Preussische
Jahrbücher
Rudolf Haym,
Heinrich von
Treitschke., ...
Harvard College Librarv
FROM THE BEQUEST OF
MRS. ANNE E. P. SEVER.
OF BOSTON,
Wınow OF CoL, JAMES WARREN SEVER,
(Class of 1817)
10 X — 16 Sec 1899
Digitized by Google
Digitized by Google
Preußiſche Jahrbücher.
Herausgegeben
Hans Delbrüchk.
Achtundneunzigſter Band.
Oktober bis Dezember 1899.
Berlin
Verlag von Georg Stilke.
1899.
) “ ww — —— RP,
hear Yun
Inhaltsverzeichniß
98. Bandes der „Preußiſchen Jahrbücher‘.
Aufſũtze.
Blum, H., Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Südſeeinſeler
Brauſewetter, A., Beſprechung von W. Beyſchlag, Zur deuiſch⸗chrift.
lichen Bildung
Cauer, P., Beſprechung von Wenzel, Der Zodestampf des aitſprachlichen
Gymnafialunterrihts . .
—,— Beiprehung von A. Wernide, Die mathemeiifä- "naturwiffenfdaft-
lihen Forderungen in ihrer Stellung zum modernen Humanismus
— ,— Beiprehung von J. . — das er a Prima
verlieren? . ;
—,— Beiprehung von a Riedier, Unfre Hodfäulen. und bie An
forderungen des XX. Jahrhunderis . .
—,.— Befprehung von U. Riedler, Die — bohhuln und > ie
wifſſenſchaftlichen Beftrebungen . ; r
Conrad, H., Die neuefte Shafipere-Riteratur
Daniels, E, Memoiren der Gräfin Potoda —— ER THESE
Delbrüd, H. Auffifh-Polen . . . .
Drews, Belprehung von St. B. Brooke, Glaube und Bifenfäat
Gallwitz, H., Bom deutſchen Gott Me i
GleichenRußwurm, 4. Frh. v., Die pflicht zur Schönheit.
Gothein, M., Shelley i 5
darnad, D., Zu Goethes gundertundfänfgigftem Geburt ;
derrmann, D., Voltaire als Friedensvermittler
Rellen, T. Der Maffenvertrieb der Bolßgliteratur .
Külpe, D., Die äfthetifche Gerechtigkeit . ;
IV Anbaltsverzeihriß.
De M., Der Individualismus in der Hauptfritik
— „— Belprehung von H. Böhlau, BUND, :
— „— Theaterlorreipondenz —F
—, — Theaterkorreſpondenz
— ,— Buchdramen. : ;
—, — Beiprehung von M. v. . Megfenbug, | Remoiren euer cal i
— ,— Zheaterlorrefponden . . .» » - 5 Ei
Reftle, E., Zwei Bemerlungen
Neuberg, 8., Hildesheimer Kunft . .
Nohrbad, P., Sven Hedins und Landors Reifen. in "Onnerafen
Sandovoß, F., Beiprehung von J. W. Nagl und 9%. Zeidler, —
Deſterreichiſche Literaturgeſchichte 1.—14. Lieferung
—,„— Beſprechung von 2. Geiger, Goethe⸗Jahrbuch
— ,— Beſprechung von J. Vogel, Goethes Leipziger Studentenjahre.
—,— Beiprehung von M. Meyer, Goethe i
— ,— Beiprehung von R. Edart, Allgemeine Sammlung niederbeutfeger
Näthiel . £
— „— Beiprehung von 2. ãhnhewdi Boltsthämliches aus dem m Ron:
reih Sadjen . i ; ;
—,„— Beiprehung von F. Söhns, Unfere Bilanzen 5 .
—, — Belprehung von J. W. Bruinier, Das deutſche Voltslied
—,— Beſprechung von A. Seidel, —— aus der — Volls-
literatur . .
Sell, 8, Die wifenföaftihen Aufgaben einer rGeſchichte der Sriftligen
Religion
Boigt, P., Befpreung. von D. Stifid, Die englide Agrarkrifis, ihre Aus.
dehnung, Urſachen und Heilmittel
— „— Beſprechung von W. Roſcher (W. Stieda) Nationaldtonomie des.
Handels und Gemerbfleißes f
— ,— Beiprehung von M. Gantor, voiuuie Arithmetit * die
Arithmetik des täglihen Lebens.
— ,— Beiprehung von K. Balder, Geſchichte ber Rationalöfonomie
und der Sozialismus . u
— ,— Beiprehung von R. Siegbart, Die öffentlichen Slüdsfpiele
— ,— Beiprehung von M. Peters, Die Entwidelung der ae Nhede-
rei jeit Beginn diefes Jahrhunderts. I, . F RR
— ,„— Beiprehung von ®. Kley, Bei Krupp .
Wendland, B., Element i .
Wirth, A, Die Lage in Indien und Iran .
Beiprodene Werte.
Adamus, F, Familie Wawroch .
Asbadh, J. Darf das Gymnafium feine Brime verlieren ?
Bieberftein, D. v., Memoiren der Gräfin Potoda
161
162
163
561
562
5683
123
417
551
340
216
Inpaltsverzeihniß.
Blum, $., Neu⸗Guinea und der Bismarlardipel
Böhlau, H., Halbtiehr! . . . . .
Brandl, A, Schlegel-⸗Tieckſche Ghaftipenrerüicherjehung, neue Ausgabe
Broglie, Herzog v., Voltaire avant et pendant la guerre de sept ans
Broote,-&t. A., Glaube und Wiſſenſchaft ; — RR
Beyſchlag, W., Zur deutfhechriftlihen Bildung
Bruinier, J. W., Das deutſche Volkslied
Bultbaupt, Shalipere . . .
Cantor, M. Politiſche Arithmelik ER die Aritpmetit des täglien Lebens
Dähnhardt, D., Volfethümliches aus dem Königreih Sahfen . . «
Edart, R.,- Allgemeine Sammlung — —
Faber, H., Ein glüdlides Baar . ; ;
Geiger, 2., Goethe⸗Jahrbuch :
Hauptmann, ®., Das Friedengfeft .
Hedin, S., Durd Aſiens Wüſte
Ibſen, H., Baumeifter Solnch . i
Keyjerling, €. v. Ein ————
Kley, W., Bei Krupp . ;
König, 6. Filippo Lippi . —F
Kranemitier, F. Michel Gais zmayr er
Laehr, H., Darjtelung franthafter Geifteßzuflände i in Shatipers —
Landor, H. S., Auf verbotenen Wegen
Lee, S., A Life of W. .
Meyer, M., Goethe
Meyjenbug, M. v., Memoiren einer - gbealiftin
Ragl u. Zeidler, Deutſch- Defterreihifche Siteraturgefchichte
Peters, M., Die Entwidelung der deutſchen Rhederei feit en a
Jahrhunderts. I. . .
Pfeil, Graf J. Studien und Beobahtungen ans der Suͤdſee
Richter, H., Percy Byſſhe Shelley
Riedler, U., Unjere an und die Anforderungen des xx Jahı-
hunderts 0 ;
— — Dietehnifhen dochſchuien — ihre wiſſenſchafllichen Beftrebungen
Rof her, ®., (Stieda) Nationalölonomie des Handels und —
Servaes, F., Präludien .
Seidel, A., Anthologie aus der afatifhen Boltsliteratur
Sieghart, R., Die öffentlihen Glüdsfpiele . . . - F
Söhns, F., Unſere Pflanzen . .
Stillich, D., Die engliſche Agrar, ie Ausdehnung, Unfagen ı mb
Heilmittel . i .
Strauß, €, Ton Pedro —
Stryienski, C. Mémoires de la Comtesse Potocke ES
Bogel, J., Goethes Leipziger Studentenjahre i
Balder, 8., Geſchichte der Nationalölonomie und des Sozialismus
Wenzel, Der Todestampf des altſprachlichen GymnafialeUnterrichtes
Bernide, 9, Die mathematiſch-naturwiſſenſchaftlichen ae in
ihrer Stellung zum modernen Humanismus . . oo.
216
514
163
310
340
VI Inhaltsverzeichniß.
Politiſche Korreſpondenz.
Die Bagdad⸗Eiſenbahn. Paul Rohrbach.
Die Maßregelung der Beamten Abgeordneten Transvaal. Die Binde
logie des Dreyfus-Prozeſſes. D
Aus Defterreih. ) . »
Der Sozialdemokratiſche Parteitag in Bannover. 8.
Der Ausbruch des ſüdafrikaniſchen Kriege8 D. » » 2 2 2 200.
Die Ablehnung des Arbeilswilligen-Geſetzes. Sozialpolitifches. Welt»
madhtpolitit und Sozialdemokratie ®. .
Deutfhland, Transvaal und der Beſuch bes Raifers ie England Die
neue Flottenforderung. ®.. - .» U 35
heologi — Bonn;
— einer Be ber
onus in Dresten:
ibertrieb der Voltstiteratur
ndland, Kilmersdort bei Berlin:
— bei Berlin:
* — in der Kunſilritik
(Rorifegung fiche Anmenfeite
4 -
Ericheint jeden Monat.
Hährlid 6 M. — Eingellieft 2 u, 50 Pr.
be ehren durch alle Buchhandlungen und ——
⏑ ————————
— —
#,%
Berlin
*
2 RB
| Berlag von Georg Stil
“
-
-
-
reset
3u Goethes Hundertfünfzigften Geburtstag.
Nede, gehalten zu Darmitadt
von
Prof. Dr. O. Harnad.
Deutjchland jühnt in diefen Tagen eine fünfzigjährige Schuld.
As im Jahre 1849 fich der Tag zum hundertitenmal jährte, da
Deutjchlands größter Dichter zur Welt fam, wurde die Gedächtniß-
feter mit weit weniger Antheilnahme, mit weit geringerer Begeifterung
begangen als der Name Goethe es fordern durfte. Alles war von
dem leidenjchaftlichen politischen Treiben eingenommen, in dem ein
jo großer Theil deutjcher Geiftes: und Willenskraft fich damals er:
tolglo8 abarbeitete und deſſen einzelne Phaſen man in ihrer Be-
deutung bei Weiten überjchäßte. Politische Leidenjchaft, ſowohl
im bejiegten Liberalismus wie in der ‚vordringenden Reaktion, er:
füllte alle Welt, und Niemand ſchwor höher als zur Fahne der
„Partei.” In diefem Getriebe fonnte die Erinnerung Goethes
nicht Gejtalt gewinnen, des Genius, der jelbjt ſich nie in heftige
Tagesfämpfe eingelaſſen, der den Blid jtetS unerjchüttert auf das
Dauernde, unverändert Werthvolle gerichtet hielt, der ſich davon
nicht abziehen lajjen wollte, gemäß jeinem furz abweifenden Wort:
„Warum mic feine Zeitung freut?
Ich liebe fie nicht; fie dienen der Zeit.”
Um jo mehr it nun jegt der Anlaß ergriffen worden,
um nachzuholen, was vor fünfzig Jahren verjäumt wurde.
Deutſchland hat welthiftorische Ereignifje inzwifchen erlebt, und fich
eine Form des Dajeins gegeben, in der es ſich befriedigt fühlt und
der es Dauer wünjcht. Es vermag ſich heute mit freiem Herzen
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL £eft 1. 1
2 Zu Goethes Gundertfünfzigftem Geburtstag.
und flarem Geijt jeiner großen geijtigen Beſitzthümer zu freuen, und
vor Allem des Mannes, der jeit mehr ala einem Jahrhundert in
der gejammten Sulturwelt als die höchjte Verförperung Ddeutjchen
Geiſteslebens gefeiert wird.
Einen mächtigen Aufſchwung hat in den letzten Jahrzehnten
die Verehrung Goethes und das Studium jeiner Werfe gewonnen.
Meimar und Frankfurt find die Hauptitätten diejer Aeußerungen;
aber in allen deutjchen Landen wird fortdauernd eine gewaltige Summe
geiftiger SKraff auf die Erforjchung Goethes verwandt. Und das
Ausland wetteifert darin mit uns; bejonders Frankreich, England,
Nordamerifa liefert wertvolle Mitarbeit; überhaupt fein Kulturvolt
iſt daran unbetheiligt.
Die Nothwendigfeit, jo eindringende Arbeit auf die alljeitige
Erfenntnig von Goethes Geijtesleben zu wenden, it freilich zum
Theil durch die Art und Weije gefordert, wie er jelbjt jich der Welt
gezeigt oder auch verhüllt hat. Wohl fein hervorragender Schrift:
jteller hat jolche Gleichgiltigkeit dagegen bewiejen, wie er von der
Welt aufgenommen und gewürdigt werde, wohl Steiner hat jo wenig
danach geitrebt, ſich ins rechte Licht zu jtellen, Durch die Anordnung
jeiner Schriften den Zugang zu erleichtern und ein Totalbild jeines
MWejens zu gewähren. Er vollendete jeine Werfe mit größter fünjt-
lerijcher Sorgfalt; waren jie aber vollendet, jo warf er jie gleichjam
auf den Markt, ohne fic) um ihr weiteres Schidjal zu befümmern.
Wie er vom Bublifum jeiner Zeit dachte, hat er jelbit in der Frage
und Antwort ausgejprochen:
„Warum erflärft du's nicht? und läßt fie gehn!“
„Geht's mich denn an, wenn fie midy nicht verſtehn?“
Aber auf die dauernde Wirkung feines Schaffens vertraute
er um jo mehr: wer der Nachwelt gefallen wolle, ſprach er aus,
dürfe nicht der Mitwelt zu Gefallen leben. Und jelbjt Liebes:
gedichten, den Erzeugnijjen froher, rajch verraufchter Stunden, gab
er den Wunjch mit:
„Alem ift Die Zeit verderblich,
Sie erhalten fi) allein;
Jede Zeile fol unjterblich,
Ewig wie die Liebe fein!“
Wer jo über die Gegenwart hinausblidte, der lebte natürlich
zugleich auch in der Vergangenheit; der betrachtete Mberhaupt die
Welt und ihre Entwidlung unter dem Gejichtspunft einer großen
Einheit, in der die winzige Spanne, die er jelber durchlebte, nur
| Zu Goethes Hundertfünfzigftem Geburtstag. 3
von untergeordneter Bedeutung war. In diefem Sinne war Goethe
vor Allem die Betrachtung der Natur ein Hohes Anliegen und
hoher Genuß. In dem fortwährenden Leben, Vergehen, Neu-Sich—
erzeugen der Natur jah er jene große, im Stern unübermwindliche,
nur in Erjcheinungsformen wechjelnde, ewige Sraft, in der er jich
jelber als mitwirfend fühlte. „Natur“, ruft er aus, „sie jchafft
ewig neue Gejtalten; was da iſt war noch nie, was war fommt
nicht wieder, Alles it neu, und doch immer das Alte .......
Ste baut immer und zerjtört immer, und ihre Werkſtätte iſt un-
zugänglich!” Troß diejer legten Worte jucht Goethe doch in der
Arbeit feines ganzen Lebens in die Tiefen der Natur einzudringen.
Seine Tagebücher laffen uns erfennen, mit welch unermüdlichem
Eifer er jich den Naturjtudien hingegeben hat. Unter der unend-
lichen Fülle der Bejchäftigungen Goethes iſt die Naturforjchung die,
die er am fonjequenteiten betrieben hat, und die ihm am meijten
unentbehrlich) war. Der dichterijchen Thätigfeit gab er fich nur in
gewifien günjtigen Stimmungen hin, wenn die poetiiche Ader ihm
voll und leicht jtrömte; die Bejchäftigung mit der Natur begleitete
ihn von einem Tage zum andern. Bon den anorganischen Grund:
lagen des Lebens ging jie aus; mineralogische und geologijche
Unterfuchungen waren ihm eine notwendige Würze jeder Neije.
Sie erhob ſich zum vergleichenden Studium der Pflanzenformen,
ihres einheitlichen Urjprungs und ihrer Umbildungen, endlich zur ver:
gleichend anatomischen Betrachtung der Thierwelt, um überall nach
den großen, unveränderlichen Gejeten zu juchen, die in der Fülle der
Einzelerjcheinungen zu Tage treten. Sie drang über die Schranfe
unſeres Erdballs hinaus in feinen Studien über die Licht: und
‚sarbenerjcheinungen und in jeinen meteorologischen Betrachtungen,
und fand ihre lebte Befriedigung im Anjchauen des gejtirnten
Himmels. Mit begeiltertem Empfinden alle Einzeleindrüde zujammen:
faſſend, ruft der Dichter aus:
Wenn im Unendliden Daſſelbe,
Sich wiederholend, ewig fließt,
Das taujendfältige Gewölbe
Sid fräftig in einander ſchließt,
Strömt Lebensluft aus allen Dingen,
Dem Heinften wie dem größten Stern,
ud alles Drängen, alles Ringen
Iſt ewige Ruh' in Gott dem Herrn.“
Auf der Grundlage diejer Naturbetrachtung erhob jich nun
jeine Erfenntniß und Würdigung der Menjchheit, ihrer Entwidlung,
1*
4 Zu Goethes bundertfünfzigfiem Geburtstag.
ihres Werdens und Vergehen, ihrer allmählichen Steigerung, bis
zur Entfaltung aller von der Natur in fie gelegten Kräfte.
Aber wenn Goethes Naturfinn fich in immer gleicher Weije fund
giebt, jo hat jeine Stellung zur menschlichen Gejellichaft jich in
wechjelnden Phaſen entwidelt, und jein eigenes Leben hat dadurd)
in feinen verjchiedenen Zeiten ein durchaus verjchiedenes Gepräge
erhalten. Wir jehen ihn in feiner Jugend naturfräftig der Gegen-
wart leben, in jeinem Mannesalter ſich mit bewußtem Wollen der
Vergangenheit zuwenden, als Greis mit jeherifcher Ahnung
in die Zufunft jchauen.
Mit welch’ gewaltigem Feuer hat ſich der junge Goethe in die
Bewegung gejtürzt, welche al$ „Sturm und Drang“ jeine litera-
riichen Beitgenojjen mit ſich riß! Im jener Bewegung, die im
gejellichaftlichen Leben wie im künſtleriſchen Schaffen gegen alles
drüdende Formelweſen jich aufbäumte, fonnte er die ganze Gewalt
jeine8 Genius, die ganze Schaffensfraft rüdhaltlos bethätigen. Er
lebte im Gefühl, einem glüdlichen, einem jchönen Zeitalter anzu—
gehören, und von der Anerkennung, der gleichen Gefinnung jeiner
Zeitgenofjen getragen zu jein. Die jungen Schriftjteller, wie Lenz,
Klinger, Stolberg, jcharten jich um ihn, ältere, wie Lavater oder
Herder, jahen in ihm die hoffnungsvolle Kraft, von der nicht zu
Berechnendes erwartet werden müfje. Ein überjcharfer Stritifer, wie
Merd, jah in Goethe doc, die Genialität, die in ihren höchiten
Aeußerungen aller Kritif entwachjen jei. Freilich — wenn wir
jet zurüdbliden, wie wenig Dauer haben dieſe Verhältniſſe
gehabt, in deren Gegenwart damals der junge Dichter jchwelgte!
Wie jchnell entwuch$ er der Umgebung, wie weit blieb jie hinter
ihm zurüd! Aber wozu brauchte er auch die Umgebung! Er hatte
ja die ganze Welt für ſich. Mit jeinem „Götz von Berlichingen“
hatte er Deutjchland erobert, mit „Werther Leiden‘ eroberte er
thatjächlich die Welt. In alle Erdtheile drang dies Buch, das
jelbjt ein Napoleon noch immer von Neuem gelejen hat. Die
Gegenwart, die ihm jo huldigte, mußte wohl den jungen Dichter
mit jich reißen. So war denn auch jein Auftreten: kühn, fieges-
gewiß, lebens und liedesfroh, aber nicht bedrücend für die Um—
gebung, jondern erfrijchend und erhebend, weil die Dankbarkeit für
das glücliche Schickſalsloos überall hin von "m ausjtrahlte.
Ueberreich jind die Zeugnifje für den überwältigenden Eindrud
jeines Wejens: „Vom Wirbel bis zur Zeche Genie, Kraft und Stärke,
ein Herz voll Gefühl, ein Geiſt voll Feuer mit Adlerflügeln.“
Zu Goethes Hundertfünfzigftem Geburtstag. 5
Eine wunderbare Charafterijtif hat in neidlojer Freude der bedeutend
ältere Wieland in glänzenden Berjen gegeben; er jchildert den
Dichter als Improvijator:
D melde Geſchichten, welche Szenen
Ließ er vor unfern Augen erfichn!
Wir wähnten nicht zu hören, zu fehn —
Bir fahn! Wer malt wie er fo ſchön
Und immer ohne zu verfhönen? ....
Dod wie? was fag’ ih malen? Er fchafft
Mit wahrer innerer Schöpfungstraft
Erjhafft er Menſchen, fie atmen, fie leben,
In ihren innerſten Faſern ift Zeben.
Bie flogen die Stunden
Durch unferes Zauberer Runft vorbei,
Und wenn wir dadten, wir hätten® gefunden
Und was er fei nun ganz empfunden,
Wie ward er auf einmal wieder neu!
Entfhlüpfte plögli dem fatten Blid
Und fam in andrer Geftalt zurüd
Lich neue Reize fih vor uns entfalten,
Und jede der taufendfahen Geſtalten
So ungezwungen, fo völlig fein,
Man mußte fie für die wahre halten.
Rahm unſere Herzen in jeder ein —
Schien felber nichts davon zu jehen,
Und wie er immer glänzend und groß,
Rings um fih Wärme und Licht ergo,
Sih nur um feine Achſe zu drehn.“
E3 war jchon in Weimar, daß Wieland diejen gewaltigen
Eindrud von Goethe empfing. In anderem Sinne wie in der
Vaterjtadt lebt Goethe auch hier zuerjt derG&egenwart. Aus dem bloß
literarischen Leben, von der fchließlich zum Uebermaß angeipannten
geiltigen Produktivität it er gern dem freundjchaftlichen Ruf des
Herzogd nad) der Heinen Reſidenzſtadt gefolgt, und läßt gerne
hier ganz andere Bilder des Lebens auf jich einwirfen, feine Welt:
fenntniß erweitern. Aber es bleibt nicht beim Beobachten; die
Zuneigung Carl Auguſts weiß den Dichter allmählich auch jelbit
für die thätige Mitwirkung zu gewinnen. Aus dem genialen Gajt
des Herzogs wird allmählich dejjen gewijjenhafter Diener, der fich
nur durch den kühnen Idealismus feiner Grundſätze von den
gewohnheitsmichig die Gejchäfte führenden Beamten unterjcheidet.
Alle Zweige der Verwaltung des kleinen Landes lernt er fennen;
in allen will er die humanen Ideen des Zeitalters der Aufklärung
zur Öeltung bringen. Den Herzog jelbjt will er von allem weit
6 Zu Goethes humdertfünfzigitem Geburtstag.
und Hoc) jtrebenden Ehrgeiz abziehen und nur auf die gewiſſen—
baftejte Sorgfalt für das Wohl aller, vor Allem der niedrigiten
jeiner Unterthanen einjchränfen. Obgleich durchaus nicht völlig
einverjtanden, jtellt der Herzog ihn endlich an die Spite der Ver:
waltung und vier Jahre lang leitet der Dichter in wahrer Siſyphus—
arbeit die Gejchäfte des Landes, nach Idealen, die er jelbjt mehr
und mehr für unerfüllbar erfennt. Er fühlt, daß er jich einem
Beruf aufopfert, in dem niemals das wirkliche Ziel jeines Lebens
gefunden werden fann.
Aber unter diejen ihn drüdenden Verhältnijjen reift nun aud)
der entjcheidendjte Entjichluß jeines LYebens. Er erfennt, daß er
ſich jelbjt und jein Schaffen nie wird zu der Höhe fteigern fünnen,
die ihm jelber vorjchwebt, jo lange er mit dem Strom des
(iterarifchen oder des politiichen Lebens geht; er fühlt, daß er jich
ganz und gar von der Umgebung losreigen, ſich ganz und gar auf
jeine eigenen Füße jtellen muß. Und das thut er mit jeiner plöglichen
Reife nach Italien, die fajt wie eine Flucht ins Werk gejegt wird
und dann Sich zu einem anderthalbjährigen Aufenthalt ausdehnt.
Und von diefem Zeitpunkt an wendet er feinen Blid von der
Gegenwart ab, und richtet ihn abfichtlich und Fonjequent auf Die
Bergangenheit. Es iſt das klaſſiſche Altertum, das er vor
Allem in Italien jucht, in dem er heimijch werden will, in dem
er jegt die ihm gemäße Form der Menjchheitsentwiclung findet.
Was bedeutet das, und wie erflärt es ſich? Goethe war doc)
jicherlich nicht zur Verſenkung in gelehrte hiſtoriſche oder philo—
logische Studien gejchaffen. Selbjtzwed waren jolche Studien für
ihn nicht. Es war vor Allem der Drang, fich durch dieje Ver:
tiefung in das griechijche und römische Alterthum eine fejte Grund:
lage für die eigene geiftige Exiſtenz zu jchaffen, einen unverbrüchlich
giltigen, unangreifbaren Standpunkt, von dem aus er die wechjeln-
den Erjcheinungen des Lebens betrachten und beurtheilen fonnte.
Er entnimmt die Maßſtäbe und die Triebfedern jeines Handelns
dem klaſſiſchen Altertum und joviel e8 möglich, jucht er feiner
Umgebung und auch jeinem praftijchen Wirfen, 3. B. der Theater:
leitung, diefen Stempel aufzuprägen. Eine großartige, ſtets Die
entfernteiten Gefchichtsepochen mit einander verfnüpfende Betrach-
tung entjpricht dieſem Standpunkt, vor der alle wechjelnden Moden
des Tages völlig zu Nichts zufammenfchrumpfen. Der Aufenthalt
in Rom eröffnet ihm zuerſt diefen welthiftorijchen Bid. „Wenn
man jo eine Erijtenz anfieht‘‘, jchreibt er an jeine Freunde, „Die
Zu Goethes bundertfünfzigftem Geburtstag. 7
zweitaujend Jahre und darüber alt it, durch den Wechjel der
Zeiten jo mannigfaltig und von Grund aus verändert und doch
noch derjelbe Boden, derjelbe Berg, ja oft Ddiejelbe Säule und
Mauer, und im Bolfe noch die Spuren des alten Charafters, jo
wird man ein Mitgenojje der großen Rathſchlüſſe des
Schickſals“ . . . . „Mir ward bet diejem Umgang das Gefühl,
der Begriff, die Anjchauung defjer, was man im höchiten Sinne
die Gegenwart des Elajjischen Bodens nennen dürfte. ch nenne
dies die jinnlich geiftige Ueberzeugung, daß hier das Große war,
iſt und jein wird." In dieſer Schätzung des Bleibenden,
Dauernden, in dem Gegenwart, Bergangenheit und Zufunft in
eins fließen, findet er jett jeine Befriedigung. Dem gemäß läßt
er jich, nach Deutjchland zurüdgefehrt, von allem Zwang der
Antheilnahme an den Gejchäften des Tages entlajten; der Herzog
gewährt ihm die Freiheit, nur in den Dingen thätig einzugreifen,
welche ihm perjönlich) werthvoll erjcheinen. Und Goethe beginnt
nun um jeine Berjon in Weimar eine ganze Reihe von Kräften,
Einrichtungen, Schöpfungen zu jammeln und zu gruppiren, die diejen
Ort zu dem erheben, was er noch heute iſt, zur klaſſiſchen Stätte
Deutſchlands. Literatur, Theater, bildende Kunſt zieht Goethe in
diejen Streis; jein Hauptmitarbeiter wird Schiller. Die erſte Folge diejes
Handelns ift eine Entfremdung zwijchen ihm und dem Publikum;
der Dichter der „Iphigenie und des Taſſo“ ift nicht mehr populär.
Aber das kümmert ihn nicht; er fchafft nicht für den Augenblid.
Und wenn er in einem Werf, in „Hermann und Dorothea“,
durch die eigenthümliche Verfchmelzung von Antifem und Modernem
auch eine jchnelle, glänzende Wirkung auf das Publikum erreicht
bat, jo hatte er fie doch durchaus nicht erjtrebt. Dabei hatte er
jeine Zurüdziehung von der Tageswelt damals an den größten
Ereignifjen zu erproben. Die franzöfiiche Nevolution erfüllte auch
in Deutjchland alle Köpfe und Herzen mit Erregung und Leiden-
Ihaft. Goethe wurde von ihr innerlich nicht ergriffen und empfand
jie bloß als Störung der organischen Entwiclung.
„Franzthum drängt in Diefen verworrenen Tagen, wie ehmals
Lutherthum es gethan, ruhige Bildung zurüd.”
Und je härter fich die Ereignifje der Außenwelt aufdrängten,
defto willensfräsfiyer ſchloß er fich in den Kreis feiner ruhigen
Bildung ein. Nach der Schlacht bei Jena verfiel Weimar der
Plünderung; Goethe gerieth jelbjt in Lebensgefahr; allgemeine
Auflöfung herrichte rings umher; die Erijtenz des ganzen Herzog-
8 Zu Goethes hundertfünfzigſtem Geburtstag.
thums war in Frage gejtellt. Aber jchon acht Tage nad) der
Schlacht verzeichnet Goethes Tagebuch: „Verſchiedene Aufſätze ge:
ſchrieben“ und drei Tage jpäter ift er jchon wieder mit der Durd;
fiht der neuen Ausgabe jeiner Werfe bejchäftigt. Im weitern
Verlauf diejer Zeit ward jeine Beſchäftigung mit dem Flafjijchen
Altertfum weniger eifrig, aber nur weil ihn noch ferner Liegendes
angezogen hatte; er wandte ich jegt der orientalischen, vor Allem
der Arabiichen und Perſiſchen Dichtung und Weltanjchauung zu.
Und als fich die Schwierigfeit und Peinlichfeit der Lage immer
mehr jteigert, im Jahre 1813, als Sachjen-Weimar noch als
Rheinbunditaat auf Seiten Napoleons jtand, während die allge
meinen Sympatbhien fich jchon zu den Verbündeten hinneigten, da
war ihm in diejen Konflikten die Verjenfung in jene orientalijche
Sphäre das koſtbarſte Heilmittel zur Erhaltung jeiner Geiftes- und
Seelenruhe.
Erſt nachdem die Wirren der Zeit ihren Abjchluß gefunden
hatten, jehen wir Goethe wieder hervortreten, und zwar nun wieder
mit voller Theilnahme, mit vollem Interejje an der Entwidlung
und den Fortjchritten des neuen Jahrhunderts. Das Feſtſpiel
„Des Epimenides Erwachen“, mit dem er die Befreiung Deutjchlands
feiert, bezeichnet darin den Umjchwung. Wie Epimenides wendet
er fich erwachend wieder der Wirklichkeit zu; aber auch wie diejer
fonnte er von fich jagen:
„Run aber joll mein Geift enibrennen,
In ferne Zeiten auszufhaun‘.
Daß die Art und Weije der Befreiung zu einem bedrüdenden
Uebergewicht Rußlands in Deutjchland führen werde, jah er jorgen-
voll voraus. Und diejenigen irrten, die da meinten, Goethe werde
ji) jegt dem Parteileben, das jogleich nad) den Befreiungsfriegen
lebhaft erwachte, hingeben. Der ind Greijenalter getretene Dichter
wurde jeßt zum Seher, der mit weiterem Blick, mit Flarerer Voraus:
ficht die Dinge überjchaute als die Zeitgenofjen, und der deshalb
ji feinem Schlagworte fügen, auch jet nicht in die Kämpfe des
Tages eingreifen konnte. Er lebte nun, da er die Keime der neuen
Zeit erfannt hatte, in der Zufunft. Manche Anfeindung hatte
er auch jet wegen dieſer vornehmen Stellung zu erdulden; im
Ganzen aber wurde fie ehrfurchtsvoll reſpektirt. Goethe hatte id)
wenige Jahre zuvor durch die Veröffentlichung des erjten Theils
des Fauſt, wo er es gewagt, die höchjten Probleme aufzuwerfen,
deren Löſung nun die Welt mit Spannung von ihm erwartete,
Zu Goethes hundertfünfzigſtem Geburtstag. 9
ein Anjehen errungen, das jchlechthin unvergleichlicy war. Nicht
nur in Deutjchland, jondern unter allen Kulturvölfern feierte man
ihn als den „Patriarchen“ der Dichtung, der Literatur überhaupt.
Er jelbjt jah darin ein Unterpfand der fünftig immer mehr zu er:
reichenden geiltigen Einheit der Literatur aller Kulturvölfer, die
er als die Weltliteratur bezeichnete. Im Uebrigen war er ſich
freilich dejjen völlig bewußt, daß das neunzehnte Jahrhundert fein
(iterarifches jein werde. Scharf erfannte er jchon aus den eriten
Anzeichen den großen Gegenjag zwiſchen dem geijtig gerichteten
achtzehnten und dem praktisch gerichteten neunzehnten Jahrhundert.
Die weltumwälzende Bedeutung der neuen Erfindungen erfannte
er, als jie faum noch gelungen waren. „Reichthum und Schnellig-
feit“, ſchrieb er jchon 1825, „it was die Welt bewundert und wonad)
jeder jtrebt. Eijenbahnen, Dampfjchiffe und alle möglichen Facılitäten
der Kommunifation find es, worauf die gebildete Welt ausgeht....
Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeit—
jtrudel fortgerifjen. . . . alles ijt jegt ultra... . alles transzendirt
unaufhaltjam ..... von reiner Einfalt fann die Rede nicht jein....“
Und daß der Einzelne fi) in diejem verwirrenden Getriebe der
Konkurrenz meist nicht mehr mit eigener Kraft werde erhalten fünnen,
daß neue joziale Gebilde und Genofjenjchaften nöthig jein würden,
in denen Jeder jeine Stelle finden fünne, jah er flar voraus. Sein
letzter Roman „Wilhelm Meijters Wanderjahre* it im Wejentlichen
eine phantafievolle, aber doch jehr ernſt gemeinte Darjtellung der
jozialen Verbände und Gejete, welche die Zukunft fordern würde.
Daß ihm, dem Sohn des achtzehnten Jahrhunderts, dieje neue Zeit
ſympathiſch gewejen jei, wird man nicht verlangen dürfen. Aber
das wirklich Große und Bedeutende verfolgte er mit lebhaften
Interejje. Hat er doch jelbit den Wunjch ausgejprochen, jo lange
zu leben, bis er einen Kanal zwijchen Donau und Rhein, einen
Kanal durch die Landenge von Suez und einen durch den Iſthmus
von Panama vollendet gejehen hätte; der erjte jet eine Sache
Deutjchlands, der zweite eine Sache Englands, der dritte eine
Nordamerifas. Um dieſer drei großen Dinge willen, meinte der
Adhtzigjährige jcherzend, Lohne es jich jchon, „noch einige fünfzig
Jahre auf der Erde auszuhalten“ !
Und mit nicht minderer Stlarheit beurtheilte er auch die zu:
künftige politifche Gejtaltung Deutjchlands, die damals joviel heiße
Meinungsfämpfe, Befürchtungen und Wünjche erregte. „Mir it
nicht bange*, ſprach er ſich aus, „daß Deutichland nicht eins
10 Zu Goethes hbundertfünfzigftem Geburtstag.
werde, unjere guten Chaufjeen und fünftigen Eijenbahnen werden
ichon das Ihrige thun. Vor Allem aber jei e$ eins in Liebe
untereinander! und immer jei es eins gegen den auswärtigen Feind.
Es jei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel!
Wenn man aber denkt, die Einheit Deutjchlands bejtehe darin, daß
das jehr große Reich eine einzige große Nejidenz habe, jo iſt man
im Irrthum. . . Wodurd iſt Deutjchland groß als durch eine
bewundernswiürdige Volfsfultur, die alle Theile des Reiches gleich:
mäßig durchdrungen hat? Sind es aber nicht die einzelnen Fürſtenſitze,
von denen fie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger find?“
So jcharf er aber die nothiwendigen Forderungen der Zufunft er:
fannte, jo fejt hielt er doch mit jeinem Alles umjpannenden Blide
an dem ununterbrochenen Zuſammenhang der Kultur, an der Wahrung
der errungenen Kulturgüter feit. In diefem Sinne jprach er es aus:
„Möge das Studium der griechiichen und der römischen Literatur
jtet3 die Baſis der höheren Bildung bleiben!” Und ebenjo gab
er auf dem jittlichereligiöjen Gebiet die Erklärung ab: „Mag die
geijtige Kultur nun immer fortjchreiten, mögen die Naturwiſſen—
jchaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachjen und
der menjchliche Geijt jich erweitern wie er will, — über die Hoheit
und jittliche Kultur des ChrijtenthHums, wie fie in den Evangelien
ſchimmert und leuchtet, wird er nie hinausfommen!“
Die großartige Klarheit und Feſtigkeit des Greijes hat einen
gewaltigen Eindrud auf Mit: und Nachwelt hinterlajien. Das
Bild des „Olympiers“, wie man es gern genannt hat, wie es
durch Nauchs Büſte klaſſiſch ausgeprägt it, iſt Diejer legten Ent-
wiclungsphaje des Dichters entnommen. Mit ihm it in gleichen
Ehren auch das Antlig des jugendlichen, jtrahlenden Siegers ge—
blieben, auc) dies von der bildenden Kunſt prachtvoll aufbewahrt,
am jchöniten wohl in Trippels Büjte, die jchon oft mit den
Bildniſſen des Phöbus Apollo verglichen worden ift. Am wenigiten
it das Bild der Mannesjahre, jener Zeit jtrenger Zurüdhaltung,
lebendig und plajtiich anjchaulich geworden. Um jo mehr aber
lebt der Dichter in den Werfen diejer Periode fort, Werfen höchſter
Bollendung, die er im Zujammenwirfen mit Schiller gedichtet, vor
Allem in der entjcheidenden Schaffensthätigfeit am „Fauſt.“
Für unjere Betrachtung heute fließen jene einzelnen Epochen
zujammen in dem Totaleindrud einer gewaltigen Berjönlichkeit,
deren Sinn jtetS auf das Große und dauernd Werthvolle gerichtet
war und jich damit über die Wellen des Zeitlaufs erhob.
Zu Goethes hundertfünfzigftem Geburtstag. 11
„Sprih, wie du dich immer und immer erneuſt!“
„Kannft’8 aud, wenn du immer am Großen did freuft!
Das Große bleibt friſch, ermärmend, belebend;
Im Kleinlihen fröftelt der Kleinliche bebend.“
Und gerade für unfere in den angejpannten Forderungen des
Augenblids jeden Einzelnen abmattende, überwältigende Zeit it
ein wunderfräftiges Heilmittel geboten in der Vertiefung in den
Geift diefer in fich jelbjt ruhenden genialen Perſönlichkeit. Unſer
alltägliches Leben gleicht einem mühjamen, jteinigen Pfade, der
zwijchen zwei hohen Mauern hinläuft und weder Ausblid nod)
Umblid darbietet. Wohl hoffen wir allmählich zu einem er:
wünjchten Ziel vorzufchreiten; aber bisweilen iſt e8 uns auch, als
führten ung die Mauern labyrinthifch an Orte zurüd, an denen
wir jchon gejtanden. Aber an Tagen, die uns zur Feier des
Großen aufrufen, da it e8 uns, als ob ſich die Mauern jpalteten
und freier Fernblick fich aufthäte. Und heute — bliden wir ın
weite, jonnendurchfluthete Hallen, in denen die freien und edlen
Geftalten Goethijcher Dichtung jich leicht und heiter bewegen oder
jiegreich und herrſchend thronen.
Aber nicht auf einen Tag joll ſich diejer Eindrud bejchränfen.
Goethe jelbit hat einmal geäußert: „Der Menjch mache jich nur
irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an der er fich die Luft
in heitern Tagen erhöhen und die Kraft in trüben Tagen auf:
richten fann. Er gewöhne ſich z.B. täglich in der Bibel oder im
Homer zu lejen oder jchöne Bilder zu jchauen oder gute Mufik zu
hören.“ Wir dürfen hinzufügen, er gewöhne jich, täglich in
Goethes Werfen zu lejen. Die jchönfte Form, in der die Nach:
welt den Dichter ehren fann, it die thatjächliche Vertrautheit mit
jeinen Werfen. Die jchönjte Wirfung eines Feſtes wie e8 Deutfch-
land jett begeht, würde die immer wachjende Kenntniß von Goethes
Lebenswerk jein. Ja, möge fich an ihm erfüllen, was er einjt
dem dahingegangenen Schiller nachgerufen hat:
Schon längſt verbreitet fi in ganzen Schaaren
Das Herrlichſte, was ihm allein gehört.
Es glänzt uns vor, wie ein Komet entſchwindend,
Unendlid Licht mit jeinem Licht verbindend.
Die wiflenichaftlichen Aufgaben
einer Gejchichte der chriftlichen Religion.
Bon
Karl Sell.
Die Aufmerfjamfeit, die der Leſerkreis diejer Blätter zuweilen
der gejchichtlichen Erörterung religiöfer Fragen gewidmet hat, möge
den DVerjuch rechtfertigen, gerade hier ein pium desiderium zu be-
jprechen, das eigentlich zu den Anliegen der theologijchen Zunft ge:
hören jollte, das aber vielleicht nicht weniger Ausjicht darauf hat,
auch dem jchlichten Laienverſtand einzuleuchten. Natürlich muß
dabei auf allen Apparat der gelehrten Theologie verzichtet werden.
Man jagt den Theologen immer häufiger und lauter, wir lebten
im Seitalter der „Religionsgejchichte” (vgl. Pr. Jahrbücher Bd. 87,
Ernjt Troeltih: Chrijtentyum und Neligionsgejchichte) und ſelbſt
ſtreng Firchlich gerichtete Theologen tragen dem Nechnung durd) eine
wenn auch oft widerwillige, doch aufmerkfjame Verfolgung der außer:
ordentlich fruchtbaren Arbeit auf dem Gebiet diejer jüngjten ge:
ichichtlichen Disziplin, die bis jet im Ausland einen viel reicheren
Anbau gefunden hat, als im Heimathland der Reformation. Um
jo befremdlicher iſt es, daß auf Seiten der wijjenjchaftlichen
chrijtlichen Theologie die allernothwendigjten Vorarbeiten für eine
gejchichtliche Behandlung unjerer Neligion, und die erjten Anfänge
einer jolchen jelbjt noch fehlen.
Ich meine damit: wir entbehren noch völlig eine Unterſuchung
unjerer chrijtlichen Religion an jich jelbjt, der urſprüng—
lichiten Formen ihres Glaubens und Lebens, aller jener Er—
jcheinungen nämlich, in denen Religion zunächſt bejteht und fich
Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 18
fortpflanzt: Gebet und Opfer, Injpiration und Glaube, Liebes—
werfe und religiöje Selbjtzucht, wie Gemeindezucht; der jogenannten
pathologijchen Erjcheinungen des religiöjen Lebens, des Enthu—
fiasmus und der Ekſtaſe, der Pijionen und der myſtiſchen
Grlebnijie noch ganz zu gejchweigen, Die wenigitens von
Piychiatern regelmäßig berüdfichtigt werden. Wir befiten wohl aus:
gezeichnete Unterjuchungen über die Gejchichte des Dogmas, der
Kirchenverfajjung, des öffentlichen Kultus, der Kirchenzucht, mujter:
giltige Darjtellungen der Entwidelung chrijtlicher Kunſt und
Literatur, aber das, was dem allem zu Grunde liegt, das innerfte
perjönliche religiöſſe Empfindungsleben, und die Entfaltung der
religiöjen Borjtellungswelten, die doch die eigentlichen Motive für
das religiöje Willensleben enthalten, das ijt meines Erachtens
noch nirgends zum Gegenjtand einer methodischen gejchichtlichen
Unterjuchung gemacht worden. Es fieht ja aus wie ein Winf
auf diefen Mangel hin, wenn A. Harnad dem eriten Band feiner
Dogmengejchichte das Wort Goethes vorgejett hat: „Die chriftliche
Religion hat nichts mit der Philoſophie zu thun. Sie iſt ein
mächtige8 Wejen für fich, woran die gejunfene und Tleidende
Menjchheit von Zeit zu Zeit fich immer wieder emporgearbeitet
hat; und indem man ihr dieſe Wirfung zugefteht, iſt jie über aller
Philojophie erhaben und bedarf von ihr feine Stütze“ (Gejpräche
mit Goethe von Edermann II ©. 39).
Was auf diefes Motto folgt, iſt aber grade feine Gejchichte
der Religion, diejes von „aller Bhilofophie“ und demnach von allem
Dogma unabhängigen, ihnen beiden weit voraus liegenden jelbit-
jtändigen „Wejens“, jondern nur die Gejchichte des Dogmas, dejjen
religiöje Wurzeln allerdings Harnad überall bloß zu legen ſucht:
aber die Neligion iſt doch wejentlich mehr als das Wurzelgebiet
des Dogmas, fie iſt der Fruchtboden für das gejammte höhere
jittliche, metaphyfiiche und äjthetijche Leben der neueren Menjch:
heit überhaupt. Gerade unjere Zeit beginnt das lebtere immer
deutlicher einzujehen. Woher die Scheu, diejes innerlichite, zartejte,
vielgejtaltigjte und mächtigite Syitem jeelifcher Kräfte jtatt ge—
legentlicher pjychologijcher Analyjen auch einmal in feinem ganzen Um:
fang gejchichtlich zu unterjuchen? Ein Grund dafür iſt bald gefunden.
Er iſt aller Ehren werth. Man jcheut ich, auch unter den freier
gerichteten Theologen, die piychologischen und gejchichtlichen Wurzeln
aller Religion, aljo auch unjerer Neligion offen darzulegen, weil
man fürchtet, jie dadurch ihrer Einzigkeit zu berauben, ıhres
14 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion.
„Offenbarungscharakters“, wie man jagt. Und dieje Furcht wurzelt
in einer gewijlen Laienhaftigfeit der Betrachtung. Das Gleiche,
was jo oft von ‘gebildeten Katholifen uns Protejtanten entgegen:
gehalten wird: „euer Prinzip perjönlichen Glaubens und Ddirefter
Ueberführung von der Wahrheit durch das Wort der heiligen Schrift
führt zum jchranfenlojen Subjeftivismus, für den es nichts Pofitives,
nicht8 Allgemeingültige® mehr giebt und geben kann,“ — Das
fürchtet man dann von den eigenen Glaubensgenojjen zu ver:
nehmen, wenn man zugiebt, daß unjere Religion zunächjt, jubjektiv
betrachtet, doch nur aus einem Gewebe von Empfindungen, Bor:
jtellungen und Urtheilen bejteht, die jich bei jedem Einzelnen mit
pſychologiſcher Gejegmäßigfeit etwas anders geitalten. Wo bleibt
da die objektive Wahrheit, an der doch unjer Glaube hängt?
Als Antwort diene vorerit die Gegenfrage: Wo bleibt die ob—
jeftive Welt, wenn es doch nachgewiefen tft, daß alle Vorjtellungen
von Diejer Welt auf der Organijation unjerer Sinnesorgane be:
ruhen, daß Licht und Schall, daß Drud und Stoß nur unjere
Empfindungen und Borjtellungen von einem außerhalb unjerer Sinne
befindlichen Etwas find? Die Welt eriftirt doch auch an jich, wenn fie
gleich nur durch das Thor unjerer Sinne und Veritellungen uns zum
Bewußtjein fommt. So mögen wir auc) überzeugt jein, daß das,
was als die Wirklichkeit aller Wirklichfeiten eriftirt: Gott, uns
doch nur durch die ein für allemal gegebene pjychtiche Organifation,
die unjer jubjektives Neligionsempfinden und Neligionsvorjtellen
regiert, zum Bewußtjein fommt. Und alle Offenbarung von oben
her wird jich diejes pfychiichen Apparates bedienen müfjen, wenn
jie auf ung wirken will. Es it, jo will mir jcheinen, ein bischen
die Angit, in den Augen der Laien den Kredit der Religion zu
verjcherzen, die unjere braven kritiſchen Theologen davon zurück—
hält, Ernjt zu machen mit der Anwendung der gejchichtlichen
Methode auf die Hrijtliche Religion jelbjt und nicht bloß auf
ihre Außenwerfe: Dogma, Kirchenverfafjung, Kirchendisziplin und
dergleichen. Daher kommt e8 vielleicht, daß man gewifje Aufgaben
gejchichtlicher Forjchung, jo weit meine Kenntniß reicht, noch gar
nicht in Angriff genommen hat, von denen ein wijjenjchaftlich
denfender Laie meinen fönnte, jie müßten längjt in dicken Büchern
abgehandelt jein.
Sc nenne davon hier nur zwei:
1. Das Chrijtusbild in der Chrijtenheit, die wechjelnden
Auffafjungen, die die Perjönlichkeit des Heilands nicht bloß in den
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 15
bildenden und redenden Künjten, jondern in der direkten Neligion,
im gejammten Borjtellungs: und PBhantajieleben, in den jittlichen
und jozialen Bejtrebungen und Bethätigungen aller Generationen
der Chriſtenheit gefunden hat, it uns bis jegt in feinen verjchtedenen
Geitalten nirgends in einiger Volljtändigfeit gejchichtlich bejchrieben
worden. Man bedenke, daß ebenjo verjchieden wie das Chrijtus-
bild eines Paulus, Origenes, Athanafius, Augustinus, Bernhard
von Elairvauz, Franz von Aſſiſi, Sujo, Luther, Ignatius v. Yoyola,
Calvin, Scriver, Pascal, Klopjtod, Zinzendorf, Herder, Schleier:
macher war, ebenjo verjchieden find doc) auch die Chrijtusbilder der
vielen einander folgenden Generationen von Gläubigen gewejen.
Was haben denn eigentlich, jo fragen wir, dieſe Chriſten von
ihrem „Deren“ gehalten, wie und wo hat er ihre Seelen berührt,
mit welchen Antrieben hat er jie erfüllt? ine methodtjche, be—
gründete Antwort darauf giebt uns die gejchichtliche Wifjenjchaft
bisjegt nicht. Nur Kunſt- und Literaturgejchichte berichten Einiges
darüber.
Sollte man nicht jagen, dal bier eine Königsarbeit vorliegt,
die Notabene auch den Borzug hätte, viele Kärrner in Ihätigfeit
zu jeßen.
Ebenfo fehlt noch bis auf einige allerdings jehr bedeutjame
Anfänge: 2) eine Geſchichte der Bibel in der Chriitenheit.
Nämlich die gejchichtliche Darjtellung der verjchtedenen Auffaſſung,
Auslegung und Anwendung, die die heiligen Schriften im
Ganzen und im Einzelnen in allen Jahrhunderten der Chrijtenheit
gefunden haben. Cine jolche Gejchichte müßte weit hinausgreifen
über die jeßt jchon oder noch üblichen Mittheilungen der Exegeten von
verjchtedenen Auslegungen die einzelne Bibeljtellen bei den Kirchen—
vätern und Theologen aller Jahrhunderte gefunden haben. Sie
müßte zeigen, wie, ganz abgejehen von dem urjprünglichen Sinn,
den die heiligen Schriften gehabt haben und allein gehabt haben
fönnen, zu dejjen Ermittelung die jet jo virtuos ausgebildete,
philologijche Kritif zweifellos ausreicht, dieje Schriften, entjprechend
dem religiöjen Geiſt und Bedürfnig der Zeiten der Kirche eine ganz
verjchiedene Ausdeutung und Umbdeutung erfahren haben. Der
Zwed diejer Gejchichte wäre feineswegs der, eine Illuftration des
jfeptiichen Sprüchleins zu liefern:
Hie liber est in quo quaerit sua dogmata quisque
invenit quisque sua ..
jondern der weit größere, zu zeigen, daß die Etappen des Schriftver:
16 Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der Hriftlihen Religion.
ſtändniſſes die Etappen der Entwidelung des chrijtlichen Geiſtes find.
Und wenn dann berausfäme, daß jchließlich die moderne Chrijten-
heit, bei dem urjprünglichen Wortjinn der heiligen Texte angelangt
und, überjchauend ihre vielfältige Anwendungsmöglichkeit, jich jagen
dürfte: es it Syitem in dieſen wechjelnden Gejtalten des Schrift:
jinnes und es iſt Doch ein organiſches Gewächs, dieſes
Ganze von Schriftausdeutung und Schriftumdeutung, jo
würde auch dieſer rein hiſtoriſchen Arbeit ein Licht religiöjer Er-
baulichfeit entjtrahlen. Eine großartige Apologie der Borjehung!
Inder die landläufige Apologetif meiſtens in den Eden und Winkeln,
jozujagen in den Schutthaufen der Gejchichte herumfucht, jtatt jich
vor die großen geichichtlichen Realitäten zu jtellen, die aller:
dings in ihren eigentlichen Dimenſionen nur das gejchärfte Auge der
Wiſſenſchaft überjieht.
Die Vorausſetzung der Erörterung diejer beiden und jo mancher
anderen verwandten Aufgabe würde jein, daß man es für einen
legitimen Gebrauch unjerer gejchichtlichen Wifjenjchaft hält, daß wir
auch einmal die Vorjtellungen, in denen fich unjer Glaube verkörpert,
derjelben Betrachtung unterwerfen, wie unjere anderen Vorjtellungen
alle von der uns in ihrem innerjten Wejen ebenjo unerflärten und
unerflärlichen „Welt“, ohne dasjenige preiszugeben, wovon alle
Religion eben nur eine Vorſtellung it: die Wirklichkeit des Göttlichen.
Das müßte geichehen durch fonjequente Anwendung piychologijcher
und gejchichtlicher Prinzipien auf das ganze Gebiet der unmittelbar
religiöjen Erjcheinungen im Chrijtentyum. Es fann aber nur gejchehen
ohne Schaden der lebendigen Neligiofität, wenn man jid) Darüber ver—
itändigt hat, da mit „Sejchichte der chrijtlichen Religion“ nur
gemeint jein fann, was der jtrenge Wortverjtand bejagt: Gejchichte
des jubjektiven chrijtlichereligiöfen Empfindens und Vorſtellens, nicht
aber Gejchichte der göttlichen Offenbarungen und Beranftaltungen, die
dem chriftlichen Glauben jeiner Anjchauung nad) zu Grunde liegen.
Dieje Dinge gehören in die firchliche Yehre und Dogmatik hinein,
jie liegen durchaus jenjeitS des Gebiets derjenigen menjchlichen
Erlebnijje, die das einzig mögliche Objekt gejchichtlicher Forſchung
bilden. So gewiß es im Gebiete unſerer Sinneswahrnehmung nur
Erjcheinungen giebt, von welchen aus wir auf ein Ding zurüd-
ichließen, was uns eben nur gemäß unjerer Organijation erjcheint,
ebenfo find die Ereignijje (wörtlich, da „ſich eräugen“ bedeutet „ſich
vor Augen zeigen“, dajjelbe wie „Erjcheinung“), von denen alleın
die Gejchichte berichten fann auch nur die Erlebnifje, die die Menjchen
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 17
gehabt haben und von denen wir mit mehr oder weniger Sicher:
heit auf das zurüdjchliegen müfjen, was wirklich gejchehen
jein mag. Gejchichte handelt nur vom Grlebten. Jede, auch
die abjolute Offenbarung Gottes, fann unter uns Menjchen nur
Boden faſſen in Gejtalt von jeelifchen Erlebnijjen eines menjchlichen
Individuums. Nur dieje Erlebnijje und nicht was ihnen zu Grunde
liegt, find Gegenjtand unſerer gejchichtlich-piychologijchen
Einſichten.
Ebenſo müßte man darüber einverſtanden ſein, daß man unter
„Chriſtenthum“ und ſeiner Geſchichte nicht verſteht die durch die
Propheten, Chriſtus und ſeine Apoſtel der Welt zuerſt verkündigte
göttliche Wahrheit als ein Syſtem objektiver Thatſachen, ſondern
die ſubjektive Art und Weiſe, in der Einer ein Chriſt iſt, alſo
Glaube, Gebet, chriſtliches Leben und Handeln, wie es in ſehr
verſchiedenen Geſtalten, ſeitdem es eine Chriſtengemeinde giebt, auf
Erden ſich gezeigt hat.
Damit bleibt das Gebiet des perſönlichen Glaubens ſeinem
Inhalte nach von aller Kritik völlig unangetaſtet. Es iſt nicht
minder ſelbſtverſtändlich, daß man ſich alle verſchiedenen Geſtalten
chriſtlichen Glaubens geſchichtlich vergegenwärtigt und doch nur in
einer dieſer Geſtalten ſein eigenes religiöſes Bedürfniß befriedigt
findet, wie es möglich iſt, alle möglichen Nationalitäten Revue
paſſiren zu laſſen und ſich doch nur zu einer als der eigenen per—
ſönlich zu bekennen. Denn jeder neue Tag, der unſere Kenntniß
der mancherlei pſychologiſchen Formen der Religion vermehrt, lehrt
uns einſehen, daß es verſchiedene Weiſen geben müſſe, in denen wir
uns den „ewig Ungenannten“ enträthſeln, da auch die thatjächlichen
Offenbarungen des Ewigen jich feine anderen Mediums bedienen,
um mit uns in Verbindung zu treten, als unjeres eigenen religiöjen
Vorſtellungsvermögens.
Eine mit religiöſem Takt abgefaßte Geſchichte unſerer Religion
wird die perſönliche Religioſität eines jeden Chriſten unangetaſtet
laſſen, ſie wird ſogar vielleicht den, der meint, jeder Religion bar zu
ſein, daran erinnern, daß auch er noch Etwas von Religion beſitzt.
Geht man von dieſem Geſichtspunkt aus: chriſtliche Religion als
Gegenſtand möglicher geſchichtlicher Erforſchung iſt nur das
Gebiet des perſönlichen menſchlichen Glaubens, Lebens, Hoffens und
Fürchtens, dann iſt der richtige Anfangspunkt dieſer Geſchichte ſicher
gegeben. Chriſtliche Religion in dieſem Sinne tritt zuerſt auf im
Kreiſe der Jünger und Apoſtel Jeſu Chriſti als deren Glaube, nicht
Breußiſche Jahrbücher. Bo. XCVIII. Heft 1. 2
18 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlihen Religion.
früher! Sie iſt in ihrer eriten Geftalt jener Inbegriff religiöfer und
jittlicher Stimmungen und Vorjtellungen, Grundjäge, Strebungen
und Hoffnungen, fultiicher Handlungen und Begehungen, die jich
unter dem Eindrud der Verfündigung jener Männer auf Grund
ihrer Erlebnifje jchnell oder langjamer entfaltet haben. Der Theologe
nennt dieje Religion die fides qua creditur. Sehr bald aber ver:
jejtigt fich das, was fo flüjfig und lebendig aus der Seele jprang,
aus Gemüthsjtimmungen in eine Borjtellungswelt, der Wille
zum Glauben produzirt die theoretijche Gewißheit, daß das geglaubte
ijt: die fides quae creditur, das Syſtem chrijtlicher Gott: und
Weltanjchauung, der objektive Glaube, die objektive Religion ent—
iteht. Ihr Inhalt gilt dem Gläubigen als das allein Wirfliche
und damit lehnt er jede andere Vorjtellungswelt ab. Diejer ob:
jeftive Glaube aber mit Allem, was daran hängt, unterliegt nun
einer fortgejegten Umbildung, wie auch der jubjektive Glaube, die
religiöfe Injpiration, Intuition ſich regelmäßig verändert.
Es fann durchaus nicht behauptet werden, daß wir von allen
dieſen Veränderungen die gejchichtlichen Gründe anzugeben wüßten,
ja auch nur, daß wir alle diefe Veränderungen jemals ganz erfennen
fönnten. Nur muß ftreng darauf gehalten werden: das, was man
„Das Geheimniß“ in der MNeligion nennen darf, liegt nicht ın
dem Gebiete der religiöjen Piychologie, des Empfindens oder Bor:
jtellens oder Denkens, jondern es liegt in dem Gebiet jenjeits
der Schranfe unjeres Bewußtjeins, in jenem Gebiet, über
welches die Metaphyſik ihre Hypotheſen aufitellt und über welches
der jubjeftive Glaube jich bejcheidet nichtS zu „wiſſen“, jondern
das er ahnt oder „in einem dunklen Spiegel jchaut‘ und Ddereinit
offenen Auges zu jehen hofft.
Was ſich bei gutem Willen von der Weligion mit einiger
Sicherheit wird erkennen lajjen, das jind wohl die meiſten
jchöpferifchen oder bejjer gejagt die anführenden Berjünlichkeiten,
die praftifchen Abjichten, welche den Kultus regieren, die Vor—
jtellungen, Bhantajiebilder und Vorurtheile, die allmählich immer
neue Weltbilder gejtalten und jo die fünftigen Dogmen vorbereiten.
Denn das Dogma tjt das Ergebnif einer ganzen Reihe von einzelnen
Faktoren. Erſt die Injpiration, dann die Gemeinde der Infpirirten,
dann der Kultus, dann die religiöje Weltanjchauung, dann die
Theologie, dann das Dogma. Iſt das Dogma firirt, dann beginnt
die Legende, die Mythologie, die freie religiöje Dichtung ihr Wert
und die bildende Kunſt nimmt es auf, bis die unausrottbar im
Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefchichte der hriftlihen Religion. 19
Volksgemüth wirkende „natürliche Religion‘ ihre Fäden über das
Ganze jpinnt und jo jenes auch dem Wechjel der Sahrtaujende
trogende Wejen einer Volfsreligion entiteht. Es wird noch der
Arbeit von Generationen bedürfen, bis diefer Prozeh der Religions—
entwidlung im weitejten Sinne im Einzelnen flar gelegt jein wird.
Auch geht dieje umfafjendere Aufgabe über das hinaus, was wir
die eigentlihe Gejchichte der hrijtlichen Religion nennen.
Denn dieſe ijt ein bejtimmt begrenztes gejchichtliches Gebilde,
während eine jede Bolfsreligion, wie fie unter uns lebendig it, ein
aus Natur und Gejchichte zuſammengeſetztes Gebilde Ddaritellt, in
dem die Fäden der chrijtlichen Religion vielfach nur den Einjchlag
bilden: der Zettel aber jtammt aus den unvordenflichen Zeiten der
Bildungsgejchichte unjeres Volkes.
Die Aufgabe einer Gejchichte der chrijtlichen Religion im
Unterjchied von Kirchengejchichte, Dogmengejchichte, Kultusgefchichte
läßt jich ihrem Inhalte nad) in die zwei Worte zufammenfafjen:
Geſchichte der chrijtlichen Injpiration (fides qua ereditur) und Ge-
jchichte der chrijtlichen religiöjfen Weltanjchauung in ihrer noc) vor:
theologijchen und vordogmatijchen Gejtalt (fides quae creditur).
Daraus ergiebt fich, daß es nicht darauf abgejehen ift, die
Kirchengejchichte zu bejeitigen oder umzugeitalten, jondern vielmehr
jie jorgfältiger zu unterbauen. Ebenjo wie die Völfergejchichte und
Weltgejchichte noch auf abjehbare Zeiten hinaus im wejentlichen
Staatengejchichte bleiben muß, ebenjo muß die Gejchichte des
EhrijtentHums abgehandelt werden am Faden der mächtigjten
jozialen Inititution, die der chrijtliche Glaube hervorgetrieben hat:
der Kirche. Epoche in der Gejchichte macht immer nur Die
Kirche. Die Kirche, wo jie einmal it, it unjterblich, d. h. fie
trägt ich jelbit.
Es handelt jich vielmehr nur um die gejonderte Betrachtung
und hellere Beleuchtung der Gebiete des Seelenlebens, in denen
jich die Wandlungen der Kirche vorbereiten. Aber allerdings würde
Durch dieje Behandlung der firchengejchichtliche Stoff ein ganz neues
Interejje gewinnen für Alle, denen das kirchliche Weſen gleichgiltig
oder zuwider ift, dagegen an der Religion wenigjtens das eigentlich
Menjchliche und Ehrijtliche interejjant tft. Das unermehliche Material
für das Verjtändniß der eigentlichen Neligion, das in der
erbaulihen Schriftjtellereti in allen ihren formen vorliegt und
das von der zünftigen Kirchengeſchichte bis jetzt faum eines Blides
gewürdigt wurde, aus dem aber ganze Generationen don Frommen
2*
20 Die miffenihaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion.
ihr tiefites Leben jchöpften, würde nun auch von der Wiſſenſchaft
ausgebeutet werden müſſen. Genug von diejen bloßen Andeutungen!
Ein erjter Berjuch der BehandInng diejer Gejchichte dürfte auch
auf jenes Mittel nicht verzichten, das beim Anfang jeder neuen
Betrachtungsweiſe feine Dienjte leijtet: auf die Vergleichung. Es
müßten durch Vergleichung die verjchiedenen Formen der chrütlichen
Religion gefunden und fejtgejtellt werden. Diejem Unternehmen
aber jteht bis jest noch unüberwindlich das fonfejjionelle Borurtheil
entgegen, das nur eine Form der chriltlichen Religion als Die
wahre gelten läßt und verglichen damit jede andere höchjtens als eine
untergeordnete Stufe behandelt. Jede derartige Anordnung von
Stufen der Neligion beruht auf der Anwendung durchaus jub:
jeftiver Werthurtheile und geht davon aus, daß es eine an jıd
vollfommene Form chrijtlicher Religion geben müſſe. Das wird
ji) in gewifien Grenzen von ihren Urjprüngen behaupten lajien
und es wird jicherlich vom praftifch firchlichen Standpunft
auch fernerhin fejtgehalten werden müſſen. Denn lebensfräftige
Kirchen tragen ihre Eriftenzberechtigung dadurch in fich, daß fie
ji fonjtanten Bedürfnifjen in einer möglichit vollftommenen Form
angepaßt haben. Stonfejjionen find wie Nationen hiſtoriſche Gebilde,
die wie Dieje nicht wenig Irrationelles mit ſich führen können.
Selten jind jie aber die ungemijchten Darjtellungen nur einer
einzigen reinen NWeligionsform. Umgefehrt: die Neligtonsformen
fünnen bis zu einem gewijjen Grad ideale, nur gedachte Formen
jein, Ausprägungen eines organijatorischen Gedanfens, der nirgends
vielleicht ganz vollfommen zum Ausdrud gefommen it, ebenjo
wie ja auch die Art als jolche nicht exiftirt, jondern nur in leije
vartirenden einzelnen Exemplaren.
Was hiernach die nächiten Aufgaben einer wirklichen Gejchichte
der chrijtlichen Neligion jein dürften, joll im Cinzelnen etwas
deutlicher gemacht werden. Sie lajien jich in die drei Worte
faſſen: Genealogie, Morphologie, gejchichtliche Ent:
widelung.
L
Es dürfte der Verjtändigung über die rein hijtorijche Natur
unjerer Wijjenjchaft dienen, wenn wir als die erjte der möglichen
Aufgaben einer chrijtlichen Neligionsgejchichte bezeichnen die Dar:
legung des Urjprunges der chrijtlichen Religion, nämlich
ihrer Genealogie, ihrer Ahnenreihe Man hat offenbar zu
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlichen Religion. 21
unterscheiden Anfang und Urjprung der chrijtlichen Neligion.
Den Anfang des Chriſtenthums macht zweifelsohne der Glaube
der eriten Gemeinde von Chrijtusanhängern. Dem genau
entjprechend heben die meijten „Kirchengejchichten“ ihre Erzählung an
vom erjten Pfingjtfeit. Mit befonderem Nachdrud hat F. Chr. Baur
den Glauben an die Auferwedung Ehrijti als die eigentliche Grund:
lage der chrijtlichen Kirche hervorgehoben. In der That beginnt
die jelbitändige chrijtliche Religion erjt mit dem Glauben einer
Gemeinde an Chriſtus. Diejer Anfang aber jegt voraus jene
ganze VBorgejchichte, die mit einem religiös dogmatischen Ausdrud
bezeichnet wird als Inbegriff der Heilsgejchichte, oder der Heils-
thatjachen, die mit einem rein gejchichtlichen Begriffe zu nennen ift
die Gejchichte des iſraelitiſch-jüdiſchen Monotheismus
bis zu jeiner abjoluten Bollendung in dem Evangelium Seju.
Sp gewiß man aljo die Gejchichte der chrijtlichen Religion beginnen
darf erſt mit dem Glauben der Apojtel; wie die Kirchengejchichten
thun, man wird Doch dieje Religion wiederum nicht vollfommen
verjtehen und nicht richtig erflären fönnen, wenn man nicht
unterjucht hat, welche Ereignijje dieſen erjten chrütlichen Glauben
hervorgerufen haben und unter welchen religionsgejchichtlichen Vor—
ausjegungen er entjprungen iſt.
Wir wijjen, daß die aus der Tiefe der Erde mit einem Schlage
entjpringende Quelle doch im legten Grunde von den Niederjchlägen
jtammt, die aus der Luft niedergegangen und nur in der Tiefe
angejammelt worden find. Dem Anfang einer jeden Quelle geht
voran die Urjprungsgejchichte eines jeden Wajjertropfens, den fie
enthält. So liegt aud) vor dem eigentlichen Anfang des Chrijten-
thums mit dem eriten Befenntnijje zu Jeſus als dem Chriftus das
weitverzweigte Gebiet der Urjprünge Ddiejer Religion. In Ddiejes
Gebiet gehört aber nicht nur hinein die Perſon und die Lehre, die
ganze Religion Jeſu jelbjt, jondern auch die ganze nationale
Religion, auf deren Gipfel er als ihr Vollender jeinem eigenen
Zeugnijje nad) erjchienen it, die erjt durch ihn international ge—
worden ijt. Der Urjprung der chrijtlichen Religion liegt alfo
jtreng genommen im Gebiet einer anderen Neligion. Die
Stage, wohin Jejus als gejchichtliche Erjcheinung zu ftellen jei: ob
an das Ende der ijraelitijch-jüdischen Religion oder an den Anfang
der apojtolijch-univerjalen Religion, it nad) dem gegenwärtigen
Stand der gejchichtlichen Erfenntniß nur dahin zu beantworten: an
das Ende der ifraelitifch-jüdischen Religion. Er bildet ihren „Aus—
22 Bie mwifjenjchaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der chriſtlichen Religion.
gang“, d. h. in diefem Falle: er bildet ihren Uebergang in eine
neue Form der Religion, aber jo, daß er mit feinem gejammten
gejchichtlichen Wejen und mit jeiner wunderbaren Berjönlichkeit doc
wurzelt in der nationalen heimijchen Religion jeiner Bäter. Damit
joll natürlich der religiöjen, erbaulichen Betrachtung, die auch mit
einem gewiljen gejchichtlichen Necht Jeſus ganz für ſich als ein
vollfommen finguläre® Wejen betrachtet, ihr Necht nicht ab-
gejprochen werden. Nur hat die gejchichtliche Betrachtung nicht
die Aufgabe, das Geheimniß dieſer Perjönlichkeit entweder zu be—
jeitigen oder zu erflären; jie hat vielmehr dann ihre Schuldigfeit
gethan, wenn fie es vermochte, es einigermaßen ficher und deutlich
zu umjchreiben. Es fommt gejchichtlich zunächit nur darauf an, zu
ermitteln wie Jeſus von fich jelber dachte. Die Stellung aber, die Jeſus
jich jelber gab, war nicht die eines neuen Anfängers, jondern Die
eines Vollenderd. Auch der „neue Bund“, den er furz vor jeinem
Tode verfündigt hat, iſt die modifizirte Erneuerung eines alten
Bundes, er ijt die Erfüllung einer alten Weijjagung, die Iſrael
icon gegeben war. In der Bundesidee jchließt fich ja das ganze
Wejen des nationalen Monotheismus zujammen. Weder jeine
Perjon, noch jeine Religion fünnen anders verjtanden werden als
auf diejem nationalreligiöjfen Boden. Niemand vermag zu bejtreiten,
daß Iejus den nationalen Gefichtspunft der Priorität Israels an—
erfannt hat. „Das Heil fommt von den Juden“ jo heißt es gerade
in jenem Evangelium, das Jejus am meiſten über alles menjchliche
Map hinaushebt. Aber auch jein religiöjer Standpunft ſetzt die
ganze jüdiiche Vergangenheit voraus. Das jchöpferijch Neue im
„Evangelium“, in jenem SHeroldsruf an die Frommen in Iſrael,
der der Sammlung der eriten Chrijtengemeinde voraus ging, war
nicht die „Religion Jeſu“, für die ſich Jeſus ſelbſt ja auf Gejek und
Propheten beruft, jondern die Berjon Jeſu als Träger diejer
Religion. Dieſe Perjönlichkeit aber jteht gerade auf den Voraus—
jegungen der ganzen religiöjen Gejchichte jeines Volkes als des Volkes
Gottes und Jeſus jelbjt weiß fich zu diefem Volf gejandt von Gott
als der letzte aller jeiner Abgejandten, als der Sohn, der mehr tjt
als ein Prophet, mehr ift als König Salomo, mehr als der Tempel.
Nur wer alle die Beziehungen, die jeinem Geijte vorjchwebten bei
diefer Verkündigung überjchaut, nur wer ihn jo in dem Zufammenhang
auffaßt, in dem er jich jelber erblidte, nur der wird ihn einiger-
maßen jo begreifen fünnen, wie er wirflih war. Das gejchieht
aber nur vom alten Tejtament her.
Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 23
Es giebt aber noch eine andere gejchichtliche Instanz, um deren
willen es nöthig it, bei Löſung unferer Aufgabe die Vor—
geſchichte der chriftlichen Religion im ganzen Verlauf der
alttejtamentlichen Religion von Moje an bis auf Ehrijtus zu ver:
folgen. Innerhalb der Ehrijtenheit jelbjt it die Urkunde der alt=
tejtamentlichen Religion als die eigene Offenbarungs- und Religions:
urfunde rezipirt, fanonijirt worden: die Bibel des alten Tejtamentes.
Erit hierdurch hat fie ihre ungeheure weltgejchichtliche Bedeutung
erlangt. Dabei hat aber die EChrijtenheit mit dem vollen Necht
einer lebendigen fortwachjenden Religion dieſe Urkunde ausgelegt
und umgedeutet nach ihrem Sinn. Wir find heute Dank
unjerer jicheren philologijchen Erfenntniß im Stande, wenigjtens
einigermaßen den urjprünglichen authentijchen Sinn jener
religiöjen Schriften ermitteln zu fönnen. Wir begreifen die
Religion des alten Tejtaments als eine Religion für ſich, die
nicht zu verjtehen ijt nad) den Ideen des jo viel jpäteren Chrijten:
thums, jondern nur aus ihren eigenen Vorausjegungen. Und nurin
dem Maße, als man das originale Berjtändniß der alttejtamentlichen
Religionsurfunden gewinnt, vermag man jpäter abzujchäßen, was
das Chriſtenthum aus diefen Urkunden gemadt hat. ES dürfte
jih dann vielleicht zeigen, daß diefe Umdeutung des gejammten
Ideenkreiſes der alttejtamentlichen Religion, weit entfernt, eine
Fälſchung defjelben zu fein, vielmehr hinausläuft auf eine Ampli—
fifation, auf eine Berflärung, auf die Uebertragung jener alten Ideen
nationaler Religion in einen größeren Maßjtab und auf Anwendung
dieſes vergrößerten Bildes auf neue und andere Berhältnijje. Hat
man die chriftliche Kirche zum Theil mit altteftamentlichem Material
gebaut — Kanon, Bibel, Prieſterthum, Opferwejen — jo müfjen
dieſe Baujfteine doch zunächjt in ihrer urjprünglichen Bejchaffenheit
verjtanden jein, wenn man ihre Verwendung gejchichtlid) beurtheilen
will. Und doc iſt diefe Aufgabe, wie wichtig auch für die Gejchichte
des Chriſtenthums, noch von jefundärer Bedeutung gegenüber der
Wichtigkeit, die die religionsgejhigtliche Erkenntniß hat,
daß die Urjprünge des Chriſtenthums in der ijraelitisch-jüdijchen
Religion liegen. Denn dann kennt die Gejchichte überhaupt nur einen
einzigen religiöjen Monotheismus, aus dem die drei mono»
theijtiichen Religionen entſprungen find: jüdijcher, chriftlicher, Islam:
den volfsthümlichen Monotheismus Ijraels, der von Moje jtammt.
Wenn diejer Monotheismus — wie er es thut — Sich jelbit
herleitet aus einer göttlichen Offenbarung, nämlich aus Injpiration
24 Bie wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlichen Religion.
und Selbjtenthüllung der Gottheit, jo iſt gegen Diejes religiöje
Urtheil vom gejchichtlichen Standpunkte aus nichtS einzuwenden,
denn jeine gejchichtliche Originalität, feine Unableitbarfeit von andern
Erjcheinungen der Religion ift eine Thatjache. Die geſammte alt:
tejtamentliche Religion bildet jo einen einzigen Gejchichtsfreis, von
ihren erjten monotheijtiichen Anfängen in der mofaischen Monolatrie
(Verehrung eines einzelnen Gottes als des der Nation zugehörigen
Gottes ohne prinzipielle Ausjchliegung anderer (fremder) Götter) an
bis zum vollfommen fittlichen Monotheismus und zum Univerjalismus
der Propheten Iſraels, dann wieder von der Verfeſtigung dieſes fitt-
lihen Monotheismus zur gejeglichen und rituell ausgeprägten
Nationalreligion des jüdiſchen Befennervolfes und Duldervolfes
bis auf den Tag, wo Jeſus erjcheint und fie, jedoch noch ohne die
nationale Hülle abzujtreifen, durch jeinen VBatergottglauben und
jeinen fittlichen Univerjalismus im Sinne der größten Propheten
vollendet und verflätt. Die Urfunden diejer Gejchichte find von
den Drafeln . der Propheten bis auf die Sprüche Jeſu Selbit-
befenntnifje, religiöjfe Zeugnifje von jubjeftivjter Gejtalt, aus denen
ji) mit genügender Sicherheit der Stern der Perſönlichkeiten er:
fennen läßt, die fie verfündigt haben.
Außerhalb dieſes Gejchichtsfreifes giebt es mur noch eine
einigermaßen analoge Erjcheinung: die allmähliche Entwidlung des
philojophiichen Monotheismus in der griechiichen Philojophie,
Auch fie mündet bei der Berbindung eben diejes philoſophiſchen
Monotheismugs mit dem nationalen Monotheismug des Judentums
in dem alerandrinischen Sudenthum in jene allgemeine Bewegung
ein, aus der das jich über Paläſtina hinaus verbreitende junge
Ehriftentyum eine wejentliche Kräftigung erfuhr. (Die Frage iſt
fürs Erſte noch offen, ob eine Berührung Jeſu jelbjt mit dem
alerandrinijchen Univerjalismus jtattgefunden habe.) Wer aljo
blog vom geſchichtlichen Standpunft aus urtheilen wollte, der
würde in unjerer Bibel die vier Evangelien noch zum alten
Tejtament zählen können als dejjen eigentlichen religiöjen Gipfel:
punft und der würde das neue Tejtament, die eigentliche Gejchichte
des neuen Bundes zu lejen beginnen in der Apojtelgejchichte und
dem, was auf fie folgt. Er würde jo „Weisjagung und „Erfüllung“
in einem Zuge lejen und dann im Folgenden die Anwendung. Das ijt
natürlich nur gejagt zur Verdeutlichung der Sachlage, dieje Ver:
deutlichung aber nähert jich der von allen orthodoren Kirchen feit-
gehaltenen Anjicht von. der Einheit der alte und neu:
Die mwifjfenihaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 25
tejtamentlichen Religion, wonad) die Kirche und das Chrijten-
thum eigentlich immer jchon dagewejen find und das Ebrijtenthyum
feine neue Religion, jondern nur die Vollendung der einen
ältejten Religion iſt. Diejer Sat jcheint aud) heute noch richtig,
wenn man ihn jo ausdrüdt: das Chriſtenthum it die Erhebung
des durch Jeſus perjönlich vollendeten ijraelttijch-jüdischen jittlichen
Monotheismus zur allgemeinen Menjchheitsreligion.. Das wäre
aljo die Theorie der Genealogie der chritlichen Religion.
Darum bezeichnet man auch Jejus in jeinem Sinne faum richtig
als „Religionsitifter“. Er war fich deſſen jedenfalls nicht bewußt,
vielmehr hielt er fich nur für den vollfommenen Kepräjentanten
der längſt von Gott durch alle jeine Propheten gejtifteten einzig
wahren wirklichen Religion. Er befreite nur die Ausübung diejer
Religion von den Schranken, die das Judenthum jeiner Zeit ihr
zog und er fieht in der Zukunft ihre Anwendung voraus aud) auf
jolche, die Söhne Gottes jein werden in der ganzen Welt. Er
thut das aber allerdings fraft höchitperjönlicher Machtvollkommen—
heit, für die fein noch jo hoher Name hoch genug ift: nur der
des „Sohnes“ genügt ihm. Und dabei bleibt er doch völlig im
Kreiſe der Ueberlieferung der väterlichen Neligion drinnen, er iſt
weit entfernt, irgend etwas fundamental Neues jagen zu wollen,
er jagt und thut nur das Alte, Ewige, Wahre. Das „Evangelium“
ijt die „Erfüllung“ von „Gejeg und Propheten“. —
E3 durfte hier auf irgendwelche Einzelheiten der Gejchichte
diejer ijraelitijch-jüdijch-evangelijchen Religion jelbjt nicht
eingegangen werden. Sie liegt, um nur auf einige hervorragende
literarische Erjcheinungen hinzuweiſen, die verwandten Geijtes jind,
bereit3 gejchrieben vor in Wellhaujens Iſraelitiſcher und jüdijcher
Gejchichte, in Smends Alttejtamentlicher Religionsgejchichte und
in Holgmanng Neutejtamentlicher Theologie. Diejer reife Ertrag
der jüngjten Phaſe gejchichtlicher Bibelfritif jtellt eine Apologie des
Anjpruches der biblijchen Religion auf vollflommene Wahrheit und
göttliche Abkunft dar, die jeden anderen Beweisgang an Kraft
übertrifft.
Insbejondere das Werf von Holkmann zeigt, wie das volle
geichichtliche Verjtändnig Jeſu nur von rüdwärts her zu ges
winnen ift: vom Judenthum ber.
Gewiß läßt ſich zwijchen der Neligion der jüdijchen Zeit:
genofjen Ehrijti einerjeits und zwijchen der der Apojtel andererjeits
von einer eigenthümlichen „Religion Jeju* reden, und wer dieje,
26 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.
das „Evangelium“ rein für jich betrachtet, fann daran genug haben
lebenslang, was diejer aber ihren eigentlichen Werth giebt, it, daß
fie durchaus in dem perjönlichen Charafter, in der Individualität
Seju wurzelt, und daß fie ihren treffenditen Musdrud gerade in
denjenigen jeiner Worte gefunden hat, die am meiſten den Stempel
der Bolfsthümlichkeit tragen. Dann find wir aber wieder an das
Studium der ihm vorausgehenden Bolfsreligion gewiejen. Es wird
zum vollen wifjenjchaftlichen Verſtändniſſe dieſer religiöfen und
jittlichen Individualität ohne Gleichen des höchſten Maßes eines
dem Eindrude des Heiligen in menschlicher Gejtalt erjchlojjenen
Feingefühles bedürfen, wie andererjeits der Würdigung der gejchicht-
lichen Situation, in der er auftrat. Will man aber jeine abjolute
religiöje Größe würdigen, dann fann es nur gejchehen, indem man
jeine Perfönlichfeit vergleicht mit den Propheten jeines eigenen
Volkes, mit denen er ich jelbit in eine Reihe ftellt als ihr
Gipfelpuntt.
Die Reihe der eigentlich jchöpferiichen Individualitäten im
Gebiete der Religion — wenn diejer Ausdrud ſolchen gegenüber
berechtigt it, die bezeugen, Alles empfangen zu haben — jchließt
mit Jeju; nur am Ende diejer Ahnenreihe leuchtet jein Haupt in
dem ihm eigenthümlichen Glanze. Wenn Jemand jagen wollte, e8
jet nach ihm überhaupt nichts Neues mehr im Gebiet der Religion
gefommen, der würde Necht behalten. Die eigentlich produktive Zeit
der Welt, die alle Formen des geijtigen Lebens: Religion, Sittlich-
feit, Wiſſenſchaft, Kunſt erzeugt hat, ijt mit dem „Alterthum“ zu
Ende; die Reproduktion, die im Grunde doch nur unendliche
Variationen bietet, beginnt. Das „Chriſtenthum“ ijt Die erjte
diefer Neproduftionen und Kombinationen der im Bereiche Der
antifen Welt aufgetretenen Originaloffenbarungen.
Keine einheitliche Worwegnahme einer Skizze der mono»
theiftijchen Religionsentwidelung, die zum Chriſtenthum
hinführt, jollten diefe Bemerkungen jein, jondern nur Der
methodijche Hinweis darauf, daß wir zu jeinem wirklichen Verjtänd-
nifje des Studiums feiner Genealogie bedürfen.
Sie lafjen jich kurz jo zujammenfajjen: Es iſt unmöglid), Die
Berjon Jeſu und fein Evangelium wirklich gejchichtlich zu verjtehen,
wenn man dabei lediglich von den Vorausjegungen der
Apojtel und von den Gejichtspunften des Glaubens der
eriten Chrijtenheit ausgeht, unbejchadet des hohen religiöjen
Werthes, den dieje apojtolifche Lehre hat.
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 27
Vielmehr fann die wirkliche Individualität des geſchicht—
lichen Gegenitandes der chrijtlichen Religion, der Berjönlichkeit Jeſu,
nur begriffen werden auf dem Boden der altteftamentlichen Religions:
geichichte und des Judenthums. Denn erſt gemefjen an deſſen
Borurtheilen erjcheint die Größe und die Reinheit von Jeju religiöjer
Eigenart und die völlig einzige Univerjalität jeiner Gottes- und
Menjchenliebe.
Sind erjt durch ihn die prophetiichen Ideen zu einer die ganze
Menjchheit erlöjenden Religion entfaltet worden, jo iſt es nöthig,
die einzelnen Schritte, mitteljt deren dieje Neligion jich entwickelt
hat, abzumejjen, joweit das noch möglich iſt.
Während aljo im jtrengjten Sinne des Wortes der zureichende
Grund für die Entitehung des Chriſtenthums nur die Berjon
Jeſu Ehrijti it, jo it Doch ſein Urjprung vorbereitet durch
jene ganze Offenbarungsfette, deren eriter noch jichtbarer Anfang
die Volks- und Neligionsgründung des Mojes ift. Die
Kirche hat injtinktiv das Richtige getroffen, indem fie das alte
Tejtament als gleichwerthige Urkunde der chrijtlichen Religion mit
dem neuen Tejtoment verband. Nur eine wirkliche gefchichtliche
Wifienjchaft der ganzen Bibel lehrt uns das Evangelium ver:
jtehen, ihren glorreichen Abjchluß. Die „Kirchengefchichte des neuen
Teſtaments“, wie die Alten jagten, beginnt dagegen erit mit den
Apoiteln.
II.
Die zweite Aufgabe einer Gejchichte der chriitlichen Religion
jcheint zu jein die Ermittelung der wejentlichen Formen, die die
chriftliche Religion in ihrer jeitherigen Entwidelung angenommen
hat, jo zu jagen ıhre Morphologie.
Die Behauptung aller ausjchliegenden Kirchen und einzelnen
Konfeffionen ijt die, daß es im Grunde nur eine Form chrijtlicher
Religion gebe und geben fünne, die eigene; jede andere jei eine
Verirrung.
Natürlih Habe auch dieje Form jic) gejchichtlich entwidelt,
aber dabei verändere ſie ſich nicht. Man gejteht aljo nur neue
Spielarten des Chriſtenthums zu, die Entjtehung neuer Arten
wird geleugnet.
Hierüber ift a priori nichts zu entjcheiden. Der Beweis des
Gegentheil3 fann nur von der Gejchichte erbracht werden. ber
eine pjychologifche Erwägung dürfte doch dabei behilflich jein.
28 Die miffenfhaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion.
Die wejentlihen piychologijchen Elemente der Neligion im
Chriſtenthum jind einerjeit8 die Injpiration, das perjönlice
Innewerden des Göttlichen, der Glaube als fides qua creditur,
andererjeit8 die religiöjfe Intuition, das religiöje Anſchauungs—
ganze die fides quae creditur. Gemeint ijt mit dem leßten Aus:
drud ein Analogon zu dem, was die Philoſophie intellektuelle An:
ichauung nennt: das Entwerfen einer Gejammtanjchauung der
objektiven Welt von einem Punkte des jubjeftiven Fürwahrhaltens
aus. Der Vorgang bei dem Entwerfen diefes Ganzen einer An-
ſchauung hat viel inftinftives an jich. Das jo entworfene Weltbild
ruht nicht auf empirischen Wahrnehmungen oder auf methodijcher Be-
obachtung oder auf disfurjiver Begriffsentwidelung, jondern es ijt ein
wejentli” mit den Mitteln der Phantaſie aber auc mit Mitteln
des fombinirenden Denkens nach religiöjen Gefühlsmaßſtäben ent-
worfenes Gebild, in dem die jubjektive religiöje Ergriffenheit ſich
befriedigt, weil jie darin überall ihr Spiegelbild wiederfindet.
Injpiration und Intuition bilden, formal gejprochen, den Inhalt
der Religion.
Nun ijt Klar, dag, wie mächtig auch der religiöje Genius, der
irgendwo auftritt, hinein leuchten möge in die gemeinjame Ueber:
lteferung und die Borjtellungsmafje jeiner Zeitgenofjen, wie viel
neue Ideen und Ziele er aufjtellen möge, er doch abhängig it
von der Kulturart und Kulturjtufe jeines Volkes, jeiner Zeit. Und je
länger eine von einem Cinzelnen vorgetragene religiöfe Welt:
anjchauung fich erhält, je mehr unbewußte und bewußte Anpafjung
an geltende Begriffe und Vorjtellungen erfährt fie, um jo mehr wird
jie in den allgemeinen geiftigen Entwidlungsprozeß bineingezogen,
So wird eine auf originaler Injpiration und Intuition be
ruhende Religion auch unter verjchtedenen Verhältniſſen verjchiedene
Ausdrudsformen annehmen müſſen. Dieje Verjchtedenheit wird ji
nicht nur auf die intelleftuellen und künſtleriſchen Ausdruds
mittel beziehen, jondern auch auf die religiöfen, die jittlichen und
die jozialen Ideale. Cine und Ddiejelbe Neligion wird fich unter
veränderten Verhältnijien al8 diejelbe nur behaupten fünnen, wenn
jie, ohne ihre jchöpferischen Grundlagen zu verleugnen, doc) ver:
jchiedene Formen ihrer gejammten Selbjtdarjtellung annimmt.
Eine innere Einheit diejer Formen fann ſich dennod)
bewähren in übereinjtimmenden Zügen des Grundtypus.
Gelingt ed nun, eine Reihe von Typen aufzujtellen, in denen
das Chriſtenthum ich charakteriſtiſch verjchieden darjtellt und zugleid)
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 29
in jedem Typus ein fonjequent einheitliche8 Gepräge nachzuweiſen,
dann wäre ein Faden gefunden, an dem ich vielleicht auch die
Genealogie diejes Typus Far machen läßt.
Schon die jeither angenommenen Typen, etwa Urchrijten:
thum, katholiſches, protejtantijches Chriſtenthum weijen auf
genealogiſchen Zujammhang hin. „Katholiſch“ nennt man Alles, was
direkt von deraltfatholischen Kirche des dritten Sahrhundertsabjtammt,
„proteitantijch“, was aus der Reformation des ſechszehnten Jahr:
hunderts fommt. Aber man hat dann doch nöthig gefunden, 3.8.
von „Neformatoren vor der Reformation“ zu jprechen und von
„protejtantijchen Anmwandlungen“ innerhalb des „Katholizismus“,
und damit gezeigt, daß es auch außerhalb des genealogijchen
Zujammenhanges dody verwandte Erjcheinungen geben fünne,
man hat aljo die Typen im Prinzip wenigitens anerkannt.
Nimmt man noch Hinzu den „chriftlichen Individualismus“,
von dem in letter Zeit öfterd die Rede war, jo it damit wohl
Alles angegeben, was man meines Wijjens jeither an allgemeinen
Typen chrijtlicher Religion aufgejtellt hat. Irgend eine methodijche
Ableitung jolcher Typen it mir nicht befannt geworden. Das
aber dürfte das erjte Erforderniß einer Morphologie jein. Es
müßte gezeigt werden, nach welchen Merkmalen fich die verjchtedenen
‚sormen chrijtlicher Religion unterjcheiden.
Hier ein Berjuch diejer Art. *)
Für alle Formen chrijtlicher Religion lajjen ſich vier wejent:
lihe Merkmale aufitellen, wofür die Berechtigung jofort erwiejen
werden joll:
1. Die eigenthümliche Injpiration, die Art und Weiſe wie
man Gottes inne wird;
2. die eigenthümliche Intuition, der Glaube, die religiöſe
*) Die der ganzen Darftellung zu Grunde liegende Borausfeßung, von deren
Annahme oder Ablehnung alles Weitere abhängt, ift, um es bier kurz
zujammenzufafjen, die: In den führenden religiöfen Geiftern entſteht kraft
der ihr ganzes Geiftesleben beherrſchenden Energie der perſönlichen
Religion eine eigenthümlihe Gejammtverfafjung (Gefammtitimmung),
Gejammtanihauung und Gefammtmwillensrihtung von einer hinreißen—
den und durch jeden äußeren Erfolg gefteigerten Kraft. Dieje Anfhauung
ift weder eine auf Schlüffe gebaute Metaphyſik noch ein bloßer Seelen-
traum mie e8 die fünftleriihen Zdeale find, wenngleich fie die metaphyſiſche
Betrachtung nicht vermwirft und ſich reichlich auch künſtleriſcher Mittel
bedient; ſie iſt vielmehr im Weſentlichen ein Weltbild, das die natürliche
Wirklichkeit, ſo wie fie den anderen Menſchen erſcheint, aus ihrer Stelle
verdrängt, fie ijt eine Reihe von Schauungen, die für den Schauenden
objektive Giltigkeit Haben. Sie ſchöpft, ohne durchaus daran gebunden zu
30 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion.
Weltanjchauung, die unter der Inſpiration ſich gejtaltet, die
religiöje Vorjtellungswelt;
3. das Saframent, die Art und Weiſe, wie man jich mit
Gott am wirkjamjten verbunden weiß;
4. das Lebensideal, der Lebenszwed, den man jich durch die
Religion gejegt ſieht.
Bedient man ſich dieſer Kriterien, jo laſſen ji) aus der
Stammform des Chrijtenthums, aus dem urjprünglichen Ehriften-
thum bis jeßt vier charafterijtiich verjchtedene Formen entwideln.
Dieje find Sproßformen: eine jede entwidelt ſich aus der ihr
unmittelbar vorausgehenden. Demnac würden die morphologischen
GSejtalten des Chrijtentyums zu bezeichnen fein als 1. urſprüng—
liches Chriſtenthum, 2. Satholizismus, 3. Protejtantismus,
4. Pietismus, 5. chrijtlicher Humanismus.
1) Das ältejte urjprüngliche Chriſtenthum umfaßt alle jene
Erjcheinungen, die man als vorfatholiich bezeichnen fann, aljo die-
jenigen, die zwijchen der Auferjtehung Chriſti und der erfichtlichen
Bildung einer „katholiſchen Kirche“ liegen. Alſo die Zeit ungefähr
von 30—150 nad Chriſto. Man pflegt jie in firchene und
dDogmengejchichtlicher Beziehung zu trennen in die apojtoliiche und Die
nachapojtoliiche Zeit. Dieje Trennung iſt aber vom gejchichtlichen
Standpunft aus fraglid. Sie beruht auf dem protejtanttichen
Borurtheil von der Mujtergiltigkeit des apoſtoliſchen Zeitalters, Die
doch ebenjo auch dem folgenden Zeitalter eignet. Denn die meijten
Merkmale haben beide Zeiten gemein, und die Quellen, aus welchen
man jie erkennt: apojtolische und nachapojtoliiche Schriften ge—
hören nach den Anfichten der gegenwärtigen Kritif zum größeren
Theil der gleichen Zeit an.
Die ältejte Kirche, die theilweije Schriften der jogenannten
apojtolischen Väter, den Brief des Klemens, den Hirten Des
fein, aus Schrift, Ueberlieferung und allen andern Mitteln, behauptet fich
aber auch in jedem Kampf mit entgegenjtehender Wiſſenſchaft, Politik,
Nationalität. Sie begründet eine moraliihe Ueberzeugung,. die fi in
fittlihdem Urtheil, Handeln und Bilden äußert. Während ihr Urfprung
meijt verborgen ift, legt fie fich deutlih dar in Gebeten und erbaulichen
Ausfprachen jeder Art, in Dichtung und fünftlerifhen Schöpfungen, im
Rhythmus des perjönlichen fittlihen Lebens und in Der Inneren
Stellung des Individuums zu allen Fragen des Tales und Gewiſſens.
ALS befonders deutliche Beijpiele deffen, was bier gemeint ift, fei
verwiefen für den Katholizismus auf Auguftinus, Dante, Ignatius
v. Loyola, für den Proteftantismus auf Calvin, Milton, für den
Pietismus auf Zinzendorf, für den chriftliden Humanismus auf Binet,
Robertſon, Kingsley.
Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hrifilihen Religion. 31
Hermas, die Lehre der zwölf Apojtel u. a. in ihrem Kanon
heiliger Schriften las, hat auch feineswegs jo jcharf gejchteden. Jeden—
fall it des Zujammengehörigen mehr als des Trennenden.
Dieje erjte Form des Chriſtenthums iſt grundlegend. Sie
hat vor allen jpäteren voraus, daß jie beruht auf der perjönlichen
Belanntjchaft der eriten Jünger und Apojtel Jeſu mit ihm jelbit. Der
Eindrud, den Jejus gemacht haben muß, jpiegelt fich für
ung jeßt nur noch wieder in dem Glauben an ihn, den gerade
jeine perjönlihen Schüler hatten und verfündigten. Schon der
Glaube des Paulus jchließt ein Clement des Nefleftirten, der
Theologie, der Schlußfolgerung aus anderen Glaubensjäßen in jich,
der Glaube der Urapojtel allein zeigt und das, was man
in neuerer Zeit Die „Ueberwältigung durch die Perjönlichkeit Jeſu“
genannt hat und was im buchjtäblichen Sinne nur da jtattfinden
fonnte, wo man ihn perjönlich gefannt hat. In der auf jie
folgenden Zeit hat jich einer der merfwürdigiten religiöjen Vor—
gänge, die die Gejchichte kennt, vollzogen: die Befreundung der
antifen Menjchheit mit den Ideen der alttejtamentlichen Welt und
Literatur. Diefer Vorgang vollzog jich aber halb unbewußter
Weiſe, während die Augen der eriten Gläubigen an jenem wunder:
baren Bilde hingen, das die Apojtel der Welt vor Augen geitellt
hatten, von Jeſus dem Menjchen und dem Gottesjohn, dem Ge—
freuzigten und doch nach feiner Auferwedung vom Himmel her in
verflärter Gejtalt Herrjchenden, der jeine Jünger erhebt zu Mit—
herrjchern in einer fünftigen Welt. Die Gemeinde jener eriten
Zeiten jieht fi) an als eine Schöpfung des heiligen Geiites.
Der heilige Geiit, wie man ihn damals faßte, it eine übernatürliche
Kraft, die das geſammte Seelen:, Geiſtes- und Willensleben derer,
die er erfaßte über das gewöhnliche menjchliche Maß erhöht, ohne
es Doch prinzipiell zu alteriren.
Demgemäß trägt der Glaube jener eriten Zeit (die fides qua
ereditur) das Siegel der Gewißheit in jich jelbjt. Gr bedarf
feiner äußeren Autorität. Die heilige Schrift, die allgemein ans
erfannt wird, ilt das alte Teftament. Aber es wird verjtanden
und ausgelegt im Sinne dieſes heiliges Geiſtes. Es iſt Das
Weiſſagungsbuch der Ehriftenheit und dieſe Weifjagungen legt
der heilige Gert Chriſti aus. Die perjönliche Erinnerung an
Ehriftus beherrſcht noch Alles. Seine Worte werden als bindendes
Geſetz überliefert, aber erſt ganz allmählich fommt es dazu, daß
fie Jchriftlich aufgezeichnet werden. Was wir noch weit über Die
32 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion.
eriten beiden Generationen der „Ehrijtianer” hinaus dauernd er:
fennen fönnen, it im jittlichen und jozialen Leben jener durch—
gehende Ernſt der Heiligung und Sittenreinheit, jene brüderliche
Hilfleiftung und gegenjeitige Unterordnung, jene ungeheuchelte
Demuth und Weltabgejtorbenheit, die am mächtigiten Zeugniß ab-
legen für die außerordentliche Gewalt des perjönlichen Borbildes
Ehrifti. Nicht mit Unrecht hat man dieſe Zeit die „der erjten
Liebe“ genannt, wenn man dabei nicht überjehen will, daß zu
jeder Liebe auch eine gewiſſe Einjeitigfeit, ein Haß des Fremden
gehört. Dem entjpricht die eigenthümliche Literatur der Zeit: die
neutejtamentlichen und nachapojtoltichen Schriften, die das reichite,
reinjte und adeligite Neligionsbuch find, das die Welt befigt, voll
des fühnjten und des findlichiten Glaubens, den wir fennen. Wer:
hältnigmäßig jchnell find die einzelnen Schriften, aus denen all»
mählich diejes Buch ſich bildete, in den gottesdienjtlichen Gebrauch
einzelner Gemeindegruppen der jungen Chriſtenheit genommen
worden und damit erlangten fie gleichen Rang mit dem älteren
gottesdientlichen Buch, dem alten Tejtament, das man im All—
gemeinen als prophetiiche WBorausdaritellung der evangelijchen
Dinge anjab; aber nicht aus den Schriften quoll die Neligion,
jondern die jtrömende Religion trug die Bücher und Schriften in
die Höhe.
Einen prinzipiellen Unterjchied zwijchen jchriftlicher und münd-
licher Ueberlieferung giebt es noch nicht: was als Wort des Herrn
gilt, it Gebot, man it aber weit davon entfernt, zu meinen, nur
einige bevorzugte Berfajjer hätten dieje Orafeljprüche (logia) des
Herrn aufzeichnen fönnen.
Es gilt weiter die Autorität des jchriftlichen Wortes Der
Apojtel, und die Autorität der noch im zweiten Jahrhundert auf:
tretenden wandernden „Apojtel“ und „Propheten“ für ihre münd—
lichen Befehle.
So haben wir es in diejer neuen Neligion mit einer Bildung
zu thun, die mit dem mütterlichen Schooß, der fie getragen hat, nod)
in Direfter Verbindung steht, während doch das fie begründende
und das in thr vorhandene perjönliche Leben etwas thatjächlich
Anderes und Neues ilt.
Die Injpiration diejes urjprünglichen Chriſtenthums bejteht
in der von den Lleberlieferungen der apojtolijchen und nachapoſtoliſchen
Zeit bezeugten Begabung mit dem „heiligen Geijt“. Dieje tritt
ein in Folge des Glaubens, der durch die Verfündigung Der
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlichen Religion. 33
chrijtlichen Miſſionare erwedt wird. Sie äußert jich in der Bereit:
willigfeit zum feierlichen Bekenntniß des chrijtlichen Namens (nomen
Christianorum. Plin. Sec. Ep. X, 97). Die Begabung mit dem
heiligen Geiſt iſt begleitet von bejonderen meijt wunderbaren Eigen
ihaften Einzelner: Prophetie, Zungenreden, Stranfenheilung, Erorzis-
mus, u. j. w. — fie vermittelt Allen gleihmäßig die Neberzeugung,
zu Gott in einem abjolut übernatürlichen VBerhältnijje der Kind»
ſchaft zu jtehen, die man ſich als eine Adoption durch Gott gedacht
haben muß. Die aljo Geweihten find den Einflüfjen der Dämonen
und des Heidenthums entrüdt. Sie fühlen ſich auch in ihren intel:
leftuellen Fähigkeiten erhöht, ebenjo wie in ihrem gejammten fitt-
lichen Habitus und beweiſen das in der Bereitjichaft zu über-
menjchlicher Aufopferung und außerordentlichen Leiden „um des
Namens willen“.
Die Intuition, die im Glauben feitgehaltene Vorſtellungs—
welt des urjprünglichen Chriftentyums iſt außerordentlich ſchwer zu
zeichnen, weil, abgejehen von der „paulinijchen‘ und „johanneifchen
Theologie‘, die beide eine jinguläre und feine allgemeine Geltung
haben, nur bruchjtücdhweije Ueberlieferungen darüber vorliegen,
nirgend3 in einer zujammenhängenden Darftellung und weil das
Wejentlichjte diejer Borjtellungswelt bejteht in jenen überjchwänglichen
Hoffnungen, Ahnungen und Stimmungen, die den Hintergrund des
perjünlichen und des gemeinjamen Lebens bildeten, naturgemäß
aber jich aller abjichtlichen Ueberlieferung entziehen. Wir dürfen
auch nicht hoffen, hierüber jemals ausreichend unterrichtet zu werden
und fönnen darum die etwa vorhandenen Analogien von jpäter
auftretenden Injpirationsgemeinden (bei Wiedertäufern, Sevennolen,
Separatijten und Seltirern) faum benugen. Es fehlt uns die
Möglichkeit, lebendig zu vergegenwärtigen ſowohl was die perjün-
lihe Verfündigung der Apojtel an anjchaulicher Schilderung des
„Herrn“ enthielt, als die konkrete Anjchauung des ganzen über:
Ihwänglichen Stimmungsgehalts jener Generationen, die das
Wunderbarjte und NAußerordentlichjte täglich zu erleben glaubten.
Doc läßt fich vielleicht der Unterjchied der religiöfen Glaubenswelt
des urjprünglichen Chriſtenthums von der Jeſu jelbjt an—
nähernd bezeichnen. Ber Iejus jelbjt die wundervoll einfachen
Anjhauungen des alten Tejtaments, verflärt durch das, was jein
eigenjter Beſitz war, durch die Ueberzeugung von dem Vatergott
und die Gewißheit, dab Alles, was in der heimischen Religion nod)
Verheigung war, durch ihn jelbjt fich erfüllen werde — eine über
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 3
34 Die wiffenjhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlihen Religion.
alie Theologie und Schultradition hinaus gehobene, im Aether
eined ganz und gar volfsthümlichen, bildlichen, anjchaulichen Bor:
itellens und Denkens jchwebende fonfrete Gejtaltenwelt — während
der „Glaube an ihn‘ jofort einige Säße feititellt, die gegen Wider:
jpruch und Mißdeutung vertheidigt, begründet und befejtigt werden
müfjen. Dieje Behauptungen drüden das veränderte Verhältnik
aus, in dem die Chriſten jich fühlten zu der jüdiſchen Glaubens:
welt, aus der fie im MUebrigen jich erit langjam herauswinden.
Da it erjtens das Kreuz: der gewaltjame Tod und die ıhm
folgende Auferjtehung des Meſſiaskönigs bilden ein die ganze ſeit—
herige Weltgejchichte ſozuſagen durchkreuzendes Faktum, das auf
göttlicher Beranjtaltung beruht, eine Heilsthatjache (nach dem Sprad)-
gebrauch diejes modernen Wortes); 2) Die Wiederkunft diejes Chriftus
zum allgemeinen Weltgericht und zur Aufrichtung jeines Reiches
auf Erden jteht noch bevor; 3) Die gegenwärtige Weltzeit, jo kurz
jie auch noc) dauern mag, jteht unter der Herrichaft der Dämonen,
die die Kraft des Heidenthums bilden, jeder Steg über jie arbeitet
dem endlichen Triumph des Neiches Chriſti vor. Das thut bejonders
die Berfündigung von dem auferjtandenen Sohne Gottes durd)
die von ihm jelber ausgerüfteten Sendboten, die Mijjion.
Hiermit hat die aus dem Kreije der jüdischen Religion jtammende
Weltanjchauung der erjten Ehrijten ein Element des Dramattjchen
und des Gejchichtlichen in fich aufgenommen, das ihre ganze zu:
künftige Entwidlung bejtimmen wird. Im Mittelpunfte des Kampfes
zwijchen Gott einerjeitS und dem dämonijchen Reiche anderer:
ſeits jteht der gejchichtliche Jejus von Nazareth in der völlig über:
natürlichen Würde eines Sohnes Gottes. In ihm ift in menjd:
licher Gejtalt ein göttliches Weſen erjchienen, jei es der vorher im
Himmel befindliche Chriſtus, jei es der Gott Logos ſelbſt. Die
Welt, um deren Palingeneſie es jich handelt, it einjt durch ihn
in jeiner göttlichen Stellung gejchaffen worden, er hat ihre Ent-
wiclung geleitet, er jegt ihr auch das Ziel. Die Erjtlinge der
fünftigen durch ihn einzurichtenden gereinigten und verflärten Welt
Jind jeine Gläubigen, die Bürger eines himmlischen Gottesreiches.
Als das Saframent des urjprünglichen Chrijtentyums, als
das, wodurch die lebendige Verbindung zwijchen Gott und Menjchen
hergejtellt wird, ijt zu bezeichnen die Verſammlung der Gläubigen
(Heiligen, ecclesia, wörtlich berufene Volfsverfammlung der Voll:
bürger). Wo dieje Verſammlung iſt und wären auch nur drei „in
dem Namen‘ Jeſu verjammelt, da iſt in ihrer Mitte der „Herr“
Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 35
wirfjam mit feinem Geiſte. Die Verjammlung vollzieht die „Er:
bauung eines heiligen Tempels“, in dem die Gottheit wohnt, in
ihrer „Dankjagungsfeier‘ knüpft jie denjelben innigen Bund mit
Gott, wie ihn Iſrael in feiner jährlichen Pafjahfeier ſtets neu be—
jtätigte, jtellt fie ji) dar als der Anfang eines neuen und ewigen
Gottesvolfes. Das Wichtigjte, was in diefer Verſammlung vorgeht,
ijt nicht der einzelne Ritus, den man vollzieht (als bevorzugte
Niten bilden fi) aus Taufe und Herrnmahlzeit), jondern die Ver:
einigung der Ehrijtusjünger, wie und wo fie jtattfindet, it ein
Gegenjtand des göttlichen Wohlgefallens, jie bildet den eigentlichen
Augapfel Gottes,*) das Lieblingsaugenmerf der Vorjehung.
Der Lebenszwed der Gläubigen des urjprünglichen Chrijten-
thums ijt die perjönliche Vollendung zu Bürgern des fommenden
Gottesreichs, die aftive Heiligung. Nicht bloß die rituelle pajfive
Heiligung, mit der jich Judenthum und Heidenthum begnügten. Gie
beiteht in der Hingabe des ganzen Menjchen an den Willen Gottes.
Darunter ijt verftanden jowohl der religiöje Berfehr mit Gott im
Gebet, vor Allem im gemeinjammen Gebet, als auch die Unter:
ordnung aller Yebenspflichten unter die Zugehörigkeit zur Gemein—
ichaft, nämlich die Umgejtaltung aller bejtehenden Berhältnifje des
Individuums in Ehe, Familienleben, Kindererziehung, Freund:
ichaft, Gejelligfeit, Erwerb, Verkehr, Handel, Dienſt und bürgerlicher
Stellung in diefem Sinne Was hierin die Gemeinschaft hindert,
ijt nicht als Inſtitution zu bejeitigen, aber von dem Gläubigen
perjönlich völlig zu meiden.
Sodann aber gehört zur Vollendung der Heiligung die be—
jondere Hingabe Einzelner und zwar nicht Weniger an Gott in
einem der Mijfionsberufe, die alleın Gott dienen: als Apojtel,
Prophet, Wunderthäter oder in einem Gott in der Gemeinde be-
jonders dienenden Stand ala Lehrer, Aufjeher, Aelteſter, Diener,
als Wittwe oder jungfräulicher Asfet. (Dies iſt die eigentliche
„Nachfolge Ehrijti“.)
Neben diefem bejonderen Xebensopfer an Gott wird allen
Chrijten zur Pflicht gemacht die Uebung jener Tugenden, durch
die man Chriſto prinzipiell, nicht perjönlich gleichförmig wird: der
Geduld im Leiden, der Freigebigfeit und Mittheilſamkeit, der Ber:
Jöhnlichkeit, des Verzichtes auf perjönliche Nechte, der thätigen
») Diefer Deuteron. 32 entnommene Ausdrud it m. W. nicht in Der
älteften Zeit verwendet worden, fondern nur bier zur Berdeutlihung
gebraudt.
3*
36 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion.
eindesliebe, des Gehorjams gegen die Obrigkeit. Die jpezifiich
chrijtliche Ethik ift die Uebung der von Chriſto vorgejchriebenen
und geübten Tugenden zu jeiner Ehre und zu feinem Dienſt, aljo
als Fortjegung feines Wandels auf Erden. Die Menfchenliebe,
wie Chriſtus fie jelbjt geübt hat, verwandelt fich damit in Chriſtus—
liebe, in Ehrijtusnachahmung.
Diejes Chriſtenthum war eine neue Religion und hatte jich
zu behaupten neben anderen fonfurrirenden Religionen, außer dem
Sudenthum, neben der weit verbreiteten ſynkretiſtiſchen Religion
des Gnoftizismus und neben dem Stoizismus.
Sein fundamental Neues läßt jich in die wenigen Worte faſſen:
1. Ehriftus, Den eine ausreichende Ueberlieferung als wirkliche
gejchichtliche Perjönlichfeit beglaubigte, it ein Menſch, der in gött-
licher Weiſe gewirkt hat und fich nun in göttlicher Stellung befindet.
So ijter das Hauptobjeft des Glaubens. Der Glaube beiteht
darin, daß man feine Wunder anerkennt und ihn allein als den
Zugang zu Gott verehrt. Hierin wurzelt das ganze Dogmen-
ſyſtem der Kirche, dejjen Mittelpunkt die Gottheit Chrijti iſt.
2. Die neue Aufgabe jittlich religiöjer Art, die den Menjchen
erwächjt, it die Seeljorge, die Sorge für den einzelnen Menjchen,
daß er zum Heil gelange. Wie hieraus die ganze neue hriitliche
Ethik erwächit, jo die neue Würdigung der menschlichen Berjönlichkeit
überhaupt. 3. Das „Saframent der Gemeinjchaft“, die Uebung
heiliger Handlungen, hat die Aufgabe, als Unterpfand ein fünftiges
Leben zu verbürgen. Hieraus it die ganze Liturgie der Kirche
erwachjen, einjchlieglic) der Nemter, die zu ihrem Vollzug noth-
wendig jind, aljo die Kirchenverfajjung. Diejes gejchichtlich Neue
im Chriſtenthum hängt überall, wie ji) von jelbjt verjteht, mit
Worten und Abjichten Jeſu zujammen, bildet aber eine neue
eigenartige Religionsjtufe. —
Es wird wohl niemals gelingen, vollitändig alle Einzelheiten
ihrer Bildung zu erflären. Aber nicht in dem, was unerflärt
bleibt, nicht im Geheimniß ruht ihr Werth, jondern in dem, was
jie von Iejus bewahrt als Offenbarung jeines Wejens.
Ihr Werth bejteht darin, daß das, was Jeſus perjönlich war,
und was er brachte, hier eine unendlich entwidelungsfähige Form ges
funden hat, in der es in der Welt und Gejchichte eine neue Zeit
heraufführen mußte. —
2) Die erjte Form, die ſich aus dem urjprünglichen Ehrijtentyum
entwidelt, nicht mit einer inneren organijchen Nothwendigfeit, jondern
Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlihen Religion. 37
unter dem Einfluß zwingender äußerer VBerhältnijje, die natürlich
hier nicht erörtert werden fünnen, it der Katholizismus, die
chrijtliche Religion unterm vorwaltenden Gefichtspunft der Kirche.
Die Hauptformen de3 Katholizismus dürften fein: der Alt—
fatholizismus (Kirche vollfommen unabhängig vom Staat in
einem gegen die Kirche gleichgiltigen oder feindlichen Staat),
Katholizismus als römische Reichs- oder als Staatsfirdhe,
mittelalterlicher, römijc = abendländifcher Katholizismus,
Nationalfatholizismus, (griechiicher, ruffischer, gallifanijcher,
anglifanijcher) moderner Bapismus. Es handelt fich Hier um das
allen Ddiejen Formen Gemeinjame, um den Artbegriff des
Katholizismus. Es ijt: Glaube an die Kirche als von Gott
geitiftete Heilsanitalt.
SeineÖrundlage ward bereits gelegt im urjprünglichen Chriſten—
tum. Aber dort ruht das ganze religiöfe Syftem auf der Gewiß—
heit des Heilsbejiges, man fommt nicht durch die Kirche zum
Heil, hier zielt Alles auf Heilserlangung. Der Befit des Heiles
verfündigt ſich im heiligen Geil. Die Heilserlangung wird ver-
bürgt durch Heilsgarantien.
Das „Syitem der Heilsgarantien“ ist der Katholizismus. Sein
tragender Pfeiler ijt die von Gott gegründete priejterliche Amts:
genojjenjchaft.
Die Entjtehung diejer das Heil vermittelnden Träger fultijcher
Aemter aus den Ordnungen der Urgemeinde bildet ein noch nicht
gelöftes Problem gejchichtlicher Forfhung. Aber feine Löſung darf
erhofft werden von der wirflichen Ergründnng der religiöfen Be—
wegungen jener Zeit.
Bon Injpiration fann im Katholizismus nur mit einer
gewifjen Zurüdhaltung gejprochen werden. Denn die in ihm vor—
bandene Gewißheit des Heiles beruht nicht auf perjönlicher Er-
leuchtung, jondern auf dem Vertrauen auf die Autorität. Nämlich
auf die Autorität der bijchöflichen Nachfolger der Apoftel. Sie
vermitteln den direften äußeren Zuſammenhang mit Chrijtus. Der
Episfopat ijt die Fortjegung des Dienjtes Chrijti auf Erden, den
zuerjt die Apojtel leiſteten. Wer fich ihm unterwirft, Huldigt Chrifto.
Der Glaube it aljo gehorjame Unterwerfung unter die Kirche
als göttliche Stiftung.
Dieje Stiftung ruht auf folgenden Stüßen: auf dem Kanon
apoſtoliſcher Schriften; auf der Glaubensregel, als deren authentijcher
Auslegung; auf dem bijchöflichen Amt als dem Depojitorium der
38 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefchichte der chriſtlichen Religion.
überlieferten Wahrheit. Dieje unzerreißbare Kette von Heil
bedingungen bildet die gewaltige Stärfe der Kirche, die allen
im vollen Sinne des Wortes „Kirche“ it und fich zu ber
großartigjten. jozialen Schöpfung ausgewachlen hat, Die die
Gejchichte fennt. Sie ift etwas Anderes wie die apoſtoliſche
„Berjammlung“.
Sie hat den Lebensabend der hinjterbenden antifen Welt mıt
einem milden Schein verflärt, fie hat ihre koſtbarſten Kulturgüter
für die Nachwelt gerettet, fie hat dann die fräftigjten Völker und
Stämme der neueren Gejchichte: Germanen, Romanen, Slaven
erzogen und unterwiejen, als die große Mutter aller neueren
Zivilifation. Daß nicht ein politijches Neich, fondern ein geiſtliches
Reich die erite umfaſſende Gemeinjchaft war, in die dieſe Völker
halb mit Scheu, halb mit Liebe eintraten im Beginn des Mittel:
alters, it von größter Bedeutung für ihre Zukunft geworden.
Niemals können dieſe jungen europätjichen Nationen (das find je
im Vergleich mit den früheren Einwohnern) e3 verleugnen, daß
über ihrer Wiege vom achten bis elften Jahrhundert der chriftlihe
Weihnachtsgefang der Kirche erflungen it, der fie zu einem höheren
als bloß irdiſchen Dajein weihte. Die größte Leitung des Katholi
zismus iſt Die durch viele Jahrhunderte fich eritredende Ausbildung
jener zujammenhängenden Weltanſchauung, die die biblichen
Religionsideen mit der antifen Wijjenjchaft und Philojophie und
mit den halb chriftlich asketiſchen, halb heidnijch-germanijchen Lebens—
idealen zu einem Ganzen verbindet, das auch heute der europätichen
Kulturarbeit zu Grunde liegt und insbejondere unjer ganze
äfthetiiches Empfinden, unjere Phantajiewelt beherrſcht. Nicht nur
Dogma, Liturgie und Kirchenverfafjung, jondern auch „Diesjeits“
und „Jenſeits“, unjere Logik und unjere Ethif hat ung der
Katholizismus gegeben, unjere Bolitif jtammt von ihm. Aus der
Antike ſtammt fein Gottes: und jein Weltbegriff, weniger aus der
Bibel. Beides wirft tief hinein in die kirchliche Praris. Gott üt
der abjolut über die Welt erhabene Geiſt, jtreng übernatürlid
gedacht und unnahbar. Er offenbart jich in abgejtufter Weiſe ım
Sohn. und Geift. Der Batergott des erjten Chriſtenthums ver
wandelt ſich in den dreieinigen, aber in diejer Verwandlung bewahrt
er unter völlig veränderten Verhältniſſen des begrifflichen Denten:
jeinen tiefiten Charakter, den jittlichen. Denn die Beziehungen
der drei Perjonen des göttlichen Wejens untereinander jtellen eine
Art von ſittlichem Verhältnig dar und jichern dem chrijtlichen
Die wiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 89
Gottesbegriff die Erhabenheit über Heidentyum und Judenthum,
über Bolytbeismus und Pantheismus.
Der antife Kosmos, das Kunjtwerf ordnender Vernunft wird
nun zur Schöpfung, zum freien Gebilde eines liebevoll ent:
werjenden Geijtes, das, aus den Händen des Meijters entlajjen,
jeine eigenjtändige Entwidelung nimmt nach eingeborenen Gejeßen.
Aber diefe Welt ift nur ein Proviforium. Sie geht einer Um:
wandlung entgegen und einer Vollendung. Die religiöfe Zukunfts—
hoffnung des urjprünglichen Chrijtenthums jegt ſich um in den
neuen Gedanfen der jenjeitigen Welt, des „Himmels“. Und
das Chriſtenthum it jenes „Prinzip des Fortſchrittes“, das bewirkt,
daß die ganze irdijche Welt, das Diesjeits, dieſem Ziele entgegengeht.
Die Entwidelung der Frömmigfeit wird damit die eigentliche
Unruhe in der Uhr der „Weltgejchichte*. Es würde zu weit führen,
wollte man darauf hinwetjen, wie jehr alle abendländijche Meta-
phyjif und Myſtik, Ethif und Politik, Kunft und Technik mit diejem
religiöjfen Grundgedanken zujammenhängt, die eine höchjt mannig—
faltige, wijjenjchaftliche Ausprägung zulajjen. Die Welt, in der
der fatholijche Glaube jich, bewegt, ijt eine vernünftige, rationell be-
greifliche Welt: Glaube und Wiſſen jind hier jo verjühnt, daß fie
jic) gegenjeitig aushelfen können.
Als das Saframent des Katholizismus dürfte in dieſem
Zufammenhange, wo es jich nicht um jein eigenes Dogma, jondern
vielmehr um rein objektive gejchichtliche Betrachtung des thatjächlich
Borhandenen handelt, wohl am richtigiten das Prieſterthum be-
zeichnet werden. Sein Urjprung ift dunfel. Es jcheint, daß aus dem
Bedürfniſſe, die;heiligen Handlungen der Ehrijtenheit, das gemeinjame
Gebet u. j. w. richtig vollzogen zu jehen, die Ausjonderung von
bevollmächtigten Kultusperjonen ſich entwidelt hat und deren hervor:
ragende Stellung hat dann wieder ihre Verrichtung gehoben und
mit dem Charafter des Heilvermittelnden gejtempelt.*) Aus diejen
Anfängen aber hat ſich dann jenes Syitem von Hultushandlungen
entwidelt, das man in feiner höchiten Vollendung als die fichtbare
und fühlbare Weltherrſchaft des eucharijtiichen (in der
Eucharijtie wirfjam gegenwärtigen) Chrijtus bezeichnen fann, als
die Gegenwart des Himmels auf Erden.
*) Nach diefer Bermuthung wäre nit da8 Opfer, fondern das Saframent,
das Bedürfnig nad wirkſamer Gemeinfhaft mit Gott der Anlaß jur eigen»
thümlichen Geftaltung des Gottesdienftes und zur Ausbildung eines chriſtlichen
Prieſterthums gemejen.
40 Die wiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Kriftlihen Religion.
In diejer Gewißheit, jederzeit die volle Kraft der himmlischen
Dinge zur Verfügung für ſich zu haben, wurzelt die unausiprech-
liche Sicherheit, Freudigkeit und ZJuverfichlichkeit des echten Katho—
lizismus, jeine befriedigt in jich jelbjt ruhende Wiljenjchaft, Kunit
und Politik. Daher jtammt die feierliche Pracht jeines Gottes-
dienites, das jelige Genügen, das jeiner Malerei und Mufif inne:
wohnt. Der im Katholizismus fejtgehaltene Lebenszweck ijt Die
Vorbereitung der Gläubigen im DiesjeitS auf das Jenjeits. Aber
dabei giebt es verjchiedene Stufen der Neligiojität, auf denen das
Jenſeits jchon vorweggenommen wird im Diesjeitt. Das
fontemplative Leben der Andacht, des religiöjen Denfens, Des
Gebetes, der Myitif, das höher jteht al8 das thätige Zeben und
des Leben der ganz dem himmlischen Beruf gewidmeten Mönche
(Nonnen) öffnen den höher Strebenden jowohl im Neligiöjen wie
im Sittlihen eine freie Bahn der eigentlichen chrijtlichen Boll:
fommenheit. Und eben darum, weil jie allen Bedürfnifjen gerecht
wird, weil jie neben dem Marimum religiögsfittlicher Letijtung, das
jie prämiirt, auch ein recht bejcheidenes Mınimum noch anerfennt
und gelten läßt, it diefe Religion zur Erziehung unreifer Völker,
zur Disziplinirung der Mafjen am meijten geeignet. Sie ijt eine
patriarchalifche Religion. Sie iſt die geborene Weltpädagogin und
fie wird diefen Ruhm noch Jahrhunderte lang über die Zeit hinaus
behaupten, wo jie wirklich noch neue Bölfergruppen erzieht. Sie
hat ſich behauptet inmitten feindlicher Religionen: Neuplatonismus,
Islam, keltiſchem, germanijchem, ſlaviſchem Heidenthum, ketzeriſchem
Dualismus und PBantheismus im Mittelalter und gegen die ge:
waltige Stonfurrenzreligion, die mit dem PBrotejtantismus wider
fie aufgetreten find. Welche Ahnenreihe, wenn man nur die aller-
größten Vertreter des Katholizismus aufführt: Ignatius von
Antiochien, Irenäus, Eyprian, Leo der Große, Chryjojtomus,
Ambrofius, Augustinus, Gregor der Große, Photios, Karl der Große,
Gregor VII. Thomasvon Aquino, Dante, Ignatius von Loyola, Bofjuet,
Benedikt XIV., Möhler, Döllinger, Newman, Pius IX.! Daß alle
dieje unter fich jo verjchiedenen Geilter in der angedeuteten Grund:
anjchauung übereinjtimmen, in Diejem gejchichtlihen Sinne
Katholiken find, dürfte nicht bejtritten werden. —
3) Der Protejtantismus it in jeiner Entjtehung von allen
Punkten abhängig vom Katholizismus. Er jett jich zu ihm darum
nur in einen relativen, nicht in einen abjoluten Gegenſatz. Kirche,
Dogma, jenjeitiger Lebenszweck werden auch von ihm fejtgehalten.
Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chrifilihen Religion. 41
Er tritt zwar mit dem Anjpruche auf, das Urchriſtenthum zu er:
neuern, aber er hat doch nur mit einer jehr wejentlichen Ausnahme
(der urjprünglichen Reformationsbewegung) den Altkatholizismus
erneut und ijt dann allerdings durch den Zwang der gejchichtlichen
Lage in ganz andere Bahnen geführt worden. Auch er zerfällt in
eine ganze Reihe von Unterarten: deutjch-lutherijcher, jchweizerijcher,
franzöfiichscalvinischer Protejtantismus, bijchöflicher (anglifanijcher,
ſtandinaviſcher), orthodorer, aufgeflärter Protejtantismus.
Die jehr wichtigen Unterjchiede aller diejer Formen bleiben
hier außer Betracht. Der Name Protejtantismus wird oft bean:
jtandet, weil er nur eine Negation auszudrüden jcheint, während
dieſe Bewegung jelbjt, obwohl ſie eine fritifche iſt, doch jehr pojitive
Wurzeln und Ziele hat. Wogegen jie protejtirt, das ijt nicht Die
Kirche, jondern die Katholizität. Es fommt ihr nicht mehr an auf
das allgemeine, einheitliche, die ganze Welt beherrjchende Chriſten—
thum, jondern auf das wahre Chrijtenthum, gleichviel ob es ſich
bei Wenigen oder bei Bielen findet. Gleichwohl hat der
Proteftantismus etwas weniger Beitimmtes an jih. Es giebt in
ihm viel mehr Uebergangsformen, halbe Formen. Er fann darum
auch unter der Hülle eines anderen Kirchenthums regieren und er
bedarf zu jeiner Durchführung nicht mehr allein des Kirchenthums.
Protejtanten innerhalb des Katholizismus waren vielleicht ein
Arnold von Brescia, Abälard, Dccam, die aufgeklärten Statholifen
an der Wende dieſes Jahrhunderts, wie Dalberg, Wejjenberg u. A.
und innerhalb des äußeren Rahmens des Protejtantismus leben
und bewegen fich, meift unangefochten, alle anderen formen chrijt-
(icher Religion. Das fommt von den gejchichtlichen Urjprüngen
des Protejtantismus, der zujammentraf mit der Epoche einer neuen
Weltentdedung, einer neuen Bildung und einer Sonjolidirung
nationaler Staaten. Der Protejtantismus iſt nicht bloß Kirchen
form, jondern ebenjo Kulturform, vor allem Staatsform. Die
Injpiration des Protejtantismus iſt der perjünliche Glaube an
die göttliche Heilsoffenbarung. Der Einzelne gelangt zu Gott nur
durch eigenen Glauben. Diejer it conditio sine qua non.
Verworfen wird darum die fides implieita, die gläubige Unter:
werfung unter Alles, was die Kirche lehren mag. Er erfennt nur
an die fides salvifica, den erlöjenden, rechtfertigenden Glauben.
Diejer Glaube ijt eine Gabe der Gnade, aber er iſt auch ein Werf
des Menjchen. Er ift die höchjte von den Menjchen verlangte und
von Gott gewirkte Leitung. In dieſem Glauben jpricht jich aus
42 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.
das lleberwundenjein des Chriſten von der ihm entgegenfommenden
Gnade, jein unbedingtes Zutrauen auf jie. Alles was man im
Brotejtantismus Myſtik nennen fann, liegt in dieſem Akt Des
Glaubens. Denn er iſt feine momentane Injpiration. Er ijt ein
geheimnigvoller, aber an bejtimmte göttliche Organe gefnüpfter
zujammengejegter Borgang. Er ijt fein Einswerden mit Gott, fein
Emporgerafftwerden zu Gott, vielmehr könnte man ihn nennen
ein großes Aufthun des inneren Gefichtes, dadurch) man nun
Gottes Offenbarung erfennt. Der Tiefe diejes Vorganges entjpricht
jein wejentlicher Inhalt: Chrijtus. Diejer, wie die Bibel ihn
zeigt, iſt die gejchichtliche Perjönlichkeit, in der Gott ſich erjchliept.
Sein Bild als das des „Gottverſöhners“ macht eigentlich den wejent:
lichen Inhalt der Bibel aus.
Der Katholizismus hat zwar die „Bibel“ gejchaffen und hat
ihr den Weg geöffnet, aber er fonnte jie in ihrem tiefiten Sinne
nicht verjtehen, weil er jie, jeiner in der Antife wurzelnden Welt:
anjchauung nach, jozujagen als eine Topographie der Kirche,
ihrer Lehre und ihrer Heiligthümer anjah; dem Brotejtantismus
dagegen hat die Bibel die Bedeutung einer Photographie des
ji) offenbarenden Gottes. Glaube, Ehrijtus und Bibel
jind jeine drei Stüßen.
Man darf die Annäherung dieſes Standpunfte8® an den Des
Urchriſtenthums nicht überjchägen. Denn im Protejtantismus tit
alle göttliche Erleuchtung bejchränft auf den Inhalt der Bibel.
Der heilige Geiſt legt nur die Bibel aus.
Im Urchriſtenthum dagegen hat der heilige Geijt eine durchaus
jelbjtändige Bedeutung. Der Brotejtantismus macht allem ‚Propheten
thum‘ ein prinzipielle Ende, das doch noch im Katholizismus jeine
Stätte fand. Die Bedeutung des proteftantiichen Bibelglaubens mißt
man am bejten im Bergleich mit dem Stirchenglauben. Beide Male
wird an eine Autorität geglaubt. Aber die Bibel iſt eine redende, eine
ſich jofort ausjprechende, aljo eine lebendige Autorität, jie tt
perjönlihes Wort des „perjönlichen Gottes", während Die
Ktirchenautorität eine unter Umjtänden blinden Gehorjam fordernde
Macht, eine injtitutionelle Autorität it.
Die religiöje Vorjtellungswelt des Wrotejtantismus iſt
urjprünglich die gleiche wie im Katholizismus. Gefliſſentlich hat
man das trinitarische, das chrijtologiische Dogma mit allen
Ktonjequenzen übernommen. Ebenſo die Vorjtellung von Welt, von
Diesjeits und Jenſeits. Dennoch modifizirt fich jehr bald durch
Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 48
die veränderte Würdigung der Erfenntnigquellen des Glaubens
auch die religiöje Gedanfenwelt; das jeitherige Syitem, das
einheitliche Weltbild zerbricht. Denn Alles, auch das Dogma unter:
wirft man der Kritik durch die Bibel. Und dadurch ändern
ſich Gottesbegriff, Weltbegriff und alle Werthbegriffe.
Iſt die Bibel Gottes Wort, ift fie der fich über ſich ſelbſt aus—
iprechende Gott, dann tit der aljo ſich offenbarende Gott Geiit,
Wille, That in ganz anderem Grade wie jeither. Seine Macht
und Größe, jein abjtraftes Wejen tritt zurüd hinter jeinem
fonfreten Willen. Gerade ın dem prädejtinatianijchen Determinismus
der Reformationgzeit erjcheint die Gottheit als Wille, aber nicht
als blinder Machtwille, jondern als barmberziger, unmwider:
jtehlicher Heilswille. Diejer Wille jtimmt nicht überall mit der
Vernunft. Er iſt überrationell, geheimnigvoll. Die Natur tritt
vor dem Auge des Protejtantismus zunächſt zurüd. Sie iſt nur
Schauplag göttlicher Thaten, nicht Medium göttliger Enthüllung.
An ihr interefjirt nur noch die Ordnung, die Gleichmäßigfeit, das
Geſetz. So liegt im Protejtantismus ein Zug zum Spiritualismusg,
zum Idealismus, aber auch zur Annahme der Srrationalität der Welt.
An der Stelle, wo im Katholizismus die Kirche jteht, jteht bier
Chriſtus. Alle Theologie wird zur Ehrijtologie. Die Nöthigung,
das alles zu vertheidigen, führt zur Wijjenjchaft der Philologie. So
liegt ein Zug zur Sritif, auch zum Nationalismus in der
Stimmung des Protejtantismus, andererjeitS aber liegt ihm viel
mehr an der Trennung der Bibelwiljenjchaft von aller andern
Wiſſenſchaft, an der Trennung von Glauben und Willen ald an
ihrer Verföhnung. Darum fann der Protejtantismus auch eine
jelbjtändige Wijjenjchaft neben fich dulden, jowie er jelbjtändige
nationale Ausprägungen des Chriſtenthums dulden fann.
As das Saframent des Protejtantismus ijt zu bezeichnen
die Bibel. Wermitteljt ihrer allen wird Gott gefunden, erfannt.
Sie ijt der Wort gewordene Gott, der allgegenwärtige Gott Jedem,
der lejen oder hören fann. Die Bibel legt ich jelber aus, jie
bedarf feines bejonderen Lehrſtandes. Trotzdem nehmen die von
der Gemeinde berufenen Ausleger der Bibel, die Prediger, eine
Ausnahmejtellung ein. Im rationalitischen Protejtantismus wird
geradezu die Predigt, die erbauliche oder aufflärende Rede das
Saframent. Erſt durch den Protejtantismus hat die Bibel ihre
heutige geifterbeherrjchende Ztellung erhalten. Die Bibel als
Buch ruft von jelbjt die Schule hervor, die Schule die Bildung,
44 Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der chriſtlichen Religion.
die Bildung die geijtige Befreiung auch der niederen Volksklaſſen.
Es wäre unerflärlih, woher im Protejtantismus, der jich Doc
Anfangs überall verbunden zeigt mit einer mehr oder weniger ab-
joluten Monarchie oder mit der Ariftofratie ein jo gewaltiger Zug
zur Befreiung des niederen Volks gefommen ijt, wenn nicht auf
diefem Weg. Die Bibel hat die Individuen freigemadt. Der
Lebensz;wed im Protejtantismus jcheint zunächit der gleiche wie
im Katholizismus: Grlangung der Seligfeit im Jenſeits durch Die
Führung im Diesjeits.
Aber jeiner aftiven und nicht fontemplativen Art nach, jeiner
fritiichen und nicht gefügigen, jeiner willenshaften und nicht phantafte-
vollen Art nach verzichtet der Protejtantismus auf jede Vorweg—
nahme des Jenſeits im Diesjeits. Das wejentliche Mittel, um Die
Seligfeit zu erlangen, ijt das Befenntniß des Glaubens auf Grund der
errungenen Erfenntniß, ein Befenntnig mit Wort und That. Dieje
Forderung gilt für Alle gleich. Es giebt fein privilegirtes Chriſten—
thum mehr (Klerifat) und Fein höherwertiges (Mönchthum). Die
Erfüllung aller Pflichten gilt gleich, wenn fie im gleihem Sinn
und Geiſt des Gottvertrauens geübt werden. Damit tritt das
natürliche Leben des Volkes in allen feinen Beziehungen in den
Vordergrund. Zum eriten Mal jenkt jich jo die volle Weihe der Ne-
ligion auf das gejammte sirdiiche Tagewerf des Menjchen. Der
Fluch der Arbeit verwandelt jich für ihn in Segen und unter
diejem Segen erwächjt der fühne Glaube, daß es nirgends mehr
auf das Was des menjchlichen Thuns anfomme, jondern nur auf
das Wie? Die Bejeitigung von Hierarchie und Mönchthum entwerthet
das firchliche Leben überhaupt und das politische Leben tritt an
jeine Stelle. Der Protejtantismus wird Nationalreligion, er wird
in Norddeutjchland, Skandinavien, Holland, Schottland National:
charafter. Nur vorübergehend hat der Calvinismus eine internationale
Belenntnißficche gründen fünnen, jein eigenjtes Wejen hat der
Protejtantismus in gejchlojienen Nationalfirchen gezeigt. Er um:
fleidet die politifchen Pflichten mit religiöjer Weihe. Die Unter:
thanentreue ift nur eine Seite der Gottesfurdht. Dabei gejtaltet
jich der Begriff der Kirche im Lutherthum, im Galvinismus ganz
verjchteden: gemeinjam iſt allen Richtungen, daß man nicht durch
die Stirche zum Glauben fommt, jondern durch den Glauben zur
Kirche. Denn auch die lutheriſche Lehre von der Taufgnade jest
doch einen Keim perjönlichen Glaubens voraus. Der erite aus:
geprägte Protejtantismus tritt auf in Wiclif, während man mit
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 45
Unrecht die noch auf dem Standpunkt fatholischer Weltanjchauung
verharrenden Seftenfirchen, Gegenfirchen: Waldenjer u. U. als
Borläufer des Protejtantismus bezeichnet.
Der religiöje Protejtantismus, jo wie er im jiebzehnten Jahr:
hundert um jein Yeben focht, erijtirt nicht mehr; auch im Dogma,
auch in der Stirchenform hat er die eingreifenditen Wandlungen erlebt.
Dennod) lebt der Projtantismus fort ala Gefinnung, als Bibelglaube,
als Nationalreligion. als politische Religion, als wijlenjchaftliche
und technijche Triebfraft. Er iſt das Ethos und Pathos der
germanijichen Bölfer geworden, der Deutjchen und Angeljachjen.
Aber deren eigentlich religiöjes Leben hat längjt noch andere
Elemente in jich entwidelt. Was man heute Protejtantismus nennt,
iſt nicht mehr ein gejchlojlienes religiöjes Syitem, jondern ein
fomplizirtes gejchichtliches Gebilde, nur zum Theil „protejtantijchen“
Urjprunges. —
4) Biel jchwieriger als die Abgrenzung des Protejtantismus dürfte
die des Pietismus fein. Diejer Name hat ſich bei uns eingebürgert
für eine bejtimmte einzelne Erjcheinung des deutjchen Lutherthums:
für die Spener— rande— Zinzendorfiiche Bewegung. Aber man
hat ihn hie und da auch in einem weiteren Sinne gebraucht, mit
um jo größerem Recht, als es fich gezeigt hat, daß jene lutherijche
Bewegung zuerit ihre Vorbilder im reformirten Gebiet gehabt hat
und als eben jene Vorläufer ihren Stammbaum wieder auf ältere
Vorgänger mitten in der fatholijchen Kirchenzeit zurüdgeführt haben.
Der Pietismus ijt nächſt dem Mönchtum die erjte religiöje Be:
wegung in der Ehrijtenheit, die für fich um ihres inneren Gehaltes
willen die Anerkennung der offiziellen Stirche gefordert hat, die erjte
Bewegung, die den nur relativen Werth alles Kirchenwejens be—
hauptet hat. Man wird darum jprechen dürfen von einem noch)
unvollfommenen PBietismus. Diejer tritt vielleicht jchon im Monta—
nismus auf, dann im Mönchthum. Schon beinahe entwidelt
pietijtiiche Züge zeigt das reformirte abendländijche Mönchthum,
bejonders das des Bernhard von Clairvaur. Aber auch Suſo, Tauler
und die Gottesfreunde, wie nicht minder Savonarola gehören hierhin.
Pietiſtiſche Kirchen find dann jowohl Wiedertäufer und Mennoniten,
Independenten wie Herrnhuter, Methodiiten, Baptiiten und die ver—
jchiedenen freien Kirchen unjeres Jahrhunderts. Die vollfommenijte
Kirhenjhöpfung des Pietismus ift die Brüdergemeinde.
Daran reihen fi) die großen internationalen und interfon-
fejfionellen pietijtiichen Unternehmungen: das gefammte Vereins»
46 Bie wiffenfchaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion.
wejen der äußeren und inneren Mijjion, die evangeliiche Alltanz,
die Heildarmee u. j. w. Aber auch) von einem fatholijchen Pietis—
mus wird mit einer gewijjen Grenze gejprochen werden fönnen.
(Quietijten, Ianjeniften, die Gruppe Satiler— Goßner— Boos). Die
ruſſiſche jeftireriiche Bewegung iſt ertrem pietiſtiſch.
Es dürfte möglich jein, die gemeinjamen Züge der Piyfiogno-
mie des Pietismus bei diejer Fülle von religiöjen Erjcheinungen
nachzuweijen. Erſt der Pietismus als Neligionsform bildet den
direften Gegenjag zum Katholizismus. Gr leugnet, was Ddiejer be—
hauptet, daß man durch die Kirche zum Glauben fommt. Seine
Injpiration it Heilsgewißheit aus perjönlichem Glauben, auf
Grund der Erfahrung der Wiedergeburt, der Befehrung, der Heili—
gung. Hierin gehter über den Protejtantismus hinaus und fnüpft
an das ältere Chrijtentyum an. Die perjönliche Belehrung iſt feines:
wegs ausjchlieglich an das Wort der Schrift gefnüpft. Sie fann
überall her fommen. Während im Protejtantigmus zujammen ge:
hören: Glaube, Chriftus, Bibel, jo gehören hier zujammen: Gefühl,
Ehrijtus, Liebeswerf. Auf Grund einer Spezialoffenbarung wird
Chriſtus erfannt, das aber treibt dann aud) zur Bethätigung des
Bundes mit ihm.
Die Weltanjchauung des Pietismus entbehrt zunächit eines
eigenthümlichen Gottes: und Weltbegriffes. Aber fie verzichtet aud)
ausdrüdlich auf das Dogma. An dejjen Stelle tritt die jprudelnde
Quelle der Religion jelbjt, die Bibel. Aber nur jcheinbar ijt der
Pietismus bibliiche Weltanjchauung. Der ſog, württembergijche
Bibelpietismus dürfte wejentlich noch unter die Kategorie Prote-
itantismus gehören, oder er geht aus dem Biblischen ins Theoſo—
phijche oder Humaniſtiſche über. In Wirklichkeit it dem Pietismus
Eins und Alles in der Bibel Chrijtus. Der Gottesbegriff des
Pietismus iſt gegeben mit jeiner Chrijtolatrie, mit der ausjchliep-
lichen Verehrung Ehrijti als Gottes und Herrn. Es ijt befannt, in wie
ausjchlieglichen Sinn die Bietiiten Chrijtus al® den „Herrn“ anrufen
und prädiziren. Die dem entjprechende Weltanjchauung ergiebt: Die
Welt ijt das Herrjchaftsgebiet Chriſti, das Objelt der Chrijtofratie.
Chriſtus iſt der verborgene Weltherricher und ſoll auch als jolcher
offenbar werden. Hier liegt die Anfnüpfung des Bietismus an
die Politik, die jich bei ihm wie bei jeinem eigentlichen prinzipiellen
Gegner, dem Katholizismus, immer wieder findet. Dann muß aber
die Welt doch anders gedacht werden, wie jeither. Das eigentliche
Leben der Welt iſt Willensleben, das eigentliche Organ, um die
Die mwifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 47
Welt zu erfafjen, tt das Gemüth. Es tritt der nachmal3 von der
Philoſophie wieder verarbeitete Gedanke der „inneren Welt“ als
der eigentlichen Welt auf. Dieje Welt findet man, wenn man nur
einfehrt bei jich jelbjit. In diefer inneren Welt da herrjcht Chriſtus
allein. Er iſt der König Ddiejes inneren Reiches. Damit ijt Die
Kirche erjegt und übertroffen. Auch der einjame Separatiſt
fann jeinen Gottesdienjt halten in diejer inneren Welt mit Engeln
und jeligen Geijtern im Bunde.
Durch dieje völlige Umgejtaltung des geiſtigen Horizontes giebt
der BPietismus die Wiffenjchaft frei, nicht ohne ihr eine gewiſſe
GSeringihägung zu widmen. Much der Philologie bedarf es nicht
mehr. Die Bibel muß jeder Laienchrijt von fich aus und aus ihr
jelber verjtehen fönnen. Aber der Pietismus feindet auch Die
Wiſſenſchaft nicht an, jo wenig wie die Politif und die Technif;
er hofft vielmehr, fie ji alle zu Nutze machen zu können. Je weiter
die Wiljenjchaft abliegt von den göttlichen Dingen, deſto genehmer
it jie ihm. Demnach befreundet er ſich am metiten mit Mathe:
matif, Naturwifjenjchaften, Technologie, Geographie, Sprachenfunde.
Er jchafft die NRealjchule.
Als das eigentliche Saframent des Pietismus, mittels deſſen
er die Verbindung mit „dem Herrn“ vollzieht, jtellt ich dar das Gebet,
vornehmlich das Bittgebet. Im Gebet vollzieht jich die Gemein:
Ichaft mit Chriſtus. Dieje Gebetsübung, vornehmlich die gemein:
jame Gebetsübung, jet voraus die Gebetserhörung.
Diefe liefert den jicherjten Beweis für die Herrichaft Chriſti
über die Welt. Die Gebetserhörung bejteht in der inneren Gewiß—
heit und in einem äußeren Ereigniß: Eintreffen des Grbetenen,
Heilung einer Krankheit, Abwendung einer Gefahr oder Noth, einer
Geldverlegenheit u. dergl. Eine andere Form des Gebetspietismus
hat vornehmlich der Katholizismus fultivirt (Molinos, Frau von
Guyon, zenelon), den Quietismus, das wortloje und wunjchloje
Gebet, das Aufgehen in Gott. Aber daran zeigt ſich, wie alleın der
protejtantijche Pietismus fonjequenter Pietismus iſt, indem er überall
auf ein Werf dringt, nicht auf die bloße Gottgelajienheit. Denn tm
GSebetseifer jteht der fatholijch geartete Pietismus gewiß nicht nad),
nur iſt das Ziel jeines Eiferd ein anderes, nämlich das gleiche Ziel,
das auch die katholiſche Kontemplation eritrebt, das pajjive,
leidentliche oder efitatijche Einswerden mit Gott. Dagegen tritt
bei Pascal, aber auch bei Fenelon die Chriſtokratie deutlich zu
Tage. Mit diefer Gebetsübung ijt der volle Yebenszwed des
48 Die mwilfenshaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der chriſtlichen Religion.
Pietismus noch nicht erreicht. Diejer muß in einem gemeinjamen
Werf bejtehen. Es iſt die Nachfolge Chriſti, genauer die
Nachahmung Ehrijti in jeinem eigenthümlichen Lebenswerk.
Die Lojung der Nachahmung Chriſti iſt befanntlich mit bejonderer
Energie ausgegeben von den Minoriten als Nachahmung der
völligen Armuth Ehrijti, alſo als Kopie der äußeren Lebens- oder
jogar Leidensgejtalt Chrijti. Daraus entwidelte jich das Ideal der
„geiltlichen Armuth“, was wieder abbiegt in die fatholijche Gott:
gelajjenheit. Erjt nachdem der Protejtantismus jeine Entwidelungen
erichöpft hatte, trat eine neue Form der Nachahmung Ehrifti auf,
die e8 auf eine Direkte Fortſetzung jeines Lebenswerfes abjah,
nämlich auf Miſſion, auf äußere und innere Mifjjion. Der
Weltheiland wird gedacht ala Weltmiffionar. Seitdem ift das ge
jammte Miſſionswerk das eigentliche Erfennungszeichen und Lebens:
ziel aller Pietijten geworden. Bezeichnet wird dieſes Ziel gewöhn—
li) mit dem Namen Reich Gottes, oder „Neid Ehrijti*.
Die Hauptmittel zur Erreichung diejes Zieles find Gebet und Für:
bitte, Geldjammlung für Mifjionszwede und perjönlicher Miſſions—
dienjt. Diejer legtere verleiht einen außerordentlichen Charafter.
Ebenjo wie im Katholizismus die Mönche, find im Pietismus die
Berufsarbeiter in jeder Art von Miſſion die eigentlich vollfommenen
Chriſten. Das Ziel der Welt iſt Weltbefehrung, möglidjit
jchnelle und dann das Weltende. Der Chiliasmus ſchließt jid
häufig, wenn auch nicht nothwendig, dem Pietismus an.
Thatſächlich iſt mit dieſer Religion ein Schritt über die
jämmtlichen jeitherigen „Konfejjionen“ hinaus gethan. Die in der
gleichen Gejinnung ftehenden Frommen aller Konfeſſionen erfennen
einander an, treten in gemeinjame Verbindungen und Vereine ein,
denn überall, wo die Saat der gleichen Frömmigfeit und Liebes
übung aufgeht, erblidt man bereits die Anfänge des Neiches
Gottes, hinter dem die Kirche al3 eine mehr politifche tranfitoriide
Sache verjchwindet. Das Kirchenthum ijt nicht mehr wejentlid)
für das Chrijtenthum.
Die pietiſtiſche Hoffnung lautet:
Es kann nicht Ruhe werden
Bis Jeju Liebe fiegt,
Bis dieſer Kreis der Erden
Zu feinen Füßen liegt.
Mit diefer Looſung jucht die Brüdergemeinde ein Volk Gottes
aus Gliedern aller Ktonfejjionen zu jammeln. —
Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hrifilichen Religion. 49
5) Vielleicht am meiften Widerjpruch erregen dürfte, was dem
Verfaſſer am gewifjeiten zu fein jcheint, daß es nothwendig it,
noch eine weitere Form chrijtlicher Religion abzugrenzen, die jich
im Laufe der legten Jahrhunderte immer deutlicher aus dem Pietismus
berausentwidelt hat: den chrijtlichen Humanismus.
Sp wenig wie beim Pietismus jei hier Werth gelegt auf den
Namen „Humanismus“ Wenn man nur findet, dat die Sache
richtig erfannt und umſchrieben fei, jo möge ein geeigneterer Name
gejucht werden.
E8 handelt ſich um eine Form chrijtlicher Neligion, die noch)
in ihren Anfängen ſteht und, mit einer Musnahme, feine eigene
joziale Organtjation gefunden hat, aljo um etwas noch nicht politisch
oder doktrinell Greifbares, während der Pietismus die Seele des
ganzen chrijtlichen Vereinslebens zu jein jcheint. Dieje joziale
Irganijation tjt die Gejellichaft der Freunde, der. Quäfer, und aud)
nur, jofern dieje jich das Werf der Menjchenliebe zur Aufgabe macht.
Dennoch dürften jene Anfänge durchaus unter einer anderen
Rubrik nicht untergebracht werden fünnen, denn jie unterjcheiden jich
deutlich von dem Pietismus, an den jie doch unmittelbar angrenzen.
Der hier vorgejchlagene Name erinnert natürlich an Die
HDumanitätsbewegung des vorigen Jahrhunderts. Dieje jtand, joweit
jie von Rouſſeau ausging, im Gegenjat zu jedem pofitiven Chriſten—
thbum. Aber fie führte in dem „humanen Chriſtenthum“ Yejlings,
Herderd und auch Kants zu dem Gedanken der Verwirklichung des
eigentlichen „Chriſtenthums Chriſti“ jelbit, zur angeblichen Wieder:
entdedung der „Religion Jeſu“.
Niemand wird jich noch mit dem Gedanken täujchen, es ſei
unter den gegenwärtigen Berhältnijjen eine einfache Nachahmung Jeſu
oder der Apojtel möglich und das allein fünnte doch die thätige
Religion Jeſu wollen — aber darum liegt doch etwas Unverlierbares
in dem Wort „Humanismus“, nämlich ein Ziel für die Bewegung
des Chriſtenthums, das nicht in der Kirche liegt, nicht in den chrift-
lichen Vereinen, nicht in den Individuen allein, jondern in einer
chriſtlichen Menjchheit.
Sit die einfache Nachahmung Jeju undurchführbar, jo iſt doch
nicht undurchführbar die Abficht, jein Lebenswerk in einem viel
weiteren Umfange fortzujegen, aber in dem gleichen Glauben, den
er begte, in dem Glauben an das Neid, Gottes.
Was Paulus vorjchwebte: daß der „zweite Adam“ der ganzen
Menjchheit als ihr Heiland zugeeignet werde, das ijt ein unverlier:
Breußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 1. 4
50 Die mwiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.
bares Ziel. Es würde auch dann jchon hier auf Erden erreicht
jein, wenn die Völfer der Erde chriftianifirt und zivilifirt, eine
Familie von Gottesfindern bildeten, die jämmtlich in Chriſto ihr
Haupt anerfennen und darum in Ddiefem Glauben eins, möglidjit
nach den Grundjägen der Liebe, der Gerechtigkeit und der Humaniät
ihre Beziehungen regelten. So viel Schwärmerifches bei der Aus:
malung dieſes Gedanfens im Einzelnen unterlaufen mag, das Prinzip
der Menjchenwürde, der Anerkennung des Nechts einer jeden jitt:
lichen Individualität auf Ausbildung, das Necht jedes Menjchen
auf Chriſtus gilt unter Chriften und daraus folgt die Anjtrebung
eines jolchen allgemeinen und öffentlichen Zujtandes, in dem dieſes
Prinzip verwirklicht werden fann. Die Miſſion jtrebt nicht jo
weit. Ihr genügt die Verbreitung des chriſtlichen Glaubens,
dann mag das Ende fommen.
Das „Reich Gottes“ iſt ihr fchließlich doch nur ein Glaubens:
reich, eine Bekenntnißkirche. Was Jejus als Neich Gottes ver:
fündigt hat, jcheint aber weiter zu reichen und mehr zu fordern. Und
diejes Mehr ijt die treibende Kraft in dem, was wir „chrijtlichen
Humanismus“ nennen (nicht humanes Chriftenthum).
Er hat jeinen erjten Anfang vielleicht genommen in Fran;
von Aſſiſi. Bei ihm gehen freilich noch neben einander her die
rein Ddemonjtrative heroijche Nachahmung Jeſu in feiner Bettel-
armuth und die hilfsbereite Liebe, die Werfgemeinjchaft mit dem
Werke, das Jejus Chriſtus getrieben. Das Legtere liegt vor in der
aufopfernden Hingabe an Kranke, Ausſätzige, in feinem hilfreichen
Wejen. Das wiederholt jich dann in manchen Erjcheinungen der
Krankenpflege und Liebesübung im Mittelalter. Das Charafterijtijche
dabei ijt die hervorbrechende humane Gejinnung. Man will das
Ebenbild Chriſti im leidenden, bedürftigen Menjchen retten.
Die Reformation verfolgt in ihrer Liebesübung ein enger
begrenztes Biel. Sie gilt dem Landsmann, dem Glaubensgenojjen.
Die Liebesübung tritt in den Dienjt der Glaubensgemeinjchaft.
Der Bietismus fordert das Liebeswerf ala Beweis des Glaubens
und er individualijirt die Werfe der rettenden Liebe. Aber erjt dıe
Aufklärung jtellt das andere Ziel auf: Rettung des Menjchen um des
Menjchen willen und verbindet damit den weiteren Zwed der völligen
Ausgejtaltung der Menjchheit nach dem Ebenbilde Gottes, nach dem
jie gejchaffen tft. Die Aufklärung hat befanntlich die Liebesthätigfeit
vom Bietismus übernommen und hat fie dann wieder an Diejen
abgetreten, nicht ohne daß der Pietismus jich jelber Humanijirt hat.
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion, 51
Der Glaube dient nun der Liebe und der Wetterfer der auf
rein humanen Abfichten ruhenden „Philanthropie“ mit den auf
dem Glauben ruhenden chriftlichen Liebeswerfen fördert dieje Ent:
widelung in jeder Weije.
Hand in Hand damit macht fich eine in praftiichen Idealen
wurzelnde Weltanjchauung geltend, die, aus Glauben und Hoffnung
entworfen, der Weltentwidelung fein dogmatifches, jondern ein
jittliches Ziel jegt und dabei evangelifche Gedanken in größerem
Umfang verwerthet, als es jeither gejchehen ift.
In dieſen Grundanjchauungen jtimmen dann Männer und
‚rauen der verjchiedenften firchlichen Denominationen, theologischen
und philojophijchen Wichtungen, Vertreter aller gejellichaftlichen
Stände überein. Sie alle einigt das „praftijche Chriſtenthum“. Man
unterjchäßt doch die Bedeutung diejer gemeinjamen Looſung, in der
jic) jo Viele vereinigen, die ganz getrennten Lagern anzugehören
jcheinen, wenn man vorgiebt, e3 handle jich dabei nur um eine
vorübergehende Bundesgenofjenjchaft. Bekanntlich) weijen alle jtreng
firchlidy Gefinnten dieſe Gemeinjchaft der Liebe bei abweichendem
Glauben ganz fonjequenter Weife ab. Denn es handelt ſich um
ein Biel, das dieſem Glauben vorjchwebt und das über alles
Kirchenthum und alle SKonfejfionsgrenzen hinausliegt, um
jenes Biel, dem die erleuchtetjten chrijtlichen Denker, die eifrigjten
Menjchenfreunde, die begeijtertiten Prediger, und die innigjten
Dichter und Künjtler eingeftandenermaßen entgegenjtreben. Wer darauf
achtet, zum Beiſpiel welche Gedanfenreihen in der Predigt der
Gegenwart allein noch wirflihen Eindrud machen, der
wird zugeben: Nur die Predigt einer aus dem Glauben jtammenden
und nach dem Bilde Jeſu Chriſti geitalteten unbejchränften Menjchen-
liebe in Wort und That gilt den Menjchen von heute noch
als das unverfäljichte Evangelium.*) Und das darum, weil
dieje Zeit wie feine andere den wirklichen Ehrijtus ſich zu vergegen—
wärtigen gelernt hat.
Als Vertreter diejes „Humanismus“ ſeien hier beijpielswetje
mit Ausjchlug aller Derjenigen, deren religiöjes Leben direft aus
der Aufklärung jtammt und die darum jelbjtverjtändlich, jo weit es
chriftlich ift, in Ddiefer Bahn gehen und unter Hinweglafjung der
nicht ganz hierher pafjenden Erſcheinungen in romaniſch-katholiſchen
Ländern, genannt: Klopſtock, Lavater, Jung Stilling, M. Claudius,
*) Man, Be 3. B. das Chriſtenthum, das Nietzſche zu bekämpfen
wert
4%
52 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.
Peitalozzi, Wilberforce, L. Howard, Chalmers, Jean Paul, I. alt,
Elifabeth) Fry, Fichte, Vinet, Rothe, Bunjen, E. M. Arndt,
K. Nitter, H. Loge, Fechner, Caird, Wordsworth, F. Nüdert,
Carlyle, Nobertjon, 3. D. Maurice, Ch. Kingsley, A. Bitzius,
E. Frommel, 8. Gerok.
Man nehme dazu die internationalen und interfonfejjtonellen
Agitationen für Sonntagsfeier und Sonntagsheiligung, für das
rothe Kreuz, für Mäßigfeitsbejtrebungen, Arbeiterjchuß, Gefängniß—
reform, die alle einen gewiljen religiöjen Hintergrund haben.
Die religiöfen Grundgedanfen diejes Humanismus finden jtd
aber auch bet den Theojophen: I. Böhme voran und Detinger, dann
in der deutjchen theojophijchen Naturphilojophie von Schelling,
Steffens, Baader, Görres, in der theojophiichen Theologie von
Hofmann und Bed, theilweije bei Ch. H. Weiſſe und Nitzſch, bei
Ritſchl und Frank, bei Biedermann und Lipfius.
Als jolche religiöje Grundgedanken dürften zu bezeichnen jein:
die Anjchauung von der nothwendigen Bajis, die jede Religion
haben muß in individueller religiöfer Ueberzeugung, gleichviel, ob
dieſe Erwerb der Erziehung tjt, oder auf direkter Erleuchtung und
erfahrener Wiedergeburt beruht.
Das die Injpiration dieſer Neligionsform. Zum Beweis
jei auf zahlreiche Biographien neuerer Zeit verwiejen. Zu jener
„Wiedergeburt“ würde auch eine jolche fittliche „Befehrung“ gehören,
wie fie 3. B. Garlyle erlebt hat, oder wie fie Fichte verlangt.
Gemeint ijt damit jener Gemüths- und Willensentjchluß, aus dem
ſich folgerichtig eine neue religiöſe oder jittliehe Vorjtellungswelt
entfaltet, für welche alle Schrift: und Stirchenlehre nur noch Hilfs
mittel tt, aber nicht mehr zwingende Autorität.
Natürlich it die gefammte Weltanjchauung bei Perſönlich—
feiten, die auf jo verjchiedener Kulturjtufe und Erfenntnißjtufe
itehen, verjchieden, für Alle aber it die wirkliche Welt, in der
wir leben, eine Offenbarungsjtätte Gottes und dadurch geweiht,
daß auf ihrem Boden jich das Reich Gottes vorbereitet. Die jtrenge
Trennung des Diesſeits vom Jenſeits fällt weg, denn auch im
Diesjeits ijt Gott gegenwärtig und wirkſam. Dieje Welt ijt eine
Gotteswelt.e Das führt bei Einzelnen zu einem fürmlichen
Naturfultus,*) überall zur innigen Befreundung mit der ganzen
Schöpfung, bei nicht Wenigen zur Naturforjchung.**) Cs bejteht
*) Franz v. Aſſiſi, Wordsworth, Rüdert.
**) Howard, Ehalmers, Kingsley.
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlihen Religion. 53
ein inniger Zujamenhang zwijchen der Naturordnung und der
menjchlichen Gejchichte: die Natur it eine Uebungsjchule der Geijter
und im Mittelpunkt der Gejchichte jteht Chriſtus als der Träger
der Abjichten Gottes.*) Beides zujammen jtellt- eine Weihe
göttlicher Offenbarungen dar.
An Stelle der dogmatijchen Betrachtung des Zujammenhangs
der Dinge tritt die Würdigung ihrer empirischen Wirklichkeit, von
welcher auch das richtige Verhältnig der Menjchheit zur Natur
abhängt. Eine jolche Betrachtung fann ohne Weiteres die Gejeß-
mäßigfeit des irdijchen Weltlaufs zugeben, die die Bajis aller
Naturerforjchung it.
Der höhere Gedanfe Gottes, dem die Welt dient, iſt in per:
jönlicher Gejtalt verförpert in Jejus Ehrijtus. In ihm wird eben
jowohl die Gottheit wie die Menjchheit angejchaut. Der eigentliche
Beweis für jeine Gottheit bejteht in jeiner heiligen Menjchheit.
Seine Gottheit ift die eines Menjchen. Während der Pietismus
vorwiegend die leidende Menjchheit Jeſu ins Auge faßt, tritt hier die
gejammte Berjönlichkeit, die im Thun und Leiden jich vollendet,
in ihrer vorbildlihen Wollfommenheit in den Vordergrund der
Verehrung.
Demgemäß ijt al8 das eigentliche Saframent des Humanis—
mus zu bezeichnen das Chrijtusbild.
Der in jeiner vollen Menschlichkeit und Gejchichtlichfeit auf
Grund der biblifchen Ueberlieferung vorgeitellte wirkliche Jeſus
Chrijtus it die eigentliche Bürgjchaft unjerer Verbindung mit
Gott und das perjönliche Lebensideal der Chriſten. Diejem Zug
muß auch die auf die Erforfchung jeiner gejchichtlichen Wirklichkeit
gerichtete Wifjenjchaft dienen. Die „Gemeinſchaft“ mit ihm iſt
jowohl religiöjer, durd) das Gebet vermittelter, wie fittlicher Art.
Insbejondere die jittliche Herrjchaft, die er über die Gemüther und
durch dieje auf die Welt ausübt als der „Herr“, iſt die eigentliche
Bethätigung jeiner Gottheit. Indem fein Vorbild maßgebend wird
für das gejammte Leben, wird er erit aus einem Gott der Kirche,
der er jeither vornehmlich gewejen war, der thatjächliche „Herr“
der Gejchichte, die ihm dienen muß.
Eine wirflihe Chrijtofratie, eine geitige und fittliche
Herrjchaft Ehrijti beginnt. Es hat wohl feine Zeit in der Chrijtens
heit gegeben, in der jeine Perjönlichkeit jo jehr im Worderarunde
*) Bgl. bei. K. Ritter.
54 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.
gejtanden hat, die Erinnerung an Jeſus eine jolche Rolle gejpielt
hat wie die, jeitdem dieſer chriftliche Humanismus eriftirt.
Der Lebensz;wed des Humanismus ijt nicht mehr der rein
oder vorwiegend religiöje wie noch im Pietismus, jondern der zus
gleich religiöfe und fittliche der „Verwirflihung des Reiches
Gottes“.
Man denkt diejes Reich Gottes, in einer zuerjt von Leibniz
geltend gemachten Weiſe nun als die vollfommenc zugleich religiöje
und jittliche Menjchheitsgemeinjchaft, als eine Gemeinjchaft der
befreiten und verflärten Perjönlichkeiten. Damit foll die Ueber:
weltlichfeit Ddiejes Reiches gar nicht in Abrede gejtellt jein, aber
indem es jchon auf Erden fich zu verwirklichen anhebt, gilt aud)
für jeinen Fortgang im Jenſeits, daß es nicht ein Neich der bloßen
Beichaulichkeit, jondern fortgejegter Entfaltung und thätigen Wachs—
thums jeiner Glieder iſt. Die nationalen wie die firchlichen Gegen:
jäße verschwinden in diefem „Reich“. Das Weich Gottes tritt jo
al3 das gemeinjame Ziel aller chriftlich- fittlichen Bejtrebungen an
die Stelle der Kirche.
Die religiöje Gewißheit, bejtehend in perjönlichem Glauben,
die von Gott geleitete Menjchheitsgejchichte als die eigentliche
religiöje Welt, das Chrijtusideal die wirffame Verbindung mit
Gott und das Reich Gottes das Ziel aller Beitrebungen — man
wird zugeben, daß dieje vier Punkte, wenn auch vielfach halb ver-
hüllt, den eigentlichen religiöjen Gefichtsfreis einer großen
Reihe der einflußreichiten Vertreter des Chriſtenthums in der
näheren Vergangenheit und in der Gegenwart umjchreiben, und daß
innerhalb diejer Gejichtspunfte eine Fülle jpeziellerer Aufgaben
ihre Löjung finden fönnen. Wir find damit noch durchaus im
Kreife chrijtlicher Anjchauungen geblieben, außerhalb deren der
rein weltliche, der (Comtijch) poſitiviſtiſche oder auch der
jozialiftifche Humanismus jich bewegt, allerdings nicht ohne
mancherlei Einwirkungen dem chrijtlichen Humanismus zu geben oder
zu verdanken. Der Humanismus hat zwei Gedanken in den Vorder—
grund gejtellt, die zu den urjprünglichiten Zielen des Evangeliums
gehören: 1) die chrijtliche Perjönlichfeit und 2) das Reich Gottes,
ein Ideal der Individualität und eins der Gemeinſchaft.
Aber eine eigene joziale Gejtalt hat der chriftlihe Humanismus
nicht angenommen. Er it bis jet mehr ein Stil des
religiöjen Empfindens, Handelns und Denfens als eine
eigene Gejtalt religiöfer Vergejellichaftung — aber ein Stil, der
Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlichen Religion. 55
ſich ebenjo bemerkbar macht im fleinjten wie im größten Streije,
den er bejeelt. Am deutlichiten prägt er jich aus in einzelnen
Perjönlichfeiten. Die großen Jndividualiten, von denen es
eine Ueberlieferung giebt: J. Denk, ©. Frank, Schwentfeld,
George For und William Penn, 3. Böhme, Detinger, Lavater,
Fichte, DOberlin, Kierfegaard, Garlyle, J. T. Bed, Lagarde
zeigen vielleicht am meijten dieſen Stil. Man würde faum
zweit von dieſen auf eine einheitliche Lehre oder eine überein-
jtimmende Handlungsweije verpflichten fünnen, aber im inneren
Rhythmus eines ausjchließlich vom religiögsfittlichen Ideal geleiteten
Lebens gleichen fie einander doc) jehr. Und derartige Gemein
jamfeiten wollen auch von der vergleichenden gejchichtlichen Be:
trachtung anerfannt jein. Denn nicht darauf fommt es an, in wie
vielen Eremplaren eine Art verbreitet ijt, jondern welche innere
Bedeutung jie in jich trägt. Dieje Bedeutnng aber bejteht darin,
daß der hier jo genannte chrijtliche Humanismus ein Stil chrijt-
liher Religion ijt, der ſich mit jeder intelleftuellen
politijhen und jozialen Entwidlungsjtufe verträgt, weil
er jich prinzipiell auf das eigentlich religiös-fittliche Gebiet be-
ichränft. —
Dieje Stilarten chrijtlicher Religion fonnten hier nur in wenigen
Strichen gezeichnet werden, wo es allein galt, darauf hinzuweiſen,
daß es jolche ideelle Typen giebt. Dabei ijt die Religion der
breiten Maſſen in der Chriftenheit, in der noch ganz andere Ge—
danfen lebendig find, theilweije jolche von unvordenklicher ältejter
Brovenienz aus der urjprünglichen natürlichen Religion der Kind-
heit unjeres Gejchlechtes völlig unberüdjichtigt geblieben.
Diejes Element der Volfsreligion, das in Sitten und Bräuchen,
in der Bolfsethif, in Aberglauben aller Art fich mächtig erweiſt, iſt
gejchichtlich relativ unbeweglich. Es bildet thatjächlich eine Art
Schwergewicht, Ballaft, und greift nur dadurd) ein in die Entwid-
lung. Hier durften nur Typen perjönlicher Religion aufgeführt
werden. Aber Typen wirklicher und lebendiger Neligion. Die
lebendige Religion im Unterjchied von dem, was die Piychologie
Religion nennt, jchließt immer aud) eine Art von Sittlichkeit in
ſich, fie it voll von Vorjtellungen, die dem Gebiet der Phantaſie an—
gehören und theils zur Wifjenjchaft, theils zur Kunſt hinüberneigen,
fie hat jtetS den Drang zur Bergejellichaftung.
Sodann wurden nur jolche Typen aufgejtellt, die in direktem
Zujammenhang mit dem urjprünglichen Chriſtenthum jtehen, als
56 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hrifilihen Religion.
der erjten Form einer höchjtperjönlichen Religion, die ſich vermißt,
die völlig univerjelle Religion zu werden. Denn dieje Typen zeigen
wie das „Chriſtenthum“ es verftanden hat, jich den wechjelnden
Bedürfnifjen der fortjchreitenden vornehmlich der abendländijchen
Menjchheit anzupafjen und dabei die eigentliche ideale Leitung diejer
europätjchen Kultur zu behaupten. Wie alle Typen, jo erjcheinen
auch diefe nur verhältnigmäßig jelten in ganz reiner unvermijchter
Ausprägung. Verglichen mit der jo viele Jahrtaufende umfafjenden
Vorgeſchichte unjerer Religion iſt dieſe ganze Entwidlung innerhalb
der Chrijtenheit nur eine Reihe von Metamorphojen, die der
vollfommene chriſtliche Monotheismus durchgemacht hat, in
jeiner Verbindung mit dem Geijt der antifen, der germanijchen,
der romanischen und jlavifchen Völker. Und ficherlich‘ ift dieje Reihe
noch nicht abgejchlojjen.
Erſt wenn Die eigentlich religiöje Seite dieſer Erjcheinungen
deutlich abgegrenzt jein wird, wird man im Stande jein, das
nationale Element und die jonjtigen in Betracht fommenden Faktoren
der chriftlichen Religionsgejchichte genauer zu bejtimmen.
L
Mit der Anerkennung Diejer religiöfen Spyiteme im
Chriſtenthum als einer morphologischen Klaſſifikation jeiner
wichtigjten Erjcheinungen wäre ein neues Prinzip der Vergleichung
nicht bloß jondern auch der Erklärung gefunden. Man würde
nun Die firchenpolitiichen reignijje jowie die dogmatiſchen,
fultiichen und fittlichen Erjcheinungen bis auf dieje Urjprünge zu
verfolgen haben. Man würde dann weiter zeigen, wie jich in den
Wechjelwirfungen aller dieſer Potenzen die geſammte Kirchen—
geſchichte vollzogen hat. Das aufgefundene morphologiſche Geſetz
würde einen ähnlichen Dienſt leiſten, wie der von Hegel beſtimmten
Geſchichtsbetrachtung die „Dialektif der Idee“ ihn leiſtete. Nur werden
hier die Menjchen nicht von einer über ihnen jchwebenden Idee
geleitet, jondern die eigenthümlich gejtaltete Religioſität wirft als
eine organijatorische Triebfraft in ihnen ſelbſt. So gut wie die
Naturforjchung in kleinſten Yebewejen von jcheinbar faſt völlig
gleicher Struktur doch einen funktionell verjchiedenen Typus an-
erfennen muß, jo gut fann es aud) funktionell verjchiedene Kraft:
mittelpunfte religiöjer Energie geben, die dann aud) neue Er:
jcheinungen hervorrufen.
Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion. 57
Die perjönliche Entjtehung und allmähliche Entfaltung dieſer,
um einen rezipirten Ausdrud zu brauchen, religiöjfen „Energiden“
zu zeigen, das würde die weitere Aufgabe der eigentlich dar—
jtellenden Gejchichte der chritlichen Religion jein. Hiervon auch
nur eine Umrißſkizze zu geben iſt unmöglich. Ein Berjuch derart
in einer afademijchen Vorlefung wurde gemacht.
Gelänge das Unternehmen zunächſt auch nur in bejcheidenem
Mape, jo würde die Kulturgejchichte um ein wichtiges Element
bereichert jein.
Die Kulturgejchichte hat nämlich bis jest ich in ziemlich plan—
lojer Weije damit begnügt, einerjeitS die Mafjenerjcheinungen
der Religion, ihre volfsthümlichen Ausprägungen zu bes
rücdjichtigen und dann einige meiſt abjonderlidhe Er:
jheinungen perjönlicher NWeligiojität vorzüglich „wunderlicher
Heiligen“. Für die planmäßige Beobachtung religiöjer Strömungen,
die oft die politiichen, jozialen und fünjtlerijchen geradezu be—
dingen, fehlte e8 an Vorarbeiten. Dieje liegen auf dem Gebiet
der hier entwidelten Mufgaben, die Religion in ihren perſön—
lihen Trägern und ihren innern Zujammenhängen uud dann
erit in ihrer Wechjelwirfung mit dem gejammten Kulturleben dar:
zujtellen. Denn was wir mit einem jo zu jagen mythologijchen
Worte „Religion“ nennen iſt doch ebenjo gut wie „Ehriltenthum‘,
„Kirche“ u. dergl. feine jelbjtändige erijtirende Größe,
jondern eine Folge innerer und äußerer Zujtände im ein-
zelnen lebendigen Menjchen jelber. Die Religion iſt der
Menſch jelbjt in einer bejtimmten Poſition ſeines innern und
äußeren Lebens. Demnach fann die Gejchichte der Religion ung
auh nur die Kette der religiöjen Menjchen und ihre
Wirfungen auf andere zeigen. Die Zeit zum objektiven ge:
ichichtlichen Verſtändniſſe dieſes Phänomens jcheint gefommen. Es
wird nur gelingen bei voller. jubjeftiver Sympathie mit der Re—
ligion, die nicht ausjchließt, daß man ihre nothwendigen Schranfen
erfennt. Denn höher als die Neligion jelbit it das, wovon fie
zeugt: die Welt des Göttlichen.
(Gejchrieben im Juli 1899)
a. —
Hildesheimer Kunft.
Von
A. Neuberg.
E3 dürfen zwei Städte um die Ehre jtreiten, das „norddeutjche
Nürnberg“ zu heißen: Danzig und Hildesheim. Die erjtere fann
mit der alten Noris allerdings wetteifern in der Berförperung eines
jtolzen Kaufherrengeijtes, darin ragt an die beiden die niederſächſiſche
Nebenbuhlerin nicht heran, ihre Gejchichte ift die typiſche einer
geiftlichen Stiftsherrjchaft, in der etwas den jtädtijchen Geiſt
Hemmendes, Niederdrüdendes lag. Aber überlegen ift fie den
anderen darin, daß in die Spuren einer gejchmadvollen und herr:
lichen Renaifjance gejtaltend und bejtimmend die Nefte einer weit
älteren, in jich gejchlojienen und doch mächtig nachwirfenden Kunit-
epoche hereinragen, und zwar einer der ältejten auf deutſchem Boden.
Noch heute wird mir warm ums Herz, wenn ich der Tage gedente,
in denen Alt-Hildesheims Herrlichkeit mir aufging. Nirgends, außer
in Nürnberg, haben mich die Erinnerungen deutjcher Renaiſſance
jo umfluthet wie in den Straßen Hildesheims mit ihren zahllojen
charakteriftiichen Wohnhäujern aus dem jechszehnten und fiebzehnten
Sahrhundert. Goslar ift ähnlich, aber es ijt kleinſtädtiſch, und ein
Vergleich würde noch nicht einmal jo ausfallen, wie wenn man
Nürnberg und Rothenburg vergliche, Das ift beiden gemeinjam,
daß jie, wie baugejchichtliche Muſeen, die zierlichjten Mujter nieder:
deutjcher Fachwerfbauten anfbewahrt haben. Hauftein ijt jelten
und theuer im Niederlande, daher der fait durchgängige Ziegelbau,
aber mit jichtbarem Fachwerk der eichenen Balken und Pfoſten,
und, was man in den deutſchen Seejtädten jelten findet, mit viel:
jachen, funjtvollen Schnigereien oder Neliefs an den Holzgallerien
Hildesheimer Kunit. 59
und Frieſen. Man denke ſich jo ein Haus in zarten Farben, Die
höchjt wirfjame, anmuthige Gegenjäge und Harmonien ergeben,
meiſt in dunklen Tönen, tief dDunfelbraun oder röthlich; durchbrochen
mit zahlreichen Eleinen Fenſterchen; überbaut von einem jcharfen
Spitgiebel, der meiſt ebenjo hoch ijt, wie der Vertifalbau; oft jo
fonjtruirt, daß jedes höhere Stodwerf etwas über das niedere
heraustritt, jo daß eine drei- bis vierfache Ueberfragung entiteht,
die durch ihre Schattenwirfungen das plajtiiche Bild wejentlich hebt.
Den Formencharakter hat die deutſche Renaifjance geliefert. Zopf
it nur jelten zu jehen, wie verirrt in dieje älteren ‚sormen. Mit
dem Dreißigjährigen Kriege jcheint die Fähigkeit, luxuriös zu bauen,
verloren zu jein. Wer von den Drangjalen weiß, die die Stadt
von 1632 bis 1634 auszuftehen hatte, fann das nur mit Trauer
bemerfen. Eine Zeit, in der man an die 300 alte Häuſer nieder:
reißen mußte, um Brennholz zu haben, mußte für lange Zeiten ihre
Spuren hinterlafjien. Um jo erfreulicher die Epoche, in der jeder
halbwegs Wohlhabende jein Häuschen ſich anjehnlich gejtaltet hatte
und „lujtig anzujehen“; oft mit wenig Mitteln und jpärlicher Kunit,
aber doch zierlich. Hier vielleicht etliche gefehlte Balken mit ge:
Ihnigten Köpfen, dort nichts als eine harmonische Stellung des
Balfenwerfs gegen einander — etwa in gefreuzten Barallelen —,
und da wieder irgend eine anziehende Stleinigfeit, faſt unbeachtet
in dieſer Fülle interefjanter Einzelformen, etwa eine ſchöne Linien—
führung an einer Thür oder ein feiner Holzfries unterm Dache,
oder ein leichtes Relief am Thorrahmen im weichiten, techniſch
gebildetſten Fluſſe: o man fünnte Wochen lang jtudiren an diejen
anziehenden, einen hohen Kunjtgejchmad beweijenden Formen. Wer
ganz wenig anzuwenden hatte, lie doch immerhin die Schnigereten,
z. B. das befannte Fächerornament der Renaiſſance, täufchend auf
jeine Faſſade malen. Der Wohlitand aber it an reichen Schnigereien
fenntlich, die zuweilen, wie am „Deutjchen Kaiſer“, jogar mit Gold
grundirt find. Dabei ijt es für die Macht der Tradition recht be-
zeichnend, daß der Gedanfenfreis der Daritellungen in gewijien
typischen Grenzen bleibt. Es fehren immer diejelben Gegenjtände
wieder, entweder biblische oder antif-allegorische. Für den eriteren
all find mir bejonders die reizenden bunten Reliefs an den Erferchen
eines Haujes in der Judengafje erinnerlich: der Traum Jakobs
von der Himmelgleiter, an der die Engelchen behende Fflettern,
Bileams Ejelin, die ſich altflug umwendet und auf den Seher ein:
jpricht, und Anderes mehr, Alles mit jehr Schöner Fernwirkung,
60 Hildesheimer Kunft.
jelbjt in diejer engen Gaſſe. Im anderen alle, wenn die Zauber
der Antife wieder erweckt wurden, jind es wohl die allegorijchen
GSejtalten der Haupttugenden oder der jieben freien Künſte oder
der fünf Sinne oder der vier Elemente oder der neun Mujen; und
immer diejelben, halb liegenden, halb fitenden Figuren, oft hand:
werfsmäßig nachgeahmt, zuweilen auch ſcheußlich Schlecht, aber doch ſtets
einen Zug von Bildung an großen Vorbildern verrathend und eben
dadurch Höchit bedeutungsvoll für die Macht der Ueberlieferung über
ganze Generationen. Hier lebte offenbar eine Alles mit ſich fortreißende
Tradition. Beachtenswerth iſt auch das Serienhafte der Bild:
nereien, die nicht einzeln gedacht jind, jondern ſtets einen Ju:
jammenbang bilden. Das tjt wohl als direfte Schulung an den
Zeiten der Bernwardsfunjt zu verjtehen. An der feinen Hol;
ornamentif der „Neujtädter Schenke“ heben ſich aus den tier
dunflen Holzfarben in drei Reihen die neun Mujen, neun heid—
nische Gottheiten mit ajtronomijchen Beziehungen auf die Planeten,
und die neun „Itarfen Helden‘ heraus; unter letteren Alerander,
Cäſar, Hektor der Trojaner, Carolus Magnus, Gottfried
von Bouillon — jehr interefjant für die Gedanfenwelt damaliger
Yıldungz. Was man aud) nicht überjehen darf, it die jicher be
rechnete malerische Frontwirfung. Am Sims des jogenannten
Rolandhoſpitals in der Edemäderjtraße läuft z. B. ein langer
Spruch hin: „Simon Arnholt von Hirjfelt bin ich gnant. Das
landt zu hejen tft mein vatrlant. Auff den leibn Gott thu id
vertrawn. Der woll gnedig dis mein Thun bawn. Der jelb woll
mihr dis helffn vollendn. Leib undt jeel begnadn an letztn endt“.
Diefer Spruch jett jedesmal dort ab, wo aus der Front ein Erfer
vortritt, und läuft nicht am Erferfims weiter, jondern jet, dieſen
ganz fahl lafjend, erjt jenjeits wieder an. Der Künſtler hat aljo
das ganze Spruchband als vollitändig von einem Gejichtspunft
zu lejen gedacht, alles auf rontwirfung berechnet. Das Male:
rijche ging ihm über die pedantijche Nichtigkeit. Solche Sprüche
finden ſich übrigens majjenhaft, lateinische und Ddeutjche, hoch—
deutjche und niederdeutjche, gelehrte und volfsthümliche, philojo:
phijche und gemüthliche, Zitate aus den klaſſiſchen Boeten und bib:
lijche Sprüche. Hier jpricht die Volfsweisheit: „Mancher ijt arm
bej grojiem Gut, Und mancher it reich bej Armuth“, dort bib-
liſcher Troſt: „Wir han nur Herberg hie auff Erdn, Im Himel
wir ewig wohnen werden“, da eine fräftige Dogmatik: „Dord
dinen hillgen dodt leve id, Und werde nicht jteruen ewiglid.
Hildesheimer Runit. 61
Diner uperitandingfe (Auferſtehung) erfreie id mich. Das for—
dreujch (verdrießt) den jatan jederlich”, oder die befannten Sinn
jprüche: „Wer Godt vortrowet hefft woll gebowet, dat ihme nicht
rowet (reuet)“. ,„Wath der Leiffe Godt Bejcheret, dath blifft alles
ungewebreth (ungefährdet)'. Dort wieder ein feder Humor: „Wer
bawen wil an ?sreier Straßen, Mus fich viel Unnüß Gejchweg
nich Irren Laßen“ (übrigens ein Zeugniß für die übliche Kritif
an Neubauten, die ein reges Wolfsinterefje beweiſt). In den
reformatorischen Wirren, noch vor öffentlicher Zulaſſung evange—
liſchen Bekenntniſſes, 1539, jchrieb ein muthiger Bürger an fein
Haus (im Kläperhagen): „Virtus cessat, ecclesia turbatur. cle-
rus errat, demon regnat, simonia dominatur“. Die Pracht:
eremplare der alten Häujer jtehen am Markt, vor Allem das welt:
berühmte Amthaus der Knochenhauer, d. h. Zunfthaus der Fleischer.
Es iſt bis zu dem hohen, jpiten Giebel, der dem Markte zugefehrt
it, nicht weniger als fünfmal fräftig überfragt und von oben bis
unten bemalt und mit reichiten Schnitereten bededt; dabei aber,
in dem Gewirr der Balfenköpfe und Sodel und Reliefs und Frieſe
von einer Harmonie, Abtönung und Ruhe der Farben, die höchit
bewundernswerth it. Ernſter jchauen an der andren Marftjeite
das Wedekind- und das Templerhaus drein, beide dicht nebenein-
ander und nur durch das Judengäfchen getrennt; eriteres jehr
tenjterreich, mit drei Giebeln jchön errichtet; letzteres einer der
jeltenen Haujteinbauten der Stadt, mit jeinem grauen, todten Stein
jeltjam zu den bunten Tönen ringsum fontrajtirend, eine Art
Kajtell, dem Nafjauer Haus zu Nürnberg ähnlid), mit mächtiger,
wagrecht abgejchlojiener und thurmgefrönter Faſſade, aber durch
den jchönen Erfer, durch mancherlei Reliefs und Ornamente doch
ins Allgemeine eingepaßt. Die drei Häufer und auch die übrigen,
ferner das Rathhaus und der Stadtbrunnen davor, der die übliche
Nolanditatue trägt, geben dem Marftplag ein Ausjehen von jo
jcharfem, bejtimmtem Charakter, jo erniter Würde und doch jo
malertjcher Gejtaltung, daß er wohl jeines Gleichen fucht. Das,
übrigens trefflich rejtaurirte Rathhaus mit einem romanijchen, zwei
gothijchen Giebeln und einem dunfel gehaltenen Fachwerfanbau it
wie eine Stilmujterfarte, dabei burgähnlich und doc) nicht jtörend.
Auf drei fräftigen Strebepfeilern jtehen in ziemlicher Höhe die drei
ihönen Steinjtatuen eines Bijchofs, eines Kaiſers und eines Bürger:
meijters. Anmuthiges Leben bringen in die Steinmajje die grünen
Yinden vor dem Nathhauje, hinter deren Zweigen man in dem
62 Hildesheimer Kunft.
tief eingezogenen Yaubengang des unteren Stocdwerfs das geſchäftige
Treiben der Leute jieht. Wer das Innere des Baues bejucht, wird
jih an der Schönheit und Stattlichfeit des großen Prunfjaales
erfreuen, eines der prächtigjten, die deutjche Städte aufzumeijen
haben. Er erjtredt jich durch drei Stodwerfe und gewährt mıt
jeinen dunflen Dolzdeden, jeinen Yauben, jeinem jchönen Gejtübl,
jeinen Fresken und vor Allem mit dem mächtigen Fenſter der einen
Wand, durch welches eine Fluth von Licht jtrömt, das lebensvolle
Bild der Nathsherrlichkeit einer alten Sladt jtolzen und fraftvollen
Geiſtes. Die großen Wandfresfen, von Hermann Prell gemalt,
erinnern die Epigonen fräftig an die Höhepunkte der Hildesheimer
Gejchichte, an Biſchof Bernward, an den Sieg bei Bledenitedr,
den 1493 die jtädtiichen Schaaren unter Führung ihres Bürger:
meiſters Henning Brandis über den Herzog Heinricd von Braun-
jchweig erfochten („It was eyn jtridfid mangelinge“, d. h. ein ftreit-
bares Gefecht, jchrieb Brandis in dem Briefe, den er am Abend
der Schlacht „mit hajte gejereven“; „de allmechtige ewiae god unde
unje uterforen Hilgen (auserforenen Heiligen) unde patronen be:
jchermeden uns, dat wij den famp behelden, greppen (griffen) vele
fangen, wunnen (gewannen) reyfige have, des hertogen twe jlangen
(zwei Feldſchlangen) unde I jteinbuffe (Steinbüchje), od ander
boigkbuſſen (Bodbüchjen, aufgelegte Geſchützrohre), vele waghen mit
provanden (Proviant), V tunnen crudes (traut, Pulver), jo dat
id in grote ere unde erlicheit (Herrlichkeit) lopt (verlief), god ſij
ewich gelovet.“). Auch Bugenhagens Einzug in die reformirte
Stadtkirche, die Erjcheinung der heiligen Jungfrau vor Kaijer
Yudwig dem Frommen, dem fie im Rofenjtrauch das Modell des
Domes zeigt, und zulegt Kaiſer Wilhelm I. find dargeſtellt; es iſt
etwas pathetiiche Hijtorienmalerei, ähnlich der im Goslarer Kaijer:
haus, aber nicht ganz ebenbürtig, jedenfall® aber an ihrer Stelle
höchjt wirkungsvoll. — Unter den interefjanten Häufern der Stadt
will übrigens eins nicht vergejjen fein, das ſogenannte „Kaijerhaus“
am Langenhagen, ein gejchmadvoller Nenaifjancebau nach italientjcher
Art, an dem in hohen Steinfiguren und in gegen fünfzig Medaillons
die römischen Kaiſer und Helden angebracht jind, eine gelehrte
Spielerei, die den Gedanfeninhalt wie den Formenſinn des jeche-
zehnten Jahrhunderts vortrefflich wiedergiebt; an der Hoffafjade
hat der Künſtler jic) eine Güte gethan in dem reichen, neuen
Formenſchatz der Nenaifjance, hat aber auch dem deutjchen Bau:
material mit feinem Zinn jchöne Formen verliehen — man muß
Hildesheimer Kunft. 63
3. B. die Eleganz der Dachziegelfaltung bewundern. An anderen
Häujern find es Gejtalten aus der firchlichen Vergangenheit der
Stadt, die man angebradht hat. So hat 1616 an der Straße
„Hückedahl“ einer die Jungfrau Maria, den Evangeliiten Yufas
(als jeinen Namenspatron) und die großen Bijchöfe Bernward und
Godehard anbringen lafjen. Ein jchönes Zeugniß der Ehrfurcht
vor alter, großer Zeit; der Kunſtſinn vergaß nicht an feine Quellen
dankbar zurüdzugehen. Dieje Quellen lagen in der Zeit des großen
Bernward.
Um den Geijt Ddiejer älteren, fonjtitutiven Epoche auf uns
wirfen zu lajien, wandern wir am beiten nach der Nordweitjeite
der Stadt. Dort steht am hohen Wall die Michaelsfirche.
Als Kaifer Otto III. ihm eine Bartifel des heiligen Kreuzes ge-
ichenft hatte, jtiftete dort auf der Höhe Bilchof Bernward eine
Kapelle und fiedelte 996 ſechs Benediftiner an. Er wollte aber
noch höher hinaus und legte „anno dujent ein“, von Rom zurüd-
gefehrt, den Grunditein zu einer der bedeutenditen Kirchen, die in
deutjchen Gauen jtanden; ıhre Weihe hat er 1022 noch jelbit voll-
zogen. Die Anlage mit Doppelchor und flanfirenden Thürmen
war an dem alten Plan von St. Gallen orientirt, aber jie war
noch monumentaler gedacht durch zwei Querjchiffe, die das Längs—
ichiff vor den beiden Chören freuzten und den Grundriß jo zu
einem Doppelfreuze erhoben. Zwei Thürme über den Kreuzungen
und vier an den Eden gaben ein impojantes Anjehen — jo zeigt
noch ein altes Modell die Ktirche. Leider ift jie durch Umbauten,
Brände und rohe Eingriffe wejentlich zeritört — der Oſtchor iſt
ganz abgejchnitten worden; anfangs unjres Jahrhunderts wagte
man es, das ehrwürdige Denkmal zum Teile abzubrechen und zu
der in den angrenzenden Klojterräumen (noch heute) untergebrachten
Srrenanjtalt zu ziehen; damals war in dem einen Seitenjchiff eine
— Kegelbahn. Tritt man jet von Oſten heran, jo jteht man
vor den beiden noch übrig gebliebenen Bernwardsthürmen, die in
ihrer verwitterten, dunklen Steinmaſſe und ihrem feitungsartigen
Charakter höchſt ernit, faſt düſter dreinjchauen; es redet ein über:
mächtiger, jtarfer Geift aus diefen Gebilden. Wenn fic) aber die
Pforte ins Innere erjchlojjen hat, jo umfängt uns auf einmal der
herrliche Eindrud feierlicher, ruhiger, aber durch überaus jchöne,
weiche Farbenverbindungen belebter, fait anmuthiger Verhältnijie.
Wir jtanden zum erjten Male unter dem Eindrud einer
romanischen Kirche altjächjiichen Styls, der flachgededten,
. 64 Hildesheimer Kunft.
freuzförmigen Bafilifa. Hier iſt unmittelbare Anlehnung an Die
altchrijtlihe Bauweije, allerdings ein Nücdjchritt Hinter Die
farolingiiche, die bereit3 an den Problemen des Wölbungstechnit
gearbeitet hatte, ein Zurüdbleiben auch hinter der wejtdeutjchen
Baufunjt, die jich fonjtruftiv weiter wagte, aber andrerjeitS ein
feiner Sinn für die altchriftliche Harmonie und äjthetiiche Wirkung
des Gotteshaujes, der um jo bewunderungswürdiger tt, als er
mit für damalige Zeit Fühnem Griffe die Schönheit jüdlicherer
Formen erfaßte und in dieſes nordiſche Yand verpflanzte. Es fehlt
noch ganz das Empordrängende jpätromanijcher und gothiicher
Kunſt, es fehlt die Kühnheit des von Gedanfen getriebenen Hoch—
baus, es herrjcht nur die ruhige Schönheit, die jozujagen abjolute
Schönheit. Was Mozart in der Muftf it, das redet aus Diejer
Kunſt. Mit jchöner Behaglichkeit, Wärme, Feierlichkeit it ein
Haus gebaut, in dem man fich wohl fühlt, ein Haus der Ruhe,
in dem der äußere und innere Friede garantirt erjcheint, in
dem noch nicht vom unruhigen Geiſte gothiicher Bauart das Ge:
müth aufgerüttelt und mit ungejtümer Macht nach oben gedrängt
wird. Gänzlich auf Säulen zu bauen, das wagte man allerdings
nicht mehr in dieſen großen Verhältniſſen. Zwijchen die Säulen,
die das Mitteljchiif jtügen, ſind Pfeiler eingejchoben, aber noch in
der Minderzahl. Dem reinen Säulenjyjtem traute man offenbar
nicht mehr, aber man veritand es auch noch nicht oder man ver:
ſchmähte es auch, nur mit Pfeilern zu bauen und dieje kunſtvoll
zu gliedern. Die vier Pfeiler in St. Michael find jchlicht, ſchwer
und jteif, man nahın fie als Nothbehelf hin und wandte umjomehr
Kunſt auf die Säulen. Die meijten diejfer vor uns jtehenden, mit
mächtigen, prächtig, ja üppig verzierten Stapitälen gefrönten
Säulen gehören allerdings erit dem 12. Jahrhundert an. Aber
die beiden erjten zur Nechten jind noch Nejte Bernwardjcher Kunſt.
Sie find jchlichter, aber überaus jchön durch jenen Wechjel des
gelblichen und des zartrothen Tones, der nach alten Zeugnifien
eine bejondere Kunjt Bernwards war (er ließ in demjelben Farben:
jtil auch die Mauern und Thürme der Stadt errichten). Antike
Bildung beweifen die einfache attiſche Bafis und der feine Berl:
jtab am unteren Rand der Dedplatte ; germanischen Fortjchritt
zeigt das Kapitäl, dejjen nach unten geſchickt abgerundeter Würfel
den durch die deutjche Kunſt erfundenen Uebergang der Rundjäule
in den quadratiichen Durchjchnitt der Bogenmauer bildet. Man
jteht mit einer Art Ehrfurcht vor diejen fait neunhundertjährigen
Hildesheimer Kunſt. 65
Zeugen einer kraftvollen, das „Strenge mit dem Zarten“ verbindenden
Bauart. Aeußerſt interejjant ift, daß man an den Würfelfapitälen
Namen entdedt hat: Si. Yppoliti Martyris,Si. Audentii Confessoris,
Sae. Agathae Virginis, Sae. Teclae. Ob die Säulen wirklich,
wie alte Zeugniſſe berichten, Neliquien diejer Heiligen enthalten
oder ob jie ihnen nur geweiht waren, haben wir nicht erfahren
fönnen. Neuere Gelehrte (z. B. Dehio) meinen, in diejen Zuthaten
ein ängjtliches Mißtrauen in die Tragkraft des Säulenbaues, ein
Suchen nach jichernden, höheren Gewalten jehen zu müſſen. Es
fönnte dem entjprechen, daß man St. Agathe, die Patronin wider
‚seuersbrunit, St. Thefla, der das Feuer nichts anhaben fonnte,
u. dergl. auserlas. Aber man fann auch eine mehr ideelle Er-
flärung darin juchen, wie uns jcheint, daß, dem jymboltjchen
Charakter altromanijcher Kunjt gemäß, ein NAusdrud des Vertrauens
der Kirche überhaupt, der Kirche als einer geiltigen Macht, auf die
hohen Nothhelfer für ihr ganzes inneres Sein und Wejen gegeben
werden jollte; der Zug in die Höhe war da, aber man fonnte ihn
noch nicht technijch zum Ausdrud bringen, und jo that man es durch
ideelle Mahnung. Diejem verborgenen Zug in die Höhe entipricht
auch der wundervolle Abjchluß der Kirche zu Häupten der Gemeinde:
die außerordentlich jchöne Malerei an der Holzdede. In edler,
erhabener Zeichnung und mit klaren Farben, die ſich bei aller
Yebhaftigfeit zu einem würde: und rubevollen Eindrud vereinigen
(im Gegenjat zu den jonit jo zerjtreuenden, abziehenden Decken—
malereien), hat im zwölften Jahrhundert Abt Rathmann den
Stammbaum Chriſti gemalt, die im Mittelalter beliebte „Wurzel
Jeſſe“ (noch heute in Hildesheim „Ielle-Boom‘ genannt), indem er
auf acht großen, roth oder blau grundirten ‚zeldern Adam und Eva,
Jeſſe, David, Salomo, Hiskia, Joſia, Maria und Chriſtus, Yebteren
als den Berherrlichten, Thronenden, in feterlichiter Haltung malte
und jie auf fleineren Feldern mit den Propheten, Evangeliten
u. j. w., jowie mit allerlet Allegorien und Arabesken umgab. Es
ijt wie eine Uebertragung der Bücherminiaturen ins Große. Eine
ſchönere Dedenmaleret haben wir nirgends gejehen. Wandert man
weiter, jo erjchließt jich, bejonders von den Zeitenjchiffen und vom
Chore aus, immer reicher und jchöner das Bild der freien, groß:
artigen Halle mit ihren prächtigen Säulen, und man bedauert nur,
dat der Bau durch Einbauten (jogar ein Stüd Kreuzgewölbe in
der Vierung) zerjchnitten und gejtört it. Das nördliche Querjchiff
iſt noch in der ältejten Anlage erhalten; es zeigt drei Säulen
Preußiihe Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 5
66 Hildesheimer Kunſt.
arfaden über einander, die jedenfallS den Frauen im Stloiter
angewiejen wurden; denn wenn auch nach den alten Statuten nur
„ſieben bejahrte“ ich darin aufhalten durften, jo willen wir doch,
daß deren um 1247 eine Menge war, die ebenjo das Budget wie
den Ruf des alten Benediktinerflojters gefährdete. Der Chor üt
vom Querjchiff durch eine hohe Steinjchranfe abgejchlofien, die
allerlei plaſtiſchen Schmud trägt: innen zwei feine Frieſe mit
Engelchen und fabelhaftem Gethier, außen die größeren, früher
vielfarbigen Statuen der Maria, vierer Apojtel und der Bijchöfe
Bernward und Godehard, in einem gewiſſen freien Stile, aber nicht
an die jchönen Werke romanijcher Plajtif reichend, wie ſie ın Bam—
berg, Naumburg, ‚Freiberg, Wechjelburg entitanden. Was jonit ın
der Kirche zu jehen it, gehört jpäteren Zeiten an und iſt nicht jo
bemerfenswerth, bi8 auf das Chorgejtühl des jechszehnten Jahr:
hunderts mit jeinen unruhigen Schnigereien und einen jchönen
‚slügelaltar von dem Wejtphalen Naphon (1509). Unter dem Lit:
chor ijt die alte Bernwardsfrypta, für ſich zugänglich, weil katholiſch
geblieben. Nachdem er über zwanzig Jahre an jeiner Lieblings:
firche gearbeitet, gejonnen, geopfert hatte, wollte der Biſchof an
ihrem Fuße begraben jein, und jo meißelte er dort neben einer
Duelle jelbit jeinen Sarfophag, den er mit allerhand apofalyptijchen
Figuren zierte; die lateinische Inschrift ſchließt demüthig:
Ah, das gewaltige Amt hab’ ich nicht würdig verfchen:
Ruhe ſchenke mir Bott: finget ein Amen für mid!
Sn Frieden ruhen bleiben durfte er freilich nicht, denn der
heilig gejprochene Yeib wurde erhumirt und in St. Magdalenen
aufbewahrt — einen Arm und das Haupt erhielt die Domfirche.
- Man jollte übrigens nicht verjäumen, den noc) erhaltenen Theil
des nördlichen Kreuzgangs (von der Jrrenanjtalt her) aufzujuchen.
Er gehört zu den jchöniten jeiner Art und bietet in den Weber:
gangsformen des dreizchnten Jahrhunderts, in malerijchen Blend:
bögen und jcehmudvollen Arkaden, in romanischen Ornamenten an
bereits gothiſchen Konitruftionen und in prächtigen Berjpeftiven ein
überaus malerijches Bild,
Nach der jchönen Architektur von St. Michael bringt die An-
jchauung des berühmteiten Gebäudes von Hildesheim, des Domes,
zunächit einige Enttäujchung. Das Aeußere defjelben it durch
prinziploje Zuthaten verunjtaltet und unwirkſam geworden; man
fann nicht einmal die Gliederung flar erfennen. Nur die, freilich
erſt vor fünfzig Jahren erneuerte, doppelthürmige Weſtfaſſade wirft
Hildesheimer Kunft. 67
Durch ihre ruhigen Berhältnifje, durch reinjte und edeljte Gliederung
und durch eine gewiſſe Pracht romantischer Formen jehr wohlthuend
auf das Auge des Beſchauers; es ijt, im Vergleich zu den majfigen
Ihürmen von St. Michael, ein reinerer, mehr deforativer und
reiferer Formenſinn in dieſer hellglänzenden, leicht emporgeführten
Ktonitruftion. Betritt man nun durch den Vorbau, das „Paradies“,
des Domes Innere, jo naht die zweite, noc) ärgere Enttäujchung:
das an ich Schöne romanische Syjtem — wieder in dem jchon in
der Michaelsfirche bemerkten Stügenwechjel — it jchaurig verzopft
und vertüncht, ſodaß jeder Blid weh thut, wiewohl man zugeben
muß, daß die Verzopfung nicht jo gänzlich tödtend wirft wie etwa
an gothiichen Bauten. Hier dringen doc) das edle Arkadenſyſtem,
die jchöne Säulenordnung und die jtattlichen Oberwände kräf—
tiger durch. Innerhalb diefer Räume nun erwartete uns zu reichjtem
Genuß eine Fülle hervorragender Kunſtdenkmäler. Das erite find
die hohen Erzthüren, die das Paradies vom Langichiff trennen:
des heiligen Bernward berühmte Bronzethüren, die er mit jeinen
Gehilfen 1015 anfertigte. Sie find verwandt mit dem Erzportal
am Augsburger Dome, aber jie jind höheren Alters, daher auch
primitiver in Technik und Kunſtform, und dennoch weit wirkungs—
voller. Der funftfinnige Bischof hat, wie ſonſt öfters, die Idee
gehabt, eine Art bibliiche Gejchichte für das Volk, eine Art biblia
pauperum, zu jchaffen, aber nicht naiv erzählend, jondern, ganz
im Sinne jeiner refleftierenden Zeit, geheimnißvolle Zuſammen—
bänge gebend. Das Drama von Sünde und Erlöjung bewegte
ihn, und jo jtellte er die Urgejchichte der Menjchheit und die Ge-
Ihichte Ehrifti auf je acht Feldern unter geiltvollen Gegenüber:
itellungen dar. Seltjam plumpe Figuren mit häßlichen Gefichtern
und unrubigen Bewegungen, jcheinbar ohne jeden Sinn für Grup:
pirung, dem ungeübten Auge gewiß wunderlich! Und doch wird
nähere Betrachtung finden, wie jchön Dies und jenes gedacht iſt,
jo die Familienſzene des hadenden Adam und der jäugenden Eva,
die unter einem an den Baumäjten verjchlungenen Mantel jißt,
oder die Verkündigung Mariä, das Ave Maria. Die beiden Ge—
italten des Engel® und der Jungfrau gleichen ja zwei buclichen
alten Weiblein, die mit tief gebeugten Köpfen von unten ber eins
nad; dem andern jchauen, und doch, welche gemütbliche deutjche
Auffaſſung, welches eigenthümliche Leben in diefer Gruppe! Oder
man jchaue die Kreuzigung an: welch feiner Sinn für Symmetrie
bat die beiden Striegsfnechte zur Nechten und zur Linfen ans
5*
68 Hildesheimer Kunft.
geordnet, den einen mit der Lanze, den anderen mit dem Eſſig—
ihwamm am Stabe, die nach dem Haupte des Gefreuzigten
fonvergiren, und noch weiter nad) außen hin, aljo ganz gegen Die
jonjtige Anordnung, Johannes und Maria. Auffallend ift die ganz
betjpiellos freie Behandlung des Neliefs: während die Unterförper
fait unmerflich jich vom Grunde heben, treten die Oberleiber und
Ktöpfe ganz frei heraus, eine unebenmäßige, unklaſſiſche Art, Die
das Wejen des Reliefs noch nicht erfaßt hat. Nach welchem Bor:
bild Bernward hier gearbeitet hat, it lange dunfel gewejen. Wor
jieben Sahren hat ein eingehendes Studium der inhaltlich merf-
würdig ähnlichen, aber freilih in Holz gejchnigten Thüren der
alten Bajilifa San Sabina auf dem Aventin zu Nom etliche
Forſcher zu der VBermuthung der Abhängigkeit geführt — Thatjache
it jedenfalls, daß Bernward, als er 1001 in Rom weilte, im
faijerlichen Balajt auf dem Aventin wohnte und jeden Tag das
Kunſtwerk von San Sabina vor Augen hatte. Die Uebertragung
in Erzguß fommt immerhin auf feine Nechnung. Darin war er
ein echter Sohn jeines deutjchen Volkes, das, wie befannt, von
jeher eine große Vorliebe für die Metallfunit zeigte — wird Doc
in alten Sagen die Schmiedefunft jelbjt des Helden für würdig
erachtet. Ein andres derartiges Gußwerk it im jüdlichen Kreuz:
ſchiff aufgejtellt, die Bernwardjäule. Er hatte in Nom die
Trajanjäule gejehen, und ihm war fein Stunjtgedanfe zu groß.
Sp machte er jich daran, das achtfach gewundene Erzband einer
etiwa fünf Meter hohen Säule mit 28 Neliefs zu jchmüden. Das
Leben Chriſti war der Stoff, aber diesmal von der Taufe bis zum
Balmeneinzug, alſo die große Lücke zwijchen den nur Jeſu Kind:
heit und Paſſion daritellenden Tafeln der Erzthüren. Soweit
nicht die Spuren abjichtlicher Bejchädigung (bejonders im Bilder:
jturme 1544) zu jehen find, iſt das Werf trefflich erhalten und
durch die Schöne grünliche Patina belebt, das Relief ift merklich
gejchiekter behandelt ; überhaupt ein nach Größe des Gedanfens
und Trefflichfeit der Ausführung bewundernswerthes Werf. Die
gleiche Kraft der Konzeption beweiit auch der mächtige Kronleuchter
des Domes; er iſt auch eine Idee Bernwards, wenn auch erit
nach jeinem Tode vollendet. Es giebt nur vier derartige alt:
romanische Nadleuchter in deutjchen Yanden, und unter diejen it
der große Bernwardleuchter der größte und jchönjte. Er mit
nicht weniger als jieben Meter im Durchmejjer, neunzehn im Um:
fang, und trug einjt in jeinen Ihürmchen und Sinnen aus ver:
Hildesheimer Kunſt. 69
goldetem Kupferblech und getriebenem Silber 72 Sterzen. Es
jollte das himmlische Ierufalem jein, die Stadt der triumphirenden
Kirche, die über der im Schiffe ſitzenden jtreitenden Gemeinde
leuchtete ; daher Ddieje goldenen Mauern, Zinnen, Thürme und
Berlenthore. Die Silberjtatuetten der zwölf Apojtel haben die
ichwedischen Soldaten im großen Striege ausgeführt. Die lautere
Schönheit des ganzen Werfes muß jeden ergreifen. Wie hat es der
gentale Künftler veritanden, die großen Gedanfen feiner Kirche zu
wundervollem Ausdrud zu bringen! Jahrhunderte haben fich
daran erquidt und gebildet. Und noch viel mannigfaltiger foll
jeine Kunſt fi) uns erſchließen. Wir erwähnen deshalb nur bei-
läufig das ſpätromaniſche Taufbeden im wejtlichen Seitenjchiff, jo
herrliche Gußtechnif — nach Bernwards Vorbild — und jo aus-
drudsvolle Schönheit der plajtiichen Darjtellung es zeigt, und
werfen nur einen Blick auf die jehr problematifche Irmenſäule
vor dem (übrigens äußerjt funjtvoll in Stein gearbeiteten) Lettner
— es joll das Gößenbild des Arminius jein, dem als dem Kriegs—
gott die Sachſen Opfer brachten, bis es Karl der Große auf der
Eresburg niederlegte ; indeß das jchmudloje, marmorähnliche
Säulengebilde wird wer weiß woher geholt jein. Wir juchen die
Domjchagfammer auf, in der uns der Küfter Wichtiges zu zeigen
hat. Da iſt der Goldfeld, an deſſen Fuß und Knauf
gewiß Bernward jelbit die jchönen Edelſteine, bejonders den föjt-
lichen Topas, und die Gemmen und Steinjchliffe befejtigt hat,
übrigens mit jo unbefangener Freude an der antiken Kunit,
daß er eine Gemme mit den drei Grazien in befannter
Nadtheit unbedenklich in das Weihgefäß fügte. Da it Bernwards
Krummſtab, dem aber ein großer Meijter jpäterer Zeit den Schmud
glänzender Gothif verliehen hat, des Biſchofs jeidengewobenes grünes
Kleid, das man in feinem Sarge fand, eine funjtvolle Weberei voll
feiner Ornamentif, jein geometrijcher Koder, der vor ihm lag,
wenn er den jungen Kaiſer Otto unterrichtete, auch herrlich ge:
ichriebene und reich gezierte Meh- und Evangelienbücher aus feiner
Zeit (eins übrigens vom Abt Rathmann an St. Michael, deſſen
Kunſt wir jchon bewundert haben). Da jind auch Kopien jener
drei berühmten Erzeugnijje Bernwardjcher Kunſt, deren Originale
in der fleinen Magdalenenfirche aufbewahrt werden (die Kopien
im Domjchag erjegen die Betrachtung dieſer Originale): des
goldnen Bernwardsfreuzes, mit dem er 994 jene Kreuzpartifel um:
jchloß, und der beiden Standleuchter, die man auch in jeinem
70 Hildesheimer Runft.
Sarge fand. Das Kreuz ijt einen halben Meter hoch, in Gold
getrieben und mit über zweihundert Edeljteinen und Gemmen
verziert; es ijt jein Attribut geworden, faſt das Wahrzeichen von
Hildesheim — die Aebte des Klojters, die Goldjchmiedzunft führten
es in ihren Siegeln, und faum iſt ein Bernwardsbild ohne Diejes
Kreuz zu finden. Die Leuchter, ziemlich ebenjo hoch, jymbolifiren
aufs Schönjte den Zug zum Lichte — die Blide der Eleinen Figuren
jind aus der Tiefe nach oben gerichtet. Eine Injchrift bejagt, daß
Bernward die Stüde durch einen Gehilfen (puer) „nicht aus Gold,
auch nicht aus Silber, und doch aus Gußmaſſe herſtellen lieh,“
aljo in einer neuen Legirung. Man wird nicht müde, Die Er:
zeugnifje dieſer ebenjo prächtigen wie feinfinnigen Kunſt des großen
Biſchofs zu bewundern. Was jonjt im Domjchag it, das alte by:
zantinijche Serufalemfreuz, ein Gejchent Ludwigs des Frommen,
ein herrliches Flügelaltärchen mit einer Verfündigung von Fieſole,
ein Stüd eines Kruges von Cana, dergleichen man auch jonit
findet (3. B. in Quedlinburg) — in Wahrheit wohl ein Ueberreſt
jener großen Weingefäße, die die alten Chriltengemeinden für ihre
Opferjpenden brauchten —, tritt in zweite Linie.
Bon der Domjchagfammer führt der Küſter gewöhnlich in den
benachbarten fleinen Domhof. Das ift wie eine Welt für fich, ein
nicht eben großes Stück Erde, unter deren grünem Raſen die ver:
jtorbenen Domberren alter und neuer Zeit ruhen; auf der einen
Seite die Dftapfis des Domes, auf den übrigen drei die Doppel:
gejchojjigen Kreuzgänge, aljo ein vollfommener Abjchluß gegen die
Welt, wie ein Bild der treuga Dei, des Gottesfriedens ım
Schatten der Kirche. Hier it an der Domapjis der weltberühmte
Rojenjtod zu jehen, der angeblich) taujendjährige, in Wahrheit
faum viel über Ddreihundertjährige; an jeinem gebrechlichen Leibe
doftern jeit Jahrzehnten die Gärtner, er jcheint doch altersjchwad)
zu werden; im Herbſte, als wir ihn jahen, war es ein jchmächtiges,
dürres Gewächs; aber ehrwürdig it es Durch jeine Sagenmwelt.
Kaiſer Yudwig der Fromme, erzählt Frau Sage, ließ einjt bei der
Sagd im Walde ſich Meſſe lejen, das heilige Gefäß ward an
einem Strauche aufgehängt, dann ruhte der Kaiſer. Als er er
wachte, war ein Wunder Gottes gejchehen. Ringsum, mitten im
jommerlichen Blühen und Grünen der Büſche, war heiliger Schnee
ausgejtreut, und das Goldgefäß am wilden KRojenjtrauch war jo
jejt mit den Zweigen zujammengewachjen, daß feine Hand es löjen
fonnte. Da erfannte der Kaiſer des Himmels Fügung und lieh
Hildesheimer Kunit. 71
in den Mejten des Wunderjtrauches einen Altar und darüber Die
Domfirche des Bisthums errichten, das er von Elze hierher ver:
legte. Schöner als der Strauch it das unvergleichlich jchöne
Architefturbild der Kreuzgänge mit ihren Ddoppelitöcdigen Rund:
bogenarfaden und der anmuthigen Fülle von wildem Weine. Eine
Harmonie und eine Stimmung ift in Ddiejen Xinten und Ber:
hältnifjen, die ergreifend wirft. Die lebendige Staffage von Male:
rinnen, die von allen Seiten das jchöne Bild zeichneten, war mir
ganz begreiflih. Schön find auch die ehrwürdigen Grabjteine in
den unteren Kreuzgängen, zum Theil jogar außerordentlich jchön,
bejonders der des Biſchofs Adelog aus dem zwölften Jahrhundert,
jenes thatfräftigen Bijchofs, der mit Erfolg jeine Rechte jelbjt
gegen den gewalttätigen Herzog Heinrich den Yöwen wahrte. Der
Künstler hat ihn in einem prächtigen, weihevollen Hochrelier ab-
gebildet, um welches die weltflüchtige Injchrift geführt iſt: Gloria,
forma, genus, mundana, probabilis, altum transit, mancet, abit.
Haec modo clamo tacens. Ora pro me! (Srdijcher Ruhm gebt
dahin, liebliche Schönheit verblüht, hoher Adel vergeht; dies nur
predige noch ich jchweigjamer Mann; bitte für mich!) Ein andrer
Grabjtein rühmt die Barmherzigkeit des Priejterd Bruno, den Die
Armen laut beweinten. Aus dem Streuzgang führt ein „vers
Ichwiegenes Pförtlein“ in die nahe Domſchenke, wo jich einjt gegen
Abend die Dombherren mit ihren Freunden aus der Stadt zur
„Bapenjtunde“ zu verjammeln pflegten. Der Weltruf des Lokals
gleicht dem des Nürnberger „Bratwuritglödle*, bejonders jeit
Sulius Wolff in jeinem Epos „Renata“ den Ruhm des „hochge:
giebelten Weinhaujes* gejungen hat. Nein Fremder wird an
diejer alten caupona vinaria ecelesiae cathedralis vorübergehen,
obwohl darin faum etwas mehr zu jehen iſt als eine Roſe im
Glaſe auf dem Stammtifch, über dem einjt an der Dede die Roſe
gemalt war, damit „zu verjchwiegener Berathung“, im traulichen
Erfer man sub rosa jich bejprechen fonnte, und, was nicht zu ver:
gejjen, ein gutes Weinchen im Glaje, „denn auch heute noch ver—
zapft man dort recht achtungswerthe Tropfen.“
In einer Nebenfapelle des Domes werden Nejte eines hinter
dem Hochaltar aufgefundenen merkwürdigen Zußbodens aufbewahrt;
der funftjinnige, um Hildesheims Kunſtdenkmäler hochverdiente
Dr. Römer trat 1850 zufällig unter die Arbeiter, die die Dielen
im Oſtchor erneuerten und die darunter herausgebrochenen Gips—
platten achtlos bei Seite warfen; er erfaniıte mit Stennerblid, was
72 Hildesheimer Kunft.
bier im Spiele war, und rettete die Nejte, aus denen ſich noch ein
Bild des alten Gefüges ergiebt. Man hat zu wirklicher Mojatt,
als Bijchof Hezilo 1077 die Chorapfis ausbaute, feine Mittel gehabt
und deshalb eine Art Nachahmung erjtrebt durch ein Verfahren,
wie man es jonjt nirgends gefunden hat (neuerdings übrigens in
der Godehardificche nachgeahmt): man jchnitt die Konturen der
Zeichnung in Gipsmafje ein und gab ihnen mit Holzfohle und
Röthel Schwarze und rothe Färbung. Die Zeichnungen jtellen Iſaaks
Dpferung und Melchijededs Opfer — fein gedacht für den Plat
hinter dem Meßopferaltar — und verjchiedene Allegorien (3. B. die
„Zeit“ als ein Haupt mit drei Gefichtern, äußert gejchidt, ja
raffinirt fomponirt) dar und erinnern an pompejantijche Künite.
Das Werk ift ein neuer Beweis für die alljeitige Triebfraft und
Erfindungskraft, die Bernward in die Kunſt jeines Jahrhunderts
gelegt hatte. Man tritt nad) Verlajjen des Domes gewih in ehr:
fürchtiger Bewunderung vor jein Denkmal unter den jchönen Linden
des großen Domhofes. Es ijt 1893 bei der großen Bernwarbd:
Jäfularfeier aufgeitellt worden (wo einjt die Bernwardjäule jtand).
Harter hat den Bijchof mit Krummjtab und zum Segen erhobener
Nechten dargejtellt, zu den Füßen das Modell feiner Lieblings-
Ihöpfung, der Michaelskirche, und eine Nachbildung des Goldfreuzes.
Drei Reliefs charakterifiren den Bijchof, den Lehrer, den Künſtler.
Diefer Bifchof muß ein Univerjalgenie gewejen jein. Was die
Künſtler erzählen, übertreibt gewiß jeine perjönliche Handfertigfeit.
Danach wäre er Architekt, Maler, Bildner, Schniger in Holz und
Elfenbein, Rothgießer und Goldjchmied gewejen; dazu fommen die
chroniftischen Angaben, daß er auch Arzt war, ferner, daß er Dad}
ziegel erfand („nach eigener Erfindung ohne Anweifung‘‘, wie jein
Biograph IThanfmar erzählt) und überhaupt den Ziegelbau in
Deutjchland einführte. Seine perjünliche Thätigfeit an den wid)
tigiten Werfen unbejtritten lajjend, mögen wir doch wohl mehr
glauben, daß der bedeutende Mann die neuen Ideen angab, den
neuen Geijt fand und mit jouveräner Gewalt Hildesheims Kunit-
leben jo erregte, daß die Bewegung noch heute nachzittert. Et
gehörte zu den begnadigten Menjchen, die die befruchtenden Waſſer
verjchtedener Quellen in jich aufnehmen und zu einem vollen, jchönen
Fluſſe vereinigen, der von ihnen aus Leben jchaffend durch Land
und Volk ich ausbreitet. Was er in fich aufnahm, waren zuerſt
die Schönen Vorbilder der alten Kunſt — jeine Nomreije war eine
geichichtliche Zügung —, dann die Nunjttraditionen der deutjchen
Hildesheimer Kunſt. 73
Heimath — ein gut Theil deutjchen Wejens it in ihm (vgl. was
wir oben über jeine Metalltunit bemerften), ferner der reiche firch:
liche Gedanfenkreis, die Myſtik, das Grübelnde jeiner Zeit, und vor
Allem auch das ejchatologijche Wejen, das durch die Erwartung des
Weltendes um 1000 bewegte Nachjinnen über die Wunderereignijie
der Zukunft. Er it zugleich ein tüchtiger Biſchof gewejen, der Die
Hechte feines Sprengel® gegen den Mainzer Erzbijchof im Streit
um Gandersheim fräftig zu wahren veritand, und jo jteht er in der
Erinnerung als das bedeutendite Beijpiel jener Männer in Stola
und Kutte, die jorgenden Sinnes die Kunſt durch unruhige Zeiten
leiteten, während, was jonit an der Spitze des Volkslebens jtand,
der Jagd und dem Waffenhandwerf nachging.
Wie in den Bautraditionen jeine Gedanfen weiterledten,
dafür iſt das glänzendite Beijpiel die dritte bedeutende Kirche der
Stadt, St. Godehardi, am Südwall gelegen. Godehard jelbit,
ſein Nachfolger, mußte in jeinen Spuren gehen. An fich engeren
Geiſtes, wiewohl ein jittlich und religiös rejpeftabler Charafter,
asfetiichen Mönchsinterejjen lebend und auf nichts jo jehr bedacht
als auf jtrenge Reform der verwilderten Klöſter in Eluniazenfijcher
Richtung, daher viel angefeindet in Tegernjee, Hersfeld, Krems—
münster, wo er, der geborene Bayer, vorher wirkte, fonnte er doc)
dem angebahnten Kunftleben nicht ausweichen und it mit den
dreißig Kirchen, die er angeblich gegründet hat, ein Vertreter des
ganz außerordentlichen Baueiferd jeines Jahrhunderts geworden,
jenes fajt fanatischen Baueifers in Sachjen, den der Mönch Rudolph
von Cluny jinnig aus dem Jubel erklärt, der die Menjchheit
durchdrang, als der gefürchtete Weltuntergang nicht eingetreten
war. Godehard wurde 1131 heilig gejprochen, und bald danadı
begann Bijchof Bernward den Bau der großen Kirche zu Ehren
jeines Namens. Er brachte aus Rheims, wo er der Heiligiprechung
Godehards beimohnte, neue Baugedanfen mit, die die altjächitiche
Weiſe wejentlich abändern jollten. Das iſt die in Frankreich jchon
längere Zeit beliebte, auf die Gothif hindeutende Erweiterung der
Titchoranlage. Sie wird an der Godehardsfirche darin sichtbar,
dab die Seitenjchiffe am Kreuzarm nicht enden, jondern um die
Apjis geführt werden und einen Chorumgang bilden; ja jie treiben
no drei Fleine Kapellchen aus jich heraus. Wir jtehen aljo vor
den eriten Spuren des nachmals jo mächtigen Einflufjes der fran-
zöſiſchen Architektur. Dem Ditbau it ein überaus gefälliaes Aus:
iehen gegeben, dem dann der herrliche Achtedsthurm über der
74 Hildesheimer Kunft.
Vierung die nöthige Würde verleiht. Auch die Ornamentik —
jelbjt der übliche Rundbogenfries — it freier und zierlicher, und
die Gliederung der Yanghausanlage mit dem fräftig ausladenden
Querſchiff und der jchönen Lijenenverzierung zeigt einen reiferen
Sinn, der jchon an die Schönheit des Bamberger Domes erinnert.
Die freiere Ornamentif zeigt am jchönjten das Nordportal, an dem
auch drei Figuren gemeißelt find (Chriitus, Godehard, Epiphanius),
jo jchön und edel, daß man an die herrliche Blüthe romanijcher
Plajtif im zwölften Jahrhundert, an die Naumburger und Bam:
berger Skulpturen erinnert wird. Gntzüdend iſt die Wejtfajjade
der Stirche, jchöner und in gewiſſem Sinne reicher als die des Domes,
Mächtig tritt die runde Apſis vor, durch zwei Frieſe gejchiekt, mit
deforativem Sinne gegliedert, das Yanghaus darüber ijt nicht mehr
horizontal abgejchlojjen, jondern gegiebelt, und die beiden Thürme
itreben, erjt quadratijch, dann oftogonal, jchon gewaltig aufwärts.
Man muß die Anjtrengung bewundern, mit der die Maſſenhaftig—
feit, der jteife Ernit, das fajt finjtre, unheimliche Moment des Alt:
ſächſiſchen (wie es am deutlichiten die Gernroder Kirche zeigt) Durch
die und jene neuen Glieder belebt und gebrochen und auf eine
feinere Ddeforative Wirfung bewußt, aber noch mühjam hinaus-
gearbeitet wird. Die Kirche ijt übrigens berühmt durch die funjt-
volle Reitauration jeit 1848, durd) die vor Allem die höchit noth—
wendige jichere Fundirung erreicht tt; denn die alten Baumetjter
haben darin leichtfertig gejchaffen, haben jo liederlich gegründet,
daß die Tragjäulen und Wände bedenflich ausgewichen jind; auch
vom Dombau weiß man aus alten Zeugnijjen, daß er unter Azelin
im elften Jahrhundert deshalb nichts vorwärts fam, weil Säulen
und Mauern immer wieder auswichen oder gar einjtürzten. Das
Innere von Godehardi zeigt überaus jchlanfe Verhältniſſe, pracht:
volle Säulenfapitäle mit jchön jtilifirten Schuppen oder funjtvoll
verjchlungenen Bändern und Berlenjchnüren, und vor Allem eine
äußerjt wohlthuende farbige Ausjtattung; Welter hat an den Ober:
wänden das Leben Godehards gemalt. Die Ausmalung der Apfis
zeigt den vollen ſphäriſchen Glanz der Bafilifa, den die alte
Ghrijtenheit liebte, um aus des Yebens Kampf und Noth in Die
begeiiternde Herrlichkeit der heiligen Welt zu jchauen.
Ktehren wir vom Wall an Godehardi wieder in die Stadt
zurüd, jo jteht ein alter Ihurm im Wege. Er erinnert an die
junge Maid, die einjt im Walde den Geliebten juchte und durch
die Wälder und Schluchten den Rückweg nicht fand, bis eines
Hildesheimer Runft. 75
Glöckchens Läuten ihr die Richtung wies; jterbend weihte jie eine
Glocke für die im Walde Irrenden, die allabendlich (für einen
Schuh und einen Gulden pro Jahr) vom Thurme geläutet werden
jollte. Solches ijt bis in neuere Zeiten gejchehen, und „Kehr—
wiederthurm“ heißt der alte Herr noch heute. In der anſchließen—
den Wollenweberitrage bat ſich Julius Wolff das Haus jeines
Goldſchmieds Rotermund gedacht, in deſſen Erfer des Meiſters
blonde Tochter Renata als verjtohlene, treue Gehilfin am Arbeits-
tijche jaß und den Maigrafenbecher Hämmerte nach der neuen unit,
die „nichts von Ihürmchen mehr und Streuzen, jpigen Bögen,
Map: und Stabwerf, nichts von Heil’gen und Madonnen, und
was jonit von Stirchenbauten wir entlehnten“, wußte, jondern
wiedergab „all den Meiz und Bildwerf, womit Griechen einjt und
Nömer ihre Säulen, Ktapitäle, Tempel, Vajen, Sartophage jchön
umfleideten und jchmücten“: in dem jonjt wenig bedeutenden
Epos eine ganz gejchidte Darjtellung des Einzugs der Nenaijjance,
der neuen Kunſt, die bei den ängitlichen, altmodijchen, in gothijch-
firchlichen Schablonen befangenen Zunftgenojjen Wergerniß und den
Vorwurf teufliichen Zaubers erregte.
Ziehen wir einen Gang ins Freie vor, jo laden im Weiten die
netten Anlagen des Bergholzes dazu ein. Port jtand vor grauen
Zeiten die Burg des Nitters Benno, dort feierten jpäter die Städter
ihre Maifeſte und feiern jie noch jeßt ihre Vergnügungen. Ein herr:
licher Blick erjchließt jich über das weite janft gebildete, fruchtbare
und gewerbreiche Thal der Innerjte. Im Norden die Höhen, hinter
denen einjt die alte Zwingburg „Steuerwalt“ lag. Im Südojten
die fernen Waldberge des Harzes und wie eingebettet im grünen
Rahmen das jchöne Bild der vielthürmigen Stadt, vom grünen
Gürtel der Wallpromenade umjpannt und jchöne Alleen herauf:
jendend nad) unjerem Standort. Ueber dem rothgededten Häujer:
meer erheben jich die hohen Kirchen; hoch ragt Andreas empor,
links der ſpitze Jafobithurm, der höchjte über der Stadt, noch weiter
links St. Michael und rechts von Andreas der Dom mit jeinen
vergrünten Dächern, dann mit hohem Gtebeldach LYamberti und am
weiteiten rechts Godehardi vornehmer Bau. Dahinter der behag-
liche Galgenberg, an dejjen Fuß vor dreißig Jahren der berühmte
Fund des altrömijchen Silberjchages (jet im Berliner Mujeum)
gemacht wurde. Der Rückweg führt uns an der alten Moriß-
firhe vorüber. Benno von Osnabrüd hat jie gebaut und Die
Bauweije jeiner jchwäbiichen Heimath, wie zu Goslar, jo aud) hier
76 Hildesheimer Kunſt.
verwerthet: das Charafteriftiiche iſt der reine, pfeilerloje Säulenbau,
wie er im Kloſter Hirfau gelernt war. Es ijt die einzige Säulen:
bafilifa des elften Jahrhunderts (in jpäterer Zeit it in Paulin—
zelle Diejelbe Ordnung angewandt worden. Das jchlichte,
freundliche Kirchlein it im Innern verzopft und roh getüncht;
es enthält den Grabjtein des Gründer der Kirche, Des
äußerjt jtreitbaren Biſchofs Hezilo, der im Goslarer Dom jeine
Hildesheimer zu blutigem Kampf wider die Fuldaer führte; Der:
jelbe Bifchof jprach in Kaiſer Heinrichs IV. Gefolge die berühmte
Abjegung des Papjtes Gregor aus, durch ein geheimes Zeichen
auf der Urfunde allerdings jein Gewiſſen jalvirend, was Dem
diplomatischen Geſchick des jejuitiichen Schlaufopfes alle Ehre macht.
Wir haben auf unjerem Gange durd) die Stadt der übrigen
Kirchen noch nicht Erwähnung gethan. Es wäre Manches von
ihnen zu bemerfen und iſt manche bedeutende Erinnerung an fie
gefmüpft: die hochragende Gothif an Lamberti (der einzigen ein:
gewölbten Kirche in der ganzen Stadt), die einfachere, formjchöne
Gothifan St. Andreas mit dem jchönen pentagonalen Chorumgang
und dem hohen, fajt mühelos gehobenen Thurme. An diejer Kirche
haftet die Erinnerung an die Hildesheimer Reformation. Anfangs
hatten nur die Brüder vom gemeinjamen Leben in Mariä Lichtenhof
(am Brühl) Yuthers Gedanken im Verborgenen gepflegt und ſeine
eriten Schriften gelejen. Dann brady der neue Geijt hervor:
Luthers Lieder hatten es dem Bolfe angethan, aber der jtreng
fatholijche Rath, Hans Wildefüer an der Spite, erflärte ji) 1525
gegen den „Martiniichen Handel“ und hieß, wie Henning Brandis
berichtet, „de Martinjchen bofe to vorbernende (Bücher zur Ber:
brennung) bringen. Das Singen der neuen Lieder war verboten,
und doch erjcholl es hier und da in der Andread- oder Michaels:
firche: „Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort! 1532 trieb man
über jiebzig Bürger, „lutheriiche Buben“, aus der Stadt. Aber
das Volk errang fich jeinen Willen, 1542 ging auch der Rath zur
evangelijchen Sache über, am 1. September hat Bugenhagen die
erite evangelijche Predigt in St. Audreas gehalten. Hildesheim iſt
jonach eines der markanteſten Beiſpiele jener Städte, die jich in Die
Reformation „hineingejungen“ und fie „von unten her‘ errungen
haben. Uebrigens ging 1543 der llebermuth des Sieges in der
Faſtnacht jo weit, daß der Biſchof Valentin beim Nürnberger
Neichstag gegen die Hildesheimer Bürgerjchaft Bejchwerde führte
über allerlei „ungejchiete Fröhlichkeit, unchriftliche, gottloje und
Hildesheimer Kunit. 77
gottesläſterige Faßnachtsſpiel und Mummerien“, daß ſie z. B.
„einen Biſchof ausgemacht, denſelben zum Stadtthor mit
Ruthen und Geißeln ausgehauen,“ am Aſchermittwoch gar
„einen jungen Buben für einen Bapſt mit einer dreifachen Kronen
in einer Alben und Kappen und ſeiner Zugehorungen, mit Händ—
ſchuh, gülden Ringen uf einer behängten Totenbahr ausgemacht“
hätten. „Der Rat wußte ſich mit Geſchick und Wit zu vertheidigen.*)
Wie treu die Stadt zur evangeliichen Sache hielt, das jollte
fie unter unfäglichen Leiden im Dreißigjährigen Ktriege erproben.
Als 1633 der fatjerliche Befehlshaber mitten in der jchweren Be-
lagerung der Stadt, falls jie für fatjerliche Majeität und den
Kurfürſten (von Köln, der auch Bijchof von Hildesheim war) die
Waffen ergreifen wollte, Privilegien verjprach, „daß ihr feine in
Niederjachjen gleichen“ jollte, wies das die geplagte und erjchöpfte
Bürgerjchaft doch entrüjtet ab. Die Drangjale machten fie nicht
irre, Hildesheim blieb lutheriſch. Dennoch hielt ſich der Klerus
noch durd) Jahrhunderte in der alten Zahl. Im vorigen Jahrhundert
waren es noch 171 Ffatholijche Stlerifer (am Dom allein 88). Auch
mit der Säfularijation it das Bisthum im Neformationszeitalter
durch Nüdhalt an Bayern verjchont geblieben, es überjtand auc)
die Näuberzüge des „tollen Ehrijtian“ von Braunjchweig-Yüneburg,
der 1622 mit den zuchtlojeiten aller Schaaren über die Stifter
berfiel, als „Gott's Freund und der Pfaffen Feind.“ Erſt 1803
bei der großen Säfularijation iſt die alte fait taufendjährige Stifts-
berrlichfeit eingegangen.
Nicht untergegangen jind die Nachwirfungen jener eriten
großen Zeit, des goldnen Jeitalters der Hildesheimer Kunſt.
Nicht untergehen joll das Gedächtniß der Zeit, zu welcher Die
Zacjen, nachdem jie ſich einmal dem milden „Seerfönig des
Himmels“ ergeben hatten, die Träger der deutjchschriftlichen Kultur
waren. Nicht untergehen joll vor Allem das Andenfen an den
eriten großen ſächſiſchen Künjtler, den großen Bijchof, der jeiner
) An ältere Faitnahtömummereien erinnert das „Scauteufelfreuz” an einem
Haufe des alten Marktes; dort ift im 15. Jahrhundert einer jener sornehmen
Stadtjunfer erichlagen worden, die das Recht hatten, auf Faſtnacht vermummt
durch die Straßen zu ziehen. Bon diefem Patrizierbrauche erzählt auch Hen—
nig Brandis’, des Bürgermeijters, ausführliches Tagebuch: er durfte auch
„ho duvel“ fein und berichtet eingehend von feiner und der Gefellen „kledinge:
in Gram unde rot, de larv of gram unde rot, darup gebunden ein klein
vilthot (Filzhut) mit dren ftrusvedderen (Strausfedern), al gram unde rot, de
middelfte wit vorfulvert, (weiß verfilbert) umme den bot einen brunen fiden»
ſleiger (Seidenſchleier) von einer halven elen.“
78 Hildesheimer Kunft.
Stadt für alle Zeiten jeinen Geiſt eingehaucht hat. Als ich hörte,
day die Stadtverwaltung mit großer Treue, treuer als Nürnberg,
an den alten Kunjtdenfmälern hängt — die drei berühmten Häuier
am Markte jind zur Sicherheit von ihr angefauft worden*) —,
als ich in meinem bejcheidenen Gajthausjtübchen die ganz romaniſch
ornamentirten „senjtervorjeger jah, als ich dem Gefpräch der
Stammgäjte zuhörte, die über einen Neubau fich beifällig äußerten
und nur das nicht billigten, daß man an den Fenſtern feinen
„Stil“ jah, — da war es mir, als wehte die große Vergangen-
heit herüber aus der Zeit Bernwards, als hätte ich „jeines Geiites
einen Hauch verſpürt.“ Und jo jtimmte ich an meinem Theile
dankbar ein in die alte Mahnung, die an der Weftapfis von
St. Michael eingemeißelt it: Venite, concives nostri, Deum
adorate, vestrique praesulis Bernwardi mementote!
*) Möchte auch die preußiiche Regierung bei ihrer löblichen Fürſorge bleiben,
der der Geheimrat Jordan 1898 auf dem Feſtmahle Ausdrud gab: alle Mi:
nifter wären, wenn Forderungen für Hildesheim vorlagen, einig in der Ueber:
zeugung geweſen: „Hildesheim geht vor.“
Der Majjenvertrieb der Volksliteratur.
Bon
Tony Kellen.
Es find nicht immer die beiten Bücher, die das Volk lieſt und
die ihm am leichtejten zugänglich gemacht werden. Wenn man von
der religiöjen Lektüre abjieht, jo will das Volk etwas Packendes,
Intereſſantes, etwas was einen jtarfen äußeren Reiz hat. Diejen
Reiz aber haben Spekulanten, denen es nicht um Bolfsbildung,
jondern nur um ein Gejchäft zu thun tt, zum Ueberreiz gejteigert.
Statt des Interejjanten wird dem Volk Senjationelles und Pikantes
dargeboten. Der Jugend bietet man Näuber- und Indianer—
gejchichten, den Erwachjenen aber ebenjo werthloje und meijt jittlich
viel jchlimmere Kolportage-Romane, die in Millionen Heften ver:
breitet werden.
Man Hagt heutzutage jo viel über die Bücherfrijis. Kein
Wunder, denn theure Bücher fauft das deutjche Publikum nicht.
Ein gutes Buch findet oft faum 1000 oder 2000 Abnehmer; gehts
darüber hinaus, jo iſt es jchon ein Erfolg. Und in der Stolportage-
Yiteratur wird die jchlechtefte Waare in einer Anzahl von 50000
bi8 100000, ja 200000 und mehr aufgelegt. Dies it um jo auf:
tälliger, als diejelben Leute, die dieje Literatur kaufen, vielleicht nie
in ihrem Leben ein gutes Buch im Preiſe von einigen Marf aus
eigenem Antrieb erwerben. Bon den Stolporteuren aber lajjen fie jich
in wöchentlichen fleinen Raten von 10 oder 20 Pfennig 10, 12
bi8 18 Mark aus der Tajche loden.
Ich weiß allerdings recht wohl, daß auch andere Bücher zu—
weilen einen recht großen Abjat finden, allein die literarijch werth:
80 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur.
vollen Bücher dringen doch nicht in demjelben Maße ins Volk, wie
jolche Kolportage-Romane. Werfen wir einen Blid auf die zug:
fräftigen Bücher, jo finden wir, daß große buchhändlerijche Er:
folge in Deutjchland verhältnigmäßig jelten jind.
Die hHöchjten Auflagen in Deutjchland haben Bibeln, Fibeln
und — Stochbücher erreicht. Die Bibel war von jeher ein abjat-
fähiges Buch in protejtantijchen Gegenden. Der Bibeldruder Hans
Lufft in Wittenberg (7 1584) lieferte vom Jahre 1534, in welchem
der erſte volljtändige Bibeldruf von ihm in Arbeit genommen
wurde, bis zum Jahre 1574 gegen 100000 Bibeln. In der
v. Ganjteinjchen Bibel-Anjtalt zu Halle erjchien 1886 eine Bibel:
Ausgabe in 1000. Auflage. Die erite 1785 erjchienene Auflage
war 8000 Exemplare jtarf und war in drei Jahren vergriffen; im Sabre
1844 waren bereits über 3 Millionen diejer Oftav-Ausgabe gedrudt.
Ein anderes Werf, das 1883 in der 1000. Auflage erjchien, ift Die
von Bädeder in Eſſen verlegte Häjterjche Fibel, deren 1. Auflage
von 1853 Datirt. Daß auch Kochbücher eine große Verbreitung
finden, tjt begreiflich.
Aber wie jteht es mit den literarischen Werfen? Welch un:
geheure Zahl Bände von Schillers und Goethes Werfen in den
verjchiedeniten Ausgaben verbreitet wurden, entzieht ſich der Be—
rechnung. Man fann jich aber einigermaßen einen Begriff davon
machen, wenn man bedenkt, daß noch immer neue Auflagen und
Ausgaben veranitaltet werden und daß einzelne derjelben einen
ganz folofjalen Abjat finden. Auch ausländijche Klaſſiker werden
jehr viel in Deutjchland gekauft. Ein Beiſpiel, welch rajchen Abſatz
eine billige, in Bezug auf Tert und Ausjtattung gut bejorgte Aus-
gabe finden fann, hat die Deutjche Verlagsanjtalt in Stuttgart
geliefert, indem jie auf Veranlaſſung der Deutjchen Shakeſpeare—
Sejellichaft eine billige Ausgabe von Shafejpeares Dramen (leber-
jegung von Schlegel und Tied) in einem Bande (gutes Papier,
jchöner, wenn auch fleiner Drud, jolider Einband) zu 3 Marf ver:
anjtaltete. Welchen Anklang dieje Ausgabe fand, beweijt der Um—
itand, daß in 1'/s Jahren 10 Nuflagen zu je 2000 Eremplaren
abgejegt wurden.
Es giebt auch einige Gedichtwerfe, die in neuejter Zeit 50 bis
100 Auflagen erlebt haben, allein das jind jeltene Ausnahmen.
Das eigentliche Volk left jolche Bücher ja doch nicht. Die hoben
Auflagen erflären ſich dadurd, daß die höchiten Kreiſe und der
Mitteljtand jich die Bücher verjchafft haben. Schon eher dringen
Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur. 81
Bücher praftifchen Inhalts in das Volk. Ich will nur ein Beiſpiel
erwähnen: die Werfe des großen Waſſerapoſtels Kneipp erzielten
einen außerordentlich” großen Abjag, troß ihres verhältnigmäßig
hoben Preijes.
Dagegen giebt es literariſche Werke, die großes Aufjehen
erregen und doch wenig gefauft werden. Ueber Niegjche wollte in
neuejter Zeit Jeder etwas jchreiben; man fonnte jeinen Namen in
allen Tageszeitungen lejen, aber wie hoc) mag wohl die Zahl der
von Nietjches Werfen abgejegten Eremplare jein? Dagegen ver:
mehrten jich unerwartet rajch die Auflagen von „Rembrandt als
Erzieher“, objchon jelten ein Werf jo viel Angriffe und Gejpötte
erdulden mußte wie diejes Buch. Allerdings ermöglichte der billige
Preis (2 Mark für einen Großoftavband von 356 Seiten) einen
rajchen Abjat.
Sm Allgemeinen fann man jagen, daß in Deutjchland — von
jeltenen Ausnahmefällen abgejehen — ein theures Buch wenig
gefauft wird, mag es noch jo werthvoll jein und noch jo viel Auf:
jehen erregen. Umgekehrt hätte. man aber Unrecht, zu glauben,
der billige Preis genüge, um den Abjag eines Buches herbeizuführen.
Es giebt aber viele Fälle, aus denen hervorgeht, daß minder gute
und theure Bücher verfauft werden, während werthvolle und billige
Bücher vernachläjjigt werden. Oft iſt die Austattung dabei von
Wichtigkeit, und zwar jpielt dabei wieder weniger die Gediegenheit
der Ausjtattung eine Rolle, als vielmehr eine gewilje Originalität,
eine neue Idee u. dgl. Auch die Verlagsfirma jpielt eine große Nolle.
Ein Buch, das bei dem einen Verleger unbeachtet bleibt, würde bei
einem andern Verleger ein jtarf begehrter Artifel werden. Nicht immer
it es aljo der innere Werth eines Buches, der ihm zum buchhändlerijchen
Erfolg verhilft; oft jind es jogar AZufälligfeiten, die diejen herbei-
führen. Literarijcher und buchhändlerischer Erfolg gehen nicht immer
Hand in Hand; oft find beide ganz unabhängig von einander.
Einen eigenartigen Zweig des Buchhandels bildet der Ver:
trieb von jogenannten Kolportages Werfen, unter denen Die
Romane bejonders zahlreich vertreten find. Nur ein Theil von
Sortiments-Buchhandlungen befaßt fich mit der Kolportage, indem
lie entweder direft an ihre Kunden die Lieferungen von Romanen
und anderen Werfen verjenden oder durch Stolporteure diejelben ab—
fegen lafjen. Die meijten Buchhändler aber bejchäftigen fich nicht
mit SKolportage-Literatur, weil fie es unter ihrer Würde halten,
derartige Produfte zu vertreiben.
Breußifche Zahrbüher. Bd. XCVIIL Heft 1. 6
82 Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur,
Man hätte aber Unrecht, die Kolportage unbeachtet zu
lafjen oder fie an und für fich zu bekämpfen, denn eine jehr große
Zahl von Büchern und Heften der beiten Literatur wird heut zu
Tage durch den Ktolporteur vertrieben. Man mu nämlich zwijchen
Ktolportage-Romanen und bejjeren Lieferungswerfen, jowie teuern
Büchern unterjcheiden, die ebenfalls durch Reiſende vertrieben
werden. Sogar der reiche und gebildete Mann it in Deutichland
nur jelten eifriger Bücherfäufer, und zumal in den Provinzen, wo
das geijtige Leben nicht jo rege it, wie in den Großſtädten, tt
auch für ihn die Anregung, die der Kolporteur ihm durch das
Vorlegen der Neuheiten von Büchern und Zeitjchriften giebt,
willfommen und jogar geradezu nothwendig. Im noch weit
höherem Maße jind die breiten Schichten des Volkes auf die
Stolportage für den Bezug ihres Lejejtoffs angewiejen. Iſt es
doc) eine Thatjache, daß zwei drittel der gefammten buchhändlerijchen
Produktion auf dem Wege der Kolportage vertrieben wird. Ken
Einfichtiger wird behaupten, day all dieſe Bücher das Licht der
Bordertreppen zu jcheuen hätten.
Bu der Zeit, als die Kolportage ſich auszubreiten begann,
machte die Schundliteratur etwa 90 Prozent des Umſatzes der
„iegenden Buchhändler“ aus; jet befaſſen dieje jich aber in ſtets
jteigendem Maße auch mit dem Bertriebe anderer Werfe. Dem
Netjebuchhandel Liegt wejentlich der Bertrieb der größeren
fünftlerifchen, technijchen und populärswijienjchaftlichen Werke ob,
deren Interejienten aufgejucht und aufgemuntert jein wollen. Nur
durch die freie Bewegung, die jeit Einführung der Gewerbeordnung
dem Buchhandel gejtattet it, iſt es möglich geworden, jolde
monumentalen Werfe, wie Brodhaus und Meyers Konverjations:
lerifon, zu jchaffen, die nur durch große Auflagen im Stande find,
die Koſten für die Sorafalt des Inhaltes und der Ausjtattung
hereinzubringen, und jolche Auflagen find eben nur zu erzielen
durch jenen intenjiven WBertrieb, den der Stolportage- und der
Neifebuchhandel gejchaffen haben. So wurde die vorige Auflage
von Meyers tonverjationslerifon hauptſächlich durch den Reiſebuch—
handel in 116000 Exemplaren verbreitet. Dajjelbe ijt bei anderen
encyklopädijchen Werfen der Tall. Neben diefen und ähnlichen
Werfen, 3. B. Bud der Erfindungen u. j. w., find es in#
befondere religiöje Werfe, Prachtbibeln, technijche Werfe u. j. w.,
die ſowohl in die Ateliers der Architekten, die Büreaus der
Ingenieure als auch in die Werkjtätte des Handwerker wandern,
Der Maffenvertrieb der Volksliteratur. 83
um ihnen Aufklärung und Fortbildung in ihrem Gejchäfte zu
bieten. Die PVerlagshandlung Belhagen und Klaſing in Bielefeld
theilt mit, daß von ihren Verlagsartifeln: „Daheim“; Andrees
Handatlas; Stades deutjche Gejchichte; Jäger, Weltgejchichte in
vier Bänden; deutjcher Reichsbote; Kalender für Stadt und Land;
Rogge, Kaijerbüchlein; Rommel, Yutherbüchlein, welche zum Theil
in ungeheuer großen Auflagen erjchtenen find, zwei drittel lediglich
durch den Volks- und Reiſebuchhandel Abjat gefunden haben.
Was jpeziell den Kolportage-Roman betrifft, der für uns
ein bejonderes Interejje bietet, jo it dies allerdings eine Klaſſe
von Literaturerzeugnijjen, die fich eines üblen Nufes erfreuen. Sie
werden auf Hintertreppen an Dienjtboten abgejett, die Lieferung
von einem Drudbogen zu zehn Pfennig. Durch Abnahme der eriten
Lieferung verpflichtet jich der Abnehmer zum Ankauf des ganzen Werfes
und ein jolches Werf umfaßt nicht jelten 100 und mehr Lieferungen.
Einer Köchin, die fich hat verleiten lajjen, einen Bogen eines ſolchen
Iserfes anzunehmen, wird daher eine Ausgabe verurjacht, die einen
verhältnigmäßig hohen Theil ihres Lohnes ausmacht.
Welches ijt der Inhalt diefer Romane? „Die meilten Kol—
portage-Romane, jagt Dr. Fränkel, haben die Thaten großer
Verbrecher und Verbrecherinnen zum Gegenjtand und deren Ber:
herrlichung zur Aufgabe. Der Held it in der Kegel durch die
Schuld der „Gejellichaft”, insbejondere durch ungerechte Vorgeſetzte,
philiftröje Arbeitgeber, bejchränfte Eltern in die Bahn des Ver:
brechens getrieben worden, und bethätigt nun feine von Hauje aus
groß angelegte Natur durch die meisterhafte Vorbereitung und
ebenjo kühne wie geniale Ausführung jeiner Einbrüche, Bank—
beraubungen und ähnlichen Leiſtungen. Dabei handelt es jic)
eigentlich um eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit, denn der
edle Räuber nimmt natürlich den Neichen und giebt den Armen,
er iſt außerordentlich wohlthätg. Nach diefem Schema find die
fraglichen Erzählungen mit wenigen Ausnahmen gearbeitet: Der
$tolportage-Roman erwedt Mitgefühl und Bewunderung für den
Verbrecher und wird jo zur Schule des Verbrechens. Und diejes
Gift hat, Dank der rührigen Thätigfeit der Kolporteure, eine uns
geheure, täglich wachjende Ausbreitung erlangt. In den Hütten
der Armut, in den Arbeiterwohnungen, in den Familien der
fleinen Handwerfer, überall finden wir die bunten Hefte, deren
äußere Erjcheinung für den gebildeten Gejchmad ebenjo wider:
wärtig ijt wie der Inhalt.“
6*
84 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur.
Der „Scharfrichter von Berlin“ enthält auf den erjten 240
Seiten nicht weniger als 12 ausführlich gejchilderte Schand- und
GSreuelthaten, darunter eine unrechtmäßige Hinrichtung, einen
Kinderraub, eine Orgie in der Banditenfneipe, einen Vatermord,
einen Ehebruch, einen verjuchten Giftmord, eine Leichenberaubung,
eine Revolte, das Treiben einer Faljchmünzerbande u. j. w. Was
in den Romanen von Söndermann und Viktor von Falk, der
beiden „Lieblingsjchriftiteller des deutjchen Volkes“ (!) geboten
wird, erjieht man 3. B. aus folgenden Kapitelüberjchriften:
Der Mord auf der Yiebesinjel; Die Beichte der Dirne; Die Piraten
der Spree; Gift und Dynamit; Hinter der Kirhhofsmauer; Die
Hauernfänger von Berlin; m Zellengefängnig zu Moabit; Die
Geliebte des Prinzen; Die ſchöne Nihiliftin; Das Bombenattentat;
” Die jhönen Frauen des Harems; Das Verbrechen im Kerker; Der
Hodjtapler; Galgenvögel; Die unheimliche Kiſte; Auf Piftolen u. ſ. m.
Ein Berleger fündigte eine neue Ausgabe des „Schinder:
hannes“ mit folgenden, jchier unglaublich dünkenden Worten an:
„As eine Fräftige, feurige Jünglingsgeftalt, ringend und Fämpfend
mit feinem tragischen (1) Geſchick, tritt uns Schinderhannes, Deutſch
lands größter Räuberhauptmann, hier entgegen. Wenn aud) die
Leidenſchaft diefen wild und zügellos, in trüber, trauriger Zeit auf:
gewachjenen Sohn der Rheinlande auf die Bahn des Verbrechens
getrieben, jo war es auch wiederum die ihm ganz beherrjchende
Macht der Liebe zu Julia, dem jungen, unjchuldigen Mädchen, die
feinem wildbewegten Räuberleben ein jo eigenthümliches Gepräge
verlieh. Immer mieder verſuchte es Julia, Die durch ihre impo:
nirende Schönheit, ſowie durch ihr tiefes fittenreined Gemüth einen
unbezwinglichen, veredelnden Zauber auf den fühnen Banditenchef
ausübte, den geliebten Helden (!) dem Verderben zu entreißen; aber
das Verhängnig (!) erfaßte nur zu bald wieder den Wanfelmüthigen,
um ihn auf diejenige Bahn zurüdzufchleudern, die ihn ins Verderben
führen mußte und jchlieglih auch ouf das — Blutgerüft bradte
RENT
Dieſe traurige Literatur erfreut jich fortgejegt eines jtarfen
Abſatzes, weshalb immer neue Kolportage-Romane erjcheinen. Die
Katajtrophe von Schloß Berg, das Drama von Meyerling jind
jhon in Dutenden von Ktolportage-Romanen behandelt worden,
gerade wie der Hauptmann Dreyfus und fein „todesmuthiger Ver:
theidiger* Zola, der „Millionenräuber Grünenthal“ in neuejter
Zeit in Zehnpfennigheften ausgejchlachtet wurden. Der Roman
auf den Mädchenmörder Schenk fonnte man 3. B. in zahllojen
Häufern Bayerns und Dejterreich$ vorfinden. Ueber den König
von Bayern erjchienen 13, auf den Tod des Kronprinzen Rudoli
Der Mafjenvertrieb der Boltsliteratur. 85
entfielen 22 jolcher Machwerfe, und über Johann Orth wurden
etwa 5 jenjationelle Romane veröffentlicht, bevor man auch nur
etwas Sicheres über die Schidjale des unglüdlichen Erzherzogs
erfahren haben fonnte. Die Ermordung der Kaiſerin von Defterreich
ıjt natürlich) auch jchon in Stolportageromanen bearbeitet worden.
Vom „Scharfrichter von Berlin“ wurden 250 Taujend
Exemplare abgejegt, die „Zotenfelder in Sibirien“ hatten jchon
150 Tauſend Abnehmer gefunden, bevor fie zu Ende geführt waren.
E3 liegt hier eine wenn auch nicht planmäßige, jo Doch
wenigitens gejchäftsmäßige Vergiftung der WVolfsjeele vor. Mit
Recht jagt Müller-Guttenbrunn in jeiner fleinen Schrift über
„Bolfslektüre*, es jei gerade als ein erjchwerender Umstand zu er—
achten, daß die Leſer dieſer Nomane gerade den tiefiten Schichten
der Bevölkerung angehören.
Es giebt faum Worte, die jtarf genug find, die Verderblichkeit
jolcher Machwerfe zu brandmarfen. Die Berfafjer find meijt Leute
ohne Stenntnifje, ohne Talent und ohne fittlichen Halt, deren Be—
gabung ſich darauf bejchränft, Szenen zu jchildern, bei denen den
Lejer eine Gänjehaut überläuft, und eine „Spannung“ hervor—
zurufen, wie jich der von ihnen gejchürzte Anoten löjen wird. Für
den Käufer jteht dem Opfer, das er durch Zahlung des Preijes
bringt, keinerlei geiltiger Gewinn gegenüber. Die Bejchäftigung
mit jolchen Büchern führt vielmehr zu einer Verödung des Kopfes
und des Herzend. Der Kampf gegen dieſe Kolportageromane iſt
daher ein verdienjtliches Werf.
Diejenigen, die diefen Kampf zuerjt aufnahmen, haben nun
irrigerweije geglaubt, daß die Gejchäftstorm, in der dieje Preß—
erzeugnifje vertrieben werden, das jchädliche Element jet; fie haben
das Haufieren mit Büchern verbieten wollen. Dadurch würden
aber auch die guten Erzeugnifje des Buchhandels getroffen, und
die Verleger von Slolportage » Romanen würden jchließlich doc)
noch neue Mittel finden, ihre Waare an den Mann zu bringen.
Das einzige Mittel, die jchlechte Kolportage-Literatur zu bekämpfen,
beiteht darin, auf demjelben Wege gute Bücher unter das Volk zu
bringen, und zwar jolche Werfe, die auch den gewöhnlichen Mann
und das bejcheidenjte Dienjtmädchen zu interejjieren vermögen.
Leider herrjcht ein gewijjes Borurtheil gegen alle Kolportage—
Yıteratur. Man jieht Diejelben als identisch mit Schauer: oder
Hintertreppen-Romanen an. Nun ijt es ja wahr, daß die Mehr:
zahl dieſer Werke in literarifcher Hinjicht jehr niedrig ftehen und
86 Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur.
eigens nur für eine gewilje Stategorie von Lejern gejchrieben wurden,
die eben feine hohen Anjprüche an den Inhalt jtellen. Aber das will
doch nicht jagen, daß ein im Lieferungen erjcheinender und von
Kolportage-Buchhändlern vertriebener Roman jchon deshalb werthlos
jein muß. Ic erinnere nur daran, daß 3.8. manche bejjere Werte
franzöfifcher Schriftiteller einige Iahre nach ihrem Erjcheinen in
Buchform aud) in illuftrirten Lieferungen zu 10 Gentimes (8 Pfennig)
ausgegeben wurden. Und was jollte einen deutjchen Schriftiteller, der
einen längeren werthvollen Roman in volfsthümlicher Faſſung ge
jchrieben hat, hindern, ihn auch in Form von 10: Pfennig = Heften
den unteren Streifen des Volkes zugänglich zu machen?
Diejes vorausgejegt, wollen wir einiges über die Herjtellung
und den Vertrieb von Kolportage-Romanen bemerfen. Diejelben
müſſen volfsthümlich gejchrieben jein und die Yejer von einem
Heft zum andern in Spannung halten. Es ijt ja wahr, daß bier:
durch der Autor leicht in Gefahr geräth, einen Sfandalroman zu
jchreiben, allein wer ernitlich gewillt wäre, die literarijche und die
jittlich-fünftlerifche Seite nicht außer Acht zu lajien, könnte auch
dieje Klippe umſchiffen. Die Verleger halten natürlich darauf,
daß die Gejchichte möglichit packend jei, und fie jegen dieſes aud)
als Bedingung, wenn jie einen Schriftiteller beauftragen,
ihnen einen Kolportage-Roman zu Lliefern.*)
Der Kolportage-Buchhandel im Allgemeinen verdankt nicht
etwa dem zunftmäßigen alten Buchhandel jein Entjtehen, jondern
er hat fich erjt in der neuejten Zeit entwidelt, nachdem die Geſetz—
gebung nicht mehr hemmend auf den Druck und Vertrieb von
Büchern und Schriften einwirfte. Die Preſſe wurde in Deutjchland
ja erit 1848 frei, und erit nach jener jturmbewegten Zeit wurde
*) In dem Nachlaß eines Verfaflerd von Kolportage-Romanen mwurde u. a.
folgender Brief eines Verlegerd vorgefunden: „Wir haben jett ſchon das 4.
Heft fertig und noch feine fchaurige, reizende, kraftvolle Handlung, Wie
lange noch ſoll es jo weiter gehen? Wann mwird endlih einmal ein Mord
oder eine fonftige pilante Handlung die Erzählung Ipannend machen? Bir
bedauern fait, Ihnen neuerdings unfer Vertrauen gefchentt au haben. Ihre
breite, behagliche Schilderung des Familienlebens paßt für den Geſchmad
unferer Leſer niht. Auf diefe Art befommen wir nicht für das 5. Heft,
das wir bis Mittwoch in Händen zu haben hoffen, eine merfliche Beſſerung
in diefer Hinfibt Könnten Sie nicht den alten Zandpfarrer zu einem In—⸗
triguanten ftempeln? Um fo weniger das nach der Einleitung zu ermarten
wäre, um fo mehr würde der Roman gewinnen. Ueberhaupt iſt es mötia,
die fchlechten Charaktere zu häufen. Kür das 7. Heft, wie Sie wiffen, die
fritiihe Nummer, ift für den Schluß die ausführliche, genaue Schilderung
einer Mord» oder Greueligene nötig, die aber erſt in Nr. 8 fortgefegt und in
Nr. 9 zu Ende geführt wird.”
Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 87
in Deutjchland geitattet, Drudjchriften auch außerhalb des Ge:
ichäftslofals zu verfaufen. Die Kolportage-Buchhändler jind inſo—
fern im Vortheil gegenüber andern Yuchhändlern, als jie alle
Gejchäfte gegen Kaſſe abjchliegen, was befanntlich bei den Sorti—
mentern bei weitem nicht immer der Fall iſt.
Was den Umfang eines Stolportage-Nomans betrifft, jo ums
faßt derjelbe gewöhnlich 100 bis 150, zuweilen auch bis 200 und
jogar 250 Lieferungen von je einem Bogen. Die „Papierzeitung“
hat einmal folgende Berechnung angejtellt:
„100, 130 und 150 Hefte find in der Regel die Ziffer, welche als
Maßſtab für den geichäftlichen Erfolg angejehen werden, 130 und
150 Hefte zeigen ſchon einen fiheren Romantreffer an. Einer diefer
Romane umfaßt ſogar 200 Hefte, es ift der bei Werner Große in
Berlin erjchienene Roman „Kornblume und Veilchen“. nterefjant
dürfte es fein, ungefähr feitzuftelien, welches Kapital diefe Romane
in 10-Pfennigheften darjtellen. Man rechnet in den einjchlägigen
Gejchäftskreifen in der Negel auf den Roman etwa 25000 Mark
Koften für Herftelung und Vertrieb. Die Ziffer darf nicht über:
rajchen, denn das erjte Heft wird in einer Auflage von 100000
und mehr Eremplaren gedrudt, die fich aber von Heft zu Heft in
annähernd gleihmäßigem Werhältnifje bis zu 20000 oder 10000,
je na dem Anklange, den der Roman findet, herabmindert. Heft 1
bis 5 werden umjonft an die Kolportage-Handlungen abgegeben. Bom
6. Hefte an bringt jedes verkaufte Heft dem Verleger 5 Pf. Eine
Auflage von 5000 Eremplaren entipricht alſo einem Hefterträgnifje
von 250 Marf, bei einem Romanumfange von 100 Heften einem
Gejammterträgnijje von 25000 Marf. Eine Auflage von 5000 Exem—
plaren iſt aljo allein nothwendig zur Koſtendeckung. Was über
5000 Eremplare abgejegt wird, bildet den Reingewinn“.
Die „Fachzeitung für den SKolportage- Buchhandel“ erklärte
aber, dieſe Ziffern jeien viel zu niedrig gegriffen. Site jagte, jene
Berechnung jet vor 10 bis 20 Jahren zutreffend gewefen, als 3.8.
die fleineren Kolportage-Verleger in der ſächſiſchen Oberlaufig gewiſſe
reich bevölferte Fabrik und Indujtriebezirke ausschließlich verjorgten
und „abgrajten”. Mit 25000 Mark könne aber ein für den Berliner
und den übrigen deutjchen Millionenmarft arbeitender Großverleger
nicht mehr rechnen. Das Fachblatt giebt jodann eine eingehende
Aufftellung aller Einnahmen und Ausgaben, die durch die Heraus:
gabe eines bedeutenden Ktolportage-Romans entjtehen. Sc begnüge
mich, das Wichtigjte daraus hervorzuheben.
Die eriten Hefte bilden das „Sammelmaterial“ und von diejen
hängt größtentheil® der Erfolg des Werkes ab. Von einem in
Berlin erjchienenen Roman, der 150 Hefte umfaßte, wurden vom
88 Der Maffenvertrieb der Polksliteratur.
1. Heft 2500000 Stüd gedrudt, vom 2. Heft 215000 und von
da an ging die Auflage abwärts bis zum 5., das noch in
175000 Eremplaren ausgegeben wurde. Die folgenden Seite
wurden nur mehr an die Abonnenten abgegeben, jedoch nahm
die Zahl Ddiejer immer mehr ab. Dies ijt eine Fonjtante Er:
jcheinung; aus verjchiedenen Gründen wird eine mehr oder weniger
große Zahl Abnehmer untreu. Interefjant jind folgende Angaben
über den Abjat der bezahlten Hefte. Es wurden nämlich gedrudt:
Bon Heft 6 bis Heft 8 zwiſchen 75 und 70000.
„nn 9u un 15 0.70 „ 60000.
[2 r 16 [23 "„ 28 [23 60 [23 50000,
“r Wu 4 u 50 „ 40000.
PP EERT ⏑ 40 ,. 30000.
en a. er: N 30 „ 20000,
u: EL a a 46 20 , 18000.
— 12180 18, 16000.
er BE ur Sue. 5; 16 ,„ 15000.
nr ee Re A: 15 „ 14000.
„ 147 1H0. 14 ,„ 13000,
Bon Heft 6 bis Heft 150 wurden aljo an 5 Millionen Stüd
abgejegt, objchon fait ?/s der Abnehmer vor Beendigung des
Werkes „abgejprungen“ waren. Dennoch wurde der fraglice
Noman als ein jogenannter „Durchichläger“ bezeichnet.
Der Verleger überläßt die 10: Pfennig Hefte gewöhnlich gegen
50%, Rabatt, manchmal jogar zu 4'/s Pfennig, jtatt zu 5 Pfennig.
Jene 5 Millionen bezahlter Hefte brachten aljo ca. 225000 ME. ein.
Was die Ausgaben betrifft, jo betrugen Diejelben nahezu
150000 Mk., nämlich für:
12750000 Drudbogen (nebjt 1% Zuſchuß) . - 30906 ME.
8500000 Umfchläge (nebſt 19/0 Zuſchuß; 1 700000
Bogen) . . i 13600 „
8500000 Illuſtrationen (850.000 Bogen) se OBEN: 3;
12750000 Drude Tertbogen. . . 2.2 EEE
8500000 Umjchlagdrude. . » 2» 2 202020. ..8500 „
8500000 Illuſtrationen. 883008,
8500000 Hefte zu ——— 1700⏑
225 Bogen Satz. . . Er en an u. HUB
225 „ Stereotypie . . — 2700 „
225 „ Schriftiteller- Honorar (a 30 Mt.) . +. 6750 .
150 Illuſtrationen NN) — . 1500
150 Metungen. . -» . ee we Ben WERD
Emballagggge28300
Geſchäfts-Unkoſtenn.. 220000 „
Summa: 143431 WM.
Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 89
Der Gewinn, den jener Roman dem Verleger einbrachte, fann
aljo auf 80 bis 100000 ME. berechnet werden. Diejem Gewinn
gegenüber it das Honorar, das der Autor erhielt (6750 ME.), ver—
bältnigmäßig jehr gering.*)
Eine Thatjache jpringt beim Anblid der oben erwähnten Auf:
lage der verjchtedenen Hefte bejonders in die Augen: Das ijt die
Abnahme der Käufer. Das Werf hat nämlich feinen Werth für
die, welche es nicht ganz bejigen, und deshalb werden bedeutende
Summen auf dieje Weije nutzlos ausgegeben. Natürlich find hieran
nur die Käufer jelbjt jchuld. Es find eben feine eigentlichen Bücher:
freunde, die jene Stolportage-Romane faufen, jondern gewöhnlid)
Arbeiter und untere Beamten, die nicht einmal 50 Pfennig oder
1 Mark für ein ordentliches Buch ausgeben mögen. Sie laſſen
jich hauptjächlich durch das grojchenweije Bezahlen verleiten. Dieje
Kategorie von Xejern iſt dieſelbe in allen Yändern.
In Fankreich jind die Kolportage-Romane gewöhnlich jchon
vorher im Feuilleton des „Petit Journal“ oder des „Petit Parisien“
erjchienen oder wenigjtens im Genre der Feuilleton-Literatur diejer
Sousblätter gejchrieben. Jede Lieferung fojtet 10 Centimes; Die:
jelbe umfaßt in den meijten Fällen nur Y/g Bogen (8 Seiten Oftav),
wovon die erite Seite gewöhnlich durch eine Abbildung in Anjpruch
genommen wird, jo daß nur mehr 7 Seiten Text bleiben. In
den meisten Papier: und Heitungshandlungen erhält man die erjte
Lieferung gratis oder für 5 Gentimes die zwei erjten Lieferungen.
Man liejt dieje, it gejpannt, wie die Gejchichte ausgehen wird,
denn jie jcheint nach dem Anfang zu urtheilen, garnicht lang werden
zu wollen, man fauft deshalb auch die folgenden Lieferungen, —
jie fojten ja nur zwei Sous, aber die Gejchichte wird immer ver:
widelter und padender, und endlich hat man hundert oder zwei:
hundert Lieferungen gefauft, und da merft man erit, daß es doc)
eine theure Gejchichte geworden iſt. Solche Lieferungswerfe find
offenbar verhältnismäßig viel theurer als andere Werfe (die Illu:
jtrationen fünnen dabei nicht in Betracht gezogen werden, denn jie
jind gewöhnlich primitiv ausgeführt und haben feinen Werth.)
Es iſt nach dem Gejagten leicht begreiflich, daß mit Kolportage—
*), Allerdings ſetzt der Verleger bei jenem Unternehmen ein bedeutendes Kapital
aufs Spiel, allein diefer Umftand kann doch jenes Mißverhältniß nicht recht-
fertigen. Und deshalb wäre es billig, daß der Autor außer einem feiten
Honorar, das mit 30 ME. per Bogen gewiß nicht zu hoch bemefjen ift, noch
Tantiemen vom Reingewinn erbielte, falls diefer eine bejtimmte Summe
überfteigt.
90 Der Mafjenvertrieh der Vollsliteratur.
Romanen viel Geld verdient werden fann. Allerdings irren ſich
die Verleger manchmal in ihren Spefulationen. Ein, ich möchte
fajt jagen zu einer gewiljen Berühmtheit gelangter, Kolportage—
Noman it „Der Scharfrichter von Berlin“. Ueber diejen ver-
Öffentlichten verjchiedene Zeitungen eine Notiz, für deren Nichtigkeit
ich allerdings nicht eintreten fann. „Der frühere Scharfrichter
Krauts, hieß es in derjelben, der jegt eine Roßſchlächterei betreibt,
lieferte jeiner Zeit das Material zu dem Stolportage-Roman „Der
Scharfrichter von Berlin“, dejjen Held er jelbit iſt. Für dieſes
Material erhielt er nach feiner eigenen Mittheilung zunächit 3000 ME.
Damals betrieben die Verleger eine kleine Buchdruderei mit Hand—
prejjen; als Krauts fie nach längerer Zeit wieder einmal bejuchte,
hatten jich die Verleger eine große Druderei mit Dampfbetrieb ein:
gerichtet. Freimütig gejtanden fie ihm, daß jie troß der erfolgten
Beichlagnahme an dem Werfe 11/, Millionen Mark verdient hätten.
Um jich nobel zu zeigen, zahlten jie Herrn Krauts noch 5000 Mk.“
Mag aud) die Summe von 1'/, Millionen etwas hoch gegriffen
jein, jo fann man doc) immerhin annehmen, daß die Verleger einen
bedeutenden Gewinn dabei berausgejchlagen haben.
Die Gejeßgebung bat das Kolportage-Unwejen in den
legten Jahren wiederholt zu befämpfen verjucht, aber ohne Erfolg.
Das Berjprechen, 3. B. bei Abnahme der 60. Lieferung einen
Spiegel, der 120. ein „Delgemälde* als „Gratis-Prämie“ drauf:
zugeben, darf nicht mehr auf dem Umschlag der Hefte ausgejprochen
werden; in Folge dejjen joll dies jet mündlich gejchehen, indem
der Stolporteur ſich in jeder Gegend als Lockvogel eine Berjon hält,
welche auf Befragen jeitens der Kunden den richtigen Empfang
der Prämien betätigt. Auch durch die Beſtimmung, daß die
Kolporteure behördlich genehmigte Verzeichniſſe der bei ihnen ver:
fäuflichen Schriften zu führen haben, iſt feine bemerfbare Ber:
bejjerung des Inhalts der lehteren herbeigeführt worden. Selbſt
wenn die betreffenden Beamten oder Selbitverwaltungsförperichaften
wirklich immer (was wohl zu bezweifeln iſt) von den durch den
Ktolporteur vorgelegten Büchern die jchlechtejten richtig herausfinden
und verbieten, jo werden dadurch die übrigen, welche man zuläßt,
noch nicht gut. Deshalb muß das Verbot der von der Behörde
für unzuläjfig befundenen Schriften jo lange mehr oder weniger
wirkungslos bleiben, als nicht für beſſeren Erjag gejorgt t.*)
*) Am 22. März d. 3. haben die Miniiter für Handel und Gewerbe und des
Innern für Preußen eine Anmeifung zur Ausführung des Titel$ III ver
Der Mafjenvertrieb der Bolßsliteratur. 91
Da die Kolportage-Literatur einen bedeutenden Einfluß auf
das Volk ausübt und zwar speziell auf jolche Kreiſe, die der
bejjeren Literatur nicht zugänglich jind, jo wäre es dringend zu
wünjcen, daß tüchtige Schriftiteller ſich dieſes Zweiges der
Itterarijchen Produktion annähmen. Es find nur zu häufig gewifjen-
(oje Spekulanten, die ſolche Kolportage-Romane fabriziren und
Dabei nicht im Geringſten dafür bejorgt find, dem Wolfe eine an—
gemejjene Lektüre zu bieten. Gewiß fann man den Arbeiterklafjen
feine piychologischen Romane in 100 oder 200 Lieferungen dar:
bieten, allein die Romane müſſen ja nicht unbedingt dieje Aus:
Dehnung haben — die große Zahl der „abjpringenden“ Käufer
jcheint jogar ein Beweis dafür zu jein, daß jene Gejchichten gewöhn:
lich zu jehr in die Yänge gezogen werden, — und jelbjt eine
Keriminalgejchichte, die man zum Vorwurf wählt, fann man ja in
Iiterarijch wertvoller Weije bearbeiten und jo geitalten, daß Die
Erzählung nicht bloß das Interejje des Volkes wedt, jondern aud)
einen moralischen Einfluß auf dafjelbe ausübt.
Vielleicht tragen dieſe Zeilen dazu bei, den einen oder andern
Schriftjteller, der bis jeßt nur verächtlich auf die Kolportage-Literatur
herabblidte, für die Mitwirkung auf diefem Gebiete, auf dem eine
Reform dringend Noth thut, zu gewinnen.
Das jicherjte Mittel, der jchlechten Literatur entgegen zu wirfen,
iſt Das, die gute Literatur zu verbreiten. Wer vom Stolporteur ein
Werk fauft, befundet damit, daß er das Bedürfnig empfindet, einen
Theil jeines jährlichen Einfommens für Lejejtoff zu verwenden.
Er nimmt den jchlechten Leſeſtoff, weil ihm diejer zunächit angeboten
wird, und er würde den bejleren nehmen, wenn er ihm ebenfo
beauem angeboten würde. Er hat nur nicht die Zeit zu juchen
Gewerbeordnung („Gewerbetrieb im Umberziehen”) erlaffen, die einfchneidend
in den Kolportagebuhhandel wirken wird. Es wird nämlich beftimmt, daß
„Werke, melde in Lieferungen erjcheinen, im Ganzen zur Kolportage erſt dann
zugelaffen find, menn das Werk vollitändig vorliegt. Sind erſt einzelne
Lieferungen veröffentlicht, jo fann die Zulaffung des ganzen Werkes ausnahms-
meije dann erfolgen, wenn nah dem Charakter des Werkes, den bei der
Herausgabe beteiligten Berjonen oder auf Grund anderer Umstände angenommen
merden darf, dab auch die jpäteren Lieferungen den Borausfegunaen in S 56
Ziffer 10 der Gewerbeordnung nicht zumiderlaufen werden. Iſt dieſe Gewähr
nicht vorhanden, fo ijt die etwaige Zulaffung auf die erfchienene oder vor»
gelegten Lieferungen au beſchränken.“
An der Hand diefer Beitimmung fann allo die Verwaltungsbehörde
(der Bezirksausſchuß, in Berlin der Bolizeipräfident) verlangen, dab ihr jede
einzelne Lieferung vor dem Vertrieb dur Kolportage vorgelegt wird. Es iſt
ibr damit eine ziemlih weitgehende Gewalt verliehen, die Verbreitung von
Schundliteratur zu verhindern. Selbitverftändlich ift es ihr aber nicht möglich,
lediglich minderwertige Werte zu verbieten.
92 Der Daffenvertrieb der Bollsliteratur.
und nicht das Talent zu wählen; er ijt angewiejen auf das, was
ihm in die Hände fommt. Und da iſt es nun die Aufgabe Derer,
denen die Bildung des Volkes am Herzen liegt, dafür. zu jorgen,
daß ihnen Gutes in die Hände fommt.
In einem Staate, in welchem man darauf hält, daß jedes
Kind lejen und jcehreiben lernt, muß auch Sorge dafür getragen
werden, daß die Erwachjenen die erlernte Kunjt üben. Und das
Bedürfniß diefer Hebung empfinden jie und haben fie von jeher
empfunden. Noc vor fünfzig Jahren genügten vielleicht die
Bolksbücher vom Fauſt und von der jchönen Magellone, jowie die
„neuen jchönen Lieder“, die auf Büttenpapier gedrudt wurden,
diefem Bedürfnifje. Heute it der Anſpruch und die Zahlungs
fähigfeit größer geworden. Es bildeten fich Vereine, die jich die
Aufgabe jtellten, gute Bücher zu jo billigem Preiſe herzujtellen,
daß man auf einen Abjat nicht bei den Taufenden, die bisher
Kunden des Buchhändlers gewejen waren, jondern bei den Hundert:
taufenden rechnen durfte, die niemals einen Buchladen betreten
hatten. Und fie juchten für ihre Erzeugnifje Abſatz durch Ver:
mittlung der Ktolporteure.
Seit 1841 find in Deutjchland zahlreiche Vereine gegründet
worden, Die jich zur Aufgabe jtellten, Bolfsbildung zu ver
breiten und Bolfsjchriften zu veröffentlichen, zuerit ın Zwidau,
dann in Magdeburg, Bremen (der auf A. Lammerd Anregung
gegründete „Nordwejtdeutjche Volksjchriftenverlag“), Weimar u. j. w.
Einen anerfennenswerthen Erfolg auf dem Gebiete der
Volksliteratur erzielte der „Verein für Mafjenverbreitung
guter Schriften“. Dieſer Verein hat nach feinen Satungen
den Zwed, „durch Herausgabe geeigneter Schriften den Deutjchen
aller Yande, namentlich den ärmeren Schichten, guten und wohl:
jeilen Xejejtoff, jowohl unterhaltender wie belehrender Art zuzu:
führen, um dadurch) auf die fittliche und getjtige Hebung des
Volkes hinzumirfen.“ Der Verein bejigt die Nechte der juriſtiſchen
Berjönlichkeit. Die Mitglieder zahlen 3 Marf und haben dafür
das Necht, die vom Verein herausgegebenen Werfe zu einem
Borzugspreije zu beziehen; bei Zahlung von mindeitens 10 Mt.
Sahresbeitrag erhalten ſie die Schriften „unentgeltlich“. Der
Berein unterhält eine Verlagsbuchhandlung in Weimar unter dem
Titel: „Schriften Bertriebsanftalt“. Der Verein wurde 1889 ge
gründet und hat in den eriten Sahren jeines Wirfend eine rege
Thätigfeit entfaltet.
Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 93
Der Berein hat in Deutjchland Zweigvereine gegründet und
auch in deutjchjprachigen Gegenden des Auslandes feiten Fuß zu
fajjen gejudht. Er hat nicht immer den Erfolg und die An—
erfennung gefunden, die er erwartet hatte. Auch im gejchäftlichen
Betrieb hat es nicht an Schwierigkeiten gefehlt, weil der wohl:
organijirte Kolportage-Buchhandel den Berein als einen Son:
furrenten anjah und der Sortimentsbuchhandel ſich nur wenig
dafür intereffirte.
Nach dem erjten Gejchäftsbericht des Vereins wurden bis zum
1. Januar 1891 251552 Hefte (a 10 Pig.) gegen fejte Bezahlung,
77555 Hefte gratis, 810 Halbjahrbücher und 1317 Marfbände,
bis zum 1. Juni 1891 dagegen 505657 Einzelhefte, 1259 Halb-
jahrbücher und 3361 Marfbände ausgegeben. Gegen Mitte des
Sahres 1892 aber hatte der Verein (jeit 1890) ca. 1 Million
Einzelhefte und über 10000 Exemplare der verjchiedenen Band:
ausgaben abgejegt. Nach dem Nechenjchaftsbericht für 1892 hatte
der Berein 5443 Mitglieder (Ende 1891 5663). Als Endergebnif
jeiner Ihätigfeit jtellte fich) mit Abjchluß des Jahres 1892 ein
Gejammtvertrieb von 1 250 529 Einzelheiten, 6819 Halbjahrbüchern
und 9060 Marfbänden, jowie 739 Einbanddeden heraus. 172507
Einzelhefte wurden von der Anjtalt jelbjt, 1026 831 vom Berein
ald Gratis » Vertriebs bezw. Agitationsmaterial verbraucht. Dies
it jedenfalls ein bemerfenwerthes Reſultat, aber der Berein hat
doch nicht den Erfolg gehabt, den man erwartet hatte, und in den
legten Jahren hat man nichts mehr davon gehört.*)
Sm Jahre 1890 erließ der Verein ein Breisausjchreiben, nach
welchem unter 83 Manujfript-Einjendungen dem Charafterbild aus
dem Chiemgau: „Der Buppenjpieler* von Karl Schultes, Hof:
theater-Direftor a. D., der angejette Preis von 1000 Mark zu:
erfannt ward. Außer diefem Preiſe erhielt der Verfaſſer 350 M.
Honorar. Für das Berlagsrecht der übrigen Erzählungen wurden
nur jehr geringe Honorare (75 bis 250 ME) gezahlt. Im Jahre
1893 übernahm der Verlag die Armand’schen Romane, für deren
Neuausgabe der Berfafjer zu feinen Lebzeiten 60 000 ME. verlangt
hatte; jein Nechtsnachfolger überlieg fie dem Verein ohne fejte
Honorarzahlung unter der Bedingung, daß ihm von einem etwaigen
Reingewinn ein Anteil von 300/0 zufäme.
Der Berein hatte vorher jchon mit älteren und neueren Werfen
) Den Weimarer Verlag des Vereins finde ich nicht einmal mehr im Buchhändler:
Adreßbuch verzeichnet.
94 Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur.
mannigfache Berjuche gemacht. Er fam dann zu der Ueberzeugung,
daß er einen zeitgemäßen Noman aus der Gegenwart von einem
erprobten Schriftiteller bringen müſſe. Da er jich feine fertigen
Romane zur Auswahl vorlegen laſſen konnte, entjchloß er jich, einen
für jeine Zwede pajjenden Noman in Auftrag zu geben. Zu dem
Zwede erjuchte er eine Anzahl Schriftiteller um Einjendung von
Entwürfen und hat dann Mar Kretzer mit der Ausführung eines
ſolchen Romans beauftragt. „Slaubten wir doch aus dem Ent:
wurfe zu erjehen, daß ber aller Feſthaltung einer idealen Tendenz
e8 an der realijtiichen Ausgejtaltung im einzelnen nicht feblen
würde, auf die bei unferen Zwecken nicht verzichtet werden darf.“
Der Berfafjer erhielt für den Roman „Irrlichter und Gejpeniter“
(3 Bände mit zujammen 1376 Zeiten) 18000 Mk. Honorar.
Hierzu famen bedeutende Stojten für die Agitation. Der Erfolg
entjprach dieſen Aufwendungen nicht, und der Verein bat aud)
meines Wiljens jeither feine bejonderen Anjtrengungen mehr zur
Erlangung guter Werfe gemacht. Bor einigen Jahren verjandte
er ein Nundjchreiben an zahlreiche Schriftiteller, um fie zu erjuchen,
ihre Werfe zum unengeltlichen Abdrud zu überlafien. Unter den
deutjchen Schriftitellern find nun aber nur wenige jo gejtellt, da
jie umfonjt arbeiten fönnten, und bei den Schriftjtellern gilt es
doch auch: „Jede Arbeit it ihres Yohnes werth.“
Auch der Abdrud der für den Verein erworbenen Erzählungen
in Zeitungen zweds Erſchließung einer „wenn auch bejcheiden, je
doch jicher fliegenden Einnahmequelle* entjpricht meiner Anſicht
nach nicht den Zweden des Vereins.
Welch große Hoffnungen hatte man an diejes Unternehmen
gefnüpft! Man leſe nur einmal, was August Yammers in Weiter:
manns Monatsheften (Dezember 1889) darüber jchrieb. Er wies
auf die wenigen aus der deutjchen Nationalliteratur für die Ber:
breitung im Volke geeigneten Werfe hin:
„Es muß fortan in Menge wahrhaft gut gedichtet und neu gefchrieben
— muß eine Nationalliteratur der Zukunft gejchaffen werden. ...
Sinnergreifende Schöpfer wie Ludwig Anaus, Benjamin Bautier,
Franz Defregger und ihres gleichen werden bald gewiß die Dedung
des Volfserzählungsheftes, das zu Hunderttaufenden hinausgeht, mit
ihren Umjfchlagbildern nicht mehr für unter ihnen ftehend erachten.
Vielmehr wird dies dem wahren Nationalmaler und Menſchenfreund
gerade als die echte jozialreformatorische Aufforderung ins Herz greifen.
Wenn die edle Weimarer Unternehmung gelingt, an welcher Fein
*) Rechenſchaftsbericht des Vorſtandes. Weimar 1893.
Der Mafjenvertrieb der Bollsliteratur. 95
Geminntrieb haftet, wird fie binnen wenigen Jahren echte Volks:
Ichriftjteller aus den Windeln ihrer unbewußten Talente herauägefördert
haben und fie beftimmen, jahraus jahrein freudig für die Hundert:
taufende und Millionen zu jchaffen, welche ſich durd fie erjt ganz
unbewußt, dann immer bemwußter und danfbarer vom Seelenftaube
reinigen, von geiftigen Feſſeln befreien und allmählich in das mwahre
Verjtändniß ihrer Zeit wie ihrer Umgebung einführen lafjen wollen.”
Einen Bolfsjchriftiteller hat der Weimarer Verein nicht entdeckt,
und fein großer YJeichner hat ſich für das Unternehmen interejirt.
Es jcheint, als ob doch die Organijation nicht ganz die richtige
aewejen jet.
Schon 1894 bezweifelte Julius Lippert*) mit Recht, „ob ein
Dundert oder Taufend guter und mittlerer, neu gejchriebener oder
neu gedrudter Nomane mehr durch ihre Ertjtenz und Verbreitung
die der jchlechteren vernichten werde.“ Und er fügte hinzu:
„Uns ſcheint es eben nicht, daß der Geſchmack an der jchlechteren
Sorte nur deshalb noch vorhanden iſt, weil es an der bejieren fehlte.
Man kann nicht überjehen, daß ſich im Laufe der Zeit der Geſchmack
ganz mejentlich gehoben und gebejjert hat, und daß, von den Ertra-
vaganzen neuer Richtungen abgejehen, Verfaſſer und Verleger diefem
Umjtande Rechnung tragen und fragen müſſen. Wir haben und
produziren noch täglich einen Weberfluß von guter und bejter Inter:
haltungsliteratur, und wenn ein jo groß angelegter Verein auch nur
ein Theilden von jener „Bedeutung für die Zufunft des deutjchen
Volkes“ gewinnen will, die ihm vorjchwebt, jo wird es nicht ſowohl
durch jeine Produktion als durch die Art der Verbreitung geichehen
fönnen; aber auch dann bleibt noch die Frage, ob auf der Hintertreppe
der Kolporteur in objektiv befjerer Waare dem mit der fchlechteren
den Rang ablaufen wird.“
Hierzu muß denn doch bemerft werden, daß zur Verbreitung
quter Bücher meiſt nicht die Anjtrengungen gemacht werden, wie
zur Verbreitung jchlechter Kolportage-Romane. Der große Abjat,
den die Weimarer Hefte immerhin gefunden haben, beweijt doc),
daß auch bejjere Sachen Käufer finden.
Lobend muß man es anerfennen, daß bisher auch jchon andere
gemeinnüßige Vereine zahlreiche gute Schriften unters Volk gebracht
haben. Außer den eigentlichen Vereinen zur Verbreitung von
Bolfsbildung haben z. B. die verjchiedenen Genojjenjchaftsverbände
manche gute Schrift verbreitet.
Auch im Ausland finden wir jolche Vereine. Zu den ältejten
gemeinnüßigen Körperjchaften, die ſich auch die Verbreitung guter
* 25 Jahre des Strebens für Volksbildung. Prag 1894. S. 24.
96 Der Maffenvertrieb der Volksliteratur.
Schriften angelegen jein lajjen, gehört wohl die „Gejellichait
zur Förderung des Guten und Gemeinnüßigen“ in Baſel, deren
Gründungszeit in das Jahr 1777 zurüdreicht. Die Thätigfeit diejes
Vereins zur Förderung der Volksbildung it eine außerordentlich
umfajjende; außer Schriftenherausgabe gehören Vortragsveran:
italtungen, Volksbüchereien und Muſeen, Kindergärten, Fortbildungs—
und Fachſchulen aller Art zu jenem Programm. Cine ähnliche
„Sejellichaft für Gemeinnügigfeit“ wurde 1810 in Zürich gegründet.
Beide Vereine haben nur einen örtlichen Wirfungsfreis und werden
durch ziemlich hohe Mitgliedsbeiträge (in Bajel 3. B. 10 Fr. jähr-
lich) erhalten.
In der Schweiz giebt es außerdem mehrere „Vereine für Ver:
breitung guter Schriften“ (in Bajel, Bern und Züri). Sie be
jtreben jich, in der Bekämpfung der jchädlichen Literatur mit der
Schule und dem Elternhaus Hand in Hand zu gehen, wie fie es
ji) auch angelegen jein laſſen, die Beitrebungen des „Schweiz.
Vereins gegen unjfittliche Literatur“ energijch zu unterjtügen. Die
einzelnen Schwejtervereine, die den Vertrieb der Schriften auch ın
Negie betreiben, unterhalten unausgejegt einen regen und freund:
ichaftlichen Verkehr. Jeder Verein veröffentlicht jährlich etwa vier
Hefte, die zu je zehn Gentimes verfauft werden. Der Basler
Verein hat auch ein Haushaltungsbuch veröffentlicht, das die Haus-
frauen zu einer einfachen Nechnungsführung veranlafjen joll. Weld
große Zahl von Schriftchen durch dieje Vereine verbreitet werden,
fann man 3. B. aus folgender Angabe erjehen. Das Total der
im Jahre 1893 von Bajel vertriebenen Schriften betrug, in Zehner:
beftchen umgerechnet, 411900 Gremplare. Der Gejammtvertrieb
in den vier Jahren des Beſtehens des Basler Vereins betrug
1507400 Exemplare. Zum Basler Rayon gehören 304 Ortjchaften
und Ablagen. Die Vereine bejorgen jelbjt den Vertrieb der von
ihnen herausgegebenen Schriftchen. Troß des billigen Preijes wird
meijtens noch ein Ueberjchuß erzielt, jo daß 3. B. der Basler Ver:
ein jedes Jahr an die zwei obern Klaſſen der dortigen Volfsjchule
eine Weihnachtsgabe gratis vertheilen fann (3. B. „Heinrich von
Eichenfels.*) Außerdem wird ein Nejervefonds aus Gejchenfen,
VBermächtniffen und Sahresbeiträgen auswärtiger Mitglieder gebildet.
Für Böhmen bejteht ein „deutjcher Verein zur Verbreitung
gemeinnüßiger Kenntniſſe“ in Prag, der bereits etwa 200 Heftchen
herausgegeben hat, unter denen ſich zahlreiche werthvolle Arbeiten
befinden. In dem 1869 erjchienenen Aufruf heißt es, der Verein
Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 97
ſei bejtimmt, „wahrhaft gemeinnüßige Kenntniſſe zu verbreiten, vor
Allem jolche, die dazu dienen, die Wohlfahrt des Volkes zu be-
fördern, die Fleine Aderwirthichaft, das Fleine Gewerbe und den
Arbeiterjtand in mannigjacher Weije anzuregen und zu heben, und
das gejammte Volk zum Bewußtjein jeiner Rechte und ‘Freiheiten,
jeiner Bedürfnifje und Ziele zu leiten.“
Seit langer Zeit bejteht auch jchon in Holland eine ganz
eigenartig wirkende und weit über das Land verzweigte „Maat-
schapy vor nut van’t algemeene“ (Gejellichaft für Gemeinnußen).
Man wird mich vielleicht auch an die Lejezirfel, Leih—
bibliothefen und wie Dieje jchönen Einrichtungen noch jonjt
heißen mögen, erinnern, die doch auch viele Bücher unters Volf
bringen. Daß die Leihbibliothefen gerade in Deutjchland jo üppig
emporgeblüht jind, fann man dem Volk der Dichter und Denfer
wahrhaftig nicht zur Ehre anrechnen. Heut zu Tage, wo Zeit:
Ichriften und Bücher jo billig find, giebt es für niemand eine
Entjichuldigung, wenn er jeinen Lejejtoff aus einer Leihbibliothef
bezieht. Ich möchte jchon deshalb feine Zeitjchrift und fein Buch
aus einer Leihbibliothef in die Hände nehmen, weil fie viel zu
Ihmugig ausjehen. Ich meine, ein etwas feinfühlender Menjch
fönnte Doch eigentlich feinen Genuß von der Lektüre einer Schrift
haben, in denen bereits zahlreiche Lejer mit mehr oder weniger
jauberen Händen (meijtentheil3 wenig jauberen, nach dem Ausjehen
der Hefte oder Bücher zu urtheilen) geblättert haben.
„Das Schlimmite,“ jagt 5. Meyer*) mit Recht, „bejteht darin,
dag die Mappen in gejunde Familien gelangen, nachdem fie zuvor
in jolchen gewejen, bei denen anjtedende Krankheiten herrſchten.
se tiefer die Ärztliche Wiljenjchaft die Krankheitsurſachen erforjcht
und je ausgedehnter die Entdedungen hierin werden, deſto ent:
ihiedener jollte jeder Hausvater die Seinigen vor der großen An—
jtefungsgefahr durch die Yejezirfelmappe zu jchügen juchen; er
jollte jie nicht in das Haus einlajjen! Das Gleiche gilt von den
Bücherleihanftalten. Die Stimmen der Verzte, die jolche Warnungen
ertheilen, werden immer zahlreicher und lauter.“
Für das Geld, das man als Leihgebühr entrichtet, fann man”
ih doch aus den billigen Sammlungen (Reclam, Hendel, Meyer
u. ſ. w.) gute und intereflante Schriften auswählen. Der billige
*) Das Lejebedürfnis des Volkes und defjen Befriedigung. Weimar 1591. ©. 6.
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Het 1. 7
98 Der Maffenveririeb der Bollsliteratur.
Preis ermöglicht es jedem, fich etwas zu Ffaufen, was jeinen
Wünſchen befonders entjpricht. Schillers Tell hat in der Reclam—
ihen Ausgabe einen Abjat von 619000 Stüd gehabt, Goethes
Hermann und Dorothea eine ſolche von 490000, der erjte Theil
des Fauft 290000, Walter Scotts Ivanhoe 45000 und Boz—
Didens’ Pickwickier 40000.
Man wird vielleicht auch auf die vielfach bejtehenden Volks—
bibliothefen Hinweijen; allein welch Heiner Theil der Bevölferung
benugt fie! Und vor allem, die Zandbevölferung hat feinen Nusen
davon. Dr. Fränkel jagt:
„Der Miherfolg der Volksbibliotheken ift jehr einfach zu erflären:
der Kolporteur nimmt den Leuten die Mühe des Weges bis zur
Bibliothef und die noch fchwierigere Mühe der Auswahl ab. Das
Volk lieſt, was ihm ins Haus getragen, was ihm Durch den
Kolporteur mit unermüdlicher Zungenfertigfeit angepriefen, ja oft
förmlich aufgedrungen wird. Das find zunädjt die neueiten
Gouplets, auf deutſch Gaſſenhauer, Yieder, deren Inhalt ebenjo ge
mein wie dumm zu fein pflegt, was nicht hindert, daß dieſes Zeug
3. B. in den Häufern und auf den Höfen und Straßen Berlins
ausgeboten und maflenhaft gekauft wird. Vielfach trägt der
Kolporteur jelbft die von ihm feilgehaltenen Couplet3 auf ven
Höfen zum allgemeinen Ergößen vor. Es ift für den Volksfreund
fein Vergnügen, dieſes entfittlihende Treiben zu beobadten: das
allgemeine Beifallägelächter über die mit lauter Stimme in die Yüfte
gebrüllten Gemeinheiten, die lebhafte Theilnahme der Dienjtmädcen
und der „Frauen aus dem Volke“ (melche beide über dieſem Genuß
natürlich ihre häuslichen Pflichten verfäumen), die gejpannte Auf:
merfjamfeit der Kinder auf Dinge, welche ihrer Kenntniß noch lange
verborgen bleiben jollten. Ein in meinem Haufe dienendes Mädden
mußte uns befennen, daß fie dem Kolporteur im Laufe eines Viertel-
jahres Mt. 5,25, für ihre Veryältnifje gewiß einen ſehr bedeutenden
Betrag, bezahlt habe (die Frage hat ihre nicht geringe mirthjchaft:
liche Bedeutung !), allerdings nur zum kleinſten Theil für Yieder,
im wejentlihen für einen Roman, der zwar auf das denkbar
ſchlechteſte Vapier gedrudt, aber zweifellos auch Dies nict
werth mar.”
Der Verbreitung jchlechter Kolportage-Komane fann man, wie
icon gejagt, abgejehen von der Aufklärung, bei der, außer den
Geiſtlichen, Lehrern, Arbeitgebern u. j. w., jeder mitwirfen kann,
am beiten durch Verbreitung guter Werfe auf demjelben Wege
entgegenarbeiten.*) Wenn einmal ernjtliche Verſuche auf Diejem
*) Ginen eigenartigen Verſuch Hat neuerdings Ludwig Jacobowsky gemacht, in:
dem er eine Sammlung von Gedichten (300 Gedichte von 100 Dichtern) auf
dem Kolportagewege zu verbreiten ſucht. Diejes Büchlein „Neue Lieder fürs
Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur. 99
Gebiete gemacht werden, werden auch bejjere Schriftjteller ihre
Mitwirkung nicht verjagen. Man wird dann auch die Mittel
haben, anjtändige Honorare zu zahlen, denn gute Bücher jchreibt
niemand umjonit.
Es hat jedoch feinen Zwed, immer neue Werfe zu produziren.
Unter hundert neuen Werfen befindet jich vielleicht faum eines,
das nur an eines der älteren bejjeren Werfe heranreicht. Dagegen
bleiben Hunderttaujfende Eremplare guter Bücher unver:
fauft. Die Bereine, die jich die Verbreitung von Büchern im
Volfe angelegen jein laſſen, mögen jich doch an die Werleger
wenden, die oft noch große Vorräthe guter älterer Werfe haben
(dies thut 3. B. der Borromäusverein für die fatholischen Gegenden).
Wie wäre e8, wenn die Verleger einmal gemeinjchaftlich ein Ber:
zeichniß ihrer Lagervorräthe aufitellten und den erwähnten Vereinen
all die Bücher, die feine Aussicht auf Abſatz mehr haben, zu
niedrigen Preifen zur Verfügung jtellten? Wenn das Volk für
einige Grojchen ein Buch befommt (auch wenn es eine ältere
Ausgabe it), jo fauft es dasjelbe gern. Das jieht man 3. B. an
den Zola-Romanen, die jegt in den deutjchen Bazaren majjenhaft
verfauft werden, objchon dieje jtarf gefürzten, aber. dafür feines-
wegs verbejjerten Ueberjegungen fürs Volk jo ungeeignet wie nur
möglich jind. Leider entjchliegen fich die Verleger nur ungern,
bejjere Werfe zu „verramjchen“ (d. h. zu einem billigeren als
dem urjprünglich angejegten Yadenpreife zu vertreiben), weil jie
dadurch dem Anjehen ihres Gejchäftes zu jchaden fürchten.
Franzöſiſche Verleger haben dafür einen andern Ausweg gefunden.
Einzelne große Verlagshäujer wie Dentu, Garnier u. j. w. über:
nehmen große Poſten jolcher Auflagerefte von Romanen und
populär = wijjenjchaftlichen Werfen und verjchiden jie nach den
franzöfiichen Kolonien und andern überjeeifchen Yändern, wo dieje
Bücher willige Abnehmer finden. Diejer majjenhafte Verjandt
von franzöfischen Büchern nad) allen Teilen der Welt trägt nicht
wenig dazu bei, die Ausbreitung der franzöfiichen Sprade zu
fördern und zu feitigen.
Volt” ift 160 Seiten ftarf (Meines Format) und ift in einer Auflage von
100,000 Stüd gedrudt. Es koftet nur 10 Pfennig, fo dab der Vreis ficher
fein Hindernis für die Verbreitung ift. Der Herausgeber will durch diejes
Büchlein der Berbreitung großftädtiiher Straßenlieder entgegenwirken. Daß
diefes ihm auch nicht annähernd gelingen wird, ift ja Mar, aber man darf
doch darauf geipannt fein, wie das Volk eine Auswahl der beten deutjchen
Gedichte, die ihm durch Kolporteure ins Haus gebracht wird, aufnehmen wird.
7*
‘
100 Der Mafjenvertrieb der Volksliteratur.
Die preußiiche Regierung hat Ddiejes Jahr zum erjten Mal
im Etat des Hultusminiteriums eine Summe von 50000 Marl
zur Förderung von Bolfsbibliothefen eingejtellt. Es iſt Dies
jedenfalls ein jehr Löbliches Vorhaben, allein auf dem Wege fann
nur etwas erreicht werden, wenn jedes Jahr ein größerer Betrag
für WVoltsbibliothefen ausgegeben wird. Einzelne Negierungs:
präjidenten, Yandräthe und Schulbehörden haben jich übrigens in
neuerer Zeit der Bolfsbibliothefen bereitS in erfolgreicher Weile
angenommen. In England haben, wie Dr. Pieper berichtet, die
Städte das Necht, eine bejondere Bibliothef-Steuer zu erheben,
die jährlich bedeutende Summen aufbringt. Die Bolfsbibliothet
erhält dadurch den Charakter einer Anjtalt, zu der alle Bürger
beitragen und auf deren Benußung jeder Gemeinde-Angehörige
ein volles Anrecht hat. Dadurch wird das Interejje der Gejammt:
heit für die Bibliothef bedeutend gejteigert. Amerika ragt hervor
durd) die gewaltigen, nach vielen Millionen zählenden Stiftung?
jummen, die von Privatperjonen für Volksbibliotheken aufgewendet
wurden. In Deutjchland haben einzelne Stadtgemeinden bislang
ih) nur zu verhältnigmäßig jpärlichen jährlichen Beiträgen ver:
jtehen fünnen, und an großen Stiftungen für Bolksbibliotheten
fehlt es fajt gänzlich. Auch die Vereine, die jich mit der Errichtung
von Bolfsbibliothefen befajien, müſſen mit bejcheidenen Mitteln
auszufommen juchen. Die Gejelljchaft für Verbreitung von Volks—
bildung in Berlin jucht 5. B. Bücher von Privatleuten zu erhalten,
die für dieſe überflüjjig geworden jind.
Der Ausſchuß für Wohlfahrtspflege auf dem Yande befaßt
ji) mit Recht auch damit, dem Bolfe Bücher zugänglich zu machen.
Auf der legten Generalverjammlung hat 3. B. Hr. NRittergutsbefiger
Hans von Schöning in einem VBortrage über die Wohlfahrtsein:
richtungen im Kreiſe Pyritz folgendes über die Sallentiner Volks—
bibliothef mitgeteilt:
„Bald nachdem ich nad Sallentin gefommen war — vor etwa adıt
Jahren hielt ich darauf, daß die Unterhaltungsblätter der Lokal—
zeitungen und auch dieſe ſelbſt in die Knechtſtube kamen, d. h. in den
Raum, in welchem die unverheiratheten Pferdeknechte ihre Mahlzeiten,
erites Frühftüd, Mittag: und Abendefjen, einnehmen. ch fand,
daß die Anechte die Blätter gern lafen, und nahm an, daß die Be:
Ihäftigung mit diejer Lektüre ihnen immerhin zuträglicher jein müſſe,
als wenn jie die darauf verwendete Zeit mit Obſtſtehlen und Yiebes:
abenteuern zubrächten. SZ päterhin gab meine rau an ihre Näh—
finder die als „Kleine Palmzweige“ befannten Heften zum Yejen
Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 101
aus, mit Beding der Rüdgabe. Wir beobachteten, daß dieje Heftchen
oft jehr ſpät zurüdgegeben wurden und zwar lag der Grund hierzu
nicht etwa in dem langjamen Durchleſen durch die Kinder, vielmehr
waren die Hefte nacheinander von mehreren Familienmitgliedern
gelefen worden, oft jogar in andere Familien mweitergewandert. So
jahen mir bald, daß ein großes Bedürfniß nad Lefeitoff vor:
handen war. Wir regten dann die Verbreitung des ‚‚Arbeiterfreundes‘'
an, des wohl allgemein befannten Wochenblattes; dafjelbe fand Bei:
fall, und augenblidlich werden in meinen Amtöbezirt, der nur etwa
800 Seelen zählt, 100 Exemplare defjelben gehalten, natürlich ohne
daß die Leute Hierzu beifteuern; den größeren Theil der Koften
tragen die Kirchenkafjen, den Reſt lege ich ſelbſt zu. Nach und
nah jammelten mir Bücher an, die uns zur Ausgabe an unfere
Leute geeignet jchienen. Meine Fruu ift dann fpäter der „Geſell—
ſchaft zur Verbreitung von Volksbildung“ beigetreten und erhielt von
diejer ſogleich 50 prächtige Bücher, die wir ſelbſt aus einer großen
Zahl auswählen durften. Nach diefem Zuwachs konnte man mit
Recht Ihon von einer Volksbibliothek ſprechen; viefelbe ift dann,
immer mehr, auch noch einmal durch durch die Güte der vor-
bezeichneten Gefelljchaft, vergrößert worden, und zählt heute meit
über 200 Bände.
Bon fleinen Erfahruugen, die Hr. von Schöning mit der
Bibliothef gemacht hat, führte er Folgendes an:
„Zunächſt halten wir, menigjtens bei der Eigenart unferer Leute,
die Erhebung eines Yeihgelves für ausgefchlojjen: es würde niemand
bezahlen wollen, und wenn es auch noch jo wenig wäre. Sodann
ift bei uns nicht darauf zu rechnen, daß die Leute kommen, fich ein
Bud zu holen, nicht weil fie zu fchüchtern wären; es unterbleibt
lediglih aus Schwerfälligket. So nimmt denn meine Frau auf
ihren Kranfenbejuchen in den Dörfern immer einige Bücher mit und
macht damit ftet3s große Freude. Sehr wichtig ift, nach unferer
Beobadhtung, dag man den Geſchmack der Leute fennt und danach
die richtige Auswahl trifft, nicht nur bei Anjchaffung von Büchern,
auch bei der Ausgabe. Unfere Leute wählen nicht jelbft aus, man
muß ihnen geben; verfehlt man dann aber das richtige, jo fann
man damit die ganze Bibliothek in fchlechten Ruf bringen. So
hatte meine Frau einmal den Verfuc gemacht, einem anderen Dorf:
bewohner einen Theil der Bibliothek zur Verwaltung anzuvertrauen.
Der Betreffende gab einmal an ein jchon älteres, gewedtes Mädchen
ein Märhenbuh: das war ein Mifgriff, der zur Folge hatte, daß
Schundlektüre im Dorfe Eingang fand. Meine Frau hat dann die
Bücher zurüdgenommen und bejorgt die Ansgabe wieder felbjt, mas
ihr übrigens viel Freude und verhältnismäßig wenig Mühe madıt.
Im allgemeinen ift die für die heranwachſende Jugend gejchriebene
Lektüre unſeren Yeuten als Leſeſtoff lieb und mwillfommen; die
älteren lejen gern erbaulich gejchriebene Bücher. Gut bewährt hat fi
die vor zwei Jahren erfolgte Beichaffung einer Bibliothef für den
102 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur.
Kriegerverein des und benachbarten Dorfes Dölitz. Diefelbe ift durch
den „Chriftlihen Zeitjchriften-Verein“ bezogen, deſſen Bücher dem
Geſchmack unserer Leute meift durchaus angepaßt find. Die
Bibliothefsbücher werden in Dölig in den regelmäßigen Monats:
Berfammlungen ausgegeben, find jehr begehrt und werden gern ge
lefen. Ich mwiederhole zum Sclujje: es befteht zweifellos ein großes
Leſebedürfniß bei unferen Leuten auf dem Yande, und mird Das-
jelbe nicht mit guten Büchern oder Zeitfchriften befriedigt, jo findet
um fo leichter eine in fittlicher und politifcher Beziehung bedenkliche
Lektüre Eingang.“
Hr. Landrat) Johannes in Diez a. d. Lahn hat mit der Er-
richtung einer Kreiswanderbücherei guten Erfolg gehabt. Die
zu dem Zwed angejchafften landwirthichaftlichen Bücher bleiben
Eigenthum des Kreifes; mit den Orten wird allmählich gewechjelt.
Nach dem Ausjehen der Bücher zu urtheilen, wurden am meiiten
benugt die Bändchen über Schweinezudht und Ziegenzucht, aljo
"über die Zucht der Thiere des fleinen Mannes. Die Lektüre praf-
tijcher Werfe it für den Landmann, den Arbeiter, Handwerker
u. }. mw. gewiß von großem Nuten, aber er fann doch nicht alles
im Kopf behalten, was er gelejen hat, und wie oft fommt e8 dann
vor, daß er jpäter das Werf zu Nathe ziehen möchte, während es
ihm dann nicht mehr zur Verfügung jteht.
Aehnlich verhält es ſich auch mit andern Büchern erzähl.nden
und unterhaltenden Inhalte. Wie oft möchte man in einem
Ihönen Buche, das man früher gelejen hat, das eine oder andere
nochmals leſen. Man möchte e8 vielleicht auch -jeinem Sohne oder
jeiner Tochter zu lefen geben, aber das Buch iſt vielleicht gar nicht
mehr zu erreichen. Man fann oft die Erfahrung machen, daß
gerade der gewöhnliche Mann des Volkes ein Bud, das ihm ge-
fallen hat, als einen Familienjcha betrachtet, dejjen Genuß er
außer jeinen Angehörigen nur jeinen beiten Freunden zu theil
werden läßt. Er ift ſtolz, es zu bejigen, und das Geld, das er
dafür ausgegeben hat, reut ihn nicht im Geringiten.
So ſehr ich alſo den Werth von Volfsbibliothefen, Xejehallen,
Wanderbüchereien u. j. w. hoc) jchäße, jo möchte ich doch immer
wieder betonen, daß man dieſen Einrichtungen nicht allein jeine
Aufmerkjamfeit widmen fol. Das Volk iſt auch bereit, für Bücher
Geld auszugeben. Allerdings giebt e8 ärmere Gegenden, wo der
gewöhnliche Mann nicht die Mittel hat, fich Bücher zu faufen, und
bier iſt es dankbar zu begrüßen, wenn ihm die Möglichkeit ge:
geben wird, gute Bücher leihweife zu lefen. Aber im Uebrigen überlajie
Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 103
man nicht der jchlechten Kolportage-Literatur das Feld, jondern
juche auf demjelben Wege gute Bücher zu verbreiten. Herder jagt
mit Recht: „Ein Buch hat oft auf Lebenszeit einen Menjchen ges
bildet oder verdorben.“ Welch großen Genuß und welch großen
geiftigen Gewinn fünnte das Volk aus jeiner Lektüre jchöpfen,
wenn all jene Millionen Hefte werthlojer Kolportage-Romane durch
gute Schriften erjegt wären!
Ruſſiſch-⸗Polen.
Eine Reiſe-Studie
von
Hans Delbrüd.
Wer von unfern verehrten Lejern, jofern er nicht von Geburt
oder Beruf dem Dften angehört, ift jchon einmal über die Spree
gefommen? Oder wenn jchon, wie weit und wie oft? Betrachtet
man es recht, jo hört für den Menjchen des Weſtens die Welt an
diefem Flußrand auf. Auch der Berliner, jo weit er nicht jenjeits
wohnt, fommt nicht hinüber. Das ganze amtliche Berlin, das
Schloß, die Palais, die Minijterien, der Reichstag und Landtag,
die Mufeen, Opern: und Schauſpielhaus, die Univerfität, das
Kammergericht, die Denkmäler, die großen Hotels liegen im Weiten,
auf der Seite, die nad) den vornehmen Billen-Orten, nad) Pots—
dam, Sansfouci und nad) der Kulturwelt ausjchaut; unmittelbar an
der Spree liegt noch die Börje und jenjeitS in dem eigentlichen
alten Berlin liegt wohl das Rathhaus oder das Wallner:Theater,
das ein Wejtler aufjucht, aber das jind nur einzelne Schaumjprigen,
die hinüberfliegen, die eigentliche Völferwoge reicht nur bis an das
Fluß-Ufer; hier brandet jie und jtaut zurüd. Der Sachje, Rhein—
länder und Süddeutſche, der Berlin bejucht, der Engländer, Ameri—
faner, Franzoſe, der Deutjchland bereit, bis an diefe Stelle fommt
er und bier fehrt er um. Die Kurfürjten-Brüde am Schloß it die
größte Völker-Scheide der Welt. Der wejtliche Berliner jelbjt,
wenn wir annehmen, daß er einmal in jeinem Leben der Wiſſen—
ichaft halber den Friedrichshain bejucht hat und um geographiich
genau zu fein, auf der Reiſe nad) Heringsdorf oder ind Rieſen—
Ruſſiſch⸗Polen. 105
Gebirge einige Meilen weiter öſtlich bis ins Oder-Gebiet gekommen
iſt — der ſonſtige regelmäßige Lebenslauf führt ihn höchſtens bis
an die Spree-Brücke und von dem, was jenſeits liegt, ſieht er
nichts. Verreiſt er, jo verreiſt er nach dem Weſten, Süden oder
Norden, aber nicht nach Oſten. Der ganze Oſten ſelber aber, durch
dieſes Thor ſtrömt er ein, wenn er den Weſten aufſucht. Wie
eine Rieſen-Klammer verbindet Berlin die öſtliche und weſtliche
Hälfte des preußiſchen Staates miteinander, nur über Berlin ver—
kehren ſie; ja der ganze andere Nordoſten, Stockholm, Petersburg,
Moskau, Warſchau ſteht in Verbindung mit dem Weſten durch
Berlin. Der Weſten ſeinerſeits aber kommt ihm entgegen bis an
dieſen Punkt und nicht weiter. Scharf abgeſchnitten, mitten in
einem Volk und Staat, ja mitten durch die Stadt ſelber hindurch
geht hier die Grenze zweier Welten. Um über die Spree, über
die Brücke mit dem Denkmal des Großen Kurfürſten hinaus
nach Oſten zu kommen, muß man ſchon dort geboren ſein, oder
aber amtlich oder geſchäftlich gezwungen ſein, die Reiſe zu machen.
In jener Gegend aber, im fernen unbekannten Oſten wohnt
die Sphinx, das große Räthſel der Zukunft, das Schickſal der Welt
im zwanzigſten Jahrhundert und dritten Jahrtauſend. Man ſpricht
von Amerika, das mit ſeiner aufblühenden Jugendkraft das alternde
Europa bedrohe. Ich fürchte nichts davon. Bloße wirthſchaft—
liche Kraft richtet nicht viel aus in der Weltgejchichte: erſt wenn
fie fich in politische und kriegeriſche Kraft umſetzt, wird fie gefährlich.
Die Vereinigten Staaten aber werden jchwerlich jemals dazu gelangen,
eine große Milttärmacht zu werden. Sie wollen e8 ja garnicht
und jie find ein viel zu loderes Staatsgebilde, um es, jelbit wenn
fie es wollten, durchzujegen. Kriegsmacht läßt ſich nicht mehr
improvifiren: in langer, bingebender, opfervoller Friedensarbeit
will jie ausgebildet jein. Sollten die Vereinigten Staaten
dergleichen wirklich verjuchen, jo werden jie daran eher jelber zu
Grunde gehen, als daß fie e8 erreichen. Bon Amerika wird der große
Stoß, der das Angejicht der Welt einmal verwandelt, nicht kommen.
Auch aus dem alten Kultur-Europa, der romanijch-germanijchen
Welt jchwerlih. Die Verhältnifje find hier allenthalben jo im
Gleichgewicht, dat nirgends eine jtarfe Erjchütterung zu erwarten
ist. Die großen Gegenjäge haben jich jo jehr in die Tiefe zurüd-
gezogen, daß, da die Welt einmal Objekte für ihre Leidenjchaft ge:
braucht, ſie fi) über den ungerechten NRichterjpruch eines
franzöfiichen Gerichtshofes aufregt. Bon allen Großjtaaten der
106 Ruſſiſch⸗Polen.
brüchigſte iſt offenbar Oeſterreich, aber auch an den Zerfall dieſer
Moſaik-Monarchie glaube ich nicht. Eine Großmacht hat eine
wunderbare Lebenskraft: ohne einen ungeheuren Rammſtoß von
außen wird die habsburgiſche Dynaſtie ihre zehn Nationen noch
lange zuſammenhalten.
Wie aber ſieht es in Rußland aus? Entweder die Welt
bleibt noch auf Jahrhunderte ungefähr ſo, wie ſie iſt, oder wenn
eine Bewegung kommen ſollte, die ihr Angeſicht verändert, ſo
kann ſie nur von Rußland ausgehen. Schon einmal, beim Tode
Friedrichs des Großen, war Europa in einem ſolchen Zuſtand des
Gleichgewichts, daß weſentliche Veränderungen kaum irgendwo
möglich ſchienen. Da brach, drei Jahre nach dem Hinſcheiden des
großen Preußenkönigs, in Frankreich die innere Bewegung los, deren
Gewalt Niemand auch nur entfernt geahnt hatte und die in fünfund—
zwanzig Jahren revolutionärer und kriegeriſcher Krämpfe nicht bloß
Frankreich, ſondern auch die Verhältniſſe von ganz Europa, die
inneren wie die äußeren, die wirthſchaftlichen wie die ſozialen, Die
materiellen wie Die geijtigen um und umwandelte. Es giebt en—
thuſiaſtiſche Nujjen, die da meinen, daß von ihrem Lande einmal
die Vollendung ausgehen werde: daß der rufjiiche Agrar-Kommus
nismus Die joziale Reform-Idee der zukünftigen Kultur-Welt fein
werde. Dieje Erwartung halte ich ganz jicherlicy für verkehrt.
Aber dat das Geheimniß der Zufunft im Innern Rußlands zu
juchen tt, glaube ich auch. Dit diefer Staat wahrhaft gejund
und jtarf, jo wird er einmal Ajien erobern, die Engländer aus
Indien vertreiben und die Welt beherrjchen. Iſt aber die rujjiiche
Macht nur Schein, bricht die ungeheure Gebilde einmal aus:
einander, jtürzt es in Anarchie, jo wird das ganz. andere Folgen
haben, als wenn etwa England eine Niederlage erlitte und jeine
Kolonien verlöre, oder wenn Dejterreich jich in mehrere Staaten
auflöfte, oder al8 der Niedergang und die Niederlage Frankreichs
gehabt hat. Die Clemente, aus denen die Staaten des alten
Europa zujammengejegt jind, find ihrer Natur nad) jo gejund
und harmonisch, daß jie auch nach den größten Kriſen in irgend-
wie modifizirter Gejtalt fortleben fünnen. Bon Rußland aber
gilt der Sat: es wird jein wie es ijt, oder es wird nicht jein.
Die jtarre Einheit von Nationalität, Staat und Kirche, die das
Weſen des Ruſſenthums ausmacht, läßt die Ideen des weitlichen
Europa nicht eindringen, oder, wenn jie eindringen, jprengen fie
dieje granitene Pyramide auseinander
Ruſſiſch⸗Polen. 107
Es iſt wahrlich nöthig, daß wir in Deutſchland die große
Frage des Dftens jtudiren. Unjer Schidjal, da nach Nantes
Ausdruck die auswärtige Politif die innere beherrjcht, wird davon
in höherem Maße abhängen als von unjeren eigenen Partei:
fämpfen. Wie e8 in England ausjieht und in Frankreich und in
Amerifa, das wiljen wir. Ueber Rußland aber bewegen ſich
unjere Borjtellungen in einer Art Halbdunfel. Die entgegen:
gejegten Urtheile tönen an unjer Ohr; jehr Wenige aber haben
jelber einen Blick in dieje eigenthümliche Welt gethan: jchon über
die Kurfürjten-Brüde geht ja der Reiſende nicht hinaus. Bis
nach Tiljit und Memel reicht noch Deutjchland; das iſt von Berlin
noch ebenjo weit wie von Straßburg und Met dahin, viel weiter
al8 von Köln oder Frankfurt, aber jchon dieje ganze Hälfte
unjeres eigenen Landes wird nicht mehr bejucht und gar über die
rufjiiche Grenze begiebt jich der zivilifirte Mensch jo leicht nicht.
Selbit in Wejtpreußen habe ich faum Jemand gefunden, der ein:
mal Weichjelaufwärts bis Warfchau gefommen wäre.
Auch ich kann mich nicht gerade rühmen, mit eigenen Augen
und Ohren jo jehr viel vom Oſten in mich aufgenommen zu haben.
IH habe mich nad Möglichkeit in der Literatur umgejehen, ich
habe mit manchem guten Kenner gejprochen, aber ich beherrjche
weder Die rufjiiche noch die polnijche Sprache und bin, abgejehen
von einem furzen Beſuch in Poſen, auch erjt in diefen Wochen jo
weit gelangt, ein größeres Stüd wenigjtens des ruſſiſchen Polen
mit eigenen Augen zu jehen und von den Bewohnern direkt über
ihre Zuftände zu hören. Erſt bei diejer Gelegenheit habe ich auch
unjern eigenen deutjchen Oſten fennen gelernt, die Herrlichkeit der
Marienburg gejchaut und die wunderbare Pracht des alten Danzig
auf mich wirfen lajjen. Das ijt ja das Eigenthümliche, daß die
Völkerſcheide, die Berlin bildet, unjer eigenes Volf theilt, day es
im ganzen Wejten faum Einen oder den Andern giebt, der weiß,
daß an ber Nogat eine Stadt liegt mit einem Bauwerf, ehrwürdiger
und ebenjo jchön wie das Heidelberger Schloß, ja auch wohl fühn
neben dem Kölner Dom zu nennen. Daß Danzig weit mehr bietet
als Augsburg, vollauf rivalijiren darf mit Nürnberg und dabeı
jo ganz anders, daß nur, wer beide Städte gejehen hat, jagen
darf, er fenne der Charakter des alten deutjchen Bürgerthums.
Mir iſt an dem malerijchen Strande der Danziger Bucht
erzählt worden von einem andern deutjchen Reiſenden, der auf
dem Thurm der Marienfirche einen Hymnus auf die landichaft-
108 Ruſſiſch⸗Polen.
liche Schönheit Oſtpreußens anhörte. Der Preiſende war ein
Bayer, ein Alpiniſt, der über die Dünen der kuriſchen Nehrung
gewandert war und die Einjamfeit diejer wunderbaren Sandhügel
zwijchen zwei Meeren jo erhaben gefunden hatte wie nur je die
Schneegipfel jeiner Berge. Wer weiß von Alledem etwas im
deutjchen Weiten? Aber mein Zweck ijt feine Reiſeſchilderung,
jondern die Aufzeichnung einer Reihe von politischen Beobachtungen,
die ich auf meiner Reije, namentlich in Warjchau, gemacht habe.
Auch die Stadt Warjchau hat meine Erwartungen übertroffen.
Sehr merkwürdig jpiegelt jich in dem äußeren Anblick die ver-
jchiedene Gejchichte der beiden Städte Warſchau und Danzig ab.
Warſchau it als Großjtadt Die jüngere. Die mittelalterliche
Hauptitadt Polens war Krakau. Warjchau war nur die Nefidenz
der Derzöge von Majovien und erſt Ende des jechzehnten Jahr:
hunderts fiedelten die polnischen Könige dahin über. Danzig it
die Stadt des PBürgertdums. Ein Batrizierhaus jteht neben dem
andern; man jieht die üppige Fülle, in der dieje Gejchlechter lebten.
Warſchau Hat jolche Häufer nicht, aber es hat eine Anzahl von
fürjtlichen Paläſten; neben ihnen nur die Häufer Fleiner Leute, Die
jeit einem Menjchenalter modernen Miethskaſernen Pla machen.
Gewiß fein gejunder politischer Zuftand, ein Wolf, das wie das
polnijche nur aus Adel und beherrjchter Mafje beitand. Aber man
darf ſich jenen Adel doch nicht, wie es in Deutjchland wohl vielfach
geichieht, als faſt fulturlos vorstellen. Dieſe Paläſte mit ihren
großen Bibliothefen, jchören Sammlungen, gejchmadvoller Aus—
itattung beweijen, daß die polnische Ariftofratie doch theilnahm
an jener franzöfiich-europätjchen Bildung, die das vorige Jahr:
hundert allenthalben beherrjchte. Den König Stanislaus Boniatowsfi
pflegt man jich als einen liederlichen Schwächling, einen jchönen
Lumpaci Bagabundus vorzuftellen, mißhandelt von feiner eigenen
Aritofratie. Aber dieſer König hat auch das prädtige Schlof
auf dem hohen Ufer der Weichjel an der Praga:Brüde ausgebaut
und jehr jehenswürdig ausgeitaltet. Das Luſtſchloß Lazienfi iſt
höchjt originell und Willamow, früher den Botodi, jegt den Branıdi
gehörend, tt prächtig und reich wie ein privates Nationalmujeum.
Die meijten der großen alten Magnatenfamilien exijtiren auch
heute noch und verfügen über einen riejigen Grundbejit, führen
aber, aus Politik, Staats: und Hofdienjt verdrängt, ein Still:
leben, jind auch wohl nicht mehr als die Führer der Nation zu
betrachten.
Auffisch- Polen. 109
Das Merfwürdigite an Warjchau aber iſt jein heutiger Jujtand.
Es gehört zu den Großjtädten, deren rapides Wachstum immer
von Neuem Erjtaunen hervorruft. Es hatte vor zwanzig Jahren
325000 Einwohner, heute hat die eigentliche Stadt nad) der legten
Boltszählung 638000, mit den Vororten aber bereits weit über
800000 Einwohner. Im Jahre 1840 hatte es erſt 1600 majjive
Häujer. Heute it es eine Stadt größer als Hamburg, ein Induftrie-
und Handelsplag erjten Ranges. Wohl fieht man viel dürftiges
Volk auf der Straße, unjaubere Juden in Menge, die aus Ruß—
fand ausgewiejen, jich jüngjt maſſenhaft hierhergezogen haben; die
Lajtwagen find oft nur mit einem, jchlechtgenährten Pferd be:
ipannt. Die ganze Lebenshaltung der unteren Klaſſen jteht noch
weit unter derjenigen der deutjchen, aber die Phyjiognomie der
Straßen, die Fülle und Bewegung zeigt, dal es modernes Leben
tt, was bier pulfirt und mächtig fortjchreitet. Aber nicht bloß'
Warſchau it in diejer Weije aufgeblüht, jondern das ganze König—
reich Polen ift im Begriff, ein Imduftrieland zu werden. Es hat
in dieſem Jahrhundert jchneller an Einwohnern zugenommen als
jogar Deutjchland. Die Gebiete, die heute das deutjche Weich
machen, hatten im Jahre 1815 etwa 241/: Millionen Einwohner,
heute 55, aljo erheblich) mehr als das Doppelte. Kongreß-Polen
aber wurde im Jahr 1815 auf 3 Millionen Einwohner gejchäßt
und hat jegt über 9! , aljo mehr als das Dreifache. Es iſt dichter
bevölfert als Frankreich; es hat 75 Einwohner auf den Quadrat:
filometer, Frankreich nur 72, Deutjchland 100. Neben Warjchau
erijtirt die große Fabrifitadt Lodz mit faſt 400000 Einwohnern
und an der Warjchau:Wiener Bahn, in dem an Oberjchlefien
angrenzenden Gebiet, wo die Bergwerfe liegen, reiht ſich Fabrik
an Fabrik.
Als ich mich erfundigte, wie es mit dem Wohljtand der Bauern
jtände, erhielt ich entgegengejegte Antworten; der Eine jagte gut,
der andere jchlecht. Endlich aber vereinigte man ich dahin, das
es auf den Standpunft anfomme: im Vergleich mit der Ver:
gangenheit habe der polnische Bauer erhebliche Fortjchritte gemacht:
im Vergleich mit den polniichen Bauern in Preußen aber ſei er
noch auf einem recht niedrigen Standard. Die rujjiiche Regierung
bat die polnischen Bauern unter den allergünjtigiten Bedingungen
von ihren früheren ‚zeudalherren abgelöjt und jie zu freien Eigen
thümern gemadt. Aber jie hat fulturell und intelleftuell nichts
für ſie gethan; Bolfsjchulen eriftiren auf dem Lande jo gut wie
110 Ruſſiſch⸗Polen.
gar nicht. Die preußiſche Regierung hat die Bauern wirthſchaftlich
bei Weitem nicht ſo günſtig geſtellt, weil ſie auch gegen den Adel
gerecht ſein wollte, aber ſie hat ſie durch das Schulweſen, die
prompte, tüchtige Verwaltung und die Einfügung in die Kultur
und das Verkehrsweſen des ganzen Landes ſo ſehr gehoben, daß
ſie es viel weiter gebracht haben als ihre Landsleute unter dem
Szepter des Zaren.
So ſind zwei Stücke des alten Polen, fremden Staatsweſen
eingefügt, wohlhabend geworden. Das ruſſiſche weſentlich auf
induſtrieller, das preußiſche auf agrariſcher Grundlage. „Wie ſieht
es denn“, fragte ich einige polniſche Herren, „in dem dritten Theil.
in Galizien aus?“ „O, das grade Gegentheil,“ hieß es; „und
wie kommt es,“ fuhr ich fort, „daß das einzige Land, in dem Ihre
Nationalität herrſcht, nicht blüht?“
Die Antwort war bald gefunden. Sie iſt, denke ich, nach
vielen Seiten von Intereſſe. Das ruſſiſche Polen iſt zu einem
wohlhabenden Induſtrieland geworden, nicht etwa durch die bewußte
Fürſorge der ruſſiſchen Regierung. Das größte Werk, was ſie für
das Wirthſchaftsleben Polen hätte ausführen können und müſſen,
die Schiffbarmachung der Weichjel, hat fie unterlaſſen. Dieſer
mächtige Strom wird faum zu etwas Anderem benußt, als zum
Flößen; in unabjehbaren Yinien treiben die Stämme aus Den
galiziichen Wäldern hinab nad) Danzig, um hier bearbeitet oder
verfrachtet zu werden. Selbit flache Kähne fieht man nur wenig
und ein vereinzeltes kleines Dampfichiff fährt, wenn der Wajjer-
itand es erlaubt. Beliebig treten die Gewäſſer in den Niederungen
über die Ufer und treiben die Sandbänfe hierhin und dorthin, jo
daß das Fahrwaſſer ſich täglich verändert. Rußland aber denkt
nicht daran, koſtſpielige Stromarbeiten auszuführen, um den Polen
eine Wohlthat zu erweiſen. Selbſt mit Eifenbahnen tjt das Land
noch ganz jparjam ausgeitattet. Eigentlich nur neun Linien ziehen
jich durch diejes Land, das an Umfang einem Viertel des deutjchen
Neiches gleichfommt. Steine direkte Linie geht nach Poſen oder
Breslau; in großen Bogen und Winkeln über Thorn und Skiernewice
muß man fahren, wenn man von Berlin nach Warſchau will.
Dennoch jind e8 die Ruſſen gewejen, die freilich jehr wider ihren
Willen Polen zum Induftrieland gemacht haben: indem fie Polen
mit ihrem eigenen Staatsförper verbanden, liefert fie ihm diejen als
Abjaggebiet aus. Um der unfruchtbaren Sandgegend von Lodz
einigen Verdienſt zu verjchaffen, jiedelte die Negierung (als jie noch
Ruſſiſch-Polen. 111
unter ruſſiſcher Hoheit, aber ihrem Charakter nach polniſch war)
deutſche Weber an. Aus dieſer Anſiedlung iſt die gewaltige Fabrik—
ſtadt entſtanden. Sie hatte vor aller ruſſiſchen Konkurrenz den
Vorzug, an der Grenze Kultur-Europas zu liegen, von Deutſchland
die leitenden Perſönlichkeiten, wie die Maſchinen, wie alle neuen
Anregungen, wie die Kapitalien zu beziehen, und konnte dabei, durch
den hohen, ruſſiſchen Zoll geſchützt, den Vertrieb immer weiter in
die Maſſen des ruſſiſchen Volkes hinein ausdehnen. „Die Reiſenden
haben das Glück von Lodz gemacht“, ſagte mir mit Selbſtbewußt—
ſein ein Mitglied dieſes Standes, das ſeit Jahren ganz Süd-Ruß—
land durchzog. Lodz iſt eine faſt deutſche Stadt mit deutſcher
Zeitung; die Sprache in den Geſchäften iſt deutſch und die Polen
lieben die Stadt nicht. Aber von dieſer deutſchen Induſtrie auf
ihrem Boden haben ſie ſelber gelernt und ſind in flottem Zuge,
nunmehr, namentlich in Warſchau, auch einen eigenen Mittel- und
Induſtrie-Stand auszubilden. Schon rüſtet man ſich in Warſchau,
einmal der Ausgangspunkt der ſibiriſchen Bahn zu ſein. Warum
Warſchau? Weil in Warſchau das eigenthümliche ruſſiſche Bahn—
Syſtem mit der etwa zwanzig Zentimeter breiteren Spurweite
anfängt. Hier alſo muß Alles, was aus Europa kommt, umgeladen
werden. Das iſt der natürliche Umſchlags-, Sortier- und Pack—
Platz. Jede neue Erwerbung, die Rußland für ſich macht, macht
es zugleich auch für die polniſche Induſtrie, die ſeiner eigenen,
älteren, mehr und mehr auf den Leib rückt. Schon bringt Polen,
das noch nicht ein Dreizehntel der Volksmaſſe des ruſſiſchen Ge—
ſammtreichs einſchließt, ein Sechstel ſeiner ganzen Eiſen- und
Stahl-, ein Viertel ſeiner Textil-Produktion hervor.“)
Gerade umgekehrt, wie man nun ſofort ſieht, liegt es in
Galizien. Kongreß-Polen wurde verbunden mit einem wirthjchaft-
(ich inferioren, Galizien mit einem überlegenen Gebiet. Wien und
Böhmen verforgten das öfterreichijche Polen jo reichlich mit Induſtrie—
Artikeln, dat eigene Manufakturen nicht auffommen fonnten. Dieje
natürlichen Verhältnifje find jtärfer als alle Pläne und Bejtrebungen
einer Regierung. Galizien iſt ein rücjtändiges agrarijches Gebiet
geblieben: erjt regierte hier die indolente öſterreichiſche Bureaufratie,
dann fam der polnijche Adel wieder ans Negiment: das Ergebnif
it Fortſetzung deſſen, was wir in Deutjchland „polnische Wirthjchaft“
nennen. Armuth, Wucher, Korruption find die Phyſiognomie diejer
Zandichaft und dieſer Gejellichaft.
*) Neue Zeit. 14. Jahrgang. 2. 3b. €. 466. (1891.)
112 Ruſſiſch⸗Polen.
Sollen die Polen den Ruſſen nun dankbar ſein, daß ſie ſie aus
ſolchen Zuſtänden gerettet und davor bewahrt haben? Dazu gehörte
doch wohl, daß die Ruſſen, dies zu leiſten, den guten Willen gehabt
hätten, wie etwa die preußiſche Regierung, die doch mit vollem
Bewußtſein ihre polniſchen Unterthanen in das deutſche Kulturleben
übergeführt hat und ſie gern und voll daran theilnehmen läßt.
Die ruſſiſche Regierung aber hat Alles gethan, was in ihren
Kräften lag, den polniſchen Aufſchwung zu verhindern. Ihre
Schutzzölle ſollten dienen, in Moskau, am Don und am Ural eine
Induſtrie großzuziehen, aber nicht in Warſchau, Lodz und Czenſtochau.
Mit aller wünjchenswerther Deutlichfett wurde das amtlich aus—
gejprochen. Als 1887 die Eijenzölle von Neuem erhöht wurden,
ordnete der Allerhöchite Befehl vom 21. April/3. Mai an: „Den
Miniitern der Neichsdomänen und der Finanzen wird aufgetragen,
baldmöglichit gemeinfam auszuarbeiten und zur Prüfung in vor—
gejchriebener Ordnung vorzujtellen Vorjchläge zu Maßnahmen, um
in den wejtlichen Grenzgebieten der weiteren Entwidlung der be-
jtehenden und der Entjtehung jolcher neuen Gußeifenjchmelzereien
und Gijenwerfe vorzubeugen, welche mit fremdem Material und
unter Beihülfe fremder Arbeiter arbeiten“. Aber diejer Allerhöchite
Befehl iſt machtlos geblieben, denn die große Induſtrie blüht nur
auf Nulturboden und davon findet man in Rußland nocd immer
unendlich wenig, in Bolen, dem Nachbarlande Deutjchlands, viel
mehr und das giebt den Polen über Rußland ein wirthichaftliches
lebergewicht, welches ſich durch das Anwachjen des intelligenten
polnischen Mitteljtandes noch fortwährend weiter ausdehnt. Neben
den Deutjchen und deutjchiprechenden Juden, die ja vorlängjt im
wirtbichaftlich-indujtriellen Yeben Rußlands eine prävalirende Rolle
gejpielt haben, treten jetzt ſehr jtarf die Polen auf. Ich
fragte einem hohen ruſſiſchen Beamten, der im Unterrichtswejen
iteht, ob es richtig jet, daß gerade die Verdrängung der Bolen aus
dem Beamtenthum dem polnischen Wirthichaftsieben durch Die
Sntelligenzen, die in diefe Sphäre hinübergejchoben würden, jo jebr
zu Gute fomme. Nicht nur das, jagte er, jondern jchon auf Die
polnischen Schulen wirft es. Jedes polnische Kind weiß bereits:
ich habe nirgends in den hohen Behörden einem Onfel oder Better,
der mir einmal helfen wird; nur durch) mich jelbjt fann ich
etwas erreichen. So werde jchon von früh auf jedes fleinjte
Talent bei den polnischen Knaben wie Mädchen jorgjam ausgebildet.
Die Ruſſen aber wüßten, daß jte im Tſchinownikthum auf jeden
Nuffifh-Polen. 113
Fall ihr Unterfommen finden. So gejchieht es, daß der Stand
der polnischen Techniker weit nach Rußland hinein berufen wird,
um die ruffiichen Arbeiter anzuleiten und zu beaufjichtigen. Aus
freiwilligen Gaben jind jet mehrere Millionen Rubel zujammen-
gebracht, um in Warjchau ein Bolytechnifum zu gründen.
Der industrielle Aufjchwung, den Polen genommen, hat jo
viel Wohljtand ins Land gebracht, daß man jelbjt die jehr üble
Lage, in der jich der Großgrundbefig befindet, darüber verjchmerzt.
Der polnische Großgrundbefizer hat nicht den hohen Schubzoll
(etwa 25°/, des Werthes), der noch heute den deutjchen jchügt; im
Gegentheil, da8 Land wird überjchwemmt mit dem durch die über:
aus billigen Bahnfrachten mobil gemachten innerruffifchen Getreide.
Dabei ziehen im Süden die Arbeiter ab in die Fabriken und Berg:
werfe, im Norden gehen jie als Wanderarbeiter über die Grenze
nach Deutjchland. So it in Polen Mangel an ländlichen
Arbeitern ganz wie bei uns, und bei ihrem geringen Wohlwollen
für den polnischen Adel hat die ruſſiſche Negierung bisher nichts
gethan, dem abzuhelfen. Jetzt freilich joll fie ernitlich der Frage
der Wanderarbeiter näher getreten fein und Prüfungen anjtellen.
Unjere Yandwirthe mögen fich das gejagt jein lafjen: jperrt die
rujjiiche Regierung einmal die Grenze und entzieht den Arbeitern
das Benefizium der billigen Päſſe, jo bricht über unfere öjtliche
Zandwirthichaft eine Kataftrophe herein.
Bon der eigenthümlichen wirthichaftlichen Symbioje Polens
mit Rußland wird man ausgehen müfjen, wenn man den heutigen
politifchen Zujtand verjtehen will. Die Ruſſen regieren in Polen,
aber die Polen nugen Rußland wirthichaftlich aus. Als ich die in
unjerem vorigen Heft veröffentlichte Denkſchrift des General-
Gouverneurs Fürſten Imeretinsky las, hatte ich das Gefühl: wie
fann ein jo kluger Mann, wie diejer georgijche Fürft offenbar ift,
ji) der Hoffnung Hingeben, daß die Polen fich jemals dem
rujjiihen Staatsgedanfen unterwerfen werden? Er felber jchildert
ung ja, wie jchlechthin ablehnend gegen alles Ruſſiſche fich die oberen
Stände bisher verhalten und wie auch der Bauernitand, der bisher
zu Rußland hielt, anfängt in das andere Lager überzugehen.
Wenn er jchlieglich behauptet (j. Sept.-Heft ©. 440) eine neue
Strömung lafje ſich bemerfen; ein Kreis von Intelligenzen habe
die Kühnheit, laut zu erklären, es jei im Interefje der polnijchen
Gejellichaft, mit der rufjischen Regierung in Frieden und Ein-
verjtändniß zu leben, wenn nur die Regierung feine Invafion in
Breußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 8
114 Ruſſiſch⸗Polen.
das Gebiet des katholiſchen Glaubens, der polniſchen Sprache und
Nationalität mache — darf man das glauben? Der Aufenthalt
in Polen hat mich belehrt, daß die Hoffnungen Imeretinskys doch
nicht ſo völlig illuſoriſch ſind. Freilich ein Theil der Polen,
namentlich die Jugend, hält an dem alten Ideal eines zukünftigen,
unabhängigen Nationalſtaates feſt. Aber ein ſehr großer Theil
und wie mir ſcheint, die eigentliche Intelligenz und der maßgebende
Theil des Polenthums hat erkannt. daß alle Träume vom zu—
künftigen Nationalſtaat Utopien ſind. Früher wurden alle Hoff—
nungen auf Frankreich geſetzt. Frankreich iſt herabgeſtürzt von
ſeinem früheren Stand und findet ſeine letzte Zuflucht in der
Allianz mit Rußland. Oeſterreich hat den Polen immer noch ge—
wiſſe Ausſichten geboten; Oeſterreich iſt in völlig deſolatem Zu—
ſtand. Eine Zeit lang bat man die Hoffnung auf Deutſchland
gejeßt; Deutjchland ijt wieder qut Freund mit Rußland geworden
und haft die Bolen. An eine Erhebung aus eigener Straft denken jelbjt die
Phantaſten nicht- mehr. So hat fich eine opportunijtijche Partei ge:
bildet, die geneigt tjt, dem Fürſten Imeretinsky entgegen zu kommen.
Das iſt nicht etwa die alte panjlavijtısche Partei, die auf die Eigenart
der Nationen verzichten will, zu Gunjten einer ſlaviſchen Raſſen—
Einheit. Dieje Partei hat — zum Heile Europas — bei den Bolen
doch immer noch wenig Anklang gefunden. Man will jich nicht
der rufjischen Nationalität, jondern nur dem rujjiichen Staats:
gedanken unterwerfen unter der Bedingung, daß Die polntiche
Nationalität dabei erhalten bleibe. Das iſt alfo in der That das,
was Imeretinsky anbietet.
Daß diejer Gedanke ein jehr fünftlicher ist, leuchtet ein. Aber die
abjolute politifche Nothiwendigfeit erzwingt zuweilen jo fünjtliche
Bildungen und es fehlt nicht an MAnalogien. Soeben find die
Delegirten von acht deutjchen Univerfitäten in Siebenbürgen gewejen,
um der Enthüllung des Denkmals für den Bifchof Teutjch bei:
zuwohnen und den fernen Volksgenoſſen Zeugnig abzulegen, das
wie jie mit ung, jo wir mit ihnen uns Eins fühlen in der nationalen
deutichen Gefinnung. Dieje Stebenbürger Sachjen aber, in der
Unmöglichkeit, je mit dem Vaterlande politifch vereinigt zu jein,
haben im vollen Ernjt ji) dem ungarischen Staatsgedanfen an—
gejchlofjen unter der Bedingung, daß man ihnen ihre Nationalität
ungefränft läßt. So haben jie nicht nur den magyarijchen Staats:
männern, jondern auch den deutjchen Gäſten verfichert und es üt
nicht möglich, einen Zweifel in ihre Worte zu jegen. Etwas Aehn-
Nuffish- Polen. 115
liches nun, wenn aud) ganz von fern erjt, jcheint ſich mir in
Ruſſiſch-Polen anzubahnen. Gegenüber den alten Intranfigenten
bildet jich eine opportuniftiiche Partei, die auf die europäiſche Lage,
die Nuglofigfeit des revolutionären Strebens, die Opfer und
Schmerzen, die das ewige Martyrium fojtet, endlich auf das wirth—
jchaftliche Gedeihen und die Vortheile der Vereinigung mit Ruß—
land, die Schädigung, die eine Zollgrenze im Oſten anrichten
würde, hinweiſt und auf Grund all diefer Betrachtungen nad)
einem modus vivendi ſucht.
Wie weit diefe Stimmung bereit3 um ſich gegriffen hat, mögen
einige fleine Erlebnijje und Zwijchenfälle bezeugen, wo fie ganz
abſichts- und zufammenhangslos zu Tage trat.
Ich fragte in Gejelljchafteiniger polnischer Herren, ob jchon Söhne
der alten Magnaten:Gejchlechter in die ruſſiſche Armee eingetreten
jeien. Die Frage wurde verneint und ein junger Gelehrter, der
eben erjt dazu getreten war, fügte ohne Weiteres ein „leider noch
nicht“ hinzu.
Indem ich mein Erjtaunen über das Wachsthum der polnischen
Induftrie ausjprad), wandte ſich das Gejpräch auch auf die ruſſiſche.
Es hätte nahe gelegen, dieje der polnischen gegenüber herabzujegen.
Aber ganz im Gegentheil, jo gern man auch hervorhob, wie der
polnische Technifer und Adminijtrator auch) von den ruſſiſchen
Kapitalijten und Gutsherren den eigenen Yandsleuten vorgezogen
werde, jo hatte man doc) auc) volle Anerkennung für das Gedeihen
und die Solidität der ruſſiſchen Indujtrie, die ja freilich zum großen
Theil von fremden und mit fremdem Gelde betrieben wird. Um:
gefehrt gab man zu, daß das überhajtige Wachjen Warjchaus
mancherlei Schwindel im Gefolge gehabt habe. Man war gerade
in Beforgnif vor einem Krach. Aber die wirthichaftliche Zukunft Ruß—
lands wie im Bejonderen der ruffiichen Staatsfinanzen wurde höchit
günftig beurtheilt. Die militärijche Kraft Rußlands, hieß es, werde
im Wejten vielleicht überjchäßt, die wirthichaftliche aber unterjchäßt.
Nur der rujjiiche Weinbau fand wenig Anerfennung: Der Krim—
wein iſt jehr gut, Sigbäder darin zu nehmen, jonjt aber nicht,
wurde mir erflärt, al8 ich wiünjchte, auch dieſes Yandesproduft
fennen zu lernen. Andere freilich behaupten, es gäbe auch jehr
gute Lagen.
Eine wahrhaft freudige Anerkennung fand endlich das rujjiiche
Branntwein-Monopol. Es wirfe überaus jegensreich, da die jtaat-
lichen Agenturen ein von jchädlichen Zubjtanzen freies, gereinigtes
8*
116 Ruſſiſch⸗Polen.
Getränk in verſchloſſenen Flaſchen verabreichen*), die verderblichen
jüdiſchen Schänken aber und der Vertrieb auf Borg mit dem
daran hängenden Wucher beſeitigt ſind. Vereine zur Veredelung
der Volksfeſte ſuchen den Alkoholismus noch weiter mit Erfolg zu
bekämpfen.
Ich glaube kaum, daß man früher, als der böſe Feldmarſchall
Gurko noch in Warſchau waltete, ſo viel unbefangene Anerkennung
für Ruſſiſches aus polniſchem Munde hätte hören können und
ſehe darin ein Zeichen, daß das Streben des Fürſten Imeretinsky
auf gegenſeitige Annäherung nicht ohne Widerhall geblieben iſt,
denn nicht nur an einer Stelle, jondern an ganz verjchiedenen
und bei verjchiedenen Gelegenheiten habe ich ſtets diejelbe Beob—
achtung gemacht. Ob nun aber der modus vivendi wirklich ge—
funden werden wird, das ijt eine Frage, die ich noch feinesmweas
bejahen möchte. Die Bedingung it ja, daß die Polen den
ruffiichen Staatsgedanfen annehmen und der ruſſiſche Staat it
ein och, das die Ruſſen jelber faum zu tragen vermögen. Nur
durch Abjperrung von der europätichen Gedanfenwelt und jtrengite,
jtete Beauflichtigung glaubt der ruſſiſche Staat jeine Autorität
aufrecht erhalten zu fünnen. Die Zenjur prüft jedes Wort, che
e8 gedrudt werden darf, ja jelbit jede Injchrift, jedes Firmen:
Schild. Iedes Buch, jede Zeitjchrift, jede Zeitung, die die Grenze
pajjirt, wird einer Unterjuchung unterworfen und was dem Geiite
eines loyalen ruſſiſchen Unterthanen jchädlich jein möchte, aus-
gejchnitten oder durch Ueberſtreichen mit Druderjchwärze unlejerlich
gemacht. Man denfe, welche Aergerlichkeiten, welche Thorheiten,
welche unwürdigen Eingriffe hier täglich das Leben des gebildeten
Mannes mit Bitterfeit erfüllen müfjen. Auch der perjönliche Ver-
fehr mit Kultur-Europa joll möglichit unterbunden werden. Für
jede Neife bedarf man eines Paſſes, der in Warſchau etwa jechs-
unddreigig Mark fojtet. Katholische Priejter aber, es jet denn,
daß fie ein ärztliches Attejt beibringen, erhalten überhaupt nicht
die Erlaubniß zu einer Neije ins Ausland.
Das führt bereit3 auf die befonderen Bejchwerden und Be-
jchränfungen, denen Polen unterworfen iſt. Zum rufjiichen Staats:
gedanfen gehört die Einheit von Staat und Kirche. Zwar die
*) Jh berichte, was ich gehört habe. In ftartem Widerfpruh damit
jteht, was Fr. K. Witte im feinen jüngfi erſchienenen „Ruſſiſchen Reife
eindrüden“ (Roftod 1899) erzählt. Er findet zwar aud die erfte Dualität
des Monopol-Branntweins ſehr gut, Die zweite, für den gemeinen Mann
beftimmte aber „abſcheulich“ und dabei zu billig.
Ruſſiſch⸗Polen. 117
beſtehenden religiöſen Abweichungen werden tolerirt, aber unver—
brüchlich gilt das furchtbare Geſetz, daß, wer einmal zur orthodoxen
Kirche gehört, nicht aus ihr austreten darf. Hunderttauſende von
Katholiken ſind einmal in ſogenannten unirten Kirchen getauft
worden, die ein Ukas wieder von der katholiſchen Kirche getrennt
und zur orthodoxen hinübergeführt hat. Nun ſollen auch alle in
jenen Kirchen Getauften und ihre Nachkommen orthodor ſein.
Sie weigern ſich deſſen; ſie laſſen ſich in den orthodoxen Kirchen
nicht trauen, ſchleichen über die Grenze, um in Galizien einen
katholiſchen Prieſter zu finden oder leben lieber in wilder Ehe.
Anarchiſch-ſoziale Zuſtände ſind die Folge.
Ruſſiſch iſt in Polen die Staats- und Schul = Sprache.
Das iſt nicht ſo ſehr drückend, da Ruſſiſch und Polniſch ſehr nahe
verwandt ſind. Es ſei nicht verſchiedener als Hochdeutſch und
Plattdeutſch ſagen die Einen, als Hochdeutſch und Holländiſch die
Anderen. Die ruſſiſche Schrift macht faſt die größte Schwierig—
keit. Aber das ruſſiſche Schul-Syſtem im Ganzen genügt den
Polen nicht. Die Ruſſen behaupten zwar, es ſei beſſer als das
frühere polniſche, aber das beſagt vielleicht nicht ſo viel und die
Polen verlangen heute mehr. Der ruſſiſche Aberglaube verhindert
die Einführung des richtigen Kalenders; in Folge deſſen müſſen alle
großen Feſte in Polen doppelt gefeiert werden, einmal nach dem
kirchlichen (europäiſchen), zwölf Tage ſpäter nach dem ruſſiſchen
Kalender. Die Schulen haben auf dieſe Weiſe nur einhundertund—
fünfzig Unterrichtstage im Jahr: da kann das Lern-Penſum des
modernen Menjchen jchwerlich bewältigt werden. Ueberdies ver:
langen die Polen, daß wenigjtens die polnische Sprache und
Yıteratur in der eigenen Sprache gelehrt werde.
Die ländliche Volksſchule Fehlt noch in Polen wie in Rußland
jo gut wie ganz und das iſt nicht ein bloßes Manko, jondern
Syitem. Derjelbe ruſſiſche Staat, der die oberen, lejenden
Klaſſen in Vormundjchaft nimmt und ihnen vermöge der Zenſur
nur die Gedanken zufommen läßt, die er jelber approbirt, derjelbe
Staat wünjcht ein geiſtiges Yeben bei den unteren Klaſſen über:
haupt nicht und hält es nicht nur für überflüffig, jondern für
jhädlich und gefährlich, wenn fie Lejen und Schreiben lernen.
Auch das Aufjteigen der begabteren Söhne des Volkes zu höherer
Bildung wird möglichit hintangehalten. Die Zahl der Schulen it
gering und die Stellenzahl in jeder Klaſſe bejchränkt, jo daß es
jelbjt für gebildete Familien oft jehr jchwer iſt, die Schulpläge für
118 Ruſſiſch-⸗Polen.
ihre Kinder zu erobern. Selbſt die Zahl der Studenten in den
verſchiedenen Univerſitäten iſt neuerdings auf ein Maximum feſt—
geſetzt worden, um die jungen Männer beſſer beaufſichtigen zu
können, und um den Geiſt der Auflehnung, der ja in dieſem Sommer
zu Unruhen führte, völlig zu brechen, iſt vor wenigen Wochen ein
Ukas erſchienen, wonach die Behörde jeden Studenten, der ſich an
einem akademiſchen Spektakel betheiligt, ohne Weiteres auf zwei
oder drei Jahre als gemeinen Soldaten in die Armee ſtecken
kann. Das ſind heute noch die ruſſiſchen Ideen über Bildung,
Recht und Kriegerſtand. Die Armee eine Strafanſtalt, die
akademiſche Jugend unter der Fuchtel, Bildung ein Gift, das nur in
kleinen Doſen gegeben werden darf. Aus ſolchen Unterrichtsanſtalten
gehen die Klaſſen hervor, die das Weltreich zu regieren haben.
Macht man ſich klar, was der ruſſiſche Staatsgedanke that—
ſächlich iſt, ſo ſcheint es unmöglich, daß ein Volk wie die Polen,
das den Anſpruch erhebt, ein Glied der weſtlichen Kulturwelt zu
jein, ſich ihm jemals unterwerfe oder auch nur einen modus
vivendi mit ihm finde. Aber die Noth, jagt das Sprichwort, macht
wunderliche Schlafgejellen. Los von Rußland fünnen die Polen
einmal nicht, und werden jie bejjer daran jein, wenn fie in der
ewigen abjoluten Oppofition verharren? 8 giebt doch aud) wieder
Momente, die den Ausgleich erleichtern. In erjter Linie kommt
den Nufjen in merfwürdiger Weife die Abwandlung zu Gute, die
ſich jüngjt in den politischen Ideen des weitlichen Europa vollzogen
bat und die ich als den Banferott des parlamentarijchen Idealis—
mus bezeichnen möchte. Man will ja bei uns feineswegs wieder
zum Abjolutismus zurüdfehren, aber die Vorjtellung, daß man im
Konjtitutionalismus den Idealjtaat erreichen würde, die die Köpfe
und Herzen unjerer Väter beherrjchte, ijt vergangen. Wer jpricht
heute vom Ddeutjchen Neichstag, oder preußischen Landtag, Ab—
geordnetenhaus wie Herrenhaus mit bejonderem Reſpekt? Du Lieber
Gott! Wer verherrlicht heute noch die freie Prefje? Man wei
nicht verächtlich genug von den Zeitungjchreibern zu reden. Es it
ein Rückſchlag in den Stimmungen eingetreten, der bis nach Ruß—
land hin gewirft hat. Sch war ganz erjtaunt, aus polntijchem
Munde zu hören, daß die Autofratie doch eigentlich die beite
Negierungsform jei. Goethe hat fich ja einmal für die Ein
ichränfung der Preffreiheit ausgejprochen: „Eine Oppofition, die
feine Grenzen bat, wird platt. Die Einjchräntung aber
nöthigt fie, geiftreich zu jein und das ijt ein jehr großer Vortheil.“
Ruſſiſch⸗Polen. 119
Man dürfe nicht direkt und grob ſeine Meinung heraus ſagen, ſondern
müſſe ſie feiner auf indirekte Weiſe zu verſtehen geben. Als draſtiſches
Gegenſtück zu dieſem erlauchten Ausſpruch mag ich das Wort eines
Polen wiederholen, der zu mir ſagte: „Wir leben hier unter der
Koſakenpeitſche, aber das macht klug. Wir ſind hier mehr als unſere
Landsleute in Preußen, die an der deutſchen Bildung theilnehmen.
Was ſpielen dieſe denn für eine Rolle in Ihren Parlamenten?“
Das zweite Moment, das in Betracht kommt, iſt die ſoziale Folge
der Umwandlung Polens aus einem Agrar- in ein Induſtrieland.
Iroß aller Abjperrung dringen die jozialdemofratijchen Ideen auch
in die polnische Arbeiterjchaft ein und je weiter das fortjchreitet, dejto
mehr wird die Neigung der oberen Klaſſen wachjen, jich an Die
beitehende Staatsgewalt, und wenn e8 auch die rujjiiche it, ans
zujchliegen. Auf diefen Punkt it jchon von der jozialdemofratischen
Seite jelber, durch Roja Luxemburg aufmerkſam gemacht worden.
„Der polnische Adel, die polnische Geiftlichfeit und Bourgeoifie fühlen
ſich wohl im Hundeloch und fangen an, die injurreftionelle Fahne
abzujchwören“ zeterte ein polniſch-ſozialiſtiſcher Aufruf.
Das dritte jehr wichtige Moment, das eine polniſch-ruſſiſche
Annäherung ermöglichen würde, it die Leichtigfeit, mit der die
Bedingung der Polen, Wahrung ihrer Nationalität, erfüllt werden
fann. Die Gefahr einer Ruſſifikation ijt für die Polen that:
jächlich nicht vorhanden. Alle Gewaltjamfeiten Gurfos haben da=
rin nicht das Geringjte erreicht und einfichtige, unbefangen urtheilende
Ruſſen haben mir gegenüber auch entjchieden bejtritten, daß fie je
beabfichtigt gewejen jet. Was man wolle und gewollt habe, jei
die Durchführung der ruffischen Staatsiprache, denn Rußland jei
fein söderativ-Staat. Man berief jich darauf, daß eine große
polnische Preſſe ungehindert eritiere und daß der rufjiiche Staat
das polnijche Nationaltheater in Warjchau nicht nur dulde, jondern
aus öffentlichen Mitteln jogar unterjtüge. Was nun auch die Ab»
jiht Gurfos gewejen jei, der jetige Gouverneur Imeretinsfy will
jedenfall von dem Gedanken der Rujjifizirung nichts wijjen. Er
jelber jpricht mit den Polen auf jeinen Gejellichaften polniſch und
er hat den Polen erlaubt, dem Dichter des Patriotismus, Miciewicz,
dejien Werfe nur zu bejigen, früher Sibirien in Ausficht jtellte,
ein jtattliche8 Denkmal mit polnischer Injchrift zu ſetzen. Daß er
damit in der That den Polen ein jtarfes Pfand für feinen
Willen auf Ausjühnung gegeben hat, wird erhellen, wenn man
etwa folgende Lieder der Gefangenen aus Midiewicz’ „Dziady“ Lieft:
120 Ruſſiſch⸗Polen.
Der Erſte: „Damit ich gläubig werde, muß ich erſt Jeſus
und Maria den Zaren, der mein Land beſudelt, züchtigen ſehen.
So lange der Zar lebt und Nowoſilcow trinkt und ich ſelbſt
Sibirien fürchten muß, jo lange darf Niemand erwarten, daß ich
rufen werde: Jeſus, Marta!“
Der Zweite: „Was thut es, wenn ich Verbannung, Zwangs-
arbeit, Stetten ertragen muß, wenn mir nur als treuem Unterthan
geitattet wird, für meinen Zaren zu arbeiten! — Wenn ich in den
Bergwerfen mit Fleiß und Kunſt jchmieden muß, jo jage ich mir:
Diejes graue Eijen wird eines Tages eine Art für den Zaren. —
Falls ich aus dem Zuchthauſe herausfomme und mir ein junges
tatarisches Frauenzimmer zum Weibe gegeben wird, jo jage ich zu
ihr: Gebäre mir einen Pahlen für den Zaren (Bahlen, der Mörder
Pauls I.) — Schidt man mich als Koloniſten aus, werde td)
Hetman oder Bojar, jo will ich auf meinem Acker Hanf jäen, nur
Hanf, für den Zaren. Aus Hanf macht man einen Strid, einen
grauen Strid, den man mit Silber einflechten fann; vielleicht wirft
ein Orlow die Schärpe um den Hals des Zaren. (Orlow, Der
Mörder Peters III)“
Der Dritte: „Mein Geiſt war verjtummt, mein Lied lag im
Srabe, aber mein Genius hat Blut gewittert, und mit einem Schrei er:
hebt er fi) wie ein Vampyr, begierig nad) Blut. Er durjtet nad)
Blut, nad) Blut. Ia, Rache, Nache! Rache über unſere Henter!
Rache, wenn Gott will, und wenn Gott nicht will!“
Was Imeretinsty jonjt beabjichtigt, it unjeren Lejern ja bereits
aus der von Herrn Rohrbach veröffentlichten Denkſchrift befannt, auch
der Widerjtand, auf den er in Petersburg jtößt. Die Einführung einer
Anzahl polnischer Unterrichtsitunden an den Gymnaſien, worauf
die Polen natürlich bejtehen müſſen, ijt bisher noch nicht genehmigt.
Mag nun aber der General-Gouverneur durchdringen oder nicht,
jedenfalls it jeine Idee die eines klugen Nealpolitifers, denn Die
Ruſſifizirung Polens iſt eine Utopie. Ich jtellte einmal in einer
Sejellichaft polnischer Herren in Warjchau die Frage: Wenn ein
Role jich entnationalifirt, wird er dann ıeichter ein Deutjcher oder
ein Ruſſe? Ein jüngerer Schriftiteller war zunächjt geneigt, ſich
für den Ruſſen zu entjcheiden, indem er auf die Einheit der Raſſe
und die Verwandtjchaft der Sprachen hinwies. Dann aber jchlof
er fi) doch aud) den anderen Herren an, welche einjtimmig ihre
Meinung dahin abgaben: leichter ein Deutjcher. Denn beim
Uebergang zum Deutſchthum jet e8 dem Polen noch möglich, jeine
Ruſſiſch⸗Polen. 121
Religion zu behalten; vom Ruſſenthum aber ſei unzertrennlich die
orthodoxe Kirche und zu dieſer hinabzuſteigen, ſei ſchlechterdings
unmöglich. Es hätte zwar in Petersburg einmal einen Mann ge—
gegeben, der zugleich Pole und griechiſch-orthodox ſein wollte, aber
er ſei auch einzig in ſeiner Art geweſen und werde es bleiben.
Gerade dieſe Unmöglichkeit, daß die Polen jemals Ruſſen
werden, auch wenn ſie die ruſſiſche Sprache lernen und ſich dem
ruſſiſchen Staatsgedanken anſchließen, erleichtert nun die Annäherung,
weil die Polen dabei für ihre Nationalität nichts zu beſorgen
haben. In kompakter Maſſe zuſammenſitzend, bleiben ſie unter allen
Umſtänden, was ſie ſind. In Preußen ſteht es umgekehrt. Hier
ſind ſie über vier Provinzen weit auseinander gezerrt, von Pleß
bis an die Oſtſee, von Meſeritz (zwanzig Meilen von Berlin) bis
Lyck vertheilt und faſt allenthalben mit Deutſchen gemiſcht. Die
Provinz Poſen ſelber hat über ein Drittel Deutſche; rein polniſche
Kreiſe und Städte giebt es nur wenige. Der Uebergang vom
Polenthum zum Deutſchthum und vom Deutſchthum zum Polen—
thum findet ziemlich häufig ſtatt. Miſchehen ſind zahlreich. Hätten
wir jtatt der jetzigen Halbheit eine wahrhaft muthige, von Selbſt—
vertrauen erfüllte nationale Bolitif, jo würde die Germanijirung
vermuthlich bald Kortjchritte machen. Die Polen jelber find fich
darüber auch ganz Far. Am Schlufje einer Gejellichaft in Warjchau
jagte mir einer der polnischen Herren, als der Wein etwas Die
Zunge gelöft hatte: „Herr Profejjor, ich will Ihnen etwas jagen,
Site find ein jehr liebenswürdiger Mann, aber Sie find wie jene
Zahnärzte, die in die Zeitung jegen: „Schmerzlojes Zahnausziehen.“
Sie wollen uns die Schmerzen dabei erjparen, aber unjere Natio-
nalität wollen Sie uns nehmen, jo gut wie die Anderen. Aber
ich jage Ihnen, wir haben eine Vitalität, die nicht zu überwinden
it. Unſere Politik iſt jegt, möglichjt viel Kinder in die Welt zu
jegen und WVohlitand zu eriverben, wir jind nod) zu arm. Curopa,
fügte er mit troßigem Humor hinzu, hält Polen für den Krebs
an jeinem Körper, aber der Krebs iſt nicht zu operiren.“
Wie wunderbar jind doch die Geſchicke der Völker. Mit welchen
Hoffnungen blidten die Italiener in die Zukunft, welche Erwartung
begte die Welt von der in Jahrtaujenden bewährten Genialität
diefer Nation, als jie die Zerrifienheit, die Fremdherrſchaft, den
Briejterdrud überwand, ihre nationale Einheit fand und als gleich:
berechtigtes Volk in die Neihe der Großmächte eintrat! Wie gar
jehr find dieſe Hoffnungen enttäujcht worden. Arm, elend, ohne
122 Ruſſiſch⸗Polen.
Ideale, ohne Talente, ohne Erfolge kriecht dieſes moderne Italien
über den Erdboden hin. Noch ſchlimmer ſteht es in Spanien.
Als einzige von allen katholiſchen Nationen hält die franzöſiſche
jih noch aufrecht, aber ohne wahre Freude am Dajein. Dagegen
Polen, das in völlige Auflöfung verjunfen, endlich von den Nach—
barn, ohne daß es auch nur einen wahrhaft großen, heroiſchen
Widerſtand geleiftet hätte, aufgetheilt wurde und zum Tode ver-
urtheilt, ausgelöfcht jchien unter den Namen der Völker! Gerade
unter der fremden Herrichaft hat es erjt jein Volksthum gefunden.
Zwiſchen einer ſtumpfen Bauernjchaft und einem wilden, ziellojen,
verrätherifchen Adel iſt ein fräftiger Mittelitand emporgewachien.
Die Dreitheilung hat das einheitliche nationale Bewußtjein jo wenig
zerrifjen, und vielleicht weniger als das der Deutjchen, die ja auch
zertheilt, unter nicht iveniger als vier Staaten, das Weich, die
Schweiz, Oeſterreich und Rußland leben. Bon allen Fatholichen
Nationen find die Polen, die früher bejonders gern als Berjpiel
angeführt wurden, wie der Katholizismus die Völfer herunterbringe,
das einzige, das vorwärts jchreitet. Man fünnte noch an Ungarn
denfen, aber es ijt nicht zu vergejien, daß fajt ein Drittel der
Magyaren protejtantiich it. Auch die Polen waren einmal für
einen Augenblid dem Protejtantismus gewonnen. Heute find Tie
fatholijch, weil der Katholizismus national iſt und fie wahren ihre
Nationalität, weil fie fatholijch jind. Die großen polnischen Tichter
waren katholiſche Romantifer. Aber fie faßten die Kirche anders
auf, und die Stirche it hier auch etwas Anderes als in anderen
Ländern. Da jie nicht daran denfen kann, nach SHerrichaft zu
jtreben, jo it jie bier tolerant; jie hütet jich, den Freidenker zu
verfolgen und Der Freidenker hütet jich, ſie anzugreifen, denn jie
jind Bundesgenofjen gegen einen gemeinjchaftlichen Feind. Wird
jie auch einmal mit diejem Feinde in ein Bündniß treten? Hier
find wir wieder bei dem Ausgangspunft unjerer Betrachtung ans
gelangt. Im Dften wohnt die Sphinx. Von einem Pol zum
anderen jchwanfen die Räthſels-Löſungen, die Antworten, die Urtheile.
Hier heit es: Rußland iſt der Koloß mit den thöneren Füßen,
binnen Kurzem wird er zujammenbrechen. Dort aber: nein, jeine
Kraft wurzelt in einem Boden, der unerjchöpflich iſt und Kraft zieht
Kraft an, nächitens wird es jogar die Polen jeinem : Staats»
gedanken unterworfen und eingegliedert haben und dann fann es
ganz Europa in die Schranken fordern.
Element.
Bon
Paul Wendland, -
Wilmersdorf b. Berlin.
Was heißt Element? Der Gebildete würde auf dieje Frage
antworten, daß man früher Feuer, Wafler, Luft und Erde Elemente,
d. h. Grundftoffe, aus denen alle zujammengejegten Körper ge—
bildet jein jollten, genannt habe. Der Gebildete weiß auch, daß
die moderne Chemie fiebzig und etliche Elemente unterjcheidet; er
weiß vielleicht auch, daß die junge Wiſſenſchaft damit noch feines-
wegs am Schlujje ihrer Weisheit angelangt it. Jedem iſt aud)
ein anderer Gebrauch des Wortes geläufig: Wir reden von Elementen
der verjchiedenen Wijjenjchaften, vom Elementarunterricht, al® dem
Unterricht in den Anfängen des Wiſſens, wörtlich in den Buch:
itaben. Da liegt auch dem Laienverjtande die Frage nahe: Welches
ift der urjprüngliche Sinn des Wortes? Bezeichnete es anfänglich
die Anfangsgründe des Wiſſens oder die vermeintlichen Grund—
jtoffe der Körperwelt? Dieje Frage führt zu der weiteren: Welches
iit die Grundbedeutung des Wortes, von welchem Stamme it es
abgeleitet? Mancher Gebildete würde ſich vielleicht bei der Antwort
beruhigen, es jei eben ein lateinijches Wort; der deutjche Sprad)-
verein fünnte uns etwa eine oder mehrere Verdeutjchungen freundlic)
vorjchlagen (durch deren Annahme wir uns übrigens eines guten
Stüdes Sprach- und Kulturgejchichte berauben würden). Klügere
werden der Frage gegenüber ihre Unfenntniß eingejtehen, und jie
brauchen jich ihrer um jo weniger zu jchämen, als die Philologie
jelbjt bisher feine Antwort auf die Frage gefunden hatte, wenigitens
124 Element.
feine überzeugende. Bon den bisherigen Berjuchen, der Bedeutung
des elementum auf den Grund zu gehen, jet nur ein ganz finnreicher
erwähnt. Wie wir vom ABC, die Griechen vom Alphabet reden,
jo hat man elementum aus der Zujammenjtellung der Buchſtaben
LMN erflärt. Aber dieje Erklärung jcheitert jchon an der That-
jache, daß auch die römischen Schulfinder mit ABC anfingen, man
aljo vielmehr ein Wort abecetum hätte bilden müjjen.
Der Wunſch, über Gejchichte und Urjprung des Wortes ins
Meine zu fommen, hat einen unjerer erjten Bhilologen zu einer
weite Gebiete der Sprachgejchichte und des menschlichen Denkens
um}pannenden Unterjuchung*) geführt, die zunächit für Philologen
beitimmt iſt, deren Ergebnifje aber das Intereſſe weiterer Kreiſe
zu weden vermögen. Sch möchte die Yejer bitten, den Weg, den
uns Diels vorangegangen it, an meiner Hand zurüdzulegen. Die
weite Wanderung wird, hoffe ich, jie nicht ermüden. Denn auch
ehe wir zum ‚tele gelangen und zur stage, von der wir aus
gegangen find, zurüdtehren, giebt e8 am Wege manche jchöne
Blume zu pflüden, manche weite Ausficht in eine Landſchaft von
ojt zauberhaften Neizen zu genießen.
Diels rühmt gegenüber der landläufigen ungünjtigen Be—
urtheillung mit Recht die technijchen Leiſtungen des Alter—
thums**), das jogar der moderniten Zeit die Erfindung Des
Waarenautomates und des Tarameters vorweg genommen hat, das
nahe an der Grfindung der Buchdruderfunjt gewejen jet und
ſie nur aus künſtleriſchem Gefühl verjchmäht habe, weil ein antifes
Auge die jtereotype Unjchönheit des Letterndrudes nicht ertragen
hätte. Er will damit jicher nicht leugnen, daß der dichterifche und
jpefulative Trieb doch der Grundzug des griechischen Geijteslebens
it und deſſen innerjtes Wejen uns erjt erichließt. Der Grieche
faßt die Außenwelt mit jcharfem Blide auf. Aber kaum hat er
begonnen, einzelne Erjcheinungen zu beobachten und zu erflären,
jo meint er auch, das Weltall bemeijtern zu fünnen. Der fühne
Sedanfenflug trägt ihn über alles Einzelne hinweg zu einer fünjt-
lertichen Gejammtanjchauung der Welt in ihrer Entjtehung und in
*) 9. Diels, Elementum. Cine Vorarbeit zum griehifchen und Iateinifchen
Thejaurus. Leipzig, Teubner 1899. 93 ©.
*) Für die tehnifhen und naturwiſſenſchaftlichen Leiſtungen des Alterthums
verweiſe ich gern auf die Schrift eines der beſten Kenner dieſer Gebiete:
M. Schmidt, Zur Reform der Haffiihen Studien auf Gymnafien. Leipzig.
1899. Wie man aud über den prakiiſchen Vorſchlag des Verfaſſers
denten mag, die Brojhüre erhebt ſich hoch über die Sintfluth moderner
Reformvorſchläge.
Element. 125
ihrem inneren Zujammenhange. Es iſt leicht, diejen die wirkliche
Welt Hinter ich lajjenden Flug der Phantajie zu bejpötteln, wie
es oft gejchehen it. Wir Modernen könnten neidijch auf diejen
fejten Glauben, allen Räthjeln der Welt auf den Grund gehen zu
fönnen, bliden. Eins jollten wir nicht vergefien: Die Griechen
haben nicht nur die Probleme gejtellt, mit denen die Bhilojophie
noch heute ringt, in Griechenland iſt aud) der reine, uninterejjirte
Geiſt der Forſchung, der nichts als die Wahrheit will, geboren
worden. Was iſt ung dagegen Aegypten, Babylon, Indien ?
An der Schwelle griechifchen Denkens nun taucht das Stoff:
problem auf. Giebt es wirflich jo viele grundverjchiedene Stoffe,
als die bunte Erjcheinungswelt unjere Sinne glauben machen will?
Oder ijt es möglich, die Vielheit zu bejchränfen oder gar der Welt
einen einheitlichen Sinn abzugewinnen? „Sollte die Pflanze, die
ihre Nahrung aus Erde, Luft und Waſſer zieht und jelbjt wieder
dem Thier zur Nahrung dient, während thierijche Auswurfsitoffe
wiederum die Pilanze ernähren helfen, die jchließlich gleich dem
Thierleib in jene eritgenannten Stoffe zerfällt — jollten dieje im
jteten Streislauf befindlichen Wejen einander wirflich innerlich
fremd und nicht vielmehr bloße Umgejtaltungen urjprünglich gleich-
artiger Stoſſe oder gar eines Stoffes jein?"*), Sollle etwa das
Waſſer oder die Yuft oder das Feuer der im verjchiedenen Er-
icheinungsformen ſich Daritellende Urſtoff jein? Alle dieſe
Hypotheſen ſind aufgeſtellt worden. Oder ſollte die bunte Welt
ſich nicht bejjer erflären, wenn man dieſe Urſtoffe kombinirte und
ihnen die Erde gejellte? So meinte Empedofles (5. Iahrh.), und
er iſt Damit der Vater der jo lange berrjchenden Elementenlehre
geworden. Aber it die Vorausjegung richtig, daß eins der uns
wahrnehmbaren Stoffgebilde der Urjtoff it? Sind nicht vielleicht
die qualitativen Verjchiedenheiten der Stoffgebilde nur in unjerer
jubjeftiven Wahrnehmung begründet und erijtiren gar nicht in der
Wirklichkeit? Iſt alfo nicht der Urjtoff hinter den ihrer jefundären
Eigenschaften entkleideten Stoffe zu juchen? Und fann nicht jo die
einheitliche Naturerflärung gegenüber Empedofles ihr Recht be—
halten, jo Unrecht jie hatte, wenn jie von einem der fichtbaren
Stoffe ausging? So etwa jchließt (Leukipp-) Demofrit, der Be-
gründer der Atomenlehre. Alle qualitativen Eigenjchaften zieht er
von den Dingen ab und gelangt jo zu einem Urjtoff, der aus un
*) Gomperz, Griehifhe Denker. LJ. ©. 37.
126 Element.
endlich vielen unjichtbar kleinen, im Leeren ſich bewegenden
Körpern bejteht. Nur durch Gejtalt, Anordnung, Lage unterfcheiden
ſich dieſe Körperchen, und auf ihrer verjchiedenen Verbindung
und Trennung beruht Werden und Vergehen aller Dinge.
So fannten aljo die erjten griechijchen Denfer Element und
Elemente, aber fie hatten nur die Sache, nicht den Namen, nod)
nicht einen feiten Begriff, noc) nicht das dem elementum ent:
iprechende storysiov (= stoicheion). Bald redet man von Wurzeln
des Seins, bald von Gründen, Keimen, Oejtalten, Ideen, Atomen.
Eine feſte Terminologie giebt es eben nod) nicht. Noch Platos
Zeitgenofjen gebrauchen das griechiiche Wort storysia von den An-
fängen des Wiſſens oder der Wiljenjchaften, nicht von den Urftoffen.
In der Schule Platos erjt ift die Terminologie gejchaffen und durd
die Autorität des Ariftoteles im Zuſammenhange mit der von ihm
durchgebildeten Lehre von den vier Elementen zu allgemeiner An:
erfennung durchgedrungen. |
Welche Vorjtellung wollten die Philojophen damit ausdrüden,
daß fie die Urftoffe mit dem Namen otorysia bezeichneten? Das
muß uns der jonjtige Sprachgebrauch des Wortes lehren. ateiys
(= stoichos) bezeichnet jede Art von Reihe, bald die in Reih und
Glied aufmarjchirenden Soldaten, bald die Neihe des Chores, bald
die reihen- oder jchichtenweije gelagerten Ziegel, endlich die gewiſſer—
maßen in Reih und Glied aufmarjchirenden Buchjtaben. sroryea
find die einzelnen Glieder jolcher Reihen. Die Philojophen, die
diefen Ausdrud zuerit von den Urjtoffen gebrauchen, vergleichen
diefe mit den Buchjtaben. Wie aus den Buchjtaben, jagen fie,
die Worte und der ganze Neichthum der Sprache ſich zuſammen—
jegt, jo aus den Elementen unjer Leib und die ganze bunte Er
jcheinungswelt.
Auch Demofrit und jeine Jünger verglichen die unendliche
Kombinationsfähigfeit der Buchſtaben mit der von ihnen ans
genommenen unendlichen Mannigfaltigfeit der Atomverbindungen.
Shre Gegner wandten dann in dem berühmten „Sleichnig vom
umgejtürzten Schriftfajten“*) das Bild gegen fie jelbit; jo wenig
fünne die jchöne Welt aus einem Atomwirbel hervorgehen, wie fid
aus einem auf die Erde gejchütteten Haufen von Metallbuchitaben
der Katechismus Epifurs zujammenfinden fünne.
Alfo der Vergleich mit dem Alphabet, mit den Buchjtaben als
*) S. Du Bois⸗Reymond, Neden I, 254.
Element. 127
Elementen der Sprache, der Schrift und des Wiſſens hat zur Be:
zeichnung der Urſtoffe mit dem gleichen Namen geführt. Dieje
Bezeichnung iſt dann nicht nur in der Sprache der Philojophen
(und Mediziner) feitgehalten, jie iſt in den allgemeinen Sprad)-
gebrauch übergegangen, nicht ohne unter dem Einfluffe volksthüm—
licher Vorjtellungen auch Wandlungen ihrer Bedeutung zu erfahren.
Der Boltöglaube, der fich ſtets die Natur in allen ihren Er-
jcheinungen bejeelt dachte und jich von einem unjichtbaren Geijter:
reiche umgeben fühlte, die ſtoiſche Philojophie, die die Götter als
Berjonififationen der elementaren Kräfte darjtellte, die perſiſche
Elementenverehrung, die namentlich mit dem Meithrasdienit nad)
dem Weiten dringt, die Aitrologie, die die Gejtirne als Elemente
bezeichnet, jie alle wirfen zujammen, um dem Worte oTorysiov
wie auch jeinem lateinijchen Mequivalent elementum eine perjön-
liche Bedeutung zu geben. Die Aſtral- und Clementargeijter
beginnen jchon jegt ihre verhängnigvolle Rolle zu jpielen. Man
ſchwört jegt bei den Elementen, man bannt die wohlbefannte
Schaar,
Die ftrömend fih im Dunfifreis überbreiter,
Dem Menſchen taufendfältige Gefahr
Bon allen Enden ber bereitet.
Wir kennen aus Zauberpapyri und Bleitafeln die Künſte, mit
denen die Meijter dieje Geilter und andere Dämonen in ihre Dienfte
zwingen.
Ber fie nicht fennte, die Elemente,
Ihre Kraft
Und Eigenfdaft,
Wäre fein Meifter
Ueber die Geifter.
Sp nimmt das griechiiche Wort die Bedeutung des Dämon
an oder bezeichnet auch die Bildjäule, der der Dämon einwohnt.
Noch heute nennt der Grieche storyeıa Unholde und Schußgeifter
aller Art, Baumgeijter, Fluß-, Brunnen, Teichniren. Es wäre
wohl lohnend, zu verfolgen, wie dieſer Glaube an Elementargeijter,
den Theophrajtus Paracelfus in eine Art wifjenjchaftliches Syſtem
bringt, bei den Völkern des Mittelalters fortwirft. Das „in Pot
Element“ entjtellte „Gottes Element“ zeigt jhon eine Abſchwächung
des ua), den uns unjere an die voltsthümliche Natur:
—— —
*) „Beim Element“ muß nad Grimms Lerilon im vorigen Jahrhundert
nod eine gebräudliche Betheuerung gewefen fein.
128 Element.
bejeelung anfnüpfende Dichterjprache in feiner urjprünglichen Kraft
nachzuempfinden jo jehr erleichtert. „Denn die Elemente hajjen
das Gebild der Menjchenhand.“
Diejer Volksglaube verbreitet ein neues Licht über den Sinn
mancher Pauliniſchen Stellen, die Luther nicht richtig überjegt hat
und über deren Meinung die Anfichten der theologischen Ausleger
wert auseinandergehen. Paulus wirft den galatijchen Chrijten vor:
„Wie möget ihr nun wieder umfehren zu den jchwachen und arm:
jeligen Elementen, welchen ihr wieder von Neuem dienen wollt?“
„Alſo aud) wir, da wir noch unmündig waren, waren wir unter
die Elemente der Welt gefnechtet“ (4, 9. 3). Und im Briefe an
die Koloſſer 2, 8 heißt es: „Sehet zu, daß euch Niemand vers
führe durch die Philoſophie und eiteln Trug nad) Menjchen:
überlieferung, nad) den Glementen der Welt und nicht nad
Chriſtus“. Gemeint ift die Berehrung und die Furcht vor den
fosmijchen, bejonders den Sterngeijtern. So haben die Stirchen:
väter aus dem Aberglauben ihrer Zeit heraus gewiß richtig ge:
deutet. — Die Offenbarung des Johannes fennt Engel, die über
Teuer, Wafjer, Erde walten. Und zum Beweije, welche eigenartigen
Berbindungen das ChrijtentyHum oft mit dem Aberglauben der Zeit
einging, füge ich zu den Ausführungen von Dield noch eine Ur-
funde des zweiten Jahrhunderts, in der es lautet: „Berjchieden-
artig jind die Gejtirne und ihre Kräfte, heilfame, jchädliche, rechte,
linke... . Bon dieſem Widerjtreit und Kampf der Kräfte rettet
uns der Herr und giebt uns den Frieden vor dem Kampfe der
Kräfte und der Engel, den die Einen für, die Andern wider uns
führen“.
Einen weiten Weg mußten wir zurüdlegen, bi$ wir wieder
beim lateinifchen elementum angelangt find. Wir mußten es, weil
die römische Literatur und bejonders die römische Philojophie die
meilten Gedanken von den Griechen übernommen hat und darum
nur aus griechijchem Geijtesleben heraus zu begreifen ift. So hat
denn auch das römische Wort eine Gefchichte, die der des griechiiden
parallel läuft. Auch hier iſt die urfprüngliche Bedeutung nicht „Grund:
bejtandtheil*, jondern „Alphabet“, Anfänge des Willens und über:
haupt der Bijjenjchaften. Der römische Dichter Yucretiug, der begeijterte
Apojtel der Atomenlehre, wendet im erſten Jahrhundert v. Chr. Die
elementa, d. h. die Buchjtaben als ftehendes Bild an, um durd) Die
Mannigfaltigfeit ihrer Zufammenjegungen die unendliche Fülle der
Atomverbindungen verjtändlich zu machen. Und der bildliche Ge—
Element. 129
brauch führt wie jo häufig zur Prägung eines fejten Begriffes:
Die elementa find die Atome. An ihn fmüpft dann Cicero an,
wenn er die vier Urjtoffe Elemente nennt. Damit hat er die
Tpäter überwiegende Bedeutung des Wortes gejchaffen. Es iſt nur
auffällig, wie jelten der Gebrauch des Wortes noch in dem Jahr:
hundert nach Eicero ijt, wie jehr auch die phyjifaliiche Bedeutung
zurüdtritt. Se mehr wir und der eigentlich chrijtlichen Welt
nähern, um jo ausgebreiteter wird Die Anwendung des Wortes.
So bejtätigt die Statiſtik eine Erflärung diejer Erjcheinung, auf
die jchon frühere Bemerkungen über den biblijchen Gebrauch des
Wortes führen fonnten: „In der That giebt das Evangelium den
Sclüfjel für die ſonſt ſchwer begreifliche Thatjache, daß ein ge—
(ehrtes Wort populär und jchlieglich geradezu gemein wird.“
Und der Urjprung des Wortes elementum? Jede Ableitung
des Wortes muß fünftig von der durch die Sprachgejchichte er:
wiejenen Thatjache ausgehen, dab die Urbedeutung „Alphabet“ ift.
Eine Herleitung aus einem lateinifchen Stamme it bisher nicht
gelungen, gejchweige denn eine, die diejer Urbedeutung gerecht
würde. Aber es war überhaupt ficher ein Srrweg, wenn man
nach einer lateinischen Wurzel juchte. Bor Cicero und Lucrez be—
gegnet das Wort in der römijchen Literatur nit. Das fann
fein Zufall jein, e8 muß wirklich ungebräuchlich gewejen jein. Und
das bejtätigt zum Ueberfluß ein römijcher Dichter des zweiten Jahr:
hunderts v. Ehr., der das griechijche oruysiov gebraucht; aljo gab
es noch fein römifches Erjagwort. Das bejtätigt weiter die That-
jache, daß Lucrez und Cicero, wenn fie das Wort auch gebrauchen,
es doch als ungebräuchlich und fremdartig empfinden, daß Cicero
daneben andere Umjchreibungen gebraucht, daß das Wort jich erft
allmählich und langjam einbürgert. Die jprachgejchichtliche Unter:
juchung, die jeder Worterflärung, die nicht bloße Spielerei jein
will, vorangehen muß, beweijt aljo, daß elementum ein Fremd—
wort und jein Urjprung im Griechischen zu juchen it. Damit hat
Diel3 den richtigen Weg gewieſen und vielleicht mit jeiner ans
iprechenden Erflärung des Wortes auch das Ziel des Weges erreicht:
Es wird und aus dem Alterthum berichtet, daß man beim
Elementarunterrichte den Stleinen, um jie jpielend die Elemente zu
fehren, Elfenbeinbuchjtaben in die Hand gab. Die griechijchen
Schulmeijter, die nach Italien zuzogen, werden wohl die Sitte
mitgebracht haben. Mit dem griechijchen elephas (elephantus) be—
zeichneten die Römer nicht nur das Thier, jondern auch jeinen
Breußifche Jahrbücher. Bb. XCVIII. Heft 1. 9
130 Element.
Zahn. Bon diefem Worte oder von den lautlic), auch in
griechiichen Dialeften vorauszujegenden Nebenformen elebas,
elemas wird elementum zur Bezeichnung des elfenbeinernen Buch—
jtabens abgeleitet jein. Das Bedürfniß, einen paſſenden Erjat
für das griechiiche storysiov zu jchaffen, hat Lucrez und Cicero
veranlaßt, das Wort aus der Schulitube in die Literatur ein:
zuführen und an ihm Ddiejelbe Erweiterung der Bedeutung zu voll:
ziehen, die einjt das griechiiche Wort erfahren hatte.
So jehen wir aus den Anfängen jinnender Weltbetrachtung den
Begriff des Urjtoffes auftauchen. Die mannigfachen Wortformen,
mit denen er ſich verbindet, zwijchen denen er umherirrt, ohne eine
fejte Stätte zu finden, jind Zeuge, daß der Inhalt des Begriffes noch
nicht feſt bejtimmt, jein Umfang noch nicht ſcharf umſchrieben
it. Die Denfarbeit der großen Philoſophen erjt giebt ihm einen
ſcharf bejtimmten Inhalt und bannt ihn in eine feite Form, Die
der Träger diejes Gehalte wird. Und nun hat das Wort (ostorysiov)
auch wieder jeine reiche Gejchichte. Es geht in den Volksmund
über und muß viel von feinem urjprünglichen Gehalt verlieren,
und es Ddedt den Berluft durch Verbindung mit andern Bor:
jtellungen, die den Begriff fait umwerthen. Das lateinijche Erſatz—
wort wird dann zu dem Behifel, das die an jein Original gebundene
Tradition nad) dem Weiten und zu den modernen Nationen führt.
Führwahr
Die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch,
Empfunden nur von ſtillen Erdenſöhnen.
Feſt liegt der Grund, bequem iſt der Gebrauch,
Und wo man wohnt, da muß man ſich gewöhnen.
Die Theilnahme an der Vorbereitung des Thesaurus linguae
latinae hat Diels bejtimmt, ſich durch einen praftijchen Verſuch
„ein Urtheil über Methode und Schwierigkeiten der Arbeit zu
bilden“. Und jegt, da die Verzettelung und Erzerption der Schrift:
jteller beendet und das jo zujammengebrachte Material Jedermann
in München zugänglich ıjt, da die Arbeit der Ordnung und Ber:
werthung des Materiald beginnt, beanjprucdht die an ®. von Hartel
gerichtete VBorrede des Büchleins ein ganz bejonderes Intereſſe.
Sie lehrt uns, was wir vom Thejaurus erwarten, was wir nicht
fordern dürfen. Grjchöpfende Monographien, die die Geijtesarbeit
und Kulturentwidelung, die ſich in der Gejchichte einzelner Begriffe
wiederjpiegelt, gejchichtlich darlegen, dürfen wir nicht fordern. Das
Wenige, was in dieſer Richtung bereits geleistet worden it, wird
Element. 131
natürlich verwerthet werden. Aber nur aus griechiicher Kultur
fann die Sprache eines Volkes, das „die Fluth des Hellenismus
über jich hat ergehen lajjen“, auf weiten Gebieten begriffen werden,
und die Thatjache, daß die Gejchichte der einzelnen Wiljenjchaften
und der Technik bei den Griechen erjt in den Anfängen jtedt, daß
wir einen Theſaurus der griechijchen Sprache, wie wir ihn brauchen
und wie er eigentlich die nothwendige Vorarbeit eines lateintjchen
wäre, nicht haben, zwingt bier zur Bejcheidung und Bejchränfung,
zu einer Herabjtimmung der idealjten Forderungen an die Lexiko—
graphie. Möchte der Wunjch in weitere Streije dringen, daß
Spezialunterfucjungen, die das Material des Thejaurus benußen,
dieſem in nächſter Zeit neue Gejichtspunfte zuführten!
Und vielleicht ift auch wenigitens der erjte Anjtoß zur Er—
füllung des Wunjches eines Thejaurus der griechiichen Sprache
dadurch gegeben, daß Dield die unendlichen Schwierigfeiten der
Aufgabe jcharf ins Auge faßt und praftifche Vorjchläge macht, fie
zu bewältigen. Für ung wirds ein frommer Wunjch bleiben, ein
Traum, den wir nicht mehr erfüllt jehen fünnen, der in uns das
wehmüthige Gefühl wect, wie unendlich weit Wijjen und Können
nicht nur Einzelner, jondern ganzer Generationen auf allen Gebieten
der Wijjenjchaft hinter den legten und höchiten Zielen zurücfbleibt.
Aber etwas können wir doch, die Saat ausjtreuen, die in einer
nicht zu fernen Jufunft aufgehen fann, dafür jorgen, daß uns die
fünftigen Generationen nicht den Vorwurf machen, daß wir nicht
einmal die VBorbedingungen zum Plane des Thejaurus erfüllt haben,
nicht einmal die Wege bereitet haben. Es iſt eine tief bejchämende
Thatjache, daß zu einer Zeit, wo eine größere Anzahl jpäterer
Autoren uns in guten Ausgaben vorliegt, für die griechtjchen
Klaſſiker ſo wenig gethan it, daß man mit den Fingern einer
Hand ausfommt, wenn man die volljtändigen Klaſſiker-Ausgaben
aufzählen wollte, die durch methodijche Nusnugung des handichrift-
lichen Material eine fichere Grundlage für den fünftigen Thejaurus
geben.
9*
Der Individualismus in der Kunſtkritik.
Ton
Max Lorenz.
Kürzlich hat der im Kreiſe moderner Kunſtbeſtrebungen befannte
und mit Necht geichägte Kunftkritifer Franz Servaes unter dem
Titel „Präludien**) ein Buch veröffentlicht, in dem er je jieben
Maler und Dichter unjerer Tage charakterifirt, in der Abſicht, von
typiſchen Kunftleiftungen unjerer Zeit eine eindringliche Darlegung
zu geben. „An repräjentativen Erjcheinungen das Wejen moderner
deutjcher Kunft und Dichtung erläutern“, wollen dieje gefammelten
Aufjäge. Ich möchte dieſes jehr eigenartige und geiſtvolle Bud
benugen, um daran ein paar allgemeine Bemerkungen über das
Wejen moderner Kunſtkritik zu knüpfen.
Das Sennzeichnende und Bemerfenswerthe der Serpaesichen
Kritik liegt in dem perjönlichen Verhältniß, in dem ſich der Kritifer
zu dem Stünjtler befindet. Servaes giebt nicht ſachlich, aus be—
jtimmten Geſetzen heraus begründete Analyjen und Rezenfionen
einer Anzahl von Kunftwerfen, jondern er entwirft ein Bild der
fünftlerifchen Berfönlichfeit, — ein Bild Bödlins, Klingerd, Haupt:
manns, Dehmels u. j. w. — nad) dem Eindrud, den er, den jeine
Perſon von der anderen, von dem betreffenden Künjtler empfangen
hat. Ein folches Verfahren iſt nicht herfömmlich und gewöhnlich,
wenn man das Gewohnte und Ueberlieferte in Betracht zieht.
Denn früher — und zum großen Theil ift es auch heute noch der
Fall — fand das Kunfturtheil feinen Ausdrud nicht in einem
*), Bräludien, ein Effaygbudh von Franz Servaes. Berlegt bei Schufter
u. Xoeffler, Berlin u. Leipzig 1899.
Der Individualismus in der Kunfikritik. 133
perjönlichen Berhältniß des Kritikers zum Künftler, jondern in einer
jachlichen Auseinanderjegung der Kritif mit dem Kunftwerf. Der
Kritiker galt ald Kenner und gewijjermaßen Verwalter bejtimmter,
anerfannter und allgemein für wahr und richtig gehaltener äjthetifcher
Regeln und Gejege und fällte fraft diejer Geſetze und vermöge
jeiner Kenntniß ein objeftives Urtheil über eine Kunjtleiftung. Sie
entjprach jenen Gejegen und wurde darum gutgeheißen, oder fie
verleugnete jene Gejege und wurde darum verworfen. Diejer Kunfts
fritifer war Hunjtrichter. Der Kritifer von Servaes’ Art dagegen
it nicht Richter, der ein Urtheil mit dem Anſpruch auf objektive
Nichtigkeit und jachliche Giltigkeit fällt, jondern nichts mehr als
der Freund und Dolmetjcher des Künftlers, der ihn dem Publikum
gegenüber vertritt.
Warum hat fich diefer Wandel im Wejen der Kunſtkritik voll
zogen? Der äußerliche und Elar erfennbare Grund liegt natürlich
darın, daß alte Kunjtgejege in einer veränderten Zeit auf eine
neue Kunjt nicht mehr anwendbar find. Die Weltanjchauung und
die Kunftprinzipien, aus der heraus jene Gejete abjtrahirt wurden,
jind zufammengebrochen. Der Künjtler jieht die Dinge nicht mehr
dur das Medium einer bejtimmten, idealijtijch = philojophijchen
Weltanjhauung, jondern er tritt unmittelbar in Berührung mit der
Natur und giebt jeine allerperjönlichjten Eindrüde mit den Mitteln
jeiner Kunjt wieder. Die modernite Kunjt ift individualiftiich. Und
individualiftiich it dem entjprechend auch die moderne Kunſtkritik.
Der Kunitkritifer beurtheilt das Kunjtwerf nicht mehr nach dem
objeftiven Maßſtab bejtimmter Gejete, jondern er tritt, wie der
Künjtler unmittelbar vor die Natur, jo unmittelbar vor das Kunſt—
werf und jeine Kritik bejteht nun einfach in der Beantwortung der
Frage: Wie wirft das Stunjtwerf auf mein perjönliches, unver:
fäljchte8 und unvoreingenommenes Gefühl? Worauf es jegt anfommt,
it nur dies: gefällt das Werf oder gefällt es nicht, erregt es Lujt-
oder Unlujtgefühle, erwärmt es oder läßt es falt. Der alleinige
Maßſtab ijt das Gefühl, Liegt aljo ganz im genießenden Subjeft,
Der Menſch — das Individuum — iſt das Maß aller Dinge im
Stunjtleben geworden. Der Individualismus herrſcht im Kunſt—
ichaffen wie im Kunſtgenießen; er wird geradezu zum Prinzip
erhoben, fajt als ein neues Gejek der Nunjtkritif verfündigt. Das
gejchieht nicht etwa nur von den Publizijten der Tagesblätter und
Wochenjchriften. Zujtimmend vermag Servaes an anderer Stelle
aus einem fürzlich erjchienenen Werfe des Profeſſors Cornelius
134 Der Individualismus in der Kunftkritik.
Burlitt — „Die deutjche Kunjt des neunzehnten Jahrhunderts“ —
zu zitiren: „Mein Urtheil iſt — eines, und iſt nur jo viel werth,
als ich jelbit werth bin. Ich jpreche es aus, weil ein innerer Trieb
e8 don mir fordert, der jo berechtigt tft, wie der, welcher einen
Anderen treibt, zu bilden, zu malen. Aber es hat feine Giltigfeit
über mich hinaus, und ich verwahre mich für alle Fälle jelbit da:
gegen, daß mein Urtheil fich nicht ändern werde. Denn jo lange
wir leben, wechjelt der Stoff, der uns bildet, und wechjelt die
Umgebung, von der wir abhängen. Niemals habe ich die Abjicht
gehabt, mein Urtheil zum herrjchenden zu machen, jelbit wenn id
es gefonnt hätte. Denn ich halte jeden jolchen Sieg für eine
Niederlage.“ Da haben wir den funjtfritifchen Individualismus
in der höchſten Potenz. Giltigfeit hat das Urtheil von vornherein
nur für das urtheilende Individuum und auch da nur bedingt, nämlich
bis zu dem Augenblid, da unter anderen, neu eingetretenen Ver:
hältnifjen das Individuum in jeinem Gefühl, Gejchmad und Urtbeil
ſich ändert.
E3 iſt garnicht zu leugnen, daß diejer Individualismus zeit:
gemäß und darum nothmendig it. Wir haben doc) feine alle oder
wenigjtens alle „Sebildeten“ verbindende Weltanjchauung mehr, ın
der wir wie in einem geiltigen Nährboden mit einander wurzeln
und woraus wir einen Gejchmad, ein Gefühl, ein Urtheil alle mit:
einander ziehen könnten! Jener Individualismus it nicht nur von
unjerm Veritande als zeitentjprechend anzuerfennen, er hat aud
etwas für unjer Gefühl Liebenswürdiges. Denn er iſt aufrichtig
und in jeiner Aufrichtigfeit jtolz und bejcheiden zugleich. Er jtellt
den Grundſatz auf: ich bin ich und ich will und kann mir jelbit
genug jein; er läßt aber auch das „ich“ jedes Anderen gelten.
Trotz alledem läßt fich bei nächiter und genauejter Beachtung
doc nicht verfennen, daß diejer kunſtkritiſche Individualismus ın
mehrfacher Beziehung mit jich jelbjt in Widerjpruch geräth und
darum unhaltbar it. Das zeigt fich jofort jchon in der Art, wie
ein individualiitiiches Kunjturtheil zu Stande fomınt.
Der Beurtheiler läßt ein Werk auf fich wirfen. Diele
Wirkung äußert fich dadurch, daß Stimmungen in ihm erregt werden.
Sein fritifcher Beruf zeigt jich dann darin, daß er fähig ift, Diele
Stimmungen jprachlich bezw. jchriftlich zum Ausdrud zu bringen,
jo daß fie auch Andern verjtändlich und begreiflic) werden. Sein:
rein perjönliche, nur ihm eigene, unverfäljchte jubjeftive Stimmung
hat der Beurtheiler wiedergegeben. So iſt eigentlich bei dieſer
Der Individualismus in der Kunſtkritik. 135
Art der Beurtheilung das Stunjtwerf objektiv ausgelöjcht und
eriitirt nur fraft der Stimmungsfähigfeit des Betrachters. Das
mag dem Künjtler vielleicht nicht ganz recht jein, denn er iſt in
jeinem Kritiker auf und untergegangen, er ijt dejjen individueller
Willfür ausgeliefert und dieje Willfür zieht vielleicht etwas ganz
Andere aus dem Werf, als der Künſtler zu geben beabjichtigt
bat. Diejer für den Künſtler fatale Fall indeß wird in der Regel
doh faum eintreten, und zwar aus folgendem Grunde nicht:
Wirkſam auf unjere Seele tjt nur das, was wir begreifen, was
wir auch empfinden, was wir mitfühlen fünnen. Grfennen heißt
im tiefjten Grunde immer Wiedererfennen, daS in der Außenwelt,
was in dem Innenleben der Seele auch jchon vorhanden und nur
der Berührung, des Anjchlagens von außen her bedarf, um
zu erzittern und jo zu Gefühl und Bewußtjein zu gelangen.
Die Möglichkeit, ein Sunjtwerf zu empfinden und zu ges
nießen, wird aljo immer abhängig jein von einer Gemein»
jamfeit, einer tiefinneriten Gleichheit zwijchen der Seele des
Künstlers bezw. Kunjtwerfs und jeines Betrachters: dieſe Gemein:
jamfeit und Gleichheit fann größer oder geringer fein, jo wie zwei
Kreife jich mehr oder weniger jchneiden fünnen. Der Genuß des
Betrachters iſt um jo höher, je vollfonmener die Gleichung auf:
geht. So feiert z. B. Servaes — meiner Meinung nach über die
Maßen — Richard Dehmel und jcheut nicht davor zurüd, ihn mit
Beethoven in Barallele zu jegen. Der Grund ijt ficherlich eine
itarfe Aehnlichfeit in der jeelifchen Struktur Dehmels und jeines
Verherrlichers. Bleiben wir noch ein wenig bei dem Vergleich mit
den zwei Streifen: jchneiden jich die Kreiſe gar nicht, jo wird der
betreffende Künjtler für den Kritiker garnicht exiſtiren; jchneiden fie
jich weniger als zur Hälfte, wird die Abneigung jtärfer als die
Zuneigung jein; jchneiden fie jich gerade zur Hälfte, jo wird er
jwiichen Neigung und Abneigung jchwanfen, er wird abmwägen,
Licht und Schatten vertheilen, er wird objektiv fein, maßvoll im
Lob und Tadel. So etwa jteht Servaes zu Hauptmann. Das
aber it die Hauptjache: das Urtheil it abhängig von einer
Gleichheit oder doch Aehnlichkeit der jeeliichen Struktur zwijchen
Künjtler und Kritifer, von einer Gemeinjamfeit der Empfindungen,
von einer innerjiten JZujammengehörigfeit. Das bedeutet aber: das
Kunſturtheil ijt im tiefſten Grunde nicht individualiſtiſch, jondern es hat
— jozujagen — etwas Soziales an ſich. Künjtler und Ktritifer jind
durch etwas verbunden, dag man als Sozialismus der Seele bezeichnen
136 Der Individualismus in der Kunſtkritik.
fönnte. Ganz ähnlich wie zum Künjtler, ift das Verhältnig des
Kritifers zum Publikum. Der Kritifer wird zunächit feine ‘Freude
und jein Genügen haben an feiner Fähigkeit, das Kunſtwerk mit:
empfinden und darum verjtehen zu fünnen, und es wird ihm fernliegen,
jein Urtheil Anderen aufzwingen, als Diktator diftiren zu wollen.
Solche Diktatur würde nie und nimmer Kunftempfindung und Kunſt—
genuß bei den andern hervorrufen fünnen. So erklärt denn Gurlitt
mit Recht: „Niemals habe ich die Abficht gehabt, mein Urtheil zum
herrſchenden zu machen, jelbjt wenn ich es gefonnt hätte.“ Das
aber wird doch auch der Kritifer nicht abweijen, daß ein Lejer jein
Buch aus der Hand legt mit dem Gedanken: was ich da gelejen
habe, das iſt jicherlich richtig, das ergreift mich, das begreife ich,
das habe ich im Grunde auch jchon dunfel und verworren gefühlt,
als ich vor diefem Werk Bödlins oder jenem Klingers jtand, was
da jeßt der Kritiker mit jo eindringlicher Klarheit ausſpricht.
Kurz gejagt aljo: auch die Würdigung und der Erfolg eines
fritifchen Werfes beruht auf gleicher Seelenjtimmung. Auch der
Kritiker jteht jeinem Publikum — gerade dem für ihn reifen
Publitum — nicht als Individualift gegenüber mit dem Grundſatz:
ich gegen euch Andere. Much hier herrjcht jener Sozialismus der
Seele, der Künjtler, Kritifer und Publifnm verbindet, ein Kunſt—
werk zur Wirkung führt und fo in gewijjem Sinne Kunſt erit
möglich macht. Was Anderes aber ijt diefer Sozialismus der Seelen,
dieje gemeinjame Seelenjtimmung Bieler, die durch einen Künitler
ihren gejtaltvolliten und nachdrüdlichiten, durch den Kritiker ihren
klarſten und begreiflichiten Ausdrud findet, al8 der Anjat zu einer
Weltanſchauung, die heute erjt ald ein Drang und ein Wollen in
den Herzen der Bejten und Gebildetiten empfunden, über furz oder
lang aber ficherlih auch zur Gedanfenform kryſtalliſirt werden
wird. So fann man die Kunjt gewifjermaßen als den Vorläufer
und Wegbrecher der Philoſophie betrachten. Beide aber, Kunit
wie Bhilojophie, verfchmähen, müſſen verjchmähen das Zufällige,
Abgejonderte, Einzelne im Leben und leijten immer von Neuem
wieder die Niejenaufgabe, durch Aufipüren und Darjtellen des
Typiſchen, Unvergänglichen, ewig Lebendigen und Wirfenden die
organische Einheit alles Seienden zum Bewußtjein zu bringen und
die Seelen der Menjchen aus der Zerjtreutheit und Zerrifjenheit
zur Gemeinjamfeit und Einheit zu jammeln und jo zu höherem
Leben zu führen.
* =
Der Individualismus in der Kunfikritik. 137
Nach Servaes’ Methode hat der Kritifer nicht die Aufgabe, den
Künftler wie einen Angeklagten zu richten, jondern ihn zu be—
trachten und dann, nach der Betrachtung, jein Dolmetjcher zu jein.
Die Seele dieje8 oder jenes Künſtlers ijt von Diejer oder jener
Beichaffenheit — das ijts, was den Inhalt einer Kritik aus-
zumachen hat. In ſolchen Seelenanalyjen leitet Servaes
außerordentlich Hervorragendes. Tieferdringenden Scharfblid und
teineres Verſtändniß jelbit für entlegenjte jeeliiche Regungen wird
man in der modernen Kunſtkritik nicht leicht antreffen. Er legt
die Seelen der von ihm behandelten fünftleriichen Individuen bis
zum Grunde blos. Und doc, glaube ich nicht, daß mit der
Piychologie des fünitlerifchen Individuums jede fritiiche Ber:
pflichtung eingelöft ift. Ich will mich an bejtimmte Beifpiele halten.
In dem Aufjag über Hauptmann jchreibt Servaes bezüglich
der „Einjamen Menjchen*: „Wie wunderbar allein dies Motiv:
dag Menjchen, die ſich lieben, jich dennoch gegenjeitig vernichten
müjfen, weil fie alle miteinander „einjam“ jind und zu einander
die Brüde nicht finden können! Welch ein Schmerz der Streatur
liegt darin!“ Auch ich halte dieſes Motiv für „wunderbar“, d. h.
für bewundernswerth, für tief und ergreifend. Es wird aber
vielleicht noch wunderbarer, wenn wir entdeden, daß es garnicht
den „Einjamen Menjchen“ allein zu eigen it, daß ihm nicht nur
Hauptmann Ausdrud gegeben hat, jondern auch eine ganze Reihe
anderer zeitgenöffiicher Künjtler in noch viel jtärferem Maße. Ich
nenne vor allem Maupajjant, dann jind auch als „Einjame
Menjchen“ bejonders Nagel und Glahn in Hamjuns Büchern
„Myſterien“ und „Pan“ erwähnenswerth. Ich entdede aljo, daß
das Motiv der Einjamfeit garnicht eine individuelle Eigenthümlich-
feit Hauptmannjcher Kunft ift, daß es fich vielfach bei allerlei In—
dividuen verjchiedenjter Länder findet, daß es aljo „in der Zeit“
liegt, daß das Leid der Einjamkeit gewijjermaßen ein Zujtand,
eine Krankheit des Zeitgeiftes iſt. Somit ergiebt jich als kritiſche
Methode folgender Gang: von der Betrachtung des Kunſtwerks zur
Herleitung des Kunjtwerfs aus der Seele des Künſtlers und die Er—
färung der Künjtlerfeele aus der Seele der Zeit. Jede Künjtlerjeele
muß nothwendigjter Weije ein bemerfenswerthes Stüd der Zeitjeele
jein, denn andernfalls könnte der Künjtler nie und nimmer veritanden
und genofjen werden. Etwas abjolut Individuelles, abjolut Einjames
fann es in Wirklichkeit garnicht geben. Unter „Zeitgeiſt“ verjtehen
wir den einem bejtimmten Zeitabjchnitt eigenthümlichen getitigen
138 Der Individualismus in der Kunftkritik.
Charafter. Ein Zeitabjchnitt fann aber nur dadurd) eine „be:
ſtimmte“ geiftige Struftur aufweijen, daß ein anderer Zeitabjchnitt
von anderem Geijt bejtimmt war. Der Geift einer Zeit iſt alſo
bejtimmt durch jein Andersfein, jeinen Gegenjag im Verhältnig zum
Geijt einer früheren Zeit. Dem entjprechend ijt der für eine Zeit
typische Künſtler am jchärfiten zu begreifen durch jein Andersjein
im Verhältnig zu dem für eine entgegengejegte Zeit typtichen
Künftler. Der Naturalismus läßt ſich am Beiten und im Grunde
begreifen durch fein Berhältnig zum Idealismus. Und nichts
vielleicht breitet ein jo flärendes Licht über den naturaliſtiſchen
Hauptmann und jein künſtleriſches Wejen, als der Vergleich mit
dem idealiftiichen Schiller. So gelangen wir in der Kunſtkritik
vom Individualismus zum Hijtorizismus.
Noc auf andere Weije fünnen wir dazu gelangen. Servaes
bejpricht vierzehn Künjtler. Was hat ihn gerade zu diejen vier:
zehn geführt? In einem inneren Zujammenhang jtehen jie nicht:
in einen jolchen hat er jie auch garnicht gebracht, garnicht bringen
wollen, bringen brauchen, vermöge jeines funjtfritiichen In:
Dividualismus, der jich auf die Betrachtung des Einzelwejens be-
Ichränft. Servaes erflärt dieſe Vierzehn für „repräjentative Er:
icheinungen“ innerhalb des modernen Kunjtlebens, die „über den
Tag hinaus Bedeutung“ hätten. Was heißt aber eine „repräjentative
Erjcheinung“ und was leijtet Garantie für die Bedeutung „über
den Tag hinaus“? Servaes jteht gleich dem von ihm hoch gepriejenen
Dehmel auf dem Standpunkt, daß es nicht genügt, nur ein Künftler,
d. h. ein virtuojer Beherrjcher der technijchen Kunjtmittel, ein
„Artiit“, zu jein. Der große Künjtler und der große Menjch laſſen
ſich nicht trennen. Der große Künſtler joll Führer der Menjchbheit
zu einer höheren Kultur der Seele jein. In dem Sinne jchreibt
er: „Darin allein fann ich die Kulturmiſſion der Kunſt erbliden:
daß, indem jie das Leben jchmüct, jie zugleich eine höhere Menſch—
heit jchafft, eine, die wählertijch ift in ihren Bedürfniffen und erwählt
in ihrem Empfinden; daß jomit die Kunſt ihrer entwidelungs:
gejchichtlichen Aufgabe ſich bewußt bleibe: das ganze Leben mit
neuem Rhythmus zu durchdringen und hierdurch ein ewiges Prä—
[udium zu werden für Alles, was jingend hinaufitrebt.* In
nüchterner Proſa ausgedrüdt, will Servaes aljo die das Leben
weiterführenden und die Menjchen Eräftigenden Tendenzen in der
Kunjt zum Musdrud gebracht und im Künſtler verförpert jehen.
Sch jtimme ihm in diejer Forderung bei, frage aber: Woran iſt es
Der Individualismus in der Kunfilritif. 139
zu merfen, daß ein SKünjtler jolche Tendenzen verkörpert? Der
jich jelbit genügende Individualiit fann darauf antworten: An dem
heftigeren Drang meines Blutes, der jtärferen Spannung der Nerven,
an der Freudigkeit der Seele, an der Seligfeit, — wenn man vor
ein Kunſtwerk tritt. Wer aber garantirt dem Bejchauer die Rein—
beit und Xebensfräftigfeit feines eigenen Gefühls? Haben wir doc)
heutzutage Menjchen, Künjtler und Sritifer, deren Blut in Wallung
gerät und deren Nerven ſich jpannen erjt bei abjonderlichen,
ungewöhnlichen NReizungen! Eine objektive und zuverläjjige Kenntniß
der das Leben und die Seelen der Menjchen fürdernden Tendenzen
fönnen wir nur erlangen, wenn wir Dieje Tendenzen als erprobt
und bewährt fennen lernen, d. h. aus der Gejchichte entnehmen.
In der gejchichtlichen Entwidelung müfjen wir die Kräfte aufjuchen,
die als unauslöjchliche, immer wieder ans Licht tretende, unzerſtör—
bare das Leben gefördert haben. Sie bieten die objeftivite Garantie
dafür, daß fie auch in die Zukunft hinein ſich wirkſam und fördernd
erweijen werden. Die Künjtler, die auf der Entwidelungslinie der
Geiſteskultur jich befinden, die im innerjten Zujammenhang, in jich
jelbjt oft unbewuhter Seelenverwandtichaft mit den vergangenen
Kunitgrößen leben — die bieten die meilte Gewähr für Die
Zufunft. —
Der moderne Individualismus will von diefem Hijtorizismus,
dieſem Beſtreben, jtetS die Verbindung mit der Vergangenheit auf:
zujuchen, aufzudeden und herzujtellen, gar nichts wiljen. Mit Bes
wußtjein und Abficht macht man gegen den Hijtorizismus Front.
Niegiche iſt auch hier, wie fo vielfach in den Beitrebungen der
Modernen, der Fürſt und Führer. Im feiner 1874 erjchienenen
Schrift, „Vom Nuten und Nachtheil der Hiitorie für das Leben“,
Jammelt er all jein Anflagematerial gegen die hijtorische Nichtung,
von der er behauptet, daß jie die Perfünlichkeit ſchwäche, ihr die
unmittelbare und elementare Kraft nehme, unfruchtbar und blaß,
epigonen= und greijenhaft mache. Die Inſtinkte werden unterdrüdt,
der Begeilterung bleibt bei der Betrachtung und dem Kleben am
Thatjächlichen, bei der jteten Rückſichtnahme auf „das, was ift“,
fein Raum. Niebjche verlangt das sahrenlajjen alles dejien, was
war und das Ergreifen des Augenblids. „Ber dem fleinjten aber
und bei dem größten Glüde iſt es immer eins, wodurch Glüd zum
Glücke wird; das Vergeſſenkönnen oder, gelehrter ausgedrüdt, das
Vermögen, während feiner Dauer unhijtorisch zu empfinden. Wer
ich; nicht auf der Schwelle des Augenblids, alle Vergangenheit
140 Der Individualismus in der Kunſtkritik.
vergejjend, niederlafien fann, wer nicht auf einem Punkte
wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu jtehen
vermag, der wird nie willen, was Glüd it, und nod
jchlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glüdlic
macht.“ Merfwürdiger und ungerechtfertigter Weije jetzt Nietjche
jeiner Schrift ein Wort Goethes als Motto voraus: „Uebrigens iſt
mir Alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Thätigfeit
zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.“ Diejer jelbe Goethe
hat doch gerade die Begeijterung als das Beſte bezeichnet, was
wir aus der Beichäftigung mit der Gefchichte gewinnen. Und er
ijt mehr im Recht, wie Niegfche. Denn wenn wir aus der Ge-
Ichichte auch garnichts Anderes erjehen könnten, die8 merfen wir
doch unabweiglich heraus, daß da eine Kraft in fortjchreitender
Entwidelung die Dinge bejeelt und treibt, die nie zum GStillitand
gelangt und über alle Fährnijje und Abgründe hinwegfommt. Es
giebt da etwas Unüberwindliches, Allgewaltiges, daran auch wir
betheiligt find, das auch uns bejeelt und begeijtert, da wir dod)
— als Menjchen — die vornehmjten Träger der gejchichtlichen
Entwidelung find. „Gejchichtlichen Sinn“ haben, heißt durchaus
nicht nur an VBergangenem fleben und das, was war, begreifen,
verjtehen und objektiv erklären, ſondern es heißt vielmehr in feiner
beiten und höchiten Bedeutung, die Kräfte, die von der Vergangenheit
bis zur Gegenwart ununterbrochen belebend und fräftigend wirfjam
waren, in fich wirfend jpüren und in ihrer Bereinigung und Bewährt:
heit zum Nußen und zur Gejtaltung der Gegenwart verwenden. Das
Heute dem Gejtern organisch anreihen — das iſt die große, frucht:
bringende Aufgabe. Servaes allerdings jpricht von dem „armen
Gejtern, dem wir mitletdvolle Blide nacdhjenden“. Lebt Denn
aber in Wahrheit das Gejtern nicht mit dem, was in ihm lebens:
kräftig, typijch, ewig war in dem Heute und wird in dem Morgen
leben? Das iſt das Merkwürdige Nietzſches und feiner Jünger, da
fie das Antlig von der bewährten Vergangenheit abfehren, um &
ganz einer vagen Zukunft zuzumwenden. So find fie, könnte man jagen,
„verfehrte* Hijtorifer. Von diefer Zukunft erwarten fie goldene Berge.
Auch Servaes iſt, was die Kunjt betrifft, von folcher Zufunfts:
jeligfeit erfüllt, deren Nahen er wohl zu ahnen meint. In dem
Sinne jpricht er von dem, was jegt in der Kunft iſt, als von
Bräludien, „nur“ Präludien: „So erfennen wir auch im Kunſt—
ichaffen unjerer Zeit faum mehr als ein Vorjpiel, deſſen Klänge,
weit entfernt unjere Sehnfucht zu bejchwichtigen, fie nur deſto
Der Individualismus in der Kunſtkritik. 141
heller und glühender entfachen.“ Ich muß geitehen, da ich in der
Fülle diefer Zufunftshoffnung feine individuelle Stärke zu finden
vermag, Jondern eher das Gegentheil, jo wie auch Nießfches „Ueber:
menſch“ mir durchaus als das Sehnjuchtsproduft einer Seele er:
Icheint, die dem Schidjal nicht gewachjen ijt. Es ift fo leicht,
jeinen Hoffnungen und Gedanfen in der Zufunft freiejtes Spiel
zu lafjen, da dieje Zufunft ein [uftiges, ja jogar luftleeres Gefilde
it, in dem der Gedanke an feiner Materie jich jtößt, in der er aber
auh an feinem Stoff jeine organifirende, gejtaltende Kraft zu
erproben braudt. Gewiß bin auch ich der Ueberzeugung, daß wir
noch nicht die KKünjtler haben, die das Leben unferer Zeit zu einer
in ſich gejchlofjenen Einheit al8 Kunstwerk harmonijch gejtalten und
jo die Difjonanzen der Zeit jieghaft überwinden fönnen. Warum
aber jollen wir jo heftig von der Zukunft fordern, was vielleicht
gar noch die Vergangenheit zu gewähren vermag? Oder ijt unjere
Zeit etwa jchon mit Goethe fertig, in dem Sinne fertig, daß fie ihn
ganz begriffen, Alles aus ihm herausgeholt, ihn völlig in fich auf:
genommen hat, jo daß jie über ihn hinweg zu den höheren und
ragenderen Halbgöttern der Zukunft jchauen darf? Das ijt doc)
wohl jchwerlich der Fall und faum Einer wird es behaupten.
Aber freilich, Niegjche meint ja, daß im Grunde auch die Ver:
gangenheit nur aus der Zukunftshoffung und Zufunftsjeligfeit
heraus begriffen und überwunden werden fann: „Nur wer Die
Zufunft baut, hat das Necht, die Vergangenheit zu richten“. Daß
etwas Wahres unter Umſtänden daran jein fann, joll nicht geleugnet
werden. Wahrer aber dürfte für die Mehrzahl der Fälle doch der
umgefehrte Saß jein: Nur wer die Vergangenheit begreift, hat das
Recht, an der Zufunft zu bauen.
Notizen und Belprechungen.
Literariſches.
Deutſch-Oeſterreichiſche Literaturgeſchichte. Ein Handbuch zu
Geſchichte der deutſchen Dichtung in Oeſterreich-Ungarn. Unter Wit
wirkung hervorragender Facıgenojjen, herausgegeben von Dr. 3. W. Nagl,
Dozenten für deutjche Sprade an der k. k. Univerfität Wien und Jakob
Beidler, £. £. Profeſſor am Staatd:Obergymnajium im IIT. Bez. Wien.
14 Lieferungen*) zu je 60 Fr. = 1 Markt. Wien, Karl Fromme:
Hofbuchdruderei und Verlagshandlung. 672 ©. Lerifon-DOftav.
Tem ernten Literaturforfcher wird diejed große, nad) dem Vorganat
der bekannten König ichen Literaturgefchichte mit vielen „Bildchern“ und
Fakſimiles ausgejtattete Sammelwerf, ungeachtet jehr tüchtiger umd zum
Theil wirkli neuer Abjchnitte, in mandem Sinne recht bedenklich er-
ſcheinen.
Schon der Titel macht uns ſtutzig. Wenn auf irgend einem Gebiete,
ſo doch auf dem des deutſchen Geiſteslebens, der Geſchichte der Literatur
und Kunſt, der Philoſophie und Pädagogik, ſollte ſich die Beſchränkung
auf zufällige politijche Grenzpfähle als ein Unding von ſelber verſtehen.
Auf dieſem Boden giebt es Gott Lob nur ein großes deutſches Vaterlant,
„jo weit die deutiche Zunge Klingt.“ Man könnte, wollte man jich auf die
Zeiten bis zu den Wirkungen der Lutheriſchen Bibel und der Nefor:
mation bejchränfen, mit Fug eine gejonderte Darjtellung der ober» um
*) Deren erjte man uns vorenthalten bat, wohl auf Grund übler Gr
fahrungen, die Verleger von Lieferungsmwerfen öfter mit Beitungt:
redafteuren mögen gemadt haben, denn es fommt allerdings vor, dab
diefe gegen Abdrud des beigefügten „Waſchzettels“ fi befugt halten,
das unaufgeihnittene Wert an Sortimenter oder Antiquare zu über
laffen. Wer jedoh andern eine Gewifjenlofigket zumuthet, der bat
fih nicht zu beflagen, wenn er durch eine viel geringfügigere zu Schaden
fommt. Es ift micht aus zu jagen, wie tief das Niveau der Kritif durd
Das gottlofe Waſchzettelſyſtem der Herren Verleger bereits gejunfen if.
Rottzen und Beſprechungen. 143
der niederdeutjchen Literatur unternehmen, denn hier waltete wirklich bis
dahin volkliche Tifferenzirung oder Doppelung innerlich dennoch gleich»
artiger deutſcher Volk3bejtandtheile, nur müßte man dann die politiicy ab»
geionderten Niederlande jelbitverjtändlicd; mit demjelben Rechte der geſammt—
niederdeutjchen Bolfögemeinde zuweiſen, wie die deutjchen Schweizer der
oberdeutjchen. Gleichwohl find die Beziehungen und Einwirkungen herüber
und hinüber jo mannigfach verjchlungen, daß nur unverjtändiger Regionalis—
mus dabei auf jeine Rechnung käme. Und nun gar jeit Ablauf des großen
jechzehnten Jahrhunderts!
Ein Halbjranzoje, Charles Schmidt, Hat eine ſogar jehr vorzügliche
Histoire litteraire de l’Alsace gejchrieben, die eben deutjche Literaturs
und Bildungsgeichichte nur jein konnte, da fie die Zujammengehörigfeit mit
den Geijtern der rechten Rheinſeite gar nicht zu vertujchen verjucht. Und
die Franzoſen mußten damals (1879) fernen, daß ed am Ende des fünfzehnten
und Beginn des jechzehnten Jahrhunderts faum irgendwo in Deutichland red»
liher deutjch empfindende Gelehrte, Dichter und Führer des geijtigen Lebens
gegeben hat, als im Eljaß, voraus in Straßburg. Die Mitarbeiter und
Schüler Wimphelingd, Ringmann (Philefius), jogar der Franziskaner
Murner, Sebajtian Brant (1457—1521), der große Prediger Geiler
von Kaijeröberg (1445—1510), wer rechnete jie nicht unjerer einigen
deutichen Literaturgejchichte zu?
Und fo, wenn der trefflihe Biograph Gottfried Kellers, Jakob
Bächthold, eine fchweizeriiche Literaturgeſchichte verſaßte, fonnte ihm nicht
einfallen, im Sinne politiichen Pfahlbürgertyums die großen Zujammen:
hänge mit dem weiten Niederland zu leugnen.
Wäre die Tendenz unferer Oeſterreichiſch - Deutjchen Literaturgejchichte
dieje jelbe, bejcheidener Eingliederung nämlich in die allgemeine deutjche
Beijtesgejchichte, jo Fönnten wir fie freundlicher begrüßen. Nun aber jtellt
jih bei näherem Zufehen leider nur zu ſehr heraus, daß hier ein wejentlich
anderer Geijt die Leitung gehabt hat, und das heut, wo wir überall bei
den armen Deutjchen des Kaiſerſtaates das lebhafte Gefühl der Zuſammen—
gehörigkeit alles Deutichen wahrnehmen, den jehnfüchtigen Ausblid auf das
benadhbarte Rei, das ihmen Schuß und Netiung bringen jolle vor der
Ueberfluthung eine3 übermüthig gewordenen Slaven- und Magyarınthums.
Jene Wiener Herren aber, obwohl mit Recht jtolz auf ihr Deutjch-Dejter:
reiherthum, jteifen ſich — in trauriger Berblendung — auf ihre dem
norddeutich=protejtantiichen Geijte angeblich fremde und unverjtändliche
Voltsbefonderheit, dabei man es mit der Zugehörigkeit zu ihren Marken
nicht immer ganz genau nimmt. Sie bilden ſich befonders darauf etwas
ein, „in Formen katholiiher Weltanfchauung zu denfen und zu fühlen“
(38. ©. 657, aber auch fonjt durch das Buch zerjtreut in ähnlichen
Vendungen). Diefe Gejinnung mag wohl für das Verjtändnig mancher
Eriheinungen des Barocks und des Jejuitenitiles des uns wie gebildeten
144 Rotizen und Beiprehungen.
Stalienern (ih nenne Giofue Carducci vor Andern), fo widerwärtigen
seicento oder jiebzehnten Jahrhundert3 zuträglich fein, aber jie wird damit
denn doch zu theuer erfauft.
Wir, das deutiche Kaiferreich, deſſen Aufrichtung die deutjche Quittung
auf den Triumph der Snfallibilität bedeutet, und der Preußiſche Staat,
find geduldig und gerecht, wir üben wirflihe PBarität, die der Ultramon-
tanismus ji zwar zu Nutze macht, aber prinzipiell verhöhnt und unfähig
wäre jeinerjeitS zu gewähren.
Barität fann auf die Dauer nur auf dem Boden beiderjeitigen Be:
dürfniſſes eined friedlichen Zujtanded ertragen werden, anderd wird fie
Selbjtmord des gutherzigen Theiled. Der aber will, daS zeigt jich bier
in einer doch zunächjt wifjenjchaftlichen Arbeit, die jtreitbare Kirche des
Tridentinum und des jefuitiich gegängelten Vatikanismus, eben nicht fein.
Es ijt jehr beachtendwerth, daß ein zwar auch ſtockkatholiſcher aber
doh ehrlich deutſch empfindender Mann, der trefflihe Dichter Joſ. von
Eichendorif wohl gewußt und freimüthig bekannt hat, daß „Proteitan:
tismus“ im Grunde ein allgemein deutfcher, uralter Charakterzug iſt
und bleiben müfje, womit er allerding3 nicht an die unglüdlichen jtaats-
kirchlichen Bildungen gedacht hat, die Deutjchlands politifche Entwidelung
jo lange bintangehalten haben.
Wir willen uns jehr fern von der unhiſtoriſchen Auffaſſung der
Pädagogik des Sefuitenordend und der kindiſchen Furcht vor jeiner All-
macht und angeblihen Skrupellojigfeit jeiner Mittel, Dinge, die lediglich
zur Reklame für den gehaßten Gegner ausjchlagen können, da wir all jein
Bemühen als weſentlich anachroniſtiſch auffaffen, aber das fühlt auch der
gut katholiſche Deutjche Dejterreich!, wenn er unbefangen iſt, das Heil
unſeres Baterlandes ruht nunmehr auf dem protejtantichen Geijte, dem
Geiſte der Freiheit, des fittlihen Wahrheitdmuthes, dem Geiſte der Kraft.
der und vorwärts dringt. Er iſt der Geiſt, ohne den, wie Goethe richtig
erfannte, auch ein Dichter wie Shafejpeare nicht wäre zu denfen ge:
wejen, ohne den wir weder einen Sant, nod einen Zejjing, weder
Herder noh Schiller, weder einen Goethe noch einen Bismarck zu
verehren hätten.
Auch echte Geſchichtswiſſenſchaft darf mit Stolz ſich bewußt fein, daß
fie im innerjten Sinne protejtantifch jei. Das iit nicht edlen fatholijchen
Forſchern zum Verdruß gejagt, die fehr gut wifjen, welches Anjehens jie
ſich eben durch ihre redliche Unparteilichkeit in Nom jelber erfreut.
Von der Wahrheit hat Keiner zu fürchten, der reines Gewiſſens ijt. Da?
attejtirten vatikaniſche Archivare und Bibliothefare unferm Leopold
Ranke und jchon Friedrich Heinrich von der Hagen. Nicht unjer Ber:
dient, aber doch ein Segen unjeres Proteſtantismus ijt e8, daß wir parı-
tätiich, das iſt duldſam und gerecht jein können, leichter als wer etwa be
jorgen müßte, mit jolcher Uebung jeinem Beichtvater eine Schuld zu
Rotizen und Beiprehungen. 145
befennen. War es doch der an Luthers Bibel aufgejäugte Knabe Wolj-
gang, der die herrliche Figur des Bruders Martin im Göß jo rührend —
und doch wohl nicht unkatholiſch — hinzujtellen veritand, Fein Calderon
und fein Sejuit. Ja gewiß, wir vermögen: die katholiſche Weltanichauung
wohl zu verjtehen, wie Eltern die Kinder, aber man fordere nicht, daß
wir jie wieder in uns aufnehmen jollen. Lernte der katholiſch gebliebene
oder durch die gewaltthätige jejuitiihe Gegenreform wieder katholiſch ge-
machte Süden unſeres deutichen Bodens ſich au) nur annähernd jo in
unjere geiltige Welt zu finden, da wäre die Brüde gejchlagen zum end=
lihen Alldeutichland. Aber das jcheint zunächſt die Aufgabe und das
Intereſſe Oeſterreichs, denn es ijt, troß aller uns gepriejenen „Boden
tändigfeit“ rückſtändig. Wir verdanken ihm ficherlic) unendlich viel, es
fann dereinſt und mehr verdanten. ber erjt, nachdem es ſich aus der
Umflammerung des Jeſuitismus wird losgerungen haben. Bor der Hand
thut ſich unjer Buch noch etwas darauf zu gut, wenn es die Sejuiten-
fomödie preijt. die uns wohl etwas Spanisch vorlommt, auszurufen
somos hermanos, wir Dejterreicher find ja Eure Brüder, ihr lieben
Spanier. So dentt man aljo heute noch in achtbaren wijjenjchaftlichen
Kreiien Wiens.“) —
Daß die vorangejtellten Bemerkungen nicht vorgefaßter Meinung ent—
ſtammen, jondern auf jorgfältiger Kenntniß des umfangreichen Wertes
ruhen, deijen erite Hälfte etwa in den 14 Lieferungen vorliegt, muß an
dem Faden der Darjtellung jelber aufgewiefen werden. Es foll kurz und
bündig geichehen, sine ira et studio, jo viel billig zu fordern ift. Vor—
weg jei gern bezeugt, daß wir dem Buche für vielfache Belehrung über
manche 3. Th. abgelegene und nicht leicht Jedermann zugängliche Dinge
dankbar verpflichtet bleiben.
Ueber die erjte Lieferung, da jie und nicht zugegangen, läßt fich nur
jagen, daß jie die Darjtellung der Kolonifation Dejterreichs enthält. Die
folgende behandelt „das nationale Erbe“ d. i. Sprache und Glaube der
Vorfahren. Schon hierbei wird der norddeutiche und wejtdeutiche Forjcher
die enge Beichränfung auf das bajuvarijche Befiedlungsgebiet mit feinen
fränliſchen und alemannijchen Einjprengungen ſchwerlich zuſagend finden.
Zu dem alten Merjeburger Berrenkungsjegen, dejjen Wichtigkeit in den
mythologiſchen Eingangsworten beruht, laſſen ſich vielfach landſchaftliche
Variationen ſtellen, aber wir nehmen dankbar Akt von der merkwürdigen
Erhaltung bis in unſere Tage im Waldviertel:
Das Bein zum Bein,
Das Blut zum Blut,
*) ©. 664 ſteht wortwörtlich: „Das somos hermanos (mir find Brüder),
welches die Spanier, eingedent ihrer Abjtammung, mit Beziehung auf
die Deutſchen jagen, ſcheint in ganz befonderem Sinne für die Defter-
reicher zu gelten.“
Preußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 10
146 Rotizen und Beſprechungen.
Die Flechs zur Flechs,
Das Fleiſch zum Fleiſch,
Sei alles gut
Beim heiligen Blut.
Wir freuen und aufrichtig, hier in dem Abriß der öjterreichiichen
Sagengeſchichte u. a. ziemlih unummwunden eingeräumt zu jehen, daß das
Nibelungenlied, deflen Bearbeiter id allerdings auch für einen Dejterreicher
halte, (ev mag ein Tyroler gemwejen fein) fir höfiſche Kreife bejtimmt ge:
wejen jei. (S. 70 vgl. jedoch 95, wo e3 doc bloß für höfiſche Zuhörer
überarbeitet genannt wird.) Darauf, daß „Dietrich perner“ d. i.
Dietrich von Bern in Kärnten al3 Name erjcheint, wird, fcheint mir, zu
viel Werth gelegt, da daſſelbe auch anderwärt3 in deutfchen Landen vor:
fam. Es bemweijt nur, was faum noch befonderen Beweiſes bedürfte, daß
die Helden unjerer Volksſage populär genug waren, um neben die
Märtyrernamen des Firhlichen Kalenders zu treten, ja zum Theil jelber ſich
unter die Heiligen zu mijchen. Ganz treffend wäre die Bemerkung ©. 75
„doß wir an Siegfried einen heidnifchen Sonnen: oder Frühlingdgott
haben, ergiebt ſich aus der Firchlichen Gegenüberjtellung des Drachentödters
St. Georg“, wenn man nit zu erwägen hätte, daß ja diefer St. Georg
icon eine frühere Verchriſtlichung des Apollo- (oder Heralles-) Mythos zu
jein jcheint. E& könnte aljo der heidnifche Drachentödter auch durd
Vermittlung des chriftlichen Volksglaubens ins jpätere nordijche Heidenthum
wieder zurüdgelangt jein. Schillerd Kampf mit dem Draden ruht
fiherlich auf griechiſcher Nachwirkung des pythiſchen Apollon.
Ich glaube, man thut der chriftlihen Kirche, die als ſolche ziemlich
unjchuldig dabei ijt, doch Unrecht, wenn man alle die Legendendichtung,
in die jo viel altheidnifcher Glaube ſich gerettet hat, als abjichtliche
Entgegenjegung auffaſſen will. Der Glaube an wunderfräftige Helden, wo
er ſich fand, war ja auch eine Beglaubigung der Wunder, deren das
miffionirende Chrijtenthum nicht entrathen mochte. Die Kirche verhielt ſich
daher auch ihnen gegenüber naiv gläubig, wie Luther jich mit allem tollen
Teufelsſpuk ernſtlich herumfchlug, an den feine Zeit und feine Volkskreiſe
glaubten. Tradition war Tradition und Profan- und heilige Geichichte
ichieden fich keineswegs jo feindlich, wie jie es ſpäter thaten.
Auch das ift richtig und widtig, daß die „Klage“ ald ein älteres,
vom Nibelungenliede ganz unabhängige® Gedicht erfannt wird. Die
herrliche Sdealgejtalt ded Markgrafen Rüdiger gilt als hiſtoriſch wahr:
icheinlich, während der Biſchof Pilgrim es jicher ift; er war ein geborener
von Pechlarn und jeine Einflußnahme auf die Entjtehung der Dichtung iſt
gewiß glaublid (S. 88). Der Biterolf und Dietleib werden al3 jteiriich
angeſprochen, jo auch die Häglichen Nejte eines Gedichted von Walther und
Hildegunde, 13 vollitändige und 16 trümmerhafte Strophen, die ver
Nibelungenjtrophe verwandt jind.
Rotizen und Beiprehungen. 147
„Der Geijt des öjterreichiichen Volkes“, Iefen wir S. 96, „hat ji in
Tietrich fein Jdeal geichaffen, und noch heute... . freuen wir und dieſes
Ideals. Wir Oeſterreicher ſind allerdings wie Dietrich von Mißtrauen
gegen uns ſelbſt erfüllt; das Fremde imponirt uns daher ſogleich. Wir
befennen unaufgefordert unſere Schwächen, während Andere die ihrigen ver-
heimlichen. Wir fuchen und gejtehen von vornherein die Nechtätitel der
Andern freiwillig zu... Wir geben gern nad), erwarten aber dafür von
der Einjicht des Anderen ein Gleiches. Darin täufchen wir und meiſtens;
und geradezu cyniſch erſcheint es und, wenn der Andere dieſe Nachgiebig-
feit als jelbitverjtändliche Schwäche des Defterreichers faßt, mit dem man
machen fönne, was man wolle. Wer aber unſere Geduld erſchöpft hat und
uns die Schmad) anthun will, daß wir mit befjeren Grundfägen das Opfer
Anderer werden jollen, entjefjelt gegen ſich die ganze Wucht unjerer
Abmwehr.”
Wir wiljen nicht, an wen der Verfafier diefer brillanten Tirade da-
bei gedacht haben mag, nur daß er den gutmüthigen Heldenfinn unjeres
ganzen Volkes damit fo ziemlich umjchrieben hat. So meinen wir eg
hoffentlich Alle.
Tas Gediht Kudrun, das oft als deutjche Ddyfjee neben den Nibe-
lungen gepriejen wird, mag in jeiner durchaus nicht ſehr glücklichen
Redaktion ſteiriſch oder tyroliih fein, — hier wird erjteres behauptet —
wir erbliden darin feinen fpeziellen Nuhın des Dejterreiherd mehr und
wären glücklich, tauchte noch irgendwo eine ſchlicht niederdeutiche Form
diefes alten Widinger-Romans von der norddeutichen Waterfant auf.
Es ijt gewiß richtig, daß der urfprüngliche Vortrag epiicher Sagen-
jtoffe an die Muſik gebunden war, aber mehr als zweifelhaft, ob die
Strophen des Nibelungenliedes jemals wirflih noch gejungen worden
jeien. Wer will, der mag ja glauben, da das ganze Gedicht, 2316
Strophen von je 25 Hebungen nad) Lahmann (Hdihr. A), 2440 nad
Holgmann Gdſchr. B) auf die im altdeutjchen Liederbuche von Franz
M. Böhme ©. 230 Nr. 133 gegebene fchöne Melodie „Die brünlein, die
do fließen, die jol man trinden“ ſei gejungen worden. Sch bin der
Meinung, e3 handle ji; hier von vornherein um ein Leſebuch, nicht ein-
mal um ein Textbuch für Vorlefer, fondern ganz eigentlich um ein einfam
in langen Winternächten zu lejendes Bud).
Der mufilaliiche Vortrag für das dreizehnte Jahrhundert ergiebt fich
al3 einfach undenkbar. Rechnet man auf die ſechszehn bis fiebzehn Tate
der Melodie auch nur eine halbe Minute, jo brauchte der Sänger 1157
Minuten oder über 19 volle Stunden ohne Pauſe. Da man wohl feinem
Menichen die Ausdauer zutrauen darf, über vier Stunden monotonen
Singſang auszuhalten, jo erforderte das ganze Gedicht allein fünf Tage.
Wohl durfte die altepijche Zeit fich auf den Vortrag einzelner Epi—
joden aus der im Ganzen befannten Geſchichte beſchränken und das allein
10*
148 Notizen und Beiprehungen.
bezeugen auch hiſtoriſche Nachrichten. Die ritterlihe Epik ift aber nicht
mehr Sang zur Harfe, fondern Rede oder gar Schreibe, wie der daraus
erwachjene Roman.
Gut dargejtellt ijt die Einwirkung der Kirche. Dede Art höherer
Bildung war nur durd fie und für fie zu denken. So wird unjere älteite
deutjche — aber auc) durchaus nicht lediglich die öſterreichiſche — Literatur:
geihichte zur Geſchichte der Mifjionirung Deutſchlands. Wir verdanfen
dabei irischen und jchottiichen Mönchen zunächſt mehr als den direkten
römiſchen Sendlingen. Der Liber confraternitatum von ©. Peter in
Salzburg bezeugt die rajtloje Thätigfeit des Schotten Virgil (f 734).
Die Schreibichule Arnos war eine Art Berlagdort jener Zeit; das merk:
würdige Gediht Mujpilli, wie es Schmeller taufte, und ein Andachts—
buch für Ludwig den Deutichen find in ihr hergejtellt worden. In Steier
leijtete St. Lambrecht ähnliche Dienſte und der Biihofsfig Paſſau, das
im Inveſtiturſtreite gut faijerlich blieb, (gegen Salzburg) wird die Bilanz:
jtätte der chriftlihen Bildung für das ganze Donauthal. Kurz behandelt
wird ©. 134 fgd. das geiftlihe Drama in feinen ältejten Formen. Wir
hatten vor einiger Zeit Beranlafjung, gelegentlid) des Heinzelſchen Buches,
davon zu berichten. *)
Wir fönnen auch über die nächſten Abjchnitte um fo getrojter kur;
jein, als fie auf $. Kelle s Gejchichte der Deutjchen Literatur (Berlin 1892) jid
wejentlich gründen. Als älteſtes Denkmal deutſcher Dichtung in Oeſterreich
gilt darnach die ältere Genejis (ca. 1078) da fie in Kärnten entjtanden jei,
wo das Chorherrenitift Borau den Ruhm des jteirifchen St. Lambrecht
theilte.
Eine leöbare populäre Darjtellung unjerer älteren Literaturgeſchichte,
wie fie doch wenigitens Wilhelm Scherer geboten hatte, wider den man
übrigens jage was ınan mag, finden wir in unjerm „Handbuche“ (164),
in den erjten Heften nicht. Es ijt ein wirres Repertorium, und bequemer
wäre ed für den Lejer jchon, man hätte ed in alphabetijcher Folge als
Wörterbuch der deutjchsöjterreihiichen Literatur-Geſchichte gegeben. Als
einer der prächtigſten Bilderbeilagen ſei wenigjtens des Fakſimiles der Hand»
jchrift einer Weltchronif gedacht, die der Bibliothek des Schottenſtiftes in
Wien gehört.
Das ſpezifiſch Oeſterreichiſche iſt natürlih in all dieſen kirchlichen
Dichtungen, ſowohl der Kloſterdame Frau Ava, als in dem hoben
Liede des Abtes Williram, eines Franken aus Cberöberg (F 1085) und
*) Hier fei daher nur eine feltfame Deutung der Anmweifung alter Spiel.
bücher erwähnt: resurgentem adorent nobiscum dicentes: „aevia,
aevia. Ew.“ Bas aevıa jei, erfahren wir gar nicht, Ew wird ergänzt
Ewangelista!! Nun giebt das Wort aevia die Volale ae ui a, um
die Spieler zum Anftimmen des Alleluia aufzufordern, und das
ew, gewöhnlih evovae gejhrieben, giebt die Vokale der Schlußworte
von in secula seculorum amen, die bier halbfett gedrudt find.
Rotizen und Beiprehungen. 149
ſonſt recht jpärlich vertreten, ebenjo auch in den Fleineren kirchlichen
Dichtungen und Legenden. So viel Poefie zwar in den bejjeren Legenden
gerettet it. jo harte Prüfungen des gefunden Menjchenverftandes jtellen
do die vielen anderen dar, und wen nicht Liebe zu unjerer alten
Sprache hinzieht, der würde die darauf geiwendete Zeit und Mühe be=
Hagen. Freilich ijt immer zu bedenken: man bildet jich wohl ein, die alte
deutiche Dichtung jo ziemlich zu überjehen, doch was iſt's im Ganzen, ala
traurige Trümmer? ind der beliebtejten Bücher des dreizehnten Jahr:
hundert3 war das Marienleben des Karthäujerbruders Philipp von Seiß,
auch des Gundaler von Judenburg „Chriſtes Hort” (5305 Bere) iſt nicht
unbedeutend. Wir erhalten noch Notizen über die Dichtungen des Mönches
Andrea Kurzmann von Neuberg in Steier, werden dann mit der Kindheit
Seju des Konrad von Fußesbrunn, eined Schülerd Hartmannd von Aue,
ins Donauthal geführt, dann aber bricht3 ab mit Verweiſung auf Goedekes
Kapitel „Legendendichtnng“ !
Erjt mit dem vierten Abjchnitt „Rittertum“ und der erzählenden
Dichtung tritt dad Donauland in nennendwerthe Konkurrenz; mit der vor—
angegangenen übrigen Deutjchen Kunftentfaltung. Da ijt der Strider
mit mancher geijtvollen Erzählung, der Pleier, Enenfel mit feiner zu
einer Weltchronif ausgeweiteten Gejchichte Oeſterreichs“ da ijt der oft jo
ungerecht geringgeihägte Ritter Ulrich von Liechtenſtein und, wohl die
dichterijch bedeutjamjte Leijtung, der Meier Helmbrecdt, der nur nicht
eigentlich al3 Dorfgejchichte wäre zu bezeichnen gemejen.
Ulrid von Liechtenjtein, das verdient bejondere Anerkennung, iſt hier
endlich einmal nad) feinem VBerdienjt gewürdigt. Man darf billig erjtaunt
jein, daß die hohe Begabung und Kunſt dieſes Mannes bei unjeren
Literatoren bisher jo verlannt werden fonnte. Kennt und nennt man ihn
doh jajt nur als ein Mujter ganz bejonderer Verrücdtheit wegen jeiner
QTurnierfahrten und entrüjtet ſich über feine „Unſittlichkeit“ und Frivolität.
Daß er der poejievolle, alle Töne virtuos beherrichende aber auch der unjerm
heutigen Empfinden am nächſten fommende Lyrifer des Mittelalters ift,
wen fümmerte e8? Auch jo im guten Sinne voltsthümlich iſt faum ein
anderer Minnefinger. Ein ganz reizender Zug, der den ganzen Mann
fennen lehrt, wie er leibt’ und lebte, wird ©. 207 nad) der jteierijchen
Reimchronik erzählt: „ALS die jteierifchen Herren aus jener langen, bitteren
Gefangenſchaft bei Ottofar ſich mit vielen großen Opfern gelöjt haben und
aus ihren Kerfern fommen, da merkt nıan ihnen allen an, wie jchwer die
harte Haft und die Sorgen fie bedrüdt haben: bleich, mit jpannenlangen
Bärten, hinfend von der Dual der Feſſeln, jo treten jie betrübt vor den
gewaltigen Böhmenkönig. Nur der Liechtenjteiner allein, der hat fich den
Bart zuvor jcheeren laſſen, hat neue, jchöne Kleider angelegt, thut, als
wenn ihm gar nichts widerfahren wäre, und gehabt jich jo munter, daß
der König darob verwundert feinen frohen Sinn preiſt.“ — E3 ijt derjelbe
150 Notizen und Beiprehungen.
Mann, der blutige Zähren weinen fonnte, zum Stein erbarmen, wenn
jeine hochmüthige Herrin ihr Ninglein zurüdbegehrte. *)
Die eben erwähnte jteirische Chronik des Ottofar (von Horneck) ijt von
Seemüller gewürdigt.
Mit der böfiihen Epit in Böhmen verlafjen wir den eigentlich
öjterreichiichen Boden. Dankbar jedody müfjen wir fein für die forgjamen
Dialektitudien dieje wieder jo arg bedrängten altdeutichen Kulturbodens.
Bog der erjte Ottofar wohl vorzugsweiſe Sänger aus den Alpenländern
an, aus Tyrol, Salzburg, Dejterreih, Kärnten, jo dody auch andere und
der mit Ottofar II. in perjönlichem Verkehr jtehende Ulrich von Ejchenbadh,
der nicht talentloje Bearbeiter der Alexandreis des Gualtherus von
Chatillon, war doch wohl ein Bayer, wie jein großer Namensvetter Wol-
fram. Auch die Fortjegung des Trijtan von Heinrich von Freiberg, glatt
und geihmadvoll erzählt, gehört in diefen Kreis. Der Nüdblid auf das
höfiihe Epos ©. 224 ijt kurz und gut.
Nach kurzer Darjtellung der Schwanf- und Novellendichtung, aus der, bei-
läufig gelagt, unfere heutige Luftipieldichtung köftlihe Motive nehmen
fünnte, wenn man nicht jo — fittli wäre, ji an Sardou und anderen
franzöfiihen Pofjenfabrifaten zu begnügen, wendet ſich das „Handbuch“
zur Darftellung der höfiſchen Lyrik.
Ic kann vor allen Dingen nicht darin einjtimmen, in Walther von
der Vogelweide einen Dejterreicher zu jehen. Wir willen ja Alle, man
hat ihn fich neuerdings ganz rejolut zugeeignet und auf den jchönen Platz
zu Bozen als deutjches und antirömijches Wahrzeihen aufgerihtet. Das
mag ganz jchön jein.**) Man hatte es aber ein wenig eilig damit. ich
habe nicht dawider, den höfiſchen Redaktor des Nibelungenliedes als
Tyroler gelten zu lafjen, aber Walther gehört, meine ich, von Geburt!
wegen nach Franken. In Dejterreih lernte er nur fingen und jagen
und hat auch mandherlei Trübed erfahren. Das fann hier nicht näher
ausgeführt werden.
Unjer Werk will natürlicdy aud) die Anficht Konrad Burdachs nicht
gelten lafjen, daß nämlich Dejterreih von dem Strome der höfiichen
Voeſie, die ja von Weiten her drang, am fpätejten jei erreicht worden.
Es habe eben jehr viel „bodenjtändigen“ Volksthums bewahrt („boden
jtändig* ijt ein Lieblingswort der Herren), ja die ältejten Minnejänger
jeien Dejterreicher, mindejtens Zeitgenofjen des Veldeke.
Co wird hier auch Reinmar der Alte, der von Hagenau, die Leite-
frau des deutschen Nachtigallenchored, für Dejterreich in Anjpruch genommen,
) Dazu fiimmt nun freilich jchleht, wenn ein anderer der vielen Mit:
arbeiter des encyllopädiihen Buches (j. S. 214) gleid wieder von dem
„Don Quixote des Mittelalters" redet. —
**, Auch an einem Bismarckdenkmal in Graz oder Cilli würde ja
fein Reichsdeutſcher Anſtoß nehmen.
Notizen und Beiprehungen. 151
weil e3 bei Braunau und Linz, und in Niederöjterreich noch vier andere
Hagenauen giebt. Die Mafje muß e3 bringen. Wir wollen nicht jtreiten,
gelebt hat der Mann ja am Hofe Xeopolds V. (1177—9.) Es jei
typiſches Geſchick des Dejterreichers, heißt es einmal (241), in der Heimath
nicht, oder lange nicht anerkannt zu werden. in leider durch die ganze
bewohnte Erde geheiligter Typus. —
Man glaube ja nicht, daß die Zueignung Walther auf reiner Be-
wunderung jeiner tüchtigen deutjchen und antiultramontanen Haltung be=
ruhte, die ihm Töne eingab, wie die Welt fie nur nod aus Luthers
Munde vernahm! Weit gefehlt! die Herren Nedaftoren und Mitarbeiter,
zum Theil jelber Geijtlihe und hohe Würdenträger öffentlichen Lehramtes,
verderben es nicht mit dem Romanismus und Sefuitismus. So wird
Walther hier fajt ähnlich gejcholten, wie jchon zu feinen Tagen von dem
deutih reimenden Staliener, dem Domherren Thomafin von Zirklaria.
Er habe jich ca. 1212 mit maßloſen Mitteln an die Spite des politischen
Kampfes gejtellt, dem gebannten Otto IV. ein Glüdauf zugerufen. „Die
Klugheit und Bejonnenheit jtanden damald nicht auf Waltherd Geite.“
Das iſt zwar bloß als Zitat gegeben (249) aber doch offenbar mit Zu—
jtimmung der Herren Herausgeber.
Nocd einmal, bei Erwähnung des braven weljchen Domherrn ver:
nehmen wir lagen über den böfen, widerpäpitlichen und unzufriedenen
Walther, der immer mit Bitten läjtig fiel! Nun da tröfte man jich
mit dem frommen Hugo von Montfort (7 1423), dem legten und freilich
auch lederniten Vertreter des Ritterthums in Steier (und Vorarlberg)
oder mit Oswald von Wolfenjtein (1367—1445)! Zu loben ijt die Be—
jcheidenheit der öjterreichifchen Literatoren, die jie hindert, auch Freie
danks Beiceidenheit für ſich anzujprechen, „bei dem Mangel an Nach—
richten über den Verfafjer“. (277.)
Ehe wir die Grenze zur neuen Zeit überjchreiten und uns durch
Proſeſſor Jakob Zeidler in Wien über die dramatijche Literatur des vier-
zehnten und fünfzehnten Jahrhunderts unterrichten lajjen, war ein kurzer
Aufiag (von R. von Kralik) über die Muſik zu genießen. „Nichts iſt
jo jhwer u. ſ. w.“ Wir verjtehen nicht davon. — —
Als Illuſtration, mohl nah dem schönen Berleger- Grundjaß
„ein Bild um jeden Preis“, ſieht man unter andern die Photographie
des Rathhaujes zu Sterzing in feinem heutigen Zuſtande. Warum?
Weil in demjelben und jpeziell in dem auch abfontrafeieten Archivzimmer,
die Bajlionsipiele gefunden wurden, von denen nun zu handeln war.
Damit Dejterreich doch aucd auf diefem Gebiete hervoriteche, jo jollen
fih jeine Spiele vor den „Nürnberger Machwerfen“ bejonders vortheilhaft
auszeichnen. Sit das nicht faſt Findifcher Negionalismus in der Literatur-
geſchichte? „Machwerke“ kennt man wohl im Kaiſerſtaate gar nicht?
Die Entwidlung ded Dramas wollie es jo, daß es die Kirche (und
152 Rotizen und Beſprechungen.
den Schuljaal der Klöfter, muß man wohl hinzufügen) vermied und auf
den Markt hinaus oder in die Säle der Nathähäufer flüchtete und damıt
in die Hände de3 zünftig gegliederten Bürgerthums gelangte. Daß nun
der Einfluß der Nenaifjance fich ſtark geltend macht, ift begreiflich genug.
Hand Sad ijt in der That eine Parallelfigur zu Albredt Dürer.
Ob wirklich der Uebermuth der Vaganten und Spielleute den Auszug aus
der Kirche verjchuldete, lafjen wir auf fich beruhen. Hauptgattung blieben
noch die Diterjpiele und Tyrol ſah die reichjte Entfaltung diefer Blüthe.
„Wien litt viel im Dienjte feiner Mifjion in der Oſtmark.“) Seit 1580
fam Oberammergau und jpäter Hörig der Bedeutung Sterzings nahe.
Daß der Protejtantismus die Schullomödie an Stelle diejer Spiele
jegte, nehmen die Herren doch hoffentlich nicht für ungut, da es ihm ja
bald die lieben Herrn Jeſuiten recht emfig nachmadhten.
Aus der großen Schwanfjammlung Adalbert5 von Keller liegen ſich
einige ausjondern, (j. ©. 370) die als öjterreihifch zu gelten Aniprud
haben, aljo auch frei von Nürnbergijhem Einflufje jeien. Zu ihnen,
ganzer jechjen, tritt jeit 1510 die Sammlung PVigil Rabers. ALS älteſte
Poſſe (fie ift unflätig genug) gilt das Neidhartfpiel (c. 1350), nur 58
Verſe (S. 372).
Es iſt aber nicht erkannt, daß wir hier doch nur den unreifen Ber:
ſuch der Dialogifirung eines alten Schwanfes vor uns haben, der auf
den Namen des Neithart von Neuenthal geht und, daß V 35 nicht jo:
wohl eine Regiebemerkung fehlt (fie fteht ja da: Vadat Nithardus et
ponat florem sub pileo et redeat) als daß fie unvolljtändig iſt. Der
rusticus muß, nachdem der Ritter Nithart den Hut über das erite ent—
dedte Veilchen gededt, jeinen anders gearteten Viol unter den Hut jegen.
Es ijt eben ein Eläglicher Verfuch, den groben aber wenigftens wißig vor:
getragenen Spaß zu dramatifiren, den man in v. d. Hagens Minne
jängern III, 202 nachlefen mag. Dejterreich hatte feinen Grund, auf dieſe
ältefte Poſſe ftolz zu fein. Der alte Schwan ift eine der übermüthigiten
Farcen des romantisch-höfiichen Frühlingfuchens und Grüßens. An Rabers
Stüden wird auf Grund der Charakterifirung Michels, und gemik
mit befjerem Recht, „unverfälichte Bodenjtändigfeit“ gerühmt. Der inımer
wieder vorjchlagende Aerger über das rivalificende Nürnberg wirkt auch
bier fajt komiſch.
Mit der neunten Lieferung beginnt der zweite Salbband des
*) Daber jei das Wiener Paſſionsſpiel von St. Stephan dort das einzige.
Das Egerer Spiel, feine Duelle, mag jhon eine Kompilation älterer
fein und u. a. die Prager Marientlage wörtlich ſich einverleibt haben,
für uns bleibt e& wegen der jauberen Redaktion eins der interefjanteften
Denkmäler dieſer Kunftübung. An Gehalt ficht e8 dem Oberammer-
gauer Spiele gewiß nicht nad, aber es tft zu lang. Gedrudt in den
Schriften des Lit. Vereins Bd. 156.
Rotizen und Beſprechungen. 153
„epochalen“ Werkes, wie ed die Wajchzettel des Verlags nennen. Er be:
handelt die Zeit von der Reformation bis zu Maria Therejia.
Man mißverjtehe und nicht, wenn wir auch bei dem kurzen Blick auf
diefen Abſchnitt, ja hier noch ſchärfer, die Schiefheit de8 Grundgedanfens
diefe8 ganzen Unternehmens betonen müſſen, al3 jchäßten wir die viel-
fahe Belehrung gering, die dem allerdings etwas wirren und un—
gleichartigen Zuſammenwirken jo vieler tüchtiger Forſcher zu verdanken
bleibt.
Nicht nur in Dejterceih lag bis ind beginnende jtebzehnte Jahr—
hundert Literatur und Wiſſenſchaft in geijtlichen Händen. Es ijt ganz
richtig, das jogenannte Klojterlatein, das Medium jeder höhern Bildung,
ift Feine todte Spracde, jondern ununterbrochene, lebendige Tradition der
Schichten der Bildung, und wie jede lebendige ward e3 angeeignet im
Umgang, nit an der Hand von Paradigmen und Wörterbüchern oder gar
Sammlungen Ciceroniſcher Phrajen unlebendig zujammengejtümpert.
Wir leugnen auch unjererjeit3 keineswegs das hohe Verdienſt Victor
Scheffels, der den Wahn von dem angeblich „finjteren Mittelalter“ zer—
jtört habe. Wir ſchätzen aufs Höchſte den Geijt St. Benedikts, des ge-
waltigen Erzieherd der mittelalterlichen, doch noch höher den Einfluß des
b. Bernhard auf die mitteleuropäiiche Welt.
Wer wollte noch leugnen, daß aud der Humanismus mit der Pflege
der Wifjenichaft in engem Bezuge jtand, wie fie in den Klöſtern, Benedik—
tinern, Gifterzienfern und Chorherren, gepflegt ward? ber e3 ijt doc)
bereit5 ein neuer Geiſt in der italienischen Renaiffance geboren, den
Ulrich von Hutten mit dem Jubelrufe begrüßte, es iſt eine Luft zu leben.
63 ift der Geijt eines jtarfen Individualismus, der nothwendig die lange
Bevormundung der römischen Kirche zerbrechen mußte.
Daß die deutihen Lande Deiterreihd und des Südens fich dem
Segen der Reformation jobald wieder abwendig machen ließen, unter
einem Spanier, der fein Deutſch veritand, daran laborirt dieſes Neich bis
heute zu feinem und unjerm großen Schaden. Hier zeigt nun unjer Hands
buch eine Befangenheit, die geeignet wäre, den Riß zwijchen dem Norden
und Süden nod) zu erweitern, wenn nicht glücliche Folgen unjeliger
Verblendung mächtiger wären, dennoch die alte Brüde wieder zu bauen.
War e3 doch mit der Bedeutung Wiens, das eine Zeit lang der Mittel:
vunft des Humanismus gewejen (Conrad Celtis) auch bald vorbei.
Denn mit der Reformation trennt ſich Dejterreich vom Norden, in dem
es grollend aber ohnmächtig neue fräftige Staatenbildungen ich durch:
jegen jah. Und gleichwohl ward es vom Norden her doc allmählich,
wenigitens literarijch, wieder angegliedert. Der allgemeinen Herrichaft
der neuhochdeutſchen Schriftiprache vermochte es ſich nicht zu entziehen,
ihon darum nicht, weil ein großer Theil ihrer Wurzeln in den eigenen
Boden hinabreidhte.
154 Rotizen und Belprehungen.
Mit der Abkehr der Reformation und der Auslieferung des geiftigen
Lebens an die jpanischen Jeſuiten ift auch die Folge herrlicher Anjäge ab»
gebrochen.
Gewiß, al Kaifer Karl IV. Prag (1348) zur Univerfität
machte (Wittenberg genoß e3 bald) und den bewunderten Batrarca zu
ſich fud, da war es eine Weile die Heimjtätte der Nenaifjance in Deutſch—
land. „Der Kanzler oh. v. Neumarkt verjeßt fajt jchon in das Weimar
Karl Auguſts.“ (S. 408) Faft! Aber wo bleibt die Folge, um diejes
Wort im Goethiihen Verſtande nod) einmal zu, brauchen?
Die Herren wifjen ganz genau, daß das deutſche Gemeinſamkeits—
leben im Zeitalter der Reformation (durch den Jeſuitismus) zerjtört ward;
jie erinnern und wehmüthig an die Thätigfeit eines Nicodemus Friſchlin
in Laibad, an Balthafar Hubmayr, Nicolaus Herman, den großen
Prediger Joh. Mathejius.
Ziemlich flüchtig, — es foll kein Tadel fein, denn wir wiſſen wohl,
ein eucyklopädiſches Sammelwerk kann nicht jedes Thema erichöpfend be—
handeln — geht und der öjterreichifche Meijtergefang und die dramatijche
(Schul⸗) Dichtung vorüber, die zum guten Theil gleichfalls ſich in den
Dienjt der Reformation gejtellt hatten.
Ih kann nicht umhin, hier ein merfwürdiges Aufleuchten der Selbit-
erfenntnig zu zitiren, das milder wirken mag, ald wenn ein Nichtöjter:
reicher es ausſprechen ſollte. Es ijt zwar ganz gewiß nicht im Sinne
aller Herren Mitarbeiter gejagt, aber die Leitung hat es doch durch—
gehen laſſen.
©. 573 unten (es war die Rede von dem breiten und trodenen
Dramatifer Schmelpl.)
„Er verpflanzte das deutjche Schuldrama, dad ihm vor Allem in
Sachſen nahegetreten war, nad) Oeſterreich. Daß er aber diejes in der
Schule eines Klojters zu Wege bringen konnte, war nur möglich im Hinblid
auf die irenischen Neigungen, welche Dejterreich während feines Wiener Auf:
enthaltes beherrichten. Sein Drama fußt ebenfo wie da3 Iutherifche auf
der Bibel, nur daß es jede Polemik vermeidet. Sehnſucht nad) Ruhe und
örieden, Pflege aller jtillen, herzlichen, häuslichen Tugenden, tiefe Web:
muth über die Zerrifjenheit der Welt find die Sonne, welde dieſe Schul:
bühne beleuchten. Wenn nun Schmelgl in der Vorrede zum „blindges
borenen Sohn“ jagt, er habe die Aufführung nad) alter Gewohnheit für
den „Sonntag Lätare, obwohl er zu jeiner Zeit bejier
Trijtare* genannt wirde, bejtimmt: jo ijt das tiefgefühlte Wahrheit.
Man wird fait an das Grillparzerſche Ideal von „des Inneren jtillem
Frieden“ und noch mehr an die rührende Figur des armen Spielmanns
gemahnt. Das it die Tragödie des von Haus aus lebensfroben, liebens-
würdigen Menjchen, der, hineingeftellt in die großen Konflikte einer
ichweren Zeit, welche Härte und Entjchiedenheit verlangt, die Fragen des
Rotizen und Beiprehungen. 155
Verſtandes und der umerbittlihen Nothiwendigfeit jo gerne nad) der
Logik des guten Herzens löjen möchte. Das ijt die öſterreichiſche
Volksſeele, welde und ebenjomohl im milden Markgrafen Rüdiger
al3 in den Geitalten der eigenthümlichen Märchenwelt Raimund ent-
gegentritt.* Grillparzer habe die Tragik diejes Defterreichertfums in
der Figur Kaiſer Rudolfs II. meifterhaft dargeſtellt. — —
Einer der bedeutenditen Abichnitte ift dem interefjanten Kapuziner—
Prediger Abraham a. ©. Clara (geb. 1644 + 1. 12. 1709) gewidmet,
auf Grund eines jehr erichöpfenden Buches Karajans. Ob die be-
geifterte Schilderung genügen werde, ihm doch noch ein Denkmal zu er—
richten, müfjen wir abwarten. Hier lejen wir (626): Die „bethörte,
verjehrte und verkehrte Welt aber hat es biöher weiblich (sic) unterlafjen,
ihm ein öffentliches Denkmal zu jegen oder auch nur eine Gafje nad) ihm
zu benennen, ein trauriger Beweid, wie wenig wir Dejterreicher unjere
hervorragenden Staatdmänner adten und — fennen.“ Das ift ja wohl
fein Wunder, daß das verbiejterte und von dem poefiefeindlichen
Nicolai damal3 beherrichte Berlin diejem Geijte 1795 und 1797 nicht
gerecht werden fonnte, man gab eine angeblide „Quinteſſenz“ aus feinen
Schriften ald „ein GSpezififum fürd Zwerchfell“ heraus. Schon die
baroden Zitel wirkten hier wie „Knallerbſen oder du ſollſt und mußt lachen.“
Auh Leſſing hat ihm feinen Gejchmad abgewonnen, das joll an
dejien „oft pedantiiher Aeſthetik und Logik“ gelegen haben. Nun
dafür bat ihn Goethe für Schillers Wallenjtein entdedt. Ganz
Ganz bejonders hohmüthig behandle ihn Gervinus. Aber am iübeljten zu
ſprechen find die Herren auf Wilhelm Scherer. Wir hatten wohl aud)
Manches an Scherer und nod) mehr an jeinen Schülern zu bemängeln,
bier müfjen wir doch Anzapfungen von ihm abmwehren, die eines gewijjen
pfäffiichen Beigeſchmacks nicht entbehren. 3. B. wenn ed ©. 640 heißt:
„Man jchmälert nun dieſes Verdienjt des freimüthigen Predigerd, indem
man (der Mann war eben Scherer) den Kaiſer Leopold der lächerlichen
Eitelfeit bejchuldigt, er habe gerne jeine Räthe und Höflinge mit der Brühe
des Spottes übergießen lafjen, wenn er nur felbjt verjchont blieb, um da=
durh an „Superiorität“ zu gewinnen. Einem religiö® gejinnten Habs—
burger fann man eben ohne Beweis heute Vieles nachſagen, ohne des
bereitwilligjten Beifalld zu entbehren.“ Auch daß Scherer al3 nervös
und „protejtantijch ungerecht“ bezeichnet wird, beſtärkt uns nur in der
Ueberzeugung, daß die gelehrte Welt Deutjch-Dejterreih gegen römische
Pfaffen immer noch zärtlihere Rücdjichten nimmt, als fie weiß Gott
verdienten.
Wir gejtehen gern, dem baroden Augujtiner, der jchon durch die
Organijation feines Ordens „bodenjtändig“ ſei, nad) dieſer Beichnung
liebenswürdige Züge abgewonnen zu haben. Für „die Barode“ jedoch
und zu erwärmen vermögen wir verjtandesnüchternen Proteftanten nun
156 Notizen und Beiprehungen.
einmal nicht und die ſchlimmſte Empfehlung wäre wohl die Zenſur, nad
der Barod jo viel wie warmherziger, funjtfreudiger Katholizismus, die den
norddeutichen Protejtantismus beherrichende franzöfiihe Renaifjance aber
weſentlich rationaliftiih, unjinnlich, falt und nüchtern je. So wird
rühmend der Jeſuit und große Gelehrte Athanafius Kircher als offenbar
ihönered Parallelbild zu Leibniz gegeben.
Wir jagten bereitd3, daß wir die populäre Furcht vor den Jeſuiten
nicht theilen, aber das wiljen wir leider nur zu wohl, daß wahrhaft un—
parteiiſch jich wohl protejtantijche Wiſſenſchaft erweiſen mag, nicht aber
jejuitifche, die niemals ihre DOrdensziele als Hintergedanfen oder secondi
fini, wie die Wäljchen jagen, lo8 werden fann. Hier bleibt eine Kluft be—
fejtigt, ja fie jcheint zur Zeit durch die politiiche Macht unjere® Zentrums
erweitert und ein Werk, wie das beiprochene ijt nicht geeignet, ſie zu be=
jeitigen. Der deutjche Bruder drüben im vielipradigen ſchlimm erregten
Kaiſerſtaate, dem wir gern die Freundeshand Hinjtredten, dem wir auch
wohl nützlich zu jein kräftig genug wären, er muß uns nicht zurüdgeben:
„Du gemüthlojer Steger!“ — —
Weimar, im September 1899. dran; Sandvoß
(Zanthippus).
Halbthier! Roman von Helene Böhlau (Frau al Raſchid Bey). Verlag
von F. Fontane & Co. Berlin 1899.
Das Buch verdient denjelben Erfolg und Beifall, den Gabriele Reuters
Roman „Aus guter Familie“ gefunden bat. Doc ijt die Art diejer beiden
Romane von Grund aus verjchieden. Die Neuter gab mit aftenmäßiger
Genauigkeit eine naturtreue Darlegung wirklicher Lebensverhältniſſe. Die
Böhlau erhebt ſich mit der Flugkraft der Phantaſie aus der flachen Ebene
der Wirklichkeit zur Höhe der Ideen. Ahr Roman ift ein idealiftiiches
Verf. „Halbthier“ iſt die Frau in ihrem Verhältniß zum Mann, der als
Herr der Welt das jchwächere Gejchlecht zur Ordnerin und Hüterin feiner
häuslichen Bequemlichkeit benugt — das heißt dann Ehe —, oder zur
Befriedigung feiner ſinnlichen Lüſte — dann nennt er’3 Liebe. Das
Leben des ehelichen Halbthiers führt die Gattin des berühmten Schrift-
jteller8 Heinrih Ewald Frey, der im Haufe Haustyrann und draußen, in
der Gejellichaft, gefeierter Künjtler ift, der für Freibeit und Schönheit
fih herrlidy begeijtert. Bei den Nachtizenen in der Familie Freys ent:
wicelt die Verfafjerin eine unheimlich ergreifende Schilderungsfunft. Sit
die Frau wirklich zu nicht® Anderem, Höherem bejtimmt, als gute Haus—
frau, getreue Dulderin, jorgjame und ewig geplagte Mutter zu jein? Lebt
nicht auch in ihr ein Drang nad) den vom Sonnenglüd umglänzten Höhen
des Lebend? D gewiß, diefer Drang lebt in der Frau, er lebt vor
Nottzen und Beiprehungen. 157
Allem in Freys jchönheitsjeliger Tochter Iſolde. Wie aber wird der
Drang zum deal befriedigt? Siolde, in der die Sünftlerfeele des
Vaters ſich regt, lernt den Maler Henry Mengerjen fennen, zunächſt aus
jeinen Werfen. Sie ijt entzüdt von diejen Bildern, begeijtert, erhoben;
jie findet darin ihre eigenen feinjten und herrlichiten Gefühle offenbart.
Sie liebt Mengerfen aus jeinen Werfen heraus, liebt ihn mit Inbrunft
und Anbetung. Sie verwechjelt den Künſtler mit dem Menjchen, um diefen
Irrthum bitter zu büßen. Mengerjen ijt entzüdt von dem Liebreiz,
der Gefühläkraft, der Schönheit und Reinheit Iſoldes, der Künſtler in ihm
iji entzüdt. Sie erjcheint ihm wie die Göttin der Reinheit und Keujch-
beit, die er in ihrer unberührten Nadtheit malen möchte. Für Iſolde fließt
Kunit und Leben in Eins zujammen und fie opfert ſich aus Liebe und
Runftbegeijterung: fie wird Mengerjend Modell. Als Künftler ijt der
Maler entzüdt von dem Modell, als Mann jieht er in dem Mädchen nur
den begehrten Gegenitand finnlicher Lujt. Der Mann veradhtet, was der
Künſtler verehrt hatte. Was dem Künſtler Göttin ift, it dem Manne
Halbthier. Iſolde mwähnte, aus dem Rauſch ihrer Liebed- und Kunſt—
begeijterung wieeine Heilige ein Opfer zu bringen, und fieht jich gedemüthigt
wie eine Hündin. Das ijt das Problem, das im Mittelpunkt des Romanes
ſteht. Iſolde aber ift zu ftarf, um ſich jo jchnell brechen und demüthigen
zu laſſen. Sie verabjcheut, wo fie verehrt hatte. Der Maler aber begreift
diefen Abſcheu nicht. ebenjowenig wie er vorher den Sinn des Opfers be=
griffen hatte. Er bleibt dabei, daß des Weibed Leben daS Leben der
Sinne iſt und daß diejed Leben im Grunde doch nur für des Mannes
Sinnenlujt bejtimmt iſt. Diejen Glauben muß er mit dem Leben bezahlen.
Denn als er — ſpäter einmal — mit Iſolde an einjamer Bartjtelle
zufammentrifft und die Arme begehrlich nach ihr jtredt, wird er von dem
verfannten und geichmähten Weibe erjchofjen. So verfällt Iſolde als
Mörderin dem Tode, nad bürgerlichen Recht. „Alſo dem Tod lief fie
zu? Da, und mit auögebreiteten Armen. Nein, ſie kroch ihm nicht
entgegen. Gottlob! Das fühlte fie mit Jubel, fie kroch nicht! Dann hatte
fie doch etwas im Leben erreiht. Dann war fie doc) etwas. Uud da
war ed wieder dad wunderbare Gefühl. Sie empfand ſich wieder al3 der
Begriff des ewig bedrüdten Weibes, des geiltberaubten Weibes, der Sklavin
aller Völker. Und da brach ein Jubel in ihr auf. „Und habt ihr eine
Welt auf mich geworfen — ich breche durch! Und Habt ihr mich verichüttet
mit Schutt von Fahrtaujfenden — ich breche durch!“ Da mußte fie aufs
ihreien im Sraftgefühl. Dann barg fie ihr Geficht in einen vollen, jungen
Buchenbuſch, der am Wege herrlich entfaltet jtand, weich und grün, feucht
und flaumig. Sie fühlteihr junges Geficht in feinem duftenden Laub. Sie wühlte
es ganz darin ein, wie in die Freuden der Erde. „Wie in die Freuden der Erde!“
Das fagte fie wei und innig. Dann warf fie ſich nieder und küßte den
Boden, auf dem fie jtand: „Ich fomme wieder“! rief fie laut. „Ich komme
158 Rotizgen und Beiprehungen.
wieder!“ Und wie im Gebet prefte jie die Hände ineinander. Sa, te
wollte mwiederfommen, — und fie mußte wiederfommen. Das war ihr
fejter, großer Wille, ihr heiliger Entichluß. Es gab hier eine Welt dumpfer,
dummer, matter Seelen, Halbthierjeelen! Sie wollte einen tiefen Todes—
ihlaf halten, der die Kräfte jtrählte; dann wollte fie wiederfehren, jtart
und rein und gut — und mächtig — Alles vermögend mit der Kraft zu
erlöjen. So jtand fie unerjchütterlich, Herrin über Leben und Tod — in
der Wonne ihrer großen Kräfte jchon entrüdt — und wartete auf Die
Sonne.“ — Dies ijt der idealiftiich-ymboliftiihe Schluß des Romand. Er
fann und darf allein als eine idealiftiiche Kunſtleiſtung genoſſen und be=
urtheilt werden. Es iſt jelbjtverjtändlich, daß in „Wirklichkeit“ und im
allen Fällen die Stellung der Frau die eined „Halbthieres* nicht iſt. Sch
erinnere 3. B. an den Roman der Höchjitetter: „Sehnjudt, Schönheit.
Dämmerung“, in dem die Frau geradezu als Halbgöttin dargeitellt iſt.
Und miürde Helene Böhlau, die gemüthstiefe Verjafjerin der „Altweima=
riſchen Liebes: und Ehegeſchichten“ etwa Chrijtene® Verhältnig zu Goethe
als „Halbthierifch“ bezeichnen wollen? Dennoch bleibt ficherlic; das Hecht
bejtehen, von einer bejtimmten Stellung aus und aus gewifjem, perſön—
lihjtem Eindrud das Berhältniß zwiſchen Mann und Weib einmal jo Dar:
zujtellen, wie e8 in dem vorliegenden Roman gejchehen iſt. Die künſtleriſche
Wirkung ift garnicht jo jehr von der objektiven Richtigkeit und von der
beweisbaren Allgemeingiltigfeit abhängig, als vielmehr von der Kraft der
jubjeftiven Seelenjtimmung und der Eindrudsfähigfeit, mit der das jub-
jettiv Empfundene zur künſtleriſchen Darjtellung gebracht ift. Unter den
von Frauenhand gejchriebenen Emanizipationdromanen jteht Helene Böhlaus
„Halbthier* durch die Höhe der Ideen, die Stärke und Aufrichtigleit der
Empfindung, die Schärfe der Charakteriſtik und die Eindringlichkeit der
Darjtellung an erjter Stelle. Mar Lorenz.
Nationalökonomie.
Die engliiche Agrarfrifis, ihre Ausdehnung, Urjadhen und Heil-
mittel. Nacd der Enquete der „Royal Commission on Agriculture“
bearbeitet von Dr. Oskar Stillih. Jena 1899. Guſtav Fiſcher.
VIII und 149 Seiten. Preis 3,60 ME.
Am September 1893 wurde in England eine königliche Kommiſſion
zur Unterfuchung der Agrarkriſis ernannt, die bi8 1895 in 177 Sitzungen
tagte und 191 Sadverjtändige vernahm. ihre Ausjagen (46151 Fragen
und Antworten) und fonjtige Materialien wurden in drei großen Blau
büchern 1894 und 1895 veröffentlicht, die jchon 1896 von König für fein
Nothzen und Beipredhungen. 159
Bud über die Lage der engliichen Zandwirthichaft benugt wurden. Der
Schlußbericht (Final-Report) der Kommiſſion, der den ganzen ungeheueren
Stoff ſyſtematiſch zufammenfaßt, ift dagegen erjt 1897 erjchienen.
Seine Ergebnijje einem größeren deutjchen Lejerkreije vorzuführen, iſt
der Bmed der vorliegenden Arbeit, die meines Erachtens al3 eine der
wichtigſten nationalöfonomishen Publikationen des legten Jahres bezeichnet
werden muß. Die ungeheuere Schnelligkeit der modernen wirthichaftlichen
Entividelung, die in wenigen Dezennien die ökonomische Situation eines
Landes von Grund auf umgejtaltet, tritt und bier mit jeltener Plaſtik
entgegen. E3 ijt ein Bud, das in der gegenwärtigen wirthichaft3=politifchen
Situation Deutichlands bejondere Beachtung verdient, da ed und zeigt,
welche bedenkliche Tragweite die durch den Preisiturz der landwirthichaft-
liden Produkte hervorgerufene agrarische Kriſis auch bei und angenommen
hätte, wenn nicht durch den Schußzoll ein gewifjer Ausgleich zwijchen den
Produftionsbedingungen der deutſchen und der billiger produzirenden
fremden Landwirthichaft hergeitellt worden wäre.
Aus der reichen Fülle des ſehr gejchidt und in anziehender Form
verarbeiteten Materials jeien nur wenige Thatjachen kurz hervorgehoben.
Die in den jiebziger Jahren einjegende ausländiiche Konkurrenz hat
mit bejonderer Wucht den Aderbau, namentlich die Getreideproduftion,
getroffen; der Viehzucht ift ein ausländischer Wettbewerb erjt in den uchtziger
Sahren eritanden, und er hat bisher aud) nicht die jelbe Intenſität wie
im Körnerbau erlangt. In Folge deſſen hat fich die Weidewirthichaft auf
Koſten des Aderlandes ſtark ausgedehnt; e3 entfielen in Millionen acres
auf das 1875 1895
Aderland . . . . 1810 15,97
Weideland . . . . 13,31 16,61
Summa: 31,41 32,58.
Um ſtärkſten hat jich die Anbauflähe für Weizen verringert, der am
meijten im Preiſe gefallen ijt; fie betrug 1873/75 3,67 Mill. acres,
1893,95 nur no 1,79 Mill. acres. In den jtebziger Jahren deckte die
heimische Produktion noch die Hälfte des Weizenbedarfs, gegenwärtig aber
nicht mehr ein Viertel. Günſtiger liegen die Dinge bei Gerjte und
namentlich bei Hafer, wo nur 40 und 20% des Bedarf vom Auslande
bezogen werden.
Trog der Vergrößerung des Weideareald hat die Viehzucht Feine
Sortfchritte gemacht; der Viehbeſtand ijt im ©egentheil jogar eher
zurüdgegangen. 1892 gab ed in Großbritannien 6,945 Mill., 1895 aber
nur 6,354 Mill. Stüf Pindvieh. Auch die Schafe hatten fich gleichzeitig
von 28,735 auf 25,792 Mill. Stück verringert. Die geſammte jährliche
Fleiſchroduktion wurde geſchätzt:
1876/78 auf 1,326 Mill. tons
1893/95 „ 1,374 „ tons,
160 Notizen und Beiprehungen.
ſtagnirt aljo jo gut wie volljtändig. Gleichzeitig ijt aber die Fleiſcheinfuhr
von 0,336 Mill. auf 0,689 Mill. tons gejtiegen, während die Fleiſch—
preije erheblich gefallen find. Die Einfuhr von Moltereiproduften
(Butter, Käſe ꝛc.) bat ſich ebenfall$ mehr als verdoppelt und überragt jest
ichon bedeutend die eigene Produktion Englands. Es iſt der engliichen Yand-
wirthichaft alſo nicht gelungen, für das, was fie im Körnerbau verloren,
in der Viehzucht einen Erjaß zu finden.
Auch in der Wollproduftion ijt England in jteigendem Maße vom
Ausland abhängig geworden; die heimische Produktion, die 1876/78 nod
mehr als zwei Fünftel des Bedarfs lieferte, dedt jegt nur nod wenig mehr
als ein Biertel. In feinen beiden wichtigften Bedarfsartifeln, in Weizen
und in Wolle, ijt Großbritannien zu drei Vierteln auf auswärtige Zufuhren
angewiejen.
Die Agrarkrifis hat nicht nur die landwirthichaftlihe Produktion bes
deutend verringert und Englands Abhängigkeit vom Ausland außerordentlich
erhöht, fie hat aud) tiefgreifende joziale Veränderungen zur Folge gehabt.
Die Entvölferung des platten Landes ijt noch meiter vor—
gejchritten. Die Zahl der Tandwirthichaftlihen Arbeiter ift — bei einer
Zunahme der Gejammtbevölferung Großbritanniens von 26 auf 33 Milionen
— von 1871 bis 1891 von 1162000 auf 920000 Perſonen gejallen. Tie
geringe Zahl der Bauern (yeomen und freeholders) ijt nod weiter zus
jammengejhmolzen. Auch die Zahl der Pächter dürfte fih nicht un—
beträchtlich verringert haben; ihre Lage muß al3 jehr Eritiich bezeichnet
werden.
Der jteuerpflichtige Rohertrag des ländlichen Grund und Bodens ift
von 1879/80 bis 1893/94 von 59,6 Millionen Litrl. auf 46,3 Millionen Litrl.,
aljo um mehr als eine VBiertelmilliarde Marf zurüdgegangen. Der Robertrag
des rein landwirthichaftlih benugten Grund und Bodens dürfte noch
jtärker gejunfen fein, da die obigen Zahlen auch Hausgärten, Parts x.
einjhließen, deren Ausjcheidung erjt für 1896 möglich ijt: im leßteren
Jahre jtellte ji der Nohertrag des landwirthichaftlich benußten Bodens
allein nur auf 24,5 Millionen Litrl. Der Kapitalwerth des landwirth—
ichaftlichen Grund und Bodens in Großbritannien hat von 1875—94 um
854 Millionen Litrl., d. h. um 50 Prozent, im ganzen Vereinigten König:
reid; jogar um vund 1 Milliarde Litrl. abgenommen. Der Boden:
ertrag ijt gegenwärtig unter das Niveau der vierziger Jahre herab-
gejunfen.
Am ftärkiten hat die Krifis die Eigenthümer des Grund und Bodens,
aljo die Bauern und die Landlords, getroffen. Da die bäuerlichen
Grundjtüce meijt gänzlich ſtark mit Hypotheken belaftet find, jo leidet der
jelbjtwirthichaftende Befiger viel mehr als der Pächter, der durch Pacht—
reduftionen und Pachterlafje einen großen Theil der Verlufte auf den Land—
lord überwälzen kann. Am wenigjten unter der Kriſis haben die Land-
Rotizen und Beiprehungen. 161
arbeiter gelitten, die den Vortheil der billigen Lebensmittel hatten; neuer-
dings find aber auch ihre Löhne gefallen.
Die größten Verluſte an Einfommen wie an Vermögen haben jeden-
fall3 die Landlord3 zu verzeichnen; und nur dem Umſtand, daß die Krifis
am jchwerjten eine kleine und enorm reiche Klaſſe traf, Die gleichzeitig durch
die Werthiteigerung des jtädtiichen Grund und Bodens und durd) ihre Ge-
winne in Handel und Induſtrie die erlittenen Verluſte großentheil3 wieder
ausglich, iſt es meined Erachtens zu danken, daß die englifche Agrarkriſis
nicht zu Sozialen Kataftrophen geführt hat. Un Deutjchland mit feinen
Millionen von bäuerlichen Befigern wäre eine Kriſis, die den Bodenwerth
um 20 Milliarden Mark verringert, die ihn auf die Hälfte reduzirt hätte,
jedenfall3 nicht ohne die ſchwerſten Erjchütterungen vorübergegangen.
Eine Heilung der Kriſis iſt nur von einer Preisjteigerung
der landwirtbichaftlihen Produkte zu erwarten; ob die feit 1895 ein-
getretene langſame Aufbefjerung der Preife anhalten wird, muß abgewartet
werden. Jedenfalls ijt es von Intereſſe, daß die engliiche Landwirthſchaft
auf die eingetretene Befjerung der Preije jofort mit einer Ausdehnung der
Produktion reagirt hat.
Auf die Palliativmittel, die die Kommiſſion vorjchlägt, näher einzugehen,
würde hier zu weit führen. Nur ein Punkt jei hervorgehoben: Die eng—
fiichen Eijenbahnen nehmen durchweg Höhere Frachten für englijche*) als
für ausländiſche Agrarprodufte, angeblich, weil die Verladung der aus—
ländiichen Produkte eine leichtere jei, thatſächlich aber wohl, wie mir jcheint,
weil die engliichen Eijenbahngejellichaften vielfach) mit den Schiffsgejellichaften
fürt find und deshalb an einem möglichjt großen Transport ausländiſcher
Produkte ein Intereſſe haben; übrigend wird Bahnfracht und GSeefradht
gewöhnlich nicht getrennt, jondern in einer Nate erhoben. Dieſe Thatjache
ſcheint mir bei und gerade jet befondere Beachtung zu verdienen, angelichts
der Bejtrebungen, durch Ausbau des Kanalnetzes einen großen Theil des
Giütertrandport3 von den Staatdeifenbahnen auf die privaten Transport
gejellichaften zu übertragen.
Nationalölonomil des Handels und Gewerbefleißes. Ein Hand:
und Lejebuh für Geſchäftsmänner und Studirende von Wilhelm
Roſcher. Siebente Auflage. Bearbeitet von Wilhelm Stieda. Stutt—
aart 1899, 3. G. Eottaiche Buchhandlung Nachfolger. XVI und 1119
Seiten. Preis geheftet 16 Mark. In Halbfranz geb. 18,50 Marl.
E3 kann nicht meine Aufgabe jein, ein fo alte8 und befanntes Wert
*) Erjt neuerdings find — wohl in Folge der Agrarenquöte — auf ein«
zelnen Bahnen und zwar bauptfädhlid im Xofalverfehr mit London
befondere Zarifermäßigungen für gemwifje landwirthſchaftliche Produkte
eingeführt worden.
Preußiſche Jahrbüher. Bd. XCVIII. Heft 1. 11
162 Notizen und Beiprehungen.
wie Roſchers „Nationalöfonomit des Handeld und Gewerbefleißes“ einer
ausführlichen Beipredjung zu unterziehen. Es genügt hier zu konſtatiren,
daß Stieda, unter jorgfältiger Schonung und Beibehaltung der ganzen
Roſcherſchen Syitematik und Darjtellungsmethode, über deren Bortrefflichkeit
die Anfichten allerdings getheilt jind, durch zahlreiche Ergänzungen und
einzelne Streihungen das Roſcherſche Werk bis auf die Gegenwart fort:
geführt und in Einklang mit dem augenblidlichen Stande unferer wiſſen—
Ihaftlihen Kenntnifje gejegt hat. Dad Buch ift in der neuen Auflage
dadurh um etiwa zehn Bogen jtärker geworden, da der Herausgeber in
ernjter und gründlicher Arbeit eine erjtaunliche Fülle neuen Materials ein-
gefügt hat.
So begreiflich Stiedad pietätvolles Bejtreben iſt, Roſchers Tert nah
Möglichkeit in feiner urjprünglichen Form zu erhalten, fo jollte er doch
nit davor zurüdjchreden, feine Ausdrucdsweife dort, wo jie unjerem
modernen Empfinden gar zu veraltet klingt, entiprechend zu modifiziren:
jo patriarhaliihe Ausdrüde, wie „Fabrikherren“, „Abhängigkeit der
Babrifarbeiter von ihren Herren“ u. a. m. follten wirklich bejeitigt
werden.
Politiſche Arithmetik oder die Arithmetik des täglichen Lebens.
Bon Moritz Cantor. Leipzig 1898, B. G. Teubner. X und 136 ©.
Die Heine, recht hübſch ausgejtattete Schrift hat den deutſchen Bücher:
markt um eine jehr originelle Erſcheinung bereichert, die — um ein oit
mißbrauchte® Wort einmal mit Recht anzuwenden — einem wirkfichen Be:
dürfniß entipricht.
Der BVerfaffer hat jeit vielen Jahren in jedem Winter an der Heidel-
berger Univerfität eine zweiſtündige Vorlefung über „politifche Arithmetik*
gehalten, deren Inhalt er hier einem größeren Publikum zugänglich macht,
das ſich vermuthlich nicht auf den kleinen Kreis der nationalöfonomiih ge:
ſchulten Leſer bejchränten wird. Denn die hier behandelten Fragen haben
fajt durchweg ein allgemeined Intereſſe, wenn fie auch freilich für den
Nationalölonomen von bejonderer Wichtigkeit jind. Heutzutage wird es
faft für Jedermann nothwendig fein, etivad von den Rechnungsweiſen des
Bant- und Börjengejchäftd, des Verſicherungsweſens, der verjchiedenen
Sotterien und des jtaatlichen und fommunalen Anleiheverfehrs zu verſtehen.
Ueber alle diefe Fragen unterrichtet Cantor in fnapper und doc aud für
den mathematijhen Laien verjtändficher Form; dabei beſchränkt er jich er:
frenlicher Weife nicht ängjtlich auf die rein mathematischen Fragen, jondern
bemüht ſich, ein volljtändiges Bild der behandelten Materien zu entiverien,
jodaß jeine kleine, aber erjtaunlich reichhaltige Schrift ein vollitändiges
Kompendium der Technit des Bank und Börjenverfehrd ſowie des Ber:
ſicherungsweſens darjtellt. Selbſt die gejchichtliche Entwidlung des Ver:
Rotizen und Beiprehungen. 163
jicherungdwejend wird in großen Umrifjen jlizzirt, auch die einjchlägigen
juriftifchen Beitimmungen und die durch das Bürgerliche Geſetzbuch be—
dingten Veränderungen werden jorgiältig mitgetheilt.
Eine detaillirte Inhaltsangabe erleichtert die Benutzung der Schrift
als Nachſchlagebuch, was um jo danfenswerther ijt, ald man bekanntlich
nicht3 fo leicht wie mathematijche Formeln vergißt. Ein Anhang giebt aus—
gerechnete Tafeln für die üblichen Zinsfühe von 3, 31/, und 4% für alle
Jahre von 1—100, um logarithmijches Rechnen nad Möglichkeit überflüfjig
zu machen.
Gantor iſt ein Meijter fnapper und prägnanter Darftellung, feine
Schrift durdaus ein Unifum. Wir wüßten fein Buch in der deutjchen
Literatur, das in ähnlicher Weiſe mathematijches Wiſſen mit einer jo gründ-
lichen Kenntniß des praftiichen Gejchäftsverfehrs vereinigte und zugleich fo
erichöpfend über zahlreiche und wichtige Fragen orientirte.
Geihichte der Nationalöfonomie und des Sozialismus. Bon
Dr. Karl Walder, Privatdozenten der Staatswiſſenſchaft on der
Univerjität Leipzig. ordentl. Mitglied der Internationalen Bereinigung
für vergleichende Rechtswiſſenſchaft und Volkswirthſchaftslehre zu Berlin
und der American Academy of Political and Social Science. Pierte,
völlig umgenrbeitete Auflage. Leipzig 1899, Roßberg'ſche Hofbuch—
handlung. VIIL und 134 Seiten.
Während die Schriften anderer Gelehrter von Auflage zu Auflage
dider und umfangreicher und vielfach auch theurer werden, verfolgt Herr
Dr. Walcker fobendwerther Weile den umgefehrten Braud). Seine Schriften
haben in der zweiten verbejjerten Auflage fajt durchweg eine erheblich
fnappere Fajlung erhalten und find dem entiprechend auch im Preiſe
reduzirt worden. So fojtete jeine Theoretijche Nationalöfonomie in der
eriten Auflage (1882) 9 Marf, in der zweiten verbefjerten Auflage (1888)
nur 2 Markt; jeine Landmwirthichaftspolitit ſowie feine Gewerbe: und
Handelspolitik ift in der zweiten verbejjerten Auflage ebenfalls für 2 Mark zu
eritehen, während die erite Auflage ji) auf 7 Mark jtellte. Auch das vor—
liegende Werk, der V. Band jeines großen „Handbuchs der National:
öfonomie*, hatte früher einen weit größeren Umfang und fojtete 8 Marf,
während man e3 jeßt in der völlig umgearbeiteten Faſſung jchon für
3 Mark erhalten kann.
Zu dieſen Kürzungen ijt Herr Dr. Walder durd die richtige Er—
fenntniß veranlaßt worden, daß „die meijten jüngeren wie älteren Lejer
einer Geſchichte der Nationalölonomie wenig Zeit haben“ und er hat mit
Recht geglaubt, „auf dieſen Umitand Niücjicht nehmen zu müſſen“. Immer—
bin war es wicht leicht, auf 88 Seiten — der Nejt des Buchs ijt mit
11*
164 Rottizen und Beſprechungen.
einigen Exkurſen und zwei Negijtern ausgefüllt — eine vollitändige Ge-
ihichte der Nationalökonomie und ded Sozialidmus zu geben. Dieſes Ziel
ließ fi auch nur dadurch erreichen, daß der Verfaſſer bei der Auswahl
des Stoffe von folgenden Grundfägen ausging: „Die widhtigiten Daten
find immer zu geben, aud) wenn fie bereitö bei J. Kautz, W. Roſcher,
3. Ingram, 2. Coſſa und im I. Conrad'ſchen Handwörterbuch der Staats-
wifjenschaften ftehen. Im Uebrigen kommt e3 darauf an, ſolche Daten
zu geben, die in den genannten Büchern nit zu finden jind.“
Der Verfaſſer will alſo die genannten, meijt recht „verdienitvollen* Werte
nicht überflüffig machen, obwohl er „im Anjchluß an berühmte, verjtorbene
und lebende Nationalöfonomen nicht alle im Handwörterbuch geäußerten
Anſichten theilt“, fondern nur ergänzend neben fie treten.
Erjt wenn man ſich das Far gemacht, begreift man die oft wahrhaft
fapidare Prägnanz jeiner Darjtellung.
„A. Schäffle, geb. 1831, war Anfangs HFreihändler, wurde gemäßigter
Schutzzöllner und Bimetallift. Dafjelbe gilt vom Berliner, 1835 geb. ®rofefjor
Bagner. Zu den Mitarbeitern des Legteren gehören Prof. H. Diegel in
Bonn, (deb. 1857), ferner der badifhe Finanzminifter A. Buhenberger für
Agrarpolitit und Profeffor 8. Bücher in Leipzig.(geb. 1847) für Gewerbe
und Handelspolitit,
B. Hildebrand, 1812—78, Brof. in Jena, begründete 868 Jahrbüder
für Nationalölonomie und Statiftik, die jeit 1873 vom Hallefhen, 1839 geborenen
Prof. 3. Conrad herausgegeben worden. Seine drei Mitredafteure find
W. Leris, geb. 1837, Prof. in Göttingen, 2. Elſter, geb. 1856 und E. Löning,
geb. 18483, Prof. der Rechte in Halle. Lexis ift einer der tüchtigſten und viel—
feitigften deutfhen Nationalölonomen. Das 1872 von F. von Holtzendorff
begründete Jahrbud für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirthſchaft batte
1877—80 Brentano zum Mitredalteur, wird feit 1881 von Schmoller Heraus
gegeben. 2. Brentano, geb. 1844, ift Prof. in Münden, G. Schmoller,
geb. 1838 Prof. in Berlin.“
Muftergiltig in jeiner ſchlichten Knappheit muß auch der Abjchnitt
über den deutjchen Merkantiligmus des achtzehnten Jahrhundert3 genannt
werden. (©. 15).
„Als Friedrih Wilhelm I. in Litauen feine neuen Bauernkolonien jAul,
fagte er, „die können nicht profperiren, wenn wir nicht eine Anzahl Städte in ihre
unmittelbare Nähe ſetzen.“ Aehnliche Anfichten wurden von Friedrich dem
Großen, 3. v. Jufti und dem öfterreihifchen Freiherrn J. von Sonnenfels
geäußert, obgleich Friedrih fo manche grobe Vorurtheile der Mertantiliften
theilte. I. Möfer wird häufig überſchätzt.“
Wem diefe überaus prägnante Darjtellung zunächit nicht behagen jollte,
wird fich gewiß mit ihr verjühnen, jobald er beim tieferen Eindringen ın
Walckers Schrift fieht, da ihm ſtatt zweckloſer Wiederholungen längjt be:
fannter und auch in anderen Büchern enthaltener Gejchichten eine Fülle
interefjanter und bisher gänzlich unbefannter Thatjachen zur Entjchädigung
geboten wird.
Rotizen und Beiprehungen. 165
„Ber Berfaffer der vorliegenden Schrift wurde 1889 in Bernau in
Livland geboren, ftudirte in Dorpat und Berlin, wurde 1873 badifcher und
1886 ſächſiſcher Staatsbürger und ift feit 1877 Dozent an der Univerfität
Leipzig. Mein Handbuch der Rationalölonomie erſchien in 5 Bänden, 1882— 34.
Die 2. Auflage 1888 ift viel kürzer gefaßt .. .. (S. 52/58.)
Autobiographifhe Notizen habe ih auf Wunſch der Herausgeber, im
Literariihen Deutfhland von A. Hinrihfen, 2. Aufl. 1892, in A.
de@ubernatis’ Dietionnaire international des ecrivains du jour, Florenz,
1891, Bd. 3 und im Literarifchen Leipzig, 1897, gegeben. Eine Familien«
trabition befagt, daß meine germanifchereformirten, nicht etwa keltifch"fatholifchen,
Vorfahren, die fih aud Waller fchrieben, zur Gentry, zum niederen Adel,
Schottlands gehörten, und im 18. Jahrhundert wegen ihrer Betheiligung an
einem Stuartihen Aufftande nah dem FFeftllande, nah Württemberg, Sachſen
und Rurland, famen. Mein Großvater wurde in Stutigart, mein Bater in
Mitau geboren. Auch mein Großvater mütterliher Seite ftammte aus
Deutijchland, aus Seefen.
Nofhers Ausdrud Deutſchruſſen paßle nit auf die Balten meiner
Jugendzeit. Gin Deutjhamerilaner lernt das Engliſche als eine Ichende
Sprade.e Ich babe das Ruſſiſche dagegen wie eine todte
Spradhe, wie das Lateinifhe und Griehiihe, gelernt.
Faft alle meine Lehrer ftammten aus Nordbdeutfhland (Berlin, Schlefien,
Thüringen, Schlesmwig-Holftein). Ich habe Livfand nie als wahre Heimatb,
immer nur als eine Art Gafthaus auf dem Rüdwege nad Deutjchland be—
trahtet. Auch verjhiedene andere Familien find im 18. Jahrhundert nad
Livland gegangen, im 19. Jahrhundert wieder nad) Deutfchland zurüdgelehrt. —
Ih werde mandhmal irrtbümlid, obne meine Schuld,
als Dr. phil. oder jur. bezeidhnet. (©. 54.)
Am Album Academicum der Kaiſ. Univ. Dorpat, 1889, find aus den
Jahren 1802—89 14831 Immatrikulirte verzeichnet, mit Angabe der fpäteren
Lebensftelung. Als Kuriofum fei erwähnt, daß in Bernau 1835, 1838, 1839
drei Nationalölonomen geb. wurden, nämlich Gerjtfeldt, A.v. Miastowski
und ih. Auch Erfterer lebte, 1873—83, in Leipzig. ©. T. Waller Nr. 2948,
iit mein Bater, %. Walker, Rr. 5189, mein Better. Unter meiner Nummer
6681 muß e8 Zeile 2 Heißen: Dr. oeconomiae publicae et sta-
tisticae, Zeile 4 etatsmäßiger Dozent. In Bernau wurden auch K. G. Joch—
mann, 1789—1830, und der Betersburger Brof. des Völkerrechtes %.v.Mar:;
ten geboren, Zegterer 1843. Joch manns Reliquien wurden 1838 von
9. Zſchokkke in 3 Bänden herausgegeben. Gr bebt gegen Montesquicu
bervor, die deutjhe Freiheit ftamme von den Medern, nidht aus den
Wäldern Deutfhlands R. v Gneiſt zitirt diefe Worte bei—
ftimmend ..... (S. 75) ;
Die Grundlagen meiner Anjhauungen über die ruffiihen Zuſtände be—
fiehen in Folgendem. In den 1860er Jahren bejhäftigte ih mid in Dorpat
eingehend mit der volkswirthſchaftlichen, befonders der fteuerpolitifchen Literatur
Rußlands, über die ich 1869 jchrieb. 1864—72 verkehrte ich in Narva viel
mit dem 1806 geborenen, 1878 verftorbenen Baron Rifolausv. Biftram
(dem Bater des Autors, der im 2. Bande Rojhers zitirt wird). Der
166 Notizen und Beiprehungen
ältere Biftram, ein Verwandter des kurländifhen Barons v. Biftram,
der mit der Gräfin Ida v. Hahn-Hahn befreundet war, hat in Münden
NRationalötonomie ftudir, war Majoratsherr in Bolen, ruffifher Garde»
rittmeifter a. D. und Kammerberr, ein geiftreiher Mann, der viel mit dem
höheren rufjifhen und polnischen Adel verkehrt Hatte, ein guter, unbefangener
Kenner der ruflifhen und polnifhen Zuſfände. Er fühlte fidh als
Efibländer, wurde aug indereftibländifhenfgamiliengruftber
Piftrams beecerdigt, war indeß auf dem väterlihen Gut im Gou—
vernement Betersburg geboren.“ ..... (S. 79).
Neu und werthvoll ijt auch der folgende jtatiftiiche Nachweis, durch
den hoffentlid eine thörichte Legende für immer zerftört wird. (S. 74175.)
„Engländer und andere Nidhtdeutihe glauben häufig, jeder Deutihe
Gelehrte trage eine Brille, und babe „Schmiffe,“ Hiebernarben, im Gefidt.
Beides ift ſtark übertrieben. Die Zahl der Leipziger Brofefjoren und Privat:
Dozenten dürfte circa 150 betragen. Im Sammelwerk „Das literarifche Leipzig“.
erſchienen 1897 58 Borträt® von Leipziger Brofefforen und Privatdozentn
Davon tragen 44— 75,8 %o feine Brille, während 14— 24,1 %/, eine Brille tragen.
In der Jluftrirten Zeitung erfchienen am 7. April 1894 die Porträts von
16 Brofefioren, die mit Ausnahme 8. Mengers lauter Neichsdeutiche find.
Davon tragen 10 (62,5 9%) feine Brille, während 6 (87,5 %,,) eine Brille tragen.
Auh im Auslande gab und giebt es dagegen Brillen-
träger. Waſhington trug z. B. nah Bancroft 1783, im 51.
Lebensjahre, eine Brille.
In Leipzig mahen die Verbindungsftudenten, mie man gemöhnlih an»
nimmt, Y/,o oder !/,, aller Studenten aus. Aehnlich ifi es auf anderen großen
Univerfitäten. Die große Mehrheitderdeutjhen Brofefforen,
PBrivatdozgenten, Studenten bat glatte, narbenloje Ge—
ſichter.“
Dieſe Ausführungen dürften allgemeiner Zuſtimmung gewiß ſein. Da—
gegen ſcheinen mir andere geiſtreiche und originelle Behauptungen des
Verfaſſers geeignet, einen gewiſſen Widerſpruch herauszufordern.
„Die freihändleriſche Denkweiſe hat etwas Kühles, Kritiſches,
Beſonnenes, Verſtandespolitiſches, Männliches, während die ſchutz—
söllnerifche, vollends die ſozialiſtiſche Denkweiſe etwas Gefühls—
politiſches, Unbeſonnenes, Weibliches hat“ (S. 85).
„Einer der erſten Anhänger Smiths ſagte bereits: Der Freihandel ſei
Proteſtantismus auf dem Gebiete der Nationalököonomie. Das ıf
unzweifelhaft. Man wende nicht ein, dab Baſtiat Katholik war. Gr
zog eben nicht die Icgten Konfequenzen.“ (5. 22.)
Alle Anerkennung verdient Walder& muthiges Eintreten für Heinrich
Heine, dent er auch den ihm gewöhnlich ſchnöde vorenthaltenen alademijchen
Nang, den er doch rite erworben hat, beilegt.
„Ber Dr. jur. 9. Heine bat, ähnlid den deutſchen Alaffitern, auch
Berdienfte um die Nationalölonomie, überhaupt die Staatswiſſenſchaften. Bei
ihm finden fih im guten Sinne des Worts kathederſozialiſtiſche
Ideen und namentlich gejunde, ſtaatsmänniſche Anfichten über das jog.
Königtbum der jozialen Reform“ (8. 48.)
Rotizen und Beiprehhungen. 167
Das ift freilich auch fein Wunder; denn „Deine ijt zum Proteſtantis—
mus übergetreten und fühlte protejtantiich.”
Abjolut nothwendig zur Erzeugung protejtantiihen Fühlens iſt
übrigens die Taufe nad) Walderd vornehm toleranter Anſicht nicht.
„1880 erihien im der „Gegenwart“ ein Artitel von Oppenheim,
der mehr deutih und proteftantifh, als ifraelitiih gehalten war. Der
verdienftvolle Rationalölonom war danıals zu den von mir fog. ungetauften
Brotejtanten zu rehnen.” (S. 75/70).
Schon aus diejer Aeußerung erhellt Walderd fortichrittliche Gefinnung,
die und noch jtärfer im folgendem Sa entgegentritt, deſſen Begründung
einzelne Sfeptifer freilich nicht ganz überzeugen dürfte.
„Die Zukunft des Proteftantismus gehört der Aufllärung, mie aud der
ftarfe Abjag der Romane der Frau H. Ward beweiſt.“ (S. 113).
Mit ebenfo großer Energie und mit ebenfo treffenden Argumenten
wie gegen den Ultramontanismus zieht der Verfafjer gegen den Sozialis—
mus und die Sozialiſten zu Felde.
„Karl Marx's Vater hieß Mordedhai, ſtammte von einer langen Reibe
von Rabbinern ab und nahm 1824 bei der proteftantifhen Zaufe den Namen
Marr an. 8. Mary wurde 1818 in Trier geboren und ſtarb 1858 in Yondon
wohin er 1849 geflüchtet war. ... Marx's Auszüge aus englifhen Fabrik—
infpeftoren:Berichten find intereffant. Der Kern der Marr’ihen Lehre,
ift indeß ebenfo unhaltbar, wie der Herenglaube, oder ein anderer
Aberglaube. Wenn das Unternehmerverbältniß wirklich an und für fid
ein wumfittlihes Ausbeutungsverhältnig wäre, jo wäre audhderganze
Sozialismus verdammensmertb, der cebenfomwenig ohne einen
ftaatlihen Unternehmergewinn auslommen könnte, mie eine Heutige gut
rentirende Staatsfabril. Man denke z. B. an die bayeriijhen Staats»
brauercien. Wenn die Marx'ſche Lehre richtig wäre, fo wäre es eine
heilige Pfliht der Menfchheit, zu einem Zuftand ohne Uniernehmergewinn,
d. 5. zum Leben halb nadter Jäger- und Fifherhorden
zurüdzufehren“ (S. 65/66).
Nachdem Walder jo den gefeierten Heros der Sozialdemokratie als
unheilbaren Klonfufionarius entlarvt hat, enthüllt er und auch die geradezu
unglaubliche und empörende Unmifjenheit Ferdinand Laſſalles.
„Er war, troß feiner theilmeifen Belejenbeit, jo unmiffend, daß er
von Zelllampfs u. A. grundfägliher Berwerfungderun:
gededten Roten nihts wußte, ja fogar zum fog. Inflationismus
im Sinne der Robespierrefhen Aſſignatenwirthſchaft neigte. ... Er bat
NRodbertus flehentlih, ihm mit Ideen auszubelfen (!), Rodbertug ging indeß
darauf nicht ein, hauptfählih wohl, weil er feiner Normalarbeitstags-Idee
felbft nicht recht traute und lieber vor einem Heinen Gelehrtenpublitum, als
vor dem großen Publifum Fiasto machen wollte.” (S. 61/67).
Und dies Fiadfo war ihm jicher; denn „jein Sozialismus bejteht haupt—
jählih im Wahne, nad) einigen Hundert Jahren werde das Kapitals und
Grundeigenthum abgejchafft werden.“
168 Notizen und Beiprehungen.
Auch von Friedrid Engels ijt nicht viel Gutes zu berichten; er theilt
leider „die Orundirrthümer Marıd, obgleich er den Letzteren an Be:
gabung weit übertrifft.“
Troß der ſcharfen Kritik, die Walder an den Sozialiften übt, iſt er
weit von parteiischer Ungeredtigfeit entfernt.
In feinem 1897 erjchienenen Buche über Marr hatte er behauptet,
Marz jei nur 3 Fuß und 10—11 Zoll, aljo nur etwa 112—114 Zenti-
meter groß gewejen, und er hatte daran die Bemerkung gefnüpft:
„Berfonen mit einer Körperlänge von 105—140 Gentimeter bilden nad
Meyers Konv.-Ler., Art. „Amerge“ den Uebergang von diefen zur normalen
Größe Sie find zwerghafte Geftalten.“
Nachdem ihn die jozialdemokvatiiche Prefje belehrt hat, daß er ſich
‘verlejen habe, daß es im feiner Quelle thatfählih jtatt 3 Fuß 5 Fuß
heiße, benußt er mit ſchönem Freimuth in feiner Schrift die erfte ſich ihm
bietende Gelegenheit, um Marr dad ihm gebührende Gardemaß von
1,70-1,78 cm zujuerfennen, und er bittet den Leſer, den angeführten
Zuſatz von den „zwerghaften Gejtalten* zu ftreichen.
Sehr beherzigendwerth find auch gerade in den gegenwärtigen Zeitläufen
die Worte, mit denen er feine Ausführungen über den Eozialismus bejchlieit.
„E8 wäre übertrieben, alle Sozialiften, unter denen fih ja aud
gemäßigte, in ihrer Art mwohlmeinende Männer befinden, für Teufel in
menſchlicher Beftaltzu halten.“
In der Gegenwart wird häufig geklagt, daß es originellen Köpfen
ſchwer jei, gegenüber den nivellirenden Tendenzen der Zeit ſich An—
erfennung und Beachtung zu verjchaffen. Wenn man jedod bedenkt, daß
Dr. oec. publ. Walderd „Geſchichte der Nationalöfonomie und des
Sozialismus“ bereit in vierter Auflage vorliegt, jo wird man ji der
Erfenntniß nicht verſchließen können, daß fernige Eigenart und wahre
Originalität in Form und Inhalt auch heute noch zahlreiche danfbare Bes
wunderer findet.
Berlin. Dr. Baul Boigt.
Theater-Korrefpondenz.
Lejjing- Theater: Eleonora Duje ald Gajt, Casa paterna (Heimath)
von Hermann Sudermann.
Deutihes Theater: Rosmersholm, Schaufpiel in vier Alten von
Henri Ibſen.
Die Magda in Sudermannd „Heimath“ ijt wohl die größte Parade-
rolle, die in der modernen Dramen = Literatur zu finden ift. Als jolche
wird fie wenigitens von den Heroinen aller Länder über die Bühnen von
taujend Städten gejchleift. Sch weiß nicht, ob dem Dichter immer damit
gedient it. Sch möchte es jogar bezweifeln. Denn giebt e8 doch unter
den PVirtuofinnen auch welche von jolcher Art, daß fie den Glanz der
Rolle noch durch den Glanz der Toiletten zu verdunfeln trachten, jo daß
fie auf dieſe Weiſe ficherlich jih mehr ihrem Schneider, als ihrem Dichter
verpflichten. Dagegen kann es jeden Dichter nur zum Gefühle tiefiter
Dankbarkeit jtimmen, durch Eleonora Duje vertreten zu werden. Gie
offenbart mit ihrer hohen und reinen Kunſt den tiefiten und eigenjten
Gehalt der Rolle, wenn auch nicht Jedem. Irgend ein Beitungsfritifer
jeßte jeinen Lejern diefe Lehre vor: „Sudermann hat ein Familiendrama
der gefränften Offiziersehre gejchrieben. Die Duje führt und die Tragödie
der verrathenen Liebe, der ermordeten Lebensillufionen vor.“ Kein? von
beiden, weder dad, was Sudermann untergejchoben, noch das, was der
Duje zugeichrieben wird, iſt zutreffend. Ganz allgemein ausgedrüdt:
„Heimath“ ijt die Tragödie der modernen Frau. Diefe Tragödie, wie
jie übrigen! ähnlich auch von den hervorragenditen weiblichen Schrift:
jtellerinnen empfunden und bargefiellt wird, bejteht darin, da das Weib
unferer Tage zum Bewußtjein ihrer Einzelperjönlichkeit erwacht und heran
gewachjen ift, gewiliermaßen aufhört, nur Weib — d. h. „Weibchen“,
Geſchlecht — zu jein, um Menſch, Individuum zu werden. Dieſer Drang
zum Menſchenthum, zur individuellen Freiheit trieb Magda aud dem väter:
lihen Haufe, in dem der Zwang, die Konvention, die Zucht, die Ordnung
170 Theater-Rorrejponden;z.
herrichen. Magda wird gewöhnlich als die weltberühmte Künjtlerin mit den
Bagabundenmanieren dargeftellt, die in ihrem jchranfenlojen Selbſtgefühl
wähnt, über Allem hocherhaben zu jein. Das ift grundfalih. Magda iſt
im tiefiten Grunde und ald Typus das zum Menſchenthum erwachte, zur
Berjönlichkeit herangewadhjjene Weib. Daß fie Sängerin wird, ijt von
jefundärer Bedeutung und eine Folge, die nicht aus dem Grundproblem
des Stückes, jondern einerjeit3 aus individueller und mehr zufälliger Anlage,
andererjeitS aus theatraliichen Abfichten des Dichters herzuleiten iſt. Auch
wenn jie nicht die Stimme und die fünjtlerische Begabung hätte, wäre
Magda aus dem Haufe gegangen. In eriter Linie aljo — es jei noch—
mals betont — iſt Magda nicht die Künjtlerin, jondern das zur Perjön-
lichfeit gereifte Weib. Sonnenklar wird dad dadurch bemwiejen, daß jie,
dem Herrn v. Keller gegenüber, bereit it, ihre Künjtlerlaufbahn aufzu-
geben und, dem Vater zu Liebe, in die Ehe zu willigen; um feinen Preis
aber will fie ihr Kind verleugnen. Als frei gewordene und der Freiheit
würdige Perjönlichkeit alfo trat Magda aus dem Vaterhauſe in die Welt.
Da begegnet ihr aber, was auc) der Iſolde Frey in Helene Böhlaus Roman
„Halbthier* widerfährt: der Mann, der bisherige „Herr der Welt“, glaubt
nit an dieſe Perfünlichfeit, an den Menjchen im Weibe. Es ijt ihm
gerade gut zur Beute jeiner Sinnenluft. So ergeht’3 jener Iſolde mit
dem Maler Mengerjen, und jo ijt es aud das Schidjal Magdas in ihrer
Beziehung zu dem Herrn v. Keller. Sie bleibt jtarf, jie kämpft weiter.
Und Sieg wechjelt mit Niederlage. Man thut gut daran, jene Frage zu
verneinen, die jie im enticheidenden Augenblid an ihren Bater richtet,
ob denn nämlich jener Herr v. Keller der Einzige ijt, der jie bejeilen, der
jie beichmußt hat. Sie bedarf als Weib der großen, beruhigenden, einen
Liebe, die jie aber nicht finden fann, und taumelt jo von diejer Liebichaft
zu jener. Das Genie ihrer Seele reißt fie immer wieder empor, rettet jie. Aber
immer bleibt die Sehnſucht nach Liebe, nach einer Heimath. So fommt sie
denn Schließlich wieder ind Vaterhaus, nicht etwa. um ſich als Siegerin huldigen
zu lajjen, jondern zunächſt demüthig, wie mit gefalteten Händen, als das
vom Leben gepeitichte und zerjichlagene Weib, das eine Heimath begehrt.
Im jelben Augenblid allerdings, in dem ſie das Haus ihres Vaters betritt,
fühlt fie auch jofort mit jchmerzlichjtem Bejremden, daß hier die Heimath
ihrer Seele nicht jein fann. Der Konflikt, der fie ehemals aus dem Hauje
trieb, jeßt jofort wieder ein, aber vertieft. verjchärft, auf höherer Stuie
des Gegenjages. — Eins ijt in der Daritellung und wohl überhaupt in
der Perjönlichkeit der Dufe jo ganz bejonders ergreifend: ihr Antlig it
von den herben Linien tiefiten Grams durchfurcht; aus ihren Augen Elagt
ein unauslöjchlicher Schmerz, und das Leid läßt fie alt erjcheinen. Aber
hinter diefem vergrämten und taujend Erfahrungen der Seele fündenden
Geſicht blict ein anderes durch, ein Gefichtchen, ein Kindergejichtchen,
jtaunend und fragend, wie merkwürdig Doc eigentlich alles in dem ſoge—
Theater-Rorrejponden;z. 171
nannten Leben beſchaffen iſt. Sch glaube, daß diejer Kontrajt von tiefjter
Weltfenntnig und grauenvollitem Lebensichmerz auf der einen Seite und
von unjchuldigjter, naiver, findlichjter Verwunderung über all diefes bunte
Lebengipiel andererjeit3 die unerhört tragische Wirkung erklärt, die das
Spiel, ja jhon die Perfönlichkeit der Duſe in jedem Augenblid erzielt.
Dieſe unvergleichlihe Tragödin wirkt wie eine Verkörperung und Offen
barung de3 Genies im Sinne Schopenhauerd etwa. — Üinen neuen und
zum erjten Mal bejriedigenden Aufichluß giebt das Spiel der Duſe über
den Schluß des Dramad. Gewöhnlich jammeln jich alle, einfchlieglich
Magdad, beitürzt und Fagend um den vom Schlage getroffenen und
tterbenden Bater und der Bajtor Heffterdingk jpricht zu Magda die Schluß—
worte: „E3 wird ihnen Niemand verwehren, an feinem Grabe zu beten“.
Die Worte haben bisher immer den anderen Magda:Daritellerinnen gegen
über als jinnloje und unangebradhte Verlegenheitsphraſe gewirkt. Die
Duſe ipielt den Schluß jo: Zunächt merkt fie bei ihrer Erregung — jie
iſt vor Erregung „außer Sich“ garnicht, was vorgeht. Dann
verſteht fie, der Vater jei geitorben. Mechaniſch tritt fie zu und
mechanisch redet fie den Todten an. Dann wankt jie weg, wie
um hHinauszugehen, von dem vermworrenen Gefühl getrieben: hier, an der
Stätte ihrer Schuld, darf jie mit den Anderen nicht vor der Leiche Enien.
Uber nur wenige Schritte taumelt jie der Thür entgegen. Denn fällt fie
zujammen, dem Pfarrer in die Arme, erjt jegt zur Bejinnung und zum
Bewußtſein der Vorgänge gefommen. Und dann bricht jie in ein Weinen
aus — ih wollte, dad Wort „herzbrehend* wäre noch nie gebraudt,
um es jetzt für dag Weinen der Duje erfinden zu fünnen. Sie bricht
niht nur dem Hörer zeitweilig das Herz, vor Allem ijt es das Weinen
einer vom Scidjal nun wirklich endgiltig gebrochenen Seele: die triums
phirende Magda ilt zur büßenden Magdalene geworden, der nur nod) der
Trojt bleibt, anı Grabe des Todten zu beten. Ob fie etwa vor der Welt
auch fernerhin noch Eängerin bleibt, ijt ganz ohne Belang; das ijt etwas
rein Aeußerliches, Gleichgiltiged. Das innere Leben ihrer Seele ijt zum
Abſchluß gekommen. — In der Daritellung der Duje ſinkt Magda den
Piarrer Heffterdingt in die Arme, Das iſt nicht ohne innerjte und
iymboliihe Bedeutung. Die Beiden gehören nämlich im Wejen und Leben
ihrer Seele zujammen. Ich habe noch nie eine richtige Daritellung diejes
Pfarrers gejehen, der eine der merkwürdigſten und interejjantejten Charaktere
in der modernen Xiteratur ilt. Heffterdingk iſt von Haufe aus eine
Natur, zum Befehlen bejtimmt, zum Genuß des Lebens begabt, voll
Kraft und Freude. Und diefen Mann bejtimmt irgend eine Anlage
oder Erfahrung der Seele, — nicht etwa feine Ansprüche auf Herrichaft
aufzugeben — jondern dieje Herrichaft zu erweitern, indem er durd; Dienen
berrfcht und mit der Kraft der Liebe jtatt der Härte des Schwertes jeine
Gewalt ausübt. Er hat fich bei Zeiten freiwillig zu der Entjagung ent—
172 Theater-orrejponden;.
ichloffen, zu der Magda durch ein tragische Schickſal gezwungen wird.
So taucht denn auch am Schluffe der „Heimath“ das Sudermann immer
und immer wieder bewegende Problem auf, durch Entjagen und Dienen
ein Freier und ein Herr zu werden.
* *
*
.Rosmersholm“ hat Ibſen auf der Höhe ſeines Könnens als ſein
vollkommenſtes Werk geſchaffen. An Tiefe und poetiſcher Stimmungskraft
kommen ihm andere, nachfolgende ſeiner Werke, vielleicht gleich; aber die
Tiefe wird immer dunkler. Rosmersholm dagegen enthält eine ſeltene Miſchung
von Tiefe und Klarheit. Mit wenigen, aber unauslöſchlichen Linien ift diefe
Tragödie gezeichnet, die Tragödie des menjchlichen Ydeald. Wir Menjcen-
finder haben jchließlich doch immer ein und dafjelbe Ideal, danach unjere
Seele ringt: es ift das Glüd. Und diefes Glüd, das wir erjtreben und
nie befigen, iſt die fichere Ruhe unjerer Seele in ſich jelbit, die Zu:
friedenheit, die Vollkommenheit. Auf zweierlei Weife könnte unjere Seele
zu diefer Volltommenheit und diefer Ruhe in ich, diefer Abgeſchloſſen—
heit und diefem Fertigjein gelangen. Die eine Weije ift die: „ich bin
ich“, fühle mid nur als Individuum, arbeite an der Befriedigung
meiner individuellen Lüfte mit Kraft und Raſtloſigkeit, unbekümmert
um die Anderen, jenjeit3 von Gut und Böje. Und die andere Weile it
jo bejchaffen: in jelbitlojer Liebe arbeite ich im Dienjte der Anderen, der
Mitmenſchen, jorge unabläffig für ihr Glück und finde dabei zugleich mein
eigenes. Individualismus und Sozialismus, Menſch und Mitmenih -
das iſt ficherlich der jchroffjte Gegenfag, der das Menſchengeſchlecht qual—
voll peinigt. Gerade der Edelite, Beſte, Tiefite, der Genialite hat zweifel-
108 an einer Stelle der Seele da8 Gefühl figen: ich gegen euch Andere,
was habe ich mit euch gemein, was wißt ihr von meiner Seele und ihrer
Sehnjudt. Ebenjo aber hat aud) wieder diejer jelbe Edeljte und Tiefjte allem
Lebenden gegenüber das Empfiuden: „das bijt du,“ und es giebt feinen Schmerz
in der Welt, der nicht auch dein Schmerz iſt. Alſo heile die Schmerzen,
lindere die Leiden der Anderen; das ijt dann dein Glück. — Rebekka
Weit vertritt dad Prinzip und die Idee des Individualismus. Sie jtammt
da irgendwoher aus dem Norden mit feinen hohen, zerklüfteten Bergen,
wo die Menjchen abgetrennt und einfam leben. Sie iſt die uneheliche
Tochter cines jeltiamen, unheimlich fjchrullenhaften Doktors Weit,
deſſen Tochter und vielleiht auch deſſen Geliebte; jedenfall aber —
und das ijt die Hauptiahe — ift fie ohne Familie, empfindet nicht
die Heiligkeit der Familienbande, iſt ohne Herkunft, ohne Tradition, ein
wildes, nur auf jich jelbit gejtelltes Geſchöpf, dad nur eine Rückſicht fennt,
bie auf den Drang des Bluted und die Erfüllung der Lüfte. Sie kommt
aus ihrem einjamen, wilden Berglande der Mitternachtsſonne in das
friedliche Tiefland, darin die Menjchen neben einander wohnen und mitein-
Theater-Rorreipondenz. 173
ander jchaffen. Sie kommt in dad Haus des ehemaligen Pajtord Rosmer auf
NRosmersholm in der bewußten Abficht, fich die Stelle zu erobern, die zur
Zeit die noch lebende, aber kranke Paſtorsgattin Beate inne hat. —
Rosmersholm iſt ein alter, vornehmer Landſitz, den dad Paſtorengeſchlecht
der Rosmers jeit Jahrhunderten inne hat. Und immer bat fich dieſelbe
Tradition von Familie zu Familie vererbt: arbeiten für das Glüd der
Mitmenjchen, durch Opfer und Dienen eine Macht fein. Die Rosmers ver-
treten die joziale Idee, das Prinzip der menſchlichen Gemeinſchaft. Sid)
opfern, erfordert mehr Seelenfraft, als ſich durdjegen, und die Nothivendig-
feit ded immer erneuerten Opferd zehrt an den Kräften, jodaß jchließlich
der lebte aus dem Stamme der Rosmers ein edler aber ſchwacher Mann
geworden ijt, diejer grübleriſche, ſchwärmeriſche Johannes Rosmer, dem
fi) Rebekka mit der wilden Triebkraft ihrer Elementarjeele zugejellt. Und
nun bejteht daS Drama in dem Gegenjpiel zwijchen Johannes und Rebelka.
Diefe will jenen zu ihrer Anſchauung befehren, auf daß er ein freier,
jelbitherrlicher Mann wird, der mit der Tradition der Vorfahren bricht,
der ſich von den der Vergangenheit entnommenen Pflichten nicht mehr be—
lajten läßt. Der opfjerungsfähige Johannes Rosmer wirft mit jeiner
priejterlihen Anichauung wiederum auf Nebelfa ein. Im Prinzip und in
der Theorie vereinigen jie Individualismus und Sozialismus zu der
Syntheje: „Freie Adeldmenjchen,“ das jind ſolche, bei denen Willen und
Sollen im Einklang jteht, bei denen Rückſicht auf ſich ſelbſt
und auf Andere zujammenfält. Um an der Echaffung ſolcher „ireien
Adelsmenſchen“ arbeiten zu können, müßte man an die ureingeborene Güte
der Menigennatnr jelienfejt glauben. Das kann Rebekka nicht, weil fie
von der Schuld ihrer Vergangenheit ſich belajtet fühlt. Und auch Rosmer
fann es nicht, da er erfährt, daß das Wejen, das er liebt, Rebekka, mit
Trug in jein Haus getreten und mit Faljchheit und Ränken ſich zunächjt
bewußt in feine Seele eingejchlichen hat, um jich feiner und jeines Haujes
zu bemächtigen. Rosmer müßte — jo meint er — eine That jelbitlofeiter
Aufopferung jehen, um wieder den Glauben an die Menjchen zu gewinnen.
Zu der That erklärt jich Rebekka bereit: jie will fich tödten, mit der Er-
Härung: „Ih ſtehe unter der Macht der Nosmersholmjchen Lebens:
anſchauung jetzt. Es gehört ſich, daß ich ſühne, was ich verbrochen
habe.“ Dem gegenüber drückt dann auch Rosmer ſeinen Entſchluß zu
ſterben aus mit den Worten: „Nun gut. Dann jtehe ich unter der Macht
unjerer jrei gewordenen Lebensanſchauung, Rebekka. Es giebt feinen
Richter über und. Und deshalb müfjen wir jehen, daß wir jelbjt Juſtiz
üben.“ Das aljo ergiebt fich als Duintefjenz des Ganzen: Rebekka jällt
der Sozialen Anſchauung der Rosmers anheim, und Rosmer der indivi-
dualiftiichen Rebelkas. Sie wechjeln den Pla und geben damit den Boden
auf, aus dem fie gewachſen jind. So bleibt denn als logiicher Schluß für
das Leben diejer Entwurzelten nur der gemeinjame Tod. Einer jtirbt am
174 Thenter-Korreiponden;.
Andern, Rebekka an Rosmer, der Individualismus am Sozialismus —
und umgekehrt. In dem Sinne fragt Nebelta zum Schluß: „a, aber
vorher jag’ mir noch Eins: Gehft du mit mir, oder gehe ich mit dir?“
Darauf erwidert Rosmer: „Der Frage werden wir nie auf den Grund
fommen.“ Nein, nein. der quälenden Frage werden wir jobald nicht auf
den Grund fommen, wie jich IndividualiSmus und Sozialismus, Menſch
und Mitmenfch zu einander verhalten.
Um die beiden Hauptfiguren jind ganz wenige Nebenperjonen gruppirt,
um das Problem heller zu beleuchten. Beate reicht nur noch aus dem Reid
des Todes wie ein Gejpenjt hinein. Sie vertritt das Prinzip der Rosmers.
das Prinzip der Selbjtaufopferung, bi8 zum äußerjten Extrem; fie tödtet
fi) in dem von Rebekka genährten Wahn, dem Glücde Rosſsmers im Wege
zu jtehen. Uber noch über ihr Grab hinaus reiht ihre Opferfäbigkeit:
jelbjit um den Preis der Wahrheit jucht fie den geliebten Mann gegen
etwaige ſpätere Angriffe ficherzujtellen; daher hat jie die Unterredung
mit Kroll und jchreibt den Brief an Mortensgard. Der Reltor Kroll,
Rosmerd Schwager, theilt im Prinzip die Lebensauffafjung der Rosmers.
Nur was bei diejen Seele und Leben war, iſt bei dem Neftor zu todter
Materie eritarrt. Das Brinzip der Ilnterordnung, das Wejen der Tradition
faßt Kroll politifch-reaftionär auf und verwandelt es jo in jein Gegentheil, in
reaftionären Despotismus. Ulrif Brendel verkörpert das reine, vollkommene.
abjtrafte Ideal, das ſich durch nicht® im Leben verunreinigen läßt, am we
nigiten durch die Lumpen, die dem armen Idealiſten zur Kleidung dienen.
Für dieſes Ideal iſt an der Tafel des Leben fein Plat rejervirt. Peter
Mortendgard, der Journalijt, ijt der Mann der Zukunft und des Erfolges.
darum, weil er jih um alle dieſe Probleme und Ideale garnicht kümmert.
Für ihn bedeutet daS Leben eine Reihe von Verhältniſſen und eine fette
von Thatjachen, die man fennen, benußen und Ddirigiren muß. So bringt
man e3 zu etwas. Die Dinge nehmen, wie ſie jind, wie fie jcheinen, und
feine Tiefen und Gebeimnijje hinter den Dingen juchen — das ijt praktiſche
Lebenstlugheit. Der Idealiſt Brendel mit der Alles umfaljenden und ver:
jtchenden Seele kennt aud; Mortensgard gut: „Peter Mortendgard iſt der
Häuptling und Herr der Zulunft. ch habe niemal3 vor dem Antlig eine
Größeren gejtanden. Peter Mortensgard hat die Kraft zur Allmacht in fic.
Er vollbringt Alles, was er will.... Denn Peter Mortensgard will nie mehr,
al3 er kann. Peter Mortensgard ijt kapabel, das Leben ohne Ideale zu
leben: Und ſiehſt du -- das ijt ja das große Geheimniß des Handeln:
und des Siegens. Das ijt die Summe aller Weltweisheit.“ —
Zum Schluß kann ich nicht umhin, auf eine Merkwiürdigfeit Hinzu:
weijen, die fich mir während der Borjtellung aufdrängte. In gewijjer
Weiſe jtedt nämlih in „Rosmersholm“ Hauptmanns Drama „Fuhrmann
Henſchel“. Auch Henſchel iſt der milde, Hilfsbereite, juzial angelegte und
ſchwache Mann, der an ein dem Drang jeiner wilden Triebe nachgebendes
Theater-Korreiponden;. 175
Weib Hanne gerathen ift. Auch diefe Hanne geräth in ein Haus, in dem
die Frau frank ijt und es entiteht nachher das Gerücht, Hanne hätte durch
gewifje jeeliihe Einwirkungen zu ihrem Tode beigetragen. Henſchels
Schwager jpielt in dem Konflikt zwiichen dem Fuhrmann und Hanne eine
Rolle, die der des Rektors Kroll fehr ähnlih it. Durch den Hinweis
auf dieje Aehnlichfeit will ich natürlich nicht Hauptmanns Originalität im
Mindejten zu nahe treten. Im Gegentheil: bei der Aehnlichkeit des Stoffes
und der Gitwation wird gerade der fundamentale Unterjchied zwiſchen
Hauptmann und Ibſen jo recht Har. Hauptmann geht in feinem Kunſt—
ihaffen jicherlid vom Individuum, von einem bejtimmten Menjchen,
vom Einzelleben, vom Einzelfall und von der Anſchauung ſolch eines
Einzelfalled® aud. Den weiß er dann mit folder Zebenswahrheit und
Lebendnothwendigfeit darzuitellen, das das Individuelle und PVereinzelte
als durchaus und unablöslih zum Leben gehörig ericheint. „Das ijt
da3 Leben“ — den Eindrud hat man ſchließlich. Das Vereinzelte
und Individuelle als allgemeingiltig und typiſch darzuitellen -- darin
fiegt die Hunt Hauptmanns. Umgelehrt verhält es jich bei bien.
Ihm iſt der Sinn des Lebens eine dee und der Kampf der
Menichen it der Kampf von Ideen, irgendwelden myjtiichen Mächten,
die don den Seelen der Menſchen Bejig ergriffen haben. eine
Kunſt bejteht darin, die Welt der Ideen individualifiren und mit Fleiſch
und Blut umfleiden zu können. Das bewunderungswürdigite Beiipiel
dafür iſt Ulrik Brendel. ch glaube, daß Ibſens Art doc) tiefer und weiter
areift, wie die Hauptmannd. Wie weit der Stimmungsgehalt Ibſenſcher
Kunft greift, jieht man auch darin, daß jchon Rosmersholm in der
Grundlage die myſtiſchen Stimmungen enthält, die Maeterlind, der Modernite
unter den Modernen, nachher virtuojenhaft weitergebildet hat. Ueber
Ibſen find wir noch lange, ſehr lange nicht hinaus.
In der Darftellung des „Teutjchen Theater“ jind Rektor Kroll
(Hermann Niſſen), ganz bejonderd® aber Ulrik Brendel (Oscar Sauer)
und Peter Mortendgard (Mar Reinhardt) volllommen zum Ausdrud ges
bradt. Den Rosmer des Herrn Neicher fönnte ich mir in Maske und Art
auch ganz anders denken. Er machte doch vielleicht mehr den Eindrud eines
berühmten Naturforjcher3 oder Arztes, ald den des Paſtors aus einem
uralten Boftorengeichlecht. Fräulein Dumont ijt eine vornehme und geijtvolle
Künftlerin, zur Zeit vielleicht die erjte unjerer Berliner Bühnen. Aber ich
glaube nicht, daß ihr jo Fomplizirte und gebrochene Charaktere wie der
Rebelkas liegen. Die wilde Vergangenheit Rebekkas muß doch immer nod,
au in der Läuterung, durchſchimmern; der Bruch der Seele, ihre Ent:
wurzelung muß ganz deutlich werden. Dos Elementare und das eigen:
thümliche jeeliiche Fluidum, das in Rebekka webt und zittert, beſitzt Fräulein
Dumont nicht. Sie ift in manchen anderen Rollen vollendeter.
Verlin-Stegliß, 22. 9. 99. Mar Lorenz.
Politiſche Korrefpondenz.
Die Bagdad-Cijenbahn.
Diefer Tage beginnen der deutjche Generalfonful in Konitantinopel,
Stemrid, und einige deutjche Bautechnifer mit ihm eine auf viele Monate
berechnete Reife vom Bosporus nad) dem unteren Guphrat und Tiaris.
Zwed der Erpedition iſt eine endgültige Unterfuchung der Terrainverhält-
nijje ſowie der mwirthichaftlihen und allgemeinen Kulturbedingungen für den
Bau der großen deutſch-türkiſchen Zentralbahn aus dem vorderen Kleinaften
nad) Bagdad rejp. zum perfiichen Golf. Es handelt ſich dabei vor allen
Dingen um die Wahl zmijchen verjchiedenen Routen.
Gegenwärtig endet das deutſche Bahnjyftem in Anatolien in zmei
parallelen Strängen an zwei direft nord-ſüdlich von einander gelegenen
Stellen, Angora und Konia (Ikonium). Die Entfernung zwiſchen beiden
beträgt in der Luftlinie ca. 250 Kijometer; beide liegen annähernd halb-
wegs zwilchen der Weſtküſte Kleinafiens und der Linie, längs der die Halb:
infel an dem aftatischen Kontinent mwurzelt. Es fragt fi erftens, ob
zunächjt der nördliche oder füdliche Strang fortgefettt werden, und zweitens,
welche Route die Bahn einjchlagen joll, fobald fie aus Kleinafien in das
Stromgebiet des Euphrat und Tigris eintritt! ob fie in der Hauptjade
dem nördlichen oder dem füdlichen der beiden Zwillingsftröme folgen joll.
Die oben genannte deutſche Expedition wird ihre Reife vorausfichtlich fo
einrichten, daß von den beiden in Betracht fommenden Hauptlinien die eine
auf dem Hin-, die andere auf dem Rückweg in Augenfchein genommen wird.
Um die Frage des ganzen großen Bahnbaues richtig zu würdigen,
muß man Allem zuvor fich darüber Elar fein, was die Bahn eigentlich joll.
Angenommen, fie ift von Smyrna—Konjtantinopel bis Bagdad oder Basra
fertig, jo würde ihr zunächſt ja wohl ein gewifjer Antheil am durchgehenden
Waarentransport vom perfishen Golf zum Mittelländifhen und Aegäiſchen
Meere zufallen. Die Einnahmen hieraus können aber feine erheblichen fein,
weil die großen und für die Frage der Nentabilität einzig in Betradt
fommenden Tranfit-Gütermafjen aus Perfien und Indien der Billigfeit der
Sciffsfraht megen jtetsS den Weg durchs Note Meer und den Suezfanal
nehmen merden. Dagegen würde der Perſonen- und Poftverfehr nach Indien
ihr mit Sicherheit weitaus zum größten Theil fi) zuwenden. Die Fahr:
zeit von Yondon bis an die Euphratmündung via Wien—Konjtantinopel —
Politiſche Korreiponden;. 147
Bagdad betrüge fieben bis acht Tage, von Basra bis Bombay per Schnell:
dampfer fünf bis ſechs Tage; man gelangte aljo von Wejteuropa aus in
zwei Wochen nad Indien, während jest die Dampfer der Peninsular and
Oriental Steam-Navigation Company über Suez und Aden in fechsund-
zwanzig Tagen, aljo der doppelten Zeit, von Yondon nad) Bombay
fahren.*) immerhin, jo wichtig der Beſitz des fchnelliten und kürzeſten
Weges nah Indien auch ohne Zweifel ift: die finanzielle Renta—
bilität der Bahn kann eine Ermerbögejellihaft — und das ift die
anatoliche Eijenbahncompagnie — Darauf doch nicht gründen. Es ift
aber ein Itrthum, wenn man annimmt, das erjtrebte Ziel liege haupt:
jählich in der Richtung, fi in den Dienſt des Tranfitverfehrs zu ftellen.
Es iſt von hoher Wichtigkeit für die Bedeutung und den Werth der
Bahn, aber viel wichtiger und werthvoller werden diejenigen Güter fein,
die in dem von der Bahnlinie durchzogenen Gebiet durch den Bau jelber
gefhaffen werden jollen! Die Bahn mird Aleinafien, das nördlichſte
Syrien und Mejopotamien überhaupt erjchliegen, fie joll und wird die
Werthe erjt erzeugen, die fie hernach transportirt, jo wie das die großen
amertfanijchen Transfontinentalbahnen gethan haben und vielfah noch
heute thun. Das Yand, das jetzt wüſte liegt, jet es, meil feine Yeute
da find, die es bewäſſern und bebauen, jei es, meil feine Möglichkeit
bejteht, die Erzeugnifje, die es hervorbringen fönnte, dorthin zu fchaffen,
wo fich gute Verwerthung für fie bietet — das Yand ſoll eine Yebens-
und Verkehrsader erhalten, auf der Menjchen, Unternehmungen, Senntnijie
und Kapitalien hinein» und die Produkte, die dann erzeugt werden, wieder
herausftrömen! Das und nichts Anderes tft die eigentliche Bafis, auf die
der Bahnbau mwirthichaftlih fundirt werden ſoll und fraglos fundirt
werden fann. Weizen, Bich, Wolle, Baummolle, Seide, Del, Wein
fönnen um ein Vielfaches mehr in den Gebieten erzeugt werden, die durch
die Bahn erſchloſſen werden follen und ſie werden es mit Sicherheit,
jobald ihre Erzeugung Gewinn bringen wird. Allerdings gehört dazu
neben dem Bahnbau auh ein gewiſſes Mindeſtmaß an Verftändigkeit
feitens der türfiihen Behörden in Steuer: und Verwaltungsjahen — aber
unter deutjhem Einfluß wird man auch hierin auf das unbedingt Noth:
wendige hoffen dürfen, zumal die türkifche Regierung ſelber finanziell dabei
nit am jchlechtejten fahren wird.
Man fönnte fragen, ob nicht die großen technischen Schwierigkeiten
und Die zmweifelloje Spärlichfeit der jet vorhandenen Bevölkerung dennoch
itarfe Zweifel an den finanziellen Ausfichten der Bahn rathjam erjcheinen
lafjen.**) NKeineswegs. Natürlich kommt es fehr darauf an, welche Route
gewählt wird, aber es fteht außer Frage, daß man ohne Schädi—
gung anderer erheblicher Intereſſen eine ſolche einichlagen fann, Die
feine unüberwindliden Schwierigfeiten bietet. An einer Stelle muß
freilich das gewaltige Taurus-Gesirgsinftem überjchritten werden, das Die
Flußgebiete des Schwarzen von denen des Mittelmeers und des Perfifchen
*) Ueber Brindifi werden allerdings 4—5 Zage geipart.
’*) Bol. den Artikel „Die Bahn Angora:-Bagdad“ in der „Zäglihen Rund—
ſchau“ vom 21. Sept. 99.
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 1. 12
|
178 Politiſche Korreſpondenz.
Golfes ſcheidet, aber dieſe Aufgabe iſt garnicht ſo ſchrecklich. Von dem
berühmteſten, zwei Tagereiſen langen Tauruspaß, den Pylae Giliciae, kann
ich z. B. aus eigener Anſchauung verſichern, daß er viel mehr romantiſch
iſt, als für eine Eiſenbahn ſchwierig; nur am Nord» und Südeingang ſind
längere enge Felſendefileen. Während die Kammhöhe zu beiden Seiten
bis 3000 Meter anſteigt, liegt die Paßhöhe am Gülek-Boghas, der ſchwie—
rigſten Stelle, nur 1390 Meter hoch. Der Brenner iſt noch 100 Meter
höher und hat einen offenen Bahnübergang, ohne Tunnel. Schwieriger joll
der Uebergang zwilchen Charput und Diarbefir, noch jchlimmer der in der
Richtung von Kaijarie (Cäfarea in Cappadocien) auf Marajch fein, wo Taunus
und Antitaurus zu überjchreiten find. Was aber die geringe Dichte der
Bevölkerung angeht, jo trifft dieſe Beobachtung erjtend nur für den bei
weitem kleineren Theil der projeftirten Strede zu, und zweitens wird ja eben
der Bahnbau die Folge haben, daß die Bevölferungsmenge reifend zunimmt.
Selbjt wenn man Amerika hier als Beifpiel nicht heranziehen will, jo wird
man doch gelten lajjen müſſen, was fich jett in Sibirien längs der neuen,
ja noch garnicht vollendeten Pariſerbahn zeigt: Anſiedlungen, Städte und
Dorfihaften, Nderbau und Gewerbe, entmwideln ſich zur eigenen Ueber:
rafhung der Ruſſen mit ungeahnter Schnelligkeit längs dem vorwärts:
rüdenden Scienenjtrange.
| Eine andere Seite der Sache aber — und eine mindejtens cbenjo
‚ entjcheidende, wie die wirtjchaftlihde — iſt die politische. Namentlich
‚ handelt es jih um Nufland. Wird Rußland es zugeben, daß mir ein jo
großes und politiich jo immens wichtiges Gebiet, wie es die Bagdadbahn
durchziehen joll, ſelbſt nur wirthichaftlih unterwerfen? Vor zehn Jahren
hätte Rußland fid) uns vielleicht no um jeden Preis entgegen geftellt —
heute wird es das ficherlich nicht thun, wenn wir nicht in feine natürlice
Intereſſenſphäre innerhalb der Türkei eingreifen. Rußlands Lebensintereſſen
liegen heute nicht mehr im nahen, fondern im fernen Orient, in Lit
und Südafien. China und Werfien find ihm heute wichtiger, als die
Türkei; dort handelt es fih ihm um die großen Ziele jeiner Weltpolitik,
hier nur mehr darum, daß Feine ſolche Verſchiebung der Beſitz- und Madt-
verhältnijje eintritt, daß es militärisch von diefer Seite her leicht gefördert
reſp. in Schady gehalten werden fann. Cine fremde Maht kann Rufland
unter feinen Umſtänden dulden: erjtens an den türkischen Meerengen,
zweitens auf dem Plateau, das die Südufer des Schwarzen Meeres be
herrjcht, und drittens nördlich der armenifchen Taurusfette und des perſiſch—
furdifchen Grenzgebirges auf den Hocländern am oberen Euphrat und um
die großen Salzieen von Wan und Urmia. Der Bospurus, Sinope,
Trapezunt, Siwas, Erjerum und Wan find Rußland gegenüber, wenn
einmal eine außertürkische Macht in dieſen Yändern Fuß ſaſſen jollte,
noli me tangere. Da eine dereinftige Auftheilung der Türkei doc immer-
hin das Wahrjcheinliche iſt, Rußland dann aber um feiner eigenen Sicher:
heit willen mit Nothmwendigfeit die Hand auf das ganze Gebiet nördlich
von der YinieDardanelfen — Kaifarie — Diarbefir — Moſul legen wird, jo kann es
jelbjt rein mirthichaftliche Unternehmungen Deutſchlands innerhalb vieler
feiner Intereſſenſphäre faum anders als ungern jehen. Andererſeits haben
auch mir nur ein mäßiges Intereſſe daran, Bahnbauten in Ländern zu
Politiihe Korrefpondenz. 179
arrıternehmen, die früher oder fpäter mit einer gewiſſen Naturnothwendigkeit
irn Die Hände einer wirthſchaftlich wie politiich fo autonomen und auto-
fratifhen Madt fallen, wie es Rufland ift. Der Sultan foll allerdings,
eben um feine militärijche Stellung gegenüber Rußland zu verbefjern, den
dringenden Wunſch hegen, daß eine Bahnverbindung zwiſchen Angora und
Erjerum hergejtellt wird (über Josgad-Simas-Erfingjan) aber man fann
ficher jein, ſolange Rußland irgend in der Yage ift, diefe Strede, ſei es
mit melden Mitteln es wolle, in Konjtantinopel zu hintertreiben, daß aus
Diejem Projeft nichts wird. Wirthfchaftlich ift es überdies von allen in
Betracht fommenden eins der unrentabeljten.
Mit diefen Erwägungen ift gegeben, daß unjer Bahnbau ſich jo weit |
wie möglich jüdmwärts hält. Ich fage „ſoweit wie möglich“, denn, wie
bereits betont, iſt die ſchließliche Rentabilität, und damit die Wahrjcheinlichkeit
der Ausführung überhaupt, nicht unabhängig von der Wahl der Trace.
Hauptlählid fommen nun folgende Möglichkeiten in Betraht. 1. Die
Angoralinie wird ziemlih gerade ojtwärts über Siwas — Malatia —
Charput nah TDiarbefir und von dort weiter nah Moful und Bagdad
geführt. Diefe Route wird bis furz vor Diarbefir in die angenommmene
ruſſiſche ntereffeniphäre fallen. 2. Die Honialinie wird über Eregli und
durch die Pylae Giliciae auf Nintab, Biredjhid am Cuphrat und Urfa
auf Diarbefir zu gebaut — und dann meiter wie oben. 3. Die Angora-
und die Kontalinie vereinigen fid) etwa bei Kaiſarie, und die Bahn geht dann
zunädjt über den Antitaurus nach Malatia, von dort weiter wie oben. Dieſe
Route dürfte die Eoftjpieligite fein. 4. Die Konialinie wendet fi) nach dem
Durchgang die Pylae Gilicien auf Adana in Gilicten und Aleppo, vielleicht mit
einem Dampftrajeft über den Golf von Nöfenderun, und folgt jenfeits
Aleppo direfi dem Euphrat ftromabwärts bis in jein Mündungsgebiet.
Diefe lettere Trace hat das gegen fi, daß fie fajt von Aleppo bis
Bagdad dur ein Gebiet führen würde, das weder angebaut noch über:
haupt je in nennenswerthem Mafe anbaufähig gemejen iſt rejp. jein wird.
Ein Zurüdweichen vor ruffiihen Prätenfionen bis auf dieſe — rein ted)-
niſch wohl bequemfte — allerfüdlichfte Yinie dürfte aljo wohl aus dem
Grunde zwecklos erjcheinen, weil hier die finanzielle Rentabilität mit ziem—
liher Wahrjcheinlichfeit nicht mehr vorhanden iſt.
Zmwifchen den vier genannten Möglichkeiten find noch verjchiedene
Theilftombinationen möglich, die aufzuzählen hier wohl zu meit führen
würde. Zunächſt wird man in Betreff der ragen Wo? und Wie? am
Beiten thun, die Nüdkehr der Stemrichjchen Reiſegeſellſchaft abzuwarten.
Auch auf die verjchiedenen Transaktionen, die bereits zwiſchen der deutjchen
Geſellſchaft und Engländern rejp. Franzofen in Betreff des Anſchluſſes
der deutichen Bahnen an die im vorderen Anatolien bereits bejtehenden
fremden Linien ftattgefunden haben, gehe ich nicht ein — ebenjowenig auf
die naheliegende Frage, ob und welche politifhen Gründe dabei mitgewirkt
haben, daß der Weiterbau der Angoralinie jolange geftodt hat und dafür
der füdlicher gerichtete Vorſtoß bis Konia fo energijch betrieben worden tft.
Eines aber muß gejagt und mit aller Bejtimmtheit immer und immer
wiederholt werden: Die Bagdadbahn joll und muß gebaut, und
fie muß bald und in der Hauptjadhe von uns gebaut werden!
12*
— —
180 Bolitiſche Korreſpondem.
Ohne den Bahnbau iſt vorauszuſehen, daß die deutſchen Kräfte, die jetzt
verſchiedene Unternehmungen in der Türkei ins Auge faſſen wollen, ſich
hierher und dorthin nach verſchiedenen Orten zerſplittern, und wenn es
dann einmal zu einer Liquidation der türkiſchen Maſſe kommt, dann ſitzen
wir an hundert verſchiedenen Stellen über die ganze Ländermaſſe bin zer—
jtreut, in die fih drei, vier Mächte theilen jollen. Die ganze Türfei
fönnen wir nicht befommen, weder in einem nod im andern Sinne, alſo
müffen wir von vorneherein dafür jorgen, daß mir uns eine großes, zu
jammenhängendes Stüd mit feſtem mwirthichaftlihem Rüdgrat — eben der
Eiſenbahn von Megäiſchen Meer zum perfiihen Golf! — aus ver Ge
jammtmafje heraus fichern. Für die Einjegung großer, in der Heimat über:
ſchüſſiger deutſcher Kräfte im Orient gemährt diefes Eijenbahnunternehmen
allein eine Grundlage, "Die hinreichend breit und ficher ift und dazu eine
dauerhafte und fortjchreitende Entwidelung verbürgt. Die deutjche, von
der Bahn durdhzogene, erjchlofiene und zufammengehaltene nterejieniphäre
würde folgende Gebiete umfaſſen:
I. Sübdfleinafien, 200 000 Quadratkilometer mit 3—31/. Mill. Einw.
2, Nordigrien, 70 000 [73 "„ —1 „ ’
3. Mefjopotamien, 260 000 .. „ 1a on 5
zufammen 530 000 Quadratkilometer
mit ca. ſechs Millionen Einwohnern, ein Gebiet, ziemlih fo groß wie
Deutihland. Daraus fann man entnehmen, welcher Zukunft die Yänder
der Bagdadbahn fähig find. Um Feiner Utopien geziehen zu merden, füge
ih hinzu, daß allein das alte Babylonien, die Landſchaft am unteren
Euphrat und Tigris, zur Zeit des Perjerreihes nicht weniger als ein
Drittel der Steuerfraft des ungeheuren Geſammtreichs bejaf!
Die Wiederkultivirung Babyloniens ift eine Frage, die außerhalb dieſer
Erörterungen bleiben muß, aber jelbjt abgejehen von dieſem ferniten Ziele
hängen für uns an der fchleunigen Inangriffnahme der Bagdadbahn jo
unermefliche jnterefjen, hängt daran ein jo gewaltiges Stüd unjerer zu:
' fünftigen Weltjtellung, des größeren Deutjchland über dem Meere, daß es
Thorheit und Kurzfichtigfeit wäre, ja ein Verbrechen an der Zukunft unjerer
Nation, wenn durch unfere Verfäumnif Fremde dieſes Unternehmen an ſich
brächten! Paul Rohrbad.
Die Mafregelung der Beamten- Abgeordneten.
Transvaal. Die Piyhologie des Dreyfus-Prozeſſes.
Als ich unjere vorige Monatöbetrachtung über die innere Politik
unter den Wirkungen des Kanal-Streits abjchloß, jagte ih, daß man von
unjerm Standpunft mit dem Ergebniß ganz zufrieden jein könne: der
Ranal jelbit, der uns als ein ſehr fragwürdiged Unternehmen ericeint,
ward abgelehnt und die darüber entitandene Spannung zwiſchen der
Regierung und den Konfervativen erichien und für das allgemeine In—
terejje fürderjam. Seitdem hat jich meine Auffaffung etwas verändert.
Bolitifhe Korrefpondenz. 181
Als ich jene Worte jchrieb, waren die Mafregelungen der beamteten
fonjervativen Abgeordneten noch nicht heraus und diefe Wendung erfüllt
mich mit Beſorgniß. Die Chance, daß der Kanal nunmehr durchgejegt
werden fönne, ift dadurch gewiß nicht verbejjert. Es it ja möglich, daß
man endlich eine Majorität im Abgeordnetenhauje gewinnt, indem man
in die Vorlage eine Menge Kompenjationen, namentlich für Schlefien, hin:
einnimmt, die die Abgeordneten diejer Yandestheile hiniiberziehen. Für
fonjervative Abgeordnete aber iſt ein jolcher Uebergang jetzt jedenfalls jehr
erihivert und die gemaßregelten Landräthe und Negierungspräjidenten
fönnen am allenwenigjten eine veränderte Weberzeugung zum Ausdruck
bringen, ohne fich dem jchnödejten Verdacht auszufegen. Da wir gegen
den Kanal jind, jo würde uns das nicht weiter grämen. Aber die Maß-
regelungen jelber bedeuten in der Gejchichte des preußischen Konſtitutionalis—
mus einen verhängnißvollen Abjchnitt. Eine der jchönjten Traditionen aus
der Zeit des abjoluten preußischen Königthums war die unabhängige Ge—
finnung, die dem Beamtentyum, man darf jagen, gejtattet wurde. An ſich
it ja der Beamte nur Organ des höchjten jouveränen Willen® und in
Frankreich würde jich Niemand vorjtellen können, daß der Präfeft eine
andere Anficht haben fönne als jein vorgejegter Minijter. Das fichert
eine prompte Verwaltung, wie jie frankreich auch immer gehabt hat. Aber
es tödtet in dem Beamten die jelbjtändige PBerfönlichkeit und macht aus der
ganzen Bureaufratie einen leblojen Mechanismus. Eine gewiſſe Selbjtändig-
feit innerhalb des Beamtenthums ijt ein jo hohes moraliiches Gut, daß jelbit
Schwierigkeiten, die dadurd bei der Ausführung der Verordnungen ent=
ftehen, gern in Kauf genommen werden müſſen. Das bat jchon der
herriſche Friedrih Wilhelm J. erkannt, der in jeinen Dienjtreglements
immer wieder darauf zurüdtommt, die Beamten jollten ihm ihre ab-
weichende Meinung frei und offen jagen, denn, fügt er hinzu, „Wir find
do Herr und König und können thun, was Wir wollen.“ So war es
auch möglich, das Landrathsamt zu jchaffen, das allein Preußen eigen-
thümlich ijt und ſonſt in der Welt nirgends erijtirt. Denn der Yandrath
joll nicht reiner föniglicher Beamter, jondern zugleich Vertrauensmann
jeines Kreiſes ſein. Daher hat er den Namen, der den Gegenſatz bildet
zum „Hofrath“. Die Näthe, die den brandenburgiichen Kurfürſten dom
„Lande“ beigegeben wurden, haben in ihrem uriprünglichen Charakter etwas
von Abgeordneten an ji und es entjprad) daher durchaus der hijtorifchen
Entwidelung, daß man, obgleich ihr Beamtencharakter allmählid) immer
jtärfer geworden ijt, ihmen dennoch die Wählbarkeit für die Volksvertretung
ließ und die Kreiſe jie fogar oft mit Vorliebe deputirt haben. Daß ein
gewiſſer Widerſpruch darin liegt, ijt unbejtreitbar. Der Beamte, namentlic)
der Verwaltungsbeantte, der zugleich Abgeordneter ijt, hat zwei Herren zu
dienen: dem Willen von oben und dem Willen von unten. ber da zulegt
doch alles Heil des Staates darauf beruht, daß Ddieje beiden Willen ſich
182 Politifhe Korreſpondenz.
immer wieder zu einem einzigen zujammen finden, jo ilt es bis heute
möglich geblieben, den formellen Widerjpruh zu überwinden. Die
Regierung war tolerant, die Landraths-Abgeordneten behandelten etwaige
Oppoſition im einzelnen alle mit dem nöthigen Takt. Als ich jelbit
Mitglied des Abgeordneten-Hauſes war, war der Landrath von Rauchhaupt
der Führer der fonjervativen Fraktion und ic) jagte mir damals öfter,
mich in den Hijtorifer der Zukunft verjegend, daß e3 einmal als ein Aus-
drud der bejonderen Großartigfeit des preußiſchen Staatsweſens betrachtet
werden würde, wie ein Beamter der vierten Rangklaſſe mit joldher Selb—
jtändigfeit und freimüthiger Kritik feinen vorgejegten Minijter als Macht
gegen Macht gegenübertreten fonnte, ohne dab doch das feite Knochengerüft
der Subordination, dejjen der Staat bedarf, dabei irgend welchen Schaden litt.
Nod Herr von Bennigjen hat als Oberpräfident den Widerjtand gegen
das Zedlitz'ſche Volksichuggefeg geführt und die Allianz feiner Partei mit
der radifalen Oppofition dagegen angedroht und das war eine nicht bloß
praftifchwirthichaftliche, jondern eine Frage fundamentaler Prinzipien.
Jetzt ift dergleichen für alle Zeiten vorbei. Das Minijterium Hohenlohe:
Miquel-Recke-Poſadowsky hat aus unjerem Staatöwejen eine Kraft aus—
gejchaltet, die nie wieder erjegt werden fann. Die preußijchen Verwaltungs:
beamten jind zu bloßen Präfekten berabgedrüdt. Wenn bei den nächſten
Wahlen jür Yandtag oder Neichdtag Beamte aufgejtellt oder gewählt werden
jollen, jo weiß man von vornherein, daß ſie nichts als Regierung:
fonımifjare jein werden und wollen. Cine der jtärfiten Stüßen der
föniglihen Autorität in Preußen, das Vertrauen, daß nit blo aus
äußerem Gehorjam, iondern mit wahrer innerer Zujtimmung die politiiche
Intelligenz, die in unjerem Beamtenthum ſteckt, die Regierung unterjtüge,
diejed Vertrauen ijt für die Zukunft unterbunden und muß abjterben.
Am deutlichjten wird das hervortreten in dem veränderten Charakter
der Eonjervativen Partei. Sie war immer nur eine halb-jelbitändige,
halb:gouvernementale Partei. Die vielen Beamten in ihr hielten jie in
jteterenger Fühlung mit der Regierung. Hierauf wejentlich beruht ihre politijche
Tüchtigfeit und Kraft. Jede Partei hat gewiſſe ertreme, fanatijche Ele
mente und fann jie für die Wirkung auf die Mafjen auch kaum entbehren.
Auch die Mittelparteien, wie die nationalliberale, jind keineswegs ohne
jolhe feidenichaftlihen und extremen Tendenzen. Es fommt nur darauf
an, daß nicht diefe, jondern die bejonnenen und ſtaatsmänniſchen Elemente
die Oberhand und die Führung behalten. So haben, auch nachdem eine
heftige Aufwallung unter den Konjervativen Herrn von Helldorff heraus—
ichleuderte, do die klugen Rechner unter ihnen die Agrar-Demagogen
immer einigermaßen in Schranken gehalten. Das wird in Zukunft faum
noh möglich fein. Die Beamten jcheiden aus, und die Konjervativen
werden eine materielle Klaſſen-Vertretung gewiljer Schichten, grade mie
die Sozialdemokraten auf der andern Seite. Bisher muß man freilich
Politiſche Korreipondenz. 183
gejtehen, Hat ſich das noch nicht gezeigt. Mit außerordentlihem Takt und
höchſter Zurüdhaltung, ohne ſich dabei irgend etwas zu vergeben, hat die
fonjervative Preſſe ihre Sache geführt. Aber ich glaube faum, daß fie
diefe Haltung wird behaupten können. Die natürliche Leidenjchaft der
Wählermaſſen wird endlich alle Schranken durchbrechen.
Unter dem reinen Bartei-Gefichtöpunft fünnte man dieje Entwidlung
mit einer gewiſſen Schadenfreude anfehen. Was iit zulegt der Sinn des
Ganzen? Die Regierung hat, um die formelle monarchiſche NMutorität zu
jtärfen, gewiſſe lebendige politische Kräfte, die ſich ihr augenblidlich uns
bequem eriiejen, gewaltjam aus dem Wege geräumt. Das it nicht? ala
die neue Anwendung einer Methode, nad) der jchon lange bei uns ge=
arbeitet wird. Auf demjelben Blatt jtehen die Umijturzvorlagen, Die
Majejtätsbeleidigungs:Trozefje. der dolus eventualis, der grobe Unfug,
die Disziplinarprozejje gegen Bürgermeijter, Ortsichulzen und afademijche
Lehrer — alles daS haben die Klonjervativen jtet3 (vielleicht einzelne Fälle
außgenommen) gebilligt und vertheidigt: nun hat es endlich einmal bei
ihnen jelber eingejchlanen. Perſönlich haben fie faum ein Necht, fich zu
beflagen, aber wer auf den Ruhm, die Größe und da3 Heil Preußens
jieht, der muß jich, welcher Partei er auch angehöre, darüber betrüben,
und es ijt ein Zeichen jenes Fanatismus, von dem wir fagten, daß er
auch bei den Mittelparteien erijtire, wenn nationalliberale Blätter wie die
National: Zeitung und die Kölnische Zeitung ihren Liberalismus und das
fonftitutionelle Verfafjungsreht jo weit vergeſſen fonnten, die Maß—
regelungen, weil jie gegen Konjervative gerichtet jind, zu billigen.
Sch wiederhole nod) einmal, eine gewijje Spannung und Trennung
zwiichen den Konjervativen und der Regierung it in unjern Augen keines—
wegs etwas Verwerfliches, jondern im Gegentheil zur Zeit jehr wünſchens—
wert. Aber die Art, wie der Konflikt herbeigeführt worden ijt und der
Gegenjtand, an den er anknüpft, fcheinen mir jo unglüdlich wie möglid)
gewählt. Selbit diejenigen, die den Nanal-Bau aus innerjter Ueberzeugung
für ein Kulturwerk halten, die mit Enthujiasmus von dem Segen jprechen,
der von ihm ausgehen joll, fie werden doch nicht glauben, daß in all den
Provinzen und Landſchaften, die an diefem Segen feinen Theil haben
jollen, ji eine ftarfe Stimmung für ihn und deshalb gegen die Konſer—
vativen hervorrufen lafjen werde. Mag der Kanal endlich im AUbgeordnetens
Haufe angenommen werden, in weiten Landjtrichen wird immer ein jtarfes
Vorurtheil gegen ihn bleiben, das der konjervativen Partei zu Gute fommt.
Nun giebt es aber einen andern Gegenjtand, wo die wirthichaftlicherüc
jtändigen Anſchauungen der Konfervativen nicht bloß jcheinbar oder viel-
leiht, jondern ganz ficher dem allgemeinen Intereſſe hindernd in den Weg
treten werden und überwunden werden müſſen. Das ijt die Erneuerung
der Handeläverträge, über die in ein oder zwei Jahren der Kampf entbrennen
wird. Hier war fchon längjt vorauszufehen, daß einmal ein Zulammenjtoß
184 Politiſche Korrefpondenz.
zwijchen der Negierung und den Slonfervativen erfolgen müfje. Hier war aud
eine Parole gegeben, die Alles, was nicht wirklich extrem-agrariſch ijt, um bie
Regierung gejammelt hätte. Der Kanal-Kampf jtärkt nun die Stellung der
Konjervativen im Lande fo jehr, unterjtügt die Meinung, daß unfere Wirth—
ichaftspolitif auf Koften der Landwirthichaft arbeite, in jo weiten Kreiien,
rujt den Gedanken, daß der Opfer, die die Landwirtbichaft gebradt, num
genug jeien, jo jtarf hervor, daß der Kampf für die Handelöverträge da-
durch äußerſt erjchwert werden wird,
Hätte die Negierung umgekehrt, jtatt die Gewaltmaßregeln gegen die
Beamten zu ergreifen und den faſt hoffnungslojen Kampf für den Kanal
fortzufegen, ruhig einen Schritt zurüdgethan, zunächſt die Kanalſtrede
DTortmund— Rhein von einer Privat:Gejellihaft bauen lajjen, nnd das
gute Verhältniß zu den Konfervativen aufrecht erhalten, jo wäre jie in
eine vortrefflihe Poſition gekommen und hätte alle übermäßigen
agrariichen Anjprüche jtet3 mit dem Hinweis auf die Nachgiebigfeit in der
Kanal-Forderung abgejchlagen und dabei alle bejonnenen Elemente auf
ihrer Seite gehabt. Nun iſt die Situation fo verfahren, wie möglid.
Unfere Liberalen bieten weder nach ihren Ideen, noch nach ihrem Perjonal:
beitand Die Kraft, auf die die Negierung ſich jtügen fann; aus guten
Gründen jcheut dieje jich, mit den Konſervativen völlig zu brechen und doch
fann ſie, da wegen der Handelsverträge der neue Stonflift bereits am
Horizont jteht, jich nicht wieder mit ihnen vertragen. Was wird werden?
Ueber den Nüdtritt des Minijterd des Innern, Herrn von der Nede,
ijt nichts zu jagen und über den des Kultusminiſters Herren Bojje möchte
ich nicht3 jagen.
* *
Der Hintergrund, auf dem ſich der Haager Friedenskongreß abſpielte,
war der eben vollendete Krieg zwiſchen Nordamerikla und Spanien; nun:
mehr wird das große Humanitätswerf auch in die rechte Beleuchtung ge:
bracht durch das heraufziehende Gewitter: Gngland—Transvaal. Wer
nun noch nicht einjieht, daß es die Despoten find und der Militarismus,
die die Welt mit der jurchtbaren Kriegsgeißel heimjuchen und daß man
die Völker nur mit parlamentarischen und demofratijchen Verfafjungen
zu beglüden braucht, um die Menjchheit von der Kriegsfurie zu befreien,
dem ijt nicht zu helfen. Oder iſt es nur die abnorme Bosheit gerade
dDiejer beiden Völker, der Amerikaner und der Engländer, die alle Vernunft
zu Schanden madt und die Welt in die Kriegsgreuel jtürzt? ch möchte
den Friedenspredigern vorjchlagen, fich wenigjtens in Deutichland auf dieſe
Hilfsargumentation zurüdzuziehen; jie werden ſich dadurd, wenn aud
nicht die Friedensidee zum Siege führen, doch in weiten Kreiſen Sympathie
erwerben. Man Hat heute in Deutjchland weder für die Nordamerifaner
noch für die Engländer viel übrig und das Vorgehen gegen Transvaal
ericheint als die brutale Vergewaltigung eines Kleinen durch einen Großen.
Bolitifhe Korrefpondenz. 185
Wir wollen offen gejtehen, dat wir die Sache nicht jo anjehen können.
Wenn ed denkbar wäre, daß ſich ganz Südafrifa von England loslöſte
und ein unabhängiges, holländijches Staatsweſen bildete, daS im derjelben
Weiſe ſich geiltig an das Mutterland anfchliegend, wie Nordamerika an
England, die Sphäre der niederländischen Nationalität, Sprache und Kultur
erweiterte, jo würde uns das mittelbar auch für Deutjchland ald ein Ge—
winn erjcheinen. Nicht weil wir den Niederländern nah Raſſe und Sprache
näher stehen al$ den Gngländern, jondern weil es ganz generell
unſer Intereſſe ijt, zwiichen Gngländertbum und Ruſſenthum möglichſt
viel anderen Rulturvölfern, jeien es Niederländer oder Italiener, Franzoſen
oder Dänen, Raum zu gönnen, und unjere eigene zukünftige Weltjtellung
auf der Anlehnung an eine jolhe Reſerve von weiteren kleinen und
großen Nativnalitäten beruht. Aber der Gedanke, daß Südafrika in diefer
Weiſe niederländijch werden fünnte, ijt eine Utopie. Wenn auch England
jest im Bejig des zweiten Wege: nach Indien ift, und alle Etappen,
Gibraltar, Malta, Egypten, Aden fejt in der Hand hat, jo fann es ji
dod) aud) die Station am Kap niemald nehmen laſſen. Es würde
den größten und erichöpfenditen Krieg deßhalb führen und es denkt
ja auch Niemand an eine jolde Umwälzung. Wenn dem aber jo
it, jo haben wir zu fragen, ob wir ein bejonderes Intereſſe daran haben,
daß die beiden unabhängigen Buren-Republiken bejtehen bleiben. Man
denkt zunächſt: jelbjtverjtändlich; jo ift doch der Ausbreitung des Engländer:
tbums eine Schranke gejegt. Aber eine nähere Ueberlegung, glaube ich,
jeigt, daß dieſe Echrante, jo wie fie jeßt ijt, feinen Werth hat. Dieje
Burenitaaten find ein eigenthümliches Gebilde, das man mit dem höchiten
Wohlwollen betrachten kann, wovon man aber nicht erwarten und faum wünjchen
fann, dab es bejtehen bleibe. Der jtrenge vollsthümliche Calvinismus
des jiebzehnten Jahrhunderts ijt das einzige Kulturelement, das dieje aus—
gewanderten Söhne Europas mitgebracht und bewahrt haben und das fie
abhält, wieder in die abjolute Barbarei de3 germanischen Urmwaldes zurüd-
zujinfen. Sie haben fein höheres Echulwejen, faum eine Schriftipradhe.
Das jchlechthin Unentbehrlicdye an etivas höherem Menſchenthum müſſen jie,
unfähig, es jelber hervorzubringen, aus dem Mutterlande beziehen. Auf
fich jelbjt beichränft, hätte das biderbe Völfchen fein Stillleben noch lange
fortiegen fünnen. Durch den Zufall aber, daß die Goldfelder auf jeinem
Gebiet entdedt jind hat fich eine große modern-europäiſche Kolonie unter ihnen
aufgetdan und hieraus ijt der Konflikt entiprungen. Die Buren wollen
der Herrenjtand in ihrem Lande bleiben, die Einwanderer, die wohl häufig
moraliſch inferior, kulturell aber und namentlich wirthichaftlich weit überlegen
find, dauernd als bloße Gäjte behandeln, ihnen feine politifchen Nechte
geben und fie dabei mit Hilfe ihrer Gejege möglichit ausnutzen. Es iſt
ganz Kar, daß das auf die Dauer ein jchlechterdings unhaltbarer Zuſtand
it. Es iſt unmöglich, daß in Kolonialländern die uriprüngliche Ein—
186 Politiſche Korrefponden;z.
wandererjchicht alle jpäteren präffudirt. Wir haben hier einen von den
zahllofen Fällen, wo man mit dem formalen Recht nit durchlommt.
Die erjte Einwanderungsschicht ſetzt feit, was Rechtens iſt, die jpäteren
Einwanderer aljo haben ſich dem Necht des Staated, in den fie ſich be
geben, zu unteriverfen. Gonz richtig. Aber gegen das bejtehende positive
Recht reagirt ſtets ein anderes, aus den allgemeinen Prinzipien abgeleitete:
Recht, mag man ed nun das natürliche, das allgemeine Menjchenrecdht, das
Recht der Nevolution, dad Recht der Tebendigen Kraft, dad Recht der
biftorifchen Entwidelung nennen. Wer fich nicht auf den rein konſervativ—
formaliftiichen Standpunft jtellt, kann das Recht der fremden meijt engliſch—
amerilanifhen Minenbefiger, Goldgräber und Kaufleute gegenüber der
Burenregierung nicht leugnen. Gbenfowenig it zu leugnen, daß die
Engländer fraft der beftehenden Verträge ein Recht haben, ſich in die
inneren Berhältnifje Transvaals einzumijchen. Ob diejes Recht eine wirf-
liche Suzeränetät darjtellt, ob es joweit geht, wie die Engländer behaupten,
mag mit Fug bejtritten werden, aber darauf fommt in der That nicht
viel an. Wir haben Hier eben einen Fall, wo da3 formale Recht nidt
ausreicht; nicht ohne Grund lehnt England deshalb aud ein Schiedsgericht
ab. Es beruft jich darauf, daß e3 die füdafrifanische Großmacht iſt und
al3 folche die transvaaliichen Zuftände, durch die die Rechte jo vieler englischer
Unterthanen berührt werden, nicht länger dulden will.
Der Zeitpunkt für das Eingreifen Englands iſt jo gewählt, daß man
faum erwarten darf, ed werde von feiner Forderung abjtehen. Es ijt Elar,
daß Rußland augenblicklich ſehr friedlich geftimmt iſt und die Gelegenheit
einer jüdafrifanifchen Verwidlung nicht benußen wird zu einem Vorſtoß
gegen die Engländer in Ajien. Die Vereinigten Staaten jtehen jo gut mit
England wie noch nie und haben auf Kuba und den Philippinen alle Hände
voll zu thun. Mit Deutichland hat England einen Vertrag geichloiien,
deſſen Inhalt noch nicht befannt geworden ilt, der aber England auch nad)
diejer Seite Dedung gewährt. Frankreich allein wagt, wie Faſchoda ge:
zeigt hat, mit England nicht anzubinden. So ijt England gerade jegt ın
der günjtigen Lage, jenen Spahn mit Transvaal ohne die Gefahr einer
fremden Einmijchung ausfechten zu können. In einigen Jahren ijt Die
politiihe Weltlage vielleicht eine ganz andere. Mit gutem Grund jind
aljo jet die Engländer zur Offenfive gejchritten.
Wir wollen hoffen, daß die Kriegsdroßung, die Rüftungen und der
zweifelloje Ernſt des englifchen Vorgehens endlich doch genügen werden, um
die Buren ohne wirklichen Krieg zur Nachgiebigfeit zu bringen. Sie
würden ja gewiß den Engländern einen tapferen und zähen Widerjtand
entgegenjeßen und ſich nicht leichten Kaufes geben, aber ſelbſt der Sieg
würde nutzlos fein. Die Welt hätte nicht? davon, als dad Schauspiel des
tragijchen Heroismus. Ein bloßer Burenjtaat mit einer wirthichajtlichen
Entlave wie Sohannesburg in feiner Mitte, iſt auf die Dauer unhaltbar
Bolitiihe Korreſpondenz. 187
und würde, wenn gewaltjam gehalten, aus einer Kriſis in die andere
jtürzen. Alles Mitgefühl für den waderen, niederdeutichen Stamm kann
und nicht abhalten, die Dinge zu jehen, wie fie find. Rechnet man, daß
der Krieg die volle Kraft der Engländer in Anſpruch nehmen, jie auf
längere Zeit hinaus fefjeln und Gelegenheit geben werde, ihnen anderwärts
etwas abzuzwaden, jo mag man aus diefem Grunde den Krieg wünjchen,
aber von Liebe zu den Buren wiirde ein folder Wunjcdh nicht eingegeben jein.
Mit oder ohne Blutvergieken, etwas früher oder jpäter, das Ende
dieſes Konflikt? kann immer nur jein, daß den „Uitlanders“ in Transvaal
politifche Rechte gegeben werden und haben ſie dieje erjt, jo werden jie
jhon jelber dafür jorgen, daß fie bald völlig gleichberechtigt mit den Buren
werden und dann iſt es mit dem jeßigen Buren-Staat zu Ende Denn
die „Uitlander“ haben ſchon jet die Majorität im Lande und jind ihrer
Sprache nad) zum allergrößten Theil engliſch.
BVielleiht würden die Buren jogar am bejten thun, jich einfach in
das britische Kolomialreih aufnehmen zu lajjen. Sie würden ja damit
keineswegs einfach unter engliiche Herrichait gerathen, jondern ſofort Ans
ihluß an ihre Landsleute nehmen, die im Kap = Parlament bereits die
Majorität haben. Durch einen jolhen Zuſammenſchluß aller nieder-
ländiihen Elemente würde das Fortbeſtehen des niederländifchen Volks—
thums vermuthlich bejjer geiichert fein, als durch die ijolirten und kaum
entwidelungsfähigen burijchen Republiken. Das engliiche Ktolonialreich it
ja jo liberal organifirt, daß jede Kolonie ein fajt jelbjtändiges Staatsweſen
bildet. Haben die Niederländer iu Afrika wirklich die moralijche und geijtige
Spannkraft in ji, ihre Nationalität zu behaupten, jo giebt ihnen die
parlamentarijhe Verfaſſung der Kolonie dazu Spielraum. Selbſt
wenn es zum Kriege kommt und die Buren unterliegen und werden
mit Gemalt in das engliihe Weltreich hineingezwungen, jo Dürfen
wir hoffen, daß die Kriſis nicht zum Untergang führen, jfondern nur
neue Lebendbedingungen für eine eigenthümliche und werthvolle Nationalität
ichaffen werde.
Sollte die Gemaltjamfeit, mit der England vorgeht, überdies dazu
jühren, daß das Königreich der Niederlande, dejjen Herz jchlägt für die
alten Abkömmlinge, fich enger an Deutichland anjchließt, jo kann auch dieje
Folge der Transvaal-Frijis und nur erwünſcht fein. Der Bejuch, den die
junge Königin Wilhelmine augenblidlih in Deutjchland am preußijchen
Königshaufe macht, entbehrt vielleicht nicht alles politischen Hintergrundes.
* *
2*
Dreyfus iſt unſchuldig. Das kann nicht dem geringſten Zweifel unter—
liegen. Es iſt nicht bloß nicht nachgewieſen, daß er ſchuldig iſt, ſondern
es iſt poſitiv nachgewieſen, daß er an dem Verbrechen, deſſen er angeklagt
war, unſchuldig iſt. Auch die Hypotheſe, daß er an Rußland verrathen,
daß dies in der geheimen Verhandlung vorgefommen und daß er deshalb
188 Politiſche Korreſpondenz.
verurtheilt worden ſei, iſt offenbar hinfällig. Wenn dem jo wäre, jo
hätten Anklage wie Verteidigung zweifellos ganz anders operirt. Wozu
hätte die Anklage den verzweifelten Verſuch gemacht, Dreyfus wegen Ber:
raths an Deutjchland und Italien verurtbeilen zu lajjen und Die öffent:
fihe Meinung fortwährend weiter durch dieſe Behauptung erregt, wenn
jie jicher gewejen wäre, die Anklage mit der anderen Begründung durd-
zubringen? Die BVertheidiger aber, Demange, Labori, und namentlid
Picquart, die doch auch ihre perjönlice Stellung zu wahren haben, hätten
jih nicht jo unbedingt für Dreyfus in die Schanze gejchlagen, wenn fie
gewußt hätten, daß er troß Allem, wenn auch an anderer Stelle, ein
Verräther gewejen jei. In einem jo langen und jo leidenſchaftlich durd-
gefochtenen Prozeß hätte ein derartiger geheimer Hintergrund überhaupt
nicht jo völlig verborgen bleiben fünnen. Das Ganze iſt eine phantaſtiſche
Hülffonjtruftion, entjprungen aus dem Bedürfniß den Vorgang Eriminell
und pſychologiſch verjtändlich zu machen, aber fo rationell es wäre, es iſt
nicht jo gewejen. Es iſt möglid, daß Dreyjus mit ruſſiſchen Offizieren
verfebrt hat und daß die gefülichten Papiere 3. B., die Briefe unſeres
Kaiſers von der ruſſiſchen Kriegspartei, vielleicht einem hochgeitellten Mann,
den Franzoſen in die Hände gejpielt jind. Uber von irgend einer ver:
rätheriichen Verbindung Dreyjus’ mit den Ruſſen, von irgend einer Ber:
ſchuldung jeinerjeit3 kann nicht die Rede jein.
Die Erklärung jeiner Verurtheilung liegt ausichlieglid darin, daß
der Prozeß zu eine Parteifache geworden war. Es iſt traurig genug für
die Menichheit, aber es ijt jo, und keineswegs eine Eigenthümlichkeit
Frankreichs: ijt irgend eine Angelegenheit erjt zur Parteiſache gejtempelt
und die Leidenjchaften haben ſich dafür und dawider erhigt, jo tjt es mit
dem Erfolg aller jachlihen Gründe vorbei. Selbſt Euge und klare Köpfe
ind dann Sophismen und Verdadhtsgründen zugänglich, die fie in jedem
andern Fall verächtlich bei Seite jchieben würden.
Für Diejenigen, die außerhalb jtehen, wird der Vorgang dann gay
unverſtändlich. Mann weil; ji) nicht anders zu helfen, al$ daß man ein
ganzes Volk für verrückt erklärt und weiß nicht, daß in dem eigenen Volke
ih ganz analoge Verichiebungen abjpielen. Man beobachte das einmal
auf anjcheinend ganz neutralem Gebiete: Fragen der Wijjenjchaft.
Mit was für Argumenten juchen Schweizer Gelehrte, die jonjt durd:
aus bejonnen und methodisch gebildet jind, die Tell- und Winfelried-Sagen
zu vetten, wenigjtens ein Stüd, einen Schimmer davon wijjenjchaftlich zu-
zuitugen! Die Tichechen haben ebenfalls eine alte Beldengejchichte, die
aber nicht einmal wirkliche Sage, jondern eine einfache Fälſchung eines
bejtimmten Gelehrten aus unjerem Jahrhundert iſt. Als ein Profeſſor
der tichechischen Univerjität Prag das einmal öffentlich, aber in rein wijjen-
Ichaftliher Form bekannte, wurde er von feinen Kollegen ebenso öffentlich
und förmlich in die Acht erllärt. Man glaube ja nicht, daß wir in
Politiſche Korreipondenz. 189
Deutichland anders find: ich will feine Beijpiele nennen, um nicht auf der
Stelle den Sturm zu entfejjeln.
Man meint vielleicht, daß vereidigte Nichter, die den unmittelbaren
Erfolg ihre Urtheild, Tod und Leben eined Menschen, vor Augen haben,
mit größerer Unbefangenheit urtheilen müßten, als jelbjt die Gelehrten im
Streite der Wiſſenſchaft. An fich müßte wohl auf beiden Gebieten mit
gleicher Objektivität geurtheilt werden, und wenn Richter vielleicht noch ein
jtärfered DVerantwortungsgefühl haben, jo find fie dafür auch nur durch
mebr oder weniger Zufall zur Enticheidnng berufene Durchichnittämenjchen,
während bei wiflenichaftlichen Streitigkeiten naturgemäß die hervorragenditen
Sntelligenzen und Talente die Führung nehmen. Das eigentliche Problem
de3 Dreyjusprozefjes liegt ja auch nicht darin, daß von den fieben Richtern
fünf auf ſchuldig erfannt haben, ſondern darin daß, wie unbefangene Bericht:
eritatter gemeldet haben, dieje Theilung auch die des franzöfiichen Volkes
etwa richtig widergibt. Die große Mehrheit der Franzoſen hat jich weder
durch die Ehrwürdigfeit Scheurer-Keſtners, noch durch die Gluth Zolas, noch
durch die Nıtterlichkeit Picquarts, noch durch den Scharfjinn Yaboris, noch
durch die Beredſamleit Demange’, von der Unjchuld des Dreyfus über
zeugen lajjen. Fünf Kriegsminijter hintereinander und in langer Reihe
Generale und Offiziere find vor dem Gerichtshof in Rennes aufgetreten
und haben bezeugt, daß fie Treyfus für jchuldig halten. Kein Wunder,
daß der Gerichtshof jelber fi) dem Eindrud ſolcher Zeugnifie, in denen
die Stimme der Armee mwiderhallte, nicht hat entziehen fünnen. Männer
die ım Stande find ſich vom Korpsgeijt zu emanzipiren und völlig ihrem
eigenen Urtheil und Gewiſſen zu folgen, find allenthalben unendlic)
jelten.
Die Frage iſt alſo nun, weshalb dieje Verrath3-Anklage, die doch
etwas ganz Perjönliches iſt, zu einer Parteiſache werden fonnte und das
liegt ausſchließlich in Dreyfus Eigenjchaft ald Jude. Die judenfreundlichen
Blätter in Deutjchland jtellen es jo dar, al3 ob eine ungeheure militärijch-
jeſuitiſche Verſchwörung in Frankreich eriitiere, die die Nepublid jtürzen
wolle und diefen Prozeß benutzt habe, um zu zeigen, daß fie die Gewalt
beſitze. Bon antijemitischer Seite wieder wird dad ganze Eintreten für
Dreyfus als eine Judenmache, das Werk eines „Dreyfus-Syndikats“ hin—
geſtellt. Das Eine iſt jo falſch wie das Andere. Es iſt vielmehr ein
Vorgang, der ſich bei jedem jenjationellen Prozeß, in den Juden vermwidelt
find, wiederholt und den wir vor wenigen Jahren bei der Verfolgung des
unglüdlihen Schlächters Buſchof in Xanten bei uns jelber erlebt haben.
Wenn der Berdadht eines jchweren Verbrechens jich irgendwo auf einen
Juden lenkt, jo jegt fich jofort die bei allen Völkern verbreitete antijemitijche
Stimmung dahinter, vergrößert die Verdachtsmomente und verallgemeinert
die Anklage gegen das Judenthum überhaupt. Naturgemäß find die Juden
auf diefem Punkt jehr empfindlich, treten für den Angeklagten auf die Schanze
190 Bolitifhe Korrefpondenz.
und fuchen nachzuweiſen, wie wenig er doc) eigentlich befajtet jei. Nicht
fange dauerts, jo find fie fertig mit dem Urtheil, daß die Anklage jchlecht:
hin nichtig ſei. Diefer Uebereifer aber reizt die Gegner zu der Trage:
Wäret Ihr auch jo ficher, wenn der Angeklagte fein Jude wäre? Soll er
etwa deshalb von vornherein als unjchuldig gelten, weil er Jude ijt? Ge—
wiß haben die Juden abjolut Recht, wenn fie bei jeder Anklage auf Ritualmord
von vornherein die Anklage belämpfen, denn der Ritualmord it nichts als
ein wahnmwißiger, grauenhafter Aberglaube, und Blätter, die ihn auch nur
als eine Möglichkeit hinjtellen, jollten jich ihrer Unwiſſenheit ſchämen. Aber
was diejen Aberglauben am Leben erhält, ijt gerade das leidenſchaftliche
und einmüthige Eintreten ded ganzen Judenthums fir jeden dieſes Ber:
bredens Verdäcdtigten. Gerade in diefem Augenblick jpielt ji in Böhmen
wieder ein folder Fall ab. Was follen die Juden machen? Sollen ſie
etwa, ohne zu kämpfen, den Juſtizmord gejchehen lafjen? Die Grenze tit
ſchwer zu ziehen, aber foviel ift ficher, daß das Eintreten der Preſſe und
das Anrufen der öffentlichen Meinung gerade das Gegentheil von dem
bewirkt, was erzielt werden ſoll: Nehmen die Juden die eine Partei, ſo
nehmen die Wntifemiten, die doch in der Volksmeinung die bei weiten
Stärferen find, die andere, und der perfünliche Kriminalprozeß iſt zur
Barteijache geworden.
So iſt es auch mit Dreyfus gegangen. Als er das erite Mal ver:
urtheilt wurde, geſchah es auf die Ausjage Bertillons bin, der als be
rühmter Schreibjadhverjtändiger erklärte, daß der Angeklagte das Bordereau
geichrieben habe. Ferner auf Grund der Ausfage Henry, der dad Bureau
der geheimen Nachrichten vertrat und die ganze Autorität diefer myſtiſchen
Behörde in die Wagjchale warf. Endlich famen noch hinzu die gefälichten
Bapiere, ‚die dem Angeklagten nicht vorgelegt wurden.
Bertillon it jeitdem als ein Verrüdter erkannt; Henry war möglicher
Weije jelber der Verräther oder jtand jedenfalld ganz unter dem Einfluß
Esterhazys, des wirklichen Berräthers; die Fälſchung der Geheimpapiere
wird nicht mehr bejtritten. So war die erjte Verurtheilung Dreifus’ ein
Sujtizmord auf Grund falſchen Zeugnifjes, wie er leider nur zu oft vor:
fommen wird. Der Antifemitismus fpielte dabei eine zwar fchon jehr
laute, aber doch nicht entjcheidende Rolle. Dreyfus hatte fich durch jein
etwas zudringliches, neugierige® und renommiſtiſches Weſen unbeliebt
gemacht und der Verdacht jehte fich ſchadenfroh Hinter die Heinen Blößen,
die er jich gegeben Hatte.
Nachdem er aber nunmehr verurtheilt war und der Feldzug feiner
Freunde zu Gunjten feiner Befreiung begann, da entwidelte jich an diejem
Streit der Gegenjaß von Judentum und Antifemitismus, der in Frant:
reich, obgleih ja das ganze Land weniger Juden hat, als die Stadt
Berlin allein, jtärker ift al® bei und. Pas rein demokratische Regiment
hat die Macht des Geldes in Frankreich außerordentlich geiteigert. Wüh-
Bolitifhe Korreſpondenz. 191
rend bei uns die Traditionen des Hofes, des einflußreichen Adels, des
Dffizierforps und des Beamtenthums die Geldmacht einjchränfen, giebt es
in Frankreich nichts als das allgemeine gleiche Stimmredt, da3 dem Gelde
nur wenig Widerjtand entgegenzujeßen vermag. Das Geld aber ijt zum
jehr großen Theile jüdifh. Mit noch nicht vergefienem Zorn gedenten
die Franzoſen Panamas, und daß fait alle Macher bei diejer Schmuß-
wirtbichaft Juden waren. Das war Dreyfus’ Unglück auf der einen
Eeite, auf der anderen, daß die Antifemiten die „Ehre der
Armee“ als ihre Parole ausjpielen fonnten. Das einmal gejprochene
Urtheil eines Kriegsgerichts jollte nicht angefochten werden Dirjen
und alle Dffiziere, die vom Kriegsminiſter Mercier an abwärts
leichtjinnig oder böswillig bei dem eriten Urtheil mitgewirkt hatten,
jegten nunmehr um ihrer jelbjit willen Alles daran, um dieſes
Urtheil aufrecht zu erhalten und einzelne Schurken darunter griffen
zu wirflihen Fälihungen. Die Leidenjchaft verblendete die Sinne auf
beiden Seiten mehr und mehr und das Volt nahm naturgemäß Partei
„für die Armee“ und „gegen die Juden“. Wie jollte es auch nicht, wenn
es auf jener Seite Freycinet jah, den einjtigen Leiter der nationalen Ver—
theidigung; Billot, der 1870 vom Oberjten zum fommandirenden General
befördert wurde wegen jeiner auögezeichneten Tapferkeit; Boisdeffre, dem
man als Chef des Generaljtabes die Leitung des Nevanchefrieges geglaubt
hatte anvertrauen zu dürfen?
Sit nun der Prozeß Dreyfus ein Zeichen des moralijchen Niederganges
des franzöjiichen Volles? Keineswegs. Vielmehr ift der Muth und das
Talent, mit der eine Reihe von Perjönlichkeiten ſich aus den Lagern des
Barteivorurtheil® gerettet und für die erfannte Wahrheit gekämpft hat, im
höchſten Grade achtungswerth. Der Prozeß ijt ein Zeugniß wohl großer
morafifcher Verwirrung, aber auch großer moralischer Kraft unter den
heutigen Franzoſen. Wenn er dennoch eine Etappe in dem Niedergange
diejer Nation bedeutet, jo trifft das nicht ſowohl das franzöſiſche Bolt als
den jranzöftiichen Staat. Das Entjcheidende it der Mangel jedes feiten,
in jich jelbjt ruhenden Zentralpunftes in diefem Staatsweſen. Alles ijt
dem Barteigetriebe anheimgegeben, nirgends eine Inſtanz, die einen jolchen
Streitfall, wie diejen Dreyfus-Prozeß mit wirklicher Unbefangenheit be-
urtheilte oder der man das auch nur zutraute. In Deutjchland würde ein
derartiger Jujtizmord entweder joweit möglich twieder gut gemacht, oder
aber aufrecht erhalten werden; auf feinen Fall aber wiirde dad ganze
Staatögebäude darüber ind Wanfen fommen. So mag man e3 den Fran—
zojen jogar zum Ruhme anrecdhnen, da die dee der Gerechtigkeit jo un
erichrodene und opferfähige Verteidiger bei ihnen gefunden hat, aber
die Stellung Frankreich unter den Weltmächten hat einen unverwindlichen
Schaden erlitten, da man gejehen hat, daß ein einfacher Kriminalprozeß
im Stande ijt, dieſes ganze Staatsweſen beinah umzuftürzen.
192 Politifhe Korrefpondenz.
Der Ausgang, den man endlich gefunden hat, Dreyfus wieder jchuldig
iprechen zu lafjen, aber mit mildernden Umjtänden, nnd ihn dann zu be—
gnadigen, fann wohl al$ der Ausdrud einer gewiljen taktiſchen Geſchid—
fichfeit gelten, jteht aber moraliich dafür auf einer um jo geringeren Stufe.
24. 9. 99. D.
Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu-
gegangen, verzeichnen wir:
Barolin, Johannes €. — Der soziale Staat im Staate. 208. Leipzig, Wilhelm Friedrich.
Bartolomäus, R. — Die Provinz Posen auf dem Frankfarter Parlament. "Ausschnitt
aus der Zeitschrift der historischen Gesellschaft für die Provinz Posen. XIV. Jahrg.
1. und 2. Hett.
Bericht über Handel und Industrie von Berlin nebst einer Uebersicht über die
Wirksamkeit des Aeltesten-Kollegiums im Jahre 1898, erstattet von den Aeltesten
der Kaufmannschaft von Berlin. 263 S. Berlin, Julius Sittenfeld.
‚©. J. — Gugeline. Ein Bühnenspiel in fünf Aufzügen. Berlin, Schuster
& Loeffler.
Büdingen, Dr. med. Theodor. — Zur Bekämpfung der Lungenschwindsucht. (Streif-
züge eines Arztes in das Gebiet der Strafrechtspflege.) B1 S. Oktav, Braunschweig.
Friedr. Vieweg & Sohn.
Füsselein, W. — Hermann I Graf v. Henneberg (1224—1290) und der Aufschwung der
Hennebergischen Politik. Abdruck aus der Zeitschrift tür Thüringsche Geschichte
und Altertumskunde. XIX, Bd.
Hausing, Dr. Karl. — Hardenberg und die dritte Koalition. Historische Studien
Heft XIL. Oktav. 109 S. Berlin, E. Ebering.
Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Oesterreich. 1 Bd. Süddeutschland
und Schlesien. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXXIV. 506 5. Leipzig,
Duncker & Humblot.
Henning, Hans. — Der Zustand der schlesischen Festungen im Jahre 1756 und ihre
Bedeutung für die Frage des Ursprungs des 7jührigen Krieges. 46 5. Jena,
Bernhard Vopelius.
Hron, Karl. — Der deutsche Ausgleich mit dem Staate Oesterreich. Oktav. 207 8.
Wien, Friedr. Schalk.
Richter, Dr. Arwed. — Ueber einige seltenere Flugschriften aus den Jahren 1523 — 1535.
44 S ÖOktav. Hamburg, Lütcke & Wulff.
Runge, M. — Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur Akademischen
Fi am 5. Juni 1899. (25 S.) 40 Pf. Göttingen 1899, Vandenhoeck &
uprecht.
Schanz, M. — Römische Litteraturgeschichte II. 1. (2. Auflage). Oktav. (XII 372 S)
M.7.—. München 189. C. H. Beck.
Manujfripte werden erbeten unter der Adrejje des Heraus—
gebers, Berlin Charlottenburg, Kneſebeckſtr. 30.
Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entjcheidung
über die Aufnahme eines Aufjages immer erjt auf Grund einer fachlichen
Prüfung erfolgt.
Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite des Papier ge
jchrieben, paginirt jein und einen breiten Rand haben.
Nezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbuchhandlung
Dorotheenjtr. 72/74, einzujchiden.
Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück,
Berlin - Charlottenburg, Knesebeckstr. 30,
Verlag von Georg Stilke, Berlin NW, Dorotheen-Strasse 72/74.
Druck von J.8,Preuss, Berlin SW., Kommandantenstr. 14,
a ienentstden, Dean aue
ı aller Kulturländer vielfach ver-
/hylaktisches Mittel gegen alle das
> »n, Galle- und Blasenfanktionen
ser a Bellen.
— Eririschungsgetrünk, auch mit Wein etc.
1200 gr. crca T50 zgı ron HT gr. enthaltend
Pf.. zu 50 PT.. zu 40 Pf.
\ „45 „ RE
„ ER. Fe > Dr
ER R . > ' r
zen Hauptniederlagen in Berlin bei Herren:
_IF.Heyl& Co. Dr. M. Lehmann,
W, Charlattenstr. 66 C., Heiligegeiststr. 43/44
eken und Drogerien erhältlich. ero
er pro Stick zurike kirmtn yınıns
—
5
im Biliner Sauerbrunn
j Etilles de Bilin
(Biliner Verdauungszeltchen)
Bevorziehohes Mittel bei Sodbrennen, Mage nkrampf, Blähsucht
A J
bei Magenkatarrheu, wirker
Em kindlichen Orzanismus
Da: Fmeanals zufolge sitzender Lebe:
empfehlen.
Eaimeralwasser-Handlungen, in den Apı
Droguen- Handlungen.
Brunnen-Direction in Bilin (Böhmen).
zii ⸗ G a
u WW
7
+ ü
= —
—4
u
Das Beste Ofener B |
3
J
Gehéeimrath Prof. OSCAR LIE
sehreiht it „ Therapeut ischen Mencetshiefk Me
or
„Ein derartig brauchbares Was:
Se
4J
„Für langere Trinkcuren, j
‚Zur Regulirung des Stoffwechsel:
BR:
„‚ Bei Fettleibigkeit, chronischen Oft
„ Bei Hamorrhoidalleiden
„Als besonders geeignet zu empfehle
Professor Dr. LANCEREAUX, 7
Iuulemie de Mödreine.* erklärte am Feb,
„Gerade dieses Wasser eignet sich a
„Fur die Behandlung chronischer V
‚„Verdient eine Ausnahmestellung ;
‚in der hydrologischen Therapeut gi
'
EIGENTHÜMERIN UND BRUNNENDIREG
\PENTA = ACTIEN-GESELLSCH ARMEE
Käuflich bei allen Apothekern, Drogistenzuze
wasser-Händlern.
Digitized by Google
BIETIEZZE EI ZEIZ
— — —
ßiſche Jahrbüchet.
Derausgegeben
—— —
von
Duns Delbrück.
— — ⸗
“nV
Inhalt:
€ u, Ron
®. Merlin
rer der Srüfn Botoda
Bine, ord. Beofchior der Uiloſoph Une. Würt
LEITEIELETTET) DEESEREFTTETELTEIELEETTTERESETLILTITTELEITTLLERTETELLTTTERTETT ERS EETT
ide Gereditinfeit . . ” Son 254 Ta
Be lin: -
Bmartelelen der deutichen Südſeen 3
er aun, Berlin:
Bel Friedensvermittle: . Is E:
Korlienung Siche Imenf
Kricheint jeden Monat.
ei: utertellährlih 6 M. Einzelheft? u, Su pr
Beeren durch alle Bug fun {
1399
UPIELTTESEETIESTTEITEIEITEEE
The RE Bon War Lorenz
Deutfhes Theater. Hermann Faber, Gin alürkliches BVaar- | — erbaut
Hauptmann, Das Artedengfeft. (5. 352] |
Berliner Theater. Henrik Ibfen, Baumeiſter Soluch 15, RN: J
BPolitiſche Korreſpondenz.
Aus Dkfterreih, IE. 105.) EU: Tor Togialbemor
“ Hannover. (S. 369) — 2.; Ter Ausbruch des füdafeikanige
S | gegen Krankheiten des Magens, der Leber, u,
| organe, der Prostata; gegen Diabetes mellitus (Zue
| Gallen-, Blasen- u. Nierenstein, Gieht. chron. Rheumat
7 Die
Natürlichen Karlsba
Mineralwässer, —— kryst. u.
für
Trinkkuren im Hause
sowie die Karlsbader Br
Sprudelpastillen, Sprudelseife, Sprudellauge und Sprudellau
sind vorräthiz in allen Mineralwasser- Handlungen, Droguerien ar
Karlsbader Mineralwasser-Versendung
Löbel Schottländer, Karlsbad (Ri
Es Gieht Absolut Keinen ne
Für Haar-Erhaltung
Yollon Guniberi uperlälftge Mittel, Garantiei
0 Er ir Dele und Por binderung Der laftigen Sd
f uf Lebenszeit — Steige Weihheit und
BrobesAniendung aratis genen 10: — Marke.
* Se hlechter. Zeriin, Ciwiigkere
Digitized by Google
Shelley.
Von
Marie Gothein.
Nur ſelten wird das Leben eines Künſtlers der Vorſtellung
entſprechen, die ſeine Werke erwecken; nur zu oft werden wir jene
Enttäuſchung des Kindes empfinden, das vergebens auf der Stirne
des wirklichen Königs die Krone ſucht, die ſein Märchenprinz trägt.
Percy Byſſhe Shelley gehört zu den Ausnahmen, die auch im
Leben die Dichterfrone trugen. Niemand, der jeinen Erdenpfaden
gefolgt it, wird jich dem Zauber diejer Perſönlichkeit entziehen.
Wie groß er auch als Dichter war — England nennt ıhn jeßt
jeinen größten Lyrifer —, bedeutender war er noch als Charafter,
in jeinem Kampf gegen eine Welt der Stonventionen und Some
promiſſe.
Wie intereſſant und außergewöhnlich dieſes Leben war, haben
gleich ſeine Freunde und Gefährten empfunden; denn kaum für
einen Dichter beſitzen wir ſo viele Schilderungen von Augenzeugen
wie für Shelley. Seine Schweſter Hellen giebt ein reizendes Bild
ſeiner Kinderjahre, ſein Vetter und Schulkamerad Medwin, der auch
für Byron Eckermann-Dienſte geleiſtet hat, hat die Schulzeit
geſchildert, Jefferſon Hogg erlebte die ſtürmiſche Univerſitätszeit
und ſeine erſte Ehe mit ihm und giebt eine oft gefärbte, aber
höchſt lebhafte Darſtellung dieſer Periode; die letzten Monate dieſes
kurzen Lebens erzählt mit vollendeter Grazie Trelawney, der aben—
teuernde Freund Byrons und Shelleys, einer der Helden des
griechiſchen Aufſtands, der bis 1881 als ein Veteran aus dieſen
Glanztagen engliſcher Dichtung gelebt hat. Von den dazwiſchen
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 13
194 Shelley.
liegenden Jahren erfahren wir durch Leigh Hunt, deſſen gaſtliches
Haus den Sammelpunkt der jungen und ſtürmiſchen Talente bildete,
und vor Allem aus den Anmerkungen von Mary Shelley zu den
Werfen ihres Gatten.
Schon im Jahre 1884 hat Drusfowit eine deutjche Biographie,
die nicht werthlos aber recht troden und platt ift, verfaßt. Danadı
erichten Dowdens englische, vorzügliche und erjchöpfende Biographie,
die eine Menge neuen Material verwendet. Das vorliegende,
fürzlich erjchienene Buch*) von Helene Richter tft in der Schilderug
des Lebens ganz von Domwden abhängig; jchon in der äußeren
Form zeigt e8 dadurch, daß jede Quellenangabe unterdrüdt iſt, an,
daß es jich an ein weiteres gebildetes Publitum wendet und der
literarischen Forſchung feine neuen Aufjchlüffe bieten will und fann.
Die erjten Kapitel find denn auch weiter nichts als eine gedrängte
Ueberjegung aus Dowdens höchit reizvoller Schilderung der Jugend-
jahre, und auch weiterhin folgt die VBerfafjerin in der Erzählung
aller Wechjelfälle diejes Lebens jenem einen Leitfaden. Doc im
biographiichen Theil beruht auch das Verdienſt diejer Arbeit nicht.
Es ıjt allerdings ein Mangel, daß der Dichter als Menjch bier
uns nicht jo lebendig wird, wie das bei dem herrlichen Material
erreicht werden fünnte. Nicht zum Meindeiten rührt Dies daber,
daß uns die Freunde Shelleys zu wenig vor Augen geführt
werden, ſelbſt von Mary Shelley giebt die Verfafferin nur ein
blajjes Bild, das jich der Lejer aus verjtreuten Bemerfungen zu:
jammenjegen muß. Auch verjchmäht fie ganz, was der engliſche
Biograph in freilich etwas ausgiebigem Maße thut, den Dichter
jelbjt aus jeinen Briefen reden zu lajien. Unbedingtes Lob aber
verdient die Beiprechung der Werfe, die jchon äußerlich den größten
Naum des Buches einnimmt. Es jind poetiich nachempfundene
Analyjen, die bei Dichtungen wie denen Shelleys, deren Inhalt
jchwer greifbar und deihalb in Proja nicht leicht nachzuerzählen
ijt, verdienjtvoll an fich find. Das Urtheil, wenn ich auch im
Einzelnen nicht immer mit ihm übereinjtimme, it verjtändnigvoll
und von Sympathie für den Dichter und jeine Werfe getragen.
Jeder, der Shelley als Dichter genießen will, wird bier eine gute
Unterſtützung und eine feinfinnige Hilfe finden.
Dafür macht jich aber in diejen literarischen Abjchnitten ein
Mangel recht fühlbar: Shelley war zwar zweifellos ein hödhit
*) Helene Nichter, Percy Byſſhe Shelley. Weimar, Verlag von Emil Felber.
1898. 640 ©.
Shell. 195
origineller Dichter, doch war er nicht, wie die Verfajjerin meint,
Beginner und Bollender jeiner Richtung. Nur einige Anjäte find
hier gemacht, wenigitens jeinen Vorgängern ein jchwaches Streben
auf gleicher Bahn zuzuerfennen, während das Zeitalter der Nach:
folger mit den verächtlichen Schlußworten abgethan wird: „Die eng:
liche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts iſt Epigonen=Dichtung.
Manche haben den Mantel des Propheten aufgegriffen und fich in
jeine Fetzen getheilt; jein Geijt iſt aber auf Keinen herabgeitiegen“.
Das iſt hart gegen Browning, den genialen Denfer unter den
Tichtern, und gegen Tennyjon, deſſen feine Lyrik die weiteite Sfala
der Empfindungen beherrjcht. Shelley mit all’ dem wunderbaren Flug
jeiner Phantaſie war ein echtes Kind jeiner Zeit; er eilte ihr zwar
voraus, wie jeder Genius dies thut, aber er it nur denkbar an
der Stelle, wo er wirkte. Er jelber hat das ausgejprochen in der
Vorrede zu jeinem entfejjelten Prometheus: „Dichter jind in einem
Sinne die Schöpfer, im anderen die Gejchöpfe ihrer Zeit. Ein
Dichter ijt das vereinigte Ergebniß ſolcher inneren Kräfte, die in
der Natur anderer nur bejchränft erjcheinen“. Kine Haupt:
aufgabe eines jeden Biographen muß es fein, fich in die Strömungen
der Zeit jeines Helden zu verjenfen, um den Quellen nachzugehen,
aus denen jein Geiſt gejchöpft hat. Es ijt bier nicht von Der
Zucht die Rede, einzelne Entlehnungen aufzuweijen, die zu oft
nur ein Triumph der Gelehrjamfeit des Verfaſſers jein joll, jondern
darauf fommt es an, den fünjtleriichen und jozialen Ideengehalt
jeiner Werfe nach jeinem Urfprung und Fortjchritt zu fennzeichnen.
Zwei Hauptrichtungen jind in Shelleys Dichtung zu verfolgen:
jein Verhältniß zur Natur und jeine jozialreformatorischen Bes
jtrebungen. In dem erjten trat Shelley bereit$ ein reiches Erbe
an, das er zu mehren wußte. So neu, wie die Verfajjerin diejes
Buches meint, war jeine Naturauffafjung nit. Es fann gar
nichts faljcher jein als „die Yakiiten“ mit den Worten abzuthun:
„Tentimentale Schwärmerei der Yandjchaftsmaleret und natur:
geichichtliche Beichreibung“. Gerade fie haben endgiltig mit aller natur:
geichichtlichen Bejchreibung aufgeräumt und jie haben die YLandjchafts-
malerei zugleich mit dem gehaßten Formalismus des achzehnten Jahr:
hunderts jiegreich überwunden. Sie waren es, und hier vor:
nehmlich Wordsworth, die in die englische Dichtung einen tieferen Zug
durch die Idee einer Weltjeele, die jich in dem fleinjten wie in
dem größten Werf der Natur offenbart, gebracht haben. Für
Wordsworth bejitt jede Blume, jeder Vogel, jeder Fels ein Em:
18*
196 Shelley.
pfindungsleben, das mit dem des Menſchen übereinſtimmt, und
doch ganz unabhängig von ihm ſich nur dem enthüllt, der mit
aufmerkſamer, weitgeöffneter Seele ihm lauſcht. Shelley ſelber hat
gar nicht das Gefühl gehabt, auf dieſem Gebiete neue, re—
formatoriſche Gedanken zu haben. Das zeigt ſich ſchon daran,
daß er hier nie polemiſirt hat, wie es noch mit loderndem Eifer
Wordsworth. Coleridge und ihre Anhänger thaten. Hierin hat er
jich) vielmehr immer zu Wordsworth als jeinem Meijter befannt.
Er giebt aber diejen Ideen eine neue Wendung, indem er in den
Naturkult einen jtarf anthropomorphiltiichen Zug bineinträgt, der
durch) das Studium der Antife zwar begünitigt wurde, in feinem
eigenen Wejen aber tief begründet lag.
Bei Wordsworth befam die Natur um ihn feine neue Gejtalt,
nur ein neues Leben. Gr jelbjt blieb immer der jtille Weile, der
jein aufmerfendes Ohr zu ihr neigt. Shelley dagegen braucht Tür
jeinen hohen Gedankenflug gleichgeartete Wejen; er trifft jie über
den Wolfen, auf dem ftürmifchen Meere, oder als Hüterinnen
zauberhafter Gärten. Es find dies nicht Perjonififationen gleich
den Naturwejen der griechischen Mythologie, jondern die ele-
mentaren Sträfte der Matur jelbit, die ihm jchön und er:
fennbar werden wie die Gejtalt einer Geliebten, fajt unförperlich
und doch individualifirt; jie haben ein Empfindungsleben, für das
die Sprache, jo jehr jie nad) einem gejteigerten Ausdrud ringt,
doch immer im Kreiſe des Menjchlichen bleiben muß. Der Tichter
ijt mitten unter ihnen, er leidet mit ihnen, er jucht jie, er fleht zu
thnen. Es war bei den beiden Dichtern nicht nur ein Temperaments-
unterjchied, nein ein NRajjengegenjat vorhanden. Der vierjchrötige,
nordiiche Bauer Wordsworth geht jpazieren mit gejenftem Auge,
jinnend bejpricht er ſich mit den Gewalten, die jeine priejterlich ge:
jtimmte Seele vernimmt. Wenn aber Shelley mit jeiner ariſto—
fratiichen, feingliedrigen Gejtalt im Kahne hingeftredt ſich auf dem
ichaufelnden Meere wiegt, das ungejchügte Antlit der glühenden
Sonne ausgejegt, mit ungeblendetem Auge in das geliebte Blau
itarrt, oder wenn er auf den jchwindelnden, blumenumwachjenen
Bogen der Caracalla-Thermen träumend fitt, jo iſt es ihm em
Leichtes, jich jelber in diejen feinem Geiſte jo vertrauten Regionen
über der Erde zu fühlen.
Himmelweit jcheinen dagegen die beiden Dichter fich in den
jozialen Tendenzen ihrer Werke zu ſcheiden: der bochkirchliche
Tory und der revolutionäre Atheiit, was haben jie noch mit
Shell. 197
einander gemein? Dennoch liegen die Wurzeln ihrer Anjchauungen
nicht gar jo weit auseinander. Für Beide it die franzöfijche
Nevolution der Boden gewejen, aus dem Ddieje entjprangen. Sein
Biograph vergißt zu erwähnen, daß jener 4. Augujt 1792, an dem
der fleine Percy Byſſhe Shelley in Fieldplace in der Grafichaft
Sujjer das Licht der Welt erblidte, der gleiche Samjtag war, an
dem zu Paris ſich die Führer der Jafobiner zu der folgenjchweren
Sitzung vereinigten, in der fie grundjäglich) den Sturz des König—
thums bejchlojjen.*) Man möchte gerne einen Kontakt zwijchen
diejer gemitterjchwülen Sigung und der Geburt des Knäbleins
annehmen, denn die revolutionäre Feuerſeele und den geijtigen
Wagemuth hatte er jicher nicht von den bejchränften Eltern: der
Bater, ein reicher englijcher Durchjchnittsedelmann, „ein gutmütbhiger,
launenhafter Querfopf*, wie ihn Dowden nennt, und die Mutter
ganz ohne eigenen Willen und eigenes UÜrtheil.
Allerdings, als Shelley anfing, über jeine phantajtijchen Kinder—
träume hinauszujehen, und jtatt mit der Riefenjchlange in Fieldplace
zu fämpfen oder mit jeinem Schwejterchen als Engel und Teufel
verkleidet jeine Umgebung zu erjchreden, die Unterdrüder
der wirklichen Welt zu jehen und zu bhajien, was bei ihm
eins war, da jah es traurig in jeinem Vaterlande aus. Im Mini:
jterium hatte das Triumvirat Gaftelreagh, Liverpool und Elton
Anfangs unter der Zujtimmung der ganzen Bevölferung, die vor
Napoleons Geißel zitterte, den Krebsgang der Reaktion begonnen;
der König war in unheilbaren Wahnfinn verfallen, und an der
Spitze des Staates jtand ein Wüjtling, der jpätere Georg IV. Jung
jein in den Zeiten verängitigter Neaftion, die auf jolche große
Hoffnung folgte wie die der Revolution, das heißt prädejtinirt jein
zur Oppofition. Dies Loos theilte Shelley mit Moore, Hunt
und Byron.
Wordsworth dagegen hatte zwar die Revolution als Jüngling
begeijtert miterlebt, aber jein Freiheitsideal hat ſich an den Kriegen
gegen Napoleon ausgejtaltet, und jeine Freiheitsſänge waren gegen
den Erben in der Revolution gerichtet, fie verherrlichten einen
Strieg, der die alten Throne Europas wieder aufrichtete, und Die
Erhaltung der wirklichen, wie der vermeintlichen Segnungen der
Inititutionen des eigenen Yandes. Diejen Konflikt jah die junge
*) Eine bedenllihe Verwechſelung begegnet H. Richter, wenn fie auf den
4. Auguft 1792 die Greigniffe der freilich viel berühmteren Nacht des
4. Auguft 1789 verlegt.
198 Shelley.
Dichterjchule nicht, jah Shelley nicht, wenn er in jeinem jchönen
Sonett an Wordsworth in ihm den verlorenen Führer der Freiheit
beflagt.
Zudem lebte Wordsworth damals als gereifter Mann in jeinem
den Horizont begrenzenden Berglande; jein von Roufjeaujchen
Ideen getränfter Geijt jah in jeinem nordijchen Bauernjchlag die
Verförperung des erjehnten Naturzujtandes der Menjchheit; im
Zandleben erblidte er im Gegenjag zu der Verderbnik der Städte
das Heil der Welt, und gerade dieſes jchien ihm überall durd)
Neuerungen und Ummwälzungen gefährdet; Kirche und Staat wurden
in jeinen Augen immer mehr die einzig zuverläjligen Hüter
dieſes Schatzes — fein Wunder, daß er mehr und mehr der
Sache der Freiheit, wie er fie jelber früher gepriejen hatte, ver:
loren ging.
Für Shelleys Weltanfchauung bejtimmend wurde das Studium
von Godwins „Bolitiicher Gerechtigkeit“. Wie fein Zweiter it
diejer ihm Lehrer .‚gewejen. Bis hinein in die phantajtischen
Träume jeiner Jugenddichtungen fönnen wir den Gedanfengang
jenes leidenjchaftslos raijonnirenden Kopfes verfolgen, der ebenjo
fühl die Nothiwendigfeit eines radikalen Umſturzes der Gegenwart,
wie die abenteuerlichiten Zuſtände des jicherlich erwarteten goldenen
BZeitalters bejpricht.
Aber war Godwin in jeinem Privatleben jchüchtern, kleinlich
und egoiftijch, weit entfernt ein Märtyrer jeiner Grundjäge zu
werden, jo war Shelley unerjchroden und jelbjtlos. Mit Godwin
jah er in jcharfem Gegenjag zu Rouſſeau nicht in einem naiven
Naturzujtand den Anbruch des Millenniums, jondern in der gleich:
mäßigen höchjten geiftigen Vollfommenheit und der durch Duldſamkeit
gemilderten Selbitherrlichfeit der Individuen. Durch diejen wiſſen—
ſchaftlichen Anarhismus Godwins gelangte er zu der völligen
Negierung des Staates. Gr forderte, daß alle Menjchen zur
gleichen geiltigen Freiheit emporgehoben würden, daher jah er, ganz
verjchieden von Wordsworth, beim Landvolf nur Elend und
geiftige Knechtſchaft. Seine jenfitive Natur litt unter jeder
Berührung mit geijtiger und materieller Noth, überall juchte er
dann, wie unter einem inneren Zwange, zu helfen; er hat jein
ganzes Leben hindurch über jein Vermögen den Armen und Be:
drängten gegeben. Ein Zug unerjchöpflicher Menjchenliebe verbindet
ihn wieder eng mit Wordsworth, beiden blieb Byrons Weltjchmer;
und Menjchenverachtung fremd. Wohl hat Shelley im Wlajtor
Shelley. 199
wenigjtens einmal einen Jüngling gejchildert, der auf der Jagd
nach jeinem Ideal weltflüchtig und menjchenjcheu wird, noch am
eriten den Gejtalten Byrons vergleichbar; aber gerade dies Werf
leitet er mit den Worten ein: „Won denen, die ohne Sympathie
mit der Menjchheit zu leben verjuchen, gehen die Neinen und Zart:
empfindenden unter an der Tiefe und Leidenjchaft, mit der jie nad)
Sleichempfindenden juchen, jobald die Leere ihres Gemüthes fich
ihnen plöglich fühlbar macht. Alle Uebrigen, jelbjtjüchtig, blind
und verjtodt, bilden jene furzjichtige Menge, die das ewige
Elend und die Berlafjenheit der Welt zugleich mit ihrer eigenen
verſchulden.“ Das it aus dem gleichen Geiſt entjprungen, aus
dem Wordsworth, auf den er jich unmittelbar darauf beruft, ver:
jichert, daß man ihm die größte Segnung rauben würde, wenn man
ihm den Umgang mit Menschen nähme.
Beide Dichter Führt ihre tiefe Menjchenliebe zu einem uns
erjchütterlichen Optimismus. Shelley jieht mit Godwin und der
gejammten Aufklärungs » Literatur all unjer Elend nur in den
jämmerlichen jozialen und religiöjen Einrichtungen — eine jchwache
philojophiiche Bofition, aber für ihn eine volle dichteriiche Wahrheit,
mit der er es auch perjönlich ernit nahm. Sein ausgeprägter
Gerechtigfeitsfinn aber hatte nichts von dem jüdischen „Auge um
Auge“ an ich; nicht auf Vergeltung zugefügten Unrechtes fam
es ıhm an. Seinen Yaon in der „Empörung des Islam” jammert
der jchlotternde Tyrann auf dem Staijerthrone, jo daß er ihn
vor der Volkswuth jchüst, und den ren, die er befreien möchte,
ruft er zu: „Sein Blutvergießen, feine Gewalt! Vervollkommnet
euch jelbjt, jo werdet ihr eure Gegner zwingen.“ Ganz ebenjo
hatte Godwin jchon 1793 Angejichts der Pariſer Schredenstage
verlangt: „Laßt uns nicht heut erzwingen, was die Wahrheit morgen
von jelbjt gewinnen muß.‘
Um Shelleys jtürmijches, erites Auftreten jedoch ganz zu ver:
itehen, müfjfen wir ihn in die Schule zurücbegleiten. Im
Zionshoufe und Eton lehnte er fich in jeinem angeborenen Haß
gegen alle Unterdrüdung gegen die Tyrannei feiner Mitjchüler
auf. Bon jeher neigt das Kraftgefühl des engliichen Schulbuben
zur Brutalität, und den „tollen Atheiſten“, wie er jchon damals
hieß, zu neden, war ein herrlicher Sport; er fonnte jo prachtvoll
böje werden. Das gleiche Mißtrauen umgab ihn auch in Oxford,
wo nur Hoggs Freundjchaft es Anfangs weniger fühlbar machte.
Tie ertremen Anfichten, die der Knabe jchon früh aus den alten
200 Shelley.
Epikuräern und den modernen Aufklärungsphiloſophen eingeſogen
hatte, und die er in „ſeiner Leidenſchaft, die Welt zu reformiren“,
nicht laut genug überall verkündigen konnte, paßten nicht nach
Oxford und nicht mehr ins Jahr 1809.
Was ſchlimmer war, auch zu Hauſe ging die Saat des Miß—
trauens auf; Eltern und Verwandte mußten nach Allem, was ſie
von dem Sohne hörten, befürchten, daß er ein Ungerathener
werden wolle. Und Shelley empfing die erſte tiefe Herzenswunde,
als ſeine ſchöne Kouſine, mit der er ſtillſchweigend verlobt war,
ſich um dieſer ſeiner Anſichten willen von ihm wandte. Aber
ſolche Kränkungen haben ihn nicht einen Augenblick dahin gebracht,
ſeinen Haß gegen einen Menſchen auszulaſſen; an allem Unglück
war ja nur der Geiſt der Unduldſamkeit ſchuld; „hier ſchwöre
ich“ ſchrieb er damals in tiefem Schmerze an Hogg „und breche
ich meinen Schwur, ſo vernichte mich die Ewigkeit! — niemals
eine Intoleranz zu vergeben. Es iſt der einzige Punkt, wo ich
mir erlaube, Rache in mir zu ermuthigen, dauernde, lange Rache.“
Und als viele Jahre jpäter Trelawney den Dichter furz vor jeinem
Tode fragte, weshalb er jich denn immer jelbjt einen Atheiſten
genannt habe, antwortete Shelley: „Ich gebrauche das Wort, um
meinen Abjcheu vor dem Aberglauben auszudrüden; ich nahm es
auf, wie ein Ritter in alten Tagen einen Handjchuh aufnahm,
um dem Unrecht zu trogen.“
Er ging nad) Orford zurüd und gleichjam als Antwort auf
das daheim erlittene Unrecht jchrieb er die Schrift „Ueber Die
Nothiwendigkeit des Atheismus“. Auch die Univerjität nahm den
Fehdehandſchuh auf und antwortete mit der Nelegation. An der
kleinen Schrift it viel merfwürdiger als der Inhalt, der über den
dürrjten Empirismus der Aufflärungszeit nicht hinauskommt, Die
Art ihrer Entitehung. Seit Yangem hatte es für Shelley einen
eigenthümlichen Netz bejejjen, mit Perſonen, die er gar nicht
fannte, eine weitläufige Korreſpondenz über religiös-philojophijche
ragen zu führen. Theils wollte er ſich jelbjt über jeine Zweifel
Klärung verjchaffen, theils jeinem heftigen Befehrungseifer Genüge
thun. Dies Schriftchen jollte nun zugleich der leichteren Ans
fnüpfung jolcher Epifteln dienen; darum war es „jo furz, jo
methodijch, jo Har wie möglich“. Es mußte ja auch den Gegner
vollfommen überzeugen, wenn er nur mit ihm den Saß an der
Spite für unumjtößliche Wahrheit nahm: „Die Sinne find die
einzige Quelle aller Stenntniß für den Geijt,“
Shell. 201
Erfolgreich hatte die Univerfität diejen erſten Vorſtoß in dem
Kampfe, dem Shelley jein Leben weihen wollte, abgewehrt, faum
ein Jahr war vergangen und von Neuem jtellte er jich in die
vorderiten Reihen. Diesmal galt e8 nicht der religiöjen, jondern
der politifchen Unduldjamfeit: Den Iren wollte er in ihrem
Erijtenzfampfe gegen die Unterdrüder helfen. Vor elf Monaten
hatte er die Univerfität verlajien, was hatte er aber alles in diejer
Spanne Zeit erlebt! Man fann das Maß diejes Yebens nicht
gleich mit dem anderer mejjen; wie mit prophetiichem Geifte jprach
er Damals die Worte aus: „Die Zeit it nicht allein nach ihrer
Dauer zu mejjen, noch die Lebensdauer nach der Anzahl
der Jahre. Das Xeben eines begabten und tugendhaften
Mannes, der im dreißigiten Jahre jtirbt, fann ein verhältnigmäßig
langes jein.“
Ihn, den Neunzehnjährigen, begleitete auf diejer Don-Quixote—
Fahrt nad) Irland jeine jechszehnjährige Frau, das Schulmädchen
Harriet Wejtbroof, die er vor ein paar Monaten der „Tyrannei“
ihres Baters entführt hatte, der jie, ein freies Wejen, noch zwingen
wollte, in die Schule zu gehen, wo man jie nedte um ihrer auf:
geflärten Anfichten willen. Und doch litt jie ja nur um Shelley,
weil jie jeine Ideen vertrat; an jeine Ritterlichkeit appellirte jie
aljo, und nicht vergebens. Er fonnte jie ja nun nicht mehr im
Stich lajjen; aber wohl war ihm dabei von Anfang an nicht.
Seitdem hatten die beiden Kinder-Gatten ein Wanderleben geführt,
bald im Norden, in Edinburgh an den Seen, bald im Süden,
bald in Yondon. Es war nur der Beginn ewiger Wanderungen,
ihn traf das Schickſal einer Yieblingsfigur jeiner Dichtung, des
ewigen Juden. In London hatte er Godwin perjönlich fennen
gelernt, und jich feinen Augenblid von dem Stontrajte zwijchen
Menſch und Lehrer in ihm enttäujchen lafjen. Aber er ließ jich
auch nicht einen Augenblid beirren, als er den abenteuerlichen
Blan faßte, nach Irland zu gehen, wofür Godwin — und diesmal
nicht nur aus jeiner üblichen Aengjtlichfeit, jondern weil er die
völlige Ausjichtslofigfeit einjah, jede Unterjtügung verweigerte. Die
fleine Harriet aber war entzüdt, und höchſt wohlgemuth jehte
Shelley im Februar 1812, in der Tajche jeine Adrejje an das
irijche Bolf, nad) Dublin über.
Die Flugjchrift war recht billig und daher auch recht jchlecht
gedrudt; unter möglichjt viel Leute jollte jie vertheilt werden.
Und jedes Mittel war recht hierzu. Vom Balkon wartete man, bis
202 Shelley.
Jemand vorbeifam, „der jo ausſah;“ dann wurde ihm eine Brojchüre
buchitäblich an den Kopf geworfen, was der bildhübjchen muth-
willigen Harriet unendlichen Spaß machte. Sie fonnte fich vor
Lachen nicht mehr halten, als die Kapuze einer alten Dame dazu
herhalten mußte, die Schrift hineinzufteden — „und zu Alledem
jah Percy immer jo ernjt darein“. Es war ihm auch beiliger
Ernjt damit; denn die Wahrheiten, die er da verfündigte, waren
„einige, wenige, große, die ja jedes Kind begreifen fonnte und die
die Menjchen nur hören mußten, um fie einzujehen.“ Shelley war
mit neunzehn Jahren ein Doktrinär vom reinſten Waſſer;
er verjtand gar nicht8 von iriſcher Politik und faum mehr
vom irischen Bolkscharafter. Diefem Volke von ausgeprägtem
Stammesgefühl glaubte er ſich gleich am Eingang als Kosmopolit
empfehlen zu müſſen; und wenn er die Klatholifen-Emanzipation
vertrat, jo war es nur, weil jie eine Staffel zur Freiheit war; die
Hauptjache aber war ihm, daß die Iren beſſer, tugendhafter, weijer,
vor Allem aber tolerante Freidenker würden. Ziemlich lang bejeelte
ihn die glücliche Hoffnung, „eine edle Nation aus der Lethargie
ihrer Knechtſchaft aufzurütteln;* unausbleiblich war dann die Ent—
täujchung;; jelbjt die von den Frauen gefürchtete Verfolgung blieb
aus; man nahm ihn neben nicht ernit.
Eine Enttäujchung weit bittererer Art wartete jeiner. Nur zu
jchnell verflog der Traum einer glüdlichen Ehe. Aus dem fügjamen,
frohen Kinde entwidelte ſich bald eine vergnügungsjüchtige Kokette,
die über die Ziele und Träume ihres Gatten lachte, und endlich
ferne von ihm ihren eigenen Freuden nachging, ohne jeinen flehent:
lichen Bitten zur Nüdfehr Gehör zu leihen. Shelley litt furchtbar
unter diejer Entfremdung. „Jeder, der mich fennt“, Hagte er, „weiß,
daß meine Lebensgefährtin poetiiches Gefühl und philojophiiches
Verſtändniß haben muß, Harriet aber hat feines von beiden“. In
hartem Kampfe löfte er jich innerlich von ihr, dann aber mit der
ihm eigenthümlichen Energie auch vollſtändig. Ein halbes Ber:
hältniß, wie e8 wohl Harriets oberflächlicdem Sinn möglich jchien,
binzujchleppen, war ihm einfach undenkbar.
Shelley it den DPoftrinarismus in jeinen PBrojajchriften nie
ganz losgeworden, troßdem er jpäter bisweilen wie tn jeinem Bor:
ichlag zur Barlamentsreform auch praktiſch richtige Vorjchläge ent:
wickeln fonnte. Ziemlich lange hat er aber auch in jeinen poetiſchen
Werfen mit diejer Untugend zu fämpfen gehabt. Welch weite
jandige Streden müſſen wir in der „Königin Mab“ durchlaufen,
Shelley. 203
um zu einer Daje ſeiner Poeſie zu gelangen. In dieſen blühenden
Stellen zeigt er allerdings jchon die ganze Lieblichkeit jeiner Muje.
Zum eriten Male, nachdem er eine Periode romantischer Dinneigung
zum Schauerromane überwunden hatte, empfinden wir in diejer
Neihenfolge von Viſionen auch jeine Fähigkeit, der Natur menjch:
lich vernehmbare Laute zu verleihen. Die luftigen Bewohner der
höheren Regionen jind uns nahe gerüdt, fie find nur leichter,
freier; jie jind leidlos, denn das Leiden iſt nicht nothwendig,
jondern nur etwas vom Menjchen Gewolltes — jo lehrt das Ge—
dicht. Macaulay, gewiß ein Fühler Kritiker, jagt von ihm: „Er
bringt das höchjte Wunder des Genius zu Wege, daß Dinge, die
nicht jind, gedacht werden, als ob fie jeien, daß die Phantajien
eines Geijtes zu perjönlichen Erinnerungen eines andern werden.“
Daneben hat aber der jugendliche Dichter der Königin Mab nod)
zu viel auf dem Herzen, was er jagen muß, und er nimmt hierzu
noch einen großen Apparat von Anmerkungen zu Hilfe. „Sie
werden lang und philojophijch jein“, jchreibt er. „Ich werde die
Gelegenheit, die ich für günjtig halte, ergreifen, um meine Grund:
ſätze darzulegen, was ich jyllogiftisch in einem Gedichte nicht mag.
Ein jehr Ddidaktiiches Gedicht iſt, glaube ich, ein jehr dummes.“
Wir fünnen diejer Einjicht nicht genug danken, dat die langen
Abhandlungen über Deismus, Empirismus und Vegetarismus
unter den Strich gefommen find.
Shelleyg war bis zulegt ein Lehrer in jeinen Dichtungen, ja
mehr als das: er trat mit dem glühenden Wunjche auf, ein Welt:
veformator zu jein; er hat nie, wie jein Zeit: und Pichtergenofie
Keats, ein „lart pour l’art“ gekannt. Wie Byrons Dichtungen
immer wieder die eine große, zerriſſene Seele vorführen wollen,
Die einen unausjprechlichen Schmerz trägt, der ihr das Leiden der
ganzen übrigen Welt Elein und verächtlich macht, jo liegt fait allen
Dichtungen Shelleyg eine Idee, wenn man will eine Lehre, zu
Grunde Wie er jelbit jagt: „ES jind Bilionen, welche meine
eigene Borjtellung vom Schönen und Gerechten verkörpern.“ Das
Schöne und Gerechte iſt aber für ihm nicht jegt auf Erden, es -
muß erjt fommen, man muß es erringen; darum immer wieder in
allen jeinen größeren Dichtungen das Bild des von jeinem Ge:
wijjen gepeinigten, ruhelojen Tyrannen, der nur zum Spott Herrjcher
genannt wird, während er doc) der größte Sklave iſt. In jeiner
Vorliebe für alles Unterdrüdte, Verachtete diejer Welt geht Shelley
jo weit, daß er z. DB. zweimal, in „Laon und Cythna“ und in
204 Shelley.
.— —
den „Aſſaſſinen“, die Schlange als das Prinzip des Guten hinjtellt
und ihr gegenüber den Adler, das Zeichen der Macht, als das
einjtweilen jiegende Böſe. Alle diefe Dichtungen, ob ihre Helden
untergehen, wie in „Yaon und Cythna“ und in „Hellas“, oder ob
jie jiegen wie im „Entfefjelten Prometheus“, jchliegen mit dem
Triumpbgejang auf das fommende, goldene Zeitalter, wo das Yeid
nicht mehr ijt, wo das deal der Revolution, Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichfeit, die ganze Natur, den vollfommenen Menjchen
an ihrer Spitze, durchdringt.
Diejer gleichbleibende Ideenfreis, den Shelley in „Königin Mab“
zuerjt aufnahm, bildet noch im entfejjelten Prometheus, den er auf
der Höhe, nachdem er jeine Schaffenszeit nahezu durchlaufen hatte,
jchrieb, den Stern, aber hier doch nur den — wenn man will immer
noch doftrinären — Stern. Aus diefem it ihm eine Fülle groß—
artiger Phantafien erwachen. „Der Mangel an Selbjtjucht in
Shelley wirft ungünjtig auf jeine Poefie zurüd“ jagt ein neuerer
Kritifer von ihm, er hinderte ihn, Einzelwejen in ihrer immer be:
ſchränkten Eigenart zu jchildern; alle jeine Gejtalten find typiſch
und laſſen uns das auch feinen Augenblid troß ihrer Lebensfülle
vergejjen. Im entfejjelten Prometheus hat Shelley das Urbild
des jelbitlojen Dulders gejchildert. Auch Prometheus hat einjt im
Trotze Jupiter geflucht, nun aber, da die Stunde der Weltbefreiung
naht, hat er überwunden, und Dies it nicht, wie der Geiſt der
Erde wehklagend fürchtet, ein Rüdzug, jondern nur die großmüthige
Zuverſicht des Siegers:
„Ih wünſche nimmer
Daß irgend ein lebendig Weſen leide.”
Hier liegt zwar feinesweges, wie Mary Shelley andeutet, eine
Berwandtjchaft mit jener chrijtlichen Weltauffafjung vor, die von der
Sündenjchuld ausgeht, doch hat ihm in der ‘Berjon jeines Welt-
erlöjer8 Prometheus zweifellos die erhabene Leidensgeſtalt des Ge-
freuzigten vorgejchwebt. Wiederholt befennt er, und namentlid)
auch ın dieſem Drama, jeine Berehrung für die Perſon Chriſti,
aber für ihn hat der Galiläer feine Erlöjung vom Leide gebradt,
vielmehr hat dieſe „verachtungswerthe Religion“ nur Leid um Leid
auf die gefnechtete Welt gehäuft.
So nimmt jein Prometheus eine bejondere Stellung ein unter
den Titanengeitalten der Dichtung, die ſich gegen die bejtehende
Weltordnung auflehnen. Der gewaltige Nebell Miltons, der zu
groß war, um in einer einheitlichen Weltregierung neben dem
Shelley. 205
All-Einen Platz zu finden, der ſchwermüthige Fürſt der Finſterniß.
der Kain verſucht, und der um ſeiner Weisheit willen von dem
Allwiſſenden geſtürzt ward, Goethes Prometheus, wie ihn ein
Jahrfünft ſpäter Byrons Phantaſie erſchuf, und der ſtolze, ſchaffende
Künſtler, der zu viel konnte und darum dem Haß des All—
mächtigen trotzt — alle dieſe entſtanden aus einer tief peſſimiſtiſchen
Weltanſchauung. Den Triumphator, den Ueberwinder hat nur der
ſiegreiche Optimismus Shelleys erfaſſen können. Wie um dieſes
Uebermaß der ſelbſtloſen Hingabe an ſein Werk zum Ausdruck zu
bringen, verſchwindet Prometheus faſt ganz für uns, ſobald die
Befreiung anbricht. Wir ſehen ihn nur noch in ſeinen Wirkungen,
in den Jubelchören der befreiten Welt; das ganze All hat Stimme
und Leben erhalten, um ſeiner Freude Ausdruck zu geben; der
Menſch iſt nur noch eine harmoniſche Seele von vielen Seelen.
„Der blaue Himmel Noms, das fraftvolle Erwachen des
Frühlings in dieſem göttlichen Klıma und das neue Leben, mit
dem es den Geilt bis zur Trunfenheit durchdringt, das gab die
Injpiration für dieſes Drama*, jchreibt er jelbit. In solcher
Stimmung wurden ihm die griechischen Tragifer und Plato ein
perjönliches Erlebnis. Er hat mit dem verlorenen aber in feiner
Tendenz befannten Schlußtheil der äjchyleiichen Trilogie wetteifern
wollen, doch bewußt ging er über den alten Tragifer, dem der
Mythus und feine eigene religiöje Stellung eine Berjöhnung
Prometheus und Jupiters vorjchrieben, hinaus. „Eine Verſöhnung des
Kämpen der Menjchheit mit ihrem Unterdrüder“, das war Shellen
zu denfen unmöglich. Die Züge von Aejchylus’ „gefejleltem Pro—
metheus“ finden wir nur nod) in dem Fluche wieder, den Shelleys ge:
läuterter Titan das Idol Jupiters, um die Erinnerung jeiner Ber:
gangenheit heraufzubejchwören, wiederholen läßt, den er aber zu—
gleich von ſich weilt.
Neben der PBromethie haben noch Aeſchylus' Perſer Zhelley,
wie er jelbjt berichtet, für fein Hellas als Vorbild gedient. Es
it jeher bezeichnend, daß dies gerade die beiden Stüde find, in
denen Aeſchyſus noch am wenigiten feine Größe als Dramatiker
entfaltet hat, in denen er ebenjo wie Shelley mehr grandioſe
Hymnen, theilweije in Dialogform, als Dramen giebt. Sein
Hellas und Aeſchylus' Perjer zeigen jchon in ihren Stoffen lleber-
einjtimmung, bier der neue gleichzeitige dort der antife Befreiungs—
fampf des griechiichen Volkes gegen die Herrichaft des Orients,
Den „Perjern“ entlehnt hat Shelley auch die Infzentrung, die
206 Shelley.
uns in das Lager der Feinde der eigentlichen Helden führt. Ethiſch
aber hebt ſich der moderne Dichter über den antiken hinaus, der,
um den Siegesjubel des eigenen Volkes auszudrücken, nur ein
einziges, grandioſes Wehgeſchrei des beſiegten Feindes finden kann.
Shelley zeigt den noch ſiegreichen Tyrannen innerlich bereits über—
wunden, und wenn auch hier wie in ſeinem Jugendwerk Laon und
Cythna die muhammedaniſchen Unterdrücker bis zum Schluß ſieg—
reich bleiben, ſo tönt doch über Tod und Untergang hinaus in
unzerſtörbarer Gewißheit der Hoffnungsgeſang der kommenden
Freiheit. Das war der Tribut der Dankbarkeit, den Shelley den
durch Knechtſchaft zwar verderbten aber nicht entarteten Nachkommen
des glorreichen Volkes brachte: „denn wir ſind alle Griechen“:
bekennt er, „unſere Geſetze, unſere Religion, unſere Kunſt, unſere
Literatur haben ihre Wurzeln in Griechenland“.
Shelley it zweifellos der griechiichite unter den englijchen
Tichtern. Das zweite Jahrzehnt unjeres Jahrhunderts hatte die
Dichterische Blüthe einer griechiichen Renaiſſance gebracht, die
wijjenjchaftlich jchon aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts
datirte. .Wordswortb hatte den Neigen eröffnet, indem er
1814 jchon eine furze Periode hindurch in Yaodamia und
Dion ich Haffiischen Stoffen zumwandte, in denen er würdig
und ernjt echte Züge antifer Ethif zum Nusdrud brachte.
Keats hatte ſich mit leidenjchaftlicher Hingabe ganz den antiken
Mythenfreis zu eigen gemacht und ihn mit glühender Phantaſie
in jich lebendig gemacht. Doch er jah das griechijche Alterthum
durch die Brille der englischen Rengaiſſance. Shelley, der den
jungen Dichter aufs Höchſte bewunderte, jprach doch mit dem
Wunjche, „ich möchte ihn Griechijch lehren“, das richtige Verſtändniß
für den Mangel bei Keats aus, ihm fehlte die Anjchauung der
griechischen Jorm. Und gerade hierin war Shelley Meijter. Zeine
Ueberjegerthätigfeit, die jede fleine Lücke feiner produftiven Zeit
ausfüllte, führte ihn in das innerite Geheimniß der griechtjchen
Form und Spracdye ein und obgleich Shelley außer dem entfejjelten
Prometheus feinen wirklich antifen Stoff behandelt hat, jo zeigen
doc; Werfe wie Adonais und Hellas, wie er jeinen gan;
modernen originellen Gedanfeninhalt in die reinen Formen der
klaſſiſchen Bildung zu Eleiden vermochte.
Der entfejjelte Prometheus und Hellas erjcheinen als die Er-
rüllung eines Verjprechens, das „Königin Mab“ und „Laon und
Cythna“ nur gegeben. Welch ein weiter Weg und eine wie furze
Shelley. 207
Spanne Zeit! Zwar den unreifen, trodenen Empirismus, der die
Nothwendigfeit des Atheismus beweijen jollte, hatte er dichteriſch
schon in der „Königin Mab“ überwunden; deiſtiſche und pan—
theiſtiſche Voritellungen halten jich hier bereits die Waage, und frühe
Plato-Studien verrathen fich in der gern gepflegten Vorſtellung
von einem gleichberechtigten Dajein der Ideenwelt über der der
Erjceheinungen; im Prometheus aber erflingt ein hohes Yied des
Pantheismus. Die künſtleriſche Phantaſie wird jich und fann jich
aber nie auf ein metaphyfiiches Syitem einjchwören; jo finden ſich
denn auch in Gedichten diejer Periode, bejonders in Hellas, Stellen,
die für jeine Verehrung von Berfeleys Idealismus zeugen; und
der alte Ahasverus, der immer wieder, jeit jchon den Stnaben
Schubarts Fragment tief erregt hatte, in jeinen PVichtungen auf:
tritt, bis zulegt in Hellas immer weijer und milder werdend,
icheint doch der verförperte Beweis eines außerweltlichen, regierenden
Willens zu jein.
Mit Prometheus zujammen erjchtenen neun andere Gedichte,
alles Berlen der Lyrik Shelleys, die den Stebenundzwanzigjährigen auf
der Höhe jeines Könnens zeigen. In immer neuen Formen be:
funden jie eine Zwiejprache der TDVichterjeele mit den waltenden
Naturmächten, jei es der freie, unlenfbare Wejtwind, die jegen-
ivendende Wolfe, jet es die zum Simmel jubelnde Yerche, jet es
die Mimofe, die da:
„Liebt wie die Liebe, und was ihr gebridt,
Erjchnt fie im Herzen: der Schönheit Licht.“
Alle find wejensgleich, gleichen Stammes mit dem Tichter. Nur
einmal in diejen Jahren und gewifjermaßen nur einmal in jeinem
Wirken hat Shelley die fünftleriiche Sphäre gewechjelt, um, wie er
jagt, „eine Leidenschaft, die ich jelber nie gefühlt, in feujcher
Sprache und nach den Regeln einer aufgeflärten Kunſt zu jchildern“:
Er jchrieb im Jahre 1819 ſein Drama: „Die Cenci“.
Mitten in der Arbeit am Prometheus erregten ein altes
Manuſkript, das den Untergang des Hauſes Cenci berichtete, Die
lteblich fummervollen Züge, die der Tradition nad) auf Guido
Renis Bild Beatrice Cenci darjtellen jollten, und die Popularität,
die dieje Geſtalt und ihr graufiges Schidjal in Italien be-
gen, jeine Phantafie. Er, der jich jelbit immer jedes dra—
matische Talent abgejprochen hatte, bejchloß, Ddiejen, man möchte
\agen, hyperdramatijchen Stoff zu einer Tragödie zu formen. Die
Lorrede, die wie fajt jede von Shelleys Vorreden die jeltene Eigen
208 Shelley.
ichaft einer faſt objektiven Betrachtung des Werfes hat, jpricht mit
großer Einjicht von der möglichen Art der dramatischen Behandlung
des jpröden Stoffes. „Bei folch einem Gegenjtande“, heißt es hier,
muß man die idealen Schreden der Ereignijje erhöhen und Die
wirflichen mindern. . . In der rajtlofen und zergliedernden
Kaſuiſtik, mit der die Menjchen eine Rechtfertigung Beatrices juchen
und doch fühlen, daß ihre Ihat eine Rechtfertigung bedarf, in dem
abergläubiichen Schreden, mit dem jie zugleich ihre Leiden und
ihre Nache betrachten, beſteht der dramatiſche Charakter deſſen,
was jie that und litt“.
Das Stüd it oft überjchwenglich bewundert nnd gelobt
worden, jo verjchiedenen Naturen wie Yandor, Niegjche und Dühring
erjcheint es als das Meifterwerf der neueren engliſchen Dichtkunit;
von anderer Seite ijt ihm wie allen modernen englischen Schau-
jpielen der Vorwurf gemacht worden, daß es völlig undramatijch
jei. Schr zu Unrecht haben aber jolche Stritifer es zu den Iyrijch-
dramatischen Gedichten gerechnet, wie die Dramen Byrons, jene
ausgejponnenen Monologe, es jind. Die Charaktere jind trefflich
individualifirt, der ſzeniſche Aufbau iſt tadellos, erjchütternd wirkt
Beatrices halb wahnfiunverwirrter Schmerz, mit dem jie das Ver
brechen, das der eigene Bater an ıhr begangen hat, halb ahnen
läßt, halb verräth. Daß das Stüd fich dennoch nie die Bühne
bat erobern fünnen — nur einmal it es von der Shelley-Sejell-
ichaft privatim aufgeführt worden — liegt gerade in der drama-
tijchen Ueberjpannung des Stoffes. Und dieſe it merfwürdiger
Weiſe noch verjchärft worden durch jenes Prinzip Shelleys, nur
die idealen Schrednifje zu erhöhen: Nicht die Abjcheulichkeit des
Stoffes als jolchen peinigt den Yejer — Shafejpeare hat uns oft
ebenjo Schlimmes zugemuthet —, jondern die Auffafjung des
Charafter® der Heldin. Shelley hat den Water und Beatrice,
Nacht und Licht, einander gegenübergejtellt: Jener it ein un:
menjchlich graufamer Tyrann, Hal und Wolluft in ihm gemijcht,
wie er jeder Menſchlichkeit baar gejchildert werden mußte, um das
Beitialiche jeines Anjchlags auf die Tochter begreiflich zu machen
- und Shelley war geübt in Tyrannenjchilderung —; gut beob-
achtete Züge des italienischen VBolfscharafters wie jeine fatholische
Frömmigkeit und das Pochen auf das Gottesgnadenthum jeiner
väterlichen Gewalt jegen eigenthümliche Schlaglichter auf Ddiejes
grauje Bild. Und nun Beatrice! Wir fünnen ihr wohl folgen,
dal fie den Mord des Waters bejchlieht, die Mörder Ddingt, jie
Shelley. 209
zur That anfeuert, Alles in dem Gefühl, daß nichts von Kindes:
ehrfurcht bleiben fonnte, jondern es nur gilt ein Scheufal zu ver:
nichten, wir fönnten es verjtehen, wenn jie in der vielbewunderten
Serichtsizene jich ihrer That rühmen würde. So aber bringt es
einen quälenden Eindrud hervor, daß fie bis zulegt die That
leugnet, den Mörder, der jie als Anjtifterin jchon bezeichnet bat,
mit ihren Augen und ihrer Nede Kraft jo bannt, daß er, wieder
leugnend, für jie auf der Folter ftirbt. Dies eine Mal hat Shelley
einen Zug ſophiſtiſcher Selbitjucht, wir möchten fajt meinen un-
bewußt, in einen Charakter hereingebracht, der doch gerade als
eine reine Blüthe, die aus einem verdorbenen Boden inmitten einer
giftigen Atmojphäre hervorjproößt, gejchildert werden ſollte. Denn
Shelley nimmt offenfundig für jeine Heldin Partei, ihr Untergang
ericheint als ein ihr zugefügtes Unrecht, jie darf Mutter und
Brüder, die befannt haben, des jchwächlichen Verrathes anflagen.
Der Dichter wollte jie als ein durchaus wahres Gejchöpf darjtellen
und vergißt, daß er jie fortwährend lügen läßt. Auch die vorüber:
gehende Todesfurcht, wohl ein rein menschlicher Zug in einem
jungen Wejen, erwedt in den Zuhörern Die peinliche Frage; hat
ie nur deshalb fich jo glänzend vor den Nichtern vertheidigt, um
jih ein Leben, das ihr doch nur Entjegen brachte, zu erhalten?
An Mis. O' Neill, die Shelley, der jelten ins Theater ging, weil
er meiſtens jeine Sllufionen dort nur zerjtört fand, mehrmals in
Yondon bewundert hatte, dachte er bei der Rolle der Beatrice.
„Gott bewahre*, jchreibt er aber dabei, „daß ich jelber jie jemals
in Diefer Nolle jehen jollte, das würde meine Nerven in Stücke
reißen.“ In der That, jelbit Nerven, die jich noch mit den Greueln
eines Sardoujchen Stüdes abfinden, müßten bei einer jolchen
geiſtigen Ueberreizung zujammenzuden.
Fern der ungajtlichen Heimatb, in Italien, „dem Paradies der
Verbannten*, entfaltete Shelley in den legten vier Jahren jeines
Lebens von 1818 an jeine volle Tichterblüthe. Das Schiedjal
hatte ihm nad) vielen Stürmen ein verhältnigmäßig ruhiges Glück
aufgejpart, das ihm die Yiebe einer edlen rau und die Freund—
ihaft mit Byron jchuf. Byron hatte er 1816 auf einer Neije in
die Schweiz fennen gelernt. Es war ein merfwürdiges Verhältnif,
das dieje beiden Männer verband. Shelley erfannte bedingungslos
die Ueberlegenheit des älteren, berühmten reundes an; ihm impo-
nirte zudem im perjönlichen Umgang die gebietende, vornehme Art
Byrons. So oft er auch unter dem peinlichen Verhältniß, das
Breuhiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 14
210 Shelley.
jenen mit jeiner Schwägerin Clare verband, und mehr noch
durch die unzarte Art, wie dieſer es bald von jich abzufchütteln
juchte, litt, immer wieder bezauberte ihn Byrons Verkehr. Und
Byron, den zu Shelley Anfangs die Feindichaft zog, mit der ihn
die englische Gejellichaft behandelte, die jenem wie ihm das
2008 freiwilliger Verbannung eingetragen hatte, ſah bald zu
jeinem Eritaunen, daß in Diefem Manne Cigenjchaften,
die er jelbit aufs Höchite ſchätzte, faltblütiger perjönlicher
Muth, natürliche Begabung zu allen ritterliden Uebungen,
äußerte Verachtung jeder Konvention und Gejellichaftslüge fich
verbanden mit eimer ganz außergewöhnlichen Kindlichkeit und
Neinheit des Herzens, die er bewunderte, weil fie ihm jelber
fehlten. Wiederholt jchreibt er an englifche Freunde über Shelley
in einem Tone, dem man dies Erjtaunen anhört: „Ihr mißfennt
Shelley Alle“, um dann ein bewunderndes Lob der Perjönlichkeit
hinzuzufügen, mit dem er jonjt jehr fargte. Trotzdem hat Byron
auf Shelley als Dichter in ungleich geringerem Maße gewirkt wie
Godwin und Wordsworth. Zu jtarf war die innere Verſchiedenheit,
die ihn von Jenem trennte. Hingegen hat Shelley eine Zeit lang
weit jtärfer Byron in jeinen Ideenkreis gezogen. Es war in
den eriten Schweizer Tagen, wo Shelley, ganz von Wordsworth
erfüllt, nachdem er mit dieſem in jeinem Alajtor gewetteifert hatte,
auch Byron mit Wordsworth tränfte, wie diejer jich ausdrüdte.
Der dritte herrliche Gejang des Childe Harold zeigt hiervon
die unverfennbaren Spuren, zeigt den großen Fortſchritt, den
Byron durch Wordsworth und Shelley in feiner Auffaſſung der
Natur machte.
Mit Byrons ſkeptiſchem Peſſimismus ſetzte ſich Shelley gleichjam
perjönlich in einem der jchönjten Gedichte jeiner leßten Zeit, in
Sultan und Maddalo, auseinander: Es zeigt die beiden Freunde
auf einem gemeinjamen Ritte am venetianischen Yido, wobei uns
in Maddolo Byrons widerjpruchsvolle Gejtalt in ihrer liebens-
würdigen Menjchlichkeit, verkflärt durch die Dichterfreundjchaft, ent—
gegentritt. Auf jeine tiefjchmerzliche Klage, daß das menjchliche
Herz wie die Glode, die drüben auf der Laguneninjel die
Seren zum Gebet rufe, in uns Wiünjche und Gedanfen erwede,
deren Grund und Zwed wir nicht erfennen, bis im Tode
wie dort im Sonnenuntergang Alles verblaſſe, antwortet Julian
Shelley mit jeinem umerjchütterlichen Glauben an die Freiheit
des Willens:
Shelley. 211
Der Menſch verſchuldet,
Daß Uebel ibn umftricken, die er duldet.
Wir lönnten andere, könnten Alles fein,
Bas wir erträumen: glücklich, edel, rein.
Wo tft, was man als wahr und lieblich preift
Als fhön, wo anders als in unſerm @eift?
Und wären mir nicht alfo ſchwach berathen,
So glihen unjre Wünſche unfern Thaten.
Indem er jo die Willensfreiheit vertrat, was für ihn eine
dDichtertjche Forderung war, ſetzte er ſich nicht nur zu Byron in
Gegenſatz, jondern in diefem einzigen Punfte wid) er auch von
jeinem Xehrer Godwin ab. Diejer lehrt einen Determinismus,
der ihn bis zur völligen Entjchuldigung des Verbrechens führt,
das aus der Anlage des Individuums nothwendig hervorgehe, und
doch leitet er höchjt widerjpruchsvoll Schuld und Sünde nur von
der Gejellichaft ab, die diefe dem an fich guten Menjchen auf-
dränge. Gerade weil Shelley mit Leidenjchaft dieſe lette Lehre
umfaßte, trieb fie ihn zu der Annahme, daß es in dem Willen
der Menjchen liege, anders zu jein, wenn fie anders und beſſer
berathen wären. Byron lehnte philoſophiſche Spekulationen völlig
ab, worüber die pejjimitischen Neflertionen im Kain und Manfred
nicht täufchen dürfen; und eine jolche Auffaſſung Shelleys erjchien
ihm völlig utopish. Im richtiger Erfenntnig jeines Wejens läßt
denn auch Shelley jeinen Julian den Freund zu einem Irren
geleiten, der wahnjinnig über ähnlichen Ideen geworden iſt, wie
jie ihn jelber bejeelen. Und wie in einem Spiegel fieht Julian
in der Seele des Iren, den Liebe und Welt verrathen haben,
jein eigenes Bild:
„Er, an deſſ' Herz des Fremdlings Thräne nagt,
Wie Waſſertropfen in den Felfen dringen,
Der Lieb und Mitleid fühlt mit allen Dingen,
Den jelbft das Leid, das Niemand hört, bedrüdt,
Der Fernes mit des Geiſtes Aug’ erblidt,
Der mit den Armen weint, Zertrel'ne hebt,
Mit den Gefangnen in der Belle lebt,
Ein Nero, der bei dem Drud der Welt erbebt,
Den Niemand jonft empfindet.“
Ganz zweifellos ijt der Einfluß, den Byron auf Shelley als
Satirifer ausübte. Die politijche Satire nimmt in der englijchen
Dichtung von Dryden bis Byron einen weit größeren Raum ein, als
in jeder anderen Literatur; denn der Dichter jtand hier weit mehr im
öffentlichen Leben al8 anderwärts. Das achtzehnte Jahrhundert hatte
14*
212 Shelley.
eine Reihe der glänzenditen Satirifer hervorgebracht, und die jung-
engliiche Schule wurde von den politijchen Zuftänden ihrer Zeit
wieder heftig nach Dderjelben Richtung gedrängt. Selbſt ein jo
weltfremder Dichter wie Keats hat wenigjtens einmal einen Anlauf
hierzu genommen. Shelley hatte einige gute Anlagen zum Satirifer;
er beſaß Wit, tiefes Pathos und ethijchen Zorn, doc) fehlte ihm
eins, wonit Byron Alle meijterte und weit hinter fich ließ: Der
pridelnde Humor, der erjt wirklich das Janusgeſicht der Satire,
die fomijch-gegenjtändliche Situation und das ernite ZJeitübel, das
jene durchjichtig umjchleiert, zum Ausdrud bringt. So ijt denn
auch Shelleys „Dickfuß, der Tyrann“, zu jchwerflüfjig und ernit,
um nicht von den Satiren im Don Juan oder dem Meijteritüd
Byrons, der „Viſion des Gerichts“, überholt zu werden.
Die legten acht Jahre jeines Lebens hat Shelley jein Schidjal
an das einer geijtig ihm ebenbürtigen rau geknüpft. Mary,
jeine zweite Gattin, war die Tochter Godwins und Mary Wolliton-
crafts, der berühmten WVerfafjerin jener Programmichrift „Die
Rechte der Frau, von der an die Bewegung zur geijtigen Be:
freiung der Frauen datirte. Sie hatte ihrer Tochter als Erbtheil den
freien großfinnigen Charafter hinterlajjen. Shelley fühlte jich durch
viele Züge gleicher Anlage und gleicher Scidjale zu Mary
Wolljtoncraft bingezogen; Verehrung für diefe Frau erfüllte ihn
lange, ehe er ihre Tochter fennen lernte. Im Borjpiel zu Yaon
und Cythna hatte er jie verherrlicht in der idealen Führerin des
Dichters, und in Gefprächen über die Mutter an ihrem Grabe hat
er die Tochter für fich gewonnen. Nichts verband ihn damals
innerlich noch mit Harriet; und Shelley war zu jehr Schüler,
Mary zu jehr Kind ihrer Eltern, um nicht einzig und allein dieſes
innere Band anzuerfennen ; ihr Bund war ihnen rein und heilig.
Als dann zwei Jahre jpäter Harriets Selbſtmord Shelley tief er-
jchütterte, fonnte fein Gefühl perjünlicher Schuld ihm dies tragische
Ereigniß bitterer machen; und nur übelwollende Schmäbjucht
fonnte ihn verantwortlich machen für eine Ihat, die bei Harriet
Folge ihres leichtfinnigen Lebens war. Der Lordfanzler Elton
aber jprach doch die Anficht der Mehrzahl der geordneten und
durch die eigenthümliche englische Heuchelei diejer Jahre noch ver:
engten Gejellichaft aus, wenn er durch einen willfürlichen Nichter-
jpruch Shelley die beiden Kinder eriter Ehe nahm, weil der Lebens:
wandel und die Anjichten, wie jie die Schriften des Dichters aus-
jprächen, nicht für ihre chrijtliche Erziehung bürgen fünnten.
Shelley. 218
Der Schlag traf Shelley jo tief, daß er ihm die Heimath
verleidete. Vergebens hatte ihn Leigh Hunt mit zarter Liebe um:
geben, um ihm dieſe böjejte Zeit jeines Lebens erträglich zu
machen. Shelley hatte fich ein Jahr lang — die längſte Zeit, die
er überhaupt an einem und demjelben Orte zugebracdht hat —,
als „Einjiedler von Great Marlow“ in dem freifinnigen, geijtig
belebten Kreiſe, der jich in dem gajtlichen Hauje Leigh Hunts zus
jammenfand, jehr wohl gefühlt; der liebenswürdige Ejjayiit nahm
die Rolle, die ihm damals zufiel, das Haupt aller Freigeiſter und
Nadifalen Englands zu jein, mit Freuden auf. Jetzt aber Yloh
Shelley das Land, wo man ihn ächtete, er ging mit Mary und
ihrem Söhnchen Willtam nad) Italien, dies Kind mit doppelter
Liebe jchirmend.
Mary war nicht ganz das Genie, zu dem jie Shelleys Be-
wunderung jo gerne jtempeln wollte. Nach den erjten viel:
verheigenden Anfängen, die fie als Nomanjchriftitellerin unter der
Anregung ihres Gatten gemacht, hat fie jpäter ihr ganzes Leben
nur noch jeinem pojthbumen ®eijte geweiht, jeinen Werfen, jeinem
Namen gelebt. Sie war eine feine, jtille Blüthe; bei allem.
jtillen Glüd, das fie dankbar empfing und gab und das nie getrübt
wurde, vermißte Shelley bei ihr doch manchmal etwas von dem
lebhaften Feuer, das jeine Liebe und jeine Ideen immer durch:
jtrömte, und Mary Hagt jich jpäter jelbit an, daß jie ihn vielleicht
hierin nicht ganz veritanden habe. Ein Gedicht diejer legten Zeit),
Epipſychidion, gluthvoll und abjtraft, jchwer verjtändlich, erzählt
von jolch einem Feuer, wie es mehr die Phantaſie ald das Herz
des Dichters erfüllte, aber doch anfnüpfte in Mitleid und Sehn:
jucht an ein jchönes, ins Kloſter verbanntes italienisches Mädchen.
Epipjychidion nennt Shelley jelber die „vita nuova“ jeiner Ges
dichte. Umgekehrt zu jeiner gewöhnlichen Gejtaltungsweije fnüpft
hier Shelley an ein wirklich lebendes Wejen an, das in der Gluth
jeiner unjinnlichen Dichterleidenjchaft zum reinen Ideal wird:
„sch bin nicht Dein, ich bin ein Theil von Dir“ ruft er aus.
*) Der Name Epipſychidion „Nebenfeelhen” deutet Stopford Broot als „Ueber der
Seele,” was H. Richter nah ihm gar als forreipondirend mit Uebermenſchen
überträgt. Doch erklärt er fi aus dem in der älteren antiken Roritellung
murzelnden Glauben von einem Abbild des Menden, dem Eidolon, das
die Kunſt immer als Miniaturbild des Menſchen darftellt, und das bei
Shelley wiederholt mit der Vorſtellung der Platonifchen Idee verquidt in
feiner Dichtung eine Stelle findet, jo im entfeflelten Brometheus und nod
deutlicher jchon in der Königin Mab, wo NYanthes' Seele ſich als das genaue
Abbild des unten leblos liegenden Körpers, nur völlig idealifirt, emporfchwingt.
214 Shelley.
Mary hat diejes Gedicht allein unter denen ihres Gatten nicht
fommentirt, berührten fie doch in ihrer jtillen Treue jolche Stellen
wie die folgende peinlich:
„Nie mocht ic mich zu jener Selte zählen,
Die lehrt: nur Eines darf ſich jeder wählen,
Nur eine Liebe und nur einen Freund,
Um jeden fonft, jo weif’ und gut er jcheint,
Kalt zu vergeſſen.“
Und doch mußte fie ihn verjtehen, wenn er diejfen Gedanken
weiter ausführt:
„Eng iſt das Herz, das nur ein Weſen liebt,
Der Menſch, der fi nur einem Ziel ergiebt,
Das Hirn, das einen Gegenftand errafit,
Der Geift, der nur ein einzig Ding erihafft.“
Neich an Freunden war diejes Leben, das jelber jo viel an
Liebe gab. Trelawney, der erit in den legten Monaten in jeinen
Kreis getreten war, hat jeiner begeijterten Freundſchaft in einer
Schilderung vom Shelleys Perjönlichfeit Ausdruck gegeben, wie jie
bejier als jedes Bild uns die Züge des Menjchen nahe bringt.
Er jah den Dichter zum eriten Mal bei dem gemeinjamen Freunde
Williams, der bald das Todesſchickſal mit dem Dichter theilen jollte
und jchildert jeine grenzenloje Ueberrajchung, als ein großer magerer
Süngling, der wie ein Knabe gekleidet in eine jchwarze Jade und
Beinfleider, die ihm ausgewachjen jchienen, ihm mädchenhaft er—
röthend den Hände entgegenitredte und ihm als der Dichter
Shelley vorgeftellt wurde. „War es möglich!“ ruft er aus, „Eonnte
diejer bartloje Junge jenes Scheujal jein, das mit aller Welt in
Krieg lag, exrfommunizirt von den Vätern der Stirche, jeiner Bürger:
rechte beraubt durch das fiat des grimmen Lord Kanzler, von den
Mitgliedern jeiner Familie gemieden und den weijen Rivalen in
unjerer Literatur als Gründer der Satanijchen Schule denunzirt?“
Außergewöhnlich wie diefes Yeben war auch jein Ende. Von
je hatte das Meer und das Leben auf dem Schiffe auf Shelley
eine magijche Anziehungskraft geübt; und wenn er nichts Anderes
hatte, jo ließ er doch mit den Kindern Schiffchen auf einem Teiche
jhwimmen wie in den Tagen von Marlow. Auf der Themſe, auf
dem Genfer Zee, auf dem Mittelmeer, überall war das erſte Ver
langen nach einem Boote; und das legte Verhängnik, das ihn
erreichte, war nur der unglüdliche Ausgang, nachdem er viele Male
ſchon in der Gefahr, zu ertrinfen, gejchwebt hatte. Ein Vierteljahr
Shelley. 215
vor jeinem Tode hatte er die Caſa Magni in Spezzia gemiethet,
ein altes, vom Meer umjpültes Jejuitenflojter, wo man jich bei
Sturm wie an Bord eines Schiffes fühlte; und da, wo alle jeufzten,
weil jie ohne jede Bequemlichkeit leben mußten, war er glüdlich
wie noch nie; diefe Einjamfeit erjchien ihm wie eine jener er-
träumten paradiejiichen Injeln jeiner Dichtung. Mary fand nad
vielen Jahren die Kraft, eine Schilderung der legten Kataſtrophe
zu geben, der Todesangjt, mit der fie zwijchen Yivorno, von wo
aus die leichte Nacht Ariel an Sem gewitterdrohenden Tage fröhlich
ausgejegelt war, und Spezzia mit immer jchwächer werdender
Hoffnung auf: und abwanderte. Ihr jchmerzdurdjzitterter Bericht
und Trelawneys Schilderung führen uns von Tag zu Tag durd)
diefe für Gattin und Freunde qualvollen Wochen, bis endlich die
Auffindung der Leiche auf die aufregende Angit die Leere der
TIodesgewißheit folgen lien.
Byrons Gedanke war es, dem griechijch gejinnten Freunde ein
antifes Tcdtenopfer zu bringen. Am Strande von Yivorno wurde
der Scheiterhaufen gejchichtet, der den Yeib des Dichters verbrennen
jollte. Seine Aſche und jein Herz, das von den Flammen unver:
jehrt von Trelawney dem Feuer entrijfen wurde, brachte man auf
den jchönen protejtantijchen Friedhof in Rom. „Der Gedanfe, dort
zu ruhen, fönnte einen mit dem Tode verliebt machen“, hatte
Shelley geiagt, als er hörte, daß Keats dort begraben worden jet.
Seht ſenkte man feine Reſte neben jenem ein. Ein bedeutungs-
voller Zufall hatte ihn in den Gedichten von Steats leien lajjen,
als ihn das todtbringende Unwetter überrajchte, man fand das
umgejchlagene Buch noch in jeiner Tajche. So galt jein letzter
Gedanke jenem Dichtergenius, dem er vor einem fnappen Sabre
in jeinem herrlichen Adonais eine Grabjpende gebracht hatte, ohne
zu ahnen, daß er ſich jelber damit einen unvergleichlichen Todten—
jang finge. Für den Schmerz aller freunde fand Yeigh Hunt den
Ausdrud in den beiden Worten, die jeinen Grabjtein jchmüden:
Cor cordium, und Trelawney fügte Ariels Worte aus dem Sturm
hinzu:
„Nichts von ihm, was je zerfalle,
Denn die falzige Meeresflutb
Wandelt's in ein Böftlih Gut.”
Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Bon
Emil Daniels.
Memoires de la Comtesse Potocka (1794—1820) Publiees par
Casimir Stryienski. Avec un portrait en heliogravure. Paris Librairie
Plon. 1897.
Memoiren der Gräfin PBotoda. Nah der éten franzöfiihen Auflage
bearbeitet von Dscar von Bieberſtein Leipzig H. Schmidt & Co. 18.
Die Verfaſſerin diejer Yebenserinnerungen, eines der farben:
reichiten aller Gejchichtsbilder, jtammte aus königlichem Geblüt: fie
war die Großnichte Stanislaus II. Augujt aus dem Hauje Ponta=
towski, des legten Königs von Bolen. Ein anderer Großonfel von
ihr, Johann Klemens Sara Branidi, war bei der legten polnischen
Königswahl der Gegenfandidat jeines Schwagers Stanislaus ge—
wejen. Nach jeiner Niederlage hatte er fich auf jeine unermeß—
lichen Beſitzungen zurüdgezogen, wo er als Hetman der Krone und
Stajtellan von Strafau wie ein König lebte. Branidis bevorzugte
Nejidenz war das Schloß von Bialyſtock, in welchem jeine Groß—
nichte, Nomtejje Anna Tyszkiewicz, die Autorin unjerer Memoiren,
ihre Jugend verbrachte, und das fie folgendermaßen bejchreibt:
„Das Schloß war mit jeltener Pracht eingerichtet. Franzöſiſche
Tapeziere, die mit großen Unfojten herbeigejchafft worden waren,
hatten Möbel, Spiegel, Holzjchnigereien mitgebracht, Die des
Sclojjes in WBerjailles würdig waren. Schlechterdings nicht zu
übertreffen waren die impojanten Größenverhältnijje der Salons
und der mit Marmorjäulen gejchmücdten Veſtibüls. . . . . . Das
Arrangement der Gärten und der Parks, der Yuzus der verjchie-
denen Gewächshäufer, die Schönheit und die Menge der Orangen=
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 217
bäume — alles das zujammengenommen erhob diejen Platz zu
einem wahrhaft königlichen Aufenthalt. Bei Lebzeiten des Ktajtellans
von Krakau verfürzten zwei Schaujpielertruppen, eine franzöjtjche
und eine polnijche, jowie ein Korps de Ballet, Alles auf Kojten
des Kaſtellans unterhalten, die langen Winterabende.. Das von
einem italienischen Künftler deforirte Theater faßte 3—400 Ber:
Das war die Lebenswerje, welche die Srandjeigneurs Der
Oppojition damals in ihren Häujern führten. Zu meiner Zeit
waren davon nur noch die Erinnerungen übrig, die ich mir von
hundertjährigen Dienern erzählen ließ.“
Ob die Beſitzer der bejchriebenen glänzenden Räumlichkeiten
jich glüdlich fühlten, kann zweifelhajt erjcheinen, denn das Ver:
hältniß des Grafen Branidi zu jeiner Gemahlin war noch zerrütteter,
als das bei der liederlichen polnischen Ariſtokratie ohnehin jchon
Brauh war. Auch die Eltern von Anna Tyszfiewicz lebten fajt
immer getrennt von einander, der Bater in Wilna, die Mutter. mit
dem einzigen Kinde in Bialyjtod, bei ihrer Tante, der verwittweten
Gräfin Branida, mit der zufammen die Gräfin Tyszkiewicz während
der Saiſon nad) Warjchau überzufiedeln pflegte. Hier in Warjchau
erlebte Anna, noch ein Kind, die blutigen CEreignijje, welche der
dritten Theilung Polens vorhergingen: die Vertreibung der rujjischen
Truppen aus der Stadt im Frühjahr 1794 und die Erjtürmung
der Vorjtadt Braga im Spätherbjt dejjelben Jahres durch Suwa—
roff. Noch viele Jahre jpäter jtanden die Details des Zujammen-
iturzes der polnischen Staatsruine mit einer jchredlichen Lebendig—
feit vor dem geijtigen Auge der Gräfin: „ „ . . Wir wurden durch
den Donner des Gejchüges und ein jehr heftiges Gewehrfeuer ge:
wet. Mein Vater war abwejend, und die Dienerjchaft jogleic)
zu den Waffen gejtürmt, ohne jich um unjer Schickſal zu kümmern.
68 wurde aljo eine weibliche Konferenz abgehalten, die entjchted,
das es das Sicherjte wäre, jich tm Steller zu veriteden. Wir
brachten dort den ganzen Vormittag zu, ohne etwas gewahr zu
werden. Als gegen drei Uhr Nachmittags das Gewehrfeuer in
unjerem Stadtviertel aufgehört hatte, ließ uns der König jagen, -
wir möchten verjuchen, zu dem von ihm bewohnten Schloß zu ges
langen. Wir fanden weder Kutſcher noch Yafaten, und übrigens
würde ein Wagen auch jchwerlich) die mit Xeichen angefüllten
Straßen haben pajjiren fünnen; wir jahen uns aljo gezwungen,
zu Fuß die ganze Strafauer Vorſtadt zu durchichreiten, wo man ſich
218 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.
jtundenlang gejchlagen hatte. Der Anblid diejes Schlachtfeldes,
wo die Ruſſen zu Hunderten lagen, ließ mein Blut zu Eis er:
jtarren. Aber das war auch der einzige widerwärtige Eindrud,
den ich empfing; die verlorenen Kugeln, welche über unjere Köpfe
bin pfiffen, beunrubigten mich in feiner Weiſe.
Bon diefem Tage an bis zum Gemegel von Praga verließen
wir das Schloß nicht mehr, da die Stadt jich in beitändiger
Gährung befand. Alles, was jich in der Zwijchenzeit ereignete, it
volljtändig aus meinem Gedächtniß verjchwunden. Nur undeutlic)
erinnere ich mich, daß ich meine Mutter in das Lager Kosziusfos
begleitet habe, wo jchöne Damen, ein kleines Mützchen auf dem
Ohr, zur ‚Förderung der Schanzarbeiten, mit Erde gefüllte Karren
jchoben. Ich beneidete ihr Loos, und mein Kinderherz pochte jchon
bei den Erzählungen von unjern Siegen.
Morgens und Abends hielt meine Bonne mich an, Gott
flehentlich zu bitten, daß er unjere Waffen jegne. Mit ganzem
Herzen vollführte ich, was jie mir vorjchrieb, obwohl ich nicht ganz
begriff, was vorging, und warum man eigentlich den hübjchen
ruſſiſchen Offizieren jo böje jein mußte, denen ich oft mit Wer:
gnügen zugejehen hatte, wie jie ihre jchönen Pferde tummelten.
Das Gemepel von Braga klärte mich auf, und mein Herz erjchlor
ſich früh Empfindungen, welche ich wieder meinen Kindern einge:
impft Habe. Neuntaujend wehrloſe Einwohner wurden in einer
einzigen Nacht erwürgt, indem fie feine andere Zuflucht und fein
anderes Grab fanden als ihre eingeäjcherten Wohnungen! Da das
Schloß des Königs am Ufer der Weichjel lag, die allein uns von
Braga trennte, jo hörten wir deutlich das Wehegejchrei der Opfer
und das Hurrah der Henker. Man fonnte jogar von einander
unterjcheiden die Stimmen und das Gejammer der frauen und der
stinder, das Wuthgebrüll und die Flüche der Väter und Gatten,
die in der Wertheidigung dejien, was der Menjch am liebiten hat,
ihr Yeben ließen. Eine rabenjchwarze Nacht jteigerte noch den
Schreden diefer Szene. Ein Flammenmeer, über dem weißliches
Gewölk lagerte, ließ im hölliſch anzufchauenden Schattenrijjen die
Sejtalten von Koſaken hervortreten, die wie die wilde Jagd auf
ihren Pferden cinheritoben, die Yanze zum Stoß erhoben uud durd)
ein fürchterliches Geheul einander zur Fortſetzung ihrer Blutarbeit
anfeuernDd.
So vergingen einige Stunden; dann hörte man nichts mehr
als das Krachen der zufammenstürzenden Balken und Deden. Tas
Die Memorien der Gräfin Potoda. 219
Wehegeſchrei, das Stöhnen, das Waffengeklirr, das Stampfen der
Roſſe waren verjtummt, und das Schweigen des Todes lag aus:
gebreitet über der Vorſtadt Praga, der Name Suwaroff aber war
zum Fluche geworden.‘
Nachdem die Ruſſen Braga und die Preußen Warjchau bejett
hatten, folgte die Gräfin Tyszkiewiez mit ihrem Kinde dem König,
ihrem Onfel, nach Grodno, wo die legte Theilung Polens formell
vollzogen und Stanislaus zur Unterzeichnung jeiner Abdankung
genöthigt wurde. Gräfin Anna entwirft ein anjchauliches Bild
von jenem frauenhaften Monarchen „mit der jchönen leicht par:
füimirten Hand“ und erzählt dann von fich jelber: „Won einer
fleinen Kammer aus, in welcher man mich mit meiner Gouvernante
untergebracht hatte, ſah ich jeden Morgen den Cortege des Sflave
gewordenen Königs. Die ruſſiſche Garde mit ihren breiten aus:
drudslojen Gejichtern, aus der die Knute wandelnde Majchinen
macht, erjchredten meine findliche Einbildungsfraft jo, daß Die
ganze Autorität meiner Mutter dazu gehörte, um mich zum Ueber:
jchreiten der IThürjchwelle zu bewegen, und auch dann that ich es
nie ohne Widerjtand und Thränen.‘
. Aus Grodno in das Schloß von Bialyitod zurüdgefehrt, erlebte
Komteſſe Anna ein neues, in ihrer geijtigen Entwidelung Epoche
machendes Ereigniß, die Ankunft einer franzöfiichen Emigranten:
familie, welche jie mit £öftlihem Humor jchildert: „Gegen das
Ende des vergangenen Jahrhunderts‘, jo leitet jie ihre Charafterijtif
ein, „war Polen von franzöfiichen Emigranten überjchwemmt, Die
fast alle aus großen Häujern zu jtammen behaupteten und die Gaſt—
freundjchaft, die man ihnen mit Emprejjement anbot, in einer Werje
annahmen, als ob fie eine Gnade bewilligten. Die Gräfin Branidi
hatte die ganze Familie Bafjompierre. Erſt war Einer gekommen,
dann Zwei, dann Drei und jchlieglich die ganze Familie. Was ihr
Oberhaupt anbetraf, jo machte jie von diejem nicht viel Aufhebens,
aber man ließ doch feine Gelegenheit vorübergehen, ihn „der Herr
Marquis“ zu nennen. Dann fam der Graf, ein Mann von uns
gefähr fünfzig Jahren, der Gatte einer jungen und ziemlich hübjchen
Stau, die er in dieſer Epoche der allgemeinen Umwälzung ge:
heirathet hatte; in jeder anderen Konjunktur würde Fräulein von
Rigny, wie die Eingeweihten jagten, feinen Anjpruch auf eine jo
glänzende Berjorgung gehabt haben. Der Graf, klein, jchmächtig,
mit wohlgepuderten, en vergette frijirten Haaren und mit dem
unvermeidlichen Zopf als PBarteiabzeichen, macht einen nicht eben
220 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
angenehmen Eindrud. Er hatte eine große, jpige Naje, einen
finiteren Blid und einen verfniffenen Mund. Er galt als Schön:
geiſt, imponirte durch Zitate und machte ganz nette Berschen.
Wenn wir ein Theaterjtüd aufführten oder Jemandem eine lleber:
rajchung bereiten wollten, oder wenn ein Feſt gefeiert wurde, gingen
wir zu ihm und erjuchten ihn um ein Gedicht. Nachdem er jicd
regelmäßig jehr hatte bitten lajjen, willigte er jchließlich ebenjo
regelmäßig ein und bat uns nur, „jeine Slinder‘ nicht zu „ver:
ihänden“ Dann famen die Proben ; das waren Haupt: und
Staatsaftionen ! Bald mußte man gewiſſe mots heureux heben,
dann wieder über einen Reim hinweggleiten oder aber den Ton
auf einen Halbvers legen. Selten war der Verfaſſer zufrieden :
er langweilte uns furchtbar.
Die Mutter der Gräfin zeigte Ueberrejte ehemaliger Schönheit
und jchien jehr flug zu jein. Wir hielten es durchaus nicht für
ausgemacht, daß ſie nicht etwa durch ihre frühere Dingebung
die blendende VBerjorgung ihrer Tochter vorbereitet hatte. Ein
dreiundzwanzigjähriger Neffe, . . . und einreizendes kleines Töchterchen,
Amelie, vervollitändigten die Familie. Zuerſt wollten jie nur eine
bejcheidene Wohnung annehmen und nahmen an unjeren Mahlzeiten
Iheil. Später fanden jie das Quartier zu vejchränft und jahen ein,
daß der Menjch nicht nur Ejjen und Trinfen braucht, jondern daß
er auch noch andere unabweisliche Bedürfnifje hat. Sie ver:
jtanden jich aljo dazu, auf das Berjprechen der jtrengiten
Disfretion hin eine ziemlich reichlich bemejjene Benfton anzunehmen.
Nach ein paar Monaten äußerten jie den Wunſch, ihr eigenes
Häuschen zu haben; ein Heim für fich it ja jo ſüß! Sofort be-
famen jie eine niedliche fleine Billa, eine viertel Meile vom Schlofie
gelegen. Aber zu einer neuen Wohnung gehört jo viel!.....
Die Mama übernahm es aljo, der Gräfin Branidi die Verlegenheit
anzudeuten, in welche jie jener Zuwachs an Komfort geitürzt
hatte. Sogleich wurden die betreffenden Weijungen gegeben und
das Yandhaus in den Stand gejeßt, jeine neuen Gäjte zu empfangen.
Es fehlte an nichts: Die Zimmer wurden einfach aber elegant
möblirt, die Schränfe wurden gefüllt, der Taubenjchlag wurde ge:
füllt, der Garten geharft, die Wege wurden mit Sand betreut,
jogar an Remiſe und Pferdejtall war gedacht, denn die Familie
brauchte ja Berörderungsmittel, um zum Sclojje zu gelangen.
Onkel war zu alt und Amelie zu jung, als daß jie ein jo großer
Weg nicht hätte angreifen jollen.
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 221
Die Ueberhäufung einer ausländijchen Familie mit jo vielen
Woplthaten erregte Neid, und wenn ein derartiges Gefühl jemals
entjchuldbar jein fann, jo war das hier der Fall, in Anbetracht der
Art und Weije, wie jene Wohlthaten erwidert wurden. Ta gab
es unaufhörlich Vergleiche zwiſchen Bergangenheit und Gegenwart,
verlegende Anjpielungen oder unzarte Klagen. Wenn ein Fremder
unjere Emigranten wegen der wirklich reizenden Billa beglüd:
wünjchte, antwortete man ihm durch einen tiefen Zeufzer, einen
Bid der Entjagung, durch einige unzujammenhängende Worte, Die
bejagten: „Das it ganz gut für Andere aber für uns — !"
Und dann jprad) man von Schlöfjern, die man fich gezwungen gejchen
hatte zu verlajjen, von dem herrlichen und dem üppigen Leben,
das man auf ihnen geführt hatte. Bon da bis zum Marjchall
Bajlompierre und der Freundſchaft, welche den großen König und
jenen großen Mann verbunden hatte, war nur ein Schritt, dun
wenn diejer Boden einmal betreten war, dann gab es fein Aufhalten
mehr. Die Seufzer wurden zu Thränen und die Anjpielungen zu
Beleidigungen.
Da trat ein für die Bafjompierres überaus peinliches Miß—
gejchtef ein: der Bejuch Ludwigs KVIIL, der auf der Neije nad)
Mitau, wo ihn Kaiſer Paul veranlaft hatte, jeine Nefidenz auf:
zuichlagen, in Bialyitod abjtieg. Er reitte unter dem Namen eines
Grafen von Lille. Man hatte für ihn die für Souveräne beitimmte
Zimmerflucht in Stand gejegt, und er wurde mit allen jeiner Ge—
burt und jeinem Unglück jchuldigen Rüdjichten behandelt. Die
Gräfin Branidi verfügte jich zu jeiner Bewillfommnung aus ihren
Semächern in den Empfangsjalon. Er jchten von jeiner Nufnahme
jehr angenehm berührt zu jein und vergalt jie durch ein Aufgebot
von außerordentlicher Liebenswürdigfeit. Ich war noch nicht alt
genug, um ihn beurtdeilen zu fünnen, aber er gefiel mir, denn er
hatte ein qutmüthiges und offenes Wejen. . . . ..
Wir waren jehr gejpannt darauf, wie er die tilluitre erilirte
‚samilie aufnehmen würde. O weh! Es erfolgte eine von jenen
Enttäujchungen, die man jchwer überwindet. Der König fannte
ſie garnicht! Weder den Marquis noch den Grafen, weder Die
junge Gräfin noch die alte Mama! Na er behandelte die Stützen
des Throns, die er niemals gejehen hatte, und die nichts gethan
hatten, das wanfende Königthum zu jtügen, jogar etwas von oben
herab! Sein Begleiter d'Avary, überrajcht über das Air, welches
jich unjere Bajjompierres gaben, hielt jich für verpflichtet, uns mit:
222 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
zutheilen, was er von ihnen wußte: es waren zwar wirkliche
Bajjompierres, aber eine arme und heruntergefommene Linie, Die
nichts geerbt hatten al einen auf Erinnerungen gegründeten Hoc:
muth, und zu den Erinnerungen gehörten auch jene Schlöjjer, von
denen jie unaufhörlich jprachen. Die Revolution hatte jie nicht
ruinirt, jondern bereichert. Sie hatten niemals einen jo angenehmen
Haushalt wie den ihnen durch eine großmüthige Gajtfreundjchaft
gebotenen bejejien.
Dieje Aufklärungen änderten an dem Benehmen der Gräfin
Branidi nichts; bis an ihren Tod fuhr fie fort, ihre Gäſte mit
Wohlthaten zu überhäufen. Die junge Gräfin profitirte übrigens
von der Lektion: fie jprach weniger von Paris, das jie niemals
gejehen hatte und enthielt fich der für ung wenig jchmeichelhaften
Vergleiche zwijchen dem Lande, das jie hatte verlafjen müſſen, und
dem, wo jie eine jo noble Aufnahme fand. Bon nun an trug fie
ihre Wäjche, ohne länger zu wagen, jich über den Geruch der
polnijchen Seife zu bejchweren, und da der König ganz entzüdt
über das gute Ejjen gewejen war, worauf er einen jehr hoben
Werth legte, glaubte ſie jich von nun an von der Verpflichtung
frei, beim Genufje der Suppe den Mund zu verziehen.“
Berjönliche Erinnerungen und Familtentraditionen machten
aus Gräfin Anna die glühende polnische Patriotin, als welche jie
gelebt hat und gejtorben ijt, aber wenn die Idee der nationalen
Unabhängigfeit den Inhalt ihres geijtigen Lebens ausmachte, jo
wurde dejjen Form bejtimmt durch die franzöfiiche Bildung, und
das war theilweije das Werf der Bajjompierres, die von nun an
durch eine tragifomische Bosheit des Schickſals in der Gejchichte
unsterblich jein werden, danf dem Talent einer Hafjiichen Stiliſtin,
das jie jelber beigetragen haben, zu erweden: „Erzogen inmitten
von Diejen Franzoſen eignete ich mir injtinktiv den Geiſt ihrer
Sprache an, und bejchäftigte ich mich mit Vorliebe mit ihrer
Yiteratur. Leidenjchaftlich liebte ich ihre Plauderei, die bald geiſt—
reich und leichtfertig, bald lehrreich und ernit, aber doch immer von
einer gewiſſen Heiterfeit war, jelbjt bei den ernjtejten Diskuſſionen,
zu welchen die Politik Anlaß gab. Denn es waren Franzoſen der
alten Zeit, welche, im Grunde genommen, über Alles lachten und
bejtrebt waren, das Leben fo wenig ernjthaft zu nehmen, wie
nur möglich.“
In noc höherem Mahe als der Familie Bajjompierre ver:
dankte Gräfin Anna ihre intelleftuelle Kultur der franzöfiichen
Die Memoiren der Gräfin Polocka. 223
Borlejerin ihrer Großtante, dem Fräulein Duchene, einer geborenen
Bartjerin. Dieje Dame beſaß feine Manieren, jo viele Kenntniſſe
„wie ein wandelndes Slonverjationslerifon‘ und wußte zahlreiche
„anecdotes eurieuses“. „Ich verdanfe ihr zu einem großen Theil
das Wenige, was ich wei. Madame de Bajjompierre, deren
Erziehung jtarf vernachläffigt worden war, hatte ihr noch mehr zu
verdanfen als ich.“
Ieden Abend von jieben bis neun Uhr hatte Fräulein Duchene
im Salon vorzulejen, und der ganze Hof, welcher die Wittwe des
Stajtellans von Krakau umgab, durfte zuhören, aber nur unter der
Bedingung, dak man fich ruhig verhielt. Die Vorlejerin hatte den
aanzen Tag über nichts zu thun als nur während diejer zwei
Stunden, die von der Schloßherrin dazu verwendet wurden, ich
au courant der Zeitungen und literarijchen Neuigkeiten zu halten.
Soweit dieje die Zeit nicht ausfüllten, las man die Klaſſiker, und
die Gräfin Branidi, die jo tolerant war, daß fie niemals revidirte,
wer an der täglich gelejenen Meſſe theilnahm und wer nicht,
duldete, daß neben dem fatholiichen Chateaubriand auch der
radifale Roufjeau vorgetragen wurde.
Das iſt mit einer einzigen Ausnahme, auf die wir noch
zurüdfommen, Alles, was Gräfin Anna während ihres ganzen
Lebens gelernt hat. Für unjere deutjchen Begriffe it es geradezu
ein Wunder, wie dieje Halbfranzöjin es angefangen hat, ohne Die
Grundlage eines gediegenen Wijjens eine jo hohe Bildungsitufe
zu erreichen. Denn wer wollte jic) wohl vermejjen, einer Dame,
bloß weil ihr der trodene Wifjensjtoff mangelt, echte Bildung ab-
zujprechen, wo ihre Memoiren doch Ejprit, geijtige Gewecktheit,
Feinheit, Geſchmack, Humor, Menjchenfenntnig und Gefühl zeigen
und von einer jeltenen Begeijterung für alles Hohe und Herrliche
durchweht jind! Natürlich hat eine jo oberflächliche, Hauptjächlich
auf die Bollendung der Form gerichtete Bildung ihre großen
Schwächen; dazu gehört 5. B. der Aberglaube, dem Gräfin Anna
wie die meilten Bolinnen im außerordentlichen Maße ergeben war.
Ste zweifelt nicht an der Exiſtenz übernatürlicher Mächte, welche
das tägliche Leben der Menſchen beeinflujjen, und welche durch
dazu begabte Perſonen jo bejchworen werden fünnen, daß jie Nede
und Antwort jtehen müjjen. Solche übernatürliche Mächte exiſtiren
nach der Anficht unjerer Autorin jicher; nur it es einer Katholikin
nicht erlaubt, ich an jie zu wenden, oder man muß wenigjtens,
wenn man es gethan hat, nachher zur Beichte gehen. Freilich
224 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
fonnte einer jo gejcheidten Frau die Wahrnehmung nicht ent:
gehen, daß jene Auffafjungen in einer unauflöslichen Disharmonie
mit der Voltaireſchen Weltanjchauung jtanden, welche das Zeit:
alter beherrjchte. Aber fie empfand nun einmal nicht das Be:
dürfniß, Die bezeichneten Widerjprüche in jich auszugleichen, und
jie rechtfertigt diefen Mangel an wifjenjchaftlihem Sinn jo geilt-
voll, liebenswürdig und beredt, daß man ein gelehrter Pedant
jein müßte, wenn man ihr ihren Mangel an philoſophiſcher
Methode nicht aus vollem Herzen vergeben wollte: „Doch lebe
die gute alte Zeit!" jagt jie, „wo man an Alles glaubte. Zuerft
glaubte man an die Vorjehung, und das vereinfacht die Dinge
jehr. Dann glaubte man an das Paradies, und das macht jehr
viele Leiden erträglich. Man glaubte an die Jugend und an die
Pflicht, jeine jündigen Triebe zu befämpfen, denn die geijtreichjten
Autoren, die entzüdenditen Romanjchriftiteller hatten noch nicht
bewiejen, daß Ddiejer Widerjtand mindejtens überflüjlig it, da die
Yeidenjchaft ja alle Seitenjprünge rechtfertigt. Man glaubte an
die Wunder, an uneigennüßige Liebe, an hingebungsvolle Freund:
ichaft, man glaubte jogar an Dankbarkeit!
Nach den erniten Glaubenslehren famen die verführeriichen
und entbehrlichen Glaubenslehren, die, aus welchen man jich in
jeinem Gewijjen einen Vorwurf machte, und deretwegen es ber:
fümmlich war, zur Beichte zu gehen! Man glaubte an Yiebes:
tränfe, an Zauberformeln, an Ahnungen, an Wahrjagerinnen, an
Nitrologen, an Gejpenjter! Dieje Glaubenslehren brachten Dichter,
Geiſterſeher, Seftirer, Helden und Narren hervor. Heutzutage aber
wollen die jtarfen Geijter, die tiefen und pofitiv gerichteten Denfer,
an denen das Zeitalter Ueberfluß hat, an nichts mehr glauben
oder glauben an nichts mehr als an Hauſſe und Baifje, aber Gott
weiß, ob Haufje und Baiſſe auf bejjeren Garantien beruhen, und
ob man dabei nicht auch jehr oft hereinfällt.‘
Wir haben Alie unjere Vorurtheile, aber jelten tit die Gabe
und die Kunſt, mit jo viel guter Yaune und Phantaſie jeiner
Schwächen zu jpotten.
Wenn die Uhr im Salon der Gräfin Branida neun jchlug,
ichloß Fräulein Duchene ihr Buch, und die Flügelthüren wurden
für Diejenigen im Schlojje und aus der Nachbarſchaft geöffnet,
welche feine literariichen Interejjen hatten. Man plauderte dann.
Die Gräfin Branida, deren Bater mit Karl XII. eng lürt gewejen
war, wußte viele intereflante Anefdoten aus dem Leben des Königs
Die Memoiren der Gräfin Botoda. 225
zu erzählen: Eines Tages waren die Lebensmittel ausgegangen;
der König, welcher immer an der Spite der Armee ritt, jprang
plöglich ab und riß einen Büchel Kraut aus der Erde, das er zu
fauen begann. Nach einem Augenblid des Stillichweigens jagte
er zu dem Bater der Gräfin, der ihm betroffen zujchaute: „Ich
verjuchte, die Welt zu erobern; wenn es mir gelungen wäre, meine
Truppen auf dieſe Weije zu ernähren, jo weiß ich, daß ich
Alerander und Cäſar wenn nicht übertroffen jo doch mindejtens
erreicht haben würde.“
Karl fürchtete jich vor einer einzigen Macht in der Welt, vor
der der Schönheit; hübjche rauen fonnten fich rühmen, einen
‚seigling aus ihm gemacht zu haben; jie jagten ihn in die Flucht.
„So viele Helden,“ jagte er, „ind dem Liebreiz eines jchönen
Gefichtes erlegen. Hat nicht Alexander, den ich bejonders liebe,
eine Stadt verbrannt, einem albernen Freudenmädchen zu Gefallen.
Ic will, daß mein Leben über eine derartige Schwäche erhaben
jein joll, und daß die Gejchichte diejen Flecken an mir nicht findet.
Eines Tages meldete man ihm, daß ein junges Mädchen für
einen blinden adhtzigjährigen Vater, den Soldaten mißhandelt hatten,
von ihm Gerechtigfeit erflehen wolle. Der König, der jo jtreng
auf Disziplin hielt, machte eine Bewegung, als ob er zu der Bitt-
jtellerin hineilen wollte, um von ihr jelber die näheren Umjtände
des Erzejies zu erfahren. Aber plöglich hielt er inne und fragte:
„sit ſie hübſch?“ Und da man ihn verjicherte, daß fie mit großer
Jugend eine bemerfenswerthe Schönheit verbände, jo ließ er ihr
jagen, jie jolle ſich verjchletern, jonjt fünne er ihr fein Gehör
geben.
Soweit die Gejchichten von Karl XII. Auch über Friedrich
den Großen hörte Gräfin Anna verjchiedene Anekdoten und zwar
aus dem Munde der galanten Füritin Iſabella Ezartorysfi der
Mutter des berühmten Fürſten Adam zartorysfi.*) Es wird
preußijche Yejer amüfiren, zu vernehmen, was die Bolin über den
Näuber Wejtpreußens zu berichten weiß: Am Hofe von Sansjouci
vorgeitellt, hatte jie eines Tages Gelegenheit gefunden, fich in jein
*) Ich habe dem Fürften Adam im Hlten Bande der „Breußifhen Zahr-
bücher“ S. 578 einen Efjay gewidmet. In der Edition der Memoiren
der Gräfin Potoda find einige auf die Fürjtin Iſabella bezügliche
Zeilen nur durch Punkte angedeutet; fie beziehen fib vieleicht darauf,
dag ihr Sohn Adam nicht das Kınd ihres Gatten, des Fürften Adam
Caſimir Gzartorgsfi, geweſen tit, fondern, wie menigitens Theodor
von Bernhardi in feiner „Geſchichte Rußlands“ annimmt, einer Liaifon
der Fürftin mit dem ruffiihen Feldmarſchall Repnin fein Leben verdantte.
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2 15
226 Die Memoiren der Gräfin Botoda.
Arbeitszimmer hineinzuglifjiren in dem Augenblid, in welchem er
e8 gerade verlafjen hatte. So gewann die Fürſtin, wie jie glaubte,
einen Einblid in des Bhilojophen von Sansjouci geheimjtes Walten
und Weben, und fie will da Folgendes entdedt haben: Auf einem
mit Papieren und Starten bededten Schreibtiich Itand ein Teller
mit Kirchen, auf dem fich ein Zettel mit den höchjteigenhändig ge:
jchriebenen Worten befand: „Achtzehn find noch d'rauf!“ In der
Ede lag auf einer Caufeuje eine alte Hujaren= (sie!) Uniform, die
darauf zu warten jchien, billig geflict zu werden. Neben einem
offenen Briefe von Voltaire erblidte man die Nechnung eines Hof:
lieferanten, eines Ktolontalwaarenhändlerd. Mufifnoten waren un-
ordentlich auf ein Pult geworfen, und nicht weit von diejer Ver:
jinnbildlichung der Harmonie erjchaute man einen furulijchen Stuhl,
ähnlich dem auf dem Kapitol, nur mit dem Unterjchied, day der
eine von rothem Marmor tft, während der andere aus ordinärem
Holz war und nichts an fich hatte, was jeinen efelhaften Zwed
verdedt hätte: „‚zür einen König ein jonderbares Arbeitszimmer !“
fügt Gräfin Anna Hinzu. Und weiter meint jie: „Ohne Zweifel
veritand Napoleon einen viel bejjeren Gebrauch von jeinem Er-
oberungsrecht zu machen als Friedrich von jeinem Geburtsrecht."
Die Ezartorysfa wollte ferner willen, daß für die Berlin be:
rührenden Neijenden unendlich viel Takt und Gefchielichkeit dazu
gehört hätten, um zwijchen den beiden Höfen zu laviren. Der
König hatte jeinen, der ji) nur aus Militärs und Gelehrten zu:
jammenjeßte. Die Königin, welche er niemals jah, vereinigte die
eleganten Damen und den hohen Adel um jih. Wenn man den
einen bejuchte, wurde man von dem anderen jcheel angejehen. Es
war beinahe ein Ausjchliefungsgrund. Wenn der König von
jeiner rau jprach, was jelten vorfam, nannte er jie immer nur die
alte Kuh, vice versa nannte fie ihn den alten Schuft oder den
alten Filz.
‚stiedrich jprühte von Geijt, aber er war jchroff und wenig
liebenswürdig: weit bejjer gefiel der Czartorysfa Joſef II., den fie
Gelegenheit gehabt hatte, genau fennen zu lernen, da fie zu jenem
fleinen Kreiſe gebildeter Frauen gehörte, in deren Mitte der
Monarch fi) nach gethaner Arbeit zu erholen pflegte. Umſo wider:
wärtiger war ihr Kaunitz, dem jie einer jedes Map überjteigenden
Unverjchämtheit anflagt: Auf Diners mußte jein Kammerdiener
nach Beendigung der Mahlzeit ihm einen Spiegel, ein Beden und
eine Zahnbürjte bringen, und dann wiederholte der Fürſt die Pflege
Die Memoiren der Gräfin Rotoda. 227
jeiner jchönen Zähne wie am Morgen, gleich al8 ob er jich allein
in jeinem Anfleidezimmer befinde, während alle Anderen warten
mußten, bis er fertig war; vorher wurde die Tafel nicht auf:
gehoben.
Einmal war zu einem Diner neben dem ‚sürjten Kaunitz ein
venetianijcher Nobile, Namens Grandenigo, eingeladen. Der Fürft,
der in guter Zaune war, machte ic) das Vergnügen, das Wort
an ihn zu richten und ihm zu jagen, er jei ein großer Ochs. Der
arme Italiener, der fein Franzöſiſch veritand, fragte, überrajcht von
dem ungeheuren Gelächter, feinen Nachbarn nad) der Urjache:
„Das fommt daher“, antwortete Diejer, „weil Seine Hoheit liebt,
dag man an feiner Tafel luſtig it.“ Den Venetianer befriedigte
aber dieſe Antwort nicht ganz, er blieb zerjtreut und jah die
Schüffeln nicht, die ihm gereicht wurden. Als der Fürſt bemerfte,
daß dieje Zerjtreutheit das Serviren jtörte, jagte er ganz laut zu
dem Gajtgeber: „Warum haujt Du ihm nicht eine 'runter?“
„Wenn man derartige Details hört‘, fügt Gräfin Anna hin—
zu, „jollte man nicht glauben, daß jeitdem mehrere Jahrhunderte
verflofjen wären?“
Die Verfaſſerin unjerer Memoiren meint, für ein junges
Mädchen wären zwei Dinge unvereinbar mit einander, die Moral
und die Bhantajie: „„Le genie du Christianisme*“ war joeben er:
ſchienen. . . . Sch warne die Mütter, ihre Töchter diefe religiöfe
Poeſie lejen zu laſſen. . . . ... Herr von Chateaubriand hatte,
ich verjtehe ihn, die beiten Abjichten, er wollte, daß ein unflares
Yiebedürfnig tournät au profit de dieu; (die deutjche Sprache
verjagt bei dem Berjuche diefe Wendung zu überjegen), aber, ich
wiederhole es, dieſes Buch iſt für fünfzehnjährige Mädchen gefähr:
ich; es bringt eine Wirkung hervor, die der vom Autor beabfichtigten
geradezu entgegengejegt iſt.“
Daß junge Damen von Liebe überhaupt garnichts hören jollen,
erjcheint und Deutjchen mit Necht als widernatürlich und ver:
ihroben, es iſt das indejjen innerhalb der Sphäre der franzöfifchen
Bildung eine andere Zache; hier iſt eine in der angegebenen Weije
forcirte Mädchenerziehung injofern begreiflich, als in diefem Kultur—
freije die reine Klonvenienzehe herricht. Die zur Jungfrau erblühte
Komtejje Anna jträubte ſich zunächſt gegen ein jolches Schidjal,
aber die Verhältniſſe zeigten fich jtärfer als ihr jugendlicher Wille:
„sc war die einzige Tochter, die Erbin zweier aroßer Vermögen,
ıh hatte einen jtolzen Namen, angenehme Züge, eine jorgfältige
15*
228 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Erziehung. Sc war mit einem Worte das, was man übereinge:
fommen it, eine gute Partie zu nennen... .. Mein Geijt und
mein Herz hatten jich, ich weiß nicht recht wie, mit einer gewiſſen
kindiſchen Schwärmerei erfüllt, die durch die Lektüre der großen
Dichter genährt wurde, denn die hatte man mir ja nicht verbieten
fönnen. Sch wollte Helden wie die Nacines, oder Nitter jo wie
Tancred. Ic jehnte mich nach tiefen Yeidenfchaften, nach mit
Naturgewalt plöglich über einen fommenden Sympatbhien, nad)
großen und erhabenen Thaten. ch wartete. Aber als ich ſchließ—
[ich jah, daß weder Britannicus noch Gonjalvo de Cordova famen,
und daß ſich mir vermuthlich nicht einmal Grandijjon bieten würde,
da bequemte ich mich, aus meinem Himmel herabzujteigen, und
dachte traurig, ic) müßte der Gejchichte ein Ende machen und mid)
verheirathen wie alle Anderen auch, nach Maßgabe der Vernunft
und der Stonvenien;.
Es wurden meinen Eltern verjchtedene Partien vorgejchlagen.
Die einen fonvenirten ihnen nicht, denn jie waren ihnen nicht
glänzend genug, die anderen jchienen mir unthunlich, weil jie mir
nicht ſympathiſch waren. Aberendlichnäbertefich GrafAlerander Botodi,
und da er gleichfalls eine der bejten Bartien in Bolen war, jo
wurde er ohne Bedenken acceptirt. Unjere Eltern hatten jchon
Alles brieflich abgemacht, und als Potocki nach Bialyjtod fam,
wußte er im Voraus, daß er feinen Korb befommen würde.“
„Einen blajirten Dandy“ nennt Gräfin Anna ehrlich ihren
Gemahl, und fie fügt hinzu, es habe feinerlet Wahlverwandtjchaft
zwijchen ihren Charakteren und Gejchmadsrichtungen beitanden.
Nichtsdejtoweniger fühlte fie jich in der erjten Zeit ihrer Ehe, die
jie auf dem bei Warjchau gelegenen Willanow, ehemals einer Be-
ſitzung Sobiesfis, zubrachte, recht glüclich, und es grämte jie nur,
daß ihr Mann die Neigung jeiner jungen Gattin nicht allzu leb—
haft zu erwidern jchien. Als fie eines Sommerabends mit ihm am
Ufer der Weichjel unter vielhundertjährigen Eichen bei Mondfchein
jpazieren ging, brachte fie die Unterhaltung auf das Gemüthsleben
und behauptete, daß es fein anderes Glüd auf diefer Welt gäbe
al8 gegenjeitige Zuneigung, die aber ebenjo innig wie dauerhajt
ſein müſſe.
Für die überaus beſcheidenen geiſtigen Kräfte des jungen
Gemahls war dieſes Gejprächsthema ſchon viel zu abſtrakt. Er
ließ jeine romantische Lebensgefährtin eine Zeit lang jchwärmen,
dann zog er jeine Uhr und bemerkte, es wäre jchon jpät, auch
Die Memoiren der Gräfin Botoda. 229
wären die Mücken unerträglich, und fie wollten deshalb Lieber
hineingehen.
„Der Ton, den ich angeſchlagen hatte, war jo verſchieden von
dem, in welchem er nur diefe Bemerkung machte, daß ich, in meinem -
Zimmer angelangt, in Tränen ausbrad) und entdedte, daß ich die
unglüdlichjte Frau der Welt jei, weil ich jo wenig gejchäßt wurde.“
Graf Alerander gelangte auch jpäter nicht zu einer gerechteren
Werthſchätzung jeiner geijtreichen Frau, in welcher er nur die Forte
pflanzerin und die Repräjentantin jeiner alten Familie erblidte.
Trotzdem verlief die Ehe eine Reihe von Jahren hindurch normal,
was theilweije das Berdienit des von ihr hochverehrten Schwieger:
vaters der Gräfin Anna war. Graf Stanislaus Potocki war, mit
dem Maße der ariitofratischen Salonbildung des vorigen Jahrhunderts
gemeſſen, ein jehr unterrichteter Mann; „er wußte Alles“, wie die
Schülerin von Fräulein Duchene naiv jagt. Unter Anderem war er ein
feinfinniger Kunſtkenner, und esmachte ihm Freude, in jeiner Schwieger:
tochter die Liebe zur Kunſt zu entwiceln, welche ihre Mutter ihr jchon
eingeimpft hatte, und welche von nun an eine der großen Leiden
ichaften ihres Lebens’ zu werden begann. Am liebjten würde fie
den ganzen Tag gezeichnet haben, und für den Landſitz Natolina,
welchen jie jich mit ıhrem Gatten neu erbaute, entwarf fie jelber
alle Pläne: „Wenn es uns an Geld fehlte, verfaufte ich Diamanten,
um Marmor und Bronze faufen zu fünnen. Mein Mann jchien
meinen Gejchmad zu theilen und, obgleich fühl und wenig zugänglid)
für Begeilterung, freute er fich doch mit Stolz meiner Schöpfungen.
Glückliche Zeit, wo meine Schlaflojigfeit niemals eine andere Ur—
jache hatte als die überjtrömende Fülle meiner Bhantajie! Wie
oft träumte ich mit offenen Augen! Mit welcher Ungeduld er:
wartete ich den Anbruch des Tages, um die Jdeen auf das Papier
zu werfen, welche in der Stille der Nacht in mir aufgejtiegen
waren !“
Um die Zufriedenheit der Gräfin voll zu machen, wurde auch
der heiß erjehnte Stammbalter geboren. Die Gräfin bejchreibt jehr
ihön ihre erjten Mutterfreuden: „Ich habe nachher noch zwei
Kinder gehabt, aber ich habe niemals die Empfindung wiedererlebt,
welche jich in mir bet dem erjten Schrei jenes erjten Kindes regte.
Meine Freude war ein Delirium, das für einige Minuten das
Gefühl meiner Schwäche aufhob ; ich verjuchte, mich zu erheben,
um meinen Sohn zu jehen. Aber ich fiel rückwärts, erichöpft durch
die ausgejtandenen übermäßigen Schmerzen.“
230 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Inzwijchen war in Rußland Kaiſer Mlerander I. ans Ruder
gefommen, von dem es ein öffentliches Geheimnig war, daß er
Oeſterreich und Preußen ihre polnischen Yandestheile abzunehmen
beabjichtige, um jodann ein mit Rußland nur durch Berjonalunion
verbundenes Stönigreich Polen wiederherzujtellen. Aber zunächſt
hatte Alerander die beiden anderen Oftmächte nöthig, um im Berein
mit ihnen den nicht länger aufzujchtebenden Krieg gegen Wapoleon
durchzuführen. Um die Alltanz mit Friedrich Wilhelm III. zu ge
winnen, begab der Kaiſer fich nach Berlin und bei diejer Gelegen—
heit war er in Willanow der Gajt des jungen Potockiſchen Ehe:
paares: „Der Kaiſer war jung und jchön,“ jchildert ihn unjere
Berfajjerin, „aber obgleich er eine jehr vortheilhafte Figur hatte,
fam jeine Haltung mir nur elegant nicht auch wiürdevoll und
föniglic) vor. Seinem Auftreten fehlte jene Ungezwungenbeit,
welche eine hervorragende Stellung und die Gewohnheit, zu be:
fehlen, zu verleihen pflegen. Er ſchien verlegen zu jein ; jeine über:
triebene Höflichkeit hatte etwas Banales, und Alles, bis zur Steif-
heit der unglaublich engen Uniform, ließ ihm viel eher als einen
netten Offizier denn als einen jungen Monarchen erjcheinen.
Die damaligen Herren von Warjchau, die Preußen, erlaubten
dem Kaiſer nicht, die Stadt zu paſſiren, weil jie den Enthujias-
mus fürchteten, den jeine Anwejenheit erweden fonnte, weil man
damals mit Bejtimmtheit behauptete, er jtände im Begriff, Jich
zum König von Polen zu erklären. Und das war es, was uns
die Ehre diejes Bejuches eintrug, denn der preußijche Kommandant
von Warjchau hatte den Befehl erhalten, Alexander entgegen zu
jahren und ihn auch wieder bis zur Grenze zu begleiten, eine
Ehrenbezeigung, die Niemanden täujchte, und über die Jedermann
lacht—
Wir waren im Ganzen ſechs Perſonen bei Tiſch; der Reſt des
Gefolges aß in einem beſonderen Saal. Wir hatten oben am
Tisch ein Kouvert A part auflegen laſſen; der Kaiſer jchien davon
nicht angenehm berührt zu jein und rücte jeinen Sejjel nahe an
meinen Stuhl. Er aß wenig und jprad) viel. Seine Unterhaltung
war einfach und zurüdhaltend; jie machte nicht den Eindrud, als
ob er große Fähigfeiten hätte, aber e8 war unmöglich, ihm
Schwung der Ideen und eine außerordentliche Mäßigung abzu:
Iprechen. Die Generale, welche jeine Suite bildeten, waren nicht
jo bejcheiden; fie fragten uns, ob wir etwas in Paris zu bejtellen
hätten, indem ſie ſich eimbildeten, daß ihre Eroberungen und
Die Memoiren der Gräfin Botoda. 231
Triumphe erjt dort ein Ende haben würden. Es verging aber nur
ein Monat nach der Abreije unjeres erhabenen Gajtes, da ver:
nahmen wir, daß er bei Aujterlig gejchlagen worden war und jich,
ohne anzubalten, bis nach Petersburg zurüdgezogen hatte.
Sch fomme auf das Diner zurüd, das jehr lange dauerte.
Alexander war harthörig, und, wie alle Tauben jüngeren Alters,
affeftirte er, jehr leije zu sprechen. Man wagte nicht, ihn zu
fragen, was er gejagt hätte, und antwortete aus Ehrerbietung
jehr oft irgend etwas Beliebiges.
Nachdem wir aus dem Speijezimmer in den Salon gegangen
waren, verweilte er bier noch zwei qute Stunden, indem er fort:
während jtand. Man behauptete, daß er fich in jeiner Uniform
jo beengt fühle, daß jede andere Haltung ihm läjtig würde. Gegen
Mitternacht zog er ſich endlich zurüd, indem er von den beiden
Schlafzimmern, die ihn zu empfangen bereit waren, das einfachere
wählte.“
Auf Auſterlitz folgte Jena; der Krieg wälzte jich an Die
Weichjel, und Warjchau wurde von den Franzoſen bejegt: „Zwei
Tage nach jeiner Ankunft lieg Prinz Murat mir jeinen Bejuch
anmelden und fam Abends mit einer zahlreichen Suite herauf.
Das war ein grand homme oder vielmehr ein homme grand,
mit einem jogenannten jchönen Gejicht, das aber abſtieß, denn es
war ohne Adel und vollitändig ausdrudslos. Er hatte den
majejtätiichen Gefichtsausdrud des Schaufpielers, der einen König
giebt. Man bemerkte leicht, daß jeine Manieren angenommen
waren, und daß er für gewöhnlich andere hatte. Er drückte jich
nicht .üibel aus, denn er achtete jehr auf ich, aber jein gascogner
Accent und einige gar zu ſoldatiſche Ausdrüde jtraften den Prinzen
an ihm ein wenig Yügen. Er liebte es, jeine Waffenthaten zu erzählen
und jprach uns mindejtend eine Stunde lang vom Strieg. Die
Einnahme von Lübeck war fein Lieblingsthema .... Es war das
auch wirklich eine jchöne Waffenthat, aber davon erzählen hören
war weniger angenehm. Das Blut riejelte in den Straßen, Die
Pferde bäumten jich vor den Leichenhaufen. Diejes gar zu
getreue Bild des Krieges war nicht tröjtlich für uns arme ‚rauen,
die wir alle diejenigen, welche uns theuer waren, zu den Waffen
itrömen ſahen ......
Endlich jtand er auf, grüßte mit Würde und jagte uns, daß
er in jein Stabinet zurückkehren müjje, um die Yandfarte von
Polen und die Stellungen der rufjiichen Armee zu jtudiren.“
232 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
So jehr die Vernichtung der preußijchen Herrichaft die Gräfin
Anna beglücdte, jo wenig nimmt fie in ihren Memoiren eın Blatt
vor den Mund, wenn es ſich um die Schilderung von Mängeln
hervorragender franzöſiſcher Berjönlichfeiten handelt. So erzählt
jie 3. B.: „In den Slantonnements wurden die höheren Offiziere
auf Koſten der Grundherren bewirthet. Ein reicher Edelmann,
der einen der berühmtejten Marjchälle glänzend aufgenommen
hatte, war am anderen Morgen nicht wenig überrajcht, zu hören,
daß mit den Feldfalejchen des Heros zugleich jein Silbergejchirr
verjchwunden war. Das ging ihm über den Spaß, und er zeigte
e8 dem Saifer an, der, entrüjtet über dieje Handlungsweije im
befreundeten Lande, die Silberjachen jofort zurüdjtellen ließ und
dDiefe Zerjtreutheit auf die Nechnung der Leute des Mar:
ſchalls jeßte.“
Als eine der erjten unter den großen Damen Polens empfing
die Gräfin Botoda häufig die Führer der franzöfijchen Armee in
ihrem gajtlicfen Hauſe. Zuweilen wurde gejpielt, aber meiſtens
geplaudert. Auch der andere Schwager Napoleons, der Fürſt
Borgheje, pflegte ſich regelmäßig einzufinden, aber Niemand be—
fümmerte ji) um dieſes Halb idiotiſche Produft jejuitiicher Er—
ziehung: „Sch werde niemals vergejjen, wie er in den furzen
Intervallen, während deren die Unterhaltung ein bischen ernit
wurde, ji) Stühle zufammenjuchte, jie mitten im Salon paar:
weije aufitellte und ſich dann damit unterhielt, trällernd mit jeinen
ſtummen Wartnern Gontre zu tanzen.... Da er erjit Oberit
war, und der Kaiſer jeiner weiteren Beförderung einen Anjtrich
von ©erechtigfeit zu geben trachtete, jo lancirte man jein Regiment
in ein kleines Scharmügel, wo mehr Lorbeeren zu gewinnen als
wirkliche Gefahren zu laufen waren. Der Oberjt war jehr jtol;,
zum erjten Mal den Säbel gezogen zu haben und jagte jehr ernit
zu Herrn von VBaugiron, den er bei mir traf: „Erzählen Sie 'mal
der Gräfin, wie ich meine Sciabola gezogen habe!“
Die Kranzojen revanchirten jich aejellichaftlich zunächit Durch
einen Ball bei Talleyrand, auf welchem auch der Kaiſer mit
jämmtlichen Prinzen erjchten. „QIalleyrand galt für den liebens-
würdigjten und geijtreichjten Mann feiner Zeit, aber, offen ge-
jtanden, gab er jich feine Mühe, uns als jolcher zu erjcheinen.
Die Eingeweihten behaupteten, daß Niemand gewandter jei und
mehr zu brilliven verjtehe, aber wenn id) ihn nach der Wirkung
beurtheilen dürfte, die er damals auf mich ausübte, jo würde ich
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 233
jagen, daß er von Allem überjättigt und gelangweilt zu jein jchten,
geldgierig, eiferfüchtig auf die Gunjt eines Herrn, den er verab—
icheute, ohne Charakter wie ohne Grundjäge, mit einem Wort ein
Ktrüppel an Seele wie an Xeib.
Sch kann die Ueberraſchung nicht jchildern, die ich empfand,
als ich ihn fich jchwerfällig bis in die Mitte des Salons vorjchieben
jah, eine zujammengefaltete Serviette unter dem Arm, eine ver:
goldete Platte in der Hand, auf welcher er demjelben Monarchen,
den er anderswo als Parvenü verhöhnte, ein Glas Limonade
Die Sache iſt jonderbar, und man wird es mir vielleicht nicht
glauben wollen, aber diejenigen im Gefolge des Statjers, welche die
meiſte Würde bejagen und ihm auf die mindejt jervile Art dienten,
waren nicht die Träger der alten großen Namen, die fich ihm ans
geichlofien hatten, auch nicht die fremden Prinzen, welche, um
Kronen bettelnd, hinter ihm ber zogen, jondern gerade die neu ges
badenen Großmwürdenträger, die von ihm gemachten Marjchälle
und hohen Beamten. Savary war der Einzige, der jich bejtrebt
zeigte, einen gnädigen Blick aufzufangen, alle Uebrigen zeigten jich
durchweg rejpeftvoll, ohne jich wegzuwerfen ......
Der Kaiſer tanzte einen Contretanz, der jeiner erjten Ans
näherung an Madame Walewsfa zum Vorwand diente... Wir
erfuhren jpäter, daß Talleyrand jeine Ihätigfeit joweit ausgedehnt
hatte, dieſe erſte Zuſammenkunft herbeizuführen und die vorhandenen
Schwierigfeiten zu heben. Nachdem Napoleon den Wunſch ge:
äußert hatte, eine Bolin zn jeinen Eroberungen zu zählen, wurde
eine gejucht, wie er fie brauchte, wunderjchön an Körper und
nichtig an Geiſt . . . . Sie verwirflichte die Gejtalten von Greuze ;
ihre Augen, ihr Mund, ihre Zähne waren wunderbar. Ihr Yachen
war jo frisch, ihr Bli jo janft, das Ganze ihrer Erjcheinung jo
verführerijch, dag man niemals daran dachte, was etwa ıhren Zügen
an Negelmäßigfeit abgehen fonnte. Mit jechzehn Jahren an einen
adhtzigjährigen Mann verheirathet, den man niemals jah, hatte jie
ın der Welt fajt die Stellung einer Wittwe. Ihre große Jugend,
verbunden mit einer jo bequemen Situation, gab zu vielerlei Gerede
Veranlafjung, und wenn Napoleon der legte ihrer Yiebhaber ge—
wejen iſt, jo behauptete man, daß er nicht der erjte war.“
Das erjte Schäferjtündchen zwijchen dem Kaiſer und Madame
Walewsfa fand gleich am folgenden Abend jtatt, zur großen Ent:
rüjtung der polnischen Damen, die freilich feineswegs der Sache,
234 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
jondern nur der Form galt: „Wir waren Alle außer uns, da
eine zur Gejellichaft gehörende rau jo rajch Entgegenfommen
gezeigt und jich jo wenig vertheidigt hatte wie die Feſtung Ulm.“
Auf den Wunſch des Kaiſers, der den politijchen Einfluß der
polnischen rauen kannte, nahmen jich fait alle franzöſiſchen Offiziere
innerhalb der Ariftofratie Maitreſſen: „Leider jehe ich mich genöthigt,
zuzugeben, daß wenige Franzoſen über Graujamfeit zu flagen
hatten.“ Auch Murat wollte auf dieſem blumigen Wege moralischen
Eroberungen zu Gunjten Frankreichs nachgehen, und er hatte jich
Niemand anders zur Maitreſſe auserjehen als jeine geijtreiche
Hauswirthin Gräfin Anna: Eines Morgens meldete man ihr den
PBrivatjefretär des Großherzogs von Berg, einen Herrn Janvier,
der mit jehr verlegener Miene eintrat, einen Schlüjjel in jeiner
Hand haltend. Nach zahlreichen fonfujen Andeutungen, die die
Gräfin Potoda abjolut nicht verjtand, fand Janvier den Muth, zu
jagen, daß Seine Hoheit nicht wage, mir zahlreich bejuchte Gejell-
ichaften vorzujchlagen, daß jie aber gedacht hätte, es würde mir
angenehm jein, zuweilen in dem eleganten und laujchigen Zwijchen-
jtod mit ihr Thee zu trinfen: „Ich fing an, zu verjtehen, und mein
Zorn entbrannte. Er mußte das in meinen Augen lejen, denn er fiel
beinahe vom Stuhl. Dann jtand er jtolpernd auf und ging auf eine
Konſole zu. Bier legte er den verhängnißvollen Schlüjjel nieder und
machte mir eine tiefe Verbeugung, indem er jich anjchickte, zu geben.
Sch vermochte mich faum zu beherrjchen, mein Unwille war
zu ſtark. Indem ich mich bemühte, möglichjt verächtlich zu lächeln,
bat ich Herrn Janvier, er möchte dem Prinzen jagen, daß meine
Schwiegermutter unzweifelhaft jeine Aufmerkſamkeit jehr hoch auf:
nehmen würde, denn in ihrem Alter liebe man die zu großen Ger
jellichaften nicht mehr, und es fünnte deshalb wohl jein, daß fie
von dem liebenswürdigem Anerbieten Seiner Hoheit Gebraud
machen würde, jedenfall würde ich, da er den Schlüfjel da ließe,
ihn meiner Schwiegermutter übergeben. Dann grüßte ich mit dem
ganzen Aufgebot meines Stolzes den armen Sekretär, ber wie ver:
jteinert an der Thür jtehen geblieben war, und verließ den Salon.“
Der Großherzog von Berg war durch dieje Niederlage jeiner
Avantgarde noch nicht entmuthigt und jchritt auf einem Ball jelber
zur Attade, indem er die Gräfin Anna mit Fadaiſen überjchüttete.
Erjt ziemlich ſpät erfannte er, daß er nicht durchdringen würde ;
darauf bemerkte er pifirt: „Madame, Sie jind nicht ehrgeizig,
Zie machen ſich aus Prinzen nichts.“
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 235
Auf einer Soiree, die Napoleon im Schloſſe gab, lernte
Gräfin Anna das rüde perjönliche Wejen des forjischen Parvenüs
deutlich) fennen. Unmittelbar vor Beginn des Gercles hatten
holländische Deputirte bei dem Kaiſer Audienz, die gefommen
waren, um ihn zur Schlacht von Jena zu beglüdwünjchen. Im
Kreiſe der verfammelten Gäſte bedauerte man die Müynbeers, da
man wußte, daß fih Seine Majejtät eines unangenehmen Bor:
falles wegen in der allerübeljten Laune befand. Da öffnete ſich
die Thür des Saales mit Gepolter, und man jah die jchwerfälligen
Holländer in ihrer jcharlachrothen Gala mehr hereinrollen als her:
eintreten. Der Kaiſer jchubite jie und jchrie: „Vorwärts! Vor:
wärts!" Ohne Zweifel war die Thür in dem Nugenblid, wo
Napoleon an ihr erjchien, von den Holländern belagert gewejen;
er jchubite die armen Deputirten, welche den Kopf verloren und
der Eine über den Anderen purzelten: „An jedem anderen Ort
würde dieje fomijche Szene Heiterkeit erregt haben, aber Ton und
Geſichtsausdruck des Herrjchers waren unheimlich, und, offen ge:
jtanden, würden wir dieſer Szene lieber nicht beigewohnt haben.“
Nun folgen drei Jahre, aus welchen Gräfin Anna feine er:
wähnenswerthen Lebenserinnerungen gezeichnet hat; ihre Memoiren
verjegen uns ziemlich unvermittelt in das ‚srühjahr 1810 und
unter die vornehme Gejellichaft von Wien: „Sehr nett,“ jo erzählt
die Gräfin, „brachte man jeine Zeit bei einigen unjerer Yands-
leute zu. Eines der angenehmiten oder, genauer gejagt, eines der
elegantejten Häujer war das der Gräfin Yandoronsfa, obwohl ſich
die Herrin ein wenig zu öjterreichijch gerirte. Eines Abends, als
wir, um einen Theetiſch ſitzend, jehr lebhaft über die legten Tages:
ereignifje plauderten, fam Jemand herein und meldete die Ankunft
eines Kurierd aus Paris. Wien hatte durch die Anwejenheit der
Franzoſen viel gelitten; man jtand hier noch unter dem Eindruck
trauriger Erinnerungen, und das Geheimnik, welches in Bezug
auf neu angefommene Depejchen beobachtet wurde, rief Konſter—
nation in der Stadt hervor.
Einige in Diejem glänzenden Salon vereinigte Polen aus:
genommen verabjcheuten alle Anwejenden Napoleon grenzenlos....
So hörte ich z. B., wie man auf Grund unwiderleglicher That:
jachen beweijen wollte, daß das Ungeheuer feig jei, und daß
er bald in Blödjinn verfallen müßte, weil er an Epilepſie litte....
Der heftigjte wie auch der gefährlichjte jeiner Feinde war zweifels
(08 der Korſe Pozzo di Borgo, der allein bejjer zu iprechen und
236 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.
zu haſſen verjtand als alle an diejer Unterhaltung theilnehmenden
Deutjchen zujammengenommen. Wir laujchten jeinen Prophe—
zeiungen, als der ruſſiſche Botjchafter Graf Razumowski jich an-
melden lieh.
Wir eilten ihm Alle entgegen und überhäuften ihn mit Fragen.
Sein Gefichtsausdrud war unheimlich, er war tief erjchüttert, jeine
Stimme verjagte ihm. Erſt nad) mehreren Minuten eines uns
vorbereitenden Schweigens vermochte er ung mitzutheilen, daß dem
geheimnigvollen Kurier, der Urſache der momentanen Angit,
Marjchall Berthier in aufßerordentlicher Mijjion auf dem Fuße
folge, um für feinen erhabenen Herrn um die Hand der Erzherzogin
Marie Louife anzuhalten. Und noch mehr! Diejem gewejenen
gemeinen Soldaten, dieſem Parvenü, dieſem neugebadenen Fürjten
war die unvergleichliche Ehre bejtimmt, bei dieſem denfwürdigen
Akt den Kaiſer und König per procuram zu vertreten!
Diefer ganz aufßerordentliche diplomatische Schritt war die
‚solge der geheimen Abmachungen, welche Metternich in Paris zu
Stande gebracht und unterzeichnet hatte. . . . . Der Fürſt von
Neufchätel fand an der Grenze einen der größten Magnaten des
Yandes, den Fürſten Paul Eijterhazy.
Diefe Details, mit fieberhafter Aufregung erzählt, mußten
wahr jein. Sie wirkten, als ob ein Blig die Leute zerjchmettert
hätte, welche ji) um Razumowski drängten. Die Neaftion lieh
nicht lange auf ſich warten: Nach einem Augenblid der Stumm—
heit und der Starrheit ertönte in dem ganzen Salon, unwill-
fürlich hervorbrechend, ein Schrei des Entjegens. Man tadelte
empört die Unanjtändigfeit und Feigheit einer Verbindung, die
dem niederträctigen Ufurpator die erite Prinzejiin Europas
auslieferte.
Man hörte weiter nichts als Flüche und unterdrücktes
Schluchzen. Die Damen hatten Nervenzufälle, und die Männer
jteigerten ihre Gefühle jtufenweije vom Zorn zur Wuth: „ES giebt
feine Gerechtigfeitt mehr auf der Welt!“ jchrien fie. Und die
Damen jagten: „Es bleibt nichts übrig, als Europa zu verlafien
und uns in Amerika anzujiedeln!“ Die zart Bejaiteten unter ihnen
behaupteten, die junge Prinzejjin würde den Tod davon haben,
und jo würde fich denn die ungeheure Entweihung nicht vollenden.
Andere meinten, Napoleon würde vor Freude irrfinnig werden,
und der Himmel würde ſolche Greuel nur zulafien, um den
modernen Nebufadnezar dann umjo tiefer herabzuftürzen.
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 237
Am Abend nach diejer jtürmifchen Soiree vereinigten jich
diejelben Individuen zu derjelben Stunde, an demjelben Ort, denn,
mochte man das, was vorging, auch noch jo jtreng verurtheilen,
man verging Doch vor Neugier nach den geringiten Details. Es
iſt leicht begreiflich, daß ıch bei diejfer Zujammenfunft nicht fehlte.
Fürst Ejterhazy hatte den Botjchafter in die Hofburg geführt,
wo ihm, entgegen dem Herkommen und der Etifette, Wohnung
angewiejen worden war. Bei jeinem offiziellen Einzuge in die
Stadt mußte er eine Üchberbrüdung paſſiren, welche in der Eile
über die Ruinen der von den abziehenden Franzojen in die Luft
geiprengten Wälle gelegt worden war... ..
Am übernächſten Tage jchritt man zur ſtandesamtlichen
Trauung und zur Uebergabe der jeit unvordenflichen Zeiten den
Erzberzoginnen ausgeworfenen Mitgift, welche jich auf eine halbe
Million Franken Gold beichränfte. . . ..
Während ihres Aufenthaltes in Wien machte die Gräfin
Potocka auch die Bekanntſchaft des Fürſten von Ligne, der den
Ruhm genoß, der geiſtreichſte und eleganteſte aller Grandſeigneurs,
gewiſſermaßen das Ideal dieſes Standes, zu ſein: „Damals über
ſiebzig Jahre alt, war er noch einer der geiſtreichſten und glänzend—
ſten Kauſeurs ſeines Salons, unendlich viel bedeutender in ſeiner
Konverſation als in ſeinen Werfen. Nachſichtig, umgänglich und
gut, wurde er von ſeinen Kindern angebetet und liebte ſie, weil
ſie liebenswürdig waren, denn für ihn hatte nur Werth, was dazu
beiträgt, das Leben angenehm zu machen, und er glaubte ganz
ehrlich, daß er einzig und allein geſchaffen wäre, um ſich zu
amüſiren. Wenn man ihn in ſeiner Jugend dem Ruhm hatte
nachjagen jehen, jo hatte er das gethan, weil er ihm neue Erfolge
bei den Frauen zu verjprechen jchien, und weil man zuweilen
reüfjjirt, wenn man in der Xage üt, ein Billet doux auf ein
Zorbeerblatt zu jchreiben. Befiger eines bedeutenden Vermögens,
das er, ebenjo wie jein Yeben, auf alle mögliche Art und Weije
vergeudet hatte, ertrug er mit jtoischer Heiterkeit die Entbehrungen,
zu welchen ihn jeine Berjchwendung verurtheilte. Seine bejcheide:
nen Strohjtühle, jeine Hammelfeule, fein unjterbliches Stück Käſe
regten zu taujend geiftreichen und jehr gut aufgenommenen Wißen
an. Man hätte jagen mögen, daß er an Vergnügtheit gewonnen
hatte, was ihm an Vermögen verloren gegangen war, und daß
er arm jein wollte, wie jener Weiſe des Alterthums, der jeine
Schäge ind Meer warf, um glüclich zu jein.
238 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.
Die Fürſtin bejaß nichts von dem, was fie hätte haben müjjen,
um auch als Philofophin zu gelten. Mann und Frau machten
den Eindrud, als ob jie überhaupt garnicht diejelbe Sprache jprächen
und jich jedenfall® niemals etwas zu jagen gehabt hätten.
Die Fürftin jtammte aus einem der edeliten Gejchlechter
Deutjchlands, aber, wie alle adligen Mädchen diejes Landes, war
jie arm und ferner ohne jeden Liebreiz oder Geijt; es war un:
möglich, zu begreifen, was den Fürſten zu dieſer Hetrath hatte be:
itimmen können, bejonders, wo er ein Gegner von Heirathen mit
deutjchen Mädchen war. Seine alten Freunde erzählten eine
Meußerung von ihm, die ihm entjchlüpft war, als er jeine junge
Gemahlin zum eriten Mal nad) Brüfjel führte, wo fein Regiment
in Garnijon jtand. Diejes Wort malte mit einem einzigen Zuge
jeine Bosheit und jeinen grenzenlojen Leichtfinn: Als die Offiziere
gemeinjam jich bei ihm einfanden, um der Fürſtin vorgejtellt zu
werden, jagte er zu ihnen: „Meine Herren! Ich fühle mich durd)
Ihre liebenswürdige Zuvorfommenheit jehr angenehm berührt.
Ste jollen fie jehen; ich muß Sie aber leider jchon vorher darauf
aufmerfjam machen: Hübſch it jie ganz und gar nicht, aber jie iſt
wenigjtens jehr gutmüthig und jehr jimpel, und fie wird Niemanden
geniren, mich auch nicht.“
Zu der Zeit, wo ich jie ſah, befand ich die Fürjtin jchon in
einem jehr vorgerüdten Lebensalter und oft in einer reizbaren
Stimmung, aber man kümmerte jich nicht darum. Es war herföümmlich,
jie ihrer gewohnheitsmäßigen Handarbeit zu überlafien, und wäh—
rend jie die furchtbariten Stickereien anfertigte, gruppirte man ſich
um den Fürſten und jeine Töchter und plauderte mit einer Deiter:
feit und eıner gejchmad- und anmuthvollen Feinheit, die ich jonit
nirgendwo gefunden habe. Wie die Franzoſen aus der alten Ge:
jelljehbaft behaupteten, hatte Jich die Konverſation der Pariſer
Salons, nachdem fie durch die Revolution aus ihrem alten Domizil
vertrieben worden war, in Diejes bejcheidene fleine Palais ge—
Mchte
Als die Franzoſen im Jahre 1807 in Warſchau im Quartier
lagen, hatte ſich Gräfin Anna in einen jungen Offizier, de Flahault,
verliebt, aber dieſer Neigung gegenüber Grundſätze bewiejen.
Seitdem hatte ſich jedoch das Verhältniß zwiſchen ihr und ihrem
Gatten immer ungünjtiger gejtaltet und war beinahe auf das
Niveau anderer polnischer Ehen heruntergejunfen. Jetzt entſchloß
jich die Potoda, ihren Mann und ihre zwei Stinder zu verlajjen
Die Memorien der Gräfin Potoda. 239
und dem Geliebten nach Paris zu folgen, und ihr Gemahl gab ihr
gleihmüthig wenn nicht vergnügt Neijeurlaub, während die Schwie-
gereltern jo gefällig waren, einen jadenjcheinigen Reiſevorwand zu
erjinnen, damit die Dehors gewahrt werden fonnten. Freilich
waren auch fur; zuvor der folofjal begüterte Vater Annas und
Tante Branida geitorben! In Paris angelangt, ließ fich die
Potoda bei Hofe vorjtellen ; als Ausländerin mußte jie nicht nur
dem Kaiſer und der Kaiſerin, jondern außerdem noch jeder Königin
und Prinzejjin aus dem Hauſe Bonaparte fjeparatim vorgejtellt
werden. Jede hatte ihren eigenen Tag. Die Gräfin mußte aljo
jeden Morgen eine lange und ermüdende Toilette machen und die
ihönjten Stunden des Tages mit dem An und Ausziehen des
Hoffleide3 zubringen. „Abends ruhte man jich aus — im Theater!“
Der Kaiſer empfing gegen zwölf Uhr in jeinem Arbeitszimmer:
„Man führte jich mit den drei üblichen VBerbeugungen ein... ..
Ver Kaiſer ſtand, eine Hand auf jeinen Schreibtifch geitügt, und
maß die ſich voritellende Dame mit einen gnädigen Blid, in dem
Falle, daß jie jung und hübjch war. Das war aber nur das
Vorjpiel einer noch viel jchwieriger durchzuführenden Aktion. Beim
Hinausgehen waren die drei Verbeugungen zu wiederholen, aber
während der NRüdwärtsbewegung. Die Schwierigfeit lag nun in
einem Galamantel von übertriebener Länge, den man durch einen
leichten, unjichtbaren Stop mit dem Fuß nach hinten Ddirigiren
mußte, darin zeigte man jeine Grazie und Vornehmbeit. Nach
drei Lektionen konnte ich meine Ausbildung als beendigt anjehen.“
Die Gräfin Potoda, welche mit mehreren anderen Damen zu:
gleich vorgejtellt wurde, fand bei Napoleon eine jehr gnädige Auf:
nahme, denn fie war jung und hübjch, und ihr Schwiegervater
war Minijterpräfident des Großherzogthums Warſchau: „Nachdem
wir das Kabinet des Kaiſers verlajien hatten,“ berichtet unjere
Autorin weiter, „treten wir in den Empfangsſalon der Kaiſerin,
wo jich jchon viele Yeute befanden. Zie trat aus ihren Gemächern,
umgeben von einem zahlreichen und glänzenden Hof. Der Ge:
Ihmad, mit dem ſie angezogen war, lieh fie ein bischen weniger
häklich erjcheinen, aber der Gefichtsausdrud blieb derjelbe. Niemals
belebte ein gnädiges Lächeln oder ein theilnehmender Blick dieje
hölzernen Züge. Sie machte ihren Rundgang von der Einen zur
Anderen wie die mechanischen Puppen, die rollen, wenn man fie auf:
gezogen hat, und zeigte ıhre vornehme aber jteife Figur jowie ihre
großen, wafjerblauen, glajigen Augen von unveränderlicher Starrheit.
240 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Der Kaiſer ging ihr zur Seite, um ihr zuzuflüftern, was
jie zu jagen hatte, bejonders den Perjonen, welche er auszeichnen
wollte. Als ich an die Neihe fam, und die Dame, die mich vor:
jtellte, der jungen Souveränin meinen Namen genannt hatte, hörte
ich Napoleon ganz deutlich die Worte „überaus graziös“ murmeln.
Sie wiederholte jie jo ohne jeden Chic und mit einem jo itarf
ausgeprägten tüdesfen Accent, daß ich wenig davon befriedigt war.“
Gräfin Anna hatte in Paris eine Tante, die Gräfin Vincent
Tyszkiewicz, Schwejter des berühmten polnijch-napoleonijchen Helden,
des Fürjten Joſef Pontiatowsfi. Gräfin Tyszkiewicz führte ihre
Nichte u. N. auch im Talleyrandjchen Haufe ein. Talleyrand hatte be-
fanntlich jeineMaitrejie geheirathet, eine jeparirte ‚rau Grant von ob-
jfurer Herkunft, die zwarjchön, aber mit Geiſtesgaben nicht gerade über:
mäßig gejegnet war und der feineren gejellichaftlichen Bildung voll-
ſtändig entbehrte. „Durch jeine Amtspflicht bei Hofe zurüdgehalten,
fonnte Talleyrand nicht rechtzeitig nach Haufe fommen, um uns
zu begrüßen und ließ jich entjchuldigen ; die Sache war jehr ein:
fach ; Niemand dachte auch nur daran, sich darüber aufzuhalten.
Um jo jonderbarer erjchten es uns, daß wir beim Eintritt in den
Salon Niemanden vorfanden, um ung zu empfangen, als eine Ehren-
dame der Fürjtin, Die uns mittheilte, verführt durch einen
Sonnenjtrahl wäre Ihre Hoheit joeben ein bischen ins Bois de
Boulogne gefahren. Die Eingeladenen famen Einer nach dem
Anderen. So wie e8 uns die Perjon, welche beauftragt war, in
Abwejenheit der Hausherrin die Honneurs zu machen, als wahr:
icheinlich bezeichnet hatte, mußten wir länger als eine Stunde
warten. Eine Entjchuldigung wäre wohl am Plate gewejen, aber
die Fürſtin fürchtete, ihrer Würde etwas zu vergeben, wenn
jie ſich böflich zeigte, und bewerfitelligte ihren Eintritt mit einer
majeftätijchen Würde, jprach uns von dem jchönen Wetter, von der
baljamijchen Yuft und jchien es ganz natürlich zu finden, daß jie
uns hatte warten lajjen.
Sch vermied in der Folge, mit Madame Talleyrand zujammen-
zutreffen — die impertinenten Fürſtinnen jind nicht nach meinem
Geſchmack, bejonders nicht, wenn jie von unten beraufgefommen
jind. Dieje, welche ganz Paris unter dem Namen Madame Grant
gefannt hatte, legte eine geiſtige Nichtigfeit an den Tag, die durch
nicht8 zu bemänteln war, auch nicht durch ihre Standeserhöbung;
man zitirte ihre unfreiwilligen bon mots wie die gewollten ihres
Gemahls.
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 241
Um Ddieje Zeit war jie mindeitens 60 Jahre alt, aber ihre
gejellfchaftliche Stellung verjchaffte ihr Schmeichler, die jie ver:
jicherten, daß jie noch immer jchön wäre. Demgemäß ging jie ohne
Hut, mit einem Kranz von Blumen im Haar.
Wenn jih Talleyrand an den Spieltijch ſetzte oder abwejend
war, berrichte in dieſem Salon eine jo tötliche Yangeweile, wie ich
je jelten anderswo empfunden habe. Und doch waren die Leute,
welche in diefem Haufe zu verfehren pflegten, meiſtentheils Leute
von Geilt......
In jeiner Jugend hatte Talleyrand, wie man jagte, große
Erfolge bei den ‚rauen gehabt; jest jah ich ihn inmitten jeines
alten Serails. Er war wirklich jehr fomijch anzujehen, wie alle
diefe Damen, bei denen er abwechjelnd die Nolle des Liebhabers,
des Iyrannen oder des ‚sreundes gejpielt hatte, fich vergeblich an-
Itrengten, ihm jeine Yangeweile zu vertreiben. Die eingewurzelte
üble Yaune widerjtand allen ihren Anjtrengungen. Der Einen
gähnte er ins Geficht, die Anderen brüsfirte er, Alle behandelte er
wie Tolle, indem er boshaft die Erinnerungen und die Daten
bervorhob. . . . . z
Tante Tyszkiewicz führte Gräfin Anna auch bei der Vikomteſſe
von Yaval ein, jo ziemlich das einzige angenehme Haus, welches
unjere Berfajjerin in Paris fennen lernte. Jene geiftreiche Fran:
zölin der alten Gejellichaft fand jich mit dem durch die Revolution
verurjachten Verluſt ihres Vermögens aufs Glücklichſte ab ; fie jegte
jo zu jagen ihren Stolz darin, arm zu jein, jprach von dem Ver:
lorenen niemals und gab jich das Air, garnicht jchlimm zu finden,
daß Andere ſich bereichert hatten ; brauchten fie doch ihr Vermögen,
um jich darüber zu tröjten, daß fie feine Montmorency waren —
und damit fertig ! j
Eine gewählte Gejelljchaft, von der die Jugend feiner Partei
abjolut ausgejchlojjen war, und zu der man ſtolz war, zugelajjen
ju werden, vereinigte jich oft in dem Eleinen Salon der Vikomteſſe;
dort aufgenommen zu werden, galt als ein Freibrief der Liebens-
würdigfeit und des guten Gejchmades. Die Dienerjchaft bejtand
aus einem Yafaten und einer Negerin, halb einer Sflavin halb
einer Bertrauten ; fie machte den Thee. Bei Ddiejen jehr be—
Iheidenen Empfängen verjammelte ſich Alles, was Baris an dijtinguirten
Perſonen umſchloß. Talleyrand und die Herzogin von Kurland
gehörten zu den regelmäßigjten Bejuchern. Madame Talleyrand
aber erjchien niemals ; wie Gräfin Potocka mit einer der ihr eigen-
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 16
242 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
thümlichen feinen Wendungen des Stils jagt: „Weil jie ji
Gerechtigfeit widerfahren ließ.“ Der Salon der Vikomteſſe
war, wie unjere Autorin behauptet, der einzige, in welchem die
altfranzöfiiche Kunjt der Cauſerie wiederaufgelebt war. Man
plauderte um des Plauderns willen ; Politif und Parteihaß über:
Ichritten Ddiefe Schwelle nicht. Madame de Laval gab mit un-
endlicher Gejchidlichfeit das Thema der Stonverjation an; ſobald
fie die Afteurs in Thätigfeit jah, verjtummte fie und jchien durch
ihre Handarbeit aus grober Wolle ganz in Anfpruch genommen zu
jein, bis eine ſie befonders interefjirende Frage aufs Tapet fam
und jie reizte. Dann jchwiegen wieder die Andern: Sie jprad)
mit einer jo ungefünftelten und pifanten Grazie, daß Alle in
ihrem Bann jtanden. Sie war jehr hübſch gewejen; ihre ſchwarzen,
geiftreichen und janften Augen bewahrten noch immer einen über-
rajchenden Glanz.
Natürlic) entrichtete auch dieſer Salon troß jeiner wirklichen
Nobleſſe gelegentlich der menschlichen Unvollfommenheit feinen Tribut,
3. B., indem er ich zum Schauplaß für das Liebesfpiel zwijchen der
5Yjährigen Herzogin von Kurland und Talleyrand bergab. Die
Herzogin Anna Charlotte Dorothea geb. von Medem war die Wittwe
des Herzogs von Kurland und im Jahre 1800 beim Tode ihres Ge-
mahls von Rußland, das Kurland einzog, im Befige eines ungeheuren
Vermögens gelajjen worden. Die Herzogin hatte jich troß des be-
ginnenden Greiſenalters noch Nejte von Schönheit bewahrt, die
um jo mehr zur Geltung famen, als ihre Befigerin in der Lage war,
ein fürjtlicheg Haus auszumachen: „Talleyrand,“ jo erfahren wir
von der PBotoda, „war für die Neize dieſer Frau nicht unempfänglich,
hatte ihr die Stellung einer der intimjtem Freundinnen von Frau
von Yaval verjchafft, und es gehörte in deren Salon zur Konvention,
Alles, was die Herzogin that, zu bewundern ; man bewunderte
bejonders ihre eleganten Toiletten und ihre Diamanten. Ach
habe jie öfter um Mitternacht fommen jehen, nur zu dem Zweck,
um ihr Ballkleid oder einen neuen Edeljtein zu zeigen, wie als ob
jie zwanzig Sabre gewejen wäre. Ihr alter Anbeter wartete jie
immer ab und betrachtete jie mit einer Bewunderung, welche leicht
hätte bewirken fönnen, daß jein ganzes Serail, zu dem meine Tante
Iyszfiewicz auch gehörte, vor Neid plakte.
Unjere ungenirte Polakin weiß aber von Tante Tyszkiewicz
noch ganz andere Gejchichten zu erzählen, welche uns unbejchadet
des der Schweiter des großen Poniatowsfi jchuldigen Reſpektes
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 243
wohl verführen fönnten, in dieſer Stammmutter der gejchichtlich
hedeutjamen polnijchen Kolonie zu Paris eine würdige Yandsmännin
von Wajchlapsfi nnd Krapulinski zu erbliden: „Ungefähr alle acht
Tage verjammelte ſich Talleyrands Kreis bei meiner Tante, wo ich
mich recht wenig amüſirte. Sie lud abwechjelnd dijtinguirte Yands-
leute und durchreifende Fremde ein. Ihr Haus übte eine große
Anziehungskraft aus. Ich vermag meine unangenehme Weber:
raſchung faum zu jchildern, als ich wahrnehmen mußte, daß man
hier anjtatt jedes anderen Vergnügens fabelhafte Summen verjpielte.
Die Banf wurde von Unbefannten gehalten, mit denen Niemand
ſprach; fie breiteten ihre Neichthümer aus, um die Anwejenden
zu verloden. Man jchien ihre Berührung zu fürchten und behandelte
jie wie Parias. Ihre argwöhniſchen Blide fchweiften von den
Einen zu den Anderen, ohne die Hände der Spieler einen Mugen:
blid aus den Augen zu lajjen. Alles diejes hatte etwas mit der
Menjchenwürde Unvereinbares und Sataniſches. Nur die Habjucht
lenkte diejen jonderbaren Zeitvertreib. Die verzerrten Gefichter der
Spieler, Die finjteren, regungslojfen Phyfiognomien der Bank—
halter, das Schweigen, welches in diefem Salon herrjchte, wo man
oft in einer einzigen Nacht das Lebensglüd einer ganzen Familie
aufs Spiel ſetzte, — Alles das erjchten mir hajjenswürdig. Ich
fonnte nicht umhin, meinem Grjtaunen, vielleicht jelbjt meiner
naiven Entrüjtung Ausdrud zu verleihen, aber meine Tante
erwiderte mir fühl, man merfe überhaupt wohl, daß ich nicht
von hier wäre, derartige VBergnügungen fänden überall in Baris
itatt, und der Fürſt, der viel arbeite, juche in ihrem Haufe die
Berftreuungen, welche jeine Poſition ihm in dem jeinigen verbiete.
In diejer Spielhölle jah ich auch zum erjten Male die alte
Herzogin von Yuynes (aud) eine Yaval-Montmorency wie jene oben
gewürdigte geijtreiche Caufeuje), die gebaut war wie ein Gensdarm
und ſich anzog wie die gewöhnlichite Frau; ſie jpielte wild,
hatte eine Stentorjtimme, lachte unanjtändig laut, widerjprach mit
einer jeltenen Grobheit — das Ganze wurde für Originalität
ausgegeben. Ja, es war jogar Konvention, die Noblejje und die
Fejtigfeit ihres Charakters und die Beharrlichfeit ihrer Anfichten zu
bewundern. Was mich betrifft, jo fonnte ich mich niemals an dieje
männliche Hülle und dieſen Ton eines Grenadierd gewöhnen.
Ach! mein liebes Lignejches Palais! wie oft famjt du mir in
den Sinn! Bwar durchflutheten feine Ströme von Licht deinen
bejcheidenen fleinen Salon, das frugale Abendejjen glich in nichts
16*
244 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
den Sajtmählern, welche diefen modernen Sybariten geboten wurden,
aber welche Berjchwendung von Geiſt, welche liebenswürdige und
ungezwungene Heiterkeit! Wie unendlich weit war Doch Dieje
Eremitentafel jenen traurigen Schmäujen vorzuziehen !*
Jedoch fand Gräfin Anna auch Gelegenheit, auf einem Diner
im Hauſe Talleyrand diefen merfwürdigen Mann von einer jeiner
jympathijcheren Seiten fennen zu lernen: Unter den Eingeladenen
befand fic) aucd) der Herzog von Yaval, der Schwager der Dame,
in deren Salon es der Gräfin Potoda jo gut gefiel, durchaus fein
Mann von Seit, aber doch eine Barijer Zelebrität, nämlich in jeiner
Eigenjchaft als glüclicher Vater zahllojer, unfreiwilliger Witze:
„Wir waren jchon beim Eſſen, al$ der Herzog von Yaval, auf den
lange gewartet worden war, endlich eintrat. Der Herr des Hauſes,
unendlich viel höflicher als jeine Frau, erjchöpfte ſich in Ent:
jchuldigungen. Der Herzog hatte in diejer Epoche die Manie, alte
Porträts zu faufen ; er gejtand ehrlich, daß er fich bei einer Gemälde:
auftion verjpätet hatte.
„sch wette, jagte Talleyrand, „das Sie da wie gewöhnlid)
eine jchöne Sudelei gekauft haben werden.“
„Jawohl!“ verjegte der Herzog mit Selbjtgefühl. „Dieje
Sudelei möchten Sie wohl gejchenft haben, zum Schmud für Ihre
Bibliothef. Es jind die Porträts zweier berühmter Perjönlich-
keiten.“
„Und wenn auch!“ erwiderte Talleyrand, indem er gering—
ſchätzig den Mund verzog. „Und welches ſind dieſe Perſönlich—
feiten ?*
„Warten Sie ein bischen !* antwortete der bedauernswerthe
Amateur in jichtlicher Berlegenheit und jeine Suppe löffelnd, um Zeit
für die Ueberlegung zu gewinnen. „Die rau hat denjelben Namen
wie Madame Regnault de Saint — Jean d'Angely; es it eine
gewijje Yaura. Und der Herr? Ja! ich vergejle immer feinen
Namen: er flingt ungefähr wie patraque” (Altes Gejtell).
Alles jchiwieg, aber es war ein perfides Stilljchweigen, wie es
dem Ausbruch tollen Gelächters vorherzugehen pflegt.
Und jiehe da unjeren Wirth, wie er dem armen Herzog jein
ichlechtes Gedächtniß verweiſt, jcheinbar ohne die Yujtigfeit feiner
Tiſchgenoſſen zu bemerken, denen er einen ruhigen, aber von Schall:
haftigfeit vollen Blick zuwarf.
„Merten Sie fich ein für alle Mal die Namen Ihrer Helden,
lieber Freund ; Sie wollten jicher jagen Yaura und Plutarch.“
Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 245
„sa gewiß! Diejer verfluchte Plutarch ; ich vergejie ihn regel:
mäßig ! Allerdings jcheint es mir, auf der Auftion waren aud)
welche, die jagten Petrarca, aber das waren Ignoranten wie ich,
und fie hatten feine Ahnung, wie Yauras Liebhaber wirklich hieß.
Plutarch ! das weiß ja jonft Jeder; ich hab's auch gewußt; das
iſt ja hiſtoriſch!“
Das war zuviel, und die lange zurückgehaltenen Heiterkeits—
ausbrüche wurden homeriſch. Talleyrand allein blieb dieſem Ge—
lächter fremd, und, indem er der ganzen Geſellſchaft einen perfiden
Blick zuwarf, hatte er die Keckheit, den Herzog wegen dieſer ver—
gnügten Stimmung zu interpelliren, von deren Urjache er feine
Ahnung zu haben behauptete.“
Einige Tage nach dem gejchilderten Diner machte Gräfin Anna
ihren Antrittsbejuch bei der Marjchallin Davouft, mit der fie be—
reits in Warjchau in gejellichaftlichen Beziehungen geitanden hatte.
" Die Marjchallin war eine geborene Leclere; die Schweiter des
Generals Leclere, mit dem Pauline Bonaparte in eriter Ehe ver-
heirathet gewejen war. Der alte Leclerc hatte ein Mehlgejchäft in
Pontotje betrieben. Jetzt war jeine Tochter Herzogin von Auer:
ſtädt und Fürſtin von Edmühl. Die Marjchallin, eine jtrenge
Schönheit, konnte wohl als eine bedeutende rau gelten. In einem
vornehmen PBenjionat erzogen, hatte jie jich dort feine Manieren
und den Ton der guten Gejellichaft angeeignet. Beides ging ihrem
Gemahl ab. Beliebt war jie aber nicht; dazu war fie zu hart.
Man behauptete, jie wäre auf die flüchtigen Liebſchaften ihres
Mannes ganz außerordentlich eiferfüchtig : „Da fie den Sommer in
Savignysjur-Örge zuzubringen pflegte, mußte ich fie Dort aufjuchen ..
Sch begab mic aljo nad) Savigny, an einem glühend heißen Tage,
Ichlecht gejchügt durch einen kleinen mit Veilchen garnirten Hut,
und jehr beengt in meinen lila Schnürjtiefeln, die genau zu einer
eng anjchliegenden Robe aus neapolitanischem Grosgrain von der:
jelben Farbe paßten. Hatte doc; Madame Germont, das Orafel
der Mode, jelber meine ganze Toilette fomponirt. Da es aber am
Rormittag war, fam mir dieſe Eleganz recht deplacirt vor.
Wie es jich hiermit aber auch verhalten mochte — ich verjprach
mir einen angenehmen Bejuh. Das Hotel der Marjchallin in
Paris hatte mir eine hohe Boritellung von ihrem Gejchmad nnd
ihrer Opulenz eingeflößt, und ich dachte, jie in Savigny lururiös
eingerichtet zu finden. Ic fam gegen drei hr an. Das Schloß,
mit Wall und Graben umgeben, hatte ein hermetijch verjchlojjenes
246 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Thor zum Eingang. In dem Graben wucherte das Unfraut ; man
hätte glauben jollen, eine jeit Jahren verlajiene Wohnung vor Sid)
zu haben. Nachdem mein Lafai endlich die Klingeljchnur gefunden
hatte, dauerte ed noch ein paar Minuten, dann fam ein Fleines
recht jchlecht angezogenes Mädchen und fragte, was wir wollten.
„It die Frau Marjchallin zu Haufe ?*
„Entjchuldigen Sie ja und der Herr Marjchall auch,“
antwortete das Mädchen... . . .
Sch ließ mich anmelden und, in meine Kutjche zurüdgelehnt,
mußte ich abermals recht lange warten, indem ich mir inzwijchen
überlegte, ob ich ausharren oder einfach meine Starte dalajjen jollte.
Nach einer Fleinen Viertelſtunde zeigte ſich endlich ein Kammerdiener
vor dem Schlage meines Wagens und geleitete mich in einen großen
Schloßhof. Er entjchuldigte jich, daß es jo lange gedauert habe,
indem er mir ohne Bedenken erzählte, daß, als ich anfam, die Leute
ım Garten bejchäftigt gewejen wären; er jelber hätte mit der
Neinigung des Objtgartens zu thun gehabt.
Man führte mich durch mehrere volljtändig unmöblirte Säle ; das
Zimmer, in welchem man mich‘ Blat nehmen ließ, war auch nicht ichmud:
reicher als die eriten, aber es jtanden wenigitens ein anapee und
Stühle darin. Die Marjchallin erjchien dann auch jofort. Ich be-
merkte gleich, daß ſie für mid) Toilette gemacht hatte, denn jie
machte noch einige Knöpfe an ihrer Taille zu. Nach einigen
Minuten jtodender Unterhaltung jchellte ſie und ließ ihren Gatten
rufen. Dann nahmen wir unjer mühjames Gejpräch wieder auf.
Nicht dag Madame Davoujt feine Tournure gehabt hätte oder jener
Art von Geiſt ermangelt hätte, welche die Beziehungen zwijchen
zwei Perſonen aus derjelben jozialen Schicht erleichtert, aber jie
hatte eine gewiſſe Steifheit an jich, welche leicht für Hochmuth gelten
fonnte. Sie vergaß niemals ihren Marjchallsrang , niemals belebte
ein freundliches Lächeln die Züge ihrer jtrengen Schönheit. Immer
blieb fie die Juno... ..
Der Marjchall fam endlich auch und zwar in einem jchweih-
triefenden Zujtande, der jeine Bereitwilligfeit zur Genüge darthat :
er jegte fich) ganz außer Athem und, jein Tajchentud) in der Hand
haltend, um fich die Stirne abzutrodnen, trug er Sorge, zunächit
darauf zu jpuden, um jo jicherer den Staub zu entfernen, mit dem
jein Gejicht bedeckt war. Dieje joldatische Formloſigkeit disharmonirte
ſtark mit den jteifleinenen Manieren jeiner Gattin ; fie war jichtlich
unangenehm berührt davon. Ich fand, daß meine Anwejenheit
Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 247
bei diejer jtummen Szene überflüjfig war, jtand auf und wollte
mic; empfehlen, wurde aber gebeten, zum Frühſtück dazubleiben.
Um die Zeit, bi8 das Ejjen bereit war, auszufüllen, machten wir
eine Promenade durch den Park. Gebahnte Wege gab es darın
nicht ; der Raſen war hoch aufgejchofien, das reine Heu; die
während der Revolution gefällten Bäume trieben wilde Schöflinge;
an jedem Strauch blieb ein Feen meiner Volants hängen, und
meine lila Schnürjtiefel jchimmerten in grünlichen Farbentönen.
Der Marjchall trieb uns mit Stimme und Gejten an, indem er
uns eine himmlifche Ueberrajchung verſprach. Aber wer bejchreibt
meine Enttäujchung, als ich hinter einer Gruppe junger Eichen drei
fleine aus Weidenruthen geflochtene Käfige erblidte. Der Herzog
ließ jich auf ein Knie nieder und rief: „Da find fie, da find jie !*
Dann modulirend: „Pi! Pi! Pi!“ Darauf jtieg ein Volk Reb—
bübner in die Höhe und flatterte dem Marjchall um den Kopf.
„Laſſen Sie die anderen erjt heraus, wenn die Jungen da jind,
und aeben Sie den Damen Brod ; jie werden fich föniglich amüfiren, “
jagte er zu einem Bauernlümmel, welcher die Funktionen eines
Oberförjters verrichtete. Und jo fütterten wir denn in glühender
Sonnenhige Rebhühner !
Die Herzogin leerte mit unerjchütterlicher Ruhe und Würde
den ihr gereichten Korb. Was mich betrifft, jo war ich einer Ohn—
macht nahe, und da ich es nicht mehr aushalten konnte, jo bemerfte
ich, der Himmel jchiene jich zu bededen, und wir wären von einem
Gewitter bedroht. Bei der Nüdfehr in das Schloß nahm ich wahr,
wie Maurer damit bejchäftigt waren, einen Thurm anzujtreichen,
der bisher dem Safrilegium einer Nejtauration entgangen war und
noch jene PBatina aufwies, welche die Zeit allein verleihen fann.
Sch vermochte mich nicht einer gewifjen Kritif zu enthalten. Die
Marjchallin verjtand mich ; ich glaubte jogar aus ihrem Blid und
ihrem jpöttijchen Lächeln entnehmen zu fünnen, daß wegen Ddiejes
Ihurmes ein ehelicher Streit vorgefallen war. Der Gatte verhehlte
mir nicht, daß meine Bemerfungen nicht nad) jeinem Gejchmad
waren. Er ſprach fich jogar jehr energijch gegen die Verrückt—
beit mit dem alten Mauerwerk aus.
Als das Frühitüd vorbei war, drückte ich mich jchleunigit,
indem ich mir, freilich etwas jpät, gelobte, daß man meiner nicht
wieder habhaft werden jollte. Auf dem Rückwege dachte ich über
alles Gejehene nach) und fam zu dem Ergebniß, daß das jchöne
Frankreich doch jonderbare Kontrajte in ich jchlöfle, indem Die
248 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Srandjeigneurs der alten Gejellichaft lächerlich) unwijjend wären,
die Helden des Tages aber die mit ihrem Blute erfauften Reich—
thümer in einer jehr fnaujerigen Manier genöfjen.“
An dieſe Erzählung jchlieft die Gräfin eine allgemeine
Charafterijtif des Hofes Napoleons I. an, die in manchen Zügen
an die Schilderung erinnert, welche Bismard in feinen „Gedanken
und Erinnerungen“ von dem Hofe Napoleons III. entwirft, und
in anderen Zügen an — si parva magnis componere licet —
Sardous Madame Sand Gene: „Diejer Hof“, jagt die Potoda,
„Jo prächtig von Weitem, verlor, wenn er in der Nähe gejehen
wurde. Man nahm dann eine gewijje Verwirrung und Dis:
harmonie wahr, welche das mit gutem Recht vermuthete Bild der
Größe und des imponirenden Glanzes verjcheuchten. Neben hoch—
elegante und reich gejchmücte Frauen jtellten jich die Gattinen der
Marjchälle, die e8 von Haus aus durchaus nicht gewöhnt waren,
den Hofmantel zu tragen. Ungefähr ebenjo verhielt es jich mit
ihren Männern, deren gejtidte Uniformen, jo glänzend bei der
Parade, jo jchön auf dem Schlachtfelde, unangenehm mit recht
wenig höfijchen Ausdrüden und Manieren konſtraſtirten. Zwiſchen
ihnen und denen vom Ancien Regime, welche fich der im Beſitz der
Gewalt befindlichen Regierung angejchlojjen hatten, herrjchte eine
geradezu choquirende Berjchtedenheit. Man hätte glauben mögen,
einer Theaterprobe beizuwohnen, auf der die Schauspieler den Effekt
ihrer Koſtüme verjuchten und ihre Rollen herjagten. Diejer jonder-
bare Mifchmajc würde ein Segenjtand des Hohngelächters geworden
jein, wenn nicht die Hauptperjon einen jolchen Reſpekt und eine
jolche Furcht eingeflößt hätte, dai der Gedanfe an das Lachen einem
verging oder wenigjtens in jeiner Wirfung gelähmt wurde.“
Der Aufenthalt der Gräfin Anna in Baris fällt in den Sommer
1810, aljo in eine Zeit, wo ſich der Zujammenjtog Napoleons mit
Nußland jchon vorbereitete. Deshalb wurde die Schwiegertochter
des polnischen Minijterpräfidenten von dem Kaiſer mit jehr großer
Auszeichnung behandelt. Bejondere Aufmerkjamfeit erregte bei den
Bartjern ein Zwiegejpräch zwijchen den Beiden auf einem Ball im
Kriegsminiſterium: „Dieje Unterhaltung, welche lang genug war,
um auf mich neidijch zu machen, gab zu dem jinnlojeiten Gerede
Anlaß. Mehr als eine Frau war etferjüchtig auf das, was man
meine Bojition nannte, und Biele jehnten jich heimlich nach der
Gunst, welche fie zu verjchmähen vorgaben. An den nächjten
Tagen erhielt ich eine Anzahl von Bejuchen ; mehrere Berjonen,
Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 249
die bis dahin nicht daran gedacht hatten, mir dieje Höflichkeit zu
erweijen, gaben ihre Karte ab, und ich jagte mir, daß in Bezug
auf niedrige Gejinnung alle Höfe einander ähnlich find, die neuejten
wie die älteiten.”
Kurz nach jenem viel erörterten Ballgejpräch erhielt Gräfin
Anna eines Abends von Ihren Majejtäten eine Einladung auf
den folgenden Tag jechs Uhr nach Saint:Eloud, zum Mittag:
eſſen en famille. Dieſes Diner bildet einen der Höhepunkte
der Yebenserinnerungen unjerer Berfajlerin: „Es war gerade
Hoftrauer; ich ſchickte aljo jofort zu Madame Germont, um
eine den Umſtänden angemejjene Toilette zu bejtellen. Sie ließ
mir durch meine SKammerfrau jagen, daß der Kaiſer Schwarz
nicht liebe, dab deshalb eine derartige Trauer, bejonders auf dem
Lande, in Weiß getragen würde, und daß ich bis zwölf Uhr Mittags
alles Nöthige haben würde.
Um halb jechs Uhr fuhr ich an dem Parkthore von Saint:Cloud
vor... . der dienjtthuende Kammerherr führte mich in den Salon,
wo die Herzogin von Montebello in ihrer Eigenjchaft als Ober:
hofmeiſterin ziemlich fühl die Honneurs machte . . . . Die Kaiſerin
trat präziſe um ſechs Uhr ein, begleitet von ihrer dame d'atour, einer
Frau aus der alten Gejellichaft . . . Marie Louiſe war ſehr ein—
fach angezogen, ſie trug ein weißes, mit einer ſchwarzen Borte
geſäumtes Kleid. . . . Die Fürſtin Borgheſe kam einen Augenblick
ſpäter, dann der Kaiſer und der Großherzog von Würzburg, der
Onkel der Kaiſerin . . . . Hinter ihnen betrat der Miniſter des ,
Inneren, de Montalivet, das Gemach. Das war Alles . . .“
Auf der Stelle fam bei Napoleon der rüde Plebejer zum Bor-
jchein, und das wiederholte ſich während der Gejellichaft mehrere
Male; die Gräfin PBotoda, welche als Polin einen abgöttijchen
Napoleonkultus treibt, ipricht das nicht geradezu aus, deutet es in—
dejjen verjtändlich genug an... Sie fährt in ihrer Schilderung
folgendermaßen fort: „Nachdem der Kaiſer an mich einige Worte
gerichtet hatte, flingelte er und fragte, ob die Equipagen bereit
jtänden. Auf die bejahende Antwort hin, die er erhielt, jchlug er
uns eine furze Fahrt durch den Park vor. Er gab der Kaiſerin
den Arm, und Beide jtiegen in eine elegante, A l’anglaise mit
ſechs herrlichen Braunen bejpannte Stalejche, auf der ſich drei Jockeys
in grünsgoldener Livree befanden. Wir folgten in einem hübjchen,
ganz offenen, jechsfisigen Korbiwagen. Der Großherzog von Würz-
burg ſah ziemlich verlegen aus und jprad) mit der Fürſtin
250 Die Memoiren der Gräfin Botoda.
Borgheje nur wenig . . . . überhaupt wurde das Schweigen nur durch
die Klagen und die Seufzer der drei Damen unterbrochen, die, ohne
Hut, dem Staub und den Sonnenjtrahlen ausgejegt waren. So
durcheilten wir, immer im vollen Trab, alle Alleeen des Parks,
ungefähr eine halbe Stunde lang. An den Biegungen des Weges,
wo Sich die Fahrt nothwendiger Weije verlangjamte, bemerkte ich
überall Perjonen, die Bittjchriften in den Händen hielten und auf
ein Zeichen des Kaiſers warteten, jie ihm in die Kaleſche zu werfen.
Dieje Fahrten waren eine von jenen Kaprizen des Kaiſers, deren
Unangenehmheit für jein Gefolge er nicht begriff, und natürlich
wagte Niemand, ihm eine Bemerkung darüber zu machen. Wenn
die Kaleſche nach Haufe fam, war der Vorderjit immer ganz bededt
mit Papieren... .
Als wir wieder daheim waren, war angerichtet. Der Kaijer
gab Marie Louije ein Zeichen, ihres Onfel® Arm zu nehmen und
in den Speijejaal zu gehen. Er folgte, wir traten auch ein, aus—
genommen die dame d’atour und die Herzogin von Montebello,
die jich zu meiner großen Ueberraſchung in einen anderen Saal
begaben, wo eine Tafel von 30 Gededen wartete.
Die fatjerliche Tafel hatte die Form cines Nechteds. Die
Ktaiferin und ihr Onfel, beides jtumme lebende Bilder, jahen an
der einen Seite. Napoleon, ihnen gegenüber, hatte die beiden
Plätze neben jich leer. Die Fürſtin Borgheje und ich befanden ſich
an der einen der fürzeren Seiten, de Montalivet an der anderen...
Es war Ende Juni und jehr hell; die Sonne durchdrang das
Laub mit ihren Strahlen, aber troß dieſes Glanzes waren bei
offenen ?Fenjtern die Standelaber angezündet. Diejes Zwielicht
wirkte jehr unangenehm. Es war eine bizarre Kaprize, aber man
verjicherte mich, daß der Kaiſer niemals anders ab. Ein Page
jtand, die Serviette in der Hand, hinter jeinem Stuhl und jchidte
jih an, eine Schüſſel zu reichen, aber Napoleon litt es nicht, ein
Diener that den wirflichen Dienit.
Servirt wurde mit einer rapiden Schnelligkeit und jo leije wie von
Sylphen. Napoleon af wenig und jehr raſch; er bevorzugte einfache
Gerichte. Um die Mitte des Mahles reichte man dem Kaiſer auf
einer platten Schüffel, welche nicht zum Menü gehörte, Artiſchocken
in Bfefferfauce. Er fing an zu lachen und forderte uns auf, jeine
bejcheidene Kojt zu theilen, indem er diejes Eremitengericht jehr
(lobte. Aber da jich Niemand verjucht zu fühlen jchien, davon zu
fojten, jo ließ er die Schüffel vor ſich hinſetzen und ließ nichts darauf.
Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 251
Im Gegenjat hierzu bejchäftigte ſich die Kaiſerin jehr eifrig
mit den ihr gereichten Schüfjeln, wies feine zurüd und jchien von
dem rajchen Tempo, in welchem fie auf einander folgten, unangenehm
berührt zu jein. Gegen das Ende des Ejjens brad) der Kaiſer das
Stilliehweigen, wendete jich an de Montalivet und fragte ihn wegen.
der Arbeiten am Berjailler Schloß, das man zu rejtauriren anfing :
„ch will,“ jagte er, „die Barijer amüjiren wie früher ; Sonntags
müſſen die Wajjerfünjte jpringen. Aber it es wahr, daß unter
Ludwig XVI. Ddiejes Vergnügen jedes Mal 100000 Franken ges
fojtet hat?” Der Minijter bejahte, und Napoleon fuhr fort:
„Das iſt viel Geld! Bloß damit man hingehen und Wajjerjtürze
bejehen fann! Wenn ich aber den Barijer PBflajtertretern diejes
Plaiſir verjage, diejen Yeuten, denen das Vergnügen über Alles
geht, dann werden jie nicht veritändig genug jein, um einzujehen,
daß ich es thue, um von einer jo bedeutenden Summe einen
bejjeren Gebrauch zu machen.“
Indem über die Gärten dieſer königlichen Nefidenz und ihre
ungeheure Ausdehnung gejprochen wurde, fonnte er nicht auf den
Namen des berühmten Lenötre fommen, der jie angelegt hat. Ein
eigenthümlicher Zufall fügte e8, daß auch de Montalivet fich diejes
Namens nicht zu entjinnen vermochte, und jo bemühten jich Beide
ohne Ergebniß.
Ich unterfing mich, ıhm der Fürſtin Borgheje ins Ohr zu
flüjtern, die ihn laut wiederholte.
„ech ja!” jagte Napoleon. „Das haft Du übrigens nicht aus
Dir jelber. Ich möchte wetten, daß Du überhaupt nichts von der
Erijtenz Yenötres gewußt haft; er iſt ja nicht zu Deiner Zeit ge:
jtorben.“ Dann jah er mich mit einem überaus liebenswürdigen
Blid an.
Wir befanden uns hart vor der Aufhebung der Tafel, als der
Kammerherr dem Kaiſer meldete, der Bizefünig von Italien erwarte
ihn im Garten. Er jtand ohne Weiteres auf, ohne Marie Louiſe
die Zeit zu lajjen, mit ihrem Eis fertig zu werden, was fie jo er:
bitterte, daß jie jich nicht enthalten fonnte, ſich bei ihrem Onfel
darüber zu beklagen.
In den Salon zurüdgefehrt, wo die beiden Damen vom Dienit
uns bereits erwarteten, fanden wir dort die Fenſter ganz weit offen;
jie jchauten auf die Hauptallee des Parfes. Prinz Eugen ging
dort in der größten Aufregung auf und ab; jobald Napoleon ihn
bemerft hatte, ging er ıhm entgegen. Nach der Lebhaftigfert ihrer
252 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.
Unterhaltung zu urtheilen, mußte der Gegenjtand jehr ernjt jein
Der Kaiſer gejtifulirte wie ein echter Korje: der Prinz jchien Be-
ichwichtigungsverjuche zu machen ; man begriff leicht, daß Napoleon
unzufrieden war. Der lang der Stimmen fam bis zu uns, aber
‚der Wind verjchlang die Worte.
.. Da Alles einmal ans Tageslicht fommt, bejonders an
den Höfen, wo jo viele Augen und Ohren offen find, um Alles zu
jehen und zu hören, jo vernahmen wir bald nachher, was die Ur:
jache diejes Ungemitter8 gewejen war: der PVizefönig, von jeinem
Schwager, dem König von Holland, beauftragt, dem Staijer Die
Abdanfung des zuletzt Genannten mitzutheilen, hatte jich dieſes
jchwierigen Auftrages entledigt und höchſt wahrscheinlich Anftrengungen
gemacht, feinen Schwager zu entjchuldigen.
Im Salon herrjchte inzwischen ein ununterbrochenes Schweigen ...
Die Kaiferin jprach fein Wort ; neben ihrem Onfel figend, der ihr
das Beijpiel aljoluter Stummheit gab, jah jie gedanfenlos aus dem
‚senjter, ohne ſich um die Vorgänge im Park im Geringijten zu be:
kümmern, wo Die immer jtürmijcher jich geitaltende Unterhaltung
noch fortdauerte . . . . Endlich fam Napoleon wieder ; jein Antlitz
war jtreng aber ruhig ; er ging auf de Montalivet zu und jagte
ihm, daß er jich am anderen Morgen um fünf Uhr nach Klein—
TIrianon begeben würde, das man für die junge Herrjcherin im
Stand ſetzte. . . . Dann zog der Kaijer mich in eine Fenſterniſche
und fragte mich, welche Neuigfeiten ich aus Polen hätte, und ob
es wahr wäre, daß Kaiſer Alerander jeine nicht in Rußland wohnen
wollenden polnijchen Untertanen mit der Güterfonfisfation be-
drobe. Da ich gerade am Vormittag einen Brief von meinem
Schwiegervater erhalten hatte, befand ich mich in der Yage, eine
Ihatjache bejtätigen zu fönnen, an welcher der Kaiſer zweifeln zu
wollen jchien. Ich ſprach von der Nothwendigfeit, an meine Ab:
reife zu denfen.
„Machen Sie jich feine Sorge,“ jagte er zu mir mit jenem
gnädigen Yächeln, das nur ihm eigenthümlich war, „amüſiren Sie
jich, und denfen Ste nod) nicht daran, Ihre Koffer zn paden.“
So liegen gelegentlic) hingeworfene Worte auf einen Krieg
mit Nußland jchliegen, von dem noch Niemand zu jprechen wagte,
aber den jchon Alle für unvermeidbar anjahen, in Anbetracht der
ungeheuren Borbereitungen, deren Zwed man freilich verjchwieg :
„Was wiünjchen Sie, daß ich Ihnen aus Indien mitbringe ?* fragte
mich eine der einflußreichiten Berjönlichkeiten der Epoche. „Lieber
Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 253
etwas aus Moskau oder aus Petersburg,“ verjegte ich, um ihn aus:
zuhören: „Möglich, daß wir da durchfommen, aber ich denke, Sie
werden eine erlejenere Beute vorziehen. Wir haben den Pyramiden
guten Tag gejagt; es würde jegt in der Ordnung jein, 'mal bin:
zugeben und zuzujehen, was unjere Nebenbubler vom anderen
Ufer des Kanals machen.“
Alles, was ich bier erzähle, wird jpäteren Zeiten wie aus
Taujend und einer Nacht vorfommen, und doch habe ich es mir
zum Geſetz gemacht, in nichts von der jtrifteiten Wahrheit abzu:
weichen, aber man war jo an Wunder gewöhnt, dab das Wunder:
bare möglich und das Unmögliche ausführbar erjchien.
Sch fomme auf die Gejellichaft in Saint-Cloud zurüd, . . . .
die mit einem erhebenden Schaujpiel jchlog: Talma jpielte „Hektor“.
Es war ein Triumph für diefen wunderbaren Schaujpieler, der
mit einem jchönen Organ edle Bojen und Gejten und jelten regel:
mäßige Züge verband. Wenn er jein Haupt mit dem Lorbeerfranze
umwand, hätte man meinen mögen, einen antifen Iriumphator
vor ich zu haben, der im Begriff war, einen von Sflaven gezo—
genen Wagen zu bejteigen. Man vergaß den Schaujpieler und
Dachte nur noc) an den Helden. Das NAuffallendite an ihm war
jeine große Nehnlichkeit mit Napoleon, bejonders im Profil. Man
hätte fie für Brüder halten mögen ; nur die Augen und ihr Aus—
drucd waren verjchteden, bei dem Einen lag Tiefe darin, bei dem
Anderen eine affeftirte Hoheit.
Paris war majjenhaft vertreten. Der Saal war nicht ge-
räumig, man ließ taufend Intriguen jpielen, um einen Play zu
befommen. Der Kaiſer verfügte über die Logen jelber ; die ‘Bar:
terre= und ©alleriebillets3 wurden von den hohen Hofbeamten ver:
theilt. Mein Billet berechtigte mich zum Gintritt in die Diploma-
tenloge, die genau neben der faijerlichen lag. Man genoß dort
zwei gleichermaßen interefjante Schaujpiele zu gleicher Zeit.
Napoleon, ein Liebhaber jchöner Verſe, jchten von dem Wunjche
erfüllt zu jein, wenn nicht jeine Begeijterung, jo doch mindeitens
jeine Befriedigung der jungen Staijerin mitzutheilen, welche, unbe-
weglich auf ihrem mit goldenen Adlern verzierten Seſſel ſitzend,
ihre Blide im Saal umherjchweifen ließ und jie nur für Augen:
blide auf die Bühne richtete, eigentlich nur, wenn fie durch das
Beifalltlatjchen des Katjers quasi dazu gezwungen wurde; er er
trug mit einer jeltenen Geduld die apathiiche Sleichgiltigfeit jeiner
Lebensgefährtin.
254 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.
Nachdem die Aufführung gegen elf Uhr beendigt war, grüßten
uns Ihre Majejtäten und zogen fich zurüd. Darauf erdröhnte
die glänzend beleuchtete Straße nad) Paris unter den Hufen der
Kutjchpferde aller Derer, welche diefem Schaujpiel beigewohnt
hatten, das in doppeltem Sinne ein königliches genannt werden
fann, jo bewunderungswürdig war das Spiel Talmas.
Sp endigte diejer große und glänzende Tag, der die lujtigiten
Vorkommniſſe in jeinem Gefolge hatte. Talleyrand, dem es bis
dahin nicht eingefallen war, mir perjönlich Bijite zu machen, jon:
dern der es bisher für ausreichend gehalten hatte, jeine Karte bei
meinem PBortier abzugeben, fam gleih am andern Morgen und
fragte mich nach den Details des Dinerd vom vergangenen Tage.
Er verjuchte jehr gejchiekt, mich über das, was ich gejehen und ge-
hört hatte, auszufragen. Ich begnügte mich damit, ihm zu jagen,
was er jehr wahrjcheinlich jchon wußte; gegen feine Gewohnheit
war er mujterhaft höflich, jprach von Polen überaus jchmeichelbaft
und [ud mich endlich) zum Frühſtück in jeiner Bibliothek ein. Sch
entjprach diejer Einladung ſehr bereitwillig, und da ich darauf
halte, immer nur die Wahrheit zu jagen, jo muß ich gejtehen, dat
ich niemals einen entzüdenderen Vormittag verlebt habe. Talley-
rand machte mir bei feinen Schägen die Honneurs; es war jehr
natürlich, daß fich bei einem Millionen reichen Kenner die jchöniten
und jeltenjten Editionen zujammenfanden, aber nichts war der
Art und Weiſe vergleichbar, wie er feine Bücher zeigte; er jagte
niemals, was man jchon wußte, oder was Andere vor ihm gejagt
oder gejchrieben hatten ; er jprach jehr wenig von jich jelbit, viel
von hervorragenden Leuten, mit denen er Beziehungen gehabt
hatte. Mit einem Wort: er zeigte jich jo unterrichtet, wie es ein
Srandjeigneur, der jeinem Vergnügen viel Zeit widmet, nur jein
fann. Um diejes jchmeichelhafte aber nicht gejchmeichelte Porträt
zu vollenden, will ich noch jagen, daß Talleyrand die wunderbare
Kunſt bejaß, wenn er von der Gegenwart jprach, jeine Vergangen:
heit für einen Augenblid vergejien zu machen.“
Wir müfjen jebt zu den Privatverhältnifjen der Gräfin Po-
toda zurüdfehren: Ihr Liebhaber Flahault war fein unbedeutender
Mann, nach jeiner jpäteren Karriere zu urtheilen, denn nad) dem
Treffen von Mohilew im Juli 1812 wurde er mit fiebenundzwanzig
Jahren Brigadegeneral, während der Schlacht von Leipzig ernannte
Napoleon den Achtundzwanzigjährigen zum Divifionsgeneral und
jpäter zum Neichsgrafen und zum Bair. Unter Youis Philipp iſt er
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 255
Botjchafter in Berlin und in Wien, unter Napoleon III. in London
gewejen. Er hatte das Scidjal, am Tage der Schlacht von
Sedan zu jterben. Einen weniger guten Namen als diejer Held
hat jeine Mutter, Madame de Souza, damals eine berühmte Ro—
manjchriftitellerin, hinterlajjen. Die Gräfin PBotoda lernte fie in
Paris fennen und erfuhr, daß fie eine jtürmijche Jugend hinter fich
hatte. Das jtieß die Potoda aber weniger ab; dagegen fühlte fie
jich, und wir fünnen ihr das nachfühlen, jehr unangenehm durch
die Taftlofigfeit berührt, mit welcher Madame de Souza ihrem
mütterlichen Stolz über die reizende von ihrem Sohne aus Polen
heimgeführte Beute Ausdrud verlieh. Nechte Freundinnen wurden die
beiden Damen deshalb nie, obwohl jie es in Anbetracht ihres
beiderjeitigen Verhältniſſes zu dem jungen Flahault jchielich fanden,
in Gejellichaft auf freundjchaftlichem Fuß mit einander zu verfehren.
Ueber Madame de Souza geben uns die Geheimberichte der Pariſer
Agenten Ludwigs XVII. aus den Jahren 1802 und 1803, welche
Sraf Remacle vor wenigen Monaten veröffentlicht hat, pifante
Aufſchlüſſe. Sch komme auf Remacles Buch vielleicht in einer
Ipäteren Nummer diejer Hefte zurüd aber jchwerlich auf Madame
de Souza und will deshalb die Gelegenheit benußgen, den auf dieje
Frau bezüglichen fittengejchichtlich jehr interejjanten Geheimbericht
hierherzujegen; zumal er von feinem geringeren Berfajjer herrührt
als von Royer-Collard. Er lautet: „Eine Neuigfeit, welche die
Zeitungen jchon gebracht haben, mit welcher ſich aber in Ermange-
lung eines bejjeren Stoffes die Salons doch bejchäftigen, it die
Herrath der rau von Flahault mit dem portugiejiichen Gejandten
Herrn von Souza. Herr von Souza iſt nur durch feine Stellung
befannt, Frau von Flahault dagegen it jehr, jehr befannt. Sie
it berühmt durch ihre Nomane und durch ihr eigenes Leben, das
auch ein Roman iſt, viel weniger moralisch aber auch pifanter als
die, welche jie gejchrieben hat: Tochter einer Weinhändlerin in
Orleans, eine geborene Filleul, wurde fie von einer englischen
Nonne im Klojter erzogen und heirathete ziemlich jpät den Bruder
des Grafen d’Angivillier8 [den Grafen de Flahault). Ste be-
bauptet, ihre Ehe mit diefem Manne, den jie gehaßt habe, niemals
vollzogen zu haben. Ihren Sohn [unjeren Helden], für den fie
die Zärtlichkeit einer Merope affektirt, hat fie, wie fie behauptet,
von dem gewejenen Bijchof von Autun [Talleyrand|. Andere
wollen wijfen, er wäre von Montesquiou, dem damaligen aner-
fannten Liebhaber der liebenswürdigen Adele. Aber ein Wort von
256 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
ihr fällt zu Gunjten Talleyrands in die Waagjchale: Als fie ihrer
Schwangerjchaft gewiß war, da ging fie zu ihrer beiten Freundin
und jagte ihr: „Beflagen Ste mich; ich habe mic) unglüdlich gemacht;
ich muß von dem Abbe von Perigord in Wochen.“ Dieje Natvetät
fünnte belujtigend erjcheinen, aber bei dem Charakter unjerer Heldin
darf jie nicht jo aufgefaßt werden, denn jie wägt alle ihre Worte und
Schritte ganz genau. Jedenfalls jteht joviel feit: da die Gräfin
Flahault bei Hofe nie vorgeitellt wurde und zu Beginn der Revolution
mit den beiden Männern liirt war, welche ich genannt habe, jo ging
jie und mußte fie gehen in das Lager der Konjtitutionellen.
Die Schredensherrjchaft fam, und Graf ‚slahault wurde
quillotinirt. Böſe Zungen behaupten, daß die Gräfin mit
Agrippina habe jagen fünnen: „Mille bruits en courent à ma
honte.“ Sie emigrirte und bejchloß, jich wieder zu verheiratben ...
Die Details ihres Aufenthaltes in der Schweiz würden uns zu
weit führen... .; furz fie wollte jich von ihrem jo vielfachen
Fall durch einen glänzenden Streich für immer erheben und warf
ihre Nete nach dem jungen Herzog von Orleans aus dem jpäteren
König Louis Philipp], der ebenda in der Zurüdgezogenheit wohnte.
Ihre Fortſchritte waren rapid . . . . , als ein geweiener Adjutant
von Dumouriez, ein Herr von Montjoye, .. . . den jungen
Herzog... . zu einer Neije nad) Yappland veranlaßte, wo das
Eis des Nordens jeine Yeidenjchaft auslöjchte. Dann führte ihr
Glück Madame de lahault den Herrn von Zouza zu, gerade
dem Mann, der am meiften dazu gejchaffen war, betrogen zu
werden, und dem man es am wenigiten gönnt, es zu fein. Er it
nett und gebildet und hat alle gejellichaftlichen Vorzüge; ſein
Sharafter iſt die Aufrichtigfeit und Ehrlichkeit jelber, aber der Lit
dieſer Kokette fonnte er nicht widerjtehen. Site thaten jich zu:
jammen und bezogen in Altona eine gemeinjame Wohnung, wo fie
den ganzen Tag gemeinjam verlebten, aber ihre Nächte bewilligte
ihm die Gräfin Flahault nicht, wie Die Fortſetzung unjerer
Gejchichte lehren wird. Man jprad; von ihrer Heirat als von
einem jehr nahe bevorjtehendem Ereigniß . . . . und man fönnte
ein Buch darüber jchreiben, was die Gräfin alles that, um ihre
Beute zu umgarnen, und von ihren Liſten, damit Souza von
ihrer Vergangenheit nicht mehr erfuhr, als fich jchlechterdings nicht
verhehlen ließ, von den Yiebesjzenen, welche jie jpielte, von den
Anjtrengungen, welche fie machte, um ſich das Wohlwollen der
Freunde ihres Geliebten zu erwerben . . ..
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 257
Da fam der 18. Fructidor, .... und das Direktorium
machte Talleyrand zum Miniſter. Frau von Flahault fehrte nad)
Paris zurüd, denn Miniſter QTalleyrand war für fie ein ganz
anderer Gatte oder wenigitens ein ganz anderer Liebhaber als der
portugiejiiche Kandidat. Aber rau Grant war jeine Meaitrejje.
‚rau Grant ijt*jehr dumm, und ihre Nebenbuhlerin hielt e8 nicht
für jchwer, fie aus dem Sattel zu heben. Sie dachte an Souza
nur noch als an einen Nothnagel, aber o weh! fie täujchte jich.
Ein Wit, den fie ſich über Madame Grant erlaubte, trug ihr
(ganz buchitäblich zu nehmen) von Seiten des Bijchof-Minijters
einen Fußtritt ein und entzweite fie volljtändig mit ihm. Frau
Grant blieb Siegerin auf dem Schlacdhtfelde. Der Gräfin Flahault
that es jett vielleicht jehr leid, Souza vernachläjligt zu haben,
aber jie ließ den Muth nicht jinfen, fie geduldete ſich . . . . Die
Zeit konnte Alles ändern, mildern, ebenen. Madame de Flahault
verjüßte fich dieſe Wartezeit, indem fie ſich das Mitglied des
Iribunats, Gallois, als Liebhaber anjchaffte, einen ehrenhaften und
bejcheidenen Mann, von dem fie wuhte, daß er ſich, ohne Auf:
jehen zu erregen, wieder abjchaffen lieg. Sie räumte ihm in
ihrem Hauje ein Zimmer ein, jogar mit voller Penſion. Nachdem
dieje Kleine Angelegenheit befriedigend geordnet war, umgab jie
jich mit einer Gejellichaft von anjtändigen Yeuten, die fie zum
Narren hielt, und, um ihrer privatijirenden Lebensweiſe einen
würdigen Anjtrich zu verleihen (otium cum dignitate), jchrieb jie:
„Karl und Marie*. Ihre Hoffnungen fingen bald an, in Er—
füllung zu gehen: der Friede mit Portugal wurde gejchlojien;
Souza fam nad) London, um dort abzuwarten, wann er nach
Paris fommen fonnte.
Demgemäh brachte Gräfin Flahault jet zu Sunjten des An—
jtandes ein Opfer auf Kojten ihrer Bequemlichkeit: Freund Gallois
wurde zwei Thüren weiter weg einlogirt und fing an, feinen
Freunden von Herrn von Souza zu jprechen, der jchließlich wirklich
nad) Paris fam. Nach einigen Monaten fam dieſe große Affaire
zum Abſchluß. Ueber den Moment der Ehejchliegung wurde das
jtrengite Geheimniß beobachtet, und, außer den Trauzeugen, erfuhr
Niemand eher, was fich abjpielen jollte, als bis es zu jpät war,
die Sache zu verhindern.
Man fann jich vorjtellen, was über diefe Heirath zuſammen—
geflatjcht worden ijt, aber die Anderen wiſſen nicht joviel darüber,
wie der Schreiber diejer Zeilen. Man fieht, dat Frau von Flahault,
Breußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 17
258 Die Memoiren der Gräfin PRotoda.
die von nichts her iſt, mit dreiundvierzig Jahren, ohne Vermögen,
mit deu denkbar jchlechteften Ruf, einen jungen, reichen Mann aus einer
der eriten portugiejijchen Familien heirathet . .. das iſt wirklich)
erstaunlich! In den Augen der Leute, welche Madame de Flahault
zum Narren zu halten verjteht, gilt fie noch obendrein als diejenige,
welche ein Opfer bringt. Sie thut dem Herrn von Souza eine
Gnade an, indem fie ihn nimmt. Mit ernjter Miene wird erzählt,
fait das ganze Vermögen gehöre ihm nur zum Nießbrauch. Man
bedauert die arme Dame, daß fie ihre Grazie und ihre Talente in
Lifjabon begraben jol. Man behauptet, daß Souza jie einer
iiberaus ftarren Etikette unterwerfen will, daß ſie nur mit einem
Diener in Livree ausgehen und Männerbejuche nur in Gegenwart
ihres Gatten empfangen darf. Souza will, daß fie die portugiefijchen
Sitten annimmt. Much verjichert man, fie habe bei der Zeremonie
geweint und wäre nur im Intereſſe ihres geliebten Sohnes auf
die Partie eingegangen. Was ich weiß, das iſt, daß fie jich in
ihrem neuen Hötel jehr behaglich fühlt, und daß es ihr großes
Vergnügen bereitet, wenn fie fieht, wie jein Glanz angeltaunt wird.
Was noch pifanter ijt, das find die Yobjprüche, mit denen
man in gewijjen Salons den armen Gallois überjchüttet. Man
rühmt jeine Mäßigung, jeine Reſerve, jeine Entjagung. Man
findet, daß er, indem er fich jtill zurüdzog, als vollendeter
Gentleman gehandelt habe. Man wünjcht ihm zugleich Glüd“ —
aber ich will nun Franzöſiſch fortfahren, denn, was nun folgt, das
weiß nur der Franke zierlich zu jagen, in unferer „plump Spraf*
klingt es entjchieden häßlich. Alfo: „On le felieite en m&me
temps d’ötre delivre d'un benefice dont les charges ont
prodigieusement alter sa sante. On dit Mme. de Flahault
tres exigeante, et comme son nouvel &epoux ne parait pas
promettre beaucoup de ce cöte la, cela ne laisse pas que
d’inquieter une de ses amies. ‚Comment ferez-vous, lui disait-
elle, vous dont le coeur est si brülant, vous qui desirez que
l’on vous donne des preuves d’amour si frequentes ?“
„Oh! ne vous inquietez pas,“ repondit la sensible Adele,
„ee sera l’affaire de quelques verres d’orgeat de plus par jour.“
Ich gebe nun den Schluß des Geheimberichtes wieder deutich:
„Diejenigen, welche die Gräfin Flahault fennen, jtimmen darin
überein, daß fie ihrer Jugend feinen vortrefflicheren Abſchluß zu
verleihen vermocht hätte. Diejenigen, welche Herrn von Souza
fennen, find zwijchen Unwillen und Mitleid getheilt.“
Die Memoiren der Gräfin Potocka. 259
Bekanntlich war Ludwig XVII. ein großer Feinſchmecker,
jowohl in der materiellen wie in der geiftigen Bedeutung des
Wortes, oder, wie Byron von ihm jagte: „Ein Schöngeift, der
die Negeln für Gedichte auswendig weiß, noch bejjer für Gerichte.“
Wie mag er über das zitirte Kabinetsftüd aus der Feder Royer—
Collards gejchmunzelt haben! Und mag die Naconteur-Bajfion
dieſes Schriftiteller® auch in Bezug auf manche Einzelheiten die
Kritik dem Pikanten geopfert haben — im Großen und Ganzen
macht jein Porträt der verjchlagenen Abenteurerin unzweifelhaft
den Eindrud der Naturtreue. Weberdtes hHarmonirt es ausgezeichnet
mit der Auffaſſung, welche ſich die gewiß urtheilsfähige Gräfin
Potoda von dem Charakter der Mutter ihres Liebhabers bildete.
‚sreilich Eonnte auch ihr ärgjter Feind der Madame de Souza
nicht abjtreiten, daß ihren moralischen Mängeln bedeutende in-
telleftuelle Vorzüge gegenüberjtanden. Die Fähigkeiten diejer Dame
fulminirten durchaus nicht, wie es nach dem Bericht Royer-Collards
jcheinen fünnte, in dem Talent, fich eine glänzende Verſorgung zu
erringen, jondern reichten denn doch in etwas höhere Regionen
herauf: Ihre Romane Adele de Senange, Charles et Marie,
Eugene de Rothelin u. a. m. find noch heute nicht völlig ver:
gejien, und ein jo urtheilsfähiger Kritifer wie Sainte-Beuve be-
hauptet, daß einzelne der von ihr gejchaffenen poetischen Figuren
überhaupt nicht dauernd vergejjen werden fünnen.*) Der Wider:
jpruch zwijchen der TQTugendhaftigfeit der Romane von frau
von Souza und der Galanterie ihres Yebenswandels berührt aller:
dings wegen der darin liegenden SHeuchelei recht unangenehm,
aber es muß doch dabei bleiben, daß die Souza eine der Perlen
in jenem Kranz von Hetären war, welcher die Männer der Re—
volution umgab. Sie war entjchieden begabter als z. B. Madame
Tallien, von Jojefine Beauharnats zu jchweigen.
Um auf ihren Sohn zurüdzufommen, jo ijt e8 bei jeiner
Abjtammung nicht auffallend, daß er flatterhaft war, und fo ließ
er denn auch die Gräfin Anna bald genug jiten. Es war fein
Wunder, daß er viel ummworben ward, denn jeine inneren und
äußeren Vorzüge waren glänzend: „Ohne regelmäßig jchön zu
fein,“ jo bejchreibt ihn Gräfin Anna Jahre lang nach der Löjung
des Verhältnifjes, „hatte er ein reizendes Geficht. Sein Blid war
von einer Melancholie verjchleiert, welche einen geheimen Kummer
.® Sainte-Beuves, „Portraits de femmes.* Nouvelle edition. Paris 1876.
©. 42 u. ff.
17*
260 Die Memoiren der Gräfin Botoda.
zu verrathen jchien. Seine Manieren waren elegant ohne Geden-
haftigfeit, jeine Unterhaltung geijtreich, jeine Anfichten jelbitändig;
Niemand hat je vollfommener die Vorſtellung verwirklicht, welche
man ji) von einem Romanhelden und einem untadeligen Ritter
macht. Auch hat jeine Mutter jich jeiner als eines Typus bedient,
den jie unter verjchiedenen Namen in ihren himmlischen Romanen
reproduzirt hat.“
Die Gräfin Botoda, die den Ungetreuen überhaupt jehr jchonend
behandelt, verjchweigt abjolut, welche Frau jie ausgejtochen hat;
wir wijjen jedoch von anderer Seite, daß es feine Geringere ge:
wejen ijt als Königin Hortenje von Holland, die MutterNapoleons III.,
deren Gemahl ebenjo unheilbar fühl war wie Monjieur de Souza.
Im Sommer 1810 verließ Gräfin Anna Paris, um in ihre Heimath
zurüdzufehren ; im Herbſt des folgenden Jahres entiprang den Um:
armungen Flahaults mit der Königin von Holland der Herzog von
Morny, an Talent wie an rivolität der würdige Enkel der
„gerühlvollen Adele“.
Die Botoda behauptet, daß fie gerade im Begriff gewejen jet,
ihre Grundjäge fahren zu laſſen und jich Flahault zu ergeben, als
die ritterliche Ader in dejjen Natur in Wallung gerathen wäre, und
er ihr Kenntniß von den neuen von ihm gefnüpften Banden ge:
geben habe: „So behielt ich das Necht, ihm beim Abjchied mein
Porträt zu geben mit dem Gedicht von Legouvé entlehnten
Sinnjpruche :
(est moins qu’une maitresse et bien plus qu’une amie.
AS ich darauf zu meinen Kindern zurüdgefehrt war, da fiegte
nach) und nach das dem Freunde, der mich meinen heiligiten Pflichten
wiedergegeben hatte, geweihte Gefühl der Hochachtung und Dank—
barfeit über halb jchmerzliche, halb jühe Erinnerungen.“ So ver:
jteht es ein franzöftjch empfindendes Frauenherz, unterjtüßt von der
Gewandtheit der franzöfiichen Sprache, über Abgründe binweg-
zugleiten !
Die Memoiren unjerer Berfafjerin erjtreden jich noch über die
Feldzüge von 1812 und 1813, jowte über die Gejchichte des im
Perjonalunion mit Rußland wiederhergejtellten Königreichs Polen
und bleiben Zeile für Zeile jehr interefjant. Ich breche jedoch
meine Bejprechung an diejer Stelle ab; nur das folgende charalte-
riſtiſche Hitörchen hebe ich noch heraus, das Gräfin Anna von dem
Adjutanten Napoleons, Oberjten Wonjowicz, den fie nach dem
Tode des Grafen Potodi in zweiter Ehe heirathete, gehört hat:
Die Memoiren der Bıäfın PRotoda. 261
Nachdem der Kaiſer die Trümmer jeines aus Rußland zurückkeh—
renden Heeres heimlich verlajjen und auf der Rückreiſe nach Frank—
reich Warjchau paſſirt hatte, äußerte er zu jeinen Begleitern Cau—
laincourt und Wonjowicz das Verlangen, einen feinen Umweg zu
machen, um die Gräfin Walewsfa auf ihrem Gute zu bejuchen.
Was er bei der Walewsfa machen wollte, das brachte er jenen
beiden den Poſtwagen mit ihm theilenden Herren gegenüber „auf
die allerpifantejte Art und Weiſe“ zum Ausdrud. Befanntlich
pojirte der Kaiſer nach der Statajtrophe von 1812 den mit jeinem
Bolfe fejtverwachjenen Monarchen, welchem weiter nichts pajfirt
wor als der Verlujt einer Armee, die fich durch eine andere erjeßen
ließ. Jenes kleine Gejchichtchen, vorgefallen, während die Sammer:
gejtalten der Großen Armee durch den grenzenlojen bejchneiten
Raum Litauens wankten, verjinnbildlicht ung die ganze Perjönlich:
feit Napoleons, den Menjchen mit jeiner durch nichts zu läuternden
Semeinheit jowie den Herrſcher und Feldherrn mit jeiner unzer—
jtörbaren Seelengröße.
Auch der erite Gemahl der Gräfin Anna bejaß auf jeine Art
unläugbar Seelengröße, denn er lebte mit der — man fann nicht
einmal jagen reuig — in jeine Arme zurüdgefehrten Lebensge—
fährtin, als ob nichts pafjirt wäre, oder beinahe pajjirt wäre.
Gräfin Anna jchenfte ihm noch einen Sohn. Die merkwürdige
rau verjteht ihrer Liebe zu diefem ihrem jüngjten Kinde einen
ebenjo gemüthswarmen wie jprachlich meijterhaften Ausdrud zu
geben: „Iheures Kind,“ schreibt fie in ihren Erinnerungen, „wie
warjt Du jchön und artig. Nie entitellte Weinen oder Schreien
Dein großes, frisches Gejicht. Du wurdejt die Liebe Deiner Mutter
und die Freude des Haujes; Alle beteten Dich an. Ich danke
Dir nod) für das Glüd, das Du mir gegeben hajt.“
Daß die Gräfin Potoda, verwittwet, noch einmal einem Lands—
manne ihre Hand reichte, habe ich jchon erwähnt. Sie ging aber
trogdem wieder nach Paris und fuhr dort fort, mit Flahault Be:
ziehungen zu unterhalten, die jie als eine nach wie vor platontjche
Yiatjon aufgefaßt wijjen will. Nun! Honny soit, qui mal y pense!
Ihr den Denfwürdigfeiten nach dem von Angelifa Kauffmann
gemalten Original beigegebenes Porträt zeigt, dat die Potoda mit
ihren mandelförmig gejchnittenen, träumerijch-Elugen, ſanft-lebens—
vollen Augen, dem etwas großen, beweglichen Mund, Ddejjen
jchwellende Lippen ein gutmüthigsheiteres Lächeln umjptelte, und
mit dem rajjemäßigen Stumpfnäschen zwar feine regelmäßige
262 Die Memoiren der Gräfin Potoda.
Schönheit aber doch eine liebliche und verführerifche Erjcheinung
war. Wen man liejt, was jie über ihre perjönlichen Berhältnijie
jchreibt, hat man zuweilen die Empfindung, daß die Verfajjerin
ji) mit einer großartigen Ehrlichkeit äußert, aber noch öfter fann
man jich des Eindruds nicht eriwehren, dag man echt polntjche
Saljchheit vor jich hat. Ja zuweilen überfommt Einen das be-
jchämende Gefühl, daß man als Deutjcher eigentlich doch zu dumm
it, um das Bud) ganz zu verjtehen.
Was Gräfin Anna aber von Anderen als von jich jelber er:
zählt, das iſt meijtentheils ehrlich ; und dabei ijt es mit Scharfblid
beobachtet und mit Geijt jowie auch mit Gemüth aufgefaßt. Und
dazu die herrliche Gottesgabe ihres Stiles, welcher die Stufenleiter
vom Pathetiſchen zum Witzigen mit der größten Leichtigfeitt auf
und nieder jteigt, welcher Klarheit, Feinheit und Präziſion mit
Wärme, Einfachheit mit Gleganz verjchmiljt. Der in der Gräfin
waltende fünjtlerijche Drang fommt der hijtorischen Wahrheit ihrer
GSejtalten zu Gute: als PBolin möchte fie ihren Napoleon zeichnen
wie einen Gott, aber als Nünjtlernatur it jie dem Zwange zum
Naturwahren und Individuellen unterworfen, und jo malt jie,
nolens volens von ihrer plajtiichen Kraft fortgerifjen, neben dem
Gotte auch den rüden korſiſchen Barvenu. Dieje zahlreichen Bor:
züge bewirken, day man bei der Xeftüre unjerer Berfajierin zu—
weilen von der Stimmung angewandelt wird, zu urtheilen, Alles»
was man bisher über das Napoleonijche Zeitalter gelejen babe, jei
weiter nichts als trodener Notizenfram gewejen. Der Charafter der
Potocka mag nicht bejjer gewejen jein al8 der von hundert anderen
Bolafinnen auch, aber ihr Ejprit ijt jo einzig in feiner Art, daß
man jich vor dem Andenken diejer Frau huldigend verneigen muß.
Sräfin Anna ijt im Jahre 1865 hochbetagt zu Paris gejtorben.
Nach dem Frieden von Tiljit im Jahre 1807 hatte ſie gejchrieben:
„Der König und die Königin von Preußen verdanften Mlerander
das Fortbeſtehen ihres Königreichs, das in der Lilte der Nationen
gelöjcht werden jollte, was wir von ganzer Seele und aus ganzem
Herzen wünjchten.“ Und an einer anderen Stelle ihrer Memoiren
jagt jie von Dalberg : „Er wünjchte aufrichtig die Wiederheritellung
Polens und begehrte leidenjchaftlich die Befreiung Deutjchlands,
zwei Dinge, die jo jchwer mit einander zu vereinigen waren, wie
alle jeine übrigen Gemüthsregungen.“ ALS die glühende Patriotin
nun jtarb, da waren die Kanonen für die Schlacht von Königgräß
bereitS gegojien.
Die Memoiren der Gräfin Potoda. 263
Ihre legten Worte waren: „Ach! Das Leben ijt doch ſchön!“
Der greife Flahault, der im Alter, wie billig, fromm geworden zu
jein jcheint, drücdte ihr die Augen mit den Worten zu: „Adieu,
geliebte Freundin, oder vielmehr auf Wiederjehen !*
Sch jchließe meinen Eſſay, indem ich das jchöne Nachwort
wiedergebe, welches die Gräfin Potoda ihren Lebenserinnerungen
hinzugefügt hat: „......... Ch! Wie bizarr und wie pein=
(ich it das Gefühl, welches Einen, der lange gelebt hat, bejchleicht,
wenn er aufmerfjam jeine Blide hinter jich richtet! Wieviele Er:
eigniffe, die uns bedeutjam erjchienen waren, jind nicht der Ber:
gelienheit verfallen! Wieviel gejcheiterter Ehrgeiz, wieviele ge:
täujchte Hoffnungen, wieviel abgejtumpfte Reue und abgefühlte
Begeifterung!! .... Wieviele für unwiderjtehlich gehaltene Leiden—
ichaften, welche mit der Zeit erlojchen jind! Welches Gewicht, das
elenden Interejjen und eitelen Kindereien beigelegt worden ijt und
feine Spur hinterlafjen hat. Wie unendlich groß it die Zahl der
Berjonen, die dahingefchieden find, die Einen vor dem Alter weg:
gemäht, die Anderen nach der YJurüclegung einer langen und
freudlojen Lebensbahn. Wieviele Handlungen, wieviele Namen,
welche die Uniterblichkeit verdient zu haben jchienen, jind in den Ab—
grund verjunfen, welcher Alles verjchlingt, während minder ver:
dienitvolle Leute jteigen, bloß weil fie mit wichtigen Ereignijien
äußerlich verknüpft find!
Und man ift jelber Zujchauer aller diefer Dramen gewejen,
man bat fich jelber dem gleichen Abgrunde entgegenbewegt —
Freudenſchreie, Schmerzensjchreie, Alles iſt vorüber !
Und wenn wir dem legten Ziele nahe gekommen find, jind
wir dann weijer, find wir gegen Unglück innerlich gewappnet, und
ergeben wir uns ruhig in die Fügungen des Schidjal3 ? Ach!
Der Menjc hört erjt auf, zu leiden und zu hoffen, wenn er zu
leben aufhört! Das Alter modifizirt und verändert die Natur
unjerer Gefühle, aber e8 hebt fie nicht auf.“
Die äſthetiſche Gerechtigkeit.
Bon
Oswald Külpe in Würzburg.
Zu den interejjantejten Problemen, die und im Gebiet der
äjthetiichen Thatjachen entgegentreten, gehört der Unterjchied
zwijchen der Wirkung, welche die realen Erjcheinungen auf uns
üben, und derjenigen, die von einer künſtleriſchen Darjtellung der:
jelben ausgeht. Wie ganz anders würden wir uns zu den
traurigen AZuftänden modernen Großjtadtlebens verhalten, von
denen uns jo viele Romane und Dramen der Gegenwart berichten,
wenn wir fie nicht bloß durch eine eingehende Schilderung fennen
lernten, jondern mit zu erleben Gelegenheit hätten! Vielleicht
würden wir zu helfen, thatkräftig einzugreifen juchen, vielleicht uns
voller Abjcheu davon abwenden oder das bittere Weh empfinden,
welches die Einficht in die eigene Ohnmacht den noch nicht ab:
gejtumpften Gemüthern erwedt, feineswegs aber würden wir in
empfänglicher Theilnahme betrachtend verharren, die uns das
Stunjtwerf als ein jelbjtverjtändliches Verhalten auferlegt. Wenn
wir dieſes Gleichmaß von Interejje, Beobachtung und Stimmung,
das wir dem Unerfreulichen ebenjo wie dem Erfreulichen widmen,
wegen jeiner Vergleichbarkeit mit der fühlen Abwägung von Berdienit
und Schuld bei dem urtheilenden Richter als Gerechtigfeit bezeichnen,
jo ergiebt jich aus den bejchriebenen Ihatjachen der Begriff einer
äjthetiichen Gerechtigkeit. Wejentlich verjchieden von der juriftijchen
und von der jittlichen Form, it fie dazu bejtimmt, dieſe beiden
innerhalb unjerer Weltbetrachtung zu ergänzen und über jie
mildernd und ausgleichend hinauszugreifen.
Die äfthetifche Gerechtigkeit. 265
Der Unterjchied, von dem wir oben ausgegangen jind, ijt be:
reits früh bemerft und zu erflären verjucht worden. Diejenige
Philoſophenſchule des Alterthums, welche die Luſt als das all:
gemeine Prinzip unjere® Wollens und Handels bejtimmte, Die
fyrenaijche oder hedonijche Richtung, hat jchon darauf hin—
gewiejen, daß wir die Klagen der Schaufpieler gern hören, die
wirklichen aber ungern. Sie folgerte daraus, daß nicht alle Luft
förperlich bedingt jein fünne, und hat damit offenbar einen be-
jonderen Urjprung für das Gefallen an dargeitellten Klagen be-
hauptet. Sodann hat Arijtoteles die gleiche Ihatjache erwähnt
und jeiner Kunſttheorie einzufügen gejucht. Dinge, die uns in der
Natur peinlich) berühren, wie die widerwärtigjten Thiere oder
Leichname, betrachten wir nad) ihm in ihren allergetreuejten Nach:
bildungen mit Vergnügen. Seitdem ijt in der Neithetif wiederholt
von einem jolchen Gegenjat des Verhaltens bei wirklichen und bei
fünjtlerijch dargeitellten Gegenjtänden oder Ereignijjen die Rede ge-
wejen, und es hat nicht an Anftrengungen gefehlt, ihn aus
allgemeineren Borausjegungen heraus verjtändlich zu machen.
Aber eine völlig befriedigende Theorie diejer Erjcheinungen giebt
es noch nicht. ES hängt das damit zujammen, daß die Nejthetik
erit gegenwärtig mit vollem Bewußtjein eine piychologijche
Disziplin wird, die alle Thatjachen ihres Gebiets als zum Seelen:
leben gehörig anjieht und aus Gejegen dejjelben ableitet.
Wenige Ihatjachen der Aeſthetik dürften jedoch zugleich eine jo
einleuchtende Probe auf die Güte und Nichtigkeit der in Diejer
Wifjenjchaft angenommenen Prinzipien bilden, als die von ung jo
genannte äjthetijche Gerechtigkeit. Denn es bedarf nicht vieler
Beijpiele, um jie zu erläutern oder die Aufmerfjamfeit auf jie zu
fenfen. Sie gehört zu den auffallenditen und befanntejten Er-
jcheinungen des ganzen Gebiets. Der einfache Hinweis auf die
Tragödie und den Genuß, den wir ihr verdanfen, enthebt uns
jeder Aufzählung von Cinzelheiten. Andererſeits bildet gerade
dieje Ihatjache auch wieder ein bejonders jchwieriges, ja paradores
Problem, dejjen Auflöfung über die äjthetijchen Iheorien ge:
radezu entjcheiden muß. Statt daß uns das Traurige mit Trauer
erfüllt, genießen wir feine Darjtellung, jtatt, daß wir leiden und
tiefen Schmerz empfinden, werden wir erhoben, ja bejeligt.
Darüber läßt fih nur auf dem Boden einer Wejthetif, die von
Grund aus feit und klar entworfen ijt, eine befriedigende Auf:
flärung geben. Das engere Gebiet der äjthetiichen Gerechtigkeit
266 Die äfthetiiche Gerechtigkeit.
hängt mit der allgemeinen Kunjtlehre, ja mit dem äſthetiſchen
Grundbegriff dejjen, was überhaupt geeignet it, Gefallen oder
Mipfallen zu erregen, auf das Engjte zujammen. Denn was von
der Trauer, dem Unglüd gilt, muß natürlic) auch von dem Glüd
und der Freude gelten. Auch fie berühren uns äjthetiich anders,
als in der Wirklichkeit des täglichen Lebens. Somit fommt bier
Alles auf die Beantwortung der Frage an, worin das äjthetijche
Vergnügen bejtehe oder worauf es fich gründe. Darum jehen wir
ung zunächit einige Theorien, die den Thatbeſtand der äjthetijchen
Gerechtigkeit zu erklären vorgeben, auf ihre Leiſtungsfähigkeit etwas
näber an.
I.
Der erjte VBerjuch, das Wejen der Kunſt pjychologijch ver-
jtändlich zu machen, jtammt von Arijtoteles. Allgemein ver
breitet ijt, wie er lehrt, die ‚Sreude an Nachahmungen, weil jich
cus ihnen ein Lernen ergiebt und Ddiejes für Jedermann jehr er:
göglich ft. Das Lernen bejteht nämlich hier in der Wahrnehmung
einer Uebereinjtimmung zwijchen dem Original und jeiner Nach:
bildung, in einem Schluß von dieſer auf jenes. Wenn wir aljo
von der fünjtleriichen Wiedergabe unerfreulicher Objekte uns an:
genehm berührt fühlen, jo berubt das auf der Bergleichung
zwijchen dem uns befannten Urbild und der nachahınenden Dar—
jtellung, die es gefunden bat. ES ijt mit anderen Worten nicht
der Stoff, jondern die Art jeiner künſtleriſchen Gejtaltung, was uns
gefällt, und die Stärfe dieſes Gefallens wird von der merflichen
Bollfommenheit abhängen, wit welcher es dem Künitler gelungen
it, jein Modell zu fopiren oder in dem Nachbild erfennbar zu
machen.
Eine verwandte Theorie iſt jodann von einem bedeutenden
franzöfijchen Aejthetifer des 18. Jahrhunderts, Dubos, ausgeführt
worden. Zu den größten Qualen gehört nach ihm die Lange:
weile, und das Hauptverdienjt der Kunſt fieht er darin, daß fie
den ſtarken Trieb nad) Unterhaltung und Beichäftigung in jehr
zwedmäßiger Weije befriedigt. Was unjere Yeidenjchaften aufregt,
das pflegt uns nämlich am jtärkiten zu unterhalten, jo daß die
Menjchen mehr darunter leiden, ohne jolche Gemüthserjchütterungen
zu leben, als unter den üblen Folgen, welche jie für die Gejundheit
mit jich bringen. Indem nun die Kunſt Gegenjtände nachbildet,
welche in der Wirklichkeit ſtarke Affekte hervorrufen würden, läßt
Die äfthetifche Gerechtigkeit. 267
fie Nachflänge derjelben in uns entjtehen. Da dieſe jchwächer
jind, als die durch reale Erjcheinungen erregten Leidenjchaften, jo
bleiben ſie ohme die peinlichen Neben- und Nachwirfungen der
legteren und erweden jomit bloß das Vergnügen bejchäftigt zu jein.
Wenden wir dieſe Betrachtungen auf den Fall der äſthetiſchen
Gerechtigkeit an, jo muß das Gefallen an einer Daritellung un-
erquidlicher oder beflagenswerther Ereignijje auf der Unterhaltung
beruhen, welche die durch fie wachgerufenen Gemüthsbewegungen
dem Zuſchauer, Lejer oder Hörer gewähren.
Troß der mannigjachen Unterjchiede, welche zwijchen den
einfachen kurzen Bejtimmungen des Nrijtoteles und den ein:
qehenderen und feineren Grörterungen des franzöſiſchen
Aeſthetikers obwalten. it ihnen Doch beiden nicht nur Die
Auffafiung der Kunſt als einer Nachahmung gemeinjam, jondern
auch die Annahme, daß es fich bei der äjthetichen Yujt um etwas
Mittelbares, nicht durch den Ddargeitellten Gegenjtand jelbit Be-
Dingtes handelt. Beide jind darin einig, dat das äjthetijche Ver:
gnügen an Nachbildungen der Wirklichkeit, an Kunjtiwerfe, gebunden
it. Damit haben jie aber bereits, von allem anderen abgejeben,
ıhre Theorie gerichtet. Mag man die äjthetijche Freude auf das
Srfennen des Vorbildes in der Nachahmung oder auf das unter:
haltende Spiel der Yeidenjchaften zurücdführen, in jedem Falle iſt
der jo gewonnene Begriff zu eng, um alle Ihatjachen umjpannen
zu fünnen. Sobald es gelingt in der Wirklichkeit den Standpunft
eines pajjiven Zujchauers einzunehmen, fann der Art nach dajjelbe
äfthetiiche Vergnügen entitehen, das wir an einer fünjtlertjchen
Wiedergabe ähnlicher Borgänge empfinden. Wenn das zumeist nicht
geichteht, jo liegt es nicht in Merfmalen begründet, die der Wirk:
lichfeit fehlen, während fie dem Stunjtwerf zufommen, jondern im
Gegentheil darin, daß die Beziehung auf unjer Wollen und Handeln,
welche den realen Vorgängen anzubaften pflegt, in der Kunſt fort:
fällt und damit der auch dort vorhandene äjthetiiche Gehalt unge:
jtört und volljtändig zur Geltung gelangen fann. Statt der herz:
loſen Unbefangenheit bloßer Betrachtung nöthigt uns die Wirklichkeit
von Kummer und Noth ein werfthätiges Mitleid ab, in dem bei
der Einheit und Begrenzung der uns zur Verfügung jtehenden
jeeliichen Energie alles Interejje an dem anjchaulichen Vorgange
als jolchem untergeht. Indem dagegen das Kunjtwerf gar feinen
Angriffspunft für eine praftijche Bethätigung darbietet, wird die
Kontemplation zur freien und mächtigen Alleinherrichaft in unjerem
268 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.
Bewußtjein gebracht und die äjthetiiche Stimmung in reiche Thätig—
feit gejegt. In der realen Welt dürfen wir nur jelten blog Auge
und Ohr jein, der reinen Betrachtung hingegeben Gejtalten und
Ereigniſſe in stiller Feierlichfeit genießen; gebieterisch verlangt Sie
zumeiſt eine unmittelbare Betheiligung an ihrem Gejchehen, reikt
jie ung mitten hinein in den Drang und Zwang ihrer Aufgaben
und Gejchäfte. Aber das Kunſtwerk fordert von uns nur die auf
merfjame Gelajjenheit einer empfänglic) gejtinnmten Seele. Es wäre
das unnützeſte uud überflüfigite Ding von der Welt, wenn es jid
nicht dazu geeignet erivieje, äſthetiſch betrachtet und beurtheilt zu
werden.
Gewiß läßt jich auch ſonſt noch vieles gegen die beiden Theorien
von Arijtoteles und Dubos jagen. Wäre doch das Vergnügen an
der Kunſt ein recht findijcher Zeitvertreib, wenn ihm die Erfennung
des Originals in dem Nachbilde zu Grunde läge! Ferner würde
vieles von dem, was wir an Kunſtgenuß thatjächlich haben und
erleben, dieje Bezeichnung nicht mehr verdienen, wenn wir Dubos'
Theorie von den Nachklängen realer Leidenschaften als gültig an-
erfennen wollten. Aber nicht darauf fommt es hier an; es genügt
gezeigt zu haben, dal der Unterjchied, den beide zwijchen der Wirk:
fichfeitt und der Kunſt aufrichten, um die äſthetiſche Gerechtigkeit
verjtändlich zu machen, den Ihatjachen nicht entipricht. Werjuchen
wir es daher mit einer anderen verbreiteten und angejehenen Lehre,
welche nicht mit Unrecht den Anjpruch erhebt, die einfachite und
flarjte Schilderung des äjthetiichen Verhaltens gegeben zu baben.
Es ijt die von Herbart zuerit mit tonjequenz entworfene und
von jeiner Schule weiter ausgeführte formaliſtiſche Theorie.
Der Grundgedanfe derjelben bejteht in der Feſtſetzung, day es
jic) bei den Gegenſtänden unjerer äjthetifchen Beurthetilung immer
nur um Berhältnijie, niemals um das in Verhältnijjen jtebende
Einfache handle. Nennen wir das, was in gewiljen Beziehungen
zu anderen Inhalten der Erfahrung gegeben ift, den Stoff oder
die Materie, dieje Beziehungen jelbjt aber die Form, jo iſt hiernach
einziges Objekt für unjeren Gejchmad das Verhältnig oder die
Form, worin die einzelnen Bejtandtheile eınes Erfahrungsinhalts
zu einander oder zum Ganzen jtehen. Alſo nur auf die Gruppirung,
auf die Kompojition, auf den quantitativen oder qualitativen Zu:
jammenbhang als jolchen haben wir nad) diejer Anjicht bei einer
älthetiichen Auffafjung und Würdigung Rüdjicht zu nehmen, während
die abjolute Bejchaffenheit der bejondern in diefen Zuſammenhang
Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 269
eingehenden Erfahrungen für den Mejthetifer wentgitens gänzlich
bedeutungslos wäre. Zu dem Stoff wird aber hierbei nicht nur
die Summe der in der unmittelbaren Wahrnehmung enthaltenen
einfachen Qualitäten, der Farben, der Töne, gerechnet, jondern auch
alles, was dieje ausdrücden, darjtellen, jymbolifiren. Ob beijpiels-
wetje eine mufifalifche Kompofition wilden Iroß oder weiche Hin:
gebung, unruhiges Suchen oder erlöjendes Finden, hoffnungsloje
Trauer oder erhabenen Frieden jchildert, tt nach diejer Theorie in
äjtheticher Beziehung völlig gleichgültig. Dagegen tt es nicht
unwichtig, in welcher Weije derartige Boritellungen oder Gemüths-
bewegungen auf einander folgen, und in welchen Stärfeverhältntjien
fie zu einander jtehen.
Die Anwendung diejer Theorie auf unjeren Fall der äſthetiſchen
Serechtigkeit läßt ſich hiernach ohne Weiteres vollziehen. Weder
in der Wirklichkeit noch in der Kunſt ift das Unangenehme, Traurige,
WBedauerliche, für ji) genommen, das Objekt eines Gejchmads:
UÜrtheils, und es fällt daher die Frage nach dem Grunde unjeres
abweichenden Verhaltens gegenüber der Wirklichfeit jolcher Dinge
und ihrer fünjtlerifchen Darjtellung aus dem Rahmen der Nejthetif
überhaupt heraus. Damit wird mun freilich die Frage nicht beant—
wortet, jondern nur vor ein anderes, vorläufig unbefanntes Forum
verwiejen, und da wir nicht willen, wo und wie die Formaliſten
fie zu verhandeln und zu erledigen verjuchen, jo iſt jede weitere
Vermutung ein unfruchtbares Beginnen. Wir werden daher durd)
dieſen Standpunft vor die Aufgabe geitellt, die Berechtigung nach
zuwetjen, mit der wir hier ein äjthetijches Problem glaubten
formuliren zu müjjen. Es läßt fich aljo night umgehen, zu prüfen,
inwiefern die radikalen Beitimmungen der formaliſtiſchen Richtung
gültig und zwedmäßig find.
Wenn wir joeben von einem Radikalismus gejprochen haben,
jo meinen wir damit die abjtrafte und jchroffe Iſolirung der Form
von dem Stoff. Es giebt fein Verhältnig ohne ein Etwas, für
welches es behauptet wird, und es jett daher jedes Gejchmadsurtheil
im Sinne der Formaliſten eine nicht ganz unerhebliche Schärfe
und Feinheit analytijcher Thätigfeit voraus, wenn es ceim reiner,
von allen trübenden Nebenwirkungen des Stoffes befreiter Aus—
drud des äjthetiichen Verhaltens jein jol. Wir müſſen bei den
‚sarben ebenjo jehr wie bei den leblojen oder lebenden Gegen:
jtänden, die ſie darjtellen, lediglich auf die wechjeljeitigen Be—
ztehungen achten, welche jie miteinander bilden, wir müſſen bei
270 Die äfthetifche Gerechtigkeit.
den Worten eines Gedichtes von ihrem Klange ebenjo wie von den
Gejtalten, Gefühlen, Handlungen, welche ſie uns jchildern, ab:
zujehen veritehen, wenn anders wir Bild oder Gedicht auf ihre
älthetiiche Bedeutung Hin unterjuchen und beurtheilen wollen.
Daß bei einem jolchen Verfahren alle Unbefangenheit einer naiven
Verſenkung in fünjtlertjche Produkte aufhören und einer hochnoth—
peinlichen Ausjcheidung der fich immer wieder vordrängenden un-
äjthetiichen Elemente Pla machen müßte, braucht nicht erit be:
wiejen zu werden. Eine jchwierige, der wifienjchaftlichen Arbeit
vergleichbare Sonderung des Wejentlichen vom Unwejentlichen
würde angejtellt werden müjjen, bevor man es wagen dürfte, Die
Schönheit oder Häßlichkeit eines Drama oder Epos zu behaupten.
Denn die Gefühle des Gefallens oder Mipfallens, auf die ſich
unjere Gejchmadsurtheile zu jtügen pflegen, jind ja an ſich viel
zu unbejtimmt und gleichartig, als daß man aus ihnen heraus
auch nur mit einem Schein von Sicherheit auf die Herkunft aus
äjthetijch zuläjjigen oder unzuläfjigen Momenten jchliegen fönnte.
Es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß die Gejchmadsurtheile der
meijten Menjchen, ja jelbjit der Kunſtkritiker und Xejthetifer von
Beruf, an dem Maßſtab der Formaliſten gemefjen, fich als unrein
erweijen würden. Insbeſondere aber entitände unter der Voraus—
jegung, daß dieſe Theorie gültig jei, ein gewaltiger Riß zwijchen
den Natur und Kunſt in ihrem Sinne betrachtenden und ſchätzenden
und den von diejes Gedanfens Bläfje nicht angefränfelten Berjonen.
Wir haben bisher angenommen, daß fich die ‚Forderung der
formaliſtiſchen Aejthetif, wenn auch nicht ohne beträchtliche Schwierig:
feiten, jo doc) überhaupt erfüllen laſſe. Aber jelbjt dieje Klon:
zejlion an ihren Standpunft müfjen wir bei genauerer Prüfung
wieder aufgeben. Denn jie verträgt fich nicht mit einer offen-
fundigen Thatjache unjeres Gemüthslebens, nämlich mit der Einheit
dejjelben.. Es it jchlechterdings unmöglich, die äſthetiſchen Ge—
fühle und Ztimmungen von den Einflüffen frei zu erhalten,
welche der Stoff eines Kunſtwerks unwillfürlic) ausübt, weil wir
uns nicht in verjchiedene Provinzen zerteilen fünnen, von denen
die eine etwa bloß die auf die Form bezüglichen Gerühle, die
andere dagegen die an den Stoff gebundenen in jcharfer Ab-
grenzung neben einander entjtehen und jeßhaft werden ließe. So
wenig wir in einem und demjelben Augenblick freudvoll und leid:
voll zugleich fein fönnen, jo wenig vermag man das Vergnügen
an der bloßen Form allen Einwirkungen zu entziehen, die von
Die äfihetifche Gerechtigkeit. 271
dem jich in ihr entfaltenden Stoffe ausgehen. Dadurch) geräth
man auf dem Boden der formalijtiichen Theorie in ein höchit
mipliches Dilemma. Entweder nämlich muß man die Gejchmads-
urtheile von der Gefüblsgrundlage, auf welcher fie nach der ge-
wöhnlichen Auffafjung ruhen, völlig abheben und ihnen rein
theoretiiche Beſtimmungen jubjtituiren, auf deren Gejtaltung die
thatjächlichen Gemüthserregungen des Gefallens oder Mißfallens
nicht mehr ablenfend oder verwirrend einzuwirfen vermögen.
Dder man muß zugeben, daß das formaliftische Dekret eine ideale
sorderung enthält, der die unvollfommene Wirklichkeit unjerer
Sefühle und der durch fie bedingten Werthurtheile in der Negel
nicht zu entjprechen im Stande it. Beide Glieder diejer unver:
meidlichen Alternative jind für die formaliſtiſche Nejthetif, wie man
jieht, äußerjt bedenklich. Entjcheidet fie jich für das erite, jo hat
die Aejthetif aufgehört eine Lehre von eigenthümlichen Wirkungen
auf das Gemüth, vom Gefälligen und Mipfälligen zu fein. Vom
grünen Tijch her, unbefümmert um die unmittelbaren Aufwallungen
der Luft oder Unluſt, jeßt fie feit, was jchön oder häßlich jein joll,
mit derjelben Untrüglichfeit, wie die Mathematik ihre Begriffe
definirt und den Definitionen gemäß verwendet. Wir brauchen
dann nicht erjt in der Erfahrung Umschau zu Halten, um zu er:
fennen, ob und wann etwas für jchön oder häßlich gehalten wird,
wir fonjtruiren vielmehr mit der freien Sicherheit des Geometers,
unter welchen Umftänden ein Gebilde diejes oder jenes Prädifat
verdiene. So wird denn der Gejchmad allem Streit und Gegenjat
entzogen und in die reine Sphäre einer wenn auch noch jo grauen
Theorie emporgehoben. Ein Gegenjtand heißt dann nicht mehr
ſchön, weil er gefällt, jondern weil und jofern ſich an ihm gewiſſe
Merkmale antreffen lajjen, die ihn ganz objektiv, ohne die patho-
logiſchen Erjchütterungen des Gemüths zu Nathe zu ziehen, als
einen jolchen charafterijiren.
Wir wifjen, daß Herbart einer jolchen Folgerung aus jeiner
Annahme nicht beigejtimmt haben würde, denn er hat unzwei—
deutig auf die MWichtigfeit empirischer Unterjuchungen über ge:
fallende und mihfallende Berhältnijje hingewiejen. Dann aber it
es auch jehr zweifelhaft, ob ihm das andere Glied unjerer oben
aufgejtellten Alternative nad) Sinn gewejen wäre. Denn wie
jollte die empirische Beobachtung unjeres äjthetiichen Berhaltens
iiber die reine Bedeutung der Formen einen bejriedigenden Auf:
ichluß gewähren fünnen, wenn das auf Theorien diejer Art weder
272 Die äſthetiſche Gerechligkeit.
geſtimmte noch abzurichtende Gemüth immer auch von dem Stoff
lichen der zu beurtheilenden Gegenſtände affizirt wird? Abgeſehen
davon, wird die Formaläſthetik, unter dieſem Geſichtspunkt be—
trachtet, zu einem Codex von Regeln, denen ſich kaum ein einziger
Fall der Wirklichkeit fügte und anpaſſen ließe. Die untrennbare
Gemeinschaft von Stoff und Form jpottet allen Anjtrengungen
des äjthetifchen Scheidefünftlerd und wird auch das jublimfte Ge:
ichmadsurtheil dem Verdachte ausjeßen, daß es den Einfluß jtoff-
licher Schlafen nicht völlig habe abjtreifen fünnen. Betrachtet
man aljo das Schöne und das Häßliche als den Ausdruck für
pojitive und natürliche Neaftionen unjeres Semüths auf die Ein-
drücde, die uns Wahrnehmung oder Phantaſie vorführen, jo muß
man darauf verzichten, die Yehre der Formaliſten in der Erfahruna
beivährt zu finden oder an ihr zu prüfen.
Mag man nun aber ein Verhalten, wie es die Theorie der
Herbartianer fordert, für möglich oder für unmöglich erklären, in
jedem Falle ergiebt jich ein jchroffer Zwiejpalt zwijchen der eigen:
jinnigen WVirflichfeit und einer Konjtruftion der äjthetiichen Begriffe.
Wer mit ung der Anficht it, daß es fich in der Nejthetif vor Allem
um Beobachtung von Thatjachen, und zwar von Bewußtjeins:
thatjachen handelt, wird fich einer Lehre nicht anjchliegen können,
die geflifjentlich, ohne nöthigende Gründe, von den. in der Erfahrung
gegebenen Formen und Bedingungen des Gefallens mit einem
willfürlichen Schnitt einzelne abtrennt und anerfennt, andere da
gegen verwirft und entwerthet. Ich jage, ohne nöthigende Gründe.
Nur dann nämlich, wenn ſich zeigen jollte, da wir ung dem Stoff
eines Kunjtwerfes gegenüber wejentlich anders verhalten, als jeiner
Form gegenüber, würde man die Berechtiguug der formaliſtiſchen
Lehre troß aller jonjtigen Schwierigfeiten, denen jie ausgejegt iit,
zugeltehen müſſen. Aber gerade dafür fehlt e8 an jedem Nadı-
weile. Herbart und jeine Schule haben ihn nicht erbracht, und er
läßt jich auch nicht führen. Damit fällt aber auch jede aus den
Ihatjachen jelbjt errichtete Stüße für den Formalismus fort. Seine
‚sorderungen find nicht nur unerfüllbar, fie jind auch unbegründet.
Sp haben wir ung denn unjere Poſition gejichert, wir dürfen auch
fernerhin von einer äjthetiichen Gerechtigfeit reden, weil wir Die
dieſen Begriff in Frage ſtellende Auffafiung Herbarts als unzu:
treffend zurückweiſen fonnten.
Da erhebt fich eine neue Theorie mit dem Anſpruch, das ın
unjerem Begriff jtedende Problem leicht und überzeugend auflöjen
Die äjthetiiche Gerechtigkeit. 273
zu können. Es iſt die Theorie der Illuſion, des Scheins, der
bewußten Selbſttäuſchung, die in der Gegenwart beſonders von
E. v. Hartmann, Groos und Konrad Lange vertreten wird.
Auch ſie richtet zwiſchen der Kunſt und der Natur oder vielmehr
zwiſchen dem Objekt unſeres Geſchmacksurtheils und den in der
Wahrnehmung gegebenen Dingen eine Schranke auf, aber ſie beſtimmt
das für beide charakteriſtiſche Merkmal ganz anders als Ariſtoteles.
Während diejer das Gefallen an der fünjtlerifchen Darjtellung auf
eine vergleichende Erfenntnigthätigfeit zurückführt, wird der Eins
drud nach der Illuſionstheorie erjt durch eine jchöpferijche Um—
bildung mit Hülfe der Phantaſie zu einem äjthetifchen. Innerlich
nachahmen, nadjchaffen müjjen wir das Wahrgenommene nad)
Groos, an deſſen Ausführungen wir uns hier hauptjächlich halten,
wenn es für uns einen äjthetiichen Werth erlangen joll. Durch
diejes Verfahren entjteht ein Schein, ein Bild, das fich vom
Gegenjtande ablöjt und nun erjt äjthetifch gewürdigt wird. Wir
beleben das Todte, Starre, bejeelen das Unbejeelte, verwandeln in
jpielender Thätigfeit die Nealität in eine Scheingeftalt. Und wie
alles Spielen mit Luſt verknüpft zu jein pflegt, jo erwächit auch
aus dem Spiel der inneren Nachahmung eine heitere, erfreuliche
Stimmung.
Daß das Schmerzliche, Traurige, VBerwerfliche zum Anlap eines
äſthetiſchen Genuſſes werden fann, wird nach diejer Auffajjung
einfach genug erklärt. Wir fünnen nämlich derartige Erjcheinungen
ebenjowohl innerlich nachahmen, wie Die entgegengejegten des
Guten, Freudigen, Angenehmen und deshalb auch die nämliche
Yult aus ihrem Bilde empfangen. Auch noch in anderer Weije
liege ji) vom Standpunfte der Illuſionstheorie aus ein jolches
Verhalten als nothwendig ableiten. Man fünnte etwa folgender:
maßen argumentiren: entweder wir halten das Gejehene oder Ge:
hörte mit dem, was es bedeutet, für Wirklichkeit, und dann dürfte
es feinen Unterjchied geben zwijchen der Beurtheilung der Kunſt
und der Natur; oder wir halten es für einen Schein, den wir mit
vollem Bewußtjein der Wirklichkeit entgegenjegen, und dann fallen
alle realen Anreize und Beziehungen fort, in denen unjere praftijchen
Interefjen wurzeln. Alſo fann, da es eine dritte Möglichkeit nicht
zu geben jcheint, nur in der Illuſion, in der bildmäßigen Natur
alles Aejtgetiichen der Grund dafür gejucht werden, daß wir die
Noth und den Sammer, fünjtlerijch dargejtellt, anders als im Leben
empfinden und beurtheilen.
Preußifche Jahrbüher. Bd. XCVIII. Heft 2. 18
274 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.
Aber wenn es nun doch eine dritte Möglichkeit gäbe? Dann
würde dieſer Beweis ſeine zwingende Kraft völlig einbüßen. Und
ich meine in der That, daß hier ein Fall überſehen worden iſt
und daß gerade dieſer Fall den äſthetiſchen Thatbeitand allein
richtig ausdrüdt. Die Begriffe des Scheins und der Wirklichkeit
itehen fich freilich als ausjchliegende Gegenjäge gegenüber, umd
wenn es fi) um die Bedeutung einer Vorjtellung für unjere Er:
fenntniß der Außenwelt handelt, läßt jich wohl nur von ihr jagen,
dal; fie entweder auf etwas Reales hinweiſt oder ein bloßer Schein
it. Aber dieſer Gefichtspunft ijt ja feineswegs der einzige auf
VBorjtellungen überhaupt anwendbare, und es erhebt ſich daher zu:
nächft die Frage, ob wir ihm innerhalb des Gebiets der äjthetijiyen
Thatjachen überhaupt eine Stelle einzuräumen haben. Sobald wir
dDieje Frage verneinen müſſen, haben wir nicht nur eine Dritte
Möglichkeit gewonnen, welche die oben aufgejtellte Alternative und
den auf ihr beruhenden Schluß aufhebt, jondern jind zug'eich zu
einer neuen allgemeinen Bejtimmung des äfthetijchen Verhaltens
fortgejchritten.
Es liegt zunächit auf der Hand, daß wir in vielen Gejchmads
urtheilen, die wir fällen, auf einen Gegenjag zwijchen Schein und
Wirklichkeit gar feine Nücdjicht nehmen. Wenn wir ein Gebäude
ſchön oder häßlich nennen, jo trägt der Umjtand, daß es jich vor
uns objeftiv erhebt oder daß wir es nur in einer Nachbildung
wahrnehmen, zu dem Ausfall eines jolchen Urtheils nichts bei.
Zwar fann die Umgebung, in die es gejtellt it, die Größe, Die
ihm in der Natur zukommt, einen mehr oder weniger erheblichen
Einfluß auf die äjthetiiche Erregung ausüben, die wir ihm ver:
danfen, auch mag die nähere Einficht in jeine Zweckmäßigkeit unjer
Gejchmadsurtheil modifiziren. Aber die bloße Thatjache, dan er
das eine Mal etwas Neales, das andere Mal nur ein Bild, eın
Schein it, jpielt offenvar bei dem Zuſtandekommen unjerer
äjthetijchen Beurteilung gar feine Rolle. Noch deutlicher zeigt
jich das Fehlen diejes Gefichtspunftes bei dem Genuß von muſika—
liichen Broduftionen. Was hier die Wirklichkeit jein jollte, von der
wir einen Schein ablöjen oder unterjcheiden, iſt für einen unbe:
fangenen Berjtand wohl nicht einzujehen. Man würde natürlich
zunächjt daran Ddenfen, daß die Muſik Art und Verlauf von Ge:
miüthsbewegungen auszudrüden vermag, wenn wir jie von aller
Verbindung mit Programmen oder Texten losgelöſt betrachten.
Aber dieſe Gemüthsbewegungen ſind ja niemals in der Muſik
Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 275
objeftiv enthalten und können daher aud) nicht eine Wirklichkeit
jein, von der wir einen Schein, eine Illufion nachzubilden im
Stande wären. Much bei den Werfen der Boefie pflegt es ſich
nicht anders zu verhalten. Handelt es ſich hier um freie
Schöpfungen der dichteriichen Phantaſie, jo iſt unjere äjthetijche
Mirdigung wahrlich feine andere, als wenn uns Erzählungen „nach
dem Leben“ dargeboten werden. Berfajjer hiſtoriſcher Dramen
haben ich auch niemals gejcheut, von der gejchichtlichen Wirklichkeit
abzuweichen, und bejonnene Kritifer ihnen niemals daraus einen
Borwurf gemacht, wenn die Abweichungen äſthetiſch genügend
motivirt waren.
Der geläufige Gegenſatz von Schein und Wirklichkeit, der in
unjerem Erfennen von jo großer Bedeutung üt, it aljo wenigitens
feine allgemeine Bedingung für die äfthetiiche Auffafjung und
darf daher auch nicht zur Beitimmung des Wejens der letteren
jchlechthin benußt werden. Wir gehen jedoch noch weiter, indem
wir erklären, daß der äfthetiiche Zuftand grade durch die Abwejen-
heit der uns im Handeln und GErfennen jo jelbitveritändlichen Be-
ztehung auf ung jelbjt und auf Gegenjtände außer uns charafterifirt
it. Wer jich in ein jchönes Werf der Natur oder der Kunſt an-
ſchauend und genießend vertieft hat, wer dabei in die eigenthüm:
(iche Stimmung der reinen Stontemplation, der bloßen Betrachtung,
gerathen it, der wird willen, daß es für ihm fein Objekt mehr
gab, dem er ſich gegenübergejtellt hätte, jondern nur noch eine
einheitliche Erfahrung. Die Begriffe Schein und Wirklichkeit ver:
fteren bier ihren Sinn, weil fie auf einer Unterjcheidung beruhen,
die noch nicht eingetreten war oder nicht mehr vollzogen wurde.
Auf den Standpunkt des Kindes, das jein Ich von einem Nicht:
Ich zu jondern noch nicht gelernt hat, fehren wir zurücd, wenn jic)
unjere Seele mit äjthetijchen Eindrüden gänzlich füllt. In den
urfprünglichen Zuftand aller Erfahrung jind wir mühelos wieder
gerathen. Es giebt fein Meußeres und fein Inneres mehr, und
wir jtellen uns nicht mehr auf den uns inzwijchen jo vertraut ge—
wordenen Boden unjeres Gegenjaßes zur Welt.
Aber, wird man einwenden, das alles iſt ja nur ein Kampf
gegen Windmühlen. Denn von dieſem Schein im Gegenjaß zur
Wirklichkeit, der auf der Unterjcheidung eines Sch und feiner
objektiven Umgebung beruht, iſt ja in der Sllufionstheorie,
wenigitens in Der feineren und tieferen Ausführung von Groos,
gar nicht die Nede. Denn der Schein, der durch innere Nach:
18*
276 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.
ahmung jpielend erzeugt wird, entjteht bei der Anjchauung eines
realen Gegenjtandes ebenjowohl wie bei einem jubjeftiven Gebilde
der Phantaſie. Auch it dazu feine Mehnlichkeit zwijchen dem
Gegenftande und dem von ihm abgelöften Bilde erforderlich. da
wir das Lebloje beleben, das Unbejeelte bejeelen, in jtarre
geometrifche Formen ein Gleiten und liegen, in die muſikaliſchen
Stimmen Verzweiflung und Ausgelajjenheit auf dem Wege der
inneren Nachahmung hineinfühlen fünnen. Wir wollen Diejem
Einwande nicht mit der naheliegenden Bemerkung begegnen, Das
es ficherlich nicht zwedmäßig jei, jo irreführende und mißverjtänd:
liche Ausdrüde wie Schein und Nachahmung da zu verwenden,
wo etwas von dem gebräuchlichen Sinn diejer Worte Abweichender
bezeichnet werden fol. Auch wollen wir in dieſem Zuſammen—
hange fein bejonderes Gewicht darauf legen, daß die Bildung
eines Scheing mit Hülfe des Spiels der inneren Nachahmung
durchaus feine allgemein verbreitete Form des äjthetiichen Ge:
nießens ift. Mur zweierlei ſei gegen dieje jpeziellere Faſſung der
IHufionstheorie geltend gemacht: Erjtens nämlich bringt jie den
äfthetiichen Werth eines Eindruds in Abhängigkeit von einem Um:
itande, der die allgemein herrichende Abjtufung des Gejchmads
nicht zu erflären vermag. Und zweitens verjchiebt fie den eigent—
lichen Gegenjtand unjerer äſthetiſchen Werthſchätzung völlig.
Die äfthetifche Bedeutung eines Kunjtwerfes muß nach Diejer
Theorie offenbar auf die Lebhaftigfeit der inneren Nachahmung
zurücgeführt werden. Je mehr uns ein Stoff ergreift, rührt, je
mehr er unjere Borjtellungsthätigfeit und unjer Gemüth aufregt
und entfejjelt, um jo größer muß im Allgemeinen, wenn wir von
einem ermüdenden, erjchöpfenden Uebermaß abjehen, die Luſt und
damit der äjthetiiche Werth des dazu führenden Objekts jein.
Daß dieje Folgerung mit der berrjchenden Beurtheilung von Kunſt—
werfen nicht im Einflange jteht, braucht faum gejagt zu werden.
Goethes Fauft würde hiernach vor einem jpannend erzählten Ehe—
bruchsroman gewöhnlichen Schlages jchwerlich den Vorzug ge:
bühren, und wir hätten vom Standpunkt des rein äjthetijchen Ge-
nujjes aus fein Mittel, um Tizians Meifterwerfe über die Gemälde
eines Tiepolo zu jtellen. Noch mißlicher ıjt aber die von uns zu
zweit hervorgehobene Verjchiebung des eigentlichen Gegenjtandes
unjerer Gejchmadsurtheile. Aeſthetiſche Luft iſt ja die Luſt aus
dem Spiele der inneren Nachahmung. Nicht alfo das Kunjtwerf
gefällt oder mipfällt, jondern das durd) dajjelbe eingeleitete und
Die äfthetifche Gerechtigkeit. 277
unterhaltene Spiel der inneren Nachahmung. Es it jomit auch
die bejondere Bejchaffenheit des äjthetiich gewürdigten Gegenjtandes
für diefe Würdigung jelbjt direft und unmittelbar völlig gleich:
gültig. Wenigitens dürfte es recht jchwer fallen, irgend welche
aejegmäßigen Beziehungen zwijchen Form und Gehalt eines
Kunftwerfs einerjeit$ und der Befriedigung zu entdeden, welche
feine innere Nachahmung gewährt. Damit entfernt fich aber dieje
Theorie noch weiter von den IThatjachen der äſthetiſchen Beur—
theilung, als es der Formalismus jemals gethan hat. Denn
diejer hat wenigjtens die Formen als etwas am Kunſtwerke jelbjt
baftendes angejehen und genauer anzugeben verjucht, welche von
ihnen gefallen, welche mihfallen.
Sp fann uns auch die Illufionstheorie über das Wejen und
den Grund der äjthetiichen Gerechtigfeit feine genügende Auf:
flärung geben. Daß wir von den Schattenjeiten des Lebens in
der fünitlerifchen Darſtellung einen anderen Eindrud erhalten als
in der Wirflichkeit, fann nicht daraus abgeleitet werden. daß wir
es dort mit einem Schein, hier mit der Nealität zu thun haben,
oder daraus, daß ſich dort ein Spiel der inneren Nachahmung entfaltet,
das bier fehlt. Der Stern der Sache muß jedenfalls in anderen
Momenten gejucht werden, die vielleicht eine jefundäre Berechtigung
der hier befämpften Gefichtspunfte ergeben. Dieſer Aufgabe, die
mit der Nufitellung eines haltbareren Begriffs des äjthetijchen
Eindruds zujammenfällt, wollen wir uns im folgenden unterziehen.
18
Wollen wir den Eindrud genauer bejtimmen, den uns ein
Kunſtwerk macht, jo fünnen wir zwei Wege einjchlagen. Der eine
beitehbt darin, daß wir an einem bejtimmten Exemplar alle die
Wirkungen ausjcheiden, die fich, abgejehen von der äjthetijchen, auf
dafjjelbe zurückführen laſſen. Ein anderer Weg dagegen bietet fich
uns darin, daß wir recht verjchtedenartige Kunſtprodukte mit einander
vergleichen und dasjenige herauszugreifen verjuchen, was ihnen Allen
gemeinjam tt. Nehmen wir, um das erjte Verfahren zu illuftrieren,
beiipielöweife die berühmte Gruppe des Yaofoon zum Ausgangs:
punkt unjerer Analyje! Der Vorgang, den wir bier dargeitellt
ſehen, fann uns ethijch, finnlich berühren, er fann auch zum Gegen-
itand einer rein intellektuellen, wifjenjchaftlichen Auffaſſung und
Beurtheilung gemacht werden. Das Mitleid, das wir mit den
Nermiten empfinden, die fich unentrinnbar von den Schlangen um:
278 Die äfthetiihe Gerechtigkeit.
flammert jehen, die Annahme, daß jie das Unheil jelbjt verichuldet
haben, die VBorjtellung von einer jtrafenden Gerechtigkeit, Die ſie
erfaßt hat — das Alles gehört, für jich genommen, zu den ethiſchen
Wirkungen. Ein ausgejprochenes finnliches Gefühl wird bei dieſen
Objekt faum auftreten, wenn man nicht vielleicht ein leije8 Grauen
dazu zählen will, das uns infolge einer lebhaften Bergegenwärtiquna
der jchmerzhaften Situation, in der jich die unglüdlichen Opfer
befinden, befallen mag. Die wifjenjchaftliche Unterjuchung endlid
fann theils die Hijtorische Bedeutung des gejchilderten Vorgangs
theil8 jeine technische Ausführung und die Entjtehungszeit der
legteren ergründen. Das Alles braucht in der äjthetiichen An-
jchauung nicht unterzugehen, aber macht doch auch ihre Bejonder:
heit nicht aus. Für fie ift das entjcheidende Merkmal das reine
und tiefe Interejje an dieſem Wahrnehmungsinhalt und Dem:
jenigen, was er an innerlichen Beziehungen trägt und bedeutet,
jowie das Gefallen, welches Gehalt und Erjcheinungsmweije in ihrer
wechjeljeitigen Durchdringung vermöge dieſes Intereſſes entjteben
lajien.
Für das andere Verfahren fünnen wir z. B. ein Schillerjches
Drama, eine Beethovenjche Symphonie, ein Naphaeljches Gemälde,
einen römischen Palazzo, ein Bildwerf des Michelangelo zur Unter:
lage wählen. Stoffliche Merkmale können hier offenbar nicht den
Begriff des äjthetiichen Eindruds bejtimmen. Denn die Materie
der in dieſen verjchiedenen Kunſtwerken erjcheinenden oder aus-
gedrücten Gegenjtände enthält nichts, was ihnen allen gemeinjam
wäre. Ebenſo wenig werden wir eine bejtimmte Form angeben
fönnen, die in allen gleichmäßig wiederfehrte. Nicht minder jind
die logischen oder ethischen Beziehungen, theils von einander ganz
verjchieden, theils überhaupt nicht vorhanden. Die einzige allgemein
geltende Wirkung ijt wiederum die Berjenfung in das Wahrgenommene
jeiner bloßen Bejchaffenheit nach und die aus jolchem Zuſtande
einheitlicher Kontemplation eriwachjende Luft oder Unlujt. Die
Hingabe an das Anjchauliche und jeine Bedeutung, das volle Er:
griffenjein von jeinem Wejen und Verlauf bildet alleın die Voraus-
jegung für die Entjtehung äjthetijcher Erregungen. Diejes Interetje
an den Borjtellungsinhalten als jolchen tt für ethijche Erwägungen
belanglos. Hier wird die Ihat auf die Gejinnung bezogen, oder
einem anerfannten Zwed untergeordnet, während die äußere Er-
jcheinung, in die jich das Handeln gekleidet hat, für jeinen ethijchen
Werth nicht in Frage fommt. Gin unmittelbares Interejje an der
Die äſthetiſche Gerechligkeit. 279
Wahrnehmungsthatſache als ſolcher iſt ferner der wiſſenſchaftlichen
Erkenntniß nur das nothwendige Hülfsmittel, um bei der Auf—
ſtellung von Begriffen und bei der Auffindung von Geſetzen für
dieſen beſonderen Fall nicht fehlzugehen. Auf dieſer Vorſtufe der
Erkenntniß aber verharren wir im äſthetiſchen Verhalten, und
darum wird uns die anſchauliche Erſcheinung hier niemals zu
einem an ſich werthloſen Hinweiſe auf ein Syſtem von Begriffen
und Sätzen, zu einem bloßen Exemplar einer Gattung.
Das Thier hat keinen äſthetiſchen Genuß, weil ſein Intereſſe
für die Umgebung lediglich durch das Verhältniß geleitet wird, in
dem ſie zu ſeinem Wohl und Wehe, zu ſeinem Nutzen oder Schaden,
zu ſeiner Selbſterhaltung ſteht. Das Raubthier, das ſeiner Beute
auflauert, würdigt deren Bewegungen und Stellungen nur unter
dem praktiſchen Geſichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit für einen Ueber- »
fall. Das Hausthier, das jeinem Herrn auf Schritt und Tritt
folgt, Tieht in ihm den Bejchüger und Erhalter jeines Dafeins.
In dem äjthetiichen Eindrud dagegen verliert jich die Beziehung
auf die eigene Perſon gänzlich, er jet die vollite Objektivität und
Selbitlojigfeit voraus. Darum find auch die äfthetiichen Gefühle
der Luſt und Unlujt in einer eigenthümlichen Verjchmelzung mit
den Gegenitänden, auf die fie bezogen werden, gegeben. Nicht
daß etwas mir oder dir gefällt, jondern dat diejes Etwas über:
haupt gefällt, ıjt für jie wejentlid. So wenig wir bei den
Farben, die wir den fichtbaren Objekten außer uns beilegen, auf
die jubjektiven Bedingungen unjeres Gefichtsfinns, welche nach dem
Urtheil der Wifjenjchaft eine große Bedeutung für fie haben, zu
achten pflegen, jo wenig denfen wir bei der äjthetijchen Beſtimmung
eines Kunſtwerkes daran, daß jchön und häßlich, anmuthig, komiſch
und dergleichen Begriffe find, die ſich nur pſychologiſch, alſo mit
Nüdjicht auf das Subjekt, veritehen und erflären lajjen. Die
wahrgenommenen Dinge jelbjt werden auf Grund ihrer unmittel:
baren Bejchaffenheit mit den äjthetifchen Merkmalen ausgerüjtet.
Aber auch das gegenjtändliche Etwas, das wir zum Träger
jolcher äſthetiſchen Prädikate machen, ijt nicht ein Objeft, wie es
die Naturwiljenjchaft in räumlicher und zeitlicher Beziehung, nad)
jeiner jtofflichen Zujammenjegung und nach den Kräften, die es
erfüllen, bejtimmt, jondern das Hörbare und Sichtbare, wie es
erjcheint, wie es vorgejtellt wird. Darum haften ihm alle die
Mängel an, welche die Unvolllommenheit unjerer jinnlichen Wahr:
nehmung mit jich bringt. Nicht das objektiv richtig gezeichnete
280 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.
Quadrat, jondern das mit Ffleineren vertifalen Seiten verjebene
macht uns in Folge einer befannten optijchen Täujchung den ge:
fälligen Eindrud einer ſymmetriſchen Figur. Die äjthetiiche An-
ichauung it daher die naive urjprüngliche, nicht die von wiſſen—
Ichaftlichen Neflerionen berichtigte und zerjegte. Aus diefem Grunde
iſt es num aber auch für den äjthetiichen Werth einer Vorſtellung
gänzlich belanglos, ob und wie wir fie auf reale Objekte zurüd:
führen fönnen oder nicht. Wurzelt das Gefallen oder Mißfallen
nur in der anjchaulichen Bejchaffenheit eines Eindruds, jo ift jein
Berhältnii zur realen Welt gleichgültig. Daraus ergiebt fich einmal
die prinzipielle äjthetijche Gleichwerthigfeit von Natur und Kunſt,
von Wahrnehmungs: und Phantaſiegeſtalten. Unterjchiede unſeres
Sejchmadsurtheils können hier nur bedingt jein durch die Mb:
» weichungen, welche die vorgejtellten Inhalte jelbjt aufweijen, je
nachdem, ob jie natürlich gegeben oder künſtleriſch dargeftellt, ob
jie durch die Vermittlung der Sinne oder mit Hülfe der Einbil-
dungsfraft bewußt geworden jind. Sodann aber gründet jich
darauf die Freiheit des jchaffenden Künjtlers bei der Wahl und
Verarbeitung jeiner Stoffe. Er erhöht den äfthetiichen Werth
jeines Werfes nicht durch die peinliche Anlehnung an ein natürliches
Mujter. Darıun iſt auch der Naturalismus, der ein jolches Wer
fahren fordert, von dieſem Gefichtspunfte aus gar feine äſthetiſche
Nichtung. Deshalb fann er doch in anderer Hinficht — und wir
werden jelbjt jpäter eine jolche geltend machen — jehr wohl eine
äſthetiſche Bedeutung beſitzen.
Die Bildung des ganzen, gefallenden oder mißfallenden Ein—
drucks iſt hiernach keine einfache, ſondern eine recht komplizirte
Sache. Wir hören z. B. ein Gedicht: da dringen Laute in be—
ſtimmtem Tonfall, Rhythmus, in beſtimmter Geſchwindigkeit und
dynamiſcher Abſtufung auf uns ein. All das kann uns bereits an
ſich gefallen oder mißfallen, wie die Beurtheilung eines in unver—
ſtändlicher Sprache vorgetragenen Liedes beweiſt. Dazu treten nun
weiter die Vorſtellungen, die den Sinn der vernommenen Wörter
bilden. Mehr oder weniger lebhaft tauchen ſie in unſerem Bewußt—
ſein auf und folgen in ihrem Ablauf und Wechſel getreulich den
erklingenden und verhallenden Lauten, die an unſer Ohr ſchlagen.
Dieſe Bedeutungsvorſtellungen verbinden ſich ferner mit Gefühlen
und laſſen Stimmungen in uns wirkſam werden, die gleich den
Orgelpunkten das mannigfaltige Gewoge der Melodien und Harmonien
dieſer Einzelvorgänge zu einer Einheit zuſammenfaſſen. Das alles
Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 281
gehört zum äſthetiſchen Geſammteindruck des Gedichts und beeinflußt
in abgeſtufter Energie die abſchließende Werthſchätzung des Ganzen.
Die wiſſenſchaftliche Aeſthetik hat die ſchwierige aber zugleich auch
einzig fruchtbare Aufgabe, die äſthetiſche Bedeutung aller, den Ge—
ſammteindruck zuſammenſetzenden Faktoren zu ermitteln und die
geſetzmäßigen Beziehungen zwiſchen ihnen und ihren Wirkungen
feſtzuſtellen.
Jedes Element wirkt nun freilich auf unſern Geſchmack nur
nach Maßgabe ſeiner zufälligen Repräſentation im Bewußtſein.
Nur der wahrgenommene Laut und Rhythmus eines poetiſchen
Kunſtwerks kann einen äſthetiſchen Einfluß gewinnen, und ob oder
inwieweit ein ſolches Element beobachtet worden iſt, läßt ſich durch
fein Geſetz vorherbeſtimmen. Darum fallen die Geſchmacksurtheile
verjchiedener Perſonen über dafjelbe Objekt jelbjtverjtändlich ver:
jchieden aus, und es wäre vielmehr merhwürdig und wunderbar,
wenn fie es nicht thäten. Won der Yebhaftigfeit der in der Phan—
tajie erzeugten Vorſtellungen hängt auch die Stärfe der jie be-
qleitenden oder durch fie geweckten Gefühle und Stimmungen ab,
und nach der Tiefe und der Vertheilung der Aufmerkſamkeit auf
die einzelnen Faktoren richtet jich das Interefje, das wir ihnen
zuwenden, und die lebendige äjthetijche Energie, die jie entwideln.
Es handelt jich demnach bei dem Gejammteindrud, über den wir
urtheilen, um eine Stombination von Elementen, deren jedes für
jich innerhalb gewijjer Grenzen variiren fann. Wiederholungen
der gleichen Kombination find aber, wie ſich aus einer einfachen
Wahricheinlichfeitsbetrachtung ergiebt, bei einer jolchen Fülle vartt-
rungsfähiger Glieder zu den größten Seltenheiten zu rechnen. Die
Meijterwerfe der Kunſt aller Zeiten stellen uns im Allgemeinen
jolche unwahrjcheinlichen Fälle dar, in denen der Geſchmack ver:
ichiedener Individuen ſich übereinjtimmend äußert, und gewiß tt
ihre Anzahl flein genug, um das Necht der hier angejtellten Er:
wägung zu erhärten. Aber die Wejthetif verliert durd) dieje jelbit-
verjtändlichen Abweichungen zwilchen den Gejchmadsurtheilen der
Menjchen ihren wijjenjchaftlichen Charakter mit nichten. Gelingt
es ihr zu zeigen, wie eim jedes Element für jich wirfen würde,
wenn es allein vorhanden wäre, und wie die einzelnen Faktoren
jich zu größeren oder fleineren Gejammteindrüden vereinigen, jo
läßt jich jede Bejonderheit des Geſchmacks unjchwer erklären, d. h.
auf allgemein geltende Gejete zurüdführen. Der Gemeinplat, daß
jih über den Geſchmack gar nicht jtreiten laſſe, it ganz richtig,
282 Die äfibetifche Gerechtigkeit.
joweit er bloß auf die natürliche Ihatjache der verjchtiedenen Werth—
urtheile hinweiſt, die über denjelben Gegenjtand gefällt werden,
und jedes diejer Urtheile als ein durd) bejtimmte Urjachen zuretchend
bedingtes und injofern gültiges anfieht. Er iſt aber durchaus
unrichtig, wenn er die Meinung einjchließt, daß jich über die Be-
jonderheit der Borausjegungen, welche den einzelnen Urteilen zu
Srunde liegen, überhaupt nichtS ausmachen lafje, und dat demnach
eine Berjtändigung über die Urjachen der thatjächlichen Abweichungen
unmöglich jei.
Mean pflegt die äſthetiſchen Gefühle, die durch unjere Geſchmacks—
urtheile zum Ausdrud gebracht werden, als ein Gefallen oder ein
Mißfallen zu bezeichnen. Von ihnen find wohl zu unterjcheiden
alle diejenigen Gefühle und Stimmungen, die an die einzelnen
beurtheilten Vorſtellungen jelbjt oder ihre Gejammtheit gefnüpft
find. So jind 3. B. die Sympathie, die wir mit dem Helden
eines Dramas empfinden, die Empörung oder Trauer, die uns er-
rüllen, wenn ein jeiner ummürdiges Geſchick über ihn hereinbricht,
die aufgeregte Spannung, mit der wir dem Fortgang der Handluna
folgen, und die Nührung, in die wir angejichts jeiner edlen Haltung
im Kampfe mit den ihn bedrohenden oder gar überwältigenden
Mächten verjegt werden, Gemüthserregungen, die dem Gegenjtandı
unjeres äjthetifchen Urtheils jelbit angehören und daher Fur;
Objeftsgefühle genannt werden fünnen. Ihnen jteht dann das
Gefallen oder Mihfallen als ein Neaftionsgefühl gegenüber.
Je nach der bejonderen Bejchaffenheit der Vorjtellungen und
Gemüthserregungen, die das Objekt, den äjthetijchen Eindrud bilden,
unterjcheidet man jchöne, erhabene, anmuthige, tragiiche, fomtiche
Gegenſtände unjeres Gefallens. Die VBorausjegung für die Ent:
itehung eines Neaftionsgefühls iſt jtetS das Intereſſe an der bloßen
Beichaffenheit des Gegenjtandes, welcher der verjchiedenen Haupt:
formen von Eindrüden er auch immer angehören mag. Damit ii:
jedoch nicht gejagt, unter welchen Bedingungen er gefällt oder
mißfällt. Es iſt ein unbeilvoller Irrthum moderner fünjtlerijcher
Beltrebungen, in demjenigen, was interejjirt, ohne weiteres auch
ſchon etwas erfreuliches zu erbliden und daher dem Eigenartigen.
Neuen nachzujagen, weil es nach anerkannten piychologiichen Ge-
jegen die Fähigkeit hat, die Aufmerkſamkeit auf fi) zu lenken.
Das Interejjante fann ebenjowohl mißfallen wie gefallen, und mit
Rückſicht auf dieſe doppelte Möglichkeit jtellen wir dem Schönen
das Hähliche, dem Anmuthigen das Plumpe u. j. mw. entgegen.
Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 283
Nach dieſen Vorerörterungen ſind wir nun für die Löſung
unſeres Problems der äſthetiſchen Gerechtigkeit genügend vorbereitet.
Damit Trauer, Elend, Unglück äſthetiſch berühren können, muß
man ſich zu ihnen in ein Verhältniß ſetzen, das durch das Intereſſe
für ihre bloße Beſchaffenheit hergeſtellt wird. Das iſt nur da
möglich, wo alle Reize, die ſolche Vorgänge dem Wollen und
Handeln ertheilen, unwirfjam geworden find. In der realen Welt
gehören dieje Fälle zu den Seltenheiten. Bier jind vor allem die
jittlichen Anforderungen und Verpflichtungen von einer die fontem-
plative Ruhe unterdrüdenden Kraft, jo daß wir derartige Eindrüde
lieber meiden, wenn es uns verjagt tt, praftijch einzugreifen.
Innerhalb einer fünjtlerischen Darjtellung aber verlieren fie jofort
dieje Beziehung zum Wollen und Handeln und gewinnen fie un:
mittelbar cine äjthetijche Bedeutung. Auch hier fann das Mit—
gefühl mit den gejchilderten Vorgängen lebendig jein, und wir
haben fein Recht, von einem bloßen Scheingefühl dabei zu reden.
Aber es hat aufgehört der Ausgangspunkt für eine praftijche Be-
thätigung zu werden. Mit dem vorgejtellten Zujtande ſelbſt ver:
ihmolzen, auf ıhn bezogen, bildet es einen Bejtandtheil des äjthe-
tiichen Gejammteindruds. Die Wirklichkeit dagegen jtellt uns in
eriter Linie praftiiche Nufgaben, deren größere Wichtigfeit einen
jolchen Yuzus des Yebens, wie ihn der äjthetiiche Genuß bildet,
nicht zur Geltung gelangen läßt. ragen wir danach, wie es denn
fonıme, daß ein Kunſtwerk die praktische Beziehung zu den in ihm
dargejtellten Vorgängen aufbebe, jo werden wir freilich auf den
Unterjchied zwijchen Bild und Wirklichkeit verweijen müfjen. Darin
liegt jedoch feine Anerkennung der oben befämpften Theorie des
äjthetifchen Scheins. Denn erjtlich läßt jich auch den realen Vor:
gängen eine äjthetiiche Seite abgewinnen, wenn jie die Wolle des
bloßen unbetheiligten Zujchauers möglich) machen. Und zweitens
tt die Unterjcheidung des Kunſtwerks von der Wirklichkeit nur als
eine objektive Bedingung für die Entitehung eines äjthetijchen
Verhaltens anzujehen und bedeutungslos für den jubjektiven Zuſtand
des Genießenden. Für die Natur dejjelben gilt ja vielmehr, wie
wir bereits ausgeführt haben, daß wir von Sch und Nicht= Ich,
von objeftiver Nealität und jubjeftiver Illuſion gänzlich abjehen.
Wann aber wird uns nun eine äjthetisch aufgefaßte Trauer
und Noth gefallen? Mit dem bloßen Interejje an ihrer Beichaffen:
heit it ihr pofitiver Werth noch nicht gegeben. Ja es ijt zunächit
fraglich, ob fich ein jolcher überhaupt hier entwideln fann. Denn
284 Die äfthetifche Gerechtigkeit.
das Beflagenswerthe, Noth und Elend, Unfittlichfeit und VBerderbt-
heit, jie alle fünnen doch nicht zugleich gefallen und die in dem
natürlichen Mitgefühl mit folchen Zujtänden und Vorgängen be
gründete Unlujt erweden. Die Piychologie lehrt uns, daß die Ge-
fühle durch einen einheitlichen Charakter ausgezeichnet jind, vermög:
dejien nur eine Qualität jeweils zur Herrjchaft gelangt. Zwar
lajjen jich Farben und Töne, Helles und Dunfles, runde und ediae
Formen gleichzeitig erleben, nicht aber die Gefühlsgegenjäbe der
Luft und Unluft, auch wenn fie ganz verjchiedenen Urjachen ent:
jtammen. Iſt aljo wirklich ein Objeftsgefühl des Mitlerds, der
Nührung, und nicht etwa blos eine Vorftellung, ein Begriff von
ihnen vorhanden, jo läßt jich in demjelben Momente daneben nicht
noch ein Neaktionsgefühl der Freude empfinden. Entweder nämlid
muß die traurige Stimmung jelbjt bereits aufgehoben jein, wenn
das Gefallen einjeßt, oder die auf entgegengejegte Gefühle bin:
wirkenden Faktoren erzeugen einen rejultivenden Gemüthszuſtand,
in dem je nach der Stärfe der gleichzeitig vorhandenen Urjachen
bald äjthetijche Luft, bald auferäjthetiiche Unlujt hervortritt. Beides
bietet eine erhebliche Schwierigkeit für die Erflärung des äſthe
tiichen Gefallens am Traurigen. Vermag es erit nachträglid
Boden zu gewinnen, jo läuft e8 Gefahr ein jchwacher und unzu—
verläjliger Nachklang zu werden, um dejjentwillen es ſich wahrlid)
nicht verlohnen jollte, eine jo jtarfe Gemüthserjchütterung uner:
freulicher Art, wie jie der Anblick troftlojer Ereigniffe gewährt. auf fich
zunehmen. Vielleicht haben dann diejenigen vollfommen Recht, die ſich
feine Tragödie im Theater vorjpielen lafien und feine Nomane
tragischen Inhalts lejen wollen. Gelingt es aber während der
unmittelbaren Einwirkung des äſthetiſchen Eindruds der von ihm
ausgehenden Unlujt joweit Herr zu werden, daß eine jchrwache
Negung des GSefallens aufzufeimen vermag, jo it auch dieje be:
itändig in ihrer freien Entfaltung bedroht und gehemmt und fann
im nächjten beiten Augenblid dem Mitgefühl an dem dargeitellten
Elend und Jammer, aljo der Unluſt, Platz machen müjjen.
Wenn uns fein anderer Musweg bleibt, jo werden wir, wie
es jcheint, auf die alte medizinische, von Arijtoteles in jeiner be
rühmten Definition der Tragödie angedeutete Auffafjung binge:
drängt, nach der dem Gewitter gleichend, das die Luft reinigt,
die Gemüthserregungen des Mitleids und der Furcht von Zeit zu
zeit ich entladen müſſen, um unjere Seele zu befreien und zu er-
löſen. Dann wäre das Gefallen am Tragijchen der Freude ver:
Die äfihetiiche Gerechtigkeit. 285
wandt, die wir empfinden, wenn eine an fich jchmerzhafte Operation
an einem franfen Gliede unjeres Körpers glüdlich gelungen it,
oder der Befriedigung, die uns die jättigende Nahrung gewährt,
wenn ein recht quälender Hunger vorausgegangen it. Gewiß
braucht nicht gejagt zu werden, daß eine jolche Yujt mit dem
äjthetiichen Gefallen gar nichts zu thun hat. So wenig wir be:
jtreiten wollen, daß jie vorfommt, daß dieje rein finnliche Wirkung
neben der äjthetijchen einhergeht, jo jehr muß doch zugleich betont
werden, daß jie an jich ihren eigenen Gejegen folgt, und in dem
äjthetiichen Gefühl feine regelmäßige oder nothwendige Begleit-
erjceheinung findet. Wer der Anjicht it, daß das Gefallen am
Tragiſchen jich nur einjtellen fann auf Grund einer fraftvollen Er:
giegung der Ihränendrüjen, der muß auch das Gefallen am So:
mischen auf die wohlthätige Erjchütterung zurüdführen, welche die
jtoßweijen Erjpirationen des Lachens für den gejunden Menjchen
bedeuten.
Im Gegenjag zu Diejer findlichen Auflöjung des äjthetijchen
Problems bieten ſich uns zwei Gejichtspunfte dar, die uns ein
wirkliches Verjtändniß jenes Unterjchiedes, von dem wir bei der
Beltimmung des Wejens der äjthetijchen Gerechtigfeit ausge:
gangen waren, eröffnen. Zunächſt haben wir zu erwägen, daß
die Trauer, welche ſich an einen bloßen Grfahrungsinhalt mit
gewohnheitsmäßiger Sicherheit anjchliegt, ebenjo wie diejer jelbjt
von allen praftijchen Beziehungen, Aufgaben und Zweden befreit
tt. Ein uns in fünftlerijcher Darftellung gebotener jchmerzlicher
Stoff fann, jofern wir uns ihm gegenüber in der für das äjthetijche
Verhalten charafteriftiichen Kontemplation befinden, nicht die Qual
und Sorge, nicht die Leidenjchaft erregen, die jih im Yeben mit
unvermeidlicher Gewalt zur Geltung bringen. So gleicht die im
äfthetiichen Zujtand auftretende Trauer der verflärten Wehmut,
mit der wir unjerer lieben Toten gedenfen, nachdem Die leiden—
ichaftliche Empfindung ihres Verluſtes von uns gewichen it. Ihr
haftet nichts jinnlich Unangenehmes mehr an, fie entladet ſich
nicht in wilden Ausbrüchen der Verzweiflung, ſie jtört nicht das
ruhige Gleichmaß unjerer Stimmung. Ohne uns den Frieden der
Seele zu rauben, begleitet jie die jtille, liebevolle Hingabe an das
Bild der Entjchlafenen. So gehört aud) die Theilnahme, die wir
dem Xeiden innerhalb der äjthetijchen Betrachtung widmen, zu
dem vorgejtellten VBorgange, wie eines jeiner Merkmale. Sie
wird jelbjt zu einem bloßen Inhalte unjerer Erfahrung, zu einem
256 Die äfthetifche Gercchtigfeit.
Objekt, und jtellt an uns feine Anforderungen, die wir wollend
oder handelnd zu erfüllen hätten. ine jolche Unlujt it jchwad)
genug, um ein äſthetiſches Gefallen möglich zu machen, und wird
bei dem Kampf um die Herrichaft im Bewußtjein feine unüber:
windliche Gegnerin jein.
Dazu fommt als ein weiterer wichtiger Faktor eine eigen-
tümliche Leiſtung unjerer Mufmerfjamfeit. Sie vermag nicht nur
einzelne Gegenstände unferer Erfahrung zu tjoliren, während
anderen der Einfluß entzogen wird, den jie jonjt auf das Bewußt—
jein ausüben fünnten, fie ijt auch im Stande, bejtimmte Seiten
oder Nichtungen, die ſich an den Inhalten unjerer Erfahrung
unterjcheiden lajjen, allen oder wenigjtens vorzugsweije zur
Geltung zu bringen. Nun wifjen wir, daß Die äjthetiiche Be—
trachtungsweije durch das Interejje für die bloße Bejchaffenbeit
der Erfahrungsgegenjtände bedingt it. Darum werden alle
jonjtigen Wirkungen Dderjelben unterdrüdt und fallen alle Die
mannigfaltigen Neize fort, welche von ihnen in jinnlicher, jittlicher,
wiljenjchaftlicher Beziehung ausgeübt werden fünnen. Es gelingt
uns mit Hülfe dieſer theils hemmenden, theils iolirenden Macht
unjerer Aufmerkfjamfeit in demjelben Moment, wo wir während
itarfer Zahnjchmerzen auf die Empfindung als jolche uns fonzentriren,
die finnliche Unluft zu jchwächen oder gar zum Schweigen zu
bringen. Ebenſo fann der Arzt infolge einer zwedmäßigen Ein—
jtellung jeiner Aufmerkjamfeit in dem jchwer leidenden Patienten
nur einen „Fall“ jehen und dadurch die Jichere Ruhe gewinnen,
die für eine klare Beurtheilung und das richtige praftijche Ein-
greifen unerläßlich it. Im der gleichen Yage befinden wir uns,
wenn uns traurige Zuſtände äjthetijch erregen. Die Beichäftigung
mit ihrer anjchaulichen Bejchaffenheit lenkt von der natürlichen
Nührung, von dem gewöhnlichen Mitleid ab, die als erite Bor:
itufe für eine willensfräftige Bethätigung angejehen werden fönnen.
Damit aber entfalten fi) nun ungehemmt die Wirfungen des
Eindruds auf die äſthetiſchen Gefühle.
Mean wird es in dieſem Zuſammenhange nicht mehr für noth-
wendig halten, daß wir die bejonderen Eigenjchaften genauer auf:
zählen, welche die Entjtehung eines äſthetiſchen Gefallens an
betrübenden Vorgängen veranlajien. Denn dieje jind im Prinzip
feine anderen als die Merfmale, durch welche erfreuliche Gegen:
ſtände einen pofitiven äjthetifchen Werth erlangen. Unſere Aus:
einanderjegung bat ja zu der Einficht geführt, daß es fich nicht
Die äfthetiiche Gerechtigkeit. 287
darum handeln fann, das äjthetiiche Gefallen an dem Yeidvollen
und Schmerzlichen in bejonderer Weije gerade auf die dadurch
ausgelöjte Unluſt zurüdzuführen. Wir haben vielmehr gezeigt,
daß und wie die überall mögliche äſthetiſche Wirfung aud) in
jolchen ‚zällen frei werden fann, wo ſich das Weh einer mit:
leidenden Seele jeglichem Gefallen als ein unüberwindliches Dinder:
niß in den Weg zu ſtellen jcheint. Darum mag der Dinweis
auf einige gefallende Momente genügen. So fann die jinnliche
Erjcheinung, in der ji) uns Elend und Noth und unglüclicher
Kampf enthüllen, für jich einen jchönen Eindrud gewähren. Nicht
minder fann der organtiche Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen
Iheilen des jorgjam aufgebauten Kunſtwerks das Ktennerauge be:
jriedigen. Ferner mag der Rhythmus der Stimmungen und
Sefühle, der jih an die Folge der gejchauten Ereigniſſe fmüpft,
ein wohlthuender jein. Endlich wird das Erhabene, da wir ın
einem tragifchen Gejchi zu erfennen vermögen, wejentlich die
erfreuliche Natur der äjthetiichen Wirfung unterjtügen. Die Auf-
zählung ijt feine volljtändige und will es nicht jein. Nicht das
Unerjchöpfliche in ein umfajjendes Syitem zu bringen, jondern Die
allgemeinen Gejichtspunfte klar ans Licht zu stellen, welche bei
der Yöjung des Problems der äjthetiichen Gerechtigkeit maßgebend
jind, war hier allein die Aufgabe. Aus dem einen Grundbegriff
des äjthetiichen Eindruds haben wir unjere Yöjung entwideln
fünnen. So verräth ſich bier troß aller Unvolljtändigfeit im
Einzelnen der fejte und nothwendige Zuſammenhang aller äjthetijchen
Begriffe miteinander. Wir wollen e8 uns jedoch nicht verjagen,
nachdem wir die IThatjache der äjthetiichen Gerechtigfeit auf ihre
Srundlagen zurüdgeführt haben, ihre Bedeutung an einer be:
jtimmten künſtleriſchen Richtung, an der des Naturalismus, zu
erläutern.
II.
Ueber den Naturalismus als äjthetijche Theorie oder
Norm it fein Wort zu verlieren. Im diefer Beziehung bleibt er
hinter den Anforderungen weit zurüd, die man an eine befriedigende
GErflärung der Thatjachen und eine ſich daraus ergebende regulative
Beftimmung des fünftleriichen Schaffens jtellen muß. Aber damit
iſt über die äjthetische Bedeutung einer naturaliitiichen Kunſt nichts
entjchieden. Bielmehr würde ſich Die äjthetiiche Wiſſenſchaft
geradezu ein Armuthszeugniß ausitellen, wenn jie einer jo mächtigen,
288 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.
von Zeit zu Zeit wie mit innerer Nothwendigfeit hervorbrechenden
und jich ausbreitenden Richtung der fünjtlerijchen Thätig-
feit gar feinen Werth zuzuerfennen in der Lage wäre.
Zwar an den willfürlichen baroden CEinfällen einer über:
reisten individuellen Phantafie dart die Mejthetif vorübergeben,
ohne befürchten zu müjjen, daß fie diejenige Weitherzigfeit einbüke,
die eine Grfahrungswifjenjchaft gegenüber den in ihr Gebiet
fallenden Thatſachen jederzeit ausüben muß. Aber Bejtrebungen,
welche eine ganze Periode beherrjchen und der gejchichtliden Be
trachtung geradezu als unumgängliche Durchgangsitufen zur höchſten
Kunjtblüthe erjcheinen, zwingen den von Beobachtung und Unter:
juchung des erfahrungsmäßig Gegebenen geleiteten orjcher feine
Begriffe und Gejege jo zu gejtalten, daß fie ihnen gerecht werden
fünnen. Mit jener Bhilojophie des Schönen, welche da defretirte,
was alleın Gegenitand eines Gejchmadurtheils fein Dirfe, it es
hoffentlich ein für allemal vorbet.
Kun hat man freilich jchon darauf hingewiejen, daß die tech—
nischen Hülfsmittel durch das Beitreben naturgetreu zu malen oder
zu jchildern verfeinert worden find. Je genauer wiedergegeben
werden joll, was eine Yandjchaft, ein menschlicher Charakter, eine
Situation an Eigenthümlichkeiten, Licht und Schattenjeiten in ſich
bergen, um jo jorgfältiger, dDurchgebildeter und minutiöjer muß die
Behandlung der dazu dienenden PDarjtellungsmittel werden. Ta:
neben it auch die Nothiwendigfeit hervorgehoben worden, das
moderne Yeben mit jeinen Kräften, Zujtänden und Zielen auch in
der Kunſt zum Ausdrud gelangen zu lajjen. Andere Zeiten,
andere Kämpfe, Intereſſen nnd Gewohnheiten! Gegenüber der
romantijchen Flucht in die Vergangenheit oder in ein blühendes
Reich unbefümmert jchaffender PBhantafie hat fi) unter uns eine
warme und fraftvolle TIheilnahme an der Gegenwart, an der
Wirklichfeit eingejtellt. Bon diefem Wirflichkeitsfinn der modernen
Menjchen zehrt die naturalijtiiche Kunft, ihm kommt fie zugleic
entgegen. Indem jie den Yejer, Hörer, Zujchauer in das bunte
Setriebe, in die widerjpruchsvollen Tendenzen unjerer Zeit hinein-
führt, rechnet fie auf ein matürliches großes Intereſſe für dieſe
Dinge und pflegt jic darin nicht zu täüjchen. Aber man mus
über dieſe halb widerwillig zugeitandene Bedeutung des Natura-
lismus noch einen erheblichen Schritt hinausgehen, wenn man
den pojitiven Werth, den die Yeiftungen dieſer Richtung für fich
in Anfpruch nehmen dürfen, begreifen will. Denn die technijche
Die äfthetifche Gerechtigkeit. 289
Kunjtfertigfeit it an jich fein Gegenjtand einer äjthetifchen Wür—
digung. Legt man den Hauptnachdrud auf das Können, nicht
auf das Dargejtellte, jo zieht man in die äjthetijche Beurtheilung
eines Eindruds etwas hinein, was fich nur auf Grund eines be—
jonderen Wiſſens um die technijche Entjtehnng dejjelben abjchägen
läßt. Aber auch derjenige, der feine Ahnuug davon hat, wie die
Xeinwand zubereitet, die Farben verrieben und aufgetragen
werden, fann ein Werf der Malerei genießen und würdigen.
Schon Kant hat bemerkt, daß der wahre fünftlerische Eindrud auf
einer Betrachtung beruhe, welche das Werk auffajje, ald wenn es
ein Stüd der Natur jei. Betont man andererjeitS bloß das glück
lihe Berhältnig, in welchem die naturalijtiiche Kunftübung zu dem
natürlichen Interejje der Menjchen an der fie umgebenden Wirk:
lichkeit jtehe, jo hat man zwar eine VBorbedingung für die Ent—
widelung äjthetijcher Erregungen angegeben, aber die nähere Be—
ziehung zum Gefallen zu bejtimmen vergejjen. Zugleich würde ſich
von dieſem Gejichtspunfte aus eine bedauerliche Einschränkung
des Werthes naturalijtiicher Kunſtwerke für die Zeit, in der fie
entitanden jind, ergeben.
Hier tritt nun ergänzend derjenige Thatbejtand ein, den wir
unter dem Namen der äjthetiichen Gerechtigfeit gejchildert und er-
Härt haben, Für das Verſtändniß der naturalijtiichen Kunſt iſt
das Prinzip unentbehrlich, nad) welchem ein in der Wirklichkeit
faum oder gar nicht äjthetifch berührender Vorgang in der Dar:
jtellung, die ihm das Kunſtwerk verleiht, zu einem Objekt des
blogen Gefallens oder Mipfallens werden fann. Breitet jich über
die Vergangenheit der feine, verhüllende Nebel aus, den unjere
Unwifjenheit zwijchen das damalige Gejchehen und unjeren ein—
dringenden Blid jchiebt, jo daß nur das Große, Glänzende, Eigen
artige deutlich zu werden vermag, jo läßt dagegen die Wirklichkeit
deö gegenwärtigen Daſeins und Lebens auch das Kleine, Trübe,
Gewöhnliche zu einer klaren Erjcheinung werden. So liegt e8
denn im Wejen des Naturalismus begründet, daß er gerade dieſen
Zügen jeine bejondere Aufmerkſamkeit jchenkt, und auf allen Gafjen
fann man den Vorwurf gegen ihn hören, daß er ſich darin gefalle,
dad Niedrige, die Schattenjeiten in Handlung und Gefinnung vor=
zuführen. Man bedenkt dabei nicht, wie der Künſtler mit ficherer
Hand die zahlreichen Unwerthe des Lebens, der Natur in äjthetijche
Werthe ummwandelt nnd dadurd den in der Wirklichkeit benach-
theiligten, zurüdgejegten Erjcheinungen eine größere Bedeutung
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 19
290 Die äfihetiiche Gerechtigkeit.
fihert. So fann das Unfittliche und Unangenehme, ja jelbit das
Häßliche der realen Welt in den Kosmos der Kunjt aufgenommen
und dadurch von den Faktoren befreit werden, die ein reine Ins
tereffe an ihrem Inhalte nicht auffommen lafjen. Wie die Traum:
gejtalten dämmernder Phantajie ziehen fie an uns vorüber, fein
Handeln und feine wiljenjchaftliche Zergliederung fordernd oder
ermöglichend, nur zur finnigen Betradhtung einladend. Aus jolcher
Verjenfung in das Dargeitellte, aus Diejer theilnehmenden
Empfänglichfeit erblüht ein Zauberreich äfthetijcher Geſtalten.
Das it der Wunderftab der Kunſt, der uns im Bilde, im
Gedicht eine Wirklichkeit bejcheert, die rein äjthetiich gewürdigt und
genofjen werden fann. Treibt uns das den Gejeten des Rechtes
und der Sittlichfeit widerjprechende Verfahren im Yeben zum
thätigen Eingreifen, zur Verhütung des Böſen, des Unerlaubten,
zur Beitrafung des Verbrechers, jo wird es uns in der poetijchen
oder malerischen Schilderung zu einem Gegenitand der Nach—
empfindung, der inneren Theilnahme, der bloßen Betrachtung.
Armuth und Elend, Schmug und Verfommenheit juchen wir, wo
fie uns als finitere Mächte im menjchlichen Dajein begegnen, zu
lindern oder zu meiden; dem Kunſtwerk aber, das jie uns an-
chaulich vorzuführen weiß, geben wir uns mit Geilt und Gemüth
willenlos hin. Unjer Interejje an ihnen wird durch feinerlei Aus:
brüche unjerer Neigung oder Abneigung zertheilt und gejtört. In
freier, tiefer und reiner Theilnahme an der Bejchaffenheit des
Gegenitandes verharren wir pajjiv und jchweigend auch gegen:
‚über den gräßlichiten, entjeglichiten Vorgängen. Und vermag e:
vollends ein Künjtler über den Unvollfommenheiten und Schwächen
der beiten aller Welten die Sonne des Humors leuchten zu laſſen,
dann entringt fich ung jene ewige, über Naum und Zeit erbhabene
Heiterkeit, die unter Thränen lächelt.
In dieſer Umwerthung der Werthe, einer wahreren um
bejjereren, als jie Niegiche pathetijch verfündet hat, ruht die Ueber
|
legenheit der Kunjt über die Natur. Dieje äjthetiiche Gerechtigkeit |
stellt ich ebenbürtig neben ihre Schweiter Themis. Während die |
fegtere mit der Binde vor den Augen, auf feiner Waage, ohne
Anjehen der Berjon das Gute und Böje, das Necht und das Un— |
recht gegeneinander abjchägt, umfaßt jene mit allzeit offenem Blid
das Stleine und Große, das Starfe und Schwache, die Güter und
Uebel, die Fehler und die Vorzüge. Wo die jtrenge Schwester
ihren Richtſpruch unnacdhjichtig Fällt, da tritt fie mild verjöhnend
Die äfthetifche Gerechtigkeit. 291
und ausgleichend ein. Sie iſt es, der nichts Menjchliches fremd
bleibt, die das Niedrige, Gewöhnliche, Urmjelige aus feiner dunklen
Pariaftellung emporhebt zur lichten Wärme eines äjthetijchen
Interefjes. Alle Auswüchje und Stieffinder der Natur, von der
öden unfruchtbaren Steppe bi8 zum jchmugigen SKehrichthaufen,
von der Verworfenheit des unverbefjerlichen Böjewichts bis zur
lächerlichen Hohlheit de eitlen Narren, von der widerwärtigen
Habgier bis zur jündigen Fleifchesluft, von Haß und Neid und
Radhjucht bis zur elenden Feigheit — fie alle verjammelt fie um
ſich, ihnen allen ficherr fie eine Betrachtung jenfeitS von gut und
böje. Die hochragende Warte des fittlichen Ideals, gejunder Kraft
und Friſche der Empfindung wird dadurch wahrlich nicht in den
Staub gejtürzt. Nicht die ethijchen Werthe werden dadurch ge:
ändert, es wandelt jich dadurch nicht das Unfittliche in ein Sitt—
liches, das Unerlaubte in ein Erlaubte um, jondern es wird nur
der in dieſen Unwerthen verborgene äjthetifche Inhalt an das
Tageslicht gefördert. Das Unangenehme bleibt unangenehm, das
Gejegwidrige gejegwidrig, die Pflichtverlegung hört nicht auf eine
Pflichtverlegung zu jein; aber dieſe Momente verjinfen vor der
itillen Gelajjenheit der äjthetiichen Stontemplation, die wir jolchen
Erjcheinungen entgegenbringen, jobald jie ſich in künſtleriſchem
Gewande unjerem Blide zeigen.
Darin aljo jehen wir das Berdienit des Naturalismus, daß
er eine jolche äjthetiiche Gerechtigkeit übt. Das Gute bedarf ihrer
jelbjtverjtändlich weniger als das Schlechte, das Erfreuliche weniger
ald das LUnerfreuliche. Denn jenen wenden wir auch jchon im
Leben unjere Theilnahme, unjer Interejje zu, und jo werden jie
auch jchon in der Wirklichfeitt häufig von der genießenden An—
Ihauung des äjthetifchen Zuftandes ergriffen. Aber von dieſer
Anerkennung bleibt zugleich ausgejchlojien diejenige Kunſt, die ung
vortäufchen möchte, daß Unrecht Recht oder daß Uebel ein Gut
jei, die ſich in den Dienjt bejtimmter Theorien außeräjtbetijcher
Art stellt. Aufreizung zum Klaſſenhaß, Propaganda für eine
moderne Sittlichfeit und Lebensanjchauung, Borliebe für das
Frivole und Gemeine liegen der echten naturalijtiichen Kunſt fern.
Vo der Dichter jolche Ingredienzien in den Trank miſcht, den er
uns reicht, da werden wir gewaltjam aus der Sphäre der reinen
Kontemplation in ein gänzlich unäjthetiiches Verhalten hinein-
gerijjen, da werden gerade Die praftijchen Beziehungen des von
ihm gejchilderten Gegenjtandes zu uns, die dem Stunjtwerf gegen-
19*
292 Die äfthetifche Gerechtigkeit.
über zurüdtreten und vergehen jollten, mit täpptijcher und rober
Hand wiederhergeitellt. Nur eine von jeder Tendenz freie, unbe
fangen die Schäden aufdedende fünftlerijche Arbeit fann den
äjthetiichen Werth beanjpruchen, den wir dem Naturalismus zu:
getheilt haben.
Doc; nicht nur in dieſer Beziehung bedarf die Anwendung
der äſthetiſchen Gerechtigfeit einer Einjchränfung. Wir müſſen aud
noch darauf hinweijen, daß eine Schilderung der Mängel um
Verfehrtheiten der Welt im allgemeinen nur in naturalijttjcher
Form, d. h. in unmittelbarer Anlehnung an die Wirflichfeit erträg:
lich it. Wie gerne lajjen wir ung von dem Künſtler in ein ideales
Gebiet leiten, dejjen Vollkommenheiten nur in der freien Phantaſie
Beitand haben! Aber von den Greueln und Schandthaten, die
ung eine erhißte, eigens darauf zugejpigte Einbildungsfraft vor die
Seele führen möchte, wenden wir uns mit Grauen und Abjcheu ab.
Nur wenn wir das Bewußtjein haben, das, was wir wahrnehmen,
jei der Natur abgelaujcht, jei treu und mit unbejtechlicher Wahr:
haftigfeit nach realen Vorbildern berichtet oder gezeichnet, pflegen wir
e8 zu dulden und äjthetiich zu würdigen. Dabei ijt es gleich;
gültig, ob dieſe unjere Annahme begründet ijt oder nicht; ent-
icheidend it vielmehr nur die Frage, ob wir das Dargeitellte nad
Maßgabe unjeres Wifjens, unjerer Erfahrung für möglich Halten.
Darum it es im Interejje der äjthetiichen Wirkung geboten, ſich
mit der Schilderung der Nachtjeiten nicht in das Abjonderliche,
Unwaphrjcheinliche, Seltene zu verjteigen, jondern das Typiſche,
den meiſten Geläufige auszuwählen. Die äjthetijche Gerechtigfeit
vergeudet ihre Huld nicht an den erträumten Uebeln, an den von
einer verirrten Phantafie heraufbejchworenen Spufgejtalten, jondern
jie neigt fich herab nur zu den Bildern einer beflagenswerthen
Berfettung von Dingen und Ereignijjen, die in der Wirklichkeit
möglich erjcheint oder für möglich gehalten wird. Es hängt das
damit zujammen, daß ein allgemeines Snterejje für derartige
Stoffe nur vorausgejegt werden fann, wenn fie jich durch eine
innere Wahrjcheinlichfeit von bloßen Ausgeburten einer patholo—
gischen Vorſtellungskraft unterjcheiden lajjen.
Sp iſt es uns möglich geworden, mit Hilfe des Begriffes der
äjthetifchen Gerechtigfeit dem Naturalismus einen Lorbeer zu
pflüden, den ihm noch fein Mejthetifer gereicht hat. Nicht dem
Prinzip, der Theorie, der Norm jei er geweiht, jondern der künſt—
lerijchen Richtung jeines Namens. Aber auch nicht allem, was in
Die äfthetifche Gerechtigkeit. 293
der Kunjt unter diejer Flagge keck und frech daherjegelt, fünnen
wir dieſen Preis ertheilen, jondern nur jenen echten und ernjten
Werfen, die der erhabenen Idee der äjthetijchen Gerechtigfeit dienen
und deren Aufgabe erfüllen. Jede Zeit hat ihre Kümmernifje und
prägt den allgemeinen Unjegen, der auf der Welt lajtet, in ihrer
bejonderen Weije aus. Der Naturalismus wird dafür der Spiegel,
in welchem wir in leidenjchaftslojer Weiſe auch die Ktehrjeiten zu
jchauen und zu würdigen vermögen. Wer der Kunſt verbieten
will, uns in das Schattenreich) der Verderbniß zu führen, jtrebt
nicht nur nach einer unerreichbaren Bejchränfung ihres Waltens
und Wirkens, jondern trachtet auch in jeinem blinden Eifer danach,
alles, was in jenem Neid) lebt und webt, jeglicher mitempfindenden
Theilnahme zu berauben. Beruht die Kraft und der Reichthum
des Idealismus auf der freien und hochgejtimmten Phantafie, die
fih von der unvollfommenen Wirflichleit aus in ein glüclicheres, ,
teineres, bejjeres Gefilde rettet, jo haftet dagegen der Naturalismus
an der Erde mit ihren Mängeln und Schwächen. Ohne Ver:
jhönerung und doch in der einer künſtleriſchen Darftellung inne-
wohnenden Verklärung giebt er uns die Wirklichkeit, wie fie it,
mit ihren Schladen und Flecken. Offenen Auges wandeln wir
heute vielfach in einer Traumwelt, die nur einen fleinen Bruch-
theil der wirklichen bildet und doch den Anjpruch erhebt die ganze
jein zu wollen. Bon der modernen Kunjt erhalten wir dann den
tieferen Einblid in die ung fremd gebliebenen Sphären und lernen
auch jie mit unbefangener Theilnahme erfajjen und tragen. Und
jo gleichen wir in unferer äjthetijchen Gerechtigfeit jener höheren,
von der es in der Bergpredigt heißt, daß fie „die Sonne auf
gehen läßt über die Böfen und über die Guten und regnen läßt
über Gerechte und Ungerechte.”
Das MWirthichaftsleben der deutichen
Südſeeinſeler.
Von
Hans Blum.
Der weitaus größte Theil des deutſchen Südſeeſchutzgebiets
wird von melaneſiſchen Stämmen bevölkert und zwar von ſolchen.
die nach dem Vorgange des Profeſſors Dr. von Luſchan Weſt—
melanejier genannt werden. Djtmelanefier mit ungewöhnlich
langen, hohen und jchmalen Schädeln finden ſich auf einigen
Injeln der Fidfchigruppe, vor Allem aber in Neu-flaledonien und
auf den Neu-Hebriden. Kaijer Wilhelmland ift die Heimath des
echten (melanefiichen) Papua. Der Küjte entlang find malaitjce
Beimifchungen nicht zu leugnen — jo zweifellos nicht auf der
Mattyinfel — aber auch ſonſt bis zur Ajtrolabebai hinab. Die
inländischen Bergbewohner Neu-Guineas erinnern jtellenweije ſehr
an den Auftraltypus, von ihnen haben wir indeß bis jetzt nur
äußerjt jpärliche Kunde. In die Flußthäler find offenbar die
Papua der Hüfte vorgedrungen, jo am Ramu und am Slaijerin-
Auguftafluß, haben jich aber dort von malaiischer Mifhung ganz
frei gehalten. Vom Feſtland Neu-Guinead gen Djten wandernd
treffen wir auf den Franzöſiſchen Inſeln und auf Neupommern
noch unvermijchte Papua bis zum Nordende der Gazellehalbiniel
in den Bainingbergen. Die Gazellehalbinjel jelbjt, Neu-Lauen—
burg und Neu-Medlenburg- Süd find von einer Raſſe bevöltert,
die wahrjcheinlich einer melanefifch-polynefiichen (aljo malaiischen)
Mengung ihr Dajein verdankt. Möglicherweije find Polyneſier
von Oſten aus rüdwandernd in den melanefischen Injelgürtel
Das Birtbichaftsleben der deutſchen Sübdjfecinfeler. 295
dort eingedrungen. Auf den deutjchen Salomoinjeln begegnet uns
wieder der echte Papua. Die öftlicheren Kleinen deutjchen Inſel—
gruppen jind von WBolynefiern bejiedelt. Auf den Wdmiralität-
injfeln herrſcht in einer Miſchraſſe malaiische Art vor; Aehnliches
finden wir auf den Cremiten und Nnachoreten. Nördlich der.
Linie, in dem jogenannten Mifronefien, zeigen die Marjhalls
mehr Berwandtjchaft mit Polynefien, während die Bewohner der
Karolinen vorwiegend mit melanejischem Blut durchjegt jind.
Ein buntes Gewirr! Wo find die Fäden, die aus dieſem Raſſen—
und Sprachencdhaos heraus zu den dunklen Spuren leiten, auf
denen vor vielen hundert Jahren die erjten Menjchen jene Inſel—
welt bejiedelten? Zweifellos hat die neuholländische Raſſe zu—
allererjt Ozeaniens Küjten aufgefuht — und wahrjcheinlich fam
auch fie aus dem Süden Djtafiens. Später, vielleicht Jahrtaujende
jpäter, find die Oſt- und dann die Weſtmelaneſier von Djtindien
über den malaiiſchen Archipel nachgedrängt, ihnen folgten Die
Polynefier, als auch jie den Stärferen weichen mußten. Neuere
Forſchungen führen zu der Annahme, daß jowohl Madagastar,
die Keelinginjeln, al8® auch ganz Ozeanien — und noch früher
Australien und Tasmanien — allmählih in großen Paujen von
Stämmen bejiedelt worden find, die urjprünglich alle in Ojftindien
heimijch waren. Die vordringende mongolijche und indische Raſſe
trieb Die Ureingeſeſſenen gen Oſt und Weſt auf die See hinaus
oder auf die unwirthlichiten Gipfel des indilchen Hochgebirges.
Die Sprachforſchung glaubt in Madagaskar, in den einjfamen
Hochlanden einzelner Striche Indiens, auf Neujeeland, auf Tahiti
gleiche Wurzeln zu finden. Im Großen und Ganzen wird Hinter:
indien daher wohl die Urheimath aller Südſeeinſeler jein, aber fie
jind zu weit auseinander liegenden Zeiträumen in fleinen Trupps
und Sippen gewandert, jind unjtät hin- und hergezogen, durch
Wind und Wellen verjchlagen worden, haben vielfach ſich ge-
mijcht und find jchlieglich auch wieder von Oſt gen Wejt rüd-
gejtrömt. Ein einheitliches Bild diefer Wanderungen wird wohl
nie zu Stande fommen. Gbenjowenig fönnen wir über die Zeit
der Befiedlung Haltbares ermitteln: jie liegt jedenfalls näher, als
man häufig anzunehmen geneigt iſt. Neuere Forſcher jegen den
Beginn der Befiedlung Ozeaniens auf das Jahr 1000 vor Ehriftt
Geburt an. Am jtaunenswerthejten jcheint uns der fühne Wagemuth,
der die Heimathverdrängten hinaus aufs unbefannte Weltmeer
trieb. Gewiß find die Yaunen des Waflers und des Windes viel
296 Das Wirthſchaftsleben der deutfchen Sübfeeinjeler.
häufiger die Wegweijer der Irrenden gewejen, als nach Richtung
und Biel bejtimmte Pläne. Trotzdem waren es unerjchroden:
Seefahrer und gewandte Sciffbaumeifter, die auf dem Einbaum
die großartigite Bejiedlung leifteten, die wir aus der Gejchichte
fennen. Die Annahme, Ozeanien jei ehedem ein feiter großer Erd:
theil — das Südland! — gewejen, dejjen Gipfel heute als Inſel—
ichollen aus dem Meere ragen, ijt ja nicht ohne Weiteres zurüd:
zuweilen, wiewohl der Franzoſe Bernard für den weftlichen
Stillen Ozean den geologijchen Nichtigfeitbeweis dieſer Muth:
maßung erbracht zu haben glaubt, aber dieſes Südland it
mindejtens in der Diluvial» vielleicht jchon in der Tertiärzeit eine
Beute des Wafjers geworden. Die Menjchen, deren Nachkommen
heute noch die Südjeeinjeln bevölfern, wohnten dorten jicher erit
jeit wenigen Jahrtaufenden, die legten Nachwanderer (Polyneſier
nicht einmal jo lange. Wir müfjen alfo in ihnen die Ueberreite
von Stämmen erbliden, die ein fühnes Seefahrervolf waren lange
bevor Europas Vorfämpfer auf dem Weltmeer die Geftade der
Süpdjeeinjeln zum erjten Mal erjchauten.
Die Entdedung diejer Injelwelt iſt vorzüglich mit dem Namen
Cook verknüpft; freilich haben andere — Spanier und Portugiejen
(Magelhaes 1520) — einzelne Schollen des Stillen Meeres
Ihon Jahrhunderte früher gefichtet; die weftliche, jetzt deutſche
Inſelwelt, war bereitS zu Beginn des fechszehnten Jahrhunderts
befannt, Neu Guinea feit 1526 durch den Portugiefen Jorge de
Menejes; aber die vielen Entdedungsfahrten der nachfolgenden
Sahrhunderte haben wenig Kunde von Land und Leuten zum
heimathlichen Norden getragen, vor Allem recht geringe, wirklich
wijjenjchaftliche Ausbeute. Ueber die nunmehr deutjchen Südſee—
jchußgebiete haben erſt die legten Jahrzehnte einigen Aufſchluß
gebracht und das wirthichaftliche und gejellichaftliche Leben unjerer
Südjeeunterthanen ift bis zum heutigen Tage unvollfommen er:
forjcht, nur von wenigen engbegrenzten Bezirken, von der Gazelle
balbinjel*) und von einigen Küſtenſtrichen Neu-Guineas haben wir
*) Bor einigen Wochen ift bei Friedrich Vieweg in Braunſchweig ein Bud
des Grafen Joahim Pfeil erfhienen, das gerade die Bewohner ber
Gazellehalbinfel und ihre Sitten und Gebräudhe mit großer Sorgfalt
und Genauigkeit behandelt: „Studien und Beobadhtungen aut
der Südjee.“
Graf Pfeil hat e8 darin verftanden, feine eigenen Grfahrungen,
Erlebies und Gelejfenes zu einem ſchönen künſtleriſchen Kranze feiner
Darftellung zu verweben, die Jeden mit Befriedigung erfüllen muß, der
an Natur und Neifebefhreibungen Freude und Intereffe Hat. Das
Das Wirtbichaftsleben der deutſchen Südſeeinſeler. 297
nähere Stunde; immerhin ijt auch das Wenige anregend und be-
lehrend und bietet willfommene Gelegenheit zu einer Betrachtung
primitiver Wirthichaftszuftände bei einem ung durch politijche Inter:
ejjen näher gerüdten Naturvolfe, zu der die befannten Arbeiten
Lavalleyes, Büchers, Ratzels und Anderer den eriten Antrieb
gegeben haben.
Allem vorausgejchidt jet, daß die deutichen Südjeeinjeler noch
volljtändig in der Steinzeit lebten, als fie mit den Weißen in Bes
rührung traten. Sie fönnen in gewiſſem Sinne als moderne
Bertreter des von dem Palävanthropologen neolithijch genannten
Zeitraumes gelten, ebenjo wie die nunmehr ausgejtorbenen Tas»
manter vielleicht faum der paläolithijchen Periode entwachjen
waren, al® Europäer das ferne Südeiland zum erjiten Mal
erblidten.
Bon der phyſiſchen Grundbedingung alles thieriichen Lebens
ausgehend, betrachten wir zunächjt diejenigen Wirthichaftsformen
und Einrichtungen, die zur Befriedigung der Leibesnothdurft am
nöthigjten find: die Mittel der Ernährung. Der Gedanke,
daß die Klüfte und Klamms Neu-Guineas je von Menjchenrudeln
des Urzuftandes durchjtreift worden jeien, die von Wurzeln,
durd feine Zluftrationen und durch feine ganze Ausftattung vorzüglich
u einer Feitgabe geeignete Werk ift um fo mwertbvoller, als Gral feil
—— wiſſenſchaftliche Forſchung und Prüfung aller Quellen zur Grund—
lage ſeiner Arbeit gemacht hat, und es 4 eig vermeidet, Ber:
—— nur Erdachtes, Phantaſien, Märchen aufzutifchen, wie es
leider Werfen verwandter Gattung fo oft eignet. „Die Studien und
Beobadtungen aus der Südfee” find mirklihe wiſſenſchaftliche Unter-
fuhungen und Betradhtungen über die ethnologiſchen, anthropographiſchen,
wirthſchaftlichen, religiöfen, rechtlichen, fozialen Zuftände auf jener fernen
Anfelmelt, in Sonderheit im Bismardardipel, wo Graf Pfeil felber
mehrere Jahre gemeilt und mande Forfhungszüge quer durch Neu—
Medlenburg und Neu-Pommern unternommen bat. Und in jeiner
Darftelung fommt nit nur gründliche wiffenfhhaftlihe Forihung, ſondern
auch feine eigene feine Beobahtungsgabe voll zur Geltung und erhöht,
verbunden mit einem flotten und liebenswürdigen Stil, den Reiz der
Lektüre. Das fteigende Interefje für foloniale Intereffen findet in diefem
Bud eine wilfommene und hoffentlich recht ausgiebig genugte Quelle
der Anregung und Belehrung.
In Anlehnung an Ddiefen Hinweis auf das Pfeilfhe Werk fei es
mir auch geftattet, auf mein eigenes foeben erfhhienenes Bud „Reu-
Guinea und der Bismardardhipel”“, Berlin, Schoenfeldt & Eo.,
aufmerffam zu machen, in dem dem Leſer zum erjten Mal im Bus
fammenbang ein Bild des politifhen und wirthſchaftlichen Werdegangs
unferes Eübdfeeihußgebietes geboten und der Werth befjelben unter
wirthichaftlicher Beleuchtung der bisherigen agrifulturellen und geichäft«
lihen Unternehmungen geprüft wird, das Buch enthält in Kürze Alles,
was Heder über Neu-Guinea miffen müßte, dem unfere folonialen
Beftrebungen nicht fernliegen.
298 Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler.
Früchten und jeglichem lebendem Gefleuch und Gefreuch in Durd-
aus thierifcher Weije ein gehetztes Dafein frilteten, iſt abzulehnen:
es fehlt die für eine jolche Urlebensweife nöthige Fauna, es
mangelt an fruchtreichen Bäumen und Sträuchern und das Gelände
ift zu zerriffen. Die erjten Bejiedler Neu-Guineas waren jchon
primitive Aderbauer, als fie einwanderten, haben aber jich jeitdem
faum etwas vervollfommnet. Noch heute gejchieht die Boden:
bejtellung in der Form des urjprünglichjten Hadbaus, im Bismard-
Archipel vorwiegend an leicht geneigten Hängen. Das einzige
Geräth bejteht in einem gehärteten Spigholz, das mitunter einen
badenförmigen Anja hat. Erdfrühte — Yam, Taro, Bataten,
Tapiofa — Bananen und Tabak werden allenthalben angepflanjt,
freilich nicht über den allerdringenditen Bedarf hinaus. In Be
zirfen, in denen Sago- und Kofosnußpalmen in überreicher Menge
gedeihen, bejchränft fich die Bodenbebauung auf ein Mindeftmas,
jo um den Berlinhafen herum, wo die Güte der Natur ein jelten
träges Volk allzu freigebig bejchenft. Kaum zwingt die Einerntung
des Sagos — sack-sack genannt — dieje glüdlichen Faulpelze,
denen naive, freudige Bejahung des Daſeins einzige Lebensweis—
heit ijt, dazu, einige Wochen dem dolce far niente zu entjagen.
Immerhin find ſolche von der Natur ganz beſonders bevorzugte
Strihe auch in dem bodenfraftjtrogenden Neu-Guinea Ausnahmen.
Sn der Regel erfordert die Gewinnung der Nahrungsmittel eine
geregelte Arbeit im Felde. Dieje liegt fajt ausjchlieglich der Frau
ob. Sie, die ehedem im Urzujtand des Hordenlebens Früchte und
Knollen jammelnd den Hunger jtillte, hat dieje urjprünglichite
Nahrungſuche allmählich in die Anfänge der Bodenbejtellung
hinübergeleitet und dieſer Entwidlung gemäß tritt jie uns fajt bei
allen Naturvölfern als alleinige Ausüberin landwirthichaftlicher
Arbeit entgegen. In Neu-Guinea leijten die Männer höchiten!
bei der Rodung und Einhegung der Pflanzungen — den jchweriten
Berrichtungen — einige Hilfe. Da es mühelofer it, von Zeit zu
Zeit mit Hilfe der jengenden Gluth des Feuers neue Urwald:
jtreden zum Pflanzland herzurichten, al8 das alte von dem üppig
aufichtegenden Jungholz zu jäubern, werden die Pflanzungen in
Zeiträumen von zwei bis fünf Jahren verlegt. Hieran jchliegt jic
mitunter eine geringfügige Verſchiebung der Wohnjite an; im all
gemeinen herrjcht jedoch Seßhaftigkeit, als natürliche Folge dei
Aderbaues, vor. Obwohl der Grundzug der Landnutzung der der
rohen Bodenverjchwendung it, vermißt man nicht eine gemifie
Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Südfeeinfeler. 299
Sorgfalt in den Pflanzungen; einige Stämme zeichnen ich
bejonder® aus, jo die Bewohner der Inſeln Tarawai und
Valies (Bertrand: und Guilbertinjeln) an der Nordfüjte von
Kaijer-Wilhelmland. Die Pflanzungen diejer Eilande werden in
einer Weiſe gepflegt, daß man glauben möchte, ihre Beſitzer
müßten dem Hadbau längjt entwachjen jein, und doc iſt ihr
Geräth daſſelbe wie das aller Papua, der einfache Spigitod.
Auch dies Beijpiel mag lehren, daß die Technif nicht allein die
BZeugerin des Fortjchritts iſt. Der verjchwenderischen Bodennugung
im Großen paart fich jtellenweije ein gewijjies Maß von Boden—
geiz, injofern auf dem einmal gerodeten Lande eine Frucht:
folge jtattfindet: Land, das der Erdfrucht müde iſt, wırd mit
Bananen bejegt. Auf der Gazellehalbinjel it dieſe Uebung
allgemein, in Saijer-Wilhelmland nur jehr vereinzelt. Düngung
des Bodens findet nirgend jtatt, Ddesgleichen mangelt jegliche
fünftliche Bewäjjerung; langjährige Erfahrung hat den Papua
gelehrt, die Bejtellung jeiner Pflanzungen den örtlichen Wetter:
verhältnifjen anzupafjen. An ein corriger la nature denft Die
überlegungsarme Einfalt nicht, um jo jchlimmer trifft den Papua
eine Mibernte; denn ganz abgejehen davon, daß Erdfrüchte und
Bananen ſich nicht zu langer Aufjpeicherung eignen, fennt er feine
Sorge für die Zukunft. Auch der Einfluß des Weißen und dejjen
Nachfrage nad) Knollen und Früchten haben erjt eine jehr geringe
Vermehrung des Bodenanbaues herbeigeführt, am meisten noch im
Bismard-Archipel. Vor Allem wird dort die Kokosnußpalme jeit
den letten Jahren über den Eigenbedarf der Eingeborenen hinaus
angepflanzt. Derjelbe Erfolg tt auf den Mearjhallinjeln zu be—
merfen, leider noch nicht in Kaifer-Wilhelmland. Die Palmen
find zwar auch dort neben Brotfruchtbäumen, Galip, Mango,
Ingwer, Betelnuß, Zuckerrohr u. dgl. die jteten Begleiter der
Dörfer, aber nur nach Mafgabe der Bedürfnijje ihrer Inſaſſen.
Nur jehr, jehr langjam dämmert das Verjtändnig vom Werthe der
Gitererzeugung im Hinblid auf die Zukunft. Da aber durch den
Aderbau die erjte Grundlage alles wirthichaftlichen Vorausberech—
nens und Hinterherbedenfens einmal gegeben ift, fann und muß
man auf ihr weiter bauen. Die deutjchen Südjeeinjeln jind durch:
weg von einem bereits Aderbau treibenden Wolf bewohnt, die Er-
zeugnijje defjelben bilden den Hauptjtod der gefammten Ernährung.
Der phyfische, wirthichaftliche, ja auch joziale Zujtand jener Injel-
völfer erhält dadurch jein bejtimmtes Gepräge. Von ihm muß der
300 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Südſeeinſeler.
Europäer ausgehen, will er fich dieſes Naturvolf nüglich und
dienjtbar machen.
Im Vergleich zur Bodenbebauung nehmen andere Quellen der
Ernährung nur eine untergeordnete Rolle ein. Cine regelrechte
Viehzucht bejteht nirgends, auch nicht in der Wechjelbeziehung
zum Aderbau, jo daß diejer durch Zuführung von Viehdung ver-
bejjert würde. Hunde, Schweine und Hühner werden, wie auf
allen Südjeeinjeln, jo auch auf den Ddeutjchen gehalten. Die
eriteren find jedenfalls jchon Hausthiere der Papua gewejen, als
dieſe ihre indiſche Heimath verließen, haben doch jelbit die
Auftralier, vermuthlich viele Jahrhunderte früher, den Dingo zum
fünften Erdtheil geführt! Die klaffende Lücke zwiſchen der ein:
heimischen Fauna aller Südlande und den Hausthieren der Einge:
borenen weiſt gebieterijch darauf hin, daß erjt die Bejiedler der
fernen Eilande Hund und Schwein in ihnen heimiſch gemadıt
haben. Möglicher Weije ift das lettere erjt durch europätjche oder
malaiische Seefahrer an einzelne Gejtade der Südjee gebradıt
worden, jo nach Neujeeland erjt durch Cook; jicher gilt die8 vom
Huhn. Diejes dient übrigens den Papua Neu-Guineas lediglich
mit jeinen Federn zur Schmüdung des wolligen Kraushaars bei
fejtlichen Gelegenheiten, nicht als Speife; im Bismardarchipel
wird e8 dagegen von den Eingeborenen gegeſſen, jeine Eier indeß
verjchmäht der Melaneje, wie der Bapua. Der Beſitzſtand an
Schweinen ijt auf Neu-Pommern und Neu-Lauenburg größer als
in Ktaifer-Wilhelmland — auch in dieſer Hinficht paßt fich der
Bismardarchipel den Wünjchen der Weißen durch Vermehrung der
Schweinezucht allmählid an — aber nirgends bildet Fleiſch—
nahrung, zu der auch die Hunde einen wejentlichen Beitrag jtellen,
eine dauernde regelmäßige Ergänzung der Koſt. Mageren
Wochen folgen Tage des Ueberfluſſes an thieriſcher Nahrung
gelegentlich eines Feſtes (sing-sing) oder einer Beerdigung. Denn
auch ein trauriges Yamilienereigniß bietet den „Leidtragenden“
nur die willfommene und — nöthige Gelegenheit, in Schweine
ichinfen und Hunderippen zu völlen. Nöthig deshalb, weil der
Menjch der Fleiſchnahrung niemal® ganz entrathen fann, ohne
einer jicheren Entartung, wenn auch erjt in einer Reihe von Ge:
ichlechtern, entgegen zu gehen. In ihrer urjprünglichen Heimath
hatten die Bewohner der Südjeelande thierifche Nahrung genug:
jie waren gewöhnt an reiche Jagdbeute. Die armjelige Jauna
der Schollen Ozeanien bot hierfür feinen Erjag, die Hausthiere
Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdjeeinjeler. 301
reichten bei Weitem nicht aus, aber die Natur verlangte ihr Ge-
wohnheitsrecht, und nichts war folgerichtiger, als daß erbeutete
Feinde eine willfommene Sleijchnahrung wurden. WBielleicht iſt
dies nicht der einzige Grund des auf allen Südjeeinjeln heimijchen
Kannibalismus, religiöje Vorjtellungen mögen diejen gleichzeitig
begünftigt haben, gewiß aber it der Mangel an thierijcher
Nahrung, den die Injulaner injtinktiv als Quelle des phyſiſchen
und piychiichen Niedergangs empfanden, eine jtarfe Triebfeder
des Menjchenfraßes gewejen, — und ijt e8 heute nod).
In gewiſſem Umfange bot einen anderen Erſatz für Die
fehlende und doch jo unentbehrliche Fleifchnahrung der Reichthum
des Meeres an Fiſchen. Der Fiſchfang iſt in Mifronejien und
im Bismardarchipel in der That ein weitverzweigte® und aus:
gebildete8 Gewerbe, in Kaijer-Wilhelmland nur auf einigen Fleinen
der Hauptinjel vorgelagerten Eilanden. Auf der Gazellehalbinjel
und in NeusLauenburg bejteht ein bejonderes Fiſchereirecht: Die
Binnenländer find von den Schägen des Waſſers ausgejchlofien,
den Anwohnern der Küſte eignet jedesmal der an ihre Befigung
anjchliegende Abjchnitt des Meeres, jedoch) iſt dieſe Scheidung, wie
alle Eigenthumvertheilung, nirgends jtreng durchgeführt. Der
Fiſchfang gejchieht mit Neben, Körben, Angeln, aucd mit Bogen
und Pfeil, legteres jedoch) nur an den Küſten Neu-Guineas.
Die Pfeile haben einen Spitenfranz von vier bis ſechs Enden.
Das Fiſcheſchießen iſt vielfach ein Zeitvertreib halbwüchjiger
Knaben, die ſich in der Dämmerung mit dem Bogen bewaffnet
auf den Niffringen der Inſel und Inſelchen tummeln. Einen
regelmäßigen Beitrag zur Nahrung liefert der Fiſchfang den
Papua von Fatjer-Wilhelmland nicht. Gemeinjame Fiſchzüge in
Kanuflottillen gehören zu den Seltenheiten. In dunklen Nächten
bieten jolche auf Fiichfang ausziehende Kanus mit ihren Xocfeuer-
bränden einen äußerſt malerischen Anblid. Die Neupommern der
Blanchebai und die Neulauenburger dagegen betreiben die Fiſcherei
mit großem Eifer und planmäßiger Taktik. Schon die Kinder,
auh Frauen und Mädchen, verbringen die Zeit mit Eleinen
(Schmetterling-)Negen im Küjtenwajjer fijchend, wie etwa unjere
Kleinen im Wieſenbach Kaulquappen hajchen. Für die Großen
it das Spiel der Kinder ernite Arbeit, die ihnen einen weſent—
lihen Beltandtheil der Nahrung liefert. Unjeliger Weije hat das
Dynamit der Weißen viele filchreiche Meeresitriche arg entvölfert.
Schu der Seefifcherei durch die Regierung thut daher dringend noth.
802 Das BWirthihaftsleben der deutfchen Sübdjeeinfeler.
Die Schon erwähnte Armuth der Fauna Neu-Guineas erklärt
den Mangel an jeglidem Jagdſport unter den Eingeborenen,
Die wenigen Eleinen Beutel- und fliegenden Säugethiere find dem
Menjchen weder gefährlich noch nußbringend. Der Papua jteht
ihnen ganz gleichgültig gegenüber; bringt der Zufall irgend ein
Gethier in jeine Hände, jo wird es verjpeijt ald Luxusnahrung,
als Sonntagbraten. Auch verwejende Thierleichen finden ihre
Liebhaber. In einigen Gegenden herrſcht eine ausgejprochene
Vorliebe für angefaultes Fleiſch. Es ijt befannt, daß dieſe Sitte
unter Naturvölfern eine ziemlich weite Verbreitung hat, vor Allem
in Sübdamerifa. Die zahlreichen gefiederten Bewohner des Ur:
waldes jind vor den Fallen und Pfeilen der Eingeborenen ziemlich
jicher, ficherer al® vor den Nachitellungen des Weißen, der den
fojtbaren Balg des PBaradiesvogel® und den Schmud der Kron—
taube gegen Elingende Münze auf dem europäijchen Markt eintaujcht.
In Kaijer-Wilhelmland hat jedoch die Anwejenheit und Begehr:
lichfeit von Vogeljägern und Sammlern bislang wenig jpornenden
Neiz auf den trägen Tamul ausgeübt. Anders in dem vogel:
reicheren (nördlicheren) Holländijch-Neu:-Guinea. Dort haben die
malaiiſchen und celebejjiichen Vogeljäger die Eingeborenen den
wirthichaftlichen Werth der Paradiesvögel erkennen gelehrt: die
Bapua des niederländischen Halbtheils der größten Injel der Erde
find heute leidenjchaftliche Jäger, zum Segen für ihre joziale Ent:
widlung. Denn abgejehen von dem Nachtheil, den der Mangel
an Jagdbeute auf die Ernährung ausübt, leidet auch die Pſyche
der männlichen Bevölferung unter der Thierarmuth der gewaltigen
Südinjel. Der Mann, dem die Jagd, die Abwehr wilder Thiere,
die von der Natur gegebene Urbejchäftigung war, findet in Neu:
Guinea in diejer Hinficht feine Bethätigung: er wird träge, ja er
verthiert wieder, da der Hebel fehlt, der ihn einjt der Thierheit
enthob.
Ungünjtig wird die Ernährung dadurch beeinflußt, daß fein
feſtes Mengen: und Zeitmaß die Mahlzeiten bejtimmt: die Feld—
bejtellung und der Fiſchfang ſetzen freilich) der Speijezeit eine
gewilje Tagesjtunde, aber doch ohne zwingende Nothwendigkeit,
wie bei fortgejchritteneren Völkern. Die Menge der Speije bängt
jehr von der Laune des Zufall® ab: magere und fette Monde
wechjeln ohne Wahl. Mihernten machen fich furchtbar fühlbar,
da die Sorge für die Zufunft dem Papua nicht eignet. Die Zu:
bereitung der Speiſen gejchieht durchweg mit Hilfe des Feuers,
Das BWirthihaftsleben der deutschen Sübdfeeinfeler. 303
das unabläſſig brennt. Die Salzung wird theild® Durch Ver—
wendung von Meerwajjer, theil® durch Beimijchung bejtimmter
Kräuter und Blätter erreicht. Als Getränk dient vorzugsweije die
Milh der Kokosnuß, Waſſer, vor Allem jolches aus Lagunen,
meidet man ob der Dysenteriegefahr. Beraujchenden Trunf her—
zuitellen, ijt faum befannt, um jo leidenjchaftlicher huldigt der
Bapua dem Tabak. Das Betelfauen ift mehr unäjthetijch für
unjer Auge, als jchädlich, im Gegentheil erhält es die Zähne, die
befanntlich in den Tropen wadliger fiten, al8 im Norden. Auch
die Ernährung der Kinder ift naturgemäß eine pflanzliche: jchon
dem Wöchling jtedt die Mutter vorher zerfaute Tarofrummen ins
Mäulchen. Daneben währt die Stillung des Säuglings durch die
Bruft jehr lange. Der Mangel an Kuhmilch macht ſich empfind-
lich geltend. Man weiß, welche Rüdwirfung die langen Yaktations-
perioden auf die HBeugfraft des Weibes haben und fann daran
füglid den ungeheuren Einfluß ermejien, den die Zähmung des
Rindes auc auf die Zucht eines gefunden und zahlreichen Nach:
wuchjes unter den Menjchen ausgeübt hat.
Im Ganzen zeigt die Lebenshaltung der Papua eine Stufe
mit vorwiegender Pflanzenfojt, gewonnen durch Hadbau ohne
Viehzucht, aber auch ohne dauernde thierijche Nahrung, die auf
andere Weije erbeutet wäre, einen Zujtand, der den natürlichen
Hilföquellen des Bodens angepaßt, wahrjcheinlich injofern einen
Rüdjchritt bedeutet, als die jeßigen Bewohner der Südjeeinjeln
in ihren urjprünglichen Wohnjigen eine reichere Fauna, mehr
Kampf mit diefer und mehr Ausbeute aus ihr gehabt haben. Die
Dazwijichenfunft des Weiten hat diefen Niedergang in etwas jchon
gehemmt, da die bisherige, auf die Dauer zur Fortentwidlung
einer Raſſe nicht ausreichende Ernährung durd) Zufuhr von Fleiſch
und Störnerfrucht eine wejentliche Ergänzung fand; beides wird
von den jchwarzen Arbeitern jehr bevorzugt. Die bejjere Er—
nährung, die übrigens bis jeßt nur jehr Wenigen zu Theil ward,
genügt aber allein nicht, um die wirthichaftliche Lage des Papua
jo zu heben, daß er ein mügliches Glied in dem großen Wirth»
jchaftsgebilde der heutigen Menjchheit werde, auch jeine technijche
Bildungsfähigfeit fällt in die Waagjchale.
Die Stoffveredelung hatte bei den Bewohnern der
deutjchen Süpdjeeinjeln unter Berüdjichtigung der Nurſteinwerk—
zeuge einen hohen Grad erreicht, als der Weihe jeine erjten Hütten
an den Gejtaden Neu-Guineas erbaute. Freilich bejchränfte fich
804 Das BWirthichaftsleben der deutſchen Sübjeeinfeler.
ihre Gejchiclichkeit im Allgemeinen auf die Herjtellung von Schmud:
gegenftänden, religiöfem Geräth und allenfall® noch von Waffen.
Die Hütten find durchweg aus dem faum bearbeiteten Holz; des |
Urwaldes, nach Form und Zwed als bloße Schußdächer errichtet. |
Die Bekleidung erjtredt ji) nur auf die Verhüllung der Scham
mit Baumfajergurten; ım Bismardarchipel verzichtete man vor
zwanzig Jahren noch auf diefen Luxus: jetzt ijt es bejjer geworden.
Einen großen Hausrath birgt eine Tamulwirthichaft nicht. Da:
gegen find Waffen — Bogen, Pfeile, Speere, Keulen — weit
über den Bedarf hinaus vorhanden. Die zahlreichen Schmud:
gegenjtände, die vielen Lejern von der Ausjtellung her und aus
Muſeen befannt find, geben ein beredtes Zeugniß von der Kunſt—
fertigfeit der Bapua in Schnitz- und Kerbarbeiten. Man bedente
nur immer, daß dieſe Ringe, Spangen, Bruftichilder, Haarpfeile,
Prlöde aus Holz, Stein, Knochen, Perlmutt und Zähnen nur
mit Steinwerfzeugen gefertigt wurden. DOft reichten viele Jahre,
ja ein Menjchenalter nicht aus, um einen ſolchen Schmud zu
vollenden! Die Flecht- und Gerbarbeiten der deutjchen Südjeer
injeler, die Nee, Körbe, Matten, Umhänge, Gurte, ja Schlafjäde
(am Ramufluß) find mit nicht geringerer Ausdauer aus Baum:
fajern, Fruchtfajern, Lianen, Rotang gewunden und gebunden.
Aber — alle dieje nicht unerhebliche handwerkliche Thätigkeit it
faum als fejtes Glied in die Hauswirthichaft eingereiht, it faum
regelrechte „Arbeit“, jondern fajt nur der Ausflug eines bloßen
Thätigfeittriebes, der noch nicht zum vorjorgenden Erwerbfinn, zum
zielbewußten Arbeitstrieb aufgejproßt tft, nicht mehr bloßes Spiel,
noch nicht Arbeit, jondern Zeitvertreib für die müßige Stunde,
oft einer auffachenden Begehrlichfeitslaune entjpringend, manchmal
einem ndividualbedürfnig, jelten einem religiöfen genügend.
Wenn jede menjchliche Thätigfeit in ihrem legten Grunde einem
— vielleicht oft unbewußten — Geſetz der endlichen Nüglichkeit
gehorcht, dann iſt dieſes in der gewerblichen Bethätigung der
Papua jehr verblaßt, denn die wenigen Haus- und täglichen
Gebrauchsgegenjtände erfordern einen jehr geringen Aufwand von
Mühe und Zeit im Verhältniß zu der Herjtellung von bewunderns—
werthen Schnigarbeiten. Dieje aber lajjen jchwer einen Nüglich-
feitSwerth in wirthjchaftlihem Sinne erfennen und doch nehmen
jie die Hauptrolle ein. Dabei jchafft jedes Einzelwejen nach jeiner
eigenen bejonderen Neigung, nicht nad) dem Plane einer inein:
ander greifenden Stammes oder auch nur Hauswirthichaft. Nur
— u —ñi
Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinjeler. 305
für drei bejtimmte Gewerbe jind wenigjtens die Anfänge einer
Arbeitsgliederung vorhanden, für Töpferei, Fiſchereigeräth und
Kanubau.
Die Töpferei hat ſich auf einigen Inſeln der Küſte Neu—
Guineas entlang, ebenſo im Bismarckarchipel an gewiſſen Plätzen
und auch in Mikroneſien als beſonderes Gewerbe herausgebildet,
jo auf Bili Bili, Tami, Tamara, Port Moresby. Die Topf:
formerei it dort ausjchließlich Frauenhandwerf. Die Erklärung
hierfür findet man leicht, wenn man jich erinnert, daß die Frau
die Heimjerin und Bereiterin der Feldfrüchte it. Da jie die im
‚slechtwerf oder Bananenblatt heimgebrachten Knollen mit etwas
Erde an den Rändern dieſer Behälter umgab zum Schuß gegen
Ankohlen, fand fie die härtende Kraft, die das Feuer auf den
Lehm ausübt. Die zufälige Entdedung ward der Ausgangspunkt
des Töpfereigewerbes. Dertlich entfaltete es jich dort am günjtigiten,
wo in der Nähe Thon gefunden wird. So erflärt jich die alleinige
Musbildung der Töpferei an ganz bejtimmten engbegrenzten Pläßen.
Yon dieſen ausgehend, hat der Thontopf ältere Gefähformen,
theils Jolche aus gehärtetem Holz, theils aus gehöhltem Stein
allenthalben verdrängt. Die Töpferei wurde ein ermwerbsmäßige
Beichäftigung für gewifle Stämme, ein Haus: und Stammes:
gewerbe.
Die Technik der Topfbaukunſt it ſehr einfach, roh. Die
Weiber formen die Gefäße aus Thon mit den Händen, höchſtens
unter Zubilfenahme eines flachen Steines zum Glätten und eines
feinen Holzſchlägels. Bejonders mühjam iſt die Ausfiebung des
Yehmes von Steinen und Steinchen. Die rohgeformten Töpfe
werden in der Sonne allmählich gleichmäßig gebrannt. Wer:
jierungen ſind jehr jelten, dagegen finden ſich bejondere Zeichen
aufgedrüdt, die Fabrikmarken bedeuten. Wie früh jich jchon das
Bedürfnig des Waarenſchutzes herausjtellt! Analogien aus der
deutichen vormittelalterlichen Gejchichte find ja allgemein befannt.
Nicht jo Icharf durch Arbeitstheilung und Sonderfertigfeiten als
<tammesgewerbe gefennzeichnet ijt die Heritellung von Fiſcherei—
gerätd. Sie wird von allen Fiſchervölkern auf den Balaoinjeln,
Mariannen, SKarolinen, Marihallinjeln, im Bismardarchipel be:
trieben. Immerhin finden fich einzelne Dörfer, in denen die Netz—
Hechtfunst, andere, in denen die Fiſchkörberei bejonders ausgebildet
nd. Angelhafen, Reuſen und an den lüften Kaijer-Wilhelmlands
süchpfeile werden von Jedem nach Eigenbedarf gefertigt. Die Fiſch—
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 2. 20
306 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdfeeinfeler.
förbe, in zwei verjchtedenen Größen, jind bejonders an der Küſte Neu:
Pommerns zu Haufe. Sie werden aus Notang geflochten und in |
gemefjener Entfernung vom Lande mit Lianentauen verankert; an |
der Meeresoberfläche find fie fenntlic) durch einen Kranz von
Bambusjtäben. Im Herbjtmond iſt die Blanchebucht bejäet mi:
jolchen Fijchermarfen, an denen als Wahrzeichen meijt ein tabu
flattert.
Die Netzflechterei zerfällt in zwei Arten: einmal fertigt ſich
Jeder ſelbſt ein kleines Netz zum Handgebrauch, oft nur zum
Spielzeug, dann aber thun ſich Mehrere, manchmal ganze Sippen
zuſammen, um große Schleppnetze zu wirken, die bei einer Breite
von zwei Metern eine Länge bis zu 60 Metern erreichen. Dieſe
Geflechte werden derart verwendet, daß einige Kanus die mit
langen Tauen verſehenen Netze ein paar hundert Meter aufs Meer
hinausfahren, wo ſie ſorgfältig hinabgelaſſen und von den am
Ufer Zurückgebliebenen zum Strande gezogen werden. Das Ver—
langen nach größerer Ausbeute und gehöriger Arbeitsnutzung zeugt
ſo eine Arbeitsgemeinſchaft.
Dieſelbe Noth führt beim Kanubau zum Zuſammenſchluß
Mehrerer zwecks gemeinſamer Arbeitsleiſtung. Im Uebrigen iſt die
Schiffbaukunſt vielfach Stammesgewerbe, ſo auf Yap, auf Jaluit,
auf Uatom und in Kabeira im Bismarckarchipel, auf Angell und
auf Tarawai, dem Idhyll papuaniſcher Kultur, an der Küſte Neu:
Guineas. Die Grundform des Kanus iſt der Einbaum mit aufgenähten
Brettern, häufig mit jchnabeligen Bugverzierungen, mit einer aus
Bambusjtäben gefertigten beiderjeitig überragenden Plattform in
der Mitte und in der Negel mit Auslegern. Dieje find an der
nördlicheren Küfte von Katjer-Wilhelmland jtellenweije nicht be
fannt, auch fehlen fie den Booten der größeren Binnengewsäjler.
In Neu-Guinea find große Segelfanus feine Seltenheit, im Bismard—
archipel haben die Eingeborenen das Segel erjt durch den Weißen
fennen gelernt, jich aber mit erjtaunlicher Gejchiedlichkeit dieſe Kunit
dienlich gemacht. Sein Kanu it dem Neu-Pommer mehr werth
als Weib und Kind, die er freilich auch nur als wirthichaftliche
Kräfte zur Mehrung jeiner Behaglichkeit werthet. Er baut dem
Fahrzeug eine bejondere Hütte am Strand, jchüst es in jeder Weiſe
gegen Die zerjegende Sonnengluth und tüncht es jtetS mit Kalt,
jobald er e8 aus dem Wajjer zog. Auf den Marfhallinjeln finder
jich als bemerfenswerthe Sonderart nicht der Einbaum, jondern eine
Kanuform, die ganz aus einzelnen Brettern zuſammengenäht üt.
Das Wirthichaftsleben der deutfchen Südfeeinfeler. 807
Neuerdings macht fich in den Injelbezirken, vor allem im Bismard:
archipel, Nachfrage nad) europätjchen Booten bemerfbar. Die Ein»
geborenen zahlen in Matupi willig ME. 600 bis ME. 1000 für ein
Segelboot. Ueberhaupt haben Waſſerſport und Schifffahrt im
Bismardarchipel durch die Dazwijchenfunft der Weißen einen er:
freulichen Neuantrieb erhalten, das Kanubaugewerbe ijt neubelebt,
jtrebt zu höherer Entwidelung auf und zwar unter Benugung von
Hammer und Meipel.
Leider hat das Eijen des Europäers nicht durchweg jolch einen
günjtigen Einfluß auf die gewerbliche und handwerkliche Thätigfeit
der Bapua ausgeübt. Im Gegentheil! Die Kluft zwijchen Stein-
zeit und moderner Technik ift zu groß, als daß ein Wilder die
Segnungen der legteren unvermittelt aufnehmen könnte. In jein
Leben trägt das Eijenwerfzeug nur eine ungeheure Lücke hinein,
die bisher durch die jahrelange mühevolle Bearbeitung von Stein
und Holz dur) Holz und Stein ausgefüllt war. Er ward der
Wohlthat des Erzes nicht durch) eigene Erfindung und Straft theil-
haftig und erliegt der Wucht diefer Macht, die ihn von engen Feſſeln
befreit, ohne ihm durch ſich jelbit die Anpafjungsfähigfeit un den
gewaltigen Fortjchritt zu geben. Gelingt es dem Weißen, von jeiner
Kulturhöhe einen Steg zur Steinzeit des Bapua zu jchlagen, indem
er ihm nur gegen ernjte Arbeit jtufenweije die Vortheile jeiner
Technik gewährt, jo fann den Neu-Guineern und uns die Erwerbung
der Südjeeinjeln zum Segen gereichen. Die gegenwärtigen Zus
jtände, bei denen die Kuriojitätenbegehrlichkeit der Europäer der
armen Natureinfalt alle Schäge mühelos in die Hände jpielt, müfjen
zum Untergang der Ureinwohner führen, gewiß zum größten Schaden
für die Eroberer jelbjt, die der Schwarzen zur Arbeit im Feld und
auf dem Wafjer bedürfen. Die Bernunft und die Menschlichkeit
weijen als einzigen Weg: Anbauen an das, was vorhanden iſt,
aber jachte, langjam, jchonend gleich der großen Künjtlerin Natur!
Die unentwidelten Formen der Güterzeugung und Stoff:
veredelung haben naturgemäß auch eine niedrige Stufe des Waaren-
austaujches zur Folge. Kaifer-Wilhelmland hinft am meiſten nad).
Ein Handel mit Nahrungsmitteln iſt jchon deshalb unnöthig, weil
eine reine Naturalwirthichaft vorherricht, Jeder und jedes Dorf nur
joviel anbaut oder fängt, als zum Leben unentbehrlich it. Da
auch die Bewohner der fleinen von dem Hauptland losgeriſſenen
Atolle ihre eigenen Pflanzungen — oft auf dem gegenüberliegenden
Feſtlande — haben, jo ijt nicht einmal die Bedingung für eine
20*
308 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdfeeinfeler.
Ergänzung der Bodenerzeugnijje durch die des Meeres gegeben,
und nur die Töpferei als eigenthümliches Gewerbe einiger weniger
Inieljajien hat einen Waarenaustaujch gezeitigt. Die Bewohner
von Tamara, Bili-Bili, Tami verjorgen die ganze Küjte mit Thon:
waaren, indem jie auf ihren jchmuden Sanus den Saum des
Landes bereijen. Gegen ihre Töpfe taujchen fie meist Flecht- und
Schnitwerf, Eberhauer und Hundezähne, jelten Nahrungsmittet.
Dieje Handelsthätigfeit hat den gejchäftigen Injulanern ohne Zweifel
eine gewiſſe gewerbliche und intellektuelle VBorherrichaft über die
Bewohner der großen Hauptinjel erworben.
Im Bismardarchipel herrſcht regeres Leben. Die natürliche
Scheidung zwijchen den Fiſchern der Küjte und den Yandmirthen
des Binnenlandes hat dort von altersher einen regelmäßigen Aus:
tauſch der Seeerträgnijje gegen die Bodenerzeugungen hervor:
gebracht. Die Weiten fanden bereits die Einrichtung von Märkten,
Markttagen und Marftplägen vor, als fie ihre Füße auf die
Gazellehalbinjel jegten. Seither find dieſe Märkte immer zahl:
reicher und regelmäßiger geworden und bilden das wichtigjte Binde—
glied von Weiß zu Schwarz. Die Bewohner der Marjhallinjeln
und Starolinen find als kühnes jeefahrendes Handelsvolf befannt,
von der WPalaogruppe aus beitehen alte Beziehungen zu den
Philippinen. Allem Anjchein nach find die Handelsfahrten Diejer
Süpdjeeinjeler früher ausgedehnter gewejen, als jegt. Hat doch in
der Marjhallgruppe ehedem eine Seefarte den kühnen Schiffern
als Wegweijer auf ihren Fahrten gedient. Diejelbe iſt aus mehre:
ren Steinchen und Fäden zujammengejett und wird „Medo“
genannt. Die Steinchen deuten die Lage der einzelnen größeren
Inſeln des Archipels mit überrajchender Genauigfeit an. Die Nutzung
diejes Medo it aber heute faſt in Vergefjenheit geraten. Auf den
Ktarolinen find Spuren ähnlicher Seekarten gefunden worden. In
den gejchlojjenen Yandmajjen des Bismardarchipels und am Strande
Neu:Guineas entlang herrſcht die Küftenjchifffahrt vor. Es war alſo
wenig Beranlafjung zur Erfindung nautischer Hilfsmittel gegeben, die
in dem zerriſſenen Injelchenchaos von Mikroneſien jchon eher nöthig
waren. Um jo erjtaunlicher it der Ortöjinn der Papua und der
Neu-Bommern: Bäume, die dem Auge des Weiken faum auffallen,
prägen jich ihm jo feit ins Gedächtniß, daß er nach Jahren noch den
Lauf jeines Schiffleins diejen natürlichen Seemarfen anpajjen fann.
Dem ausgedehnten Dandelsverfehr zu Wajfer entjpricht fein
gleichwerthiger auf dem Yande. In Neu:Guinea mag die Gelände:
|
Das Wirthſchaftsleben der deutjhen Süpdfeeinfeler. 309
zerflüftung viel zu der feindlichen Abſchließung fait jeder einzelnen
Dorfichaft beigetragen haben. Die Meeresanwohner und Die
Bergiajien jind in Urfehde verfeindet, aber auch an der Küſte
entlang und zu den nächiten Hügeln hin führen nur Tamulpfade,
die jehr wenig begangen jind. Das Handelsbedürfnig hat dieſe
Anfänge von Verfehrswegen jedenfalls nicht gezeitigt. Auf der
Gazellehalbinjel dagegen verbindet ein ausgedehnteres und aus—
getretenere® Pfadnetz die Marktpläße und neuerdings entjtehen
unter dem wohlthätigen Drud der Landesverwaltung jchon breitere
Neit-, ja Fahrwege. Die Marftweiber bleiben freilich noch ihren
alten holprigen Saumpfaden treu. Daß bei der Unvollfommen:
heit der Ueberlandverbindungen (und bei der jprachlichen und
politijchen Zerrijjenheit der Papua) fein Botendienjt jic) aus—
gebildet hat, auch nicht unter befreundeten Dorfſchaften, fann nicht
Wunder nehmen. Die Neu-GÖuineabufchleute haben ſich aber auf
andere Weije geholfen und mit Hilfe der Trommel einen trefflichen,
weithin reichenden Fernſprechdienſt eingerichtet. Freilich dient
derjelbe noch nicht zur Vermittlung von Termin» und Differenz:
gejchäften, aber doch zur Benachrichtigung über außergewöhnliche
Vorfommnifje, vor Allem über die Unternehmungen der Weißen.
Das Interejiantejte in dieſen urjprünglichen Verkehrs- und
Handelseinrichtungen iſt die Erjcheinung, daß der Handel jchon über
die einfachſte Form des Taujches von Waare gegen Waare hinaus:
gewachjen iſt. In Kaijer-Wilhelmland freilich herricht dieſe ur:
anfänglichite Art des Güteraustaujches noch vor, immerhin fehlen
auch dort abjtrahirende Werthbegriffe nicht ganz. „Geld“ in
Bücherjhem Sinne, nämlich: „diejenige Taufchwaare für jeden
Stamm, die er nicht jelbjt hervorbringt, wohl aber von Stammes
freunden eintaujcht“ giebt e8 in Neu-Guinea allerdings noch nicht.
Wenn trogdem Eberhauer und Hundezähne in gewijjem Sinne
Werthmeſſer geworden jind, jo mag die Entjtehung diejes „Geldes“
darauf zurücdgeführt werden, daß neben dem Schmudwerth jolcher
Thiergebijje Totemvorjtellungen eine Rolle im Seelenleben des
Papua jpielen. Sie allein machen es erflärlich, daß die an und
für ſich doch technijch, gewerblich und für die Ernährung bedeutungs—
(ojen Eberzähne zur Wertheinheit wurden, anjtatt des ganzen
TIhieres, das wegen jeines ungeheuren Nutzens für den Fleiſch—
nothleidenden am eheſten geeignet war, in WBücherjchem Sinne
„Seld“ zu werden, wie thatjächlich das Biel) (pecus, pecunia, fee)
bei vielen Völfern Jahrhunderte lang Werthmaß gemwejen it.
310 Das Birthihaftsleben der deutihen Sübdfeeinfeler.
Sm Bismardarchipel hat die größere Mannigfaltigfeit des
Wirthichaftslebens und jeine höhere Entwidelung (die größere ge:
jellichaftliche Verunterjchtedlihung) früher und eindringlicher das
Bedürfniß nach einem feſten Werthmaße wachgerufen. Das Miujchel:
geld — Diwarra auf der Gazellehalbinjel, Bälle in der
Neu-Lauenburggruppe — ijt jedenfalls jchon ſeit Jahrhunderten
auf jenen Injeln eingebürgert. Gefunden werden die Diