor Allem fand er den proteſtantiſchen 
Kultus arm und dürftig, und in Wahrheit und Dichtung räth er der pro: 
tejtantifchen Kirche, nicht nur ihren Kultus zu bereichern und zu verjchönern, 
jondern vor Allem das ganze Leben reichlicher mit kirchlichen Weiheakten 
auszujtatten und die zwei Saframente nad dem Borbilde der katholiſchen 
Kirche auf fieben zu erhöhen. Reformatoriſch aber joll die Kirche dabei 
unter allen Umjtänden bleiben: 


Dreihundert Jahre find vorbei, 
Werden auch nicht wiederfommen. 
Sie haben Böjes franf und frei —, 
Auch Gutes mitgenommen. 

Und doc von beidem ijt auch euch 
Die Fülle genug geblieben. 

Entzieht euch dem verjtorbnen Zeug. 
Lebendiges laßt uns lieben. 


„Und nun“, fragt Beyichlag, „wie fteht dieſer tiefblidende, vor: 
urtheilsfreie Protejtant zum Katholizismus, den er in befchränftem Umfang 
in jeiner Vaterjtadt, dann auf der italienifchen Reife in defjen Mutterland 
und nicht am wenigjten durch Geſchichtsſtudien und Welterfahrung kennen 
gelernt hat?“ Wenn Beyichlag hierauf (S. 150) antwortet: „Man meint 
vielleiht, der phantafievolle, kunſt- und ſymbolfrohe Dichter habe 
von der Schönheit und Poeſie des Fatholiichen Kultus  geblendet 
werden miüjjen, aber er überläßt das den geijtigen Schwächlingen 
jeiner und unjerer Zeit“, jo möchte ich dieſe Antwort nicht ohne Ein: 
ihränfung gelten laſſen. Daß Goethe von dem katholiſchen Kultus als 
joldem eingenommen, ja bis zu einer gewijjen Weife geblendet war, er: 
ſcheint mir fraglos. Beyſchlag jelber giebt das zu: „Wohl kennt er die 
ergreifende Macht des altfirchlichen Kultus, wie das der Oftermorgen im 


Rotizen und Beſprechungen. 511 


Fauſt, und die Kirchenſzene mit dem dies irae bezeichnen, und jener Vor— 
ſchlag, ſich evangeliſcherſeits die ſieben Sakramente anzueignen, zeigt ein 
liebevolles Sichhineindenken in Fremdes“ (S. 151). — Aber ſollte das 
nicht oft mehr ſein als „evangeliſirter Ideallatholizismus aus alter Zeit?“ 
Hat ſich Goethe nicht zum Mindeſten äſthetiſch als Künſtler für den 
fatholiichen Kultus enthuftasmirt? Und wäre das ein Unrecht gewejen? 
Kann man nicht ein guter, mehr noch ein jtrenger, ein ausgejprochen anti= 
fatholiicher Protejtant fein und doch von der Macht und Schönheit — 
natürlich nicht in fittliher Beziefung — des katholiſchen Kultus berührt 
werden? Ic habe das in gewiſſer Beziehung am eigenen Leibe erfahren, 
und zwar erjt in dieſem Sommer auf einer Reiſe nad) Italien. An einem 
Eonntag war ed in Mailand. — Schon in dem Aeußeren des Domes mit 
jeinen Skulpturen und Statuen, feiner herrlihen Faſſade, geſchmückt mit 
üppigen Ornamenten in den zierlichjten Blumens und Fruchtgewinden, mit 
feinem unermeßlichen, von fajt jechdtaujend jteinernen Heiligen und Engeln 
bevölferten Wald von Thürmen, auf den man vom Hauptthurm herabblidt, 
ſchon in‘ diefem Weußeren offenbarte ji) eine ganze Welt von Er— 
habenheit und Poeſie und anziehendem geheimnigvollen Myſtizismus. 
Und nun gar das Innere — nun gar die große Mefje, der ich dort bei- 
wohnte. Nie ijt mir die auf die Sinne jpefulirende, alle leicht empfäng- 
fihen Triebe des Menſchen willenlo8 in ihren Feſſeln jchlagende Macht 
des fatholiichen Kultus jo zum Bewußtſein gefommen, als bei diefer Mejje 
im Mailänder Dom — nie ijt meine Anficht, daß die Stärke des römischen 
Katholizismus vielmehr in feinem die Sinne beraufchenden Kultus als in 
feiner Obrenbeichte und feinem mujtergiltigen bierarchiichen Syitem beiteht, 
treffender beftätigt worden, ald durch dieſen großartigen Gottesdienjt in 
jenen bläulich ſchimmernden, weihrauchdufterfüllten Marmormafien, deren 
riejige Verhältnifje das raffinirte Halbdunkel zur Unendlichkeit geitalten. 
Dazu die unbejchreibliche Pracht, die man in dieſem Kultus entwidelt, 
diefe imponirende Prozejjion, die fich, von bald bußzerfnirjcht bebenden, 
bald jiegesjauchzend zum Himmel ftürmenden Gejängen begleitet, feierlich 
und dem Gedächtnifje unentreißbar durch die gewaltige Kirche bewegte. 
Ein unermeßlicher Zug! In feiner Mitte unter herrlihem Baldadin von 
purpurrother, von den Stalienern jo geliebten Farbe, der höchjte geijtliche 
Wiürdenträger in blendendem Gemwande, fein Baldahin getragen von den 
reichten Mailänder Bürgern, die Diefe Ehre um hohe Summen 
für die Kirche erfaufen. Und nun, wo die Prozeſſion beendet 
iſt und die Mefje beginnt, durchzittert ein Geſang die gewaltigen Hallen, 
wie ich nie einen Slirchendyor habe fingen hören. Die weichen Klänge der 
unvergleichlihen Orgel jchmiegen ſich dieſem Gejange an, als wollten jie 
ihn auf Engelsfittigen zum Himmel tragen — dann athemloje Stille! Ich 
jehe die Menge auf den Knien liegen — id) denke an die liturgijche Aus— 
gejtaltung in fo vielen unjerer evangelifchen Kirchen — ein unbejchreibliches 


512 Rotizen und Beiprehungen 


Gefühl überfommt mid. Man muß jold) einem Gottesdienft im Mailänder 
Dom beimohnen, um zu wifjen, was die Menjchen jo gewaltig zur Fatho- 
liſchen Kirche zieht. — 

Eins aber vermag auch der großartigfte Kultus nicht : den denfenden 
Menſchen hinwegzutäuſchen über die Leere und Lächerlichleit deſſen, was er 
in gleißend übertünchten Gemwande verhült — ja, je pomphafter und be= 
raujchender diefe Zeremonien find, um jo mehr fommt Einem in dem erjten 
nüchternen Augenblid zum Bewußtjein, daß fie nicht3 Anderes find, als die 
verjchwenderisch und raffinirt gejchmüdten Gräber, die unter jich nichts 
bergen, als den leeren, falten, verwejenden Tod. — 

Und treffend weift nun Beyichlag nad) — und hierin befinde ich mic 
mit ihm ganz in Uebereinjtimmung —, daß Goethe, mag ihn der katholiſche 
Kultus auch hier und da geblendet haben, doc) nie von ihm verblendet ijt. 
„Heute ward ich aufgeregt“, jchreibt Goethe, kurz bevor er Rom betritt, 
„etwas auszubilden, was garnicht an der Zeit it. Dem Mittelpunft des 
Katholizismus mic nähernd, von Katholifen umgeben, mit einem Priejter in 
eine Sedia eingejpannt, indem ich mit ernitem Sinne die wahrhafte Natur 
und die edle Kunſt aufzufaſſen trachtete, trat mir jo lebhaft vor die Seele, 
daß vom uriprünglichen Chriſtenthum jede Spur verlojchen iſt. Wenn ich 
es mir in feiner Reinheit vergegenwärtige, jo wie wir e3 in der Apoitel- 
geihichte jehen, jo mußte mir fchaudern, was nun auf jenen gemüthlichen 
Anfängen für ein unförmliches, je barodes Heidenthum lajtet.“ Und jelbit 
jene großen Beremonien, die ihn äjthetiich oft in Banden jchlngen, ver- 
mögen dieſes Urtheil nicht zu inildern. „ES war auf Allerjeelen in der 
päpstlichen Hausfapelle auf dem Quirinal,” erzählt Goethe, „die Funktion war 
Ihon angegangen, Papſt und Kardinäle ſchon in der Kirche. Der h. Vater 
die Schönste würdigſte Männergejtalt. Mic ergriff ein wunderbares Ber: 
langen, das Oberhaupt der Kirche möge den goldenen Mund aufthun und 
von dem unausiprechlihen Heil der feligen Seelen mit Entzüden jprechend 
uns in Entzüden jegen. Da ich ihn aber vor dem Altar nur fi) hin und 
her bewegen ſah, bald nad) diejer, bald nach jener Seite fich wendend, ſich 
wie eine gemeiner Pfaffe geberdend und murmelnd, da regte jich die prote— 
Itantiiche Erbfünde und mir wollte das befannte Meßopfer hier keineswegs 
gefallen. Hat doch Chriſtus jchon als Knabe durch mündliche Auslegung 
der heiligen Schrift und in jeinem Jünglingsleben gewiß nicht jchweigend 
gelehrt und gewirkt. Was würde er jagen, dachte ich, wenn er hereinträte 
und fein Ebenbild auf Erden jummend und hin und wieder wanfend anträfe. 
Das „Venio iterum erueifigi* fiel mir ein." — Mag aljo Goethe aud 
etwas größere Sympathie für den Kultus der Tatholifchen Kirche in äſthe— 
tiiher Beziehung gehabt haben, als Beyſchlag ed wahr haben will — mag 
er vereinzelten Elementen in der fatholiichen Kirche jogar den Vorzug vor 
denen der evangelischen Kirche gegeben haben (ct. die Saframentzlehre), in 
der Hauptiache behaupten die geijtreichen Ausführungen Beyſchlags ihr Reit: 


Notizen und Beiprehungen. 513 


Alle dieje Aeußerungen ändern nicht das Geringite an der Schärfe des 
Goetheſchen Urtheil3 über den Katholizismus als ſolchen. Ueberall erblidt 
er in ihm ein Syſtem, das mit Natur, Vernunft und Wahrheit in jchneiden- 
dem Widerfpruch fteht. Der Mönch und der Priejter find ihm tyyviſch 
abjtoßende Gejtalten. Seinem ernjten Wahrheitsfinn und Wahrheitsglauben 
widerjtrebt auf das Aeußerſte „ein Obſkurantismus, der auf der einen 
Seite die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nüplichen hindert, auf der 
andern da3 Faliche in Kurs bringt.“ 

Und gerade auf der italienischen Reife, wo Goethe den Katholizismus 
im Großen mit Augen zu fchauen befommt, erreicht jein fittlidher Pro— 
teftantenzorn einem hohlen Papſtthum und leeren pomphaiten Zeremonien 
gegenüber feine Höhe. Viele noch wenig befannte Beugnifje Goethes 
wider den Katholizismus und für den Protejtantismus führt Beyfchlag 
©. 152-159 an. „Wir wiſſen garnicht“, jagt er zu Gdermann, „was 
wir Quthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu verdanten 
haben. Wir find frei geworden von den Feſſeln geiftiger Bornirtheit, wir 
find in Folge unjerer fortwachjenden Kultur fähig geworden, zur Duelle 
zurüczufehren und das Chriſtenthum in feirer Reinheit zu fafjen.... Se 
tüchtiger aber wir Protejtanten in edler Entwidelung voranfchreiten, um 
fo jchneller werden die Katholiken folgen.“ (Edermann Ill ©. 371—73.) 

Sch habe bei diefem Vortrage länger vermweilt, weil er gerade für 
unjere Tage von bejonderem Interejje iſt. Die anderen Vorträge jtehen 
ihm nicht nad). Sehr geiſtreich iſt die bereit3 länger bekannte Ausführung 
über „Leifings Nathan den Weifen und das pojitive Chriſtenthum“, wenns 
gleich hier die Dichtung nicht immer aus der Tichtung heraus erklärt iſt. 
Beyichlagd Gedanke über das jungdeutiche naturalijtiiche Drama werden 
auch den anregen, der ihnen nıcht rüdhaltlos zujtimmt. 

Das Bud) ift Allen warm zu empfehlen, die im Gewoge des Tages 
und im Einerlei des Berufsleben: nad) edler und veredelnder Lektüre 
fuchen, die eingeführt werden wollen in die Bahnen chrijtlicyer Bildung 
und kirchlicher Zeitbewegung; möchte der Wunſch des Berfaljerd in Er— 
füllung gehen, daß dieſes Buch ein wenig dazu beitrage, „den tiejen 
Frieden, welcher zwiſchen dem echten Chrijtenglauben und echter Bildung 
beiteht und den nothwendigen Krieg, den wir zur Behauptung unjeres 
deutjchsevangelifchen Geifteserbes zu führen haben, ind Licht zu ſtellen“. 

Arthur Braujemwetter. 


Goethe-Literatur. 

Goethe-Fahrbud. Herausgegeben von Ludwig Geiger. Bwanzigiter 
Band. Mit dem vierzehnten Zahresbericht der Goethe-Geſellſchaft. Frank— 
furt a. M., Lit. Anſtalt Rütten & Löning. 1899. 319 ©. groß 
Dktad, ©. 320—331 Perſonen-Regiſter zu Bd. XX. ©. 332—337 
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 38 


514 Nothzen und Beſprechungen. 


Regiſter über Goethes Werke und Leben. Darauf folgt mit beſonderer 
Paginirung Erich Schmidts am 27. Mai d. J. bei Gelegenheit der 
14. Generalverfammlung der Goethe-Gejellichaft in Weimar gehaltener 
Feitvortrag: „Goethe Prometheus“, 20 S. Sodann der Jahresbericht 
12 ©. und dad Mitgliederverzeichniß, S. 15—63. 

(Dem Vorwort voran war die betrübende Mittheilung von dem am 
2. Mai zu Berlin erfolgten Ableben des erjten Präjidenten der Goethe: 
Gejellichaft, de3 wirft. Geh. Rathes Dr. Eduard von Simjon zu 
geben, wie 1897 von dem der edlen Erbauerin des Goethe: und Schiller: 
Archivs, der Großherzogin Sophie (geb. 8. 4. 1824, get. 23. 3. 1897). 

Goethes Leipziger Studentenjahre Ein Bilderbudy zu Dichtung 
und Wahrheit als Feitgabe zum 150. Geburtötage des Dichter von 
Dr. Julius Bogel, Kuſtos am Städtiichen Mufeum der bildenden 
Künjte zu Leipzig. Leipzig, Karl Meyerd Graphiiches Injtitut, 1899. 
87 ©. Doppelquart, elegant gebunden 4 Marf. 

Goethe. Bon Richard M. Meyer. BPreisgefrönte Arbeit. Zweite 
Auflage. (Als Band 13—15 der Anton Bettelheimjchen „Geifteshelden“. 
Berlin, Ernjt Hofmann & Co. Preis 7 Mi. 20 Pf. 712 ©. Text, 
©. 7183—722 Ueberſicht der Goethe-Literatur, S. 723—747 Berjonen: 
und Sachverzeichniß. 


Wenn dad Freie Deutſche Hoditift in Frankfurt und die Goethe: 
Gejellihaft, die nah Simjong Tode den Geh. Hofrat Dr. E. Ruland, 
den Verwalter des Goethe-Haujes in Weimar, des jogenannten Nationals 
Mufeums, zu deſſen Nachfolger als ihren Präfidenten gewählt bat, eine 
bibliographiiche Ueberjicht der jämmtlichen literariihen Darbringungen in 
Form von Büchern, Sournalartikeln, BZeitungsberichten und Feuilletons 
oder als Erzeugnijje der graphiichen und plaftischen Künjte geben wollte, 
die aus Anlaß der gemeinschaftlich in Frankfurt begangenen Feſte diejes 
Jahres in Deutjchland und in der ganzen gejitteten Welt zu Tage ge 
fommen find, jo würde jie allein wie der Katalog einer ftattlihen Bıblio- 
thel wirlen müfjen und beredjam die für unjer Volk hocherfreuliche That: 
jache predigen, daß die Liebe und Verehrung und dad Verſtändniß ſeines 
Lebenswerkes in den legten fünjzig Jahren in ganz außerordentlihem 
Make zugenommen haben, daß und und aller Welt die Größe dieſes 
Einzigen unermeßlich jichtbarer geworden ijt. Die Mitgliederzahl der 
Goethe-Gejellichaft ijt natürlich nicht ald einziger Gradmeſſer für jenes 
gewaltige Wachſen zu betrachten, denn fie betrug am 31. 12. 1898 nur 
2606 und der beflagenswerthe Abgang ift nicht eingeholt worden. Wären 
wir Engländer oder Amerikaner, jo würde es ſich für jeden einigermaßen 
wohl fituirten gebildeten Menjchen als nationale Ehrenjache von jelber 
verjtehen, einem jo Große und in jedem Sinne Bedeutende darbietenden 
Vereine, der auf viele Jahre hinaus noch aus den Schäßen des Goethe— 


Rotizen und Beſprechungen. 515 


Archivs jchöpfen darf, anzugehören, und damit auch den Neichthum der 
ihm für den geringen Sahresbeitrag von 10 Mark zugehenden Publi— 
Fationen, des Jahrbuch und je eines jtattlihen Bandes der Schriften der 
Goethe:-Gejellichaft (wir erwarten eben den 2. Band der immer interefjanter 
und wichtiger werdenden Briefe der Romantifer an Goethe und defjen 
köſtlicher Antworten), wejentlich zu erhöhen. Wir find ja wohl im Allge— 
meinen ärmer, als unjere englijchen freunde, Die recht eigentlich die ganze 
Erde ald ihre „Speiſe“ betrachten, und fich al die von ihrem Brahma 
ernannten „Efjer“, aber follte man nicht denken, die Mitgliederzahl müſſe 
ſich leiht auf das Doppelte oder Dreifache erheben, wenn 3. B. nur 
allgemein gewußt würde, daß das diesjährige Goethe-Jahrbuch (Bd. XX) 
auf ©. 37-75 die Weijeberihte Goethes von 1813 aud Naumburg, 
Dresden, Tepliß an jeine Hausehre, Chrijtiane, mit eingehendem 
Kommentar (S. 75—94) bietet? Hätten wir auch gewünjcht, daß Bern- 
bard Suphan in feiner geiltvollen Weije diefe Anmerkungen ganz ges 
jchrieben hätte, ftatt fie dem Herausgeber zu überlafjen, jo fann man 
doch für dieſe köſtlichen Beugnifje, für Die Reinheit jenes jo vielfach 
beihmußten Verhältniſſes, das Goethe vom erjten Tage an als eine 
jefte, unverbrüchlide Che angejehen Hatte, nur von Herzen dankbar 
fein. Wie rührend ift doch die verjchämte Mittheilung an jeine „liebe 
Kleine“*) auf S. 71: „Den 12. Juli habe ich bei einem großen 
Saftmahl im Stillen gejegnet.“ Wa iſts denn mit dieſem 
12. Zuli? Nun ed war der Tag der jilbernen Hodzeit. Man hat in 
diejen legten Felttagen in Weimar auch nad) dem vernachläjjigten Grabe 
Chriſtianens gefragt, dad ein Berliner Feuilleton in der Fürſtengruft 
gejehen haben will, da es auf dem alten Kirchhofe iſt, der jegige noch gar 
nicht eriftirte. Wäre es nicht eine Ehrenpflicht Weimars, dejjen Läjter- 
mäuler die gute Frau bis heute verfolgen, in goldenen Buchitaben die 
Worte Goethes nachträglich dort zu befejtigen, die er nad) ihrem Tode 
ſchrieb: 
Gatte der Gattin. 
6. Juni 1816. 

Du verſuchſt, o Sonne, vergebens 

Durch die düftren Wolfen zu jcheinen! 

Der ganze Gewinn meines Lebens 

Sit, ihren Verlujt zu beweinen. 


Der Lejer müßte ſich dann doc wohl jelber jagen, eine Frau, Die 
Goethen jo lieb war, ihm fo hoc) jtand, muß doch wohl ſittliche Quali— 


*) Wenn er fie anredet (S. 73 Nr. 21) „mein allerliebftes Kind“, jo diktirt 
er das nicht, wie er ſonſt in diefen Jahren pflegte. John war ihm eben 
erkrankt nnd er hatte ihn nad Karlsbad geihidt, aud ein rührender 
Zug des Alten, da er ihn ja recht gern los fein wollte. 


88* 


516 Notizen und Beiprehungen. 


täten anderer Art gehabt haben, als ihr Caroline Herder e tutte quante 
anzudichten bemüht waren. *) 

Eine höchſt willlommene Erweiterung unferer Stenntniß der Be— 
ziehungen Goethes zu Byron, deren wir gelegentlid der Heineren 
Schriften Mich. Bernays zu gedenken hatten, giebt hier gleich der erite 
feinfinnige Aufjag A. Brandls (S. 8—37). 

Es fann aber nicht meine Abſicht fein, den ſehr reichen Inhalt des 
Buches hier im Einzelnen vorzuführen, da wohl anzunehmen jteht, daß der 
größere Theil unjerer Leſer längit der Goethe-Geſellſchaft angehört und folg- 
lich genau weiß, daß die ftattlihe Reihe ihrer Jahrbücher und „Schriften“ 
ein unentbehrliche® Material der Goethe-Wiſſenſchaft und wie man fait 
auch jagen fünnte, der Goethe-Religion bedeutet. 

Der Heraudgeber, Ludwig Geiger, fand fi, ich glaube mit Recht, 
beengt durch den vielen Raum, den allemal die Bibliographie im Jahrbuch 
in Anspruch nahm, als er fie jedoch fortlafjen wollte, erhob fich lebhafte 
Nachfrage grade nad) ihr. Gewiß hätte manche wiſſenſchaftliche Erörterung 
an anderen Orten gedrudt werden fünnen oder als jelbjtändige Schrift 
auf den Markt gelangen, aber der Charakter des Jahrbuch als eines 
Nepertorium der gefammten Goethe-Wiſſenſchaft hätte darunter gelitten 
und nicht das allein, das nöthige Material wäre dem Forſcher mwejentlich 
vertheuert worden. Ließe fich nicht etwa jo der Noth fteuern, daß man 
fich entjchlöfje, ein etwa halbmonatlic) zu Lieferndes Korreſpondenzblatt des 
Goethe-Vereins herauszugeben, das zunächſt die Bedürfnifje der an der 
Forſchung interejfirten Kreife ins Auge fahte, vor Allem aljo Fragen 
jtellen dürfte und die Antworten jammelte? Hier ließe jih u. U. ein er: 
heblicher Theil dejjen bemeijtern, wa3 der von Herm. Grimm ausge 
mworfene Gedanke eines Goethe-Wörterbuches eigentlich Wollte. Hier wäre 
auch der Ort, immer frijch die fort und fort nachſprudelnde Bibliographie 
vorzulegen, auf die man nicht mehr ein volles Jahr zu warten braudte. 
Und wie vielfältige Anregungen nad) den verjchiedenjten Richtungen bin, 
Berichtigungen irriger Annahmen — nur ohne gehäſſige Polemit — und 
vielleicht auch Perjonalien, die den Forjcher interefjiren können, fänden bier 
ihren Platz. Much eine durchgängige, rein chronologijche Rubrik „Goethe— 
Regeſten“ wäre durchaus erwünscht, da hier Arbeitstheilung unentbehrlich 
it. An Kräften zur Ausführung eined ſolchen Unternehmens fehlt es 
nicht, ich rege den Gedanken hier nur vorläufig an, vielleicht findet er 
Anklang. — 





*) Gin an fi wenig Haffiicher, aber in dieſem Punkte offenbar ehrlichſt 
überzeugter und aufrichtiger Zeuge tft der junge Zacharias Berner, 
der am '5 4. 1808 an Goethen Schreibt (Romantikerbriefe IL, 5): „Ihrer 
trefflihen Gattin küſſe ih die Hände mit tiefer Rührung; was fie ıf, 
babe ich erjt in der legten Abjchicds-Minute erfahren: fie verdient es, 
die Martha meines Meisters und Herren zu ſeyn.“ Noch einmal (22. 11. 
1808) preijt er fie als feine „Für- und Seeljorgerin“. 


Rotizen und Beiprehungen. 517 


Aus dem jonjtigen Inhalte des Jahrbuchs ſei hier nur noch erwähnt 
„Ein Nachſpiel zum Briefwechſel mit Schiller“ von C. Schüddekopf 
(S. 94-105). Es bezieht fi) auf die Empfindlichkeit, mit der der 
Minijter E. Fr. v. Beyme 1830 in Goethes AZueignungsichrift dieſes 
Briefwechjel3 an König Ludwig don Bayern einen Vorwurf „für die 
Fürften Deutjchlands* finden wollte, den er wenigitend von dem König 
von Preußen abzumenden verpflichtet je. Goethe jah ſich nicht beivogen, 
in der Angelegenheit dad Wort zu nehmen. „Was jollte aus den jchönen 
mir noch gegönnten Lebenstagen werden, jchrieb er für Niethammer an 
den Kanzler von Müller (21. 5. 1830), wenn id) Notiz nehmen wollte 
von Allem, was in dem lieben VBaterlande gegen mich und meine Nädjiten 
geſchieht!“ — Endlich, weil ed weit gehört zu werden verdient, ein Wort 
des tüchtigen Charles Francois Dominique de Villers an Goethe 
übel 10. 8. 1803, aus dem Archiv dur Jul. Wahle mitgetheilt). 

Puisse le noble esprit de la sagesse et de la poesie germanique 
vaincre le pernicieux demon de l’immoralite et de la superficialite 
francaise! — 

Dad ald Nummer 2 genannte Leipziger Bilderbuch wird Vielen 
Freude gemacht haben. Goethe jelber zwar pflegte fih im Alter vor 
diefer Leipziger Periode einigermaßen zu entjegen und zu befreuzen*), das 
darf und freilich nicht hindern, auch fie, wie ja der Dichter jelber in 
Dichtung und Wahrheit maßvoll gethan, ald Faktor ſeines Werdeganges ın 
Rechnung zu ftellen, denn was hilft der nachträglihe Seufzer: Hätt' id) 
jtatt dejjen in einer wirklich bedeutenden Landſchaft und geijtiger Atmojphäre 
gelebt?! Dabei fann ganz wohl bejtehen, wad Meyer ©. 51 betont, daß 
1768 der junge Goethe ebenſo jehnjüchtig nad) Yeipzig und zwar nad) 
dem Dejerjchen Kreije zurücblidte, wie 1788 nad der Rückkehr aus 
Stalien nad) den Römischen Freunden. 

Immerhin ijt das Buch interejjant genug, da e3 uns in hübjchen Zeit— 
bildern das damalige Klein-Parid und z. Th. auch Dresden und alle dies 
jenigen Perjonen vorführt, deren Goethe dankbar oder etwa auch reu— 
müthig gedachte. Vor Allen ijt in den etwa fiebzig zur Hälfte bisher 
gänzlich; unbelannt gebliebenen Abbildungen Käthchen Schönkopf und ihr 
Haus und ihre Familie, dann aber bejonderd der Maler Adam Friedrich 
Defer und feine finder berüdjichtigt. S. 62 ijt richtig erkannt, daß wir 
es mit dem jungen oh. Friedr. Ludwig Defer und nicht etwa mit einem 
Goethebildniß zu thun haben. Auch die Breitfopf jind gebührend ver: 
treten, von Profefjoren wohl alle von Goethe genannten. Zu dem 
Snterefjantejten gehören die beiden NRadirungen des jungen Goethe, an 
denen doc wohl Meijter Dejer das Beite wird gethan haben. Bei diejem 
Anlaß machen wir die Freunde Goethiſcher Kunftübung gern aufmerkjam 


*) Man ſehe u. A. den Brief Gis an feinen Sohn Auguft nad) Heidelberg 
vom 3. 6. 1808, bei Meyer zitirt S. 472. 


518 Rottizen und Beſprechungen 


auf K. Kötichaus Auffap „Neue über Goethe als Radirer“ im der 
Beitichrift für bildende Kunft, Mai 1899 (X, 8). Schon im Februar 1893 
hatte dieſe Beitichrift (mit Tert von G. Wuftmann) jene beiden 
NRadirungen in ehr viel fchöneren Druden gegeben, als fie bei Vogel 
erſcheinen. — 

Ueber R. M. Meyers „Goethe“ wollen wir und möglichjt kurz 
fafjen. Der Vermerf auf dem Titel „Preidgefrönte Arbeit“ kann für die 
Deurtheilung nicht in Betracht fommen, er jcheint aber manche Kritiker ver- 
drofjen zu haben; wenigſtens las ich in einer Berliner Zeitung (7. Sept.) 
unter Anderm, das Werk fei zu ſehr Blender, die anſpruchsvolle Perſon 
des Verfafjerd jtöre. Ich kann das nicht unterfchreiben, da ich auch nicht 
weiß, ob in der That Heinemanns Goethe-Bivgraphie jo vortheilhait 
davon abjteche. 

Eine gerechte und billige Beurtheilung hat ſich doch von vornherein 
bewußt zu bleiben, daß die unüberjehbare Weite und Fülle eines fo reichen 
Lebend unmöglid von einem Menden, und wäre er ein Rieſe an 
Arbeitskraft und Einficht, gleichmäßig und in vorgefchriebener Allgemein: 
veritändlichkeit oder populär dargejtellt werden Fann. Auch daß Die An: 
fihten über manches Goethifche Werk, über mandyes Thun und bejonders 
auch Unterlafjen des einzigen Mannes, über taufende feiner offenherzigen 
Urtheile, weit auseinander gehen, ijt nicht zu verwundern. War ich dod 
jelber nah Durchleſung des IX. Kapitels „Goethes Lyrik“ (S. 146 
bis 162) mit einem Iyrifchen Proteft bei der Hand, den ich getroit 
berjegen darf, da die paar fchlechten Neime die kritiſche Proja kaum 
unterbrechen. 


Dankbar ehret, preijet Goethen, 
Aber preijet ihn bejcheiden. 

Soll der Selige noch erröthen? 
Dürft ihr uns das Dichten leiden ? 
Einer fann nit Alles flöten: 
Friſcher Sang bei Chrijt und Heiden 
Bleibt troß feinen Einzigfeiten 

Heut und ewig hoch von Nöthen. 


Sc bemerfe aber vorweg, daß ich das ganze Buch mit lebhaften An- 
theil und Genuß gelejen habe und es im Ganzen für wohl gelungen und 
auf jehr umfangreichen und gründlichen Studien aufgebaut anerkennen 
muß. Wenn Goethed Leben ſelbſt „dad größte jeiner Kunftwerfe* 
genannt wird, fo ift das ja eine Phrafe, die man nicht zu jehr drüden 
fol. Sein Leben gejtaltet fi) Keiner allein und nemo sibi vivit, nemo 
sibi moritur jagt der Mpojtel. Die Beurtheilung des Water, „der nie 
recht jung gewefen zu fein fcheint“, mag ungerecht klingen und id darf 
dawider noch einmal das treffliche Büchlein der Frau Telicie Emwart 


Rotizen und Beſprechungen 519 


geltend maden. Das hat der alte Herr, der ganz allein das Werk einer 
jeltenen Jugendbildung an jeinem früh reifen Knaben vollendete bis zur 
Reife zur Univerfität, doc nicht verdient, daß man von ihm jage, er 
„gehöre zu jenen Männern, denen Niemand dad Necht bejtreitet, von un— 
getbaner Arbeit fich würdevoll auszuruhen“. 

Der Verfafjer giebt jich durchaus nicht al3 unbedingten Bewunderer 
des Dichters. Wer dürfte das auch verlangen? Goethe hat allerdings 
— im Alter — „Süße gebaut, deren Steifheit nur der Fanatiker leugnen 
fann“. Es ijt ihm auch wohl eine Strophe mit durchgelaufen, deren ein= 
jahe Wortlonftruftion faum zu errathen it. Die „Mitjchuldigen“ zu be: 
wundern, weil fie von Goethe find, darf Niemand und anjinnen, aber 
e3 iſt fein eigentlich äjthetijches Urtheil, wenn man fie „ein wahrhaft un— 
ſittliches Stüd“ nennt. 

Die frühejte Goethiſche Lyrik, die der Leipziger Zeit, 1768—69 
wird als „janjt zweifelnde Melancholie“ gewerthet. Man möchte Hinzu 
jegen: doch mehr im Stile der Zeit, denn aus eigener Seelenerfahrung 
gequollen, was für den faum Neunzehnjährigen fein Vorwurf jein kann. 

Der Abſchnitt „Straßburg“ hält jich auf dem Niveau üblicher Auf- 
jafjung, an der Goethe freilich die Schuld jelber trägt. Herder ſoll es 
gewejen jein, von dem Goethe das Gefühl der Ehrfurcht vor menschlicher 
und künſtleriſcher Größe erit gelernt habe. Friedrih Nietzſche einen 
Herdern vielfach verwandten Prediger unjerer Tage zu nennen, ijt etwas 
gewagt.“) Straßburg bradte und den Göß ein, darnach Wetzlar den 
Werther, während die Gährungsfeime zum Fauſt ji wohl auf Leipzig, 
Frankfurt und Straßburg vertheilen. 

Den Götz kann man ja unter die Rubrik der „Unklagedramen* allen- 
fall3 einreihen, aber damit ift nicht viel gejagt, mit den Ibſenſchen 
Stüden — der Berf. nennt die „Stüßen der Gejellichaft“ gleichjam als 
Paradigma (a posteriori) — hat dieſes BZeitgemälde doc) wenig gemein, 
eher Schillers aufregendes Stück „Luije Millerin“, wie denn Lefjings 
„Emilia Galotti* auf Goethen feine nachweisbare Verführung ausgeübt 
hat. Wir haben feinen Dichter gehabt, der jo früh über alle Tendenz- 
poefie hinaus war und, müfjen wir binzujegen, der jo jümmerlich als 
Dichter jcheiterte, ald er denn doch einmal fi) auf dieſes eigentlich 
publiziftiiche Gebiet begab. 

Baterlandsliebe, wenn damit der heute gepriejene Baradepatriotismus 
gemeint it, hat Goethe ſicherlich gering geihäßt. Der Verf. findet das 
nur zu begreiflih. Wer hätte aber den Muth, möchten wir hinzufügen. 
heute den Mann darum zu jchelten, der nach der Anficht Viktor Hehns 
den vollen Gehalt alles deſſen erjt jeit begründet hat, was wir zu lieben 





*) Bol. noch S. 547, wo neben Rochefoucauld und Lichtenberg, Ar. 
Nietziche als der eigentliche Klafliter des Aphorismus gepriefen wird. 


520 Notizen und Beiprehungen. 


und vielleicht noch lange mit aller Kraft zu vertheiden haben, der aljo 
der Bismarckſchen Schöpfung ihren Werth im Voraus geliehen hatte? 

Mit dem Götz von Berlichingen trat Goethe jogleid an die Spitze 
der neuen Bewegung. Diejer Erfolg jtempelte ihn für immer zum 
Dichter, und drängte die doch nie gänzlich; aufgegebenen Belleitäten 
zurüc, fi) der bildenden Kunſt zu widmen. Hat Goethe jelbit gejtanden, 
dag die Wirkung Straßburgd (und vielleiht noch mehr der Einfluß 
Herders) eine Abkehr von franzöſiſcher Kunſt und entichiedene Belehrung 
zu der heimifchen für ihn bedeute, jo läßt ſich ja hieraus zwar ganz 
wohl der Widerwille Friedrich3 des Großen gegen ſolche Irokeſen-Poeſie 
begreifen, aber allzu ernit braucht man jein dilettantijche8 Urtheil nicht zu 
nehmen. Mit dem Werther gründete der junge Titane feine europäiſche 
Berühmtheit. 

„Goethe,“ jagt der Verfafjer, „war einmal Werther, aber er war es 
nicht mehr, als er den Roman ſchrieb.“ „Das Herzendleben der modernen 
Menſchen war der Poejie gewonnen.“ Alles Romanhafte — gemeint it 
Alles, was man bisher dafür anſah — war zuerjt hier entfernt. 

Bon dem fogenannten „Spinozismus* Goethes macht aud Ric. M. 
Meyer, fcheint mir, zu viel Aufhebend. Schon die unjerm Dichter immer 
widerwärtige mathematifch fonitruirende Methode feiner Daritellung wird - 
ihn abgejchredt haben, und erweislich ijt wohl nicht viel mehr, als daß der 
Artikel Spinoza in Bayles Dictionnaire historique et critique, allerdings 
eine infame pfäffiiche Anklageichrift, den Straßburger Studenten mit tiefer 
Indignation und damit auch mit Reſpekt vor dem jo Behandelten erfüllt 
hat. Später hat ihm dann Freund Frib Jacobi allerlei krauſes Zeug 
vorgegaulelt. Wir wiſſen ja, daß noch jpäter Herder, indem er zwei 
Fliegen mit einer Klappe jchlug, der Charlotte von Stein zum Geburts 
tage und ihrem Freunde und unferm 1784 einen Spinoza gejchenkt bat, 
daß Goethe ihn auch gelegentlich „unjern Heiligen* genannt bat, allein 
an wirkliches Studium und nun gar in jchönen Abendftunden mit der 
Freundin gemeinfam, glaube wer mag. Goethen wird genügt haben. 
was Herder ibm davon vorzupredigen mußte, aber fein Pantheismus war 
doch etwas Anderes, als die Abjtraktionen Spinozas, er war auf das Geift- 
jehen in der Natur, voraus der organiſchen, gerichtet. Es gehört aber zum 
guten Ton, von Goethes Spinozismus zu orafeln. 

Mit Meyer (S. 144 fgd.) meinen wir, daß freilid Merd mit dem 
befannten Urtheil über den Clavigo im Rechte war. „Gewiß, heißt es. 
wir hätten an Goethe (der bedauert hat, daß er nicht damals ein Dutzend 
Stüde der Art geichrieben) einen deutichen Zope de Vega gewonnen 
(wenigſtens einen etwas geijtvolleren Kotzebue) ... . Wir hätten vielleicht 
zwanzig Clavigos; aber wären fie den einen Taſſo werth?“ Das ijt jebr 
richtig, aber die Goethefreunde erinnern fich der kurioſen Bewerthung der 
Goethiſchen Dramen, die Paul Heyſe in Weimar zum Bejten gab. Wer 


Rotizen und Beſprechungen. 521 


ſchüttelte damals nicht den Kopf, einen Mann, der jelber tief in das 
poetijche Metier eingeweiht ijt, jo oberflächlich die Partei der Clavigos 
nehmen zu jehen? So verwüſtet die moderne Theaterfererei das literarische 
Urtheil. Als 0b auf die Gefchäftdunternehmungen der Sudermann, Lindau, 
L'Arronge, Blumenthal und Kadelburg etwas anfäme! — 

Wir ſprachen ſchon davon, das wichtige Kapitel von Goethes Lyrik 
möchten wir nicht durchaus unterjchreiben. Alles wurzelt hier, und ohne 
Zweifel it Goethe hier der typische Dichter. Man muß jedoch nicht 
Alles an ihm meſſen wollen, Goethe darf feine Schranfe werden. Es 
giebt feine abjolute Lyrik, jede Zeit, die nicht ganz gottverlaffen wäre, hat 
die ihr angemefjenen Formen oder Töne der Lyrik zu finden und, um an 
Meyer anzufnüpfen, Storms Gediht „Mondlicht“, das gar nicht den 
Anspruch erhebt mit Goethes berühmtejten „An den Mond“ zu wett— 
eifern, iſt nicht deshalb ſchon als „erfältend“ zu jchelten, weil es in die 
rührende Bitte an die Geliebte ausklingt: 


Wie bin ich joldhen Friedens 
Seit lange nicht gewohnt! 
Sei du in meinem Leben 
Der liebevolle Mond! 


Uber fein ift die Bemerkung, Goethe ſei, wie die Alten, Meijter in 
der lyriſchen Darjtellung der Erijtenz, nicht des Effelts. Goethes 
Lyrik eben Alles und Jedes als unerreihbare Einzigfeit anzurechnen, lehnen 
wir aljo entſchieden ab, wie er jelber in feiner genialen Bejcheidenheit that. 
Nein! jo armfelig ift die nachgoethiche Dichtung und aud) die allerjüngjte 
denn doch nicht, daß fie einfach einpaden müßte. 

In dem Kapitel „Stella* (X) iſt von Stella eigentlich nicht die Rede, 
dafür von der Schweizerreife und der Einladung nad) Weimar. Wir 
fommen aljo zu dem fchikjalvolliten Abjchnitte dieſes Lebensbildes. Im 
Ganzen folgt man der Darjtellung mit Genuß. Bezeichnend für unjern 
Goetheforſcher und viele feiner Genofjen ijt dabei, daß ihnen troß aller 
Berehrung Goethes doc eigentlih Leſſing der unerreichte Lehrer ift. 
Der Gedankfengang der „Seheimnifje*, den wir doc recht undeutlich in 
dem Fragment nur ahnen, ſoll beherricht fein von den Ideen, die Leſſings 
Erziehung des Menjchengejchlecht3 gelehrt hat. Man kann da8 auf ſich 
beruhen lafjen, zumal der damalige Einfluß Herderd in jedem Sinne 
näher liegt. Mit den Folgen der italienischen Reife ift der Biograph nicht 
jo durchaus einverjtanden und wer wäre es heute nod) außer einigen ganz 
verjtodten Klaſſiziſten? ©. 234: „Wenn der Autor des „Götz“ den 
Dichter der „Hermannſchlacht“ mit graufamer Strenge zurückwies und 
fange aud) gegen den der „Räuber“ sich in Abwehr hielt — wenn der 
einjtige Ruhmredner Erwins für das fühne Streben eined Cornelius 
weniger al3 für manirirte Bilderchen aus Hajfjischen Bezirken Anerkennung 


22 Notizen und Beſprechungen. 


bat, jo gehört auch dies zu dem Folgen...“ Gewiß. und wenn aud 
mit einer gewiljen Berechtigung gejagt werden konnte, ed gebe nur drei 
große Erlebniffe für Goethe: Straßburg, die Berufung nad Weimar 
und die italienische Reife, fo läßt fich doch, falld man nicht darauf einge: 
ſchworen ift, auf Weimar abjolut nichts fommen zu lafjen, bei aller Be- 
wunderung deijen, was er Weimar gegeben, gar wohl auch einmal fragen, 
was es ihm aber auch als Menſchen und Dichter gekoſtet hat. 

Einverftanden find wir mit dem, was über „Egmont“ und „Iphigenie* 
ausgeführt wird. Es ijt nicht eben neu. Weniger jedoch, wenn von 
.Nauſikaa“ gejagt ift, „ihr Verhängniß hätte fein jollen, daß jie ſich un— 
widerruflih in den Augen der Ihrigen fompromittirt, wie Goethe ſich 
ausdrückt.“ Das verjtehen wir jo faum, und follte es jo gemeint fein 
wie Meyer will, jo hätten wir wohl nicht einmal Grund zu bedauern, 
dat aus dem Ding nichts wurde. Iphigenie ift Manchem, und war dem 
alten Goethe jelber zu modern, das wäre dann wohl zu antik geworden. 
Sch glaube nicht, daß Goethe, als er in Sizilien das herrliche tragische 
Idyll als dramatiihen Vorwurf ind Auge fahte, jolde Spipfindigkeiten 
im Sinne gehabt haben kann. 

Im Taſſſo ftedt, wie in fait allen Goethiſchen Dichtungen, natür- 
fi; auch viel perſönlich Erlebtes, aber jo eigentlih als „große Beichte* 
und al3 jolhe dem Werther und Fauſt parallel zu jtellen iſt er dod 
faum. Was hätte denn Goethe jo groß zu beichten gehabt? Daß er 
fih an die Stein verjchwendet hatte, der er gutherzig genug jeine welt: 
männifche Erziehung verdanken mochte, wen ging denn das in Weimar 
etwad an? Daß er jih im hundert Nichtigfeiten zum Amüſement des 
Hofes verzettelt hatte, hat er wohl jpäter beklagt; aber davon jteht im 
Taſſo fein Wort. Im Gegentheil, Weimar durfte ſich in dem dargeitellten 
Glanze Ferrarad wie in einem allerdings verichönernden Spiegel erbliden. 
An den Unjinn, der einigen Goetheforjchern nicht auszureden iſt, die 
ganz richtig als pathologiſch dargejtellte Leidenjchaft Taſſos zur Herzogin 
babe einmal in Weimarifchen Erlebnifjen ein Gegenbild gehabt, denkt doc 
der neue Biograph nicht etwa auch? Man prefje und quetjche doch nicht 
ewig an dem Ausdrud Beichte oder Generalbeihte! Goethe meint damit 
gar nicht3 Anderes, als Selbjtoffenbarung, das Fundament freilid 
aller feiner dichterifchen Schöpfungen. Am Ende jchnüffelt man auch noch 
dad arme Gretchen auf, das der jchlimme Goethe-Fauſt verführt und 
im Elend habe jigen lafjen, dafür er denn von Rechts wegen vom Teufel 
hätte müjjen geholt werden. 

Was Italien für den Dichter geworden und wejentlich durch ihn dem 
gebildeten Deutichen bleibt, wifjen wir Alle. Das ewige Heimmeh nad 
dem jchönen Lande, dad er nun empfand, hatte auch rein klimatiſche 
Urjaden, denn über die unfreieren gejellichaftlihen Lebensarten jegte er 
ji refolut hinweg und jchuf fi, zum ewigen Verdruß des jo keuſchen 


Rottzen und Beiprehungen. 523 


Weimars, ein jtilles häusliches Glüd. Wenn hier, wie jo oft wieder 
vorgebradt wird, Charlotte von Stein die verlafjene Dido war, „die 
einzige Geliebte Goethes, die ihm mehr gab, al3 fie von ihm empfing,“ 
jo braudt jtatt alle8 Proteſtes bloß auf die Briefe Goethes an fie 
vermiejen zu werben, die fürzlih Dr. Jul. Wahle zum dritten Male 
(nah Ad. Schöll und Wild. Fielig) forgfältigit herausgegeben hat. 
Dean frage nur richtig empfindende Frauen, mit welchem Wehgefühl fie 
Diejer einfeitigen Verſchwendung des Ueberreichen zujehen. Ihr Glück 
ift’3 noch im Gedächtniß der Menfchen, daß jie jo Hug war, ihre Briefe 
zurüdzuerlangen, um fie zu vernichten. Ganz wenige find zufällig erhalten 
(I. jetzt auch Goethe = Kahrbuh XX, 105— 115). Woher wollen wir 
wijjen, daß die Rückkehr Goethes nad Frankfurt, woran wohl einmal 
ernitlih gedacht war, geradezu „ein nationale Unglück für Deutjchland“ 
geworden wäre? 

Ueber die einzige Verbindung Goethes mit Schiller (Kap. XVII) 
ließ ſich nicht bejonderd Neued erwarten. Das iſt längit erjchöpfend 
behandelt, und unjere Zejer, denen wir O. Harnad3 „Schiller“ und 
Bellermannd Ausgabe warm empfehlen konnten, brauchten deßhalb 
das Buch nicht zu kaufen. Aber ich darf hier nicht verjchweigen, daß 
N. M. Meyer mit gutem Fuge eine fommentirte Ausgabe des Bricf- 
wechſels fordert, ein anjtändiges Stüd Arbeit, das das Zuſammenwirken 
mancher frifchen Kraft nöthig machte. 

Don Glück mag jagen, wem es gelänge, in Goethes großem Er- 
ziehungsroman, dem Wilhelm Meijter, dem Schmerzensfinde fo vieler 
Jahre, den leitenden Faden oder meinetwegen die dee zu finden. Es 
läßt jich hören, es klingt ganz geiftreih, wenn hier von dem „Roman 
de3 Dilettantiömud“ geredet wird. Hamlet jei daher Wilhelms Held, der 
„Dilettant ded Heroismus“. Wäre Hamlet das nad) Goethes Meinung, 
er hätte ji wahrlich nicht jo viel mit dem problematifchen Kerl be= 
jchäftigt. Dder hätte gar Goethe fich jelber und jeine abgejchlofjene 
AJugendperiode al3 dilettirend aufgefaßt? Nimmermehr! Als Werdenden 
jtet3, als Dilettanten, d. i. den gewordenen Unfertigen, nie. Per alte 
Goethe hat ji) mit der Firirung des Dilettantismus unendlich, man 
fann jagen, abgequält, es war jeine letzte kritiſche Inſtanz, und Alles, 
was ihm hinderlich und antipathiſch war, mußte fich dieſes Stigma ge— 
fallen laſſen. Aber bereits den Roman als eine beabjichtigt geweſene 
„Belegiammlung zu dem (jo viel jpäteren) Aufja über den Pilettantis- 
mus“ anzujehen, das heißt uns zu viel zumuthen. Ein „Meifterwert 
funftvoller Arbeit“ ift der Roman eben nicht, ald Ganzes nämlich; dazu 
fehlt nicht mehr als Alles, Gejchlojjenheit und Klarheit der Fabel und 
Einheitlichleit des Stils, beides verjchuldet durch die langen Pauſen der 
Arbeit daran, durch das Hineinpacken disparater, inzwiſchen aus ganz 
anderen Gegenden dem Dichter zugeflogener Epijoden, die fich ald bequemes 


524 Rotizen und Beiprehungen. 


Bülljel boten, nur um fie doch nicht verderben zu laſſen. Es ijt Daher 
gar nicht zufällig, daß gerade diefer Roman, der nicht fowohl der Roman 
des Dilettantismus iſt, als vielmehr im Sinne des älteren Goethe 
jelber dilettantiſch, das Modellbuh des vagirenden Romantizismus, der 
künſtleriſchen Zerfahrenheit und Stillojigteit, werden fonnte.e So viel 
vermag ein wirklicher Dichter jelbjt da, wo er die Poefie zu fommandiren 
ganz ohnmächtig geblieben war! 

Das find böje Kegereien, ich fühl ed wohl, aber, da fie einmal aus 
der Feder find, jo mag auch noch gejagt fein, Goethe ift wirklich der 
rec;te Vater der Romantif, und wenn ihm jpäter davor graute und er in 
den Klaſſizismus, ja bid zu den myjtiichen „Müttern“ flüchtete, die Geijter, 
die er gerufen, ward er nicht mehr log. Was der Roman nad) feinem Plane 
hat werden jollen, geht die Literaturgejchichte nicht3 an, facta loquuntur. 

Ueber Hermann und Dorothea hat V. Hehn Beljeres gejagt. 

Was von den Kenien als einer nothwendigen Abrechnung mit der 
Mittelmäßigkeit, und was über die neue Blüthe der Balladen gejagt ift, 
al3 deren Krone die „Braut von Korinth“ gilt (neben dem „Gott und der 
Bajadere*) wird man als wohlbegründer gelten laſſen. Die „natürliche 
Tochter“ wird jehr eingehend behandelt, jie gehöre „der ſinkenden Hälfte 
ſeines Schaffens“ an, aber doch lejen wir ©. 408 die jchönen Worte: 

„Nicht Jedem ift ed gegeben, den grenzenlojen Schmerz des Vaters im 
dritten Alt kalt zu finden oder jelbjt kalt dabei zu bleiben : 

Unjel’ge8 Licht! du rufjt mich auf zum Leben u. j. w. 

Bei Gelegenheit des „Fauſt“ (S. 418 fgd.) hören wir das gewöhn— 
liche, mit Verlaub, dumme Zeug über Goethe Che und Ehrijtianen. 
Was drängen wir uns denn in die allerperfönlichiten Familien und Herzens: 
angelegenheiten des edlen, herrlihen Mannes und in weſſen nterefie ? 
Was gehen uns denn die „Goethen geijtig ebenbürtigen Weimarijchen 
Damen“ an? Da hatte jeine alte Mutter einen gejunderen Sinn. — 

Fauft. „Gretchen war jchon durd das Fauftbuch gegeben“. So? Wo 
denn ? Soll etwa Goethes Gretchen in der „ziemlich jchönen, doch armen 
Dirne* jteden, „die vom Land herein in die Stadt fommen und fi in 
Dienjte begeben bey einem Kramer“ und die Fauſt ob ihrer Ehrenhajtigkeit 
zu „ehelichen“ gedacht hatte? (j. Widmann, 21. Kap. ©. 511 des Abdruds 
im 146. Bd. der Schriften des Lit. Vereins). Hier wird ihm zur Ent- 
jhädigung die ſchöne Helena aus Grecia als succubus, als Teufelin zu 
Theil. Uebrigens dachte Goethe jelbit von feinem Mephiftopheles, der eın 
guter Theil feines eigenen Selbjt war, jehr viel rejpeftvoller, als jein 
neuejter Biograph. Beiläufig will ich bemerken, die Szene „Wald und 
Höhle“ deutet Har auf die Anſchauung des Veſuvs dur den Dichter, fie 
fann aljo nicht jchon vorher in Rom in der Villa Borgheje konzipirt fein. 
Freilich, es wird der Menſchheit eine Tages ebenjo gleichgiltig jein, warın 
und wo und unter welchen unmittelbar perjönlichen Antrieben dieſes oder 


Rotigen und Beiprehungen. 525 


jenes Goethiſche Gedicht, dieſe oder jene Szene geboren ijt, wie e3 uns bei 
Sophokles und felbjt bei Shafejpeare jein muß. Dann wird es zwar 
vielleiht Goethephilologie auch noch geben, aber fie wird entlajtet fein 
von der widerwärtigen Durchichnüffelung aller rein perjönlichen Dinge, ohne 
deren archivaliiche Aufjpeiherung und gleichfam prozefjualifche Behandlung 
im fontradiktorifchen Verfahren man ihn nicht zu verftehen ich einbildet. 

Sehr geringihäßig wird über die Sonette gehandelt. Den tiefen 
Klang zitternder Leidenjchaft darin zu vernehmen, ift wohl nicht Jedem ge— 
geben. Dagegen ift „Pandora“ ein Wunderbares. 

Die „Wahlverwandtichaften“ heißen recht gut der dritte Stein des 
Anjtoßes für die Moralijten neben „Stella“ und den „Römiſchen Elegien.“ 
Für eine leere Phantafie halte ich die Bemerkung, daß Dttilie auch Züge 
von Bettinen empfangen habe; juchte man darnad), jo war wohl eher auf 
Lucianen zu weiſen. Bettinen, wie jie ſich nach Goethes Tode in dem 
Briefwechjel mit einem finde gab, mag man ja als den „leibhaftigen 
Genius der Goetheverehrung” allenfall3 gelten lafjen. 

Ueber Goethes Selbitbiographie ein abjchließended Wort zu jagen, iſt 
ganz bejonders gewagt und Schwierig. Der einfache Menjchenverjtand genießt 
das lehrreihe Buch ohne Anſtoß und grübelt nicht viel über die „Prinzi— 
pien feiner Technik“ (S. 497). Daß die „Folgerichtigkeit“ in diejes Frag: 
ment einer doc durchaus idealilirten Lebensgejchichte — das wollte ja der 
Titel bezeugen — erit nachträglich hHineingetragen ward, entgeht feinem 
Aufmerkſamen. Wir bejigen, um an die glatte Folgerichtigfeit dieſes an— 
geblich jo glüdlichen Lebensganges zu glauben, in Briefen und Gejprächen 
des älteren und ganz alten Goethe gar zu viele Beugnifje für das viele 
Störende, Unzwednäßige, Folge bindernde, das ihm im Leben und nicht 
am wenigiten in Weimar begegnete und ihn oft genug fait zur Verzweiflung 
bradte. Auch unjer alter Bismard würde wohl bereitwillig bezeugt 
haben: man glaube ja nicht, daß es ein Vergnügen ift, in Deutjichland ein 
großer Mann zu jein.*) — 

Ras Meyer von der Aufnahme des Werkes, zu dem er die Stalienijche 
Neije hätte Hinzurechnen können, vorträgt, iſt vortrefflidh und das köſtliche 


*) Hier ſei nur an die ewigen Berfuche erinnert, die der alte Dichter beklagte 
(f. Diwan, Buch des Unmutbs 6, Weim. Ausg. 6, 283) „Mid nach- und 
vmjubilden, mißzubılden, Berfuchten fie ſeit vollen funfzig Jahren . .“ 
Das Gedichtchen iſt, was man nicht bemerft zu haben fcheint, ein Stüd 
Sonctt und gehör frmit offenbar in die Jenager Zeit der „Sonctten- 
wuth“ des Jahres 1807. Uriprünglih hieß es (ſ. ın den Lesarten a. 
a. D.) „feit vollen vierzig Jahren“. Das flimmt genau auf 1807, 
wenn man an die Zeit dee Eintritts in Yeipzig und 3. B. an die Frau 
Hofrätbin Böhme und etwa an Gellerts Stiluitifum denkt. Da Goethe 
das unfertig gebliebene Sonett für den Tivan bei Eeite legte (in den 
es erſt 1537 aus dem Nachlaß Auinabme fand), zehn Jahre ipäter denke 
ih, 1517, jo änderte er die 40 in ?O Jahre und es ſtimmte noch immer, 
das Herumbefjern an feiner Exiſtenz rig eben nicht ab. 1827 hätte er 
60 gejagt. 


526 Rotizen und Beiprehungen. 


Bitat deö alten Kirchenhiftoriferd Karl Hafe werden auch unſere Leſer mit 
ihrem „Sa, ja!“ bejtätigen (S. 506): 

„Wunderlihe Leute. Als große und grobe Sünder befennen fie ich 
alle unbedenklich, da8 gehört zu ihrer NRechtgläubigfeit: wenn aber, wenig: 
jtend von Einen, der nicht ihre Farbe trägt, etwas Menjchliches an den 
Tag kommt, erheben fie jelbitzufrieden den Stein gegen jein Andenken.“ — 
„Der moralifhe Egoilt Goethe war fertig.“ 

Die Bedeutung der Divan-Gedichte, ihr ganz wunderbar frijcher Iyriicher 
Leidenſchaftsgehalt ift m. E. nicht genügend gewürdigt, mag man aud) 
Manchem zuftimmen, was über den Aitersitil gejagt wird. Gebührend, 
nach des feinfinnigen, fenntnifreihen Rommentatord G. v. Löpers Bor- 
gange, find die „Sprüde in Proſa“ gepriefen. Man kann jagen, aud) 
ſolche Sächelchen, auc wo fie bloßes Zitat find, bedeuten ein Stüd Selbit: 
offenbarung. Wa3 war doch Goethe auch für ein gewaltiger Leſer! „Wir 
Deutjchen,“ heißt es S. 547, „wären nicht, was wir find, wenn Goethe 
uns diejen unjcäßbaren Reichthum an Scheidemünze der Weisheit nicht 
gejchentt hätte“. Daß Goethe u. A. das Treffendite auch über Purismus 
oder Sprachreinheit gejagt hat, fehe man ©. 551, 552. (1818 „Deutjche 
Spracde* in Anlehnung an ein Büchlein des Schweizerd Ruckſtuhl.) 

Der Kritik der Wanderjahre können wir zujtimmen, wenn wir aud 
die Gleihung Melanie-Ottilie-Minna Herzlieb für ein Hirngeſpinſt halten. 
Uns fehlt das Organ für den myſtiſch-ſymboliſchen Tiefjinn, wie uns denn 
bei den legten Akten des zweiten Fauſt einfach die Luft ausgeht. Iſt ed abjolut 
geboten, auch darin erhabenjte Offenbarungen, größte Errungenjchaften des 
Goethiſchen Geijted zu bejtaunen, jo müßten wir uns getrölten, etwa in 
einer bejjeren Welt mit den dazu nöthigen Organen audgeitattet zu werden. 
Für Unfinn halten wir fein Wort Goethes, aber manches mit ihm jelber 
für „Dalbunjinn“. 

Am 31. 7. 1831 hatte Goethe das Lebenswerk, den Fauſt, abge— 
ichlojjen und eingeſiegelt. Was hat man ſich bemüht und müht ſich fort 
und fort, die Einheit ded Planes in dem Labyrinth zu finden! Der 
Goethegläubige nimmt und wohl gar übel, mit dem guten Fr. Viſcher 
über jo Manches zu lächeln. Darf man nicht der Wahrheit gemäß konſta— 
tiren, daß nur ein Heiner, befangener Theil der heutigen deutſchen Bildungs- 
welt mit voller Ueberzeugung dem dod am Ende unhiſtoriſchen Klaſſizismus 
de3 alternden Dichterd noch anhängt, der wunderlichen Myſtik und Sym— 
bolit*) des Greijes aber faum nocd ein Unbejangener?**) 


*) An einem Briefe an Schelling 29. 11. 18.3 (ſ. Romantiferbriefe 1, 236) 
„Können Sie ihm [dem Maler Martin Wagner] den Unterſchied zwiſchen 
allegorifher und jymbolifher Behandlung begreiflihd machen, jo find 
Sie jein Wohlthäter, weıl fih um diefe Achſe jo viel dreht." Hat aber 
Goethe felber der öden Allegorie fi) dauernd enthalten ? 

Der verehrte Herr Mitarbeiter geſtatte mır an diefer Stelle, nicht jomobl 
als Redalteur, fondern als Leer, der wie jeder ganze Deutſche feine 


** 


— 


Notizen und Beiprehungen. 527 


Kann man nicht jogar felber ein Bißchen Goethe-Philolog jein, was 
ja ohne Zweifel verdienjtvoll ijt und bleibt, wie jede Wiſſenſchaft, und dod) 
fi von der fonventionellen Pflicht entbunden fühlen, aus feinem Herzen 
eine Mördergrube zu mahen? Soll Goethe nit fort und fort Die 
AJugend anführen als xpwroxommn;, jo wäre er reif für den langen Mus 
mienjaal der Literaturgeſchichte. Wanderjahre und der letzte Faujt mag 
man ja als Parallelwerke in formaler Hinfiht betrachten. Einen Haupt> 
geſichtspunkt aber vergefje man nicht: Goethe hat mit diejen legten Alters— 
produften auf die Mitlebenden nicht mehr einwirfen wollen noch fönnen ; 
fie find Appell an die Kommenden, find Vermächtniß. Und gewiß, als 
jolches und eines foldhen Geijtes, unſchätzbar, aber gleihwohl auf Die 
eigentliche Abficht aller lebendigen Kunſt verzichtend. Kunſt ijt nun einmal 
Jugend und Gegenwart, das Hinüberahnen in ferne Gejchlechter iſt 
und bleibt jenil. Wollte man es zur allgemeinen Marime machen, das 
„denket an die Nachwelt !*, wir fürchten, außer wenigen vom Größenwahn: 
finn Gepadten würfen die Maler ihren PBinjel, die Bildner ihren Spatel, 
Dichter und Schriftjteller die Feder in die fernjte Ede und würden lieber 
Bierwirthe oder was jonjt feinen Mann ernähren mag. 

Die geehrte Nachwelt wicd ſich ganz ohne unjer Gebet und Zuthun 
ausjuchen und aneignen, was fie brauchen fann. Für den Wirkenden ift 
Gegenwart Alles. 

Der Verfafjer beklagt, daß der „reis der wahren Goethe-Gemeinde* 
täglid) enger werde. Darin irrt er gewiß. Nur, wenn er an Menden 
denkt, die ihr ganzes Leben auf nichts Anderes wenden mögen, als auf 
die Erforjchung dieſes Einen, mag er Recht haben. 

Nun bin ich doch leider geichwägiger geworden, als ich gewollt hatte. 
Noch Manches bleibe in petto. Nur noch zu guter Lebe (nicht zu guter 
Legt !): Rich. M. Meyers „Goethe“ ijt ein gutes, leſenswerthes, an— 
regendes, geiitvolles Bud), das bejtens zu empfehlen bleibt. 

Weimar, Anfang Oktober 1899. Franz Sandvoß 

(Xanthippus.) 


perſönliche Stellung zu Goethe hat, hier eine Anmerkung zu machen. 
Ic denle über den zweiten Theil des Fauſt und feine Symbolik ganz 
anders. Ich glaube, daß der innere Zuſammenhang und der Gedanken 
gang feineswegs fo ſehr ſchwer zu verjtehen ift, wie das Dito Harnad 
einmal in diefen Jahrbüchern (Bd. 68) ausgeführt hat und daß, nachdem 
man den Faden einmal gefunden, die Symbolik des Einzelnen wie des 
Ganzen voll der ticffinnigiten Offenbarung if. Ich babe der Auf 
führung, die vor etwa 15 Jahren Devrient in Berlin veranftaltete, jo 
oft ich konnte, beigewohnt und war jedesmal ganz überwältigt von dem 
Eindrud. Delbrüd. 


528 Rotizen und Beſprechungen. 


Volkskundliches. 


Allgemeine Sammlung niederdeutſcher Rätſel. Herausgegeben 
von Rudolf Eckart. Zweite völlig neu bearbeitete Auflage. Göttingen, 
Verlag von Franz Wunder. 148 ©. Fl. 80. 


Volksthümliches aus dem Königreich Sachſen auf der Thomasjchule 
gejammelt von Dr. Oskar Dähnhardt. Leipzig, B. G. Teubner. 1898. 
Erjtes Heft VII und 102 S. Zweites Heft 156 ©. 8°. 


Unjere Pflanzen. Ihre Namenderklärung und ihre Stellung in der 
Mythologie und im Bolfsaberglauben. Bon Dr. Franz Söhns. 
Zweite Auflage. Leipzig, B. ©. Teubner. 134 ©. geh. 90 Pf., 
geb. 1,15. — 


Das deutjhe Volkslied. Ueber Weſen und Werden des deutſchen 
Bolkögelanges von Dr. 3. W. Bruinier. Geh. 90 Pf., geichmadvoll 
geb. 1,15 ME. 


Anthologie au der ajiatijhen Volk3literatur, herausgegeben von 
U. Seidel. Weimar, Emil Felber 1898. 395 ©. gr. 8%. (7. Bd. 
der Beiträge zur Volks- und Völkerkunde. 


Rudolf Edart, auf dem Gebiete niederdeutiher Sprachforſchung 
längit als unermüdlich emjiger und forgjamer Forjcher befannt, 3. B. 
durch die große Sammlung niederdeuticher Sprihmwörter und volksthüm— 
liher Redensarten (Braunfchweig bei Appelhans und Pfenningstorff 1893), 
bietet uns jeßt in feinem Heinen Büchlein doch wohl jo ziemlich den ge— 
jammten Umfang und Inhalt der volksthümlichen Räthjeldichtung, zu dem 
ſich allerdings noch vielfahd Varianten werden nadtragen laſſen. Der 
allgemeine Charakter iſt wohl Einfachheit und Derbheit, auf urſprünglich 
poetijcher, oft wahrhaft genialer Anjchauung oder Nalurempfindung bes 
rubend, nicht auf Klügelei, manchmal dem Natürlich-Gejchlechtlichen jo 
wenig ängſtlich ausweichend, daß vielmehr auch darin ein wejentlicyer Be- 
Itandtheil des Bauerwitzes beruht, wohl einmal zotig, doch nicht lüſtern 
und pridelnd. In vielen ijt die Pointe überrajchend witzig. Manche, 
voraus die luſtigen Räthjelfragen, find uralt, wie das Räthſel der Sphinz, 
das Dedipus zu löſen hatte. So wird 3. B. gefragt, „Warum jind es 
ohne die heilige Urjula grade 11000 Jungfrauen?“ Die nedijche 
Antwort muß man gelten lafjen: weil es ja bloß 10499 wären, wenn 
eine davon geheirathet hätte. Das mag der Logiker einen circulus vitiosus 
oder eine petitio prineipii jchelten: es find 11000, weil es eben 11000 
find, das Volk hat feinen Spaß daran. ch Habe ja nicht nach der Zahl 
gefragt, kann der Fragende jagen, jondern nad der Jungfräulichkeit 
der 11000, und die beiteht doch darin, dab fie ehelos blieben. Wie 
geiftreich it die verblüffende Frage, was ijt das Klügſte und was das 
Dümmijte im Haufe? Jenes das Sieb, das den Staub fallen läßt und 


Notizen und Beiprehungen. 529 


das Korn behält, dieſes das Seihetuch, das die Milch durchlaufen läßt und 
den Schmuß behält. Kaum als Näthjel, vielmehr als wunderbar feine 
pſychologiſche Beobachtung der Bauernatur wird man betrachten: „Was iſt 
des Bauerd letztes Wort?“ ©. 115 giebt ed in platideutfcher Form: 
„Lat’t wejen (läß nur fein), Mudder, ick heww mi jo ümmer flitig tau 
Kerk un Gottd Wort hollen.“ Wenn man fidy nicht auf Niederdeutjichland 
beichränkte, die älteren Schwankbücher und die lebende Volkstradition, 
Süd- und Südweſtdeutſchland heranzöge, aber auch jtreng das bloß 
Literariihe und den Zotenwitz der Städte, der fich eindrängt, das bewußt 
Erflügelte ausſchlöſſe, ſo füme man auf ein erweitertes gemeindeutjches 
Räthſelbuch, wie e8 bereits Simrod gegeben hatte. Unſer Büchlein vers 
dankt jehr Vieled der von uns früher bejprochenen Sammlung Woſſidlos: 
Volksthümliches aus Medlenburg. 

Die Dähnhardtſche Sammlung von Kinderliedern, Kinderreimen 
und -Geſchichten, Aus der Schule, Verkehr mit der Natur, Spott- und 
Nedreime, Auszählen, Bettelreime, Spiele, Das heilige Jahr und dergl. 
(wir heben nur Einiges heraus) bietet und, wie der Verfaſſer mit Stolz 
betont, nur ganz Unverfälichtes. Um das zu fünnen, dazu bedarf es 
großer Hebung und Sicherheit im Erfajjen des Bollsthümlich-Echten, in 
unjerm Falle dazu noch bejonderd pädagogischen Tafted, injofern er die 
eigenen Schüler zur Mittheilung ihrer Erfahrungen veranlaßte. Da 
Dähnhardt, der jeine Sammlung im Dienfte des Vereins für Sächſiſche 
Volkskunde unternahm, ein Schüler und Freund des trefflihen Rudolf 
Hildebrand (geb. 13. 3. 1824 in Leipzig, geit. 28. 10. 1894 dafelbit) 
war, jo wurden ihm die wichtigen Nachlaßpapiere des auf diefem Gebiete 
hervorragend Bewanderten zugänglid), und er fonnte und die jchönjte 
Bugabe II, 95— 156 „Bollsthümliches aus dem Nachlaſſe R. Hildebrands* 
bieten. 

Unverfäljcht volksthümlich, das it doch bälder gejagt als geleijtet, wenn 
die Quellen jo ganz modern und nicht bloß der Singemund der Land— 
finder, ſondern auch jchon die najeweile Verquatichungslujt ded große 
ftädtifhen Knaben fein muß. So findet fih Hier 1, Nr. 140 
zwar die ganz gejunde und nützliche Abweiſung der Ueberhebung des 
Städterd® in dem befannten Neime: „Meine Mutter Hat gejagt“, 
nämlid): 

Aus der Stadt, da mag ich fene, 
Die hamm alle frumme Bene, 
Die finn Alle liederlich, 

Laſſ'n de Arbeit hinter ſich. 


aber doc unmittelbar davor (Nr. 139) der halb hebräiſch Elingende Rath: 


Nimm dir Ene aus der Stadt, 
Die e paar 1000 Thaler hat. 


Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 34 


530 Notizen und Beſprechungen 


Die erjtgenannte Mutter hatte e3 bloß auf äußere Nettigleit abgeieben 
(„die gewichite Stiebeln hat“). Eine Rubrik „Reiterlieder” ift injofern 
nicht richtig, ald es fi) um bloße Variationen de einen kindlichen Reiter: 
liedchens Handelt. 

Auch dieſe Verschen, wie die Volksräthſel, von denen wir eben jprachen, 
muß man nicht in ihrer lofalen Bereinzelung belafjen, jondern das Ver— 
wandte in anderen Landesgebieten daran jtellen. So haben die Freunde 
vom Verein für niederdeutjche Spradjorihung das fogenannte Ver— 
wunderungslied (auch Ligenlied genannt) mit dem Refrain „Wunder über 
Wunder“ durd viele Landichaften verfolgt. So dürfte, ja jollte man es 
mit Vielem thun, ich erinnere bier an den Wundjegen, mit dem weinende 
Kinder nad) einer Verlegung beruhigt, hypnotifirt werden. Zu Nr. 33 


Heile, heile Segen, 
Drei Tage Regen, 
Drei Tage Schnee, 
Nun thuts Schon nicht mehr weh. 


ließen ſich leicht Dußende von Parallelen jtellen, bejonderd auch jolchen, 
worin die Heilkraft in der Erregung angenehmer Vorftellungen in der 
Phantafie des Kindes gefunden wird, das Kätzchen auf (oder unter) der 
Stegen, das Mäuslein auf dem Dad oder im Loche fehlt dann nicht 
leiht. Sogar der „richtige Berliner“ kennt noch jein „Heele, Kätzken, 
heele!“ 

Bei den Spielliedchen brauchen wir den Kundigen doch nicht vor der 
großen Gefahr erſt zu warnen, welche aus den rationaliſtiſch unkindlichen 
Faſeleien der Fröbelſchen Kindergärtnerei entſtehen muß. Räthſel giebt es 
hier im J. Hefte S. 61 ganzer vier, im II. S. 48 auch noch vier! Das 
iſt doch auffallend wenig. Die kleinen Thomasſchüler wiſſen ſicherlich ihrer 
viel mehr: 

II. Nr. 241 fährt der „Eäne Amor“ ganz hochmodern „Ber 
Velozipet“ (=hätt'). 

Interejjant ift dem Germanijten in jpradlider und mythologiicher 
Hinficht viel mehr in diejen trümmerhaften Ueberlieferungen, al3 bier an: 
zudeuten, geichtweige zu verfolgen wäre. Wenn ich den „Hammer“ in 
I. Nr. 219 und Nr. 224 (hier wie ſchon 174 und 225 geht man mit 
Doktor Quther recht gröblich um!), den blanfen Hammer in der dunfeln 
Kammer*) zu Thor — Donard Gewitterhummer jtelle, jo dürfte das nicht 
allzugewagt fein, wenn ich aud im Allgemeinen nicht dazu rathe, jich auf 
Grund folher Trümmer in Kindermund in allerlei Bhantajtereien der 
Heinen Mythologie allzueifrig einzulafjen. Es wird de Guten darin grade 
genug gethan, und ſelbſt ein jo ernjter und bejonnener Forjcher wie Rud. 


*) Nr. 225 ift dann feine Mutter, die den Donnerhammer gegen Boltor X. 
bandhabt, offenbar des „Teufels Großmutter“, 


Rotizgen und Beſprechungen. 531 


Dildebrand it nicht immer von der Sucht frei, zu tiefen Sinn im 
Eindjchen Spiel zu ſuchen. 1, 85 bei Gelegenheit des jehr merkwürdigen 
Gebetes der Mädchen an den heiligen Andreas, der jeinem Namen gemäß 
der Patron der männlihen QTüchtigfeit (vöpeiz, virtus) jein muß (in der 
Nacht zum 30. 11.) wird offenbar irrig der Tert: 


Ic bitte dich, du wolleft mir laſſen erjcheinen 
Den Herzallerliebjten meinen 

In feiner Gejtalt, in feiner Gemalt, 

In feinem beiten Habit ... 


geändert zu „in meiner Gewalt“, weil er ja dann nicht unter den 
Pantoffel käme. Das kann aud nicht die Abficht der gläubig Betenden 
fein, wenigjtend würde fie dem Heiligen nicht mit jo unheiligem Anliegen 
fommen. ber in jeiner ganzen männlichen Herrlichkeit will jie fein 
Bild jehen. 

Das Erbeblichite des II. Heftes bieten in der That die Mittheilungen 
aus Hildebrands Nachlaß. Recht nüglich für junge (und ältere) Poeten 
fönnte 3. B. des Meijterd Belehrung über unjere natürliche alte Metrik 
und Rhythmik jein (S. 100 fgd.). Die hat freilich mit den Trogäen und 
Jamben der Schulmetrif nicht gemein und zu zweifeln ift nicht, „daß in 
dem poetijchen Leben der Kinder — eben weil es Tradition ift — auch in 
fo äußerlihen Dingen Fäden aus der Urzeit her bis in die Gegenwart 
fich fortipinnen.“ *) 

Auch das ijt richtig, was Hildebrand ausführt: der Sinn der Kinder— 
reime, jo luftig fie im Spiele fein mögen, gebt oft wohl ganz in die Brüche, 
aber es bleibt doch auch bie und da ein unverſtandenes Trumm des Ur— 
jprünglichen darin haften. Wir erinnerten jchon an Thors Gewitter: 
hammer. Cine ganze Reihe ſolcher Kinderjpiele find Dornröschen-Spiele 
und Dornröschen ijt feine Andere als die alte Walküre Brunhilde (vgl. 
S. 117 fgd.). „Ringel, Ringel, Dorne, Wer fißt in unjerm Korne?“ 
(in diejem Korn). Das S. 118 (Ortsangabe fehlt) gegebene Liedchen: 
„Kling, Eang gloria! Wer jißt in diefem Thurm“ hört ich 1856 in 
Halle fingen. Hier ift der Thurm wichtig, denn auch vorher ift das 
Korn an die Stelle des unverjtandenen „wer figt in diefem Torne* ges 
treten. Daß das Keſſellied aber ein Hochzeitölied fein joll, leuchtet nicht 
ein. Dffenbar wird der Keſſel nicht gebaut, allenfall3 eingemauert, und 
für „Bauer, baue Keſſel“, das Hildebrand als Herdgründung faßt, möchte 
man vermuthen: „Braue, braue, Kejjel!* Aber wie, wenn Keſſel gar 
fein Mefjel wäre, in den die „weiße Taube“ fällt, jondern der Name des 





*) Iſt es nicht ein noch ungelöftes Räthiel, wie eine im Ganzen für höchſt 
gebildet geltende Nation im Zheater den fogenannten fünffübigen 
Jambus vier Stunden lang ertragen kann? Möglich ijt es vielleicht 
nur dadurd, daß unfere Schaufpieler den Vers Bers fein laſſen und 
lediglich eine rhythmiſche Proſa ſprechen. 


34* 


532 Rotizen und Beiprehungen 


Bauerd, den man tröften will: „Morgen wird es befjer“, aljo Geßler 
d. i. Gifelher? Dazu itimmt ©. 108 Nr. 6. 

Da heißt e8: „Wer fit drinne? De alte Kejjelrinne” Natürlich 
it das dann die alte Geßlerin, (Hild. fragte „eig. Keßlerin?““ Die 
Variante „Eine große Spinne” würde ſich als die böfe Mutter des Bauers 
Geßler ergeben. Das Einfallen des ganzen Keſſels ließe jich wieder auf 
eine ganz andere PVorjtellung beziehen. Man redet vom Cinfallen des 
Badojens, wenn das Kind geboren ijt und ©. 109 heißt e& in Osmaritz 
bei Jena: „Wer figt drinne? Der Kaijer (Geißler?) mit dem Rinde.“ 
Dan fieht mwenigjtend, auch wenn es nicht gleich gelingt, dem Unfinn des 
kindlichen Spieles jeinen Sinn abzufragen, es muß ihn urjprünglih ge- 
habt haben und jchon das ift ein wichtige Ergebniß wifjenjchaftlicher Be— 
ihäftigung mit diejen Dingen, in die oft ein bloßer Zufall, dad Belannt- 
werden einer Variante, plößliches Licht bringen mag. ©. 112 iſt die 
„goldene Brücke“ jicherlih richtig al8® die himmlische Regenbogenbrüde 
Bifröſt gedeutet. An dem Spielliede — auch dieſes hört’ ich oft im 
Halle — „Wir treten auf die Kette“ verzweifelte Hildebrand. ©. 129 
oben find die „drei weißen Mädchen“ mythologiſch als die drei Nornen zu 
fafjen (fie haufen no) in mandjem „Jungfernholz“). 


Die Dritte jchließt den Himmel auf 
Da gudt die Mutter Maria (oder die liebe Sonne) "raus. 


Zu ©. 146 (S. 209 Schwandfedern bekommen) bemerfe ich, daß bei 
der Nedensart an den Vogel, den Schwan, dod nur jo weit zu denken iſt, 
ald die Volldetymologie des Worte® „mir ſchwant“ es wohl thut, die 
aber nicht zu wiljen braucht, daß es ſich um „zufammengewachjenes „es 
wänet mir“ handelt. „Unjer Jahrhundert darf nicht fchließen, ohne das 
eine wirklihe eingehende Kenntniß des Volkes in den weitejten Kreijen 
wenigiten® angebahnt wäre”. Diejes Wort Elard Hugo Meyers. das 
Dähnhardt fih zum Motto gewählt bat, wird nod auf lange hinaus 
rüjtige Arbeit erfordern. — 

Das hübſche Büchlein „Unjere Pflanzen“ liegt bereits in zweiter Auflage 
vor. Die Tendenz der Arbeit, die Kenntni der alten deutichen Namen 
unjerer Flora wieder zu Ehren zu bringen, fann der Schule nur höchſt 
willfommen fein, denn eigentlich e3 ijt doch eine unfinnige Zumuthung an 
deutjche Kinder, daß fie den oft recht zujammengequälten wifjenjchaftlich- 
internationalen Namen (man tauft ja Pflanzen wie die Nennpferde und 
Nafjehunde) allein erfahren jollen, und ihnen der jchöne poejievolle 
heimijche, der. auch wo er unverjtanden bliebe, die Phantafie und das 
Sprachgewiſſen anregt, verborgen bleibt. Daher war zunächſt die Schule 
anzuregen, ihr der tiefe Bezug darzulegen, der zwijchen Pflanzennamen 
und religiöjen Vorſtellungen, ſowohl uralt heidnijchen, als jpäter chriftlichen, 
der alten Bolfsheiltunde und vielfältigem Aberglauben, das ijt eben 


Rotizen und Beſprechungen. 533 


Glauben ded Volkes, beſteht. Dad Buch bedarf nicht mehr unjerer 
Empfehlung, jo friih und anregend iſt e3 gejchrieben, der guten Sache 
aber würde e3 förderlich fein, wenn die deutichen Schul- und Kirchenräthe, 
zu Deutſch Minijterien des Kultus u. j. w. die Lehrerbildungsanitalten 
anweiſen wollten, diejen vernünftigen und leider jo lange jchmählich ver— 
nachläſſigten Weg endlidy zu betreten. Es kommt garnidyt darauf an, daß 
man gleich überall eine unwiderſprechliche Erklärung der alten bdeutjchen 
Wörter vor ſich habe, die fehlt uns ja auch zunächſt bei unjeren eigenen 
PBerjonennamen und wie jteht es denn mit Hunderten, ja Taujenden der 
tagtäglich gebrauchten Wörter unjerer lieben Mutterfpracdhe überhaupt? Das 
erite Erforderniß ift Kenntniß des thatſächlichen Beſtandes, dann Weckung 
des Sprachgewiſſens, das in dieſem Falle zu einer ſchönen Einführung in 
die Phantaſiethätigkeit des Volles wird. Wer aber eine gründliche Kenntniß 
der deutſchen Volksart erſtrebt, darf, auch ohne Botaniker zu ſein, an 
dieſem bedeutſamen Wortſchatze nicht achtlos vorübergehen. Selber der 
Goethephilolog wird hier (S. 6) Goethen als beſonderen Verehrer des 
Veilchens und Verbreiter der Vorliebe für es kennen lernen, der nach 
Pindars Vorgang ſein geliebtes Im —Athen, iostéphanos, die „veilchen— 
umkränzte“ Stadt der Muſen, benannte.*) — 

Für den Fall einer dritten und hoffentlich fernerer Auflagen möchten 
wir dem Verfaſſer rathen, ſich mit einem ernjten Germanijten in Ver: 
bindung zu jeßen, damit er nicht weiter die ältejten etymologiichen Märchen 
verbreite. 

Auh 3. W. Bruiniers begeijterte und kenntnißreiche Einführung in 
das deutjche Volkslied ift als ein höchit wackeres Büchlein zu begrüßen. 
Der Berfajler erkennt jehr richtig, dag — leider! Gott jei’3 geklagt! — 
an der Ermwürgung guter alter deutjcher Volksart und Sitte, die in der 
„Spinnjtubengejelligfeit“ einen jicheren Port für die Pflege des Volks— 
geſangs beſaß, nicht ſowohl die wirthichajtliche Entwidelung die Schuld 
trägt, als die löblichen Ort3behörden und da3 verehrlide Pfarramt. 
„Kampf gegen die Brutftätten der Unzucht“, hieß ed. Was jchon der wider 
den „Aberglauben“ wüthende Rationalismus und der poejiefeindliche Hoch— 
mutb der bürgerlichen „Bildung“ an unjerm Volke, dad num Pöbel ge- 
jcholten ward, gejündigt hatte, das jeßen noch immer Amtsvorſteher und 
Gendarmen fort, nachdem der Herr Pfarrer längjt eingejehen, daß jeine 
Vorgänger auf dem Holziwege gewejen waren, daß vielmehr zu hegen und 
zu pflegen wäre, was jene unterdrüden wollten. Nur der ım Wirthshaus 
efiende und der haufirende Menſch flößt dem Staate noch Ehrfurcht ein, 





*) Nebenbei bemerkt, den Namen „Goethe-Veilchen“ hab ich bier in 
Beimar nie nennen gehört. Er gehört wohl in die Legendenpoefie. 
Ob das altgriehifche :ov das heutige Veilchen war, ift jehr fraglich, 
wenn aud die ſprachliche Gleihung nicht anzujehten if. Man 
denfe nur an die Levkoje, die ja das weiße Veilchen fein müßte 
(Azuzöwv). 


534 Rotizen und Beiprehungen. 


die Tingeltangel der Großftädte und ihre Tanzböden find feine „Brut- 
jtätten der Unzucht“. 

Eine jtrenge Scheidung von Volkspoeſie und volfthümlicher Kunſt— 
poefie bejteht in der That nicht, und wie heute Goethe, Ubland, 
Eichendorff, Hauff, W. Müller, Scheffel allgemein gefungen werden, 
denn Lied ijt nur, was fingbar ift, jo war e8 auch fchon in alter Zeit. 
Das Volk als Kollektivum dichtet natürlich nicht, immer nur ein Indi— 
biduum, nur kommt e3 auf feinen Namen nicht an. Auch der frühere 
höfiſche Kunftdichter ftand weit ab vom Sänger, er war aber ein Schreiber. 

Der Verfaſſer erweijt ſich als guten Kenner aller Reſte mytholo- 
gijcher Ueberlieferungen, ein Schüler Salob Grimms und Müllenhoffs, 
einer heute ungebührlic) vernadhläffigten Wifjenihaft.*) Mit Bilmar, 
der große Verdienjte um den Volksgeſang hat, iſt Bruinier doc nicht 
durchaus einverjtanden; ihm gilt als Hauptfriterium, daß ein Lied als 
wirklicher Gejang, und zwar Chorgejang, im Volke lebe. Dabei fällt 
mit Vielen Opih ganz aus, der dod) „Arien“ genug gedichtet hat**), und 
jelbjt Schiller jcheint nicht einmal volfsthümlih, da Schule und Theater 
hier wenig ind Gewicht fallen. Und ohne Zweifel fteht Goethe jeinem 
ganzen Weſen nah dem Volksthum viel näher. Der Volkston, immer 
auf ernjthaftem und wahrem Empfinden beruhend, hat mit Bänfeljänger: 
thum, — mider dad die Polizei nicht3 einzuwenden hat, denn die 
Bahrenden jind ja Steuerzahler und „Artiften“ — gar nichts gemein 
(. ©. 46). 

Die an der Hand R. Kögels gegebene Entwidelungsgefchichte des 
deutichen Volksgeſangs ijt furz und Har. Als einzig erhaltenes Beijpiel 
für das Lied des Stop oder Skof (Schoph) muß das jchon recht „zer: 
jungene* Hildebrand3lied gelten. Die jpäteren Spielleute find nicht mehr, 
wie der alte Stop, jelbitichaffende Dichter, jondern nur noch wieder: 
holende Sänger. Nach der langfamen Verſumpfung bricht mit der Re— 
formation auch auf diefem Boden ein herrlicher neuer Frühling hervor, 
„es geht ein friiher Sommer daher.“ Dagegen bleibt das politifche Lied 
des jechzehnten Jahrhunderts gereimte Leitartifelproja. 

©. 108 fgd. wird von der Ballade oder Märe gehandelt. Woher 
weiß der Verfaſſer, daß die Todtenrittmäre (Leonore) in ferndeutjchen 
Gauen niemald jei gejungen worden? Ich glaube auch nicht, da das 
Volk eben nur „Schickſale von Durchſchnittsmenſchen“ wolle (118). Nein, 
dad Wunderbarjte und Poetiſchſte geichieht eben und geſchieht alle Tage 
noch, und gejchäh’ es eined® Tages nicht mehr, dann verfiegte allerding® 


*) Dafür bat fie fi bei den jprachvergleihenden Linguiften zu bedanten, 
die ſich aller Biftorifhen Zeugniſſe zu entſchlagen gewohnt find. 

**) Doch verdiente, menigftens in Studentenkreifen, 3. B. das hübſche 
„Ich empfinde faft ein Grauen“ (ſ. Poet. Wälder; Biertes Bud, 
Nr. XVII) Beadhtung. 


Notizen und Beſprechungen. 535 


der Quell der Poejie. Abweiſen muß ich daher die jeltiame Meinung 
(124) „Sobald da3 Volk zu fühlen beginnt, daß, was es befingt, 
frembdartig ijt, wendet e3 ſich davon ab. Es liebt ſich jtet3 die vollen 
frijchen Wangen. Und da unjere Zeit natürlich und Gott fei dank (NB!) 
nur noch wenig Märenjtoff bieten kann, ıjt neues Leben für diefe Lied» 
gattung nicht wahrſcheinlich.“ 

Merkwürdig ungünjtig läßt der Verfaſſer fih aud über Walther 
von der Vogelweide aus, der ihm zu höfiſch- unvollsmäßig it. ©. bei. 
S. 151. Die vielverbreitete Form des „Morgenliedes* findet auch wenig 
Gnade, und gegen die jogenannten Neidharde iſt er entichieden ungerecht, 
wenn er fie ald Sanhagellied abthut. — 

Die „Aſiatiſche Anthologie” von U. Seidel, dem Herausgeber der 
Zeitſchrift für afrifanijhe und ozeaniiche Sprachen, führt und zwar weit 
von dem heimischen Volksboden fort, verbleibt aber im reife des 
Volksthums, und zeigt und auch in weitejter Ferne ganz überrajchend 
Verwandtes. Died gilt nit nur von gewifjen Märchen und Novellen= 
ſtoffen, die in der That etwas Internationaled oder Allgemein-Menjchliches 
find, jondern noch mehr von vielfältiger Spruchweisheit. Die früher 
allgemein angenommene Anficht, daß folches Literarijche® Gut, wie nad) 
V. Hehn Pflanzen und Hausthiere, in jahrhundertelangen Wanderungen 
langjam von Aſien (Indien, Perſien zumeijt) in die europäiſche Kultur: 
welt jei hinübergepflanzt worden, hat man neuerding® zum Theil wohl 
aufgeben müfjen, da jich nachweijen ließ, daß griechiiche ganz individuelle 
Dichtererfindung umgekehrt nad) Arabien und Indien gelangt war. Wer 
will jagen, wo zuerjt das befannte Bismardmwort jei geprägt worden: 
„Wir Deutiche fürchten Gott und fonjt nichts in der Welt“? ine Lebens 
beichreibung Aleranders ded Großen, die auf altgriehiihe Quellen zurück— 
geht, giebt es jchon den imdifchen Gymnoſophiſten, den Fakirs, in den 
Mund. Und in gauz derielben Weiſe antwortete der jpätere König 
Philippus V. von Macedonien dem Römer Flaminius auf die Frage, was 
er denn fürchte: „Fürchten? Niemand außer die Götter.“ Biel älter, 
als Erommell und alle die Modernen, bei denen man das Wort nad)- 
träglich aufgejtöbert hat, war aud die lateinische Form: Tutissima res 
timere nihil praeter Deum, die Gruterus (1610) aus dem Publilius 
Syrus oder den Sentenzen des Seneca jo gab. Wundern wir uns aljo 
noch, in der Aſiatiſchen Anthologie S. 18 als turkeſtaniſch zu finden: 
„Wer Gott fürchtet, wird die Leute nicht fürdten*? Heinrich Theodor 
von Schön (f. Preuß. Jahrb. 5, 11) Hatte zum Wahlſpruch ermählt: 


Thue dad Gute und wirfs ins Meer, 
Siehts nicht der Fiſch, ſieht es der Herr. 


Nah ©. 342 unjered Buches wär’ es perſiſch: „Thue Gutes und 
wirf es ind Meer.“ Aber ſchon ©. 121 lejen wir ed (nach Bämbery, 


536 Rotizen und Beiprehungen. 


der wohl eigentlih Bamberger heißt), ald özbegiſch: „Thue Gute und 
wirt e8 in den Fluß, der Fiſch fieht es jchon; und follte der Fiſch 
e3 nicht finden, Gott fieht es ſchon.“ Wer vermag und zu jagen, mo 
zuerjt jo ein Wort mag gejproßt fein, wie ©. 87 das türkiſche: „Man 
hat den Eifel zur Hochzeit geladen; ohne Zweifel hat man Waſſer 
oder Holz nöthig.“ Es war und Deutichen längft gäng und gäbe 
(ſ. 3. B. Agricola (1529) „man ruft den Eſel nit zu Hofe, dann er 
Säcke tragen ſoll“. — | 

Wenn dad Wort „Die Mauer hat Ohren“ özbegiſch ijt, jo mußte 
doch auch der alte Mimograph Publ. Syrus bereit: Nullum putaveris 
esse Jocum sine teste, das Reinmar von Zweter bereit3 wie ein deutjches 
Sprichwort verwendet: „walt hät ören, velt hät gesiht.“ So jpäter 
Agricola 748: „Der waldt hat oren vnd das feldt augen“, dazu das 
lateinifche: Rure valent oculi, densis in saltibus aures, was natürlich bloß 
nenmodiſche ſchiefe Ueberjegung iſt. Der treffliche Heniſch (1618) bietet 
dad hübſche alliterirende Wort (nad) Bebel) „Die windel und wäld 
haben ohren“. 

Bekanntlich verbittet ji) Walther v. d. ®. die unverjchämte Zu: 
muthung, zu „harpfen in der Mühl“. ©. 225 erfährt man, daß auch der 
Ehinefe jagt: „Er bringt eine Guitarre in die Mühle und fpielt dem 
Ochſen etwas vor (mo, nebenbei bemerkt, die Gloſſe ded Herausgebers 
„Perlen vor die Säue“, höchſtens auf den Zuſatz pafjen würde, der eine 
jelbjtändige fprichwörtliche Redensart ift, wie „den Fiſchen predigen“ oder 
„jein Leid dem Steine Hagen“). In vielen Fällen wäre cber, auch für 
allerlei afiatifche8 Volk, gradezu die Bibel, die reihen Sprudjammlungen, 
die auf Salomond Namen gehen (Proverbia, Ecelesiastes, Sapientia) und 
Jeſus Sirach ald wahrfcheinliche Duelle zu bezeichnen gewejen, z. B. mas 
über die Gewalt der Zunge überall zu klagen war, das brauchte man 
nicht erjt bei den Neugriechen zu juchen, wie Anm 49. 50. geſchieht. Herr 
A. Seidel hätte das Wort auch bei unjerem Freidant (164, 17) finden 
fönnen (nad) Ecclef. 28, 21): 


Din zunge diu enhät kein bein, 
und brichet doch bein unde stein. 


Welches Volk hätte nicht das auch bibliihe Wort von der Grube, in 
die der falle, der fie dem Andern gegraben? Oder wo wäre nicht aud) 
befannt, daß eine Schwalbe noch feinen Frühling oder Sommer madit, 
daß die Nofen eben auf den Dornen jtehn? Das ift Samenzumehung von 
Hunderten von Pflänzlein, deren Urheimath der Botaniker lange ſuchen 
jol. Man kann ſolche Dinge getroſt Weltwiß nennen. Es wird darauf 
ankommen. welches Kulturvolk das Meijte von dieſem köſtlichen Erfahrungs: 
itoffe der Welt zu jammeln, aber auch zu verdauen und neu zu prägen 
und auszugeben verjtehen wird. 


Rotizen und Beiprehungen. 537 


Aufgefallen ift mir bei dem Sammler, der in diefem Fall der Ver: 
faſſer des Abſchnitts jelber ijt, die Unfreundlichkeit, mit der er die Perſer 
behandelt. Ic ſollte meinen, man habe e8 hier doch nicht ſowohl mit den 
Lebendarten der heutigen Perjer zu thun, als mit einer doch immerhin 
höchſt reipektablen uralten Kultur, deren ethiiher Gehalt ja nicht allemal 
dem Fremden in lebendigen Paradigmen begegnen mag. ES fehlt bier 
ſcheint mir, jeder Reſpekt vor dem religiöjen Boden, auf dem die jo bitter 
gloffirten Marimen ded Volkes doch ruhen, z. B. wenn der jchöne Rath, 
ſich durch Almojen eine Anwartſchaft auf den Himmel zu erwerben, als 
gemeinpfiffige Eelbjtverfiherung verläjtert wird, aud der oben erwähnte 
Sat jogar von der Wohlthat, die man ind Meer werfen jolle. Was 
haben die Perjer Herru Seidel gethan? 

Daß auf Grund jo vieler, an Werth freilich jehr ungleicher Reiſe— 
werfe und wifjenjchaftlicher Behandlung der mannigfachen afiatijchen Lites 
raturen ein buntes Wllerlei entjteht, das lehrreich und interefjant ift, 
braucht faum gejagt zu werden. Semiten, die Nord: und Südkaufafischen 
Stämme, Kurden, Armenier, Griechen, Perſer, Ajghanen, Inder; die 
übrigen Stämme Indiens, Malayen, Mongolen, die nordafiatijihen Kultur— 
und Naturvölfer ziehen in bunten Bildern an und vorüber. 

Die Genauigkeit der MUebertragungen in all diejen Sprach-Probe— 
jtüden zu prüfen, find wir durchaus unzulänglic und dad Meijte wird 
der Sammler jelber auf guten Glauben übernommen haben. In den 
poetiihen Stüden hätten wir jedoch eine etwas forgfamere Behandlung 
unjerer eigenen Sprade gemwünjcht. Lieber jchlichte wortgetreue Proſa 
als ſolche Verſe. Wohin ift die jprachgewaltige Aneignungsfraft 
Rückerts oder Fr. von Schacks gelommen? Ja jelbit der poejiejchwache 
Bodenjtedt, er war doc och immer ein gewandter Geiltänzer der Form. 
©. 225 lejen wir 3. B.: 


R „In der Liebe Netz gefafjen 
Irr' ich wire im Kreis herum, 
Soll ic) lieben, joll ich haſſen“ u. ſ. w. 
Der Nachdichter flektirt aljo das gute Verbum „fallen“ nach Unulogie des 
reduplizirenden „lajjen“: „ich falle, fieß, gefaſſen“!! Es fchmerzt, zu 
erfahren, daß dieſe Birmanischen Lieder S. 221-230 dem Werke 
Bajtians über Birma entnommen find. 


Weimar, Anfang Oftober 1899. Franz Sandvoß 
(Xanthippug). 


538 Rottzen und Beiprehungen. 


Die neueſte Shaffpere-Literatur. 
Bon Hermann Conrad (Groß,vLichterfelde). 


1. Umfajjende Werte. 


Die hervorragendite Beröffentlihung der legten Zeit it Sidney Lees 
Shafjpere:-Biographie*. Lee hat jeinen jehr umfangreichen, auf 
zwanzigjährigen Studien beruhenden Artikel über Shafipere in dem von 
ihm herausgegebenen „Dictionary of National Biography“ mit einer Reihe 
von Erweiterungen al3 Buch erjcheinen lajjen. Bortrefflich informirt, wie 
er über den Gang der englijchen — leider nicht der deutjchen — Shakſpere— 
Forſchung ift, giebt er in einem mäßig itarfen Bande zugleich eine An— 
ihauung von den Quellen feiner Information und jchafft auf diefe Weile 
ein Werk, das jedem Shalſpere-Forſcher der Zukunft eine dauernde Stüte 
fein muß. 

Wenn indejjen auch der Gejammtcarakter des Buches der eines zus 
jammenfafjenden Referates ift, jo ift der Verfaſſer darum vor jelbitändigen 
Studien nicht zurücdgeichredt, und die neuen Beiträge zur Shaljpere-Bio- 
graphie, die dad Buch enthält, jind für die Kritif das Weſentliche. Die 
Hauptmafje jeiner eigenen Arbeit bezieht fih auf die Sonett: frage Er 
hat die Elifabethanijche**) und die gleichzeitige franzöfiiche Sonett-Literatur 
durchforjcht und gefunden, daß der Charakter Ddiejer Lyrik ein vorwiegend 
fonventioneller it. Das iſt für Deutjchland nicht? Neues; der Schreiber 
diejer Zeilen hat jchon vor einundzwanzig Jahren ***) aus einer großen Maſſe 
von Parallelismen der engliichen und italienijchen Sonett-Lyrif nachgewieſen, 
daß die petrarkiihe Konvention dieſen Literaturzweig beherrſchte. Neu 
dagegen ijt der Schluß, den Lee auß dieſer Thatjache zieht: daß die fonven- 
tionell geformten Sonette Shakſperes einen autobiographiihen Gehalt nicht 
haben könnten. Aljo weil der jugendliche Shakipere — und nur der 
jugendiihe thut das — jeine Liebſte in der landläufigen italianifirenden 
Form befingt, darum joll diefe Geliebte und diejes keineswegs Tonventionelle, 
jondern auffallend eigenartige Liebesverhältniß nicht eriftirt haben? Der 
Schluß it offenkundig falſch; ich habe mir in der oben genannten Arbeit 
erlaubt, die nachgewiejenen Geliebten englifcher und italienijcher Sonettijten 
zufammenzujtellen, die noch viel fonventioneller bejungen wurden, als Shaf- 
ſperes jchwarze Schöne. Und Lee entzieht jeiner Theorie jelbit den Boden, 
indem er nicht umhin fann, ein paar Liebesjonette dennoch für autobiv- 
graphiic zu erklären. 


*) A Life of W. Shakespeare by Sidney Lee. 2d Ed. (Die 1. war 
wenige Monate früher erfhienen.) London, Smith, Elder & Go. 1598, 
**) Gin mwerthvolles Kapitel des Appendig giebt über dieſe eingehende 
Auskunft. 
”*) In „Herrigs Arhiv“ und fpäter im 17. Bande des Shalipere-Jabr- 
buches (1832). 


Rotizen und Beſprechungen. 539 


Vortrefflih gelungen ift ihm die Widerlegung der Theorie Tylers, 
nach der der Graf von Pembrofe der Freund und Mrd. Mary Fitton, 
eine leichtfinnige Hofdame der Elifabeth, die Geliebte der Sonette fein 
Jollte. Freilich ift e8 nicht jchwer, den logischen Widerjinn der Argumen- 
tation dieje3 von feiner vorgejaßten Hypotheſe ganz verblendeten Mannes 
zu erfennen. Hinfällig dagegen iſt Lees Schluß, daß Southampton der 
Freund jei, weil Shafjpere ihm jeine zwei Epen gewidmet habe. Dieje 
Widmung beweiſt für Shalfpere ebenfo wenig ein intimed Verhältnig mit 
Dem Mdrefjaten, wie für die Hunderte anderer demüthiger Literaten, die 
einflußreihen Gönnern ihre Werfe zujchrieben. Intereſſant ijt die Dar— 
Ttellung der Lebensverhältnifje des räuberifchen Veröffentlicher8 der Shak— 
ſperiſchen Sonette (1609), Thomas Thorpe, die und gleichzeitig deſſen 
Literariichen Raubgenofjen William Hall als den räthielhaften „Mr. W. H.“ 
der Sonett-Widmung wahricheinlich madıt. 

Hinfällig ijt ferner die Verneinung der Frage, ob Shakſpere in Italien 
war, ohne die Kenntniß von Theodor Elzes Schrift „Italienische Skizzen, 
aus der ſich das Gegentheil ald eine faum bejtreitbare Thatjache ergiebt. 
Ganz unhaltbar find die fittlih höchſt unvortheilhaften Folgerungen, die 
Lee Hinfichtlih des Charakterd des jungen Dichters aus der einen auf 
feine Verheirathung bezüglichen Urkunde zieht; daß bei diejer Verheirathung. 
die allem Anjchein nad) ohne Wiſſen des alten Shafjpere und wahrjcheinlich 
gegen jeinen Willen vor fi ging, nicht Alles in Ordnung war, iſt ziemlich 
ficher; ganz; fiher dagegen, daß eine etwaige Schuld nidyt auf Seiten des 
achtzehnjährigen Knaben, jondern der reifen, jech3undzwanzigjährigen Bauern- 
dirne lag. 

Neu und jehr interefjant und komijch wirkſam ift die Enthüllung, auf 
Grund weſſen und wie Shakſpere nach einem Wappen jtrebte und durch 
weten Hilfe er e3 endlich befam; des Dichters Stellung zu Jakob J., die 
Berechnung feiner Einnahmen, die jchließlich dem Gehalte des deutjchen 
Reichskanzlers gleichlamen, find ebenfalls von Lee aufgeklärte Gebiete. 

Beigegeben ijt dem Bande ein Stich von dem 1892 entdedten Oel— 
Porträt Shakſperes, in dem Lee mit Recht das Original des mißrathenen 
Bildes der eriten Folio-Ausgabe (1623) fieht. Es wäre wünjchenswerth, 
daß die deutjchen Stunjtverleger recht bald auf dieſes einzige authentijche 
Porträt Shakſperes aufmerfjam würden und aus unferen Büchern und 
Stuben jenen ſchwächlichen Chandos-Kopf verjchwinden ließen, der Paul 
Heyſe viel ähnlicher fieht als dem britifchen Geijtesriejen. 

Ueber Heinrich Bulthaupt3 jet in jechiter Auflage erjchienened Buch 
über Shakſpere“) eine eingehende Rezenfion zu fchreiben, ijt überflüjjig, 
troßdem es „neu bearbeitet“ iſt. Mit jeinem frifchen, geiftreichen Stil, 


*) In der „Dramaturgie der Klaffiter“. Oldenburg und Leipzig, 
Schulzeihe Hofbuhhandlung (A. Schwarz). 1899. 


540 Rotizen und Beiprehungen. 


mit feiner piychologiich feinen Durchdringung der Shafejperifchen Menjchen- 
ihöpfungen, mit feiner unbefangenen, vom Weihrauchnebel unverdunfelten, 
jelbjtändigen Auffafjung des Dichterd hat ed ſich in der Achtung der 
literariihen Gejellichaft eine nicht leicht zu erſchütternde Stellung erworben. 
Wenn aljo nad) feiner Seite ein Bedürfniß vorliegt, auf die einzelnen 
Vorzüge des Buches, auf die befonderd gelungenen und zum Theil herr: 
lihen Darjtellungen, wie die von „Heinrich IV.“ und „Macbeth,“ aufmerfjam 
zu machen, jo dürfte es vielleicht im Intereſſe des für ein langes Daſein 
bejtimmten Werfed jein, einigen Ausjtellungen Ausdrud zu geben, zu 
denen eine erneuerte Lektüre mir Anlaß giebt. 

Sch berühre eine Lebensfrage des Buches, wenn ich von der Methode 
jeiner Darjtellung ſpreche. Bulthaupt fonnte in der Beurtheilung der 
Shafejperijchen Dramen uns ausschließlich jeine Anficht geben, unbeſchwert 
von Seitenbliden auf die Anjichten Anderer und von der Polemik gegen 
ſie. Er hat diefen Weg nicht gewählt, fondern bejchäftigt fich oft genug 
mit der Widerlegung von ihm faljch erjcheinenden Auffafjungen. Wenn 
er aber ein jolches literarhijtoriich-fritifche8 Verfahren verfolgt, ſo er: 
wächſt für ihn die Nöthigung, in jeder Neuauflage jeines Buches jich mit 
den neuejten Erjcheinungen der äjthetiichen Kritik auseinanderzufegen, wenn 
er nicht in die Lage kommen will, 3. B. im Jahre 1899 eine Anjicht zu 
befämpfen, die vor dreißig Jahren einmal lebendig, jet ſchon längere 
Beit im Grabe ruht. Dieſer Nöthigung hat Bulthaupt in den neueiten 
Auflagen nicht Hinreichend Rechnung getragen, er kennt die allerneueite 
Shakjpere-Titeratur zu wenig und geitattet ſich dennoch Urtheile über 
deren augenblidlihen Stand. So Iejen wir auf Eeite 291: „Ich glaube 
nicht, daß heutzutage noch Jemand ernitlid daran denfen kann, die ganze 
zerrifjene und jchwermüthige Stimmung Hamlets erjt von ſeines Vaters 
Tode herzuleiten, vielleicht mit einziger Ausnahme von Hermann Conrad.“ 
Diejer Ausipruh ift geradezu verblüffend: alſo fennt Bulthaupt die 
Harmlet-Literatur der beiden legten Jahrzehnte nicht ?*) auch nicht einmal 
Kuno Fiſchers Bud (j. ©. 277 ff.)? Der kritijche Theil des Shafjpere- 
Jahrbuches allein hätte ihn über die Verfehltheit einer jolhen Behauptung 
aufklären fönnen. — Und warum jollte denn der Tod des VBaterd und mas 
damit zufammenhängt, Hamlet nicht zu einem anderen Menjchen gemadt 
haben? — Weil ein folder Wechjel nicht im Laufe weniger Tage, ſondern nur 
in langer Zeit jich vollziehen könne. — Wiederum unglaublich bei diejem 
jonjt jo feinen Menfchentenner: das Gegentheil ijt wahr. Hat Bultbaupt 
es wirklich) nie erfahren, daß gerade der unerjegliche Verluſt Heißgeliebter 
Angehöriger frifche, frohe Menſchen ganz plöglich zu verbitterten Peſſimiſten. 
ja geiftig Gejunde wahnfinnig machen kann? — Die thatjächlihe Ent: 


*) Man vergleihe nur die allerneueften Hamlet-Auffaffungen im zweiten 
Theile dieſes Artikels. 


Rotizen und Beiprechungen. 541 


widelung der Hamlet-Kritik jeit den Sechzigern ift eine derartige, daß 
Bulthaupt jegt nahezu allein fteht mit feiner Anfiht von dem „phleg- 
matifchen, melandolifchen*, grübleriichen, thaticheuen und doch todes— 
veradhtend tapferen Hamlet, der ein Schwädling und ein föniglicher Held 
zugleich ift. Und fie hat ſich jo entwideln müfjen: denn der Widerfinn 
fann ſich für die Dauer nicht Halten, weder diejer, noch die daraus ſich 
ergebende contradictio in adjecto, wie fie in der Vorftellung einer „Tragik 
der Schwäche“ Liegt. — Bulthaupt würde ſomit gut thun, uns in fpäteren 
Auflagen nur feine Anficht zu geben; Die ift aud ohne Berüdjichtigung 
der ShakiperesLiteratur werthvoll genug. 

Eine ähnlich veraltete Anjchauung liegt in der Meinung, daß die 
bisherige literarhiftorijche Shalfpere-Forfhung den fommenden 
Geſchlechtern faum noch etwa zu thun übrig gelafjen habe Im Gegen 
theil: die Reihenfolge der Dichtungen Shakſperes jteht noch bei Weiten 
nicht feft. Der Sport. nah äußeren Indizien, Anjpielungen zc., ſowie 
nad) einem trugvollen rhythmiſchen oder Stilgefühl das Alter der ein- 
zelnen Dichtungen zu bejtimmen, der troß ſeines zweihundertjährigen Alters 
nicht verjtändiger geworden iſt, hat bekanntlich die bedeutenditen Gelehrten 
zu den umvereinbarjten Ulteröbejtimmungen geführt. Und fo hat man 
denn erjt in den legten Jahrzehnten den jolideren Weg der inneren In— 
dizien bejchritten, den Weg einer gründlichen metrijhen und jtiliftifchen 
Forſchung, der freilich jehr mühevoll und noch wenig begangen ijt, aber 
fchließlich einmal zu verläßlichen Rejultaten führen wird. Dagegen iſt die 
Erledigung der Bacon= Theorie, die nad) Bulthaupt die Zukunft bringen 
joll, für die wirflihen Fachleute ſchon zur Beit ihrer Entjtehung erfolgt; 
wenn dieje noch jebt hin und wieder ein Wort über jenen nur von der 
Unmifjenheit aufrecht zu erhaltenden Wahn verlieren, jo geichieht da3 nur 
aus Nüdjicht auf die Laien. Auch wird Bulthaupt unter jenen wmenige 
Theilnehmer an feiner Anficht finden, daß dad Bormannſche Bnch dieje 
Theorie am leöbarjten und Ffonjequentejten vertritt; mir perfjönlich iſt es 
unleöbar vorgefommen wegen der ganz abnormen Qualität feines logifchen 
Gehalts. \ 

Bu dem, was jpätere Ausgaben entbehren können, dürfte aucd die 
Lanze gehören, die Bulthaupt für Rümelind Buch über Shakſpere bricht, 
da3 jo ſpurlos im Schlunde der gefräßigen Beit verſchwunden ift, mie 
jede bloß jenjationelle Schöpfung. Don Quixote jand wenigſtens fompafte 
Windmühlenflügel vor, gegen die er kämpfen fonnte; Nümelin jchuf ſich 
da8 Ungeheuer, das er erlegen wollte, erit in feiner Phantaſie. Wo in 
aller Welt hat denn der Drachen „Shafiperomanie* feinen Schlupfwintel? 
Etwa im reife der engeren Shakipere-Gemeinte? Das Shakſpere-Jahr— 
buch jpricht ebenfo unbefangene Urtheile über den Dichter aus, wie wir 
jie bei Bulthaupt finden. Gewiß giebt es einzelne Shafjperomanen, wie 
e3 allerhand andere Manen giebt; aber die haben nirgendwo dad Heft in 


TEE —. 


542 Notizen und Beiprehungen, 


Händen. Daß Rümelin ohne zureichende literarhijtorische Kenntniſſe über 
Shakſpere fchrieb, mußte ihm wohl Hingehen; das wirkliche VBerwerfliche 
war, daß er mit feinem naiven Kunftverjtande ſich an die Beurtheilung 
ded größten: Dichterd wagte. So jchuf er ein geiltreich-oberflächliches 
Bud), das ein wahrer Hohn auf unfere nationale Runftbildung war, und 
deſſen Bernichter nicht die Shakjperomanen, jondern Männer von ge— 
läutertem Gejchmad, wie Bulthaupt, waren. 

Zu den ®Beralteten rechne ih aud) die Erklärung der beiden Lieb- 
ihaften Romeos durch die Berliebtheit ſeines Weſens, für weiches die 
leichter zu erobernde Geliebte die begehrenswerthere gewejen je. Die An 
nahme, welche Bulthaupt vertritt, daß Nojalinde von Romeo ebenjo heiß 
geliebt worden wäre wie Julia, wenn.fie weniger jpröde gewejen wäre, 
it für die Wirkung des Stückes eine recht ungünitige. Wenn wir nicht 
mehr an einen ummiderjtehlichen Zug der beiderjeitigen Naturen glauben 
jollen, der — eine Schickſalsbeſtimmung — die herrlichen Gejtalten plötzlich 
und unauflößfich zueinander reißt, dann bleibt von dieſer verzehrenden 
Liebe nicht3 weiter übrig als ein Strohfeuer der Sinnengluth, dann ijt ihr 
die Seelentiefe mit der Kraft der Dauer genommen. Die jo prätentiös 
auftretende nnd fo jchnell verrauchte Leidenjchaft für Roſalinde erklärt ſich 
würdiger durch die italienischen Xiebestheorien, denen der jugendliche 
Shakſpere ganz hingegeben war. Dieje jpätplatonijche Liebespbilojophie, 
über die man jich leicht unterrichten kann in Simpjond „Philosophy of 
Shakespeare’s Sonnets*, nahm drei Stufen der geichlechtlihen Liebe an; 
Romeo befindet ſich Rojalinde gegenüber auf der zmeiten, im Zus 
jtande der „Fancy“, in dem das Herz für die Aufnahme der wahren 
Liebe erjt bereitet und die Phantaſie von jeder reizvollen Weiblich: 
feit erregt wird. Das Charakteriftiiche diefer Stufe ift die Unbeitändia- 
feit der Neigung, die erjt aufhört auf der dritten Stufe, nachdem zu der 
Erregung der Sinne durch äußere Reize der tiefinnere Zug der beiden 
nad Ergänzung jtrebenden Seelen getreten it. Es liegt aljo nicht der 
geringjte Grund vor, Romeo ald Charakter oder Shakſpere ald Charakter: 
zeichner herabzujeßen. 

Gern entbehren würden wir in einer neuen Auflage das Kapitel über 
„Heinrich VI.“ Wenn man Shakſperes Kunſt daraus entwideln will, 
hat man die Verpflichtung. ſich aus den englijchen Arbeiten über dieſes 
Drama zu informiren, welche Theile von Shakſpere jind. Es als „höchſt 
wahrſcheinlich“ hinzujtellen, daß Shakſpere das ganze Drama, aud) die 
lähherlid) rohen Partien des erjten Theiles, gedichtet habe, ijt zwar bequem, 
aber jehr unbillig gegen den Dichter. Nach jahrelangen ftiliftifchen Studien, 
die jich auch jpeziell auf „Heinrich VI.“ erſtreckt haben, habe ich nicht den 
geringjten Bmweifel, daß große Theile aus einer urjprünglichen unfähigen 
Bearbeitung des Stoffed von einem anderen Dichter beibehalten find. — 
Dagegen ijt e8 in hohem Grade bedauerlich, daß Bulthaupt ſich nicht ent= 


Notizen und Beiprehungen. 548 


ichließen fann, „Antonius und Kleopatra“, dad Meijterwerf des tiefjten 
Seelentenners, zu behandeln. 

Bon den Schwächen Shakjperes, die Bulthaupt in der Einleitung aus— 
einanderjegt, müjjen wir manche anerfennen, 3. B. die Entwidlungslofigfeit 
der Arditektonif feiner Dramen; dagegen ijt eine Entwidlung in der 
Eharafterzeihnung, die Bulthaupt bejtreitet, entjchieden vorhanden. Der 
plößliche und unmotivirte Gefinnungswechjel gehört z. B. nur den jugend= 
lihen Dramen an: bei Leonted und Woljey, die Bulthaupt als Beijpiele 
anführt, ijt er nicht vorhanden. Bei Oliver in „Wie e3 euch gefällt“ 
fommt er unzweifelhaft vor: und Bulthaupt hätte noch Claudio in „Viel 
Lärm um nicht3“ und den Herzog in „Was ihr wollt“ hinzufügen können. 
Aber die Annahme, daß dieje Dichtungen gegen das Ende des Jahrhunderts 
geſchaffen jein jollen, it durch die ſtiliſtiſche Forſchung als Hinfällig erwiejen 
worden: die beiden erjten und das Liebesjpiel in „Was ihr wollt“ gehören 
nad ihren jtiliftischen Kennzeichen in die erjte Hälfte der Neunziger. 

In dem Klafjiker » Verlage des Leipziger Bibliographiichen Inſtituts 
iſt eine neue Ausgabe der Schlegel: Tiedjhen Ueberjegung von 
dem Profejjor an der Berliner Univerjität Alois Brandl erjchienen*). 
Vielleicht ift e8 dem Herausgeber ebenjo gegangen, wie dem Schreiber 
diejer Zeilen, daß er ſich in feinen Jugendjahren im Schlegelichen 
Shatjpere wurzelfeft gelejen, daß er viele Stellen in Schlegelicher 
Fafjung feinem geiftigen Beſitzthum einverleibt hatte und dann in den 
legten Jahrzehnten von den verichiedenen Ausgaben diejer klaſſiſchen Ueber: 
jegung immer mehr enttäufcht — um nicht zu fagen: abgejtoßen — wurde 
durch die „Verbejjerungen“, die gar zu philologische VBerehrer mit dem 
Terte vorzunehmen für ihre Gewifjenspflicht hielten. Ach, es waren nicht 
viel weniger Berjchlehterungen der Dichteriichen Diktion, als es Be— 
richtigungen von Ueberjegungsfehlern waren. Die Grotejche Ausgabe von 
Tſchiſchwitz ijt eine vortreffliche Yeiftung: aber wer fann darin zum 
Beilpiel „Hamlet“ leſen, ohne fortgejegt geftört und befäjtigt zu werden 
durch die Aenderungen eines jchönen Textes, den wir zum großen Theil 
auswendig wiſſen. Noch jchlimmer jteht es in diejer Hinfiht um den 
arg abgefeilten Text der Eottafchen Ausgabe von Mar Koch. Die Ueber— 
jegung der Shakſpere-Geſellſchaft, an der zum Theil Kräfte erjten 
Ranges, wie Alexander Schmidt und Hergberg, betheiligt waren, ent— 
fernt fi) noch viel weiter von dem Original; fie enthält neun volljtändige 
Nenüberjepungen und hat jogar Leijtungen aufgenommen, die gar feine 
Ueberjegungen find. Leos fogenannte Macbeth = Ueberjegung iſt weiter 
nicht al3 eine mehr oder weniger freie Bearbeitung, in der der Verfafjer 
oft genug mit einer fomijchen UWeberihäßung ſeines Vermögens jeine 


*) 1897 — 1899. Das Titelblatt enthält unverftändlider Weiſe keine 
Jahreszahl. 


544 Notizen und Beiprehungen. 


eigene jtatt Shakſperes poetijcher Aber fließen läßt. Die von Bodenitedt 
herauögegebene Ueberjegung ift zum Theil ganz unabhängig von Sclegel- 
Tied, und fie faßt eine Anzahl von meilterhaften Leiftungen in jich: aber 
— den alten, lieben Text finden wir in ihr leider nit. Man denke fich, 
ein neuer Herausgeber Schiller „verbeſſerte“ Tells großen Monolog oder 
die herrlichen Chöre der „Braut von Meſſina“! Man denfe ji, wir 
follten die alten, jchönen Bolfölieder, die und unfere Mutter lehrte, im 
Alter umlernen! — Etwa Uehnliched verlangen von uns die „verbefjerten“ 
Ausgaben der Schlegelichen Ueberjegung. 

Darum danken wir — viele Taujende! — dem Herausgeber, daß 
er und in der handlichen, gut ausgejtatteten und billigen Leipziger Aus— 
gabe den alten, unverfälichten Tert wiedergegeben hat und auf die nicht 
feltenen ımd zum Theil recht jtörenden Fehler taftvoll in einer An— 
merfung aufmerkfjam macht, während er mit Bezug auf die bedeutfamjten 
der dunfeln Stellen und die Korrektur offenkundiger Drudfehler am Ende 
jede Bandes eine Kleine Anzahl von Bemerkungen zujammenjtellt. Dieje 
generelle Zuſtimmung jchließt die Frage nicht aus, ob nicht einzelne be- 
ſonders unzulängliche Ueberjegungen von Dorothea Tied und Baudiſſin — 
ich denfe bejonderd an „Macbeth“ und „Antonius und Kleopatra“ — für 
immer au&gemerzt und durch die ausgezeichneten Arbeiten von Bodenitedt 
und Paul Heyie erjegt werden jollen. 

Die facherklärenden Anmerkungen, ebenfal3 unter dem Texte, müßten 
nach meiner Empfindung mindejtend verdoppelt werden. Auch fcheint es 
mir im Intereſſe einer Volldausgabe zu liegen, daß die vorwiegend 
literarhiftoriichen Einleitungen um eine eingehendere äjthetifche Würdigung 
erweitert würden. Die Lepteren find für die unmifjenichaftliche Meberzahl 
der Leſer viel wichtiger ald die erjteren, und ihr Fehlen jtellt ein un— 
zweifelhafte® Manko gegenüber der Ausgabe von Gojhe und Tſchiſchwitz 
und der von Bodenitedt dar. j 

Die Einleitung enthält ein kurzes Leben Shakjperes, ein Kapitel über 
das Nachleben Shakipered in England und ein anderes über den Beginn 
der Shakjpereverehrung in Deutichland. Die Eintheilung der Dramen 
nad) begrifflihen und jtofflichen Geſichtspunkten wird man im jeder 
Einzelheit nicht billigen können. Ganz unverjtändlid ift, warum „Eym: 
beline*, „Wintermärchen“ und „Sturm“ von den romantischen Dramen 
ausgefondert werden unter der Bezeichnung „Romanzen“, „d. h. Stüde mit 
berben Motiven, die fi) durch munderbare Fügungen noch in Glüd 
auflöfen“ (2). Romanzen waren bisher Iyrifchepifche Gedichte, die, gleich- 
viel ob der Grundcharakter der Handlung traurig, glänzend oder fröhlich 
war, die ritterliche Empfindungswelt darjtellten. Und nun joll plöglich 
ein Trama eine Romanze fein? 

Sehr werthvoll find die eingehende, auf authentiicher Forſchung be= 
rubende Darjtellung der Entjtehung der Schlegel-Tiedjchen Ueberjegung 


Notizen und Beiprehungen. 545 


und die Schilderung des Shakſperiſchen Theaterd, auf dejjen arditektonifche 
Beichaffenheit eine Reihe von fompofitionellen Bejonderheiten feiner Dramen 
zurüdzuführen find. Gegen eine der Grundvorausjeßungen Brandl muß 
ich einen entichiedenen Zweifel ausſprechen. Ich glaube nicht, daß in der 
Abbildung, die und vom „Swan“-Theater aus dem Jahre 1596 (ſ. das Bild 
©. 26) zufällig erhalten it, das Muſter der Shakjperifchen Bühne überhaupt 
zu jehen ift. Das auf zwei Säulen ruhende jchräge Dad), das von der 
Wand ded Garderoben: Haujes ſich über die hintere Hälfte der Bühne, das 
heißt, des bis in die Mitte des Parterres hervortretenden oblongen 
Podiums, Hinabneigte, war offenbar nur ein Notbehelf für die Sommer- 
theater, deren Parterre die Erde, deren Dad) der Himmel war. Es diente 
dazu, die fojtbaren Koſtüme der Echaufpieler vor dem Regen zu jchügen. 
Daß dieje fich für gewöhnlich nur auf der unbededten Vorderbühne auf: 
halten konnten, erjcjeint mir darum jelbjtverjtändlich, weil die unter dem 
Dach agierenden Schaufpieler vom zweiten und dritten Range aus gar nicht 
gejehen werden fonnten. 

Für die gededten Theater, „Blackfriars“ und die „private theatres“, 
die im Winter doch wohl allein verwendbar waren, hätte das Dad über 
der Bühne feinen Zweck gehabt und nur zur Beläftigung der Zufchauer, 
zur Beſchränkung ihres Geficht3felded gedient. Für fie dürfen wir das 
viel jpätere Bild vom „Red Bull*-Theater (1662) als maßgebend be= 
trachten, defjen Bühnen-Einridhtung zweifellos volltommener ald die des 
„Swan“:Theaterd iſt. An Stelle der zwei ungejchlachten Doppelthore, die 
hier von der Bühne ind Garderobenhaus führen, giebt es dort nur einen 
Ausgang in der Mitte; er ijt durch einen Borhang verdedt, hinter welchem 
fi der und von Alters her befannte erhöhte Alkoven befand, der die Bühne 
auf der Bühne („Hamlet“) oder einen abgejchlojjenen Raum, wie Die 
Schlafkammer der Desdemona, darjtellte. 

Die auf der Bühne aufgehängte Tafel, die den Ort der Handlung 
nannte, fann ich nicht mit Brandl al® „fabel*haft auffaſſen. Wenn Brandl 
in der befannten Stelle der „Spanish Tragedy“, wo ein Schaujpiel im 
Schanſpiel eingeleitet wird mit den Worien „Hang up the title“, das 
Wort „title“ als „Thenterzettel“ faßt, jo weiß ich nicht, worauf er ſich 
bei diejer Deutung jtügt. „Title“ heißt „Aufſchrift“, und da die folgenden 
Worte lauten: „Unſere Szene ift Rhodus“, jo kann e3 ſich wohl nur um 
die Aufichrift des Lofald handeln. In einer andern befannten Stelle aus 
Sidneys „Apology of Poetry“, die Brandl nicht berüdjichtigt. heißt es, 
daß „auf ein altes Thor (im Hintergrunde der Bühne) mit großen Bud 
ftaben ‚Theben‘ gejchrieben“ jei. Wie hätte denn auc anders als auf 
folhe äußerliche, mechanische Weife das Lofal der Handlung angedeutet 
werden fönnen, da ed Kuliffen und Hinterwände nicht gab? Aktprologe, 
wie in „Heinrich V.“, waren, zumal in jpäterer Zeit, nur jelten. 

Die Annahme, daß die Theater: Konftruktion zu Shakſperes Zeit die 


Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 35 


546 Notizen und Beipredhungen. 


mit einer Gallerie verjehenen Wirthhaushöfe, in denen berumziehende 
Schauſpieler öfter ihre Borjtellungen gaben, fich zum Mufter genommen 
hätte, it nach dem Erjcheinen des Buches von Ordijh über „Die eriten 
Londoner Theater“*) nicht mehr haltbar. Ordiſh weit nad, daß die 
Amphitheater (Zirkuffe) zu Scauftellungen der verjchiedenjten Art in 
England uralt find. In einem ſolchen Amphitheater im alten London zu 
Glertenwell wurden Moralitäten aufgeführt; die beiden ältejten Theater 
in Zondon, „The Theatre“ und „The Curtain* waren ebenfall3 rund, 
und e3 jteht feit, daß dieje keineswegs bloß zu theatralifchen Vorſtellungen. 
jondern zu ähnlichen Yweden verwandt wurden, wie die beiden Amphi— 
theater, die auf Bankjide (jet Southwarf, Süd-London) jtanden, ehe das 
erite Sommer-Theater dort gebaut wurde, und von denen dad eine — 
vorwiegend, wenn auch nicht ausſchließlich — zu Bären-, das andere zu 
Stierbegen verwandt wurde. Auf einem Plane von London von Braun 
und Hoggenberg aus dem Jahre 1572 ſtehen beide nebeneinander; in 
Norden? Karte von London aus dem Jahre 1593 iſt eines gefallen; Dafür 
jteht in der Nähe ein Schaufpielhaus; dieſe Gebäude find in ihrer äußeren 
Geſtalt ebenjo wenig zu unterjcheiden, wie die alten zwei Amphitheater. 
Dad „Hope*sTheater wurde nach dem vorhandenen Bau-Kontrakt ſowohl 
für ſzeniſche Boritellungen al3 für Stier- und Bärenhegen eingerichtet; 
daher mußte die Bühne entfernbar gemacht werden. Daraus ergiebt jich, 
daß urjvrünglih für Heben, Preiöfechten, Ringen u. ſ. w. und für 
theatralifche Boritellungen diejelbe Gattung von Gebäuden errichtet wurde, 
nämlich) Amphitheater. Die Spielhäufer aber nahmen jpäter aus naheliegenden 
Gründen — um die Zufchauer näher an die Bühne zu bringen — ſtatt 
der runden eine länglidhe, oftogonale Gejtalt an, eine _Gejtalt, die mit der 
Form eines Wirthshauſes nichts zu thun hat. 


2. Hamlet=Literatur. 


Bu den werthvolleren Büchern der beiden letzten Jahre gehört die 
Schrift „Darftellung krankhafter Geiftedzuftände in Shakſperes 
Dramen“ von Dr. Hand Laehr**. Der bei Weitem größte Theil des 
Buches wird von einer Schilderung Hamlets eingenommen, die einerjeits 
offenkundig auf der neuejten Hamlet =» Literatur aufgebaut ijt, andererierts 
aber ihre eigenen Wege geht. Laehr ftellt feit, daß die natürliche Per: 
jönlichfeit Hamlet3 feine anbere fein kann als die, die und Opheliad und 
des Fortinbras Worte jo deutlich zeichnen — eine vielfeitig große, helden— 
hafte. — Dieje eigentlich jelbitverjtändliche Anficht jcheint nun endlich 
nach hundert Jahren, in denen die Kritik ein Phantafiegeichöpf an Stelle 
de3 wirklichen Hamlet zu jeben pflegte, durchzudringen. — Das Werth— 

*) T. Fairman Ordish: Early London Theatres. London, Elliot 
Stod. 2d Ed. 1899 (1. Ausg. 1894). 
**) Stuttgart, Baul Neff. 1898. 


Notizen und Beiprehungen. 547 


vollite an dieſer Darjtellung ift, daß hier ein Piychiater verfichert, daß 
ein herrlich gejundes Wejen durch furchtbares Unglüf mit einem Schlage 
ſich in fein Gegentheil verkehren kann. Hamlet ift nach Laehr nicht etwa 
wahnjinnig; er befindet ſich nad) der Erſcheinung des Geiſtes nur im 
Zuftande der Nervenüberreizung, hervorgerufen durch lange Gemüths- 
aufregung vor der Enthüllung des Geiſtes und durch die ihr folgende 
Schlaf und Appetitlofigkeit. In dieſem Zuſtande kann Hamlet nicht 
mehr thun, was er will (an jeinem Wollen zweifelt Laehr nicht) und 
was er jonjt jeiner Natur nad) wohl gelonnt hätte. Da nun Hamlet? 
naheliegende Gewiſſensbedenken und die großen Schwierigfeiten, die in 
jeiner Situation liegen, nicht berüdjichtigt werden, jo haben wir ed mit 
einer reinen Srankheitögejchichte zu thun, die doch, wie Laehr ſelbſt zugiebt, 
Sbhakſpere nicht hat jchreiben wollen. Die anderen Schilderungen — von 
König Lear, Ophelia, Lady Macbeth — meijen die vollflommene Ueber— 
einjtimmung der Srankheit3äußerungen bei Shafjpere mit des Verfaſſers 
eigenen Erfahrungen nad; bei Lear begeht der Verfajjer den Fehler, im 
Gegenſatz zu Hamlet eine natürliche krankhafte Dispofition vorauszujegen. 
Werthvoll ijt die Auseinanderjegung über die „ärztlichen Anfichten des 
Zeit Shakſperes“ und die Zufammenjtellung der Literatur diejed Jahr— 
hundert3 über Shakſperes Seelenkranke — nicht weniger als 36 Schriften 
und Bücher. Das Buch ijt übrigens gut gejchrieben. 

Mit dem über Laehrs Hamlet-Auffafjung Gejagten ijt nahezu das 
Urtheil geſprochen über dad forgfältig ygearbeitete Buch von Gujtad 
Sriedrih über „Hamlet und feine Gemüthdfrankheit.*) Der 
Verfaffer geht von dem nämlichen Ausgangspunfte aus wie Laehr: von 
Natur iſt Hamlet ein willensjtarfer und geijtesfräftiger Menſch. Der 
Gram aber, der ihn nad) der Enthüllung des Geiſtes erfaßt, macht ihn 
nervenfrant und verjegt ihn in einen Zuſtand der „Entjchließungs- 
unfähigkeit“, die Friedrich ald „Willenshemmung* bezeichnen möchte. 
Hamlet fann nicht nur nicht thun, was er doc will — wie bei Laehr — 
fondern er kann überhaupt nicht wollen. Das Eigenthümliche dieſer 
nod nicht genügend erforjchten Seelen- oder Willenskrankheit ift, daß „ſie 
als jolhe gar nicht ind Bemwußtjein tritt, vielmehr dem Kranken ſich 
jtet3 in Gejtalt eines meift jcharffinnig erdachten Motiv gegen die momentane 
Ausführung der beabjichtigten That darſtellt.“ Darauf beruht das Tragijche 
des Schickſals Hamlets: er wird ſich felbjt zum Näthjel. Er erkennt die 
Nothiwendigkeit der zu vollziehenden Handlung, er weiß, daß er die Mittel 
des Vollzuges in Händen hat, will fie daher vollziehen und fann es nicht. 
Sobald er zur Ausführung des Mordes jchreiten will, jchiebt ſich ein uns 
bewußter innerer Widerjtand vor die That. Am vollfommenjten fenn= 
zeichnet Hamlet diefe ihm unbewußte Krankheit im Monolog des zweiten Aktes. 


*) Heidelberg, &. Weiß. 1899. 





35* 


548 Notizen und Beiprehungen. 


Das ijt ſehr fein erdacdht, und ich zweifle ebenfowenig wie der Ver: 
faffer an der Möglichkeit einer ſolchen Willenserkrankung. Woran id) 
aber zweifle, ijt, daß der geſunde Shakſpere die Abſicht hätte faſſen 
fönnen, und einen Krankheitsprozeß als tragiſches Objekt vorzuführen. 
Erkrankung ift ein Schidjal, aber fein tragiſches. Das moderne tragijche 
Schidjal entipringt nit aus der Feindichaft der Götter, fondern aus 
den Charakteren der Menſchen: aus den Handlungen, in denen fich 
ihre Charaktere projiziren, und aus den BZujtänden, die ihre Handlungen 
ſchaffen. 

Profeſſor Albert H. Tolman (von der Univerſität zu Chicago) ent— 
wickelt ſeine „Auffaſſung der Auffaſſungen Hamlets“*), die in dem 
zweiten Bande der Rieſen-Ausgabe des Dramas don Furness zuſammen— 
geitellt find. Dieſes allerdings reiche Material, dad die verjchiedenen 
Anfichten vermitteljt umfangreicher Zitate aus den betreffenden Schriften 
darstellt, reicht indejjen nur bi8 Baumgart, dejlen Buh „Die Hamlet: 
Tragödie und ihre Kritik“ 1876 erjchien. Die mafjenhaften Schriften, die 
feitdem in Deutichland erjchienen find, — die englijchen fallen weniger ins 
Gewicht — find daher, mit der einen Ausnahme Loenings, garnicht ver: 
merthet. Die Pointe der Schrift iſt die Meinung, daß die einzelnen 
Seiten im Charakter Hamlets, auf welche die verjchiedenen Interpreten ihr 
bejondered Gewicht legen, Sich keineswegs immer widerjprechen und einige 
von ihnen in Gemeinjchaft vorhanden jein mögen. So erflärt fich die 
Unthätigfeit Hamlets nad) des Verfaſſers Anficht jowohl aus einer Neigung 
zur Neflerion, als auch aus Willensſchwäche und Melancholie; welche von 
diefen Eigenichaften das Hauptagens jei, könne nicht entjchieden werden. 
Ebenjo mögen ihn auch jeine Gewiſſensbedenken hinſichtlich der Blutrache 
und jein Abjchen vor dem Morden zurüdgehalten haben. Dagegen kann 
der Verfaſſer praftiiche Hindernifje, die in der Aufgabe ſelbſt liegen, nicht 
anerfennen ; das heißt freilich, vor der ganz realen furchtbaren Schickſals— 
verfettung die Augen jchließen. 

Auch Hält er e8 mit Kenny, March u. 9. für nicht unmöglich, dab 
zwei unvereinbare Urbeitsihichten in dem Drama aufeinander lägen, Die 
Urſchicht eines alten, verloren gegangenen „Hamlet“, in dem der Prinz 
handelte, und eine jpätere Sicht von Shakſperes Hand, die einen reflef: 
tirenden Helden darjtellte. Aber die Annahme eines „Urhamlet“, der 
von Kyd war und nit von Shakſpere (Sarrazin), ijt eine müßige, 
weil durch nicht zu jtüßende Hypotheſe. Und die Ungereimtheit, eine 
Schöpfung wie „Hamlet“ Hinfichtlic) ihres Kompofitiondmwerthes mit 
„Zimon* gleichzujtellen, kennzeichnet ebenjo deutlich die Stufe des Kunſt— 
verjtanded jener Autoren, wie die Verzweiflung, aus den mannigjadhen 


) A View of the Views about Hamlet. Baltimore, 1898. (The Modern 
Language Association.) 


Notizen und Beiprehungen. 549 


Lebensäußerungen de3 Helden ein einheitliched Weſen herauszulejen, von 
der Schwäche ihrer pſychologiſchen Ertenntniß zeugt. 

Biel bedeutender it Hugo Traut3 „Hamlet Kontroverje“*) 
troß der offenfundigen Jugendlichkeit des Verfaſſers. Es iſt wahr, er 
flanirt zu viel auf den ferner und fernjtgelegenen Gebieten feiner Lektüre 
umher: nicht bloß Sophofles, Gutzkow, Wildenbrud, Hauptmann werden 
zur Durdleuchtung der Hamlet-Frage herangezogen, jondern auch Knigge, 
Sader Maſoch, Lechleitner, Reinhold Ortmann, Robert Miſch u. A. Auch 
verdeden ihm Titel und Nanıen häufig noch die literarische Sndividualität, 
die er jpäter einmal jicher erfennen wird; es ift 3. B. nicht nothwendig, 
daß ein Bud, welches ein Profejjor der Philofophie über „Hamlet“ 
jchreibt, bedeutend jein müßte. Es ijt das Traurige, daß jo viele von 
den Hamletsfritifern geglaubt haben, fie könnten eine reine Kunjtfrage 
mit dem bloßen Berjtande löjen, während die Kräfte einer lebhaft und 
jiher jchaffenden Phantajie, einer tiefen und zarten Empfindung ebenjo 
unerläßli jind zur Haren Anſchauung, wie zur Erzeugung eined Kunft= 
werfed. So ijt 5. B. Dörings „Hamlet“ troß allen redlichen Bemühens 
eine wirklich unbedeutende Leiftung, weil dieſem Philofophen jene Kräfte 
abgehen; und der jugendliche Traut ijt viel bejjer befähigt zu einem Ur: 
theil über Hamlet, weil er jene rezeptiv Eünjtlerifche Beanlagung, ohne die 
ein echter Kunſtkritiker nicht denkbar iſt, beſitzt. Er ijt ein hoffnungsvoller 
Schriftiteller, der außerdem zu feiner Aufgabe die Kenntniß der neuejten 
HamletsLiteratur mitbringt. 

Seine Auffaffung Hamlet3 ift eine moderne: defjen Thatlofigfeit ijt 
nicht die Folge jämmerlicher Eigenjchaften feiner Natur, welche ald eine in 
jedem Sinne große, aljo auch heidenhafte erjcheint, fondern der jchwierigen 
Situation, in der er jich nach der Enthüllung des Geijtes befindet. Traut 
vertritt Werder gegen Baumgart. Das ausjchliegliche Gewicht, daS der 
Leptere auf die humane Lebensanjchauung, die hohe Bildung Hamlets legt, 
erfennt er al3 einjeitig an. Dagegen jieht er nicht, daß die Aufgabe, die 
der um Hamlet jo hochverdiente Werder dem Helden jtellt — das verlegte 
Recht vor den Augen der Welt wiederherzuftellen und Rıchter, nicht Rächer 
zu ſein — nit bloß aus feiner Zeile des Stückes herauszulejen, jondern 
abjolut unmöglich ift, da der Hauptzeuge für eine jolche Rechtshandlung 
aus der andern Welt jich nicht zitiren läßt. Auch find die Betäubung des 
Geiſtes, die tiefe Verftimmung der Seele, welche die natürlihe Folge 
eined jo umerhörten Schickſalsſchlages find, nicht genügend in Rechnung 
gezogen. 

Dur die Leltüre der Trautichen Schrift bin ich auf eine andere 
aufmerkſam geworden, die, in einer Fachzeitſchrift verjtecdt, mir entgangen 
war. Sie rührt von dem bekannten Moliereforscher Humbert ber und 


*) Leipzig, Seele und Co. 1898. 


550 Notizen und Beiprehungen. 


gehört zu dem Allerbejten, was über „Hamlet“ gejchrieben ijt. Der Titel: 
„Hamlet oder die hriftlich-jittlihen Jdeale und das Leben“*) 
deutet die Tendenz des Verfafjerd an: die Tragödie foll „den Schmerz 
des Spealijten über den Widerfpruch zwiſchen den chriftlich = fittlichen 
Idealen und dem Leben darjtellen.” Nach einem reichhaltigen Ueberblid 
über die Auffafjungen feiner Vorgänger entwidelt Humbert an der Hand 
der Handlung die Bedeutung der einzelnen Reden und Thaten Hamlets 
in ruhiger, tief einficht3voller Weife und kommt dabei zu folgenden 
Rejultaten. 

Hamlet ift, wie Ophelia und Fortinbras ihn fchildern; auch jeine 
Selbitichilderung Roſenkranz und Güldenjtern gegenüber zeigt uns, daß 
er vor dem Tode jeined Vaters das Gegentheil von einem melancholiſchen, 
thatiheuen Grübler war. Er ijt eine tiefreligiöje Natur; feine Ueber: 
zeugungen jind die der fatholiichen Kirche, aber in jeinem freien Denken 
zeigt er zugleich einen protejtantifhen Zug. Daher feine Vorliebe für 
Wittenberg; denn Wittenberg iſt Quther. Hamlet liebt eben die Geiſtes— 
helden. die das Schwert des Worted furdhtlos und wirkſam zu führen 
wiſſen; er ijt jelbjt ein jolder. Zu feinem freien Denken, feinem fcharfen 
Verſtande gejellt fich eine tiefe Fünftlerifche Begabung. Als überzeugter 
Chriſt ijt er fittlicher Sdealift, und die Verftimmung feiner Seele hat 
nur in jeinem enttäujchten Idealismus ihren Grund. Aber Hamlet iit 
nicht nur ein Geiftesheld, jondern auch ein Held der That, und Shakſpere 
fennzeichnet ihn als foldyen auf die nachdrüdlichite Weile. Seine Freude 
an der Waffenführung bejtätigt ihm fein Oheim ſelbſt. Wenn er nadı 
den höchſten Nepräjentanten der Menjchheit jucht, jo find dies ihm die 
Männer der That, Alerander und Cäſar. Sein fürjtlich kriegeriſcher 
Sinn duldet feine Verlepung, ja, feine Bejchränkung feiner Perſon: das 
zeigt er bei vielen Anläfjen, beim Berjchwinden des Geiſtes jeinen 
Freunden gegenüber, bei der Tödtung des Polonius, im Gefecht mit den 
Seeräubern, im zweimaligen Kampfe mit Laerted, und nachdem er den 
König als jeinen und feiner Mutter Mörder erkannt hat. Er verhält 
fih das ganze Stüd hindurch offenfiv gegen alle jeine Widerjaher. Er 
weiß die richtige Gelegenheit, jobald fie jich zeigt, ſofort praltiſch zu ver- 
werthen, wie die eriten Worte nad der Verkündigung der Ankunft der 
Schaujpieler zeigen; und ſelbſt in der tiefiten Erregung, wie nad dem 
Verſchwinden des Geijtes, ift er im Stande, einen momentanen Entſchluß 
über das, was zunächſt gejchehen muß, zu fallen, wie er überhaupt in 
den Augenblicken ver leidenjchaftlichiten Empfindung nie ohne Selbſt— 
beherrichung iſt. Je näher er der Nachethat tritt, dejto ruhiger wird er; 
jo nachdem er die Gelegenheit gefunden hat, des Königs Gewiſſen zu 
prüfen, und nachdem er auf der Seereife die fiherften Beweiſe von der 


*) N. Jahrb. für Phil. und Päd. 2. Abtbeilung, Het 3—5 (1896). 





Notizen und Beiprehungen. 551 


Schurkerei des Königs in Händen hat. — Von einer Schuld iſt bei ihm 
feine Rede; der Tod iſt ihm nicht Strafe, ſondern Erlöſung. 

Man kann Humbert faſt in jedem Punkte beiſtimmen, nur nicht in 
der Auffaſſung Ophelias, die er zu tief unter den Helden ſtellt. Auch 
über ſie giebt uns Shakſpere ſein unzweideutiges Urtheil ab in der 
Stellung, die er ihr zuweiſt, zunächſt dem Herzen ſeines Helden und in den 
Worten der ſündigen Königin, die ſie ihr mit den Blumen in das Grab 
nachſendet: „Der Süßen Süßes.“ Es iſt faſt verwunderlich, daß ein 
Mann von fo feiner Empfindung, wie Humbert, dieſe reizvolle Frauen— 
geſtalt nicht als das erkannt hat, was ſie iſt: eine zarte, ſcheue Mimoſe, 
oder, wie Mrs. Jameſon jo ſchön jagt, ein weißes Täubchen, das wider: 
ſtandslos vom Schickſalsſturme mitgerifjen wird. 

Die Lektüre dieſer tief dDurchdachten und gefühldwarmen Schrift macht 
einen berzerfreuenden Eindrud gegenüber den zahlreihen Verletzungen, 
die der bloße, beichränfte Verſtand dem herrlichſten aller dichterijchen 
Geihöpfe, der großartigften Tragödie der Weltliteratur fort und fort 
zufügt. 

Auch die Freude an der Änterpretation diejed Kunſtwerkes nimmt 
niht ab. So iſt in diefem Sahre Schlegeld „Hamlet“ erläutert 
erichienen von Eduard CEoßmann*), defjen zahlreiche Anmerkungen Manches 
berichtigen und aufflären, was Schlegel falſch oder jchief aufgefaßt hat. 
In einer Anzahl von Fällen irrt der Verfaſſer, aber in der Mehrzahl 
behält er Schlegel gegenüber Recht, und die Aenderungen, die er vorjchlägt, 
find meijt wohlbegründet und ſprachlich fein formulirt. 

(Uebernomm. m. einigen Kürzungen aus dem „Ritterarifhen Echo“, 
II. Jahrg, Heft 4 und 5 [15. Nov. u. 1. Dez. 1899)). 


Buhdramen. 


Unter einigen Dramen, die alle das gleich jtarfe aber noch unerfüllte 
Berlangen nach dem Licht der Nampen gemeinfam haben, ſeien zunächit 
zwei öjterreichijche genannt: „Familie Wawroch“ von Franz Adamus**) und 
„Michel Gaiszmayr“ von Franz Sranewitter.***) 

Adamus wandelt gelegentlich in Zolas, öfter in Hauptmanns Spuren. 
Jene Szene, in der die wild gewordenen Weiber Nahe an dem profit- 
gierigen Wirth nehmen wollen, findet fich in ähnlicher Weife im „Germinal“. 
Die fchlefischen Weber Hauptmanns find bei Adamus durch czechijche 
Grubenarbeiter erjeßt. Selbit das Weberlied findet jeine übrigens durch— 

) Baris, Firmin Didot & Eie. (D. 9%.) 
*) Verlag von Albert Langen, Münden. 
**) Berlag von ©. Fiſcher, Berlin. 


552 Notizen und Beiprehungen. 


ans nicht unwirkſame Parallele. Endlich greift aud hier zum Schluß das 
Militär ein, jedoch von vornherein mit Erfolg. Mit diejer Aufzählung 
von Mehnlichkeiten, die übrigend garnicht aufgefpürt werden brauchen, 
fondern auf der Hand liegen, ſoll Adamus durchaus nicht von vornherein als 
Ihwächliher und unfelbjtändiger Nachahmer Hingejtelt werden. Man bat 
überall Plagiate auffpüren wollen. Bekannt ijt der Fall, in dem Leſſing 
die unrechtmäßige Benutzung Anderer nachgewiefen werden ſollte. Von 
modernen Yutoren hat man Knut Hamfun als Schuldner Doftojewätis 
in Anklagezuſtand verjegt, und D’Annunzio, der große Staliener, joll gar 
aus aller Welt und aller Zeit feine Werke zufammengejtohlen haben. Ent: 
ſcheidend für die Selbjtändigfeit eines Autord dürfte aber in erjter Linie 
faum die Erfindung der Situationen und Findung des Stoffs fein, jondern 
vielmehr die Selbjtändigkeit der Anſchauung und inheitlichleit der 
Empfindung. Das Perſönliche jollte immer jchwerer wiegen, ald das 
Stofflihe. So kann auch Adamus feine Eigenart gegenüber dem Dichter 
der Weber ruhig behaupten. Das Unterjchiedliche liegt, abgejehen von dem 
anders gearteten Milieu, vor Allem in der individuellen Zufpigung, die 
Adamus feiner Tragödie giebt. Er zeichnet nit nur dad große, graue, 
eintönige Mafjenelend, jondern er hebt aus der Mafje beitimmte Perjonen 
heraus und läßt deren Schickſal ſich vollenden. Es ift der Konflikt in der 
Familie Wawrod, der ſich bejonderd zwifchen Vater und Sohn bis zum 
Aeußerſten zujpigt. Der alte Wawroch ijt ein Trinker, Tagedieb und 
Wichtigthuer. Beſonders groß kommt er ſich vor in feiner Stellung als 
Vertrauensmann der Sozialdemokratie. Als es unter Anreizung und 
Leitung einiger au8 Wien gejandter Agitatoren zum Streit und Aufrubr 
fommt, geräth der Alte mit jeinem Sohn Robert in Konflikt. Robert hat 
es als jtrebjamer, fleißiger, ordnungd- und rubheliebender Mann zur 
Stellung eined Maſchiniſten gebracht und das ift im Verhältnig zur Lage 
des Grubenarbeiter8 jchon eine Art Herrenjtellung. Robert hatte als 
Nüngling den innigiten Wunſch, nod) weiter zu fommen, bis zum Ingenieur. 
Die Fähigkeiten dazu hatte er jicher, wenn nur der Vater die Mittel dazu 
hätte geben wollen. Der aber vertrant und vergeudete Alles, verlor jeine 
Stellung und lebt nun von dem, was Frau und Sohn verdienen. So ift 
es gefommen, daß Vater und Sohn ſich halfen. In einer Arbeiter 
verjammlung, in der jein Vater den Vorfig führt, jpricht Robert, von 
ehrlicher Ueberzeugung geleitet, gegen den ſozialdemokratiſchen Agitator: „a, 
Gleichheit wie im Grabe! Nur eine Meinung im ganzen Land, auf der 
ganzen Erde! Na natürlih! Ihr wollt ja Alles uniformiren! Der jetzige 
Staat is nod) barmhberzig, gnädig, verglichen mit Euch; er uniformirt nur 
die Soldaten, nur ein paar Leute, und nur von außen, feine Kafernen find 
nur für Soldaten: Ihr aber wollt auch die Gedanken, Gefühle, Wünſche. 
kurz Alles, Alles in eine ſchwarze Uniform fteden und die ganze Welt in 
eine Kajerne verwandeln!“ Dies ijt die nicht gerade tiefe, aber ehrlich ge 


Notizen und Beiprehungen. 553 


meinte Weisheit dieſes Sozialiftenfeindes. Ob der Maſchiniſt für feinen 
Muth, den Arbeitern entgegenzutreten, Obermajdinift werden wird? Im 
Gegentheil. Gr erhält feine Kündigung. Und das geht jo zu. Die 
Arbeiter find bejonderd auf ihn empört und wollen mit ihm nicht zus 
fammen arbeiten. Dem Unternehmer liegt daran, möglihjt bald Ruhe zu 
erhalten. Statt num die materielle Forderung der Arbeiter zu bewilligen, 
giebt der Schlaufopf ihrer ideellen nad); er jchmeichelt ihrem Solidaritäts- 
gefühl und giebt den Maſchiniſten Robert preis. - Der verliert Stellung und 
Brod und mit ihm die Familie, deren Ernährer er war. Er, der Mann 
der Ordnung und Disziplin, geht wieder zu der Kompagnie in der benach— 
barten Stadt zurüd, in der er früher jeiner Militärpflicht genügt hatte. 
Die nothleidenden und aufgehepten Arbeiter beruhigen ſich nicht jo jchnell. 
Sie wollen alle Forderungen bewilligt erhalten. Sie ziehen in Rotten 
umher und zerjtören die Werte. Militär wird herbeigeholt. Die Mafje 
will nicht weihen. Es muß gejchofjen werden ; eine Kugel aus Roberts 
Flinte trifft den alten Wawrodh. Der Sohn Hat den Bater erjchofjen. 
Das könnte jchon ein Schluß fein, ein peſſimiſtiſcher Schluß, der da be— 
deutete: jo jehr it die Natur von dem, was gejellichaftliche Ordnung heißt, 
vergemaltigt, daß fich töten muß, was auf Innigſte zujammenjtehen jollte. 
Der Dichter aber hat ed noch anders beitimmt. An der Stätte, an der das 
Blut aufrührerifcter Bürger geflofjen ift, jeßt das nad) eingetretener Ruhe 
wieder froh und fromm gewordene Unternehmertum ein Kreuz, zur 
Sühne und Mahnung. Dieſes Kreuz wird in Anweſenheit eines hohen 
Regierungdvertreterd und unter Anſammlung der ehrjürdtig jtaunenden 
Maſſen feierlich enthüllt. Angeſichts des Kreuzes gejteht Robert, daß er 
jeinen Vater nicht aus Zufall erſchoſſen hat: „Aller Jammer und alles 
Elend, was über und gefommen is, das hab’ ich in ihm verkörpert ge= 
jehen, damald! Wie er damals da oben gejitanden is, beraujcht, die 
bejoffenen Kerle mit wilden Worten aufhegend, das Hemd aufgeriffen und 
immer jchreiend und mit den Händen juchtelnd — jo gemein, jo pübel- 
haft gemein! — was ich in meinem ganzen Leben erduldet hab’ von ihm 
— umd von Anderen, aller Sammer und alle® Elend — mein ganzes 
verpfujchtes Qeben — das hab’ ich mit ein'mal in mir gejpürt — lehendig 
— und eine Erbitterung hat mid; gepadt — nit ihn — nein! ala 
müßt’ ich Gott vom Himmel herunterreißen und vor meine Kugel ftellen! 
Rache! Race! hat’3 in mir gejchrien — Rache für mein verpfufchtes 
Leben! Rache fir Alles, was in mir brutal zertret'n word'n ijt! Und 
mein Finger hat ſich Frampfhaft um das Gewehrzüngel geichloffen — und 
— und — dann wurde es mir ſchwarz vor den Augen — und was 
weiter gejchehen id, weiß ich nich ....“ Der Dichter treibt die Dinge 
jtarf, jajt frampfhaft zur üäufßerjten Epige, aber ohne Einfeitigfeit. Er 
ergreift nicht Partei. Alle find fie jchlecht und verfommen: Arbeiter 
und Unternehmer, Sozialdemokratie und Regierung. Robert, der im 


554 Notizen und Beiprehungen. 


Grunde der Seele ein guter Menjch ijt, muß in dieſer Gejellichaft und 
bei diejer Staatdordnung zu Grunde gehen, zum Verbrecher werden. 
Vielleicht nicht ohne fymbolifche Bedeutung ragt am Schluß das Kreuz 
mit dem ©efreuzigten über die Bühne, die eine jo elende Welt bedeutet. 
„Erlöfe und von dem Uebel“ — das ift die Schlußjtimmung, die dieſe 
Tragödie hinterläßt. Wenn auh — wie bemerkt iſt — der Dichter 
Alles bis zur Spihe treibt, jo iſt doch zu bedenken, daß dieſe äußerite 
Spige ſich auf einer gut und breit angelegten Bajis erhebt. Das 
Milieu ift — unter Verwendung von fünf Dialeften — jorgfältig heraus- 
gearbeitet, und die einzelnen Perjonen find in ihrer Individualität genau 
geihaut und getreu wiedergegeben. Gerade die Bereinigung naturali: 
jtiiher Treue in der Gejtaltung der Perjonen und theatraliicher Be— 
gabung in der Herausbringung der Effekte läßt auf ein wahrhaft drama 
tijihed, wenn auch noch in jeiner Jugendlichfeit unausgeglichene® Talent 
ſchließen. 

Ein ſoziales Drama ähnlichen Gehaltes, wie das eben beſprochene, 
iſt auch Kranewitters „Michel Gaiszmayr“. Es behandelt den Aufſtand 
der Tiroler Bauern und Bürger im Jahre 1625. Sie werden geknechtet von 
dem Fürſten, dem Edelmann und dem Pfaffen. „Dem Edelmann, die Frucht 
gehört ihm, die ihr ſaurer Schweiß der Erde abgetrotzt, dem Edelmann, 
der Zins und Geld und Rabatt fordert, um bei Wein und Weib der 
Luſt zu jröhnen, deren Tafel der Armen Hunger dedt. Weh diejen, drei 
Mal weh, wenn Himmel! Ungunjt oder Roß und Hund des Herrn, 
wenn jein Gejaid die Saat’n in den Bod'n jtampfte. Mit Stahl um- 
panzert hat er jeine Bruit, mit Eis fein Herz, und falt'n Hohn's 
entgegnet er dem Bau’r, der, ihn um Nachſicht bittend, fommt: Zahl oder 
jtirb,* und treibt ihm weg von jeiner Hütt'n. Nicht befjer treibt’3 der 
Pfaff. Auch ihm gilt's zu robott'n und zu zinſ'n von früh bis jpät, 
und was einjt Baljam war, des Herrn Wort, das ijt jegt Gift, jeitdem 
e3 Geißel ward in feinen Händen. Mit Ablaßkram und Bilderdienit 
umnachtend feiner Scäflein Heerde, ſitzt eine Rieſenſpinn' er did im 
Nep, der Mermiten aller Armen, der Wittwen und der Waijen Gut 
verzehrend. Bei Gott, wenn er geboren, muß der Landmann bledh'n, 
und wenn er jtirbt, jein Letztes nimmt der Pfaff. So leb'n Alle vom 
Bauern; armjelig, ein Lazarus, bededt mit Schwär'n und mit Wund'n 
jchleiht er dahin auf feiner Scholle. Mit jedem Jahr frümmt fich jein 
Rück'n tiefer, wird fein Fußtritt ſchwerer, bis er endlicd), jtumpf an Geift und 
Herz, ein Hohn des höchſten Schöpferwillen, der ihn als nächſtes Eb’nbild 
erihuf, darin verſinkt.“ So fieht Michel Gaiszmayr, der Führer der 
Bauern, die Dinge an. Anders ijt die Auffafjung des Edelmanns: 
Der meint, „daß das die Ordnung ift, wie fie Gott g’jegt bat. Ciner 
muß Herr jein und wieder einer Sinecht, und weil i einmal der Herr bin 
durch jeine Gnad — bei Gott's Marter, will i's auch recht jein, verlang 


Notizen und Beiprehungen. 855 


i, was mir bührt und zulommt, nit mehr und nit weniger, nach altem, 
ewig feitg’jegtem Necht !* Unter Führung Michel Gaiszmayrs empören ſich 
die Bauern und ziehen brennend und mordend, vor Allem aber plündernd 
durchs Land. In diefer Gefahr greift der Statthalter Salamanka 
zu dem Mittel, die Aufrührer durch Berjprechungen zu beruhigen. Die 
dummen Bauern laſſen fich wirklich von dem fchlauer Spanier umgarnen, 
zerjtreuen fich und kehren heim, theilweis wenigſtens — der andere, Kleinere 
Theil möchte weiterfämpfen. Aber jelbit Gaiszmayr hofft nichts mehr und 
räth zur Heimfehr. Da erhält er die Nachricht, daß fein gefangener 
Bruder graufam hingerichtet iſt. Auf diefe Schredendfunde hin erklärt er 
jich bereit zu einerı Schritt, den er früher zu thun fi) gemeigert hatte. 
Er will nad Venedig eilen und den äußeren Feind zur Unterjtüßung der 
Bauern ind Land holen. Doc dazu fommt ed nicht. Denn er wird, für 
vogelfrei erflärt, von einem jpaniichen Kriegsknecht meuchlingd ermordet. 
So endet der Tiroler Bauernaufjtand damit, daß die Willfür und Grau— 
famfeit der Herrichenden ſchwerer denn zuvor das gefnechtete Volk peinigen. 
Das Drama ijt theatraliſch wirfjam und äußert bühnengerecht aufgebaut. 
Eine Reihe von Szenen, in denen dad Elend des Volkes dargelegt wird, 
find in ihrer Knappheit und dramatiichen Steigerung jehr gut gelungen. 
Das Tragiiche in diefem Drama ijt darin zu erbliden, daß die Bauern 
im Grunde durch eigene Schuld bejiegt werden, wie es auch eine der Per— 
fonen offen ausſpricht: „Das ift’3 g’wei’n: Sie hab’n uns nit b’fiegt, ſelbſt 
hab'n wir und b'ſiegt und and Meſſer g’liefert, weil wir, jtatt z'nehmen, 
uns aufs VBerhandeln eing’lafj'n, weil Jeder nur auf jein Fell, auf fein’ 
Vortheil g’fchaut, weil wir nit einig war'n.“ Das ift das tragijche Ver: 
hängniß dieſer Bauern, im Elend jo jehr verfommen zu fein, daß fie, faum 
frei geiworden, der freiheit al& unwürdig jich erweifen. Das ijt das wahre, 
das tragische Unheil der Noth, daß fie nicht nur unglüdlich, fordern aud) 
ſchlecht macht. — 

Soziale Tragödien werden heutzutage in manchen Kreiſen ganz be— 
ſonders geſchätzt. Ich ſelber halte die ſoziale Tragik für den niedrigſten 
Grad des Tragiſchen. In ihr beruht das Tragiſche auf beſtimmten Ge— 
ſellſchaftszuſtänden, von denen die Menſchen und ihr Geſchick abhängig find. 
Es find das eigentlich materialijtiiche Tragödien, die den Marxſchen Saß 
zur Geltung bringen: „Es iſt das gejellichaftliche Sein, wodurd) das Be: 
wußtjein der Menjchen bejtimmt wird.“ Solche gejellichaftlihen Verhältniſſe 
find doc) jtet3 vorübergehender Art. Es giebt aber eine Tragif, die aus 
einem Zwieſpalt jtammt, der der Weltjeele und dem Leben an fich eigen ilt. 
Dad ijt ein ewig währender, geheimnißvoller Dualismus, der in jeinem 
ureigenjten Weſen nicht verftandesgemäß zu erfennen, wohl aber in taus 
jenderlei Gejtalten zu empfinden iſt. So halte ich denn 3. B. Hauptmanns 
„Friedensfeſt“ für ein tiefered Werk als dejjelben Dichters Weberdrama. 
Auch das individuelle, au der eigenen Seele jtammende Schidjal des Fuhr— 


556 Notizen nud Beiprehungen. 


manns Henjchel wirft ergreifender, als alles thurmhod) gehäufte Weberelend. 
Uebrigens ift im großen Ganzen die Mode der jozialen Tragödie bereits 
überjchritten und an die Stelle einer Tragödie der Gejellichaft die Tra— 
gödie der Seele wieder in vertiefter Weife zur Herrſchaft gelangt. — 

Als ein individualijtiiches Seelendrama it „Don Pedro“, Tragödie 
von Emil Strauß*), aufzufaffen. Bon einer Vertiefung babe ich aller= 
dings nichts finden können. Ich hatte dad Buch fchon fait zu Ende 
gelejen und fragte mich noch immer: Was joll dad Ganze eigentlih? Der 
Statthalter Don Pedro de Luna hat ein jchöned und vornehmes Mädchen, 
Siabella, geheirathet. Er liebt aber Donna Juana de Menezed umd findet 
bald nad) der Hochzeit Gelegenheit, ihr feine Liebe zu gejtehen. Sie weiſt 
ihn ab, da fie jchon die Verlobte des Leutnants Don Bernardo de Aguilar 
iſt. Den tödtet er. Pedro ijt bereit, Alled zu vernichten, was ihm hindernd 
in den Weg tritt und Nuanas Liebe zu erzwingen. Er überwindet in der 
That unglaublihe Nöthe und Gefahren und erreicht jchließlich, daß Juana 
erklärt, jein Weib werden zu wollen. In dem Augenblid jtirbt er, vom 
Ueberſchwang des Glücks ins Herz getroffen. Was joll dad nun? Was 
bedeutet e3, daß Pedro ohne Bedenken und Gewiſſen jein rechtmäßiges 
und ihn vergötternded Weib verläßt und einer anderen Liebe unter taujend 
Gefahren nahjagt? Don Pedro giebt gegen den Schluß ded Dramas 
jelber jolgenden Sinn jeined Lebend an: „Wozu hätte ich gelebt, 
wenn ich nicht meine ganze, ganze Sraft dazu verbraucht hätte, 
die Ungefügigfeit, Armuth und Schmerzhajtigfeit dieſes Lebens zu 
mindern, indem ich wenigitend meiner Noth Herr zu werden fuchte? 

. Da wirbelt nun vor und ein Strom feindlicher Gewalten, an 
dem ich meine Kraft erproben, den ich durchichwimmen muß zum Ufer 
friedlichen, geficherten Wirkens hinüber. Wer mir im Schwimmen 
den Weg verlegt, den muß id; ermwürgen können, jonjt war id) die 
Probe nicht wert! Nur die fiegreiche Kraft ift die rechte Kraft zum 
Frieden und zur fortwirfenden Beglüdung. ... Auch ich habe Stunden 
gehabt, wo ich verjunfen dahocdte, jchaudernd in den Tiefen meines 
Lebens mwühlte uud mich von ihren Greueln und Lajten bejchweren lie, 
aber dann mußte ich wieder aufitehen und die Hände waſchen, und mic 
freuen über das unbegreiflihe Wunder, daß aus ſolchen Tiefen von Blut 
und Unrath die weißejten Lilien aufjprießen.“ Wir haben es aljo mit 
einer Urt des Uebermenſchen zu thun, mit einem Drama zur Ver— 
herrlihung der Willendfraft. Wir begreifen nun wenigſtens die Abficht 
des Dichters. Aber diefe Abficht ift emtichieden nicht erreicht. Der ganze 
Hall Liegt zu abfonderlich, phantaſtiſch, romantiih, und iſt dabei, trog 
des Abſonderlichen, Phantaſtiſchen und Romantiſchen, uninterefjant. 
Viele8 in dem Drama, die Spradhe und da3 Temperament vor Allem, 


*) Berlag von ©. Fiſcher, Berlin. 


Notizen und Beiprehungen. 557 


verrathen den Dichter, der aber in diejer Dichtung fehlgegangen ijt! Die 
Tragif dieſes Dramas ijt wirkungslos, und zwar darum, weil wir aus 
dem abjonderlichen Einzelfall durchaus nichts allgemein Menſchliches heraus— 
fühlen können, das ung jelber trifft. Das Problem hat der Dichter jid 
allerdings zugleic, als individuelles und generelled gedacht. Denn er läßt 
jeinen Helden von ſich jelbjt behaupten: „Wie froh wäre ich, hätte ich 
meinen fHleinen Handel von jeder Berfettung löjen können! Wäre er 
mein eigen. Könnte ich ihn von der Allgemeinheit trennen, wie ich den 
Apfel, den ich ejien will, vom Baume pflüde! Aber da3 ijt Fein Kleiner 
Theil meines Leides, bei jeder Regung fühlen zu müfjen, wie jo unlösbar 
ich ins allgemeine Leben verflochten bin!“ Der Held täujcht fich über ſich 
jelbjt, wie und weil fih der Dichter über die Wirkung feined Dramas 
getäufcht hat. — — 

Geijtreih und tief ift das Problem in dem Trauerfpiel „Filippo 
Lippi“ von Eberhard König.*) Es ijt ein Nenaifjancedrama und fpielt 
in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts unter Florentiner Künſtlern. 
Zwei Maler, Filippo Lippi und Pietro Borbottone jtehen ich gegenüber. 
Lippi erjcheint al3 Kind des Glücks. Er ijt berühmt unter den Künftlern 
und geliebt von allen Frauen. Eine jtrahlende, nie verjagende Heiterkeit 
jcheint von ihm auszugehen. Die tolliten Streiche, die ein Bocaccio ver— 
arbeiten könnte, werden von ihm erzählt, um jo toller, als der glücliche 
Freund der Mujen und der Frauen auch Klarmeliterbruder und Kaplan 
ift. Bu jener Beit war in Florenz unter der Herrichaft der Medicis eben 
Vieles möglid und erlaubt. Ihm jteht Borbottone als audgejtoßener Sohn 
des Unglücks gegenüber. Er bat ald Maler feine Erfolge, obwohl oder 
vielmehr weil jeine Bilder voll brutaler Kraft und wilder Leidenſchaft 
erfüllt find. Der häßliche Mann wird von den trauen verlacht und veradhtet. 
Und doc) jehnt fich jeine Seele nad der Sonne des Ruhms und der Liebe. 
Er gilt als gewifjenlojer Schurke und als neidischer Verkleinerer alles 
Großen. Dody der Schein trügt. Lippi ijt gar nicht jo jehr der hehre 
Sonnenjüngling. Er hat eine Masfe vor und — wie er jelber erklärt — 


Geht einfam, unbelannt duch Welt und Menſchen 
Einfam! Sein Herz ijt einfam! Seine Belle 

Im jtillen Klojter kennt ihn beſſer, glaubt nur! 

Die Stunden, da er mit jich jelbit allein, 

Bei Gott dem Herrn, jind wenig neidenswerth! 

Da fludht er jeinem Stern, der tollen Miſchung 
Feindjeliger Willensfräfte in feiner Bruft, 

Die ewig gären, nimmer Frieden geben, 

Al wär's ein graufamsmüßiger Spaß des Schöpfers! 
Da ringt und betet ev — und betet doc nicht, 


*) Berlag von S. Fiſcher, Berlin. 


558 Notizen und Beſprechungen. 


Und padt fein Selbjt wie einen Widerjacher 
Mit unbarmherz’ger Fauſt verzweiflungsitarf 
Im Naden, drüdt es auf die Knie nieder, 
Befiehlt und fleht: „O glaube! glaub und bete!* 
Kajteit fein innere® Schaun: Madonnenreinheit 
Zu jehen, zu bannen in frommem Yarbenpjalm — 
Sa! Erdenweibes Schönheit findet er! 

Die ottgebärerin — die Züge trägt fie 

Der Weiber, die in jeinem Arm geruht, 

Und lächelt jpöttiih. Ins Geſicht ihr jpeit er 
Und ringt um SHerzendeinfalt, Kinderfrieden! 


So ijt er denn mit all feinem Haften und Jagen, feiner Lujt und jeiner 
Heiterkeit nichts als einer, „der in Aengſten ſucht das Glück“. Es ijt ihm 
beichieden, dieſes Glück zu finden, in Lufrezia Buti. Sie wird ihm „die 
Offenbarung, was ein Weib, ein echted, reined Weib dem Manne iſt. An 
fie flammert er ſich „mit Seelenängjten“, weil fie erlöjen ihn, entjühnen 
fol. Lippis höchſtes Glück wird Borbuttones tiefjtes Leid. Denn auch diefer 
Unglüdjelige liebt Lukrezia, der er aber nicht einmal zu nahen wagen 
darf. Borbottones Haß jchwillt über: 


Kapbudelt Alles jeiner Herrlichkeit, 

Dient Alles jeinem frechen Siegeöwillen — 

Ih mad) den tollen Tanz um den Gefrönten, 
Des Glückes Rojen in dem lod’gen Haar, 

Der wie der Jiegende Junker Frühling jtrahlt — 
Nicht mit! Er foll dran glauben! 


Borbottone überfällt Lippi meuchlingd und tödtet den vermeintlichen 
Sohn des Glücks. Nicht gewöhnlicher Neid und Heiner Haß iſt das 
Motiv: 

Mein Haß, mich deucht, ijt ewig wie die Welt, 
Naturgewollt, wie der Elemente Feindjchaft! 
Armſel'ge! Willſt du zwijchen Sturm und Fluth 
Den Hader jhüren, der ihre Seele iſt? ... 

Ha wart’! Er joll mir Rede jteh’n! — Vergehen 
Soll er vor meines Nichterblided Droh'n! 

Ihn frag’ ih aus — kann ich mit Gott nicht rechten: 
Eoll mir die Vollmacht zeigen, die er hat, 

Soll mir fein Bud, fein Soll und Haben zeigen: 
Hier der Verdienſt — und hier der Lohn: das Glüd! 


So ijt in Wahrheit Borbottone eine in tiefjtem Maße tragijche Geftalt, 
gerade wie — nur umgekehrt — jein Gegner. Zum Sclufje löſt ſich der 
Konflikt und jteigert fi die Tragif, indem Borbottone erfennen muß, daß 


Rotizen und Beiprehungen. 559 


Lippi garnicht der neidenswerthe Liebling der Gottheit war. Lippi 
befennt jterbend: 


Dir aber, Mordgejell, jet meine Rache! 

Hör’: Was dich heulen mache vor Verzweiflung! 

Dein Mord — war Irrthum! Nie war mein das Glüd! 
In ineiner Seele fraß der Unruh Feuer 

Wie in der deinen — Schmerz war mein Grfühnen, 
Grimm meine Luft, Empörung mein Genießen, 

Mein täglih Brot: Neue und Selbitverdammung. 

Irrſal mein Dafein! Und dein Irrthum, Narr, 

Log mir den Dolh ins Herz! Verzweifle dran! 

Irrthum ift Alles! O wie ich's erkenne! 

Nun möcht' ich ſteh'n auf einem hohen Berge 

Und lehren alle Welt, was ich gelernt — 

Und muß nun ſierben: es giebt kein Recht auf Glück! 


Borbottone bricht klagend an der Leiche zuſammen: 


Ich habe meinen einz'gen Freund erſchlagen! 

Nun bricht die Welt, 

Die morſche, über meinem Mörderhaupt zuſammen! ... 
Wie biſt du ſchön! Du edles Angeſicht! ... 

Ich hab' — dich je und je geliebt! Jetzt fühl' ich's, 
Du ſüßes, herzbezwingend Liebenswürdiges! 

Mein Haß war Liebe; eiſernder Sehnſucht Qual! 
Irrthum war Alles! 


Wir haben es unzweifelhaft mit einer tief gedachten, philoſophiſchen 
Dichtung zu thun, deren Charaktere groß und Far gejtaltet find und 
deren Sprache von Kraft und Wärme erfüllt iſt. Schade nur iſt es, 
daß die große Mittellinie ded3 Werkes von einer Fülle von Nebenperjonen, 
Nebenmotiven und Nebenhandlungen verwirrt wird, jo daß mir eine 
Bühnenwirkung dieſes Dramas ausgeſchloſſen erjcheint. 

Mar Lorenz. 


Memoiren einer Idealiſtin von Malwida von Meyjenbug. 
Drei Bände. Bierte Auflage. Berlag von Schuſter und Löffler, 
Berlin und Leipzig. 1899. 


Fräulein Malwida von Meyjenbug ift im Sahre 1806 ald Tochter eines 
hohen Beamten, der bald darauf leitender Minijter ſeines Heimathlandes 
wurde, in Kaſſel geboren. Sie beichließt jetzt in Rom ihren Lebensaben?. 
Die Zeit Napoleond und die Zeit Bismard3 ift an ihr vorübergezogen 
und der Strom der Zeit hat fie oft ſelbſt gepadt und mitgerifien. In 


560 Rotizen und Beiprehungen. 


der Zeit der Reaktion kam jie in gewiſſe Strömungen hinein, die damals 
als revolutionär angejehen wurden. Die Folge war, daß fie nad England 
ind Eril ging. Hier wandte jie fi) zunächſt an Kinkels, von denen fie 
mit herzlichſter Freundſchaft Hiljßbereit aufgenommen wurde. Die Lejer der 
„Jahrbücher“ wird nad) Kenntnignahme der im Auguſt- und Septemberbeft 
veröffentlihten Briefe Johanna Kinkels ficherlid folgende Schilderung 
interejfiren: „Sohanna Kinkel Hatte nicht3 in ihrem Aeußern von dem, 
wad man gewöhnlid; bei Frauen jchön oder anmuthig nennt; ihre Züge 
waren jtarf, faſt männlid, ihr Teint auffallend dunkel, ihre Geitalt 
majjiv, aber über dem Allen thronten ein Baar wunderbare dunkle Augen 
die von einer Welt von Geijt und Empfindung zeugten, und in den reichen 
Modulatıonen ihrer tiefen, vollen Stimme tönte eine Fülle des Gefühls, 
fo daß man unmöglich beim erjten Eindrud fagen konnte: „Wie häßlich ift 
dieje Frau“, jondern fagen mußte: „Welch eine bedeutende Frau! und 
weiches Glüd wird es fein, fie näher fennen zu lernen.“ — Kinkel dagegen 
war, troß aller überjtandenen Leiden, in der vollen Kraft feiner männ- 
lihen Schönheit; fein Benehmen hatte etwas Sanftes, Feines, ja Zierliches, 
dad man Sohannas jchrofferem Wejen gegenüber weiblich nennen Eonnte; 
er war höflich bis zur Galanterie, äußerjt angeregt in der Unterhaltung 
und voller Wig, dem er zumeilen abfichtlich den Anſchein der Frivolität 
geben wollte.“ — In dem Kreiſe der VBerbannten trat Fräulein von Meyſen— 
bug neben vielen Anderen, 3. B. Lothar Bucher, der fie in der Vollks— 
wirthichaft unterrichtete, bejonders Mazzini und ganz befonders deni Rujjen 
Alerander Herzen nahe. Ihn jchildert fie mit eingehenditer Liebe und 
nad) diejen Schilderungen muß er in der That ein ungewöhnlid) interejlanter 
Mann gewejen jein, „nicht® weniger als ein doftrinärer Nevolutionär. 
Er war viel zu geijtvoll, um zu glauben, daß man den lebendigen Strom 
der Geſchichte in dad Bett eined Syſtems, einer vorgefaßten Theorie 
ziwängen könne. Es mar ihm gleichgiltig, ob Monarchie oder Republik, 
vorausgejegt, daß dad Leben nicht jtagnire, daß die Wellen hoch gingen 
und das Dajein vorwärt3 trugen zu neuen Entiwidelungen.* Aus einem 
jeiner Briefe wird folgende Meinung mitgetheilt: „Die Zeit der revolutionären 
Demagogie ift vorbei. Mit jedem Tage ſehe ich klarer, daß die ganze 
Epoche der politijchen Revolutionen zu Ende iſt, geichloffen wie die Epoche 
der Rejtauration, ohne die Frage zu löſen. Iſt denn die religiöje Frage 
beendigt? Nein — aber fie intereffirt nicht mehr. Wir gehen in eine 
neue Zeit, und Alles, was diefe Herren, diefe Antediluvianer, jchreiben, ift 
Vergangened.” Mit den Antediluvianern dürften wohl Marx und jeine 
Anhänger gemeint fein. Won England begab fi Fräulein von Meyſenbug 
nad Paris. Hier traf fie mit Wagner zujammen. Dejjen Muſik umd 
Scopenhauerd Philofophie find dann für ihre jchließliche Lebensauffafjung 
bejtimmend gewejen, ohne daß jie die individualijtifchideologiihe Grund— 
ftimmung der bürgerlihen Demokratie aus der Mitte ded Jahrhunderts 


Notizen und Beiprehungen. 561 


ganz [08 geworden wäre. Doc wir follen aus diejen „Memoiren einer 
Idealiſtin“ feine Philofophie lernen. Auch darauf kommt es garnicht in 
eriter Linie an, fie als Gejchichtsquelle auf ihre größere oder geringere 
Buverläffigleit zu prüfen. Ahr Reiz iſt in erjter Linie pſychologiſcher Art, 
indem fie zeigen, wie eine kluge, tapfere und gerade Frauenjeele zu Er: 
eignifjen und Perfönlichkeiten Stellung genommen hat, die fait ein Jahr: 
hundert auszufüllen vermochten. Ein Sahrhundert im Spiegel einer 
Frauenfeele — da3 iſt der Sinn diefer drei Memoirenbände. 
Mar Lorenz. 


Nationalöfonomie. 


Die öffentliden Glüdsjpiele. Bon Dr. Rudolf Sieghart. Wien 
1899, Manzſche Buchhandlung. VII und 411 Seiten. 


Die voll3wirtbichaftlihe Behandlung der öffentlichen Glücksſpiele ift 
biöher, im Gegenjaß zu der reichhaltigen juriftiichen Literatur, über vereinzelte 
Monographien und Artikel über Spezialfragen jowie über allgemeine kritiſch— 
agitatoriihe Broſchüren nicht hinausgefommen. Erſt das vorliegende vor 
Kurzem erichienene Buch Siegharts giebt und einen volljtändige Dar— 
jtellung der Geſchichte ſowie ded Weſens und der Wirkungen dei ver- 
jchiedenen öffentlihen Glücksſpiele. 

Als Kinder der Geldwirthichaft und einer an plögliche Gewinne ges 
wöhnten Volksſtimmung find jie gegen Ausgang des Mittelalterd in den 
reichen belgischen und italienischen Handelsjtädten aufgefommen, um ſich 
von dort bald über fait alle europäijchen Länder zit verbreiten. Früh 
wurden fie den finanziellen Intereſſen der Fürſten dienjtbar gemacht, die 
fih vielfady mit allen Mitteln bemühten, die Spielleidenjchaft ihrer Unter- 
thanen fünjtlich zu erregen. Eine ganz eigenartige Rolle haben die öffent- 
lihen Glücksſpiele in Dejterreich geipielt, wo fie als wichtige Glieder in der 
Kette der merfantiliftiichen Wirthichaftspolitif auftreten. Sie jollten die 
Rapitalbildung für große induftrielle und kommerzielle Unternehmungen 
befördern und zugleid; den Abſatz der Fabrikate erleichtern; daneben dienten 
fie natürlich auch fiskaliſchen Zwecken. 

Mit der Schilderung der Entſtehungsgeſchichte der öffentlichen Glücks— 
ſpiele und ihrer wichtigen Rolle im Wirthſchaftsleben des ſiebzehnten und 
achtzehnten Jahrhunderts hat Sieghart einen ſehr werthvollen und inter— 
eſſanten Beitrag zur Kenntniß des Merkantilſyſtems und feiner Finanz- und 
Wirthſchaftspolitik geliefert. 

Nicht minder intereſſant, wenn auch natürlich in mancher Hinſicht ſchon 
Bekanntes bietend, ſind die Abſchnitte über das öſterreichiſche und italieniſche 
Zahlenlotto, die Lotterieanlehen, das Promeſſengeſchäft und die Klaſſen— 


Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heſt 3. 36 


562 Notizen und Beiprehungen. 


(otterien der einzelnen europäifchen Staaten. Sieghart ift ein entichiedener 
Gegner der öffentlichen Glücksſpiele, und er verurtheilt das Zahlenlotto wie 
die Klafjenlotterie in gleicher Weife. In der That läßt es fi) auch bei 
genauerer Betrachtung der Frage kaum bejtreiten, daß ſich die Wirkung 
der lafjenlotterie auf die unteren Volksklaſſen von der des Lotto nicht 
erheblich unterjcheidet. Frappant ift der Nachweis des Verfafjerd, daß auch 
die Gemwinnjthoffnung bei der preußischen Klafjenlotterie nicht größer ala 
beim öjterreihiichen Zahlenlotto ijt. 

Trogdem iſt Sieghart nicht für eine volljtändige Bejeitigung der 
Lotterien, da er mit Recht annimmt, daß fich der Spieltrieb des Menjchen 
dann in anderer, wahrjcheinlich noch jchädlicherer Weife Befriedigung ſchaffen 
würde. Wie unausrottbar das Spiel ijt, fieht man ja an Frankreich und 
England, wo an die Stelle der Lotterien die Wette, namentlich bei Wett: 
rennen, getreten ijt, und wo die Wettluft fi) zu einer die weitejten 
Volkskreiſe beherrichenden Leidenichaft ausgebildet hat. Sieghart ſchlägt 
deshalb ald Ausweg aus dem Dilemma eine Bereinigung von Spiel- und Spar— 
trieb nach Analogie der Lotterieanleihen vor: Der Staat joll unter Wer: 
ziht auf jede fisfalifche Ausnugung der Einrichtung eine große Sparkaſſe 
gründen, in der die Binjen ihrer Einlagen den einzelnen Einlegern nur 
zum Theil gutgejchrieben werden, während ein anderer Theil zur Bildung 
von Gewinnen benußgt wird, die unter den Mitgliedern der Sparkaſſe aus- 
gelojt werden. Eine derartige Zinjenlotterie hat übrigens ſchon Lorenz 
von Stein empfohlen, der jie ald eine Aufgabe, der Wifjenjchaft ebenio 
wiirdig wie der Verwaltung, bezeichnet. 


Die Entwidlung der deutjhen Rhederei jeit Beginn dieſes 
Jahrhunderts. Bon Mar Beterd, Doltor der Staatswiſſen— 
ſchaften. Erjter Band. Jena 1899, Guſtav Fiſcher. VIII und 
185 Geiten. 

Eine Geſchichte der deutjchen Rhederei, wie fie der Berfafjer zu 
geben beabjichtigt, fehlte bisher; der Gedanke eines ſolchen Werkes mus 
unzweifelhaft al3 jehr zeitgemäß bezeichnet werben. 

Der vorliegende I. Band, der die Entwidlung der deutjchen Rhederei 
bis zum Jahre 1850 jchildert, ift eine recht fleißige Arbeit, die aber, wie 
jo viele Erjtlingdarbeiten, häufig im ſtatiſtiſchen Detaillram jteden ge— 
blieben it. Der Berfafjer bat das augenscheinlich felbft gefühlt, und 
er ſucht deshalb in der Vorrede dad Uebermaß jtatijtiiher Daten 
mit der in diefem alle freilich recht deplazirten Redensart zu ent: 
ſchuldigen, das habe ſich nicht vermeiden lafjen, „wenn nicht an Stelle 
von Beweiſen umfontrolirbare Behauptungen treten follten.“ Es 
wäre aber im Intereſſe der Arbeit viel beijer geweſen, wenn der 


Notizen und Beiprehungen. 963 


Berfajjer die Zeit und Mühe, die er aufgewendet hat, um für jedes 
einzelne Jahr die Zahl und den Tonnengehalt der Schiffe von Wolgaft 
oder Barth x. genau zu regiftriren und zu fommentiren, dazu benußt hätte, 
einen einleitenden Ueberblid über die Entwidlung der Ahederei nad) dem 
dreißigjährigen Kriege zu geben, der — als der tiefite Einfchnitt im deutfchen 
Wirthſchaftsleben — überhaupt für alle neueren wirthichaftsgejchichtlichen 
Unterjuhungen den Ausgangspunkt bilden jollte. 

Un anderen Stellen dagegen, wo detaillirte Ausführungen gerade 
am Plage gewejen wären, verjagt der Verfaſſer. So hujcht er 3. ©. 
über die Frage ded Unterjchieds zwijchen Negijtertonnen brutto und netto 
einfach mit der oberflächlichen Bemerkung hinweg, da3 Eingehen „auf die 
Einzelheiten der fomplizirten Sciffvermefjungstechnif würde zu weit 
führen.“ Das find aber gerade Tinge, deren Darlegung man von einem 
Bud über die deutjche Ahederei mit Necht erwarten kann. 

Auf die Fortſetzung der Arbeit werden wir vermuthlich noch längere 
Zeit zu warten haben, da ihre „Weiterführung in Folge der Abreije des 
Berfafierd ind Ausland auf fpätere Zeit verichoben werden muß.“ Biel: 
leicht entſchließt fih Dr. Peterd noch zu einer gründlichen Umarbeitung 
und Kürzung des bis jet erjchienenen Theild, um uns eine volljtändige 
Geſchichte der deutichen Rhederei feit dem dreißigjährigen Kriege oder jeit 
dem Verfall der Hanja in einem handlichen Bande zu geben. 


Bei Krupp. Eine jozialpolitiiche Neijeflizze unter bejonderer Berüd- 
jichtigung der Arbeiter-Wohnungsfürjorg. Bon Dr. W. Kley. Mit 
vielen Skizzen, graphiichen Tafeln und Tabellen. Leipzig 1899, Dunder 
& Humblot. 


Der Verfaſſer jchildert zunächſt die Entwidlung des Kruppſchen 
Etablifjement3, das ſich aus den denkbar bejcheidenjten Anfängen heraus 
zum größten deutjchen indujtriellen Unternehmen entwicelt hat. Dann 
fegt er die allgemeinen Grundjäße der Kruppſchen Sozialpolitik dar, wobei 
er ſich leider jelbjt allzu jehr in den Gedanfengängen de3 patriarchalijchen 
Unternehmerthums bewegt. Zu einer ruhigen objektiven Beurtheilung der 
modernen Arbeiterbewegung hat er jich nicht aufzujchwingen vermocht; er 
behandelt fie im &egentheil in einer Tonart, die ſelbſt in den Gejchäfts- 
berichten von Unternehmer=Bereinigungen allmählid) jeltener wird. 

Sehr injtruftiv ift dagegen die Schilderung der pofitiven Leijtungen 
der Kruppſchen Sozialpolitif, die ja in der That auf dem Gebiet der 
Urbeiterfürforge dur ihre Kranken-, Penſions-, Wittwen- und Waiſen— 
kaſſen, durch ihre Konfumanftalt, ihre Schulen, ihre Sparlajje etc., vor 
Allem aber durch ihre Wohn» und Logirhäufer ganz Hervorragendes ge= 
leiftet hat. Die Wohnungsfrage wird, wie ja ſchon der Titel anzeigt, mit 


36* 


564 Notizen und Beiprehungen. 


bejonderer Ausführlichkeit behandelt, und der Verfaſſer hat überdies jeine 
Schilderungen durch Beigabe zahlreicher Abbildungen von Arbeiterwohne 
häufern anſchaulicher und lebendiger geitaltet. 

Interefjant ift, daß man in Efjen mit der Ueberlafjung der Häuſer 
zu freiem Eigenthum der Arbeiter jehr jchlechte Erfahrungen gemacht hat, 
da die Arbeiter bemüht waren, ihre Häufer durd Aufnahme möglichit 
vieler Miether rückſichtslos auszunußen, alle mögliden Um- und Aus 
bauten vornahmen und fo die fanitären und jozialpolitiichen Zwede Krupps 
in furziihtigem Egoismus vereitelten. Was Kley über diefen Punkt mit- 
theilt, erinnert, wie man jieht, jehr an die Schilderungen, die Herner in 
jeinem Bud über die oberelſäſſiſche Baummollinduftrie von der cite ouvriere 
in Mülhauſen entwirjt. Deshalb ift man in Efjen im Allgemeinen zur 
bloßen Wermiethung der Häujer übergegangen, deren vorichriftgmäßige 
Benußung durd eine gründliche Wohnungsinipektion gewährleistet wird. 
Und in der That dürfte das Miethbhaud — das ja keineswegs mit der 
Miethkaſerne identisch zu jein braucht — das den nterefjen der großen- 
theil3 ſtark fluftuirenden Anduftriearbeiterichaft am meiften dienende Syſtem 
darjtellen. 

Berlin. Paul Voigt. 





Theologie. 


Stopford U. Brooke, Glaube und Wiſſenſchaft. Reden und Aufſätze. 
In deuticher Uebertragung aus dem Englijchen von F. v. A. Mit einer 
Einleitung von Charlotte Broicher, Göttingen 1898. 

Als ich die erjte Hälfte dieſer ſechsundzwanzig Neden und Aufſätze 
gelejen hatte, jtand ich unter dem peinigenden Gefühl, daß durch meine 
verſprochene Anzeige ein jtarfer Ton des Widerſpruchs würde bindurch- 
fingen müſſen. Ganz verjtummen kann er freilich im Folgenden nicht, aber 
er wird wejentlich übertönt und gemildert durch den Ton der Zujtimmung 
und der Freude. Denn je tiefer ich mich in die zweite Hälfte des Buches 
bineinlas, dejto mehr wuchjen in mir die leßteren Empfindungen. 

Jedoch ehe ich mic dem Inhalt der Reden felbjt zumende, ein kurzes 
Wort über den Berfajjer und über die Entjtehung der vorliegenden 
Samnılung. 

Eine feinfinnige Einleitung aus der Feder der Frau Charlotte Broicher 
unterrichtet den Lejer über Broofes Perjönlichkeit. Er ijt ein englifcher 
Geijtliher von urjprünglich evangelifaler Richtung der englijchen Hochlirche. 
Aus Gewiſſensbedenken trat er aus der Kirche aus, ohne ſich einer anderen 
kirchlichen Gemeinjchaft oder Partei anzujchließen. Am nädjiten fteht er 
den Unitariern. In einer eigenen lleinen Kapelle in London predigte er 


Notizen und Beiprehungen. 565 


einer feinen Gemeinde, die mit außerordentliher Treue an ihm Hing. 
Seit 1897 hat er krankheitshalber fein Amt niedergelegt. E83 wird deutjche 
Leſer, die überhaupt für religiöjed Leben etwas übrig haben, jofort für 
Brooke interejfiren, wenn fie hören, daß er ein Shiüler oder, wie Frau 
Broicher in der Einleitung jagt, ein „Ausläufer“ von Frederik William 
Nobertion ift. Frau Broicher Hat eingehend und treffend die Verwandt: 
ſchaft und die Verfchiedenheit beider Männer dargejtellt. Darauf ſei der 
Lejer verwiejen. Nur foviel mag gejagt fein, daß Broofe ein würdiger 
Schüler jeined Meijterd ift. Er hat Geijt von feinem Geiſt. Erreicht er 
ihn auch nicht, jo jteht er doch nicht weit hinter ihm zurüd. Wer Robertſon 
fennt und liebt, wird wijjen, daß damit viel gejagt iſt. 

Die vorliegende Sammlung ijt eine, wohl vun der Ueberſetzerin ge: 
troffene, Auswahl von Reden aus den verjchiedenen Bänden der Broofe= 
jhen Sermons, die zum Theil in fiebzehnter Auflage vorliegen. Auch der 
Titel unferer Sammlung rührt wohl von der Ueberjegerin her. Die hier 
vereinigten Reden entſtammen ganz verjchiedenen Zeiten. 

Und nun die Neden jelbft! Meinen lebhajtejten Widerſpruch muß ich 
erheben gegen die vierte Rede: Die Anbetung des unperjönlichen Gottes. 
Hier wird eine Art Frömmigkeit als chriſtlich proflamirt, gegen die wir 
ald gegen eine Todfeindin des echten chrijtlihen Frommjeind mit allen 
Mitteln anfämpfen müſſen, um jo mehr, als jie in der Gegenwart eine 
jtarfe und verführeriihe Macht hat: es ijt die Aeſthetiſirung der 
hrijtlihen Religion, ihre Auflöfung in Stimmung, Empfindung, Genuß. 
Das heißt aber die Religion entfittlichen und zum Gegentheil von dem 
machen, was jie ift. Um den Künjtler mit feinem poetiſchen Pantheismus 
fürd Chriſtenthum zu gewinnen, verfichert ihm Broofe, daß jein 
Schwelgen in der Poefie der Natur chriftliche Anbetung Gottes jei. „Am 
Herzen der Natur, an dem wir erivarmen, empfinden wir das Pulſiren un— 
endlichen Lebens und freuen und, in ihm mitzuleben und zu weben. Ein 
mächtiger Strom von Schönheit, Harmonie und Freude fließt in mich über. 
Sch öffne ihm Herz und Seele und bade mid) in feinem ewigen Thau 
gefund. Die Himmel neigen ſich zu mir herab, die Erde freut ſich, daß 
ich) über fie hinjchreite und die mächtige See iſt mein. Gie Alle und 
Alles, was in ihnen lebt und wechjelt, ijt die ewig gleiche Liebe, aus der 
ich mit reiner Freude trinke, einer Freude, die jenjeit3 des jchmerzerfüllten, 
jündigen, ſturmdurchwühlten, perjönlichen Lebens Liegt, für welches ich 
eines perjönlichen Gottes bedarf. Dede Meile, die ich weiter zurücdlege, 
breitet das ewig mwechjelnde Al in neuen Formen vor mir aus, das in 
jeinen Wurzeln Eins ift. Sch wandle mich mit den Erjcheinungen und fühle 
doch ihre Einheit. An fie verloren, bin ich von meinem Sonderleben ent= 
lajtet, befreit von dem ſelbſtbewußten Berjönlichkeitsgefühl. Jeder Wind— 
bauch, jeder Blumenduft, jeder vorüberziehende Woltenjchatten iſt mir 
erfüllt von der Schönheit und Liebe des unbegrenzten Lebens, und ijt mir 


566 Notizen und Beiprehungen. 


Offenbarung des unperfönlichen Gottesweſens. Ich liebe und bete fie jegt 
an al® unperfönlih“. Sp Brooke der Poet, der Künſtler. Und eine 
ähnliche „Anbetung“ muthet er dem Naturforjcher zu, der ſich ala Theil 
der unperfönlichen „Kraft“, die dad All durchdringt, empfindet. So ver- 
(odend aber diefe Stimmung gefchildert fein mag, einen jo beraufhenden 
Genuß diefe „Erregungen“ auch bieten mögen, eine Stimmung, in der Der 
Menſch darauf ausgeht, von feinem „jelbftbewußten Perſönlichkeitsgefühl 
befreit“, „unperjönlich“ zu werden, ein „pflanzliche“ Dafein zu führen, 
ift unfittlich, verwerflich, entnervend. Damit begiebt ſich der Menſch jeiner 
Würde. Sie aber gar Anbetung Gottes, chriftlihe Anbetung zu nennen, 
ift ein Schlag ind Angeficht der gefunden chrijtlichen Frömmigkeit. Denn 
dad gerade will die chriftliche Religion leiften und leiſtet jie, daß fie mir 
das perjönliche Leben dermaßen durch ihren fittlihen Gehalt jtärkt, daß ich 
mich aller Natur ſchlechthin als überlegen fühle, daß ich mich bewußt und 
ſtark von ihr unterfcheide, daß ich allem bloß naturhaften Sein einen neuen 
perfönlichen Inhalt entgegenfege. Dies preisgeben, heißt das Chrijten- 
tum preißgeben. Und ih würde vor Broofe warnen, wäre Der 
eben Gejcdilderte der ganze Broole. Das ijt er aber nidt. Er iſt 
nicht nur idealijtiicher Pantheift. Er jteht mit feinem Herzen jogar offen 
und ehrlich zu dem perjönlidhen Gott. „Biel herrlicher als die Vor— 
jtellung einer unperjönlichen ewig wirkſamen Kraft, welche die Welt bewegt 
und fie zufammenhält, erjcheint auch meiner Vernunft die Botichaft des 
Heilandd von einem perjönlihen Water aller Menſchen.“ Dennoch hat 
Broofe — ein Zeichen, daß er ein jchlechter Theolog ift — einen ganz ges 
brochenen Gottesbegriff: „Unſere Gottesvorjtellung muß eine perjönliche 
und zugleich eine unperfönliche fein. Der Pantheismus und der perjön- 
lihe Deismus find wahr, nur fofern fie einander ergänzen.“ Zu diejer 
undurchführbaren „Ergänzung“ fommt Broofe durch eine übergroße 
Nücdfichtnahme auf die Naturwifjenichaftler. Ihnen kann ja doch Der 
Glaube an einen perjönlichen Gott nicht mehr zugemuthet werden! Ich 
geftehe, daß mir dieſe fortgeiegten Verbeugungen vor den Naturwiſſen— 
ichaftlern zumider find. Damit erreiht man aucd nicht, was man will. 
Am Gegentheil, man verliert leicht bei ihnen die volle Achtung. Gewiß 
haben wir Theologen eine ernſte VBerpfiichtung, den Schwierigfeiten nad): 
zudenfen, mit denen ein moderner Naturforicher zu kämpfen bat, um 
Ehrift zu werden, gewiß haben wir die Berpflichtung, immer deutlicher und 
ſchärfer und verftändlicher heraugzuftellen, was Chriſtenthum iſt, aber wir 
thun den Naturforfhern einen jchledhten Dienjt, wenn wir ihnen goldene 
Brüden bauen wollen, wo fie jelbjt den alten Weg, der noch immer ins 
Chriſtenthum hineingeführt hat, gehen müfjen. Diejer Weg ijt und bleibt 
allein der, daß es emem Menjchen bange wird um einen wirklichen, 
echten, bleibenden Lebensinhalt, der mehr werth ijt als Kunſt, Wiſſenſchaft 
und Lebendgenuß. Dieſen Lebensinhalt finden wir aber nicht bei eimer 


Notizen und Beiprehungen. 567 


unperjönlichen Kraft oder einem unperjönlichen Al, fondern allein bei dem 
verjönlichen Gott, den Jeſus Ehriftus feinen Vater genannt hat und den 
wir durch ihn fennen. Das weiß auch Broofe und deshalb ijt eine Ver— 
ſöhnung mit ihm möglich. 

Dennoch bin ich mit meinem Widerjpruch noch nicht zu Ende. Von 
jeinent Gotte3begriff aus fommt nämlich Brooke zu der Vorjtellung von der 
„Wiederbringung Aller.“ Den Haupteinwand dagegen, daß nämlich mit 
diejer Anjchauung die fittliche Freiheit alterirt ift, berüdjichtigt Broofe auch 
einmal, ohne ihn aber zu entkräften. Es wirft ftörend, daß dieſer wunder: 
liche Gedanke ji) wie ein rother Faden durd fait alle Neden hindurch— 
zieht und mit derjenigen Zähigkeit vertreten wird, die jich einjtellt, wenn 
Jemand in einen Gedanken verrannt ift und dagegen Widerjvruc erfährt. 
Uebrigens bat Broofe in einer Rede, jedenfall3 in einer aus früherer Zeit, 
die jehr richtige Bemerkung eingeichalten, daß es jich hierbei nicht um eine 
„teligiöje, jondern nur um eine intellektuelle Spekulation“ handle. 

Ein ganz anderer Ton, al$ in den erjten zwölf, wird in den leßten 
Reden angeichlagen. Hier theologifirt Broofe nicht mehr, hier geht er aud) 
nicht auf jeine unglüdliche Verſöhnung zwiſchen Religion und Naturwifjen- 
ihaft aus — der Titel ded Buches ift deshalb auch nur zum Theil 
rihtig —, hier behandelt er innerchriftlicye Fragen und da tritt denn 
jeine Meijterfchaft au in der jchönjten Weife zu Tage. Er iſt ein 
Meifter in der Schilderung ſeeliſcher Zuſtände; er hat dem Menjchen fein 
Geheimniß abgelaujcht. Die Schilderung der Leidenfchaft in der fünfzehnten 
Nede jucht ihre Gleichen in der Literatur. Unter unjeren deutichen Predigten 
über Luk. 9, 24: Wer fein Leben erhalten will u. j. w. werden ſich 
wenige finden, die an Tiefe und Gehalt und Wahrheit der Rede Broofes 
über diejen Text gleihfommen. Dafjelbe möchte ich von der Rede mit der 
Ueberjchrift: „Geduld und Ungeduld“ jagen über Röm. 12, 21: Laß dich 
nit das Böſe überwinden u. ſ. w. Ueberhaupt geht feine dieſer letzten 
Neden in alltäglichem Geleije. Jeder deutjche Prediger kann daraus lernen, 
veraltete, reizloje und halbwahre Gedanfengänge loszuwerden, wie jie inner= 
halb der deutjchen Predigtweiie und Literatur in Kurs gekommen find und 
gleich langweilig find für die Gemeinde wie für die Prediger jelbit. 

Nicht jchweigen fann ich von der ausgezeichneten, vollen, breit dahin- 
fliegenden Diktion, die ſich doc gänzlich von Abjonderlichkeiten und un— 
gefunden Reizmitteln frei hält. 

So möchte ic) dad Buch vor allem Theologen empfehlen, weniger Laien. 
Daß Naturwifjenichaftler dadurch gewonnen werden könnten, wie die Ein: 
leitung hofft, bezweifle ih. Dad Bud wiirde mit warmen Worten Allen, 
vor Allem den Freunden Robertjons zu empfehlen fein, wäre die Auswahl 
der Reden vorfichtiger und nach anderem Geſichtspunkte getroffen worden. 

Jena. Drews. 


568 Notizen und Beiprehungen. 


Ein jtrenger Lejer ſchickt und zu den lebten Heften folgende zwei 
Bemerkungen ein. 


I. 
Auf S. 15 des Oftoberheftes wird das jfeptiiche Sprücjlein erwähnt 


Hic liber est in quo quaerit sua dogmata quisque 
Invenit quisque sua .... 


Diefe Fafjung enthält in der zweiten Zeile einen groben metrifchen 
Fehler und auch die erjte ijt nicht richtig zitirt. Der Vers jtammt von 
dem PBrofefjor Samuel Werenfel3 in Bajel (gejt. 1790) und lautet 
nah der Neal-Enzyflopädie für Proteftantiiche Theologie 2. A. 16. 701 

Hie liber est in quo quisque sua dogmata quaerit 
Invenit et iterum dogmata quisque sua, 


Aber auch diefe Faſſung, die mit „Belanntlicdy“ eingeführt wird, iſt 
nicht die urfprünglihe. Nach Diejteld Gejchichte des Alten Tejtaments 
(S. 384) jteht dad Epigramm unter der Ueberſchrift S. Scripturae abusus 
in Bd. II S. 509 Nr. 60 feiner Opuscula und lautet: 


Hic liber est in quo sua quaerit dogmata quisque 
Invenit et pariter dogmata quisque sua. 


II. 


Etwas von den Feldteuſeln. 
(Sept.Heft. Bd. 97, 534). 

Sandvoß (Kanthippus) freut fid) daran, daß Luther die „Dämonen* 
der Vulgata mit „Feldteufel“ überjegt habe. Das fieht aus, ald ob er 
den alten Irrthum, Luther habe „ichlantweg aus der Bulgata überjegt“, 
den ich an diejer Stelle (Bd. 90, 518. 1898) ein für alle Mal glaubte aus— 
getrieben zu haben, wieder aufnehme. Wielleiht meint er es auch nur 
jo, daß er Luther damit ein bejondered Kompliment machen will, weil er 
einen jo plaſtiſch deutichen Ausdrud fand, wo die lateinische Ueberjegung 
fich mit dem ganz allgemeinen „Dämon“ begnügte. Wie dem nun aud) jei, 
die Sache verhält fich jo: 

Die Stellen, an denen die Bulgata das griechiſche daemones und 
daemonia beibehalten hat, zählen nach Dußenden, aber an feiner findet 
ſich bei Luther der Ausdrud „Feldgeiſter“ oder „Feldteufel“ als an den 
vier (3. Mofe 17, 7; 2. Chr. 11, 15; Def. 13, 21; 34, 14), wo im 
Hebräifhen das nur viermal, eben an diejen Stellen, ſich findende 
Wort sair vorfommt, womit bodögejtaltige in der Wüſte haujende 
Kobolde oder Geiſter bezeichnet werden. Un der erjten diejer Stellen wird 
ausdrücdlich verboten, denjelben „auf dem Felde“ zu opfern, und dieje 
Beitimmung wird Luther Anlaß gegeben haben, dad dunkle hebräiiche 
Wort mit dem offenbar von ihm erjt geichaffenen Ausdrud „Feld— 


Notizen und Beiprehungen. 569 


geiiter* oder „Feldteufel“ wiederzugeben, während Hieronymus an den 
beiden erjten Stellen nicht3 Befjered zu tbun wußte, als da8 unbejtimmte 
daemones und daemonia zu wählen, und an den beiden legten nad) einer 
nicht ficheren Etymologie pilosi die „Haarigen“ zu jeßen; um jo weniger 
hat Luther jeine „Feldteufel“ dort „nad der Vulgata“ verdeutjcht, in der 
fie da garnicht ftehen. Luther Hat den Ausdrud noch an einer fünften 
Stelle (5. Moſ. 32, 17) für ein gleichfall3 ſeltenes, nur zweimal vor— 
fommendes hebr. Wort (sched), für das er fi) dad zweite Mal 
(Pi. 106, 37) mit dem einfachen „Teufel“ begnügt, Der Ausdrud „Feld: 
teufel* beweift aljo ftatt Luthers Abhängigkeit von der Vulgata die Treue, 
mit der er dem hebräifchen Text folgte, und das fprahjchöpferijche 
Genie, mit dem er für ein dunkles Wort einen jo treffenden Ausdrud 
ſchuf. Selbſt ein neuerer katholiſcher Ueberſetzer wußte nichts Beſſeres 
als im Anſchluß an Luther „Waldteufel“ zu ſagen (Allioli), ein anderer 
„Feldgötter“ (Van ER). 

Laſſen wir dem Hieronymus ſeine „Haarigen“, Luther ſeine „Feld— 
teufel“, Zanthippus die Freude an ſeinem „nad; der Vulgata NB*! 

Maulbronn. Ed. Neitle. 


Theater:Korrefpondenz. 


Lejjing: Theater, Verein „Freie Bühne*: Ein Frühlingsopfer. Schau- 
ipiel in drei Aufzügen von E. v. Keyſerling. 


Oben genannte® Drama ift nicht das einzige, das ich in den legten 
Wochen gejehen habe, joll aber das einzige fein, von dem ich hier aus- 
führlicher reden will. Dieje Kürze ift darum angebracht, weil von den 
übrigen die Literatur feinen jonderlichen Gewinn gezogen hat. Das er: 
jtredt ji) zu meinem aufrichtigen Bedauern auch auf Ludwig Fuldas 
Märchenſtück „Schlaraffenland“, das im Königlichen Schaujpielhaufe ge- 
geben wurde. Es giebt Rezenjenten, und ſogar folche von Einfluß, die Fulda 
unter allen Umftänden tadeln werden. Denn jie haben ſich von einem 
dramatiichen Poeten von vornherein ein bejtimmied, übrigend garnicht 
jchlehtes oder flaches Bild gemacht, dem Fulda nun leider nicht entipricht. 
Dem gegenüber habe ich jtet3 den Standpunkt vertreten, daß der Kritiker 
ſich zunächjt möglichjt in die Eigenart des von ihm zu Eritijirenden Dichters 
zu verjenfen und diefe Eigenart mit Verſtändniß darzuftellen hat. Daß ich Das 
-auc Fulda gegenüber in weitgehenditem Maße verſucht habe, wird er mir 
jelber eingejtehen müfjen, falls er 3. B. meine früheren Ausführungen über 
jeinen „Herojtrat“ gelejen haben follte. Dem damals entworfenen Bilde 
feiner dichterischen Eigenart habe ich nichts Wejentliches hinzuzufügen. Was 
nun „Schlaraffenland“ betrifft, jo halte ich diefen Märchenſchwank für die 
ſchwächſte Dichtung, die idy von Fulda fenne. Feſtſtellen will ich aber doch, 
daß der Dichter nad jedem der eriten beiden At zweimal, nad) dem Schluß— 
akt ſogar ſechsmal von jeinem Publitum vor die Gardine gerufen ijt. — 
Leider kann ich auch nicht in die Jubelhymnen einjtimmen, die zu Ehren 
von Mar Dreyerd „Brobefandidat“ angejtimmt werden. E3 ijt zweifel- 
[08 ein Senfationserfolg, der gewiſſen, gerade in den legten Tagen ich aufs 
fällig machenden orthodoren Strömungen zu danken ijt. Als freier Mann 
nimmt Dreyer für die Freiheit der Perjönlichkeit jcharf Partei. Das ist 
jehr zu billigen. Aber Dreyer ſieht die Gegenftrömungen und Wirrnifje 


Theater-Korrefpondenz. 571 


der Welt doc) gar zu oberflächlich an. Gewiß: der Präpofitus v. Korff und 
der Öymnafialdireltor Eberhard jind feine Geijteshelden. Aber der Probe— 
fandidat Fritz Heitmann, in dem einige einen modernen Uriel Acoſta jehen wollen, 
iſt doch auch nur ein großer Flachfopf. Der künftlerifche Werth des Dramas liegt 
in den fed bingeworfenen Karikaturen der Lehrer Störmer und Benefeldt und 
des verfrachten Gutsbeſitzers Malte Heitmann. Darin jtedt Leben und Wahr: 
heit. Es find beabfichtigte Karikaturen. Aber gerade dadurchwird der ſpezifiſche 
Gehalt diejer Charaktere, ich möchte jagen: ihre Idee jo recht augenjcheinlic) 
und dramatiich wirkſam herausgearbeitet. Die Aufführung bot durd die 
Leijtungen der Herren Nittner, Reinhardt, Fiſcher und Nifjen ſchlechtweg 
Pollkommenes; die Regie — Emil Leifing — ging, im dritten Akt befonders 
— über dad Vollkommene noch Hinaus, wenn man fo fagen dürfte und 
es möglih wäre. — Mit der von den Herren dv. Wolzogen und Dlden 
gemeinjam gearbeiteten Komödie „Ein Gaſtſpiel“ Hat das Deutiche 
Theater eine volllommene Niederlage erlitten. Kaum die drei Anjtandss 
aufführungen famen zu Stande, Das Stüd ijt garnicht jo ſchlecht, wie es 
von allen Seiten gemacht wurde. ch könnte manches Lobenswerthe daran 
aufzeigen. Zu einer „Rettung“ aber ift ed mir doc wiederum nicht ge— 
baltvoll und interefjant genug. Alſo laſſen wir es ruhig jchlafen. — 
Diejelde Bühne hat danfenswerther Weije auch Wilbrandts3 „Meijter von 
Palmyra“ wieder in den Spielplan aufgenommen. Das ijt ein philo= 
fophijches Drama voll tiefften Gedantengehaltes, dem nur leider die künſt— 
leriſche Formfülle fehlt. Sch hätte wohl Luft, die Frage anzujchneiden, 
mas der Gedanke, die dee mit einem Kunſtwerk zu thun hat. Sehr viel 
— mirde ic antworten und ausführlich zu begründen juchen, mit allem 
Nahdrud, um jo mehr, ald man das heute an manchen Stellen gern be— 
jtreiten möchte. Zu diefen Stellen gehört auch der umfangreiche Band, 
den Richard M. Meyer über „die deutiche Literatur des neunzehnten Jahre 
hunderts“ joeben veröffentlicht hat. (Berlag von Georg Bondi, Berlin.) — 

Die „Freie Bühne“ hat und zur Erinnerung an ihre Begründung vor 
zehn Jahren mit einem neuen Dichter beſchenkt. E. v. Keyſerling ijt fein 
Stürmer und Dränger, aber ein dramatischer Poet von Feinheit und Tiefe. 
In jeinem „Srühlingsopfer“ bringt er ein ganz neued Milieu auf die 
Bühne: die Welt eines littauifchflavischen Bauerndorfes. Er zeigt dieje 
Welt nicht nur in ihren Weußerlichkeiten, jondern mehr in ihrer geiftigen 
Struktur, in ihrer Atmojphäre. Diefe Atmoiphäre, die hier herrichende 
Seelenſtimmung ijt bedingt durch ein heidniich aufgefaßtes und verarbeitetes 
fatholiiches Chriſtenthum. Aus diefem Milieu heraus erleidet ihr Schickſal 
Orti, eine arme, gedrücte, verfümmerte Mädchenblüthe. Sie möchte doch 
auch ihren Antheil am Lebensglüd haben. Diejed Lebensglück bedeutet hier 
aber für diefe Mädchen des Dorfes die Liebe oder auch die Liebelei mit 
den forichen jtrammen „Jungen“ im Dorf. Auch Orti aljo möchte ihren 
„ungen“ haben und dann im Liebesglücd ganz vergehen. „Vergehen“, in 


572 Thealer⸗Korreſpondenz. 


der Liebe ſich ſelbſt verlieren, ſich opfern, das iſt ja überhaupt das Weſen der 
weiblichen Liebe. Die arme, verlachte und verkümmerte Orti darf keinem Manne 
ihr Liebesopfer bringen, weil es keiner haben will. So, in Opferſtimmung aus 
Liebesgram, in Sehnſucht nad Tod und Verklärung, alſo eigentlich aus Liebes— 
jehnjucht, bejchließt fie, jich der Kungjrau Maria zu opfern, der düjtern, furcht— 
baren Mutter, die in einer jagenhaften Kapelle tief im Walde verehrt wird. 
Verſchmäht die Erde fie, vielleiht nimmt fie der Himmel gütig an. Kurz alfo: 
die geichlechtlihe Sphäre wandelt fi) in eine religiöje, oder vielmehr 
wandelt jich nicht, jondern jchlägt mit einem Ruck um. Der myſtiſche 
Zufammenhang zwiſchen dem Seruellen und Religiöfen ijt ja allgemein be- 
fannt. Es ijt das eine der merkwürdigiten Antithejen, die in der menſch— 
lihen Seele zu finden find. Dieſer Umschlag wird für Orti nun wahrhaft 
ein salto mortale, ein Todesſprung der Seele, der ihr dad Leben Eoitet. 
Das alfo it das Problem. Und hat man das Problem jo begriffen, 
dann ijt es Har, daß Orti durchaus ein dramatiiher Charakter iſt, im 
tiefiten Sinne des Worted „dramatiſch“. — Das hat man leider verfannt 
und man hat gemeint, dieſes Bühnenwerk ſei aar fein Drama, fondern 
unpafjender Weife auf die Bühne gebradte Lyrik. Es ijt wahr: das 
Ganze ift in einen gewiſſen Lyrismus getaucht. Aber das ijt doc 
natürlid. Wer den Volkscharakter jener Gegenden aud nur ein bischen 
fennt — in Berlin fennt man ihn aber naturgemäß nicht — der weiß, 
daß die Seelenregungen ſich dort Iyriich äußern, im Lied. „Dainos“ 
heißen dieje Littauifchen Volkslieder. Man wende nun aber nicht ein, daß 
dann die lyriſche Grundjtimmung naturaliftiich, weil der Wirklichkeit ent- 
iprechend, begründet jein mag, aber der dramatijchen Stimmung und 
Spannung doc ſchade. Im Gegentheil: ich bin der Ueberzeugung, daß 
die dramatiihe Spannung und Stimmung der Seele, aus der heraus ein 
Drama gedichtet wird, dem Mufikalifchen viel näher jteht als dem 
Epiihen. Ich empfinde das jede Mal beim Anhören einer Symphonie 
3. B., durch die ich jtet3 in eine dramatilchtragiihe Stimmung verjeßt 
werde. Auch hiſtoriſch ijt ja das Drama, das griechiſche wenigitens, 
aus der Muſik herausgewachſen. Das äußere Geſchehniß, das Epiſche 
im Drama iſt nur das Sekundäre, an dem die dramatiiche 
Stimmung fi gewifjermaßen objeftivirt. Der Werth einer Tragödie, 
ihr spezifisches Charakteriftifum liegt nicht im Mindejten in den 
Geſchehniſſen auf der Bühne, jondern in einer bejtimmten Stimmung und 
Schwingung der Seele. So fommt es denn auch — beiläufig bemerkt — 
daß Maeterlind echt tragifche und dramatifche Stimmungen und Wirkungen 
erzielt. 

Man hat dem Dichter des Frühlingsopferd vorgeworfen, daß er nicht 
originell fei, daß er nur nachempfinde. Orti ſei aus Hannele entitanden, 
meinten die Einen. Sa, — aber Drti ijt ein liebesreife8 Mädchen. Die 
Vermlichkeit der Lebenslage und die Sehnſucht zum Himmel theilt fie wohl 


Theater-Korrefpondenz. 973 


mit Dannele, aber nicht das jeruelle Liebedempfinden. Orti ift ein 
Charakter, mit einem individuellen Seelenproblem vom Dichter audgejtattet, 
einem Problem, aus dem ihr Scidjal wächſt. Andere haben gejagt: Orti 
erinnert an Halbes Mädchengeitalt in der „Jugend“. Aa, — aber 
Klärchen iſt nicht? als eine holde, naive Sinnlichkeit. Für Orti ift gerade 
das Umſchlagen des Seruellen ind Religiöſe ausfchlaggebend. Man 
könnte wohl jagen: Orti ijt eine Syntheje von Hannele und Klärchen. 
Darin aber läge dann fein Vorwurf mehr. Eine Syntheje ift immer 
etwas Neues und Lebensfähiges auf höherer Stufe. Am Uebrigen ijt es 
ganz ausgeſchloſſen, daß Keyierling etwa als ſcharfer Dialektifer feinen 
Eharalter verjtandesgemäß konftruirt hat. Dagegen ſpricht die einheitliche 
Grundftimmung, die dur das Ganze geht. Und diefe Stimmung jener 
heidnifchschriftlichen Dorfwelt Littauend ift ganz neu. Die Eigenart der 
Gelammtjtimmung und die Fähigkeit, ihr Ausdrud zu geben, bedingt aber 
im tiefiten Grunde die Originalität eines Dichter. So habe ich mid) denn 
ſchließlich zum Wertheidiger diejes Keyjerlingichen Erſtlingswerkes aufge— 
worfen. Doch meine Leſer wiſſen ed wohl längſt, daß ich mein Kritiker— 
amt ſo auffaſſe, wie etwa Cicero ſeinen Juriſtenberuf: mehr Vertheidiger 
als Ankläger. — Was die Darſtellung betrifft, ſo will ich lobend hervor— 
heben an erſter Stelle Marie Meyer vom Leſſing-Theater, die eine alte 
Frau in ihrer Miſchung von Heidin und Chriſtin ſehr eindringlich gab. 
Al Orti wurde Gertrud Eyjoldt, die am Schiller-Theater ein bischen im 
Berborgenen wirkt, als Künftlerin eigentlich erjt entdedt. Sie fand mit 
Recht viel Anerkennung. 


Berlin-Steglig, 24. November. Mar Lorenz. 





Politiſche Korrefpondenz. 


Die Ablehnung des Arbeitöwilligengejeßed. Sozialpolitijches, 
Weltmactpolitif und Sozialdemokratie. 

Wie von vornherein zu erwarten war, hat die zweite Leſung des 
„Entwurfs eined® Geſetzes zum Schuße des gewerbliden Arbeits— 
verhältnifjes“ mit der vollfiändigen Verwerfung der Vorlage geendet. 
Sie fand gemäß dem vor der Vertagung am 22. Juni gefaßten Bejchlufje 
des Neichdtagd, don einer Kommilfionsberathung abzujehen, am 20. No— 
vember jogleicd im Plenum jtatt und wurde in einer einzigen, etwas tumul⸗ 
tuariſchen und an Ueberrajchungen reichen Sigung zu einem jchnellen Ende 
geführt. Zuerit wurde der Antrag des ?Freiheren v. Stumm auf Kom— 
miſſionsberathung gegen die Stimmen der Konjervativen und eines Theils 
der Nationalliberalen verworfen, dann die Vorlage jelbit, für die nur die 
beiden fonjervativen Fraktionen eintraten, ohne weitere Debatten abgelehnt; 
für ihre fchärfiten Bejtinnmungen (den Zuchthausparagraphen) erhob fi 
auch von den Konſervativen nur ein Bruchtheil, nad) Zeitungsberichten nur 
etwa ein Dußend Abgeordneter. Der Vermittelungdantrag Büfing und 
Genoſſen wurde nur von den Antragitellern jelbjt, dem rechtem (nord: 
deutjchen) Flügel der Nationalliberalen, unterftügt, da die große Mehrheit 
des Hauſes fejt entichlofjen war, mit der Vorlage vollftändig reinen Tiſch 


zu machen. 
Wir glauben nicht, daß die Neichstagsmehrheit den Antrag Büjing 


für fachlich völlig verfehlt und unannehmbar gehalten hat. Denn er war 
nicht viel mehr als eine etwas jchärfere Formulierung des geltenden Rechts, 
wie e8 im $ 153 der Gewerbeordnung fejtgelegt ift; er hätte das Koali— 
tionsrecht der Arbeiter unangetajtet gelafjen, im Großen und Ganzen nur 
wirkliche und juriſtiſch Har begrenzte Ausfchreitungen getroffen, das Straf: 
minimum durch Zulafjung einer Gelditrafe erniedrigt und überdies das 
Verbot des Inverbindungtretend politiicher Vereine bejeitigt. Wir jtimmen 
ihm feineswegs in allen Einzelheiten zu; er geht und mehrfach zu weit, und 


Politifhe Korrefpondenz. 575 


namentlic) erjcheint ung feine Formulirung der Fälle, in denen das Poſtenſtehen 
als jtrafbare Drohung aufzufafjen ift, nicht gerade glücdlich; aber wir glauben 
doch, daß der Örundgedanfe dieſes Antrags wieder aufleben wird, wenn wir über 
fur; oder lang zur Verleihung der Recht3fähigfeit an die Berufsvereine, zu 
einem bejjeren Bereinsgeje und Damit überhaupt zur Erweiterung und 
Sicherung des Koalitionsrechte® kommen. Dann wird fich auch darüber 
reden laſſen, auf welche Weiſe durch genauere Formulirung des $ 153 der 
Gefahr eined Mißbrauchs des erweiterten SKoalitionsrechted, der ja un— 
zweifelhaft vorhandenen Möglichkeit terroriftiicher Einſchüchterung und 
Vergewaltigung anders gelinnnter Arbeiter durch ihre Kameraden auf der 
einen Seite, jowie ähnlichen Verfehlungen der Unternehmer und ſachlich 
nicht haltbaren juriftifchen Interpretationen auf der anderen Seite wirkſam 
zu begegnen jei.*) Eine einjeitige Verſchärfung der Strafbejtimmungen aber, 
durch die dem Arbeiter die Ausübung des ohnehin ſchon durch die Ver- 
einögejege, die Nechtiprehung und die polizeiliche Verwaltungspraxis ſtark 
eingeengten Stoalitionsrechte® noch mehr erjchwert worden wäre, hat der 
Neihdtag mit Fug und Recht abgelehnt; er hatte feine Luſt, um die 
Worte ded Abgeordneten Lieber zu brauchen, das Pferd am Schwanze 
aufzuzäumen. 

Durch die rückſichtsloſe Verwerfung der ganzen Vorlage bat die 
Mehrheit des Neichdtages mit aller Entjchiedenheit bekundet, daß jie unbe- 
dingt an dem Gedanken einer energiihen Weiterführung der Sozialreform 
auf dem Boden vollfommenjter Gleihberehtigung von Unter— 
nehmern und Arbeitern fejthält, wie fie in den kaiſerlichen Erlajjen vom 
4. Februar 1890 proflamiert worden iſt; Gejeßentwürfe, die praftiich ouf 
eine Verkümmerung diejer Gleihberechtigung hinauslaufen würden, haben 
im Neichdtag auf feine Zuftimmung zu rechnen. Das haben wir bereits 
vor einem halben Jahre an diefer Stelle betont, als die einmüthige Ver— 
urtheilung des Unternehmerabjolutismug in den Reichstagsdebatten vom 
4. und 5. Mai die volljtändige Iſolirung des Freiherrn dv. Stumm und 
jeiner Richtung deutlich gezeigt hatte; und wir haben daran damals die 
Hoffnung geknüpft, dab die verbündeten Regierungen in richtiger Er— 
fenntniß der politiihe Situation von der Einbringung der angekündigten 
Vorlage überhaupt abjehen und ji) und dem Reichstag die Nothwendigfeit 
ihrer Ablehnung eriparen würden. 

Diefer Wunſch ift nicht in Erfüllung gegangen. Die Regierung hat 
eine Niederlage erlitten, die weit jchwerer wiegt als die Ablehnung der 
Ranalvorlage; der Reichstag hat jeine Verwerfung des Entwurfs überdies 


*) Die einfahe Streihung des 8 158 eriheint uns im Intereſſe der 
Arbeiter felbjt nicht angängig; wir würden dann zu einer umfajjenden 
Anwendung der bärteren Beltimmungen des Strafgeſetzbuchs über 
Nöthigung und Drohung kommen, während man es jet gewöhnlich 
bei den milderen Strafen des $ 158 bewenden läßt. 


576 Politiſche Korrefpondenz. 


in wejentlich jchärjere Formen gekleidet als das preußiiche Abgeordneten: 
haus, und trogdem bleibt der Negierung nichts weiter übrig, als fi) mit 
würdevoller Nefignation in das Unvermeidliche zu fügen. Wir bedauern 
die jchroffe Form der Ablehnung, wir bedauern vor Allem im Intereſſe 
des Anſehens der Regierung, daß ſie ed überhaupt foweit fommen lieh. 
Es wäre mit Nüdjicht auf das neue Flottengejeß und die geſammte politifche 
Lage beſſer und klüger gewejen, wenn jie ſich zur freiwilligen Zurüdziehung 
der Vorlage entichloffen hätte, al3 fie ihre völlige Ausſichtsloſigkeit erfannt 
hatte. Thatjächlich hat auch in der Regierung eine Zeitlang die Abficht be: 
jtanden, die Vorlage ftillihweigend fallen zu lafjen; allerdings, wenn wir 
recht berichtet find, nicht durch formelle Zurüdziehung, jondern auf dem Wege 
des Schlufjes der Seſſion und einer neuen Eröffnung des Reichsſtages. Damit 
wären aber neben der Arbeitöwilligen-Borlage auch verjchiedene andere 
noch im Stadium der Kommiſſionsberathungen befindliche Gejeße be- 
jeitigt worden, darunter auch die jozialreforımerische Novelle zur Gewerbe: 
ordnung, jodaß man den Verziht auf Diejen Weg zur Erledigung der 
Borlage weiter nicht bedauern kann. 

Das wichtigſte Ergebniß der ganzen Kampagne, dad wir mit Genug- 
thuung begrüßen, iſt die offenkundige Yeititelung der jozialpolitifchen 
Wandlung, die fih in den Anſchauungen des weitaus größten Theila 
der gebildeten und bejißenden Klafjen vollzugen Hat. Wir haben dieje 
Wandlung bier ſchon mehrfach fignalifirt und auch ihre Gründe bereits 
eingehend erörtert. Die nahezu einmüthige Verurtheilung der „Zucht: 
hausvorlage* hat bewiefen, daß der Umjchwung der Anfichten noch tief: 
gehender ijt, ald wir zu hoffen gewagt hatten. Im Zentrum und bei 
den Linksliberalen hat fich feinen Augenblid ein Schwanfen gezeigt. Selbit 
der rechte (norddeutjche) Flügel der Nationalliberalen Hat über feine un: 
bedingte Ablehnung der Borlage niemald einen Zweifel gelajjen: die Be- 
jftimmungen des Antrags Büfing find von denen der Negierungsvorlage 
fundamental verjchieden. Der linke (ſüddeutſche) Flügel hat ſogar von 
vornherein die Führung im Kampfe gegen die Vorlage gehabt, und feiner 
entichiedenen Haltung, dem tiefen moralischen Eindrud, den das Auftreten 
Bafjermanns und der großen Unternehmer v. Heyl und Nöfide auf das 
gebildete Bürgertum ausgeübt Hat, ijt die unbedingte Abweilung des Ent- 
wurfs mit in erjter Linie zu danken. 

Was bier jchon nach der eriten Leſung Eonftatirt wurde, fan nad) 
der endgiltigen Entjcheidung nur nochmal8 wiederholt werden. Die jozial- 
politiihe Wandlung. die fi) in der öffentlihen Stimmung vollzieht, Hat 
ihre jchwerjte Probe glücklich bejtanden; jene Periode jozialpolitifcher 
Reaktion, die ald Nachwirkung des Sozialijtengefeged auf die hoffnungs- 
freudige Zeit des Anfangs der neunziger Juhre folgte und die Umſturz— 
vorlage, das Vereindgejep und die Arbeitswilligenvorlage gezeitigt hat, kann 
nunmehr als glüdlih überwunden gelten. 


Politifhe Korrefpondenz. 577 


In diefem Sinne, als Abſchluß einer unerfreulihen Epifode der 
deutſchen Politik, faßt auch ein großer Theil der Preſſe die Ablehnung 
der Vorlage auf. Interefjant und erfreulich ijt ed, wie leicht fich die Kreuz— 
zeitung“ mit dem Scheitern des Geſetzes abfindet; fie empfiehlt jetzt an 
feiner Stelle, al3 einen anderen Weg zum jozialen Frieden — die Vers 
allgemeinerung jener Lohnvereinbarungen, wie fie jih im Buchdrucker— 
gewerbe die Organifationen der Unternehmer und Arbeiter in der Tarif: 
gemeinschaft geichaffen haben. Man wird danach hoffen dürfen, daß Die 
„Kreuzzeitung“ auc der Erweiterung des Koalitionsredyte® und der ges 
jeglichen Anerkennung der Berufsvereine zuftimmt, da ſtarke Arbeiter- 
organijationen die unumgänglic; nothwendigen Vorbedingungen für ders 
artige Inftitutionen find. 

Wie jehr dem Reichstag neben der Zurückweiſung ungerecdhtjertigter 
Repreſſivmaßregeln aud) die pofitive Fortjührung der Sozialreform 
angelegen ift, hat er gleich in jeiner erjten Sigung anı 14. November be= 
wiejen; bei den Verhandlungen über zwei Petitionen um Erlaß eines 
Reichswohnungsgeſetzes ftimmte er mit großer Mehrheit einer 
Nefjolution des Abgeordneten Schrader zu, die den Reichskanzler auf: 
fordert, eine Kommiſſion einzujeßen, die unter der Theilnahme von Reichs— 
tagsmitgliedern eine Unterfuhung der beitehenden Wohnungsverhältnifje 
vornehmen und Borjchläge zur Bejeitigung der ermittelten Mängel 
machen joll. 

Wir wünſchen dringend, daß dieſe Rejolution nicht einfach in den 
Papierkorb ded Bundesrathg wandert. Die Wohnungsfrage ijt ein ums 
faſſendes und jehr jchwierige8 Problem, deſſen Yöfung, joweit ſie auf 
dem Wege der Gejeßgebung und Verwaltung überhaupt möglich ijt, von 
der gemeinjamen Wirkjamfeit des Reichs, der Einzeljtaaten und der 
ftädtiichen Kommunen abhängt; die Wohnungsfrage berührt die ver— 
fchiedenften Gebiete, für Deren gejeßlihe Regelung theild das Reich 
(Sanitätöpolizei, Miethrecht, Hypothefenbanfen zc.), theil3 die Einzeljtaaten 
(Baus und Straßenpolizei, Steuerverfaflung) kompetent find, während die 
Mitwirkung der Gemeinden, denen überdied gegenwärtig die ort3jtatutarijche 
Regelung zahlreicher Einzelfragen zujteht, ſelbſtverſtändlich ebenfalls nicht 
zu umgehen ijt. Jedenfalls iſt auch für die gejeßgeberijche Thätigfeit des 
Reichs in der Wohnungdfrage ein weites Feld vorhanden; e3 iſt deßhalb 
durchaus zu begrüßen, daß der Neichdtag einen hoffentlich wirkfjamen Ans 
ftoß zur legislatorischen Behandlung der Frage gegeben und ji) nicht ein= 
fach auf den ablehnenden Standpunkt gejtellt hat, die Wohnungsfrage gehe 
dad Reich nicht3 an, fie jei lediglich Sache der Einzeljtaaten. *) 








*) Hier fei auch erwähnt, daß ſich im vorigen Jahre in Frankfurt a. M. 
ein Verein „Reichswohnungsgeſetz“ unter dem Borfig des Dr. von 
Mangoldt gebildet hat, der eine rührige propagandiftiiche Thätigfeit für 
eine energifche und umfaffende Wohnungsreform entfaltet. 


Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 37 


578 Bolitifhe Korreſpondenz. 


Höchſt erfreulich ift es auch, daß die Reichstagskommiſſion bei der 
Berathung der Novelle zur Gewerbeordnung zu verjchiedenen Ver— 
bejjerungen der urjprünglichen Vorlage gefommen ift, von denen die ein- 
ftimmig angenommene gejeßlihe Einführung des Neunuhrladenſchluſſes 
die wichtigjte ift, die hoffentlich aucd; vom Plenum acceptirt werden wird; 
wir find der Anjicht, daß man auch vor der jofortigen Einführung des 
Achtuhrſchluſſes nicht hätte zurüdzufchreden brauchen, da die Unſitte über: 
trieben langer Ladenzeit in feiner Weiſe fonjervirt werden jollte. Der 
Widerjtand der Regierung in dieſer Frage ift jchwer verjtändlih; ihr 
Vorſchlag, der nur auf Einführung einer mindeftens zehnjtündigen Ruhe— 
zeit ohne obligatoriichen Ladenſchluß ging, mußte von vornherein als nicht 
hinreichend bezeichnet werden, zumal es fich bei den Angeftellten im Handels— 
gewerbe großentheil3 um Mädchen in jugendlihem Alter handelt. In 
Berlin 3. B. wiirde fich die zehnftündige Ruhezeit jchon wegen der großen 
Entfernungen zwiſchen Wohnung und Geſchäft in zahlreihen Füllen auf 
8 Stunden und weniger reduziren; rechnet man dann noch Die Zeit für 
das Abendbrot, Frühftüd. Aus- und Ankleiden ab, jo bleiben 6 bis 7 
Stunden effektiver Ruhezeit übrig, die nicht einmal zur Befriedigung des 
phyſiſchen Schlajbedürfnifjes genügen. 

Aber auch für die Regelung der großitädtiichen Wohnungsfrage iſt der 
Kampf gegen den durd) keinerlei vernünftige Gründe erheijchten jpäten Laden— 
ihluß eine dringende Nothmwendigkeit. Wie will man zu der fanitär und 
wirthichaftlich gebotenen weiträumigen Bebauung der Städte, zur Förderung 
des Wohnens in den Vororten fommen, wenn man nicht energijch gegen 
die Ausdehnung der Ladenzeit vorgeht? In der Londoner Eity ſchließen 
fajt alle Gejchäfte zwijchen 6 und 7 Uhr, in Berlin zwiſchen 8 und 11 Uhr, 
theilweife auch noch jpäter. In Berlin erleben wir jet das fonderbare 
Schaufpiel, daß ein Theil der Fabriken in die VBororte verlegt wird, während 
die Arbeiter meijt in der Stadt wohnen bleiben müfjen, da ihre in Berliner 
Ladengejchäften thätigen Töchter jeßt viel zu fpät nach Haufe fommen, als 
daß jie nah dem Vorort überjiedeln könnten. — Was im Wrbeiter-Ber- 
ſicherungsweſen geglüdt ift, ein vollftändiges, lückenlos in einander greifendes 
Syitem zu jchaffen, muß auch auf dem Boden des Arbeiterſchutzes verjucht 
werden; alle die einzelnen Maßregeln in der Indujftrie, im Handel, im 
Handwerk, im Wohnungswejen etc., müſſen zu einem einheitlichen Ganzen 
ausgebaut werden, 

Noch wichtiger find die auf Errichtung von Arbeit3fammern, auf 
eine gemeinjame Organijation von Arbeitern und Unternehmern in der Groß- 
industrie und auf Schaffung eined Reichsarbeitsamtes abzielenden Be— 
jtrebungen, die ja auch nicht mehr leere Utopien find, die jich vielmehr be- 
reit3 zu Anträgen des Zentrums, der Nationalliberalen und der Linfs- 
liberalen verdichtet haben und in die Wege formeller legislatorijcher Be- 
handlung geleitet jind. Kurz, wohin wir auch bliden, auf allen Gebieten 


Politifche Korreipondenz. 579 


der Sozialpolitif jehen wir im Reichötag, der jet im Gegenjaß zur Bismard- 
ſchen Zeit in allen wichtigen fozialpolitifchen Fragen die Führung hat, ernites 
Wollen und eifriged Streben; und ed wird nur von den verbündeten Re— 
gierungen abhängen, wie jchnell und in welder Form die Wünſche des 
Reichstags ſich in Gelege verwandeln. 
* * 
* 

Wir haben im vorigen Heft der „Preußiſchen Jahrbücher“ im Anſchluß 
an den hannoverſchen Parteitag den vollſtändigen Wandel der theoretiſchen 
Örundanjchauungen der Sozialdemokratie näher beleudhtet. Die Erörterung 
der muthmaßlichen praftiihen Konjequenzen dieſes Umſchwungs wurde 
dabei aus Äußeren Gründen vertagt ; fie jol heute nachgeholt werden, da 
uns die vorjtehenden Betrachtungen über die jozialpolitiichen Wandlungen 
im Bürgertum ſowie das Auftauchen neuer Flottenpläne von jelbjt wieder 
auf das Thema Hinleiten, das ficherlich eins der wichtigſten Probleme unjerer 
inneren Politik darftellt. 

Der Umſchwung der jozialdemokratiihen Anſchauungen kann nicht 
allein aus der fortichreitenden nationalöfonomiichen Erkenntniß, auch nicht 
allein aus dem Anſchluß anderer nichtproletarischer Schichten an die Partei 
erflärt werden; von weit größerer Bedeutung dürfte der Umſtand gewejen jein, 
daß die wachſende Gewerkjchaftsbewegung und die jtaatlihen Zwangsorganie 
jationen (Krantenfafjen, Gewerbegerichte zc.) allmählich einen ganz neuen Typus 
des ſozialdemokratiſchen Arbeiterd gefchaffen haben, der durch die praftifche 
Berwaltungsthätigfeit auf pofitive Ziele hingeleitet und den phantajtijch- 
revolutionären Träumen entfremdet worden ift. Dadurch iſt erjt der re 
volutionäre Boden gelodert und zur Aufnahme der Bernjteinichen Ideen fähig 
geworden. Da nun die Gewerkſchaftsbewegung (und neben ihr das Genoſſen— 
ſchaftsweſen) unzweifelhaft immer weiter fortjchreiten wird, da wir außerdem 
feinen Schritt auf dem Wege der Gozialreform vorwärt3 thun Fönnen, 
ohne gleichzeitig die Arbeiter zur Verwaltung ihrer Angelegenheiten ftärfer 
heranzuziehen, fo können wir mit Sicherheit auf ein bejtändiges Wadjen 
der realpolitiihen Einficht, auf eine immer jchnellere Ueberwindung des 
revolutionären Utopismus rechnen. Der Entwidelungsprozeß, in dem ſich 
die Sozialdemokratie befindet, vollzieht ſich mit innerer Nothwendigkeit, 
wenn er auch durch ungeſchickte Maßregeln der Regierung gehemmt, durch 
geichicte bejchleunigt werden kann. 

Wa3 bedeutet nun dieſe Entwidelung für die Sozialdemokratie ald 
politifhe Partei? Das ijt die Hauptfrage, die ich natürlich nur hypo— 
thetijch beantworten läßt, bei der wir und darauf bejchränfen müfjen, die 
einzelnen Entwidelungsmöglichkeiten kurz zu jkizziren. 

Zunächſt ändert ſich allmählich, wie ohne Weiteres Elar ift, die Stellung 
der Sozialdemokratie zu den übrigen Parteien ; jie haben ſchon jegt auf: 
gehört, für fie „eine einzige realtionäre Mafje“ zu jein, ebenjo wie in den 
„bürgerlichen“ Barteien die Scheu vor einem zeitweiligen Zujammengehen 

37* 


580 Politiſche Korreipondenz. 


mit der Sozialdemokratie mehr und mehr zurüdtritt. Die Orenzmauer, 
die fie von den anderen Parteien trennt, erniedrigt jih nad) und nad). 
Das ift für die Sozialdemokratie Anfangs ein Vorteil, da ihr jo leichter 
Angehörige anderer Parteien zuftrömen und fie eine Reihe von Wahl: 
erfolgen erlangen fann. Ein bleibender Gewinn wird für fie aber kaum 
daraus entjpringen, da mit der Abſchwächung der Parteigegenſätze an 
Stelle der großen prinzipiellen Differenzen die fonfreten Spezialjragen für 
die jeweilige Haltung des Wählers enticheidend werden. Das empfinden 
auch die radikalen Elemente, namentlich der alte Liebknecht, durchaus 
richtig; daher ihre heftige, aber gänzlich ausficht3lofe Oppofition gegen 
die „Verwäſſerung“ der Bartei, die an Mafje gewinne, aber an innerer Feſtig— 
teit verliere. 

Die Stärke der Sozialdemokratie beruhte früher darauf, daß fie ledigs 
[ich oder ganz überwiegend Indujtriearbeiter umfaßteund von einer einheitlichen 
revolutionären dee getragen wurde, die fie mit einer ungeheuren Be- 
geijterung und Siegeszuverſicht erfüllte. Die heutige Sozialdemokratie 
vereinigt neben den Sndujtriearbeitern große Schichten der übrigen ftädti- 
ſchen Bevölkerung, Theile des norddeutichen Landproletariats, ſüddeutſche 
Kleinbauern, nenerdings fogar oſtpreußiſche Rittergutöbefiger und ſchwäbiſche 
Paſtoren, furz die heterogeniten Elemente. Je mehr nun die dee der 
revolutionären fozialiftiihen Umgejtaltung der ganzen Gejellichaft verblaßt, 
um fo mehr wird der politiihe Radikalismus zum alleinigen Ritt der 
ganzen Partei. 

Damit wird die Sozialdemokratie auch in ihrer inneren Struftur den 
übrigen Parteien immer ähnlicher, die ja auch die verjchiedenjten jozialen 
Klaſſen in fich vereinigen und durch das Band gemeinjamer politijcher 
Keen zufammenzuhalten fuchen. Mit wie geringem Erfolge, ijt befannt: 
gelingt es doc ſelbſt dem Zentrum, das noch über den ſtarken konfeſ— 
fionellen Neifen verfügt, nicht immer, die divergirenden wirthichaftlichen 
Intereſſen im fich auszugleichen; find doch alle übrigen Parteien in zahl« 
reihen Fragen gejpalten und unter der Einwirkung der verjchiedenen wirth— 
fchaftlihen und jozialen Strömungen eigentlich in bejtändiger Umbildung 
begriffen. Auch der Sozialdemokratie wird e3 nicht gelingen, heterogene 
wirthichaftliche Intereſſen dauernd unter einer politiihen Fahne zu ver: 
einigen. 

Die Sozialdemokratie. hat in den legten Jahren in immer jtärferen 
Maße bei ihrer Agitation — neben der Abwehr von Ausnahmemaßregeln 
gegen die Arbeiter — die rein politischen GefichtSpunfte in den Vordergrund 
gejtellt, den Kampf gegen den „Militarigmnd und Marinismus, die Welt: 
macht- und Kolonialpolitif“ ſowie gegen alle neuen Steuern. Kommen die 
verbündeten Regierungen — wie wir hoffen — endlid) einmal von den ausſichts— 
lojen Plänen bloßer Repreffivmaßregeln zurüd, die die divergirenden Elemente 
der Sozialdemokratie immer wieder fejt zufammenjchließen, jo kann es nur 


Politifche Korrefponden;. 581 


eine Frage relativ furzer Zeit fein, daß die rückſichtsloſe Propaganda des 
politischen Radifalismus, die mehr und mehr das Lebendelement der heutigen 
Sozialdemokratie wird, mit den wirthichaftlichen Interefjen der Arbeiter- 
Hafje in Konflikt geräth. 

Schon jegt zieht fi) durch die Sozialdemokratie der Gegenjaß der 
politiihen und gewerkjchaftlichen Bewegung, der immer jchärfer hervortreten 
muß, je mehr fich die gewerkichaftliche Bewegung von der geiftigen Unter— 
ordnung unter die politiiche emanzipirt, je mehr fie ſich auf ihre eigenen 
Füße jtellt und ihre Eigenart frei entfaltet. Die reine Gewerkſchaftsbe— 
mwegung ſucht jtet3 alle Gewerbögenofjen ohne Rückſicht auf die Partei— 
jtelung zu gemeinfamem Vorgehen zu vereinigen. Für fie ftehen pojitive 
gejeglihe Maßregeln im Vordergrund, gleichviel von wem jie durchgeführt 
werden; ſie jtrebt deshalb danach, ſich mit allen Parteien gut zu jtellen, 
von denen jie eine Förderung erwarten fann. Finden die beruflichen 
Intereſſen der Arbeiter bei den übrigen Parteien eine energijche Vertretung, 
jo fann das nicht ohne Rüdwirkung auf ihre Stellung zur Sozialdemokratie 
fein. Daher denn auch das injtinktive Mißtrauen, mit der die politijchen 
Führer von jeher die Gewerkſchaftsbewegung betrachtet haben. Daher denn 
auch jedenfall$ der joeben veröffentlichte jozialdemokrarijche Antrag, der auf 
der einen Seite nit nur allen industriellen Arbeitern, jondern auch den 
Sandarbeitern, Dienjtboten, Seeleuten, Beamten (!) ꝛc. ein jchranfenlojes 
Streif- und Roalitionsreht verleihen, auf der andern Seite aber Unter 
nehmer, die ſich zur Ausjperrung ihrer Arbeiter vereinigen, mit Gefängniß 
bejtrafen will; ein Antrag, der an Stelle eined Ausnahmegeſetzes gegen 
Arbeiter ein Ausnahmegeſetz gegen Unternehmer jegt, dem man jofort 
ansieht, daß feinen Augenblid ernjthaft auf jeine Annahme gerechnet wird, 
der nur dazu dienen joll, alle anderen Parteien durch die Exrtravaganz 
jeiner Forderungen zu übertrumpfen, um ihre Ablehnung agitatoriich aus— 
nugen zu fünnen. Eine radifale Partei kommt ja überhaupt jehr leicht 
dazu, ihre Forderungen zum Zwed der Agitation gegen andere Parteien jo 
extrem wie nur irgend denkbar und ohne jede Rückſicht auf die Möglichkeit 
ihrer Verwirklichung zu formuliven; und dies Bejtreben trıtt naturgemäß 
um jo jtärfer hervor, je freundlicher fi) die gegneriichen Parteien zu ge— 
wijjen Forderungen jtellen. 

Der politiihe Radikalismus, namentlih der Kampf gegen den 
„Militarismus“, war für den Arbeiter etwas abjolut Selbjtverjtändliches, 
jolange ihn die revolutionären Ideen volljtändig beherricdhten, jolange vr 
im jtehenden Heer das jtärkite Bollwerk erblidte, daS den Klaſſenſtaat vor 
dem revolutionären Umjturz jchügte. Je mehr der Revolutionarismus 
verblaßt, um jo mehr verliert die prinzipielle Ablehnung des Militarismus 
ihre Bajis, um jo mehr treten die ruhigen militärifchetechniihen Er— 
wägungen über die bejte Form der Yandesvertheidigung in den Vorder— 
grund, aus denen heraus denn auch Schippel auf dem Hannoverichen 


582 Politiſche Korrefpondenz. 


Parteitag zur Bekämpfung des Milizigitemd gefommen ijt. Und es it 
ungemein charakteriftiich, daß es gerade Schippel ijt, der die Fahne des 
Aufruhrs gegen dieje Lieblingdidee des demokratischen Radikalismus zuerit 
erhoben hat; denn Schippel ift derjenige, der in feiner ganzen politijchen 
Thätigkeit jtet3 mit bejonderem Nachdruck den Standpunkt des Induſtrie— 
arbeiterd betont und jtet3 die „kleinbürgerlich-demokratiſche“ Richtung, den 
leeren politiſchen Radikalismus, aufs Schärfjte befämpft hat. 

Andererfeitd wird aber die Ablehnung aller militärischen Forderungen 
für die Sozialdemokratie als agitatorifch-politiiche Partei immer wichtiger, 
je mehr das freifinnige und demofratifche Bürgertum in feinen flügeren 
Elementen von jeiner jchroff negirenden Haltung in militärischen Fragen 
zurüdtommt. Da ein Theil des Kleinbürgerthums diefen Umſchwung nicht 
mitmachen will, geht er zur Sozialdemokratie über, deren eigentliches Ziel 
immer mehr die Bildung einer großen demokratischen Partei wird; die all: 
mähliche Zerreibung der freifinnigen und der jüddeutichen Volkspartei iſt 
die Folge diejer Entwidlung. 

Wir jeben aljo, die theoretiiche Abkehr vom revolutionären Sozialismus 
bedeutet in der praftiichen Politik die Möglichkeit eines Konflikte zwijchen 
den beiden Grundprinzipien der Partei, zwiſchen dem Arbeiterinterejje und 
dent politischen Radikalismus. 

Der Gegenjaß der beiden Prinzipien ift vorläufig noch latent, da der 
politische Radikalismus die Anſchauungen der überwiegenden Mehrheit der 
Partei noch abjolut bejtimmt. Er wird fich aber bejtändig und vermutb: 
fi ziemlich jchnell vertiefen, fobald die Regierung endgültig von ihrer 
bisherigen Politik abfommt, jobald die übrigen Parteien fich die Ver— 
tretung der beruflichen Interejjen der Arbeiter, die Kortführung der Sozial— 
reform, eifrig angelegen jein lajjen. 

Bon großem Einfluß auf die fernere Entwidlung der Sozialdemokratie 
wird jedoch außerdem die Gejtaltung unjerer Handeld- und Kolonial: 
politik jein, von der ja überhaupt Deutjchlands Zukunft abhängt, 
deren glüdlicher Fortgang eine nothwendige Vorausſetzung für die Hebung 
der breiten Maſſen des Volkes ijt. 

E3 ijt in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ ſchon öfter betont worden), 
daß die moderne Entiwidlung auf die Bildung großer geichlofiener Wirtb- 
jchaftsgebiete Hindränge; Rußland mit feinen aſiatiſchen Beſitzungen, die 
Vereinigten Staaten mit ihren neuen Kolonien, England mit jeinem folonialen 
Weltreih, Frankreich mit feinem ftattlichen überſeeiſchen Bejige: alle juchen 
fih mehr und mehr innerlich zu fonjolidiren und ſich nad) außen abzus 
jperren. Will Deutichland nicht völlig ind Hintertreffen gerathen und zu 
einer Macht zweiten Ranges herabfinten, jo muß es ebenfall3 feine wirtb- 
ſchaftliche Baſis durch Erwerbung von Kolonien erweitern, die den Leber: 


*) Bol. befonders „Deutſchland und der Weltmarlt (Bd. 91 S. 240.) 


Politiſche Korrefponbenz. 583 


ihuß jeiner Bevölkerung aufnehmen, die ihm die nöthigen Nahrungsmittel 
und Rohſtoffe liefern können und ein ſicheres Abſatzgebiet für feine Induſtrie— 
produfte darjtellen. Die Schaffung ded „größeren Deutſchland“ ift die Aufgabe 
des zwanzigiten Jahrundert3 und eine eben ſolche Nothwendigfeit fiir unjer 
rwirthichaftliches Gedeihen, wie es die Herjtellung des einigen Dentjchland 
im neunzehnten Sahrhundert war; die Rolle, die in der Vergangenheit 
damals das preußische Heer jpielte, fällt in der Zukunft der deutjchen 
Flotte zu. 

Die Nothivendigkeit kolonialen Befiged für ein großes induftrielles 
Land geben aud, die einfichtigeren Sozialiften zu. Bernjtein betont, daß 
folonialer Beſitz fi) ald Faktor der „Steigerung ded Reichthums der 
Nationen bewährt habe“; und er fährt fort: „Un diefer Steigerung hatten 
aber aud) die Arbeiter von dem Augenblick an ein nterefje, wo Koalitions— 
recht, wirkſame Schutzgeſetze und politiſches Wahlrecht fie in den Stand 
jegten, jich jteigenden Antheil an derjelben zu fichern.“ 

Die jozialdemofratijche Partei aber befämpft grundfäglich und mit aller 
Schärfe unjere Kolonialpolitit und jede Vergrößerung unferer Kriegsflotte, 
überwiegend aus politiihem Radikalismus, zum Theil jedoch auch noch aus 
der im vorigen Heft beleuchteten phantajtiichen Idee heraus, daß der Export 
durch die Untergrabung des inneren Marktes gejchaffen fei und daß e8 nur 
der jozialijtifchen Regeneration der Gejellichaft bedürfe, um alle Schwierig: 
feiten der modernen wirthichaftlihen Entwidlung zu befeitgen. 

Ihr Widerjtand gegen die Vergrößerung der Flotte muß die* Partei 
zunächſt in jcharfen Gegenja gegen die im Schiffbau und feinen aus— 
gedehnten Hilfägewerben, (namentlich in der Metallindustrie) bejchäftigten 
Arbeiter bringen; jchon bei der legten Wahl hat die Sozialdrmofratie Kiel 
und Stettin verloren und nirgends geringere Fortichritte als im rheiniſch— 
weſtfäliſchen Montanrevier gemacht. Biel wichtiger aber ift, daß die In— 
dujtriearbeiter überhaupt nicht dauernd darüber im Unflaren bleiben können, 
welche furchtbaren Gefahren für das ganze deutiche Wirthichaftäleben, 
namentlich aber für die Induſtrie, eine Niederlage zur See und eine Blodade 
in ſich birgt, welche abjolute wirthichaftliche Nothwendigkeit die Ver: 
theidigung unjerer überjeeiichen Intereſſen und die Schaffung eined aus 
gedehnten Kolonialbeſitzes iſt. 

Welche Gefahr der ſozialdemokratiſchen Partei von dieſer Seite droht, 
fühlt fie auch jelbjt ganz deutlich; ein Blid auf England, wo die dee des 
Imperialismus in der Urbeiterfchaft immer fiegreicher vordringt, zeigt 
ed ihr ja zur Genüge. Im legten Heft Nr. 7 der jozialdemofratijchen 
„Neuen Zeit* räumt anch Kautsky“) die Erfolge der imperialijtiichen dee 
offen ein; feine Ausführungen find interejjant genug, um fie in ihren 
wichtigiten Stellen wiederzugeben: 


*) In einem Artilel „der Krieg in Südafrika.“ 


584 Politifche Korreſpondenz. 


„Aber neben dem Sozialismus ift aus dem Niedergang des Mancdheiter: 
thums noch eine andere Macht erjtanden, der Imperialismus, der, ge 
tragen von den Bedürfniffen der herrichenden Klaſſen, im englischen Volke 
noch rajchere Fortichritte gemacht hat als der Sozialismus, und der heute 
das vornehmjte Mittel ijt, des letzteren Fortichritte zu hemmen. 

„Bu unferer jchmerzlichen Ueberrafchung zeigt uns die jegige Stimmung 
in England, wie sehr der Imperialismus fi) auch der Arbeiter be 
mächtigt hat. 

„Nirgends iſt das Proletariat ftärfer, nirgends eher im Stande, eine 
jelbjtändige Politif zu verfolgen und nirgends zeigt es ſich abhängiger von 
der bürgerlihen Politik al3 in England! 

Das Hat wohl feinen Grund nicht bloß in den Gewohnheiten, die es 
noch aus der goldenen Zeit des mancdhejterlichen Aufſchwungs bewahrt hat, 
jondern auch in materiellen Verhältnifien der neuejten Zeit. Mit den 
Rapitalijten vereinigt fühlen fi aud die Arbeiter Englands 
als eine bevorrechtete Klafje gegenüber der Bevöllerung der 
eroberten Gebiete. Dieje Gebiete fcheinen ihnen erſchloſſen 
niht bloß für den Unternehmungsgeift der Kapitalijten, 
fondern aud für den der überjhüjjigen Proletarier, deren 
Ubzug den heimiſchen Arbeitsmarkt entlajtet. ſie jcheinen 
ihnen geihaffen nit bloß um die Reihen noch reicher zu 
machen, jondern aub um den Armen eine Ausficht zu eröffnen 
— reich feine befjere, al3 ein Lotterieloos — reich zu werden; endlid 
erjcheint ihnen die Expan ſionspolitik als ein Mittel, die Induſtrie 
zu beleben, durd) Erweiterung nicht bloß des äußeren Marktes, 
fondern auch des inneren, danf den Kriegsrüſtungen und dank 
der Menge derer, die mit dem NRaube, den jie in den über: 
jeeifhen Beſitzungen zujammengerafft, heimfehren, die Schaaren der 
Befigenden und deren Nachfrage nad) Waaren und Dieniten zu 
vermehren.“ 

So Kar Kautsky die wirthichaftlichen Vortheile der engliichen Kolonial— 
politit auseinanderfegt, jo wenig begreift er ihre abjolute Nothwendigteit; 
er erflärt, fie fjei nur für die herrjchenden Klaſſen, nicht aber für das 
Proletariat efne Lebensfrage. „Ihm jtehen im SHinarbeiten auf Den 
Sozialismus mildere, menjchlichere und volllommnere Mittel zu Gebote, 
jeine Intereſſen zu wahren und die Gejellichaft weiter zu entwideln, als 
die kolonialen Raubzüge.“ Wie der Sozialismus den engliſchen Reichsthum 
aufrecht erhalten und fortentwideln will, wenn er feine Bafis, die politijche ° 
und fommerzielle Weltherrichaft, aufgiebt, erfahren wir leider nit. Dafür 
heißt es weiter: 

„Se mehr der Jmperialismus das Mancheſterthum zurüddrängt 
und je mehr er zur Grundlage des politifchen und fozialen Syitems wird, 
dejto mehr hängt die Entwidlung der Gejellihaft vom Erfolg der Waffen 


Politiſche Korrefponden;. 585 


ab, dejto fraftvoller muß der Militarismus in die Höhe jchiehen, diejer 
geichworene Feind der Demokratie, deito eher droht aber auch eine Nieder: 
lage im Sriege zu einer öfonomijchen Katajtrophe zu führen. Man dente 
an die Folgen eines Weltkrieges, der für England mit dem Verluſt feines 
Kolonialreiches, namentlich Indiens, endete. 

„Die dritiiche Demokratie zeigt uns heute ein Bild, das in vielen 
Punkten vergleichbar iſt dem der athenijchen Demokratie vor dem pelo— 
ponnejiihen Kriege. Hier wie dort eine große Macht der unteren Klaſſen 
im Staate, aber hier wie dort troßdem eine Ariſtokratie an der Staats— 
leitung, die durch ihre äußere Politif das Volk befriedigt. Dank feiner 
Seemadht gelang e3 Athen, fait alle Inſeln und Küſten des ägätjchen 
Meeres fich unterthan zu machen, und deren Tribute, jowie der dank jeiner 
Uebermacht mächtig aufblühende Handel lieferten die Mittel, die Ariſtokratie 
reich zu machen und doch gleichzeitig eine der damaligen Zeit entiprechende 
demofratiihe Sozialpolitit zu treiben, der Mafje des Volkes zahlreiche 
fleine Bortheile zu gewähren. Kaum ein anderes Zeitalter gewährt einen 
jo glänzenden Anblid, wie das Berikleifhe. Aber der Grimm des Unter- 
worfenen und Auögebeuteten auf der einen Seite, die Eiferſucht der von 
der reihen Beute Ausgeichlofjenen auf der anderen wuchs ſchließlich jo jtarf, 
daß er die Gegner Athens unter der Führung Spartad zu einem Kampfe 
auf Leben und Tod gegen die mächtige Seejtadt führte, die im peloponne= 
fiichen Kriege ihre jämmtlichen überjeeifhen Bejigungen verlor und zu 
völliger Nichtigkeit herabjant. 

„Ein jeder hijtorische Vergleich hinkt, jo auch diejer. Die Gejchichte 
wiederholt jich nit. Bor Allem unterjcheidet ſich das Großbritannien 
von heute dadurch von dem Athen des fünften Jahrhunderts vor unjerer 
Zeitrechnung, daß es eine mächtige Großinduftrie und ein mächtiges 
induftrielles Proletariat befißt, da8 dem Zuſammenbruch des jtaatlichen 
und gejellichaftlihen Syſtems nit ruhig zujehen würde und das die 
Kraft befigt, die Nation zu regeneriren und auf eine neue gejellichaftliche 
Baſis zu jtellen.* (!) 

Wir vermuthen, daß das engliiche Proletariat dauernd der Ueber— 
zeugung jein wird, daß es vor Allem darauf ankommt, durch Entfaltung 
der nöthigen militärischen Macht und durch Ausdehnung und innere Kon— 
jolidirung de3 Greater Britain den Zujammenbrud zu verhindern, daß 
ed dagegen zur „Jozialiftiichen Regenerirung der Gejellichaft“ nach dem 
großen Banferott nur geringes Vertrauen haben wird. Und wir geben 
und der jejten Hoffnung bin, daß auch die deutjche Arbeiterjchaft über 
fur; oder lang die wirthichaftliche Nothwendigkeit des größeren Deutſch— 
land einjehen wird. Wenn das gejchieht, wenn dag Arbeiterinterejje mit 
dem politiichen Radikalismus in dieſer fundamentalen Frage in offenen 
Konflitt geräth, muß ſich die Sozialdemokratie entiweder volljtändig innerlich 
umgejtalten oder fich auflöjen — wie es der bürgerlichen Demokratie bei 


586 Bolittyde Korrefpondenz. 


der Gründung des einigen Deutjchland ergangen iſt. Denn das Eine lehrt 
und jedes Blatt der Gejhichte, daß nur die Regierung und die Partei ſich 
dauernd behauptet, die es verjteht, dad Gejammtinterefje des Gemeinweſens 
nah außen zu wahren und zu fördern. D. 


Deutihland, Trandvaal und der Bejuh de3 Kaiſers in 
England. Die neue Flotten- Forderung. 


Mit einer in der deutichen Geichichte unerhörten Einmüthigfeit der 
Gejinnung nimmt unjer Volk in dem afrikaniſchen Kriege Partei für die 
Buren und gegen die Engländer. Es iſt nicht nöthig zu bejchreiben, wie 
man die Nachrichten vom Sriegsihauplag erwartet, als ob es fh um 
unjer eigene Heer handelte und jeden Erfolg der Buren bejubelt, jede 
Siegednadhricht der Engländer mißtrauiſch und ſpöttiſch verwirft. Wir 
find durchdrungen davon, daß es auch unjere Sade ijt, um die heute 
jenſeits des Aequators gefocdhten wird. Wenn die Engländer erjt die 
Buren verjchlungen haben, find unſere eigenen Kolonien nur noch Enklaven 
am englijhen Machtgebiet und der Traum, daß das deutiche Volk theils 
haben werde an der Weltherrichait, it zu Ende — nicht bloß für Afrika; 
allenthalben Hin wird das engliiche Selbitbemußtjein, der gejchwellte Ueber- 
muth des Siegerd ſich geltend machen und die Rivalen unterdrüden. 

Eben indem das deutſche Volk ſich mit wachſender Leidenschaft in 
ſolche Empfindungen verjenkt, ijt der deutjche Kaifer nach England gereiit 
und giebt den Engländern einen eindrudsvollen Beweis jeiner freunde 
ihaftlihen Gejinnung. Unjere offiziöfen Blätter jagen, e8 handle ſich um 
einen bloßen Familienbeſuch des Enkels bei jeiner Großmutter, der längit 
verjprocden, nicht ohne Unhöflichkeit hätte wieder abgejagt werden können. 
Die engliichen Zeitungen und die öffentlide Meinung in England wiſſen 
ed bejjer. Mit lautejter und wirklih ganz ungeheuchelter Freude und 
Begeiiterung ijt der Klaifer von ihnen aufgenoinmen worden. In den 
überjchwenglichiten Worten wird er gefeiert und umſchmeichelt. Man weit 
zu jchägen, was diefer Beſuch werth iſt. Er giebt England die Gewähr, 
daß e3 in feinem Kampf gegen die Buren — falls diejer ſich nicht gar zu 
fange binziehn jollte — nicht gejtört werden wird. Rußland oder Frankreich 
mögen an irgend einer Stelle eine Bewegung machen, der England nicht 
gleich widerjprechen fann. Das ijt nicht das Entjcheidende; das mag es 
hinnehmen und ſpäter reguliven. Das einzige Mittel, England in Afrika 
Halt zu gebieten, jo weit es nicht die Buren jelbft bejorgen, wäre das 
tontinentale Bündniß zwiſchen Rußland, Deutichland und Frankreich. Dies 
Bündniß iſt das Einzige, was die Engländer wirklid zu fürchten haben. 
Ein bloßes ruſſiſch-franzöſiſches Bündniß, auch wenn dieſes vielleicht die ge— 


Politifhe Korrefpondenz. 587 


nügende militäriiche Macht gegen England befigt, fürchten fie nicht und brauchen 
fie nicht zu fürdten. Denn mit einem neutralen Deutſchland dazwiſchen 
fommt e3 nicht zu Stande; dad würden ſich die Franzoſen niemald ge— 
trauen: fie würden immer fürchten, von uns im Rüden angegriffen zu 
werden. Darum it der pofitive fontinentale Dreibund die einzige Kom— 
bination, die England (jolange ed mit den Vereinigten Staaten einig ijt) 
zu fürdten hat, und das ijt der ungeheure Werth dieſes Kaijerbejuches, 
daß er dieje Furcht verſcheucht. Es iſt ausgeſchloſſen, daß ein ſolches 
Bündniß zu Stande kommt, jo lange der deutſche Kaifer ſolche Familien: 
bejuche in England macht. Dieje private Handlung ift ein politifches Er— 
eigniß erjten Ranges. 

Es ift nicht das erjte Mal, daß die kaiſerliche Politik fi) derart in 
den jchärfiten Gegenjab gegen die Volksſtimmung in Deutichland ſetzt. 
Mit höchſt peinlihen Empfindungen hat man ſ. 3. die gegenfeitigen 
Sreundichaftöbezeugungen zwijchen unjerem Kaiſer und dem Sultan beob- 
achtet, während diejer falten Blutes jeine chriftlihen Unterthanen zu 
Hunderttaufenden abſchlachten ließ. Mit Gewalt wurden damal3 die 
Sympathietundgebungen für die Armenier in Deutfchland unterdrüdt. Bei 
den heutigen Freundſchaftsbezeugungen für die Buren wäre das ganz un— 
möglich; aus naheliegenden Gründen jind fie noch unendlich viel jtärfer, 
und außerdem wäre ed handgreiflich ein Fehler, grade wie es bei den 
Armeniern ein Fehler geweſen ijt. 

Das iſt ja grade die Eigenthümlichkeit unferer Staatöverfaflung, daß 
bei und auch für entgegengejegte Strömungen Raum ilt, und fie fünnen 
beide im Recht und beide nüßlich jein. 

Die öffentliche Meinung ift im vollen Recht mit ihrer Sympathie für 
die Buren und ihrem Argwohn gegen die grenzenloje Herrſchſucht Englands, 
Aber welche pofitive Politik jollte aus folcher Gejinnung wohl hervor- 
gehen? 

Will die öffentliche Meinung, indem fie gegen England donnert, Die 
fontinentale Allianz? Will fie den Krieg? Wenn beides morgen proflas 
mirt würde, ich glaube, jie wäre damit einverjtanden. Aber daß ein 
Staatdmann jo leichthin diefen Weg einjchlagen fünnte oder möchte, iſt 
faum anzunehmen. Das Bindnig mit Frankreich wäre vielleiht zu Stande 
zu bringen, aber e& zu einer völlig ficheren Grundlage der Politik, jicher 
auch gegen Rückſchläge, zu machen, das wäre doch noch feine ganz leichte 
Aufgabe. Und melde Rolle würde Deutichland heute in einem großen 
Seefriege fpielen, wo es nach den Liften über elf, in’Wirklichkeit aber nur 
über ſechs, ſage ſechs, völlig brauchbare und leiſtungsfähige Linienjchiffe 
verfügt? In einem Kriege des Kontinent? gegen England würde Deutſch— 
fand nicht mehr als die Nüdendedung für die Anderen bedeuten: eine Rolle, 
die und weder zufagen würde, noch vortheilhaft wäre. 

Wenn aber feine fontinentale Allianz gegen England, dann kann es uns 


588 Bolitiſche Korrepondenz. 


auch keinen Nutzen bringen, damit zu drohen. Die Möglichkeit einer ſolchen 
Allianz iſt heute vorhanden. Das braucht man nicht zu verhehlen, im 
Gegentheil, es iſt gut, es mit aller Offenheit auszuſprechen, aber es 
wäre verkehrt, damit zu drohen, ſolange man ſie nicht wirklich in das 
Auge faßt. 

Wir wollen eine Weltmacht- und Kolonialpolitik treiben im großen 
Stil. Das ſteht feſt. Hier giebt es keinen Schritt zurück. Die ganze 
Zukunft unſeres Volkes unter den großen Nationen hängt davon ab. Wir 
können dieſe Politik aber machen ſowohl mit England als gegen England. 
Mit England — bedeutet in Frieden; gegen England bedeutet — durch 
Krieg. Mit England bedeutet, daß England uns freiwillig den genügenden 
Spielraum neben ſich gewährt. Solange es das thut, brauchen wir ihm 
nicht entgegenzutreten. Der Samoa-Vertrag zeigt, daß England wenigſtens 
in dieſem Augenblick die Situation verſteht. Der Vertrag iſt keineswegs 
beſonders günſtig für uns, er iſt nicht mehr als recht und billig; auch wir 
haben durch Abtretungen von Land und Rechten ziemlich bedeutende Kon— 
zeſſionen gemacht. Es iſt ein Vertrag zwiſchen zwei Mächten, die ſich 
einander gleich ſchätzen. Bisher hat England das kaum gethan und brauchte 
ed auch nicyt, denn was jind wir auf dem Meer? Uber eine Großmacht 
wirft auch da, wo ihre Kanonen nicht unmittelbar hinreihen. Der Kaiſer— 
lihe Bejuch war den Engländern mandes Linienſchiff werth. Wahrlich, 
diefer Samoa-Bertrag war für England fein ſchlechtes Geſchäft. 

Sollen wir aber nun die Buren zu Grunde gehen lafjen, um abzu= 
warten, wie die Engländer nachher mit und umgehen werden ? Eine ge- 
wichtige Frage. Aber find wir in der Lage, einen Krieg zu führen, um 
die Buren zu retten? Wenn wir die Engländer bloß bedrohten, und 
nicht bloß die öffentlide Meinung, jondern auch die Diplomatie jich un— 
freundlich zu ihnen jtellte, jo würde das den Buren wenig helfen, die 
politiihe Stellung Deutichlands aber in der Weltpolitik wejentlid ver— 
ſchlechtern. Es bleibt und nichts übrig, ald unter Wahrung der jtriften 
Neutralität die Buren ſich jelbjt und ihrer Tapferkeit zu überlafjen, und 
wenn wir für uns jelber jogar aus der bejcheidenen Stimmung, in der ſich 
zur Zeit die britiichen Staatdmänner befinden, gewifje Vortheile ziehen, 
die zur Befejtigung unferer foloniolen Weltjtellung dienen, jo iſt das fein 
Unrecht gegen die Buren, jondern wird in Zukunft einmal ihnen jelber zu 
Gute fommen. Denn jelbit wenn fie jegt unterliegen jollten, jo find jie 
damit noch keineswegs todt und abgethan. Das holländiiche Element in 
Südafrita wird nod) lange jeine Lebenskraft bewahren und auch in zus 
künftigen Welt-Konflikten noch einmal eine Rolle fpielen, die es wieder nad) 
oben führen mag. Sit es heute Deutjchland, das aus dem Kriegsmuth der 
Buren Gewinn zieht, jo wird einjt der Tag kommen, wo das jtarfe, jee= 
mächtige Deutjchland den Afrifandern Hilft. 

* 


* 


* 


Bolitiihe Korrefpondenz. 989 


In dem Vorſtehenden ift eigentlich bereit3 Alles enthalten, was über 
und für die neue Flottenvorlage, um die fich in diefem Augenblid die innere 
Politik Deutjchlands dreht, gejagt werden fann. Es iſt erflärt, weshalb die 
neue Forderung mit jolcher Plöglichkeit aufgetreten ift, nachdem erjt vor 
zwei Sahren ein Flotten-Serennat gejchaffen worden, das alle Theile be- 
friedigte. Es iſt auch erklärt, weshalb plöglic in allen Theilen des Volks 
das Verſtändniß für diejes nationale Bedürfniß jo Har und kräftig geworden 
iſt. Schon heute unterliegt es gar feinem Zweifel mehr, daß die Forderung in 
irgend einer annehmbaren Form vom Reichstag gut geheißen werden wird. 
An der Wählerichaft der opponirenden Barteien, im Zentrum, im Freifinn, 
bis in die Neihen der Sozialdemokratie hinein ijt eine jo ftarfe Stimmung 
dafür, daß die Abgeordneten garnicht im Stande fein werden, mit irgend 
welchen taftijchen Finefjen lange daran herumzuhantiren, und umgefehrt bei 
den Konjervativen, wo die agrariiche Wählerfchaft in ihrer Mißſtimmung 
vielleicht Schwierigkeiten machen könnte, da find die Führer, die Abgeord- 
neten flug genug, um zu willen, daß fie in einer ſolchen Frage feine 
DOppofition treiben dürfen. Man mag ja der Regierung bormwerfen, daß 
fie ſich mit feierlihen Worten auf jechd Jahre gebunden Habe und nun 
ihr Verſprechen nicht halte. Aber diefer Vorwurf ijt doch bloß ein for- 
maler. Gewiß zeigt ſich eine Huge Politik darin, daß fie die fommenden 
Dinge vorausfieht. Aber auch bei dem jcharfichtigiten Staatsmanne ijt 
dieje VBorausficht immer nur eine relative und beſchränkte. Zuweilen ijt 
die Schnelligkeit einer hiſtoriſchen Entwidelung jo rapide, daß fie jede 
Vorausſicht überholt, und das ijt hier der Fall. Niemand fann wilien, 
wohin jchon binnen einem Jahr diefer Burenkrieg die Weltgejchichte geführt 
haben wird. Sei ed nun, daß England jiege oder daß es unterliege, in 
beiden Fällen müſſen die Wirkungen unermeßlih fein. Nur wenn 
es noch zu einem Kompromiß, ungefähr auf dem status quo ante 
fommt, wird die Weltpolitit auf leidlich ebener Bahn, ohne uns 
mittelbare große Erichütterungen weiter rollen können. Das verfteht heute 
Jedermann und wirkt auf unjere ganze Bolitif zurüd. Die herzerquidende 
Entichlojjenheit, mit der der Reichstag dem Grafen Poſadowsky die Zucht: 
haus-Vorlage vor die Füße geworfen hat, hat ficherlid eine Quelle ihrer 
Kraft gerade in der Flotten- Bewegung: das Zentrum iſt bereits innerlic) 
entichlojjen, die Vorlage zu bewilligen und das gute Gewifien, hier der 
patriotiſchen Pflicht voll zu genügen, bejlügelte jeinen Entjchluß, in der 
Zuchthaus-Vorlage der Regierung nicht nur zu widerjprechen, jondern 
fie durch die Art der Ablehnung geradezu zu mißhandeln. So bedauerlich 
der Borgang dom Standpunkt des Autorität3-Prinzips iſt, jo muß die 
Freude doch überwiegen, indem jich die Hoffnung daran fnüpft, daß die 
Regierung ihn fic zur Yehre dienen lajjen und fich endlich von der unjeligen 
Scharfmacher-Politik, die nun jchon jeit fünf Jahren Deutjchland in Ver— 
wirrung jeßt, loslöjen werde. 


590 Politische Korreſpondenz. 


Eine befondere Luſt und Freude ift es heute nicht, in Preußen zu 
leben. Maßregelungen, Abjegungen und Strafverfolgungen, wo man binhört. 
Majejtätöbeleidigungd:Prozejie, grober Unfug, Disziplinar-Unterjuchungen, 
die früher für unmöglich gegolten hätten. Bei jolchem Regiment im 
Innern ijt es nicht leicht, die Menge zu der freudigen, opferwilligen 
Stimmung binzureißen, derer man für große nationale Unternehmungen 
bedarf. Aber wer jich frei machen will von den unangenehmen Eindrüden 
der Gegenwart, der werfe einen Blid in die Vergangenheit und er wird 
Troft finden. Siebzig Jahre iſt es her, da die hanjeatiichen Kauffahrer 
vergeblich bei England, Holland, Dänemark, Schweden bettelten, ihnen Schuß 
zu gewähren gegen die maurifchen Seeräuber, die vom Mittelmeer bis in die 
Nordjee jtreiften. Der deutiche Bund, Preußen und Oeſterreich waren nicht 
in der Lage, den deutichen Kaufmann zu ſchützen, auch wenn fie gerollt hätten. 
Selbjt über Tribut-Zahlungen an die Barbaredfen-Deys verhandelten die 
Hamburger, um frei über das Meer fahren zu dürfen. Fünfzig Jahre it 
es her, daß darauf die erjten deutſchen Kriegsichiffe auf dem Meere er: 
fchienen und Lord Palmerſton erklärte, er werde fie als Seeräuber be- 
handeln, denn fie gehörten feiner anerkannten Maht — mit Recht: denn 
wer war die „Deutiche Zentralgewalt“ in Frankfurt, die diefe Schiffe aus- 
ſandte? Die Deutichen hatten eine Flotte, aber feinen Herrn dazu. Co 
fam fie unter den Hammer. Yünfunddreißig Jahre ijt es her, feit das 
Kleine Dänemark den beiden verbündeten deutichen Großmädten ein volles 
halbes Jahr Widerjtand leisten konnte, weil es ein Panzerſchiff beſaß. 

E3 ift doch anderd geworden in Deutichland. E3 fehlt noch viel, daß 
wir nad außen und innen einen bdeutichen Staat haben, wie wir ihn 
wiünjchen müſſen, aber wenn es Kaiſer Wilhelm II. gelingt, eine volls 
werthige deutjche Kriegsflotte zu jchaffen, jo werden zukünftige Generationen 
rücdblidend über alle die Eleinen Wergerlichkeiten, die und heute kränken und 
drücen, jehr leicht binmweggehen. Dad darf man in den Kämpfen des 
Tages feinen Augenblid vergeſſen. Die Scharjmacherei auf der einen, die 
Verhetzung der Mafjen auf der anderen Seite mag ung heute verjtimmen. 
Der idealijtiiche Grundzug des deutichen Weſens, der der freien geijtigen 
Bewegung bedarf, ijt zweifellos in Gefahr. Von oben wird ein jteigender 
Druck geübt, von unten ijt man an der Arbeit, den Idealismus 
in Fanatismus oder Begehrlichkeit umzujegen. Da heißt e3, tapfer bleiben 
in der Oppofition nad) allen Seiten, damit das alte hehre Ziel eines zu— 
gleich mächtigen und freien Deutjchland, von dem uns BVerblendung und 
Leidenſchaft immer wieder abtreiben, doch feinen Uugenblid und den Augen 
verloren werde. 

26. 11. 99. D. 


Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu- 
gegangen, verzeichnen wir: 


Liebe, Georg. — Der Soldat in der deutschen Vergangenheit. Leipzig, Eugen Diederichs. 

Lutz, Robert. — Kuhnle-Dreyfus, 31 $, Stuttgart, R. Lutz. 

Mancke, Dr. W. — Der Verein Berliner Getreide- u, Produkten-Händler und seine 
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Matthaei, Prof. Dr. Adalbert. — Deutsche Baukunst im Mittelalter. 155 S. Leipzig, 
B. G. Teubner. 

Meinecke, F. — Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. Zweiter 
Band. Preis geheftet 12 Mark. Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nach- 
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Mollwo, Ludwig. — Hans Karl von Winterfeld. Oktav. 26885. München u, Leipzig 
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Moltkes Kriegsgeschichtliche Arbeiten. Kritische Aufsätze zur Geschichte der Feld- 
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Pfungst, Arthur. — Laskaris. 8, Aufl. 2352 S. M. 240. Berlin, Ferd. Dümmler. 

Phelps-Euchler, W. — Ein eigenartiges Leben im Dienste des Herrn. 4925. M. 4. 
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Pierantoni, Dr. A. — Die Fortschritte des Völkerrechts im XIX. Jahrhundert. 1328, 
M. 3. Berlin, Franz Vahlen. 

Priester, Dr. Oskar. — Die Deportation. Ein modernes Strafmittel. 1028. M. 2. 
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Stier-Somlo, Fritz. — Aus der Tiefe. Gedichte. 45 S. M. 1. Berlin-Paris, Joh, 
Sassenbach, 

Tatarinof, Eugen. — Die Schlacht bei Dornach 14%, 64 S. Preis 15 Rappen. Basel, 
Emil Birkhäuser. 

Thörsch, Dr. Berthold. — Deutschnationale Politik. 88. Pf. Wien, Leopold Weiss, 

Vierordt, Heinrich. — Neue Balladen. 2, Aufl. 1268. M.8. Heidelberg, Karl Winter. 

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E. Plon, Nourtit et Cie. 


s7/ 


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dunkle Phönomengebiet der Magie. Oktav. 188. — Die Stubenweisen unserer Zeit. 
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schaft vornehmlich unter dem Fürsten Ludwig zu Anhalt-Cöthen. Oktav. 135 
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von Juraschek. Frankfurt a. M., Heinrich Keller. 

Huch Rudolf. — Mehr Goethe. 170 S. Leipzig und Berlin, Heinrich Meyer. 

Jungbrunnen. 12 Bündchen, 12 M., einzeln je 125 M. 1. Der Bärenhäuter. — Die 
sieben Schwaben. 2. Des weyland Nürnberger Handwerkmeisters Hans Sachsens 
lustige Schwänke. 38. Liebe, Lied und Lenz. 25 deutsche Volkslieder. Berlin W,, 
Fischer & Franke. 

Kaemmel, Otto. — Kritische Studien zu Fürst Bismarks Gedanken und Erinnerungen. 
107 8, Leipzig, Fr. Wilh. Grunow. 

Kampfschulte, F. W. — Johann Calvin seine Kirche und sein Staat in Genf. Oktav. 
2 Bd. M.8& Leipzig, Duncker & Humblot. 

Keibel, Dr. R. — Die Schlacht von Hohenfiiedberg. Oktav. XIX. 482 S, mit 2 Karten. 
Berlin, A. Bath, 

Kiener, Dr. F. — Verfassungsgeschichte der Provence seit der Östgothenherrschaft bis 
zur Errichtung der Konsulate (510—1200). Leipzig, Dyksche Buchhandlung. 

Kleinpaul, Dr. Rudolf. — Wie heisst der Hund? Internationales Hundenamenbuch. 
8S. M.1. Leipzig, Verlag von H. Schmidt & C. Günther. 

Kulemann, W. — Die Gewerkschaftsbewegung. Oktav. XXIL 78058. M.10, Jena, 
Gustav Fischer. 

Kutzen, Prof. Dr. J. — Das deutsche Land. 902 S. 8. 10 M. Breslau, Ferd. Hirt. 
Lettow-YVorbeck, Oscar v,„ Oberst a. D. — Der Krieg von 1806 u. 1807. Erster Band, 
Jena u. Auerstedt. Zweite Aufiage. 449 S. 8. Berlin, E, S. Mittler u. Sohn, 
Leuss, Hans. — Humancs Homo! Verse. (2838S.) M.3,50. Berlin, 1889. Joh. Sassenbach, 
Lichtenwark, Alfred, — Palastfenster une Flügelthür. $, (XIL 181 S.) M. 8. Berlin. 

Bruno u. Paul Cassirer. 

Lindenberg, Paul. — Um die Erde in Wort und Bild. I. Bd, &. (48685.) M.6, geb 
M.8, Berlin, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchh. 

Lloyd, J. M. — Etidorhpa oder das Ende der Erde. 9. Zwei Bände, mit vielen 
Illustrationen. M. 8. Leipzig, Wilhelm Friedrich. 

Maync, Dr. R. — Der Discont. (132 S.) M. 8.50. Jena, Gustav Fischer. 

Meinecke, Friedr. Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. 2 Bd, 
600 8. 8. Stuttgart, J. G. Cetta, 

Mengs, Georg. — Karen. Eine Sylter Geschichte. j182 S. M. 1.50. Halle a. S. Otto 
Hendel. 

Dem neuen Jahrhundert. — Musenalmanach Berliner Studenten f. d. J. 1900. 252 8. 
Berlin, Herm. Walther. 

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M. 2,60. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. 


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Tübingen, J. C, B. Mohr (Siebeck). ” 


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tiven Philosophie. 8, (2128) M. 8.— Wien. Wilh. Braumüiller. 

Walcker, Dr. karl. — Öesterreichs evangelische Bewegung und sein Staatsinteresse. 
(61 S) 60 Pf. Göttingen, Franz Wunder. 

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gesellschaft für Literatur und Kunst. 


le Se tar von. — Im Goldnetz. Sahauspiel in fünf Aufzügen. Leipzig, 

sw utze. 

Windelband, Wilh, — Platon. (Fromanns Klassiker der Philosophie IX). 10 8. M. 2 
Stuttgart, Fr. Fromann. 

Zenker. E.von, — Die Gesellschaft. I. Band, Oktav. 282S, M.6. Berlin, Georg Reimer, 


Manujfripte werden erbeten unter der Adreſſe des Heraus» 
geber3, Berlin- Charlottenburg, Snejebeditr. 30. 

Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entjcheidung 
über die Aufnahme eine Aufſatzes immer erjt auf Grund einer jachlichen 
Prüfung erfolgt. 

Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite des Papierd ges 
ſchrieben, paginirt fein und einen breiten Rand haben. 


NRezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbuchhandlung, 
Dorotheenftr. 72/74, einzujchiden. 


Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück, 
Berlin - Charlottenburg, Knesebeckstr. 30, 

Verlag von Georg Stilke, Berlin NW., Dorotheen-Strasse 72/74. 

Druck von J.S.Preuss, Berlin SW., Kommandantenstr. 14. 





Biliner Sauerbrunn! 


1 — * Hervorragender Korkbrand. 
» Repräsentant der 
alkalischen (Natron) 


Quellen 
wirl bei gichtischen Ab- 


Ingerungen. Magen-, Nieren- und Blasenleiden, — uch 


bei Dinbetes von Aerzten aller Kulturländer vielfach ve x 
ordnet. Bosonders als prophylaktisches Mittel zegan alle « 


Verdauungs#system, die Nieren, Galle- und Biasenfunktionen 1 


störenden Einflüsse zu empfehlen. 


Wohlschmeckendes, ungenelimes | st Wein rei 


»omischt zu riehmen 

In Flaschen circa 12W gı rer ISO ar ı HT gr. enthaltend 
beil Flasch. zu 70 PT.. zu 50 PrY.. zu 40 Pf. 
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und in allen Apotheken und Droge rien erhältlich. ,oors 
Piaschen werden a 2%/, Pf. pro Stück zurlickgenommen. 


ı Biliner Sanerbrunn 


re = Bilin 


(Biliner Verdauungszeltehen) 
bewän - ügliches Mittel bei Sodhrennen, Magenkrampf, Blähsmcht 
und en her Verdauu: Marxenkatäarrhen, wirken überraschend bei 
Verdanunesstörungen im kindlichen Oreanismms 
Marens- ld D 


3 


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Brunnen-Direetion in Bilin (Böhmen). 
\ | 








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r Regulirung des St sels 
Bei  Feilleibigkeit, Be ‚hen Obs 
"Bei | Hamorrhoidalleiden 
„Als besonders geeignet zu empfe 


u 


Tr u Dr. LANCEREAUX, 


nn de erklärte um 2) 2 


‚ Gerade dieses Wasser eignet s chi 
‚Fur die Behandlung chronischer Veı 
‚Verdient eine Ausnahmestellung 5 
„in der hydrologischen Therapeutik, 


EIGENTÄUMERIN UND BRUNNENDIRBE 


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ern. Drogistenen 


er-Haundlern 





Bellini 


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Digtized by. Google 
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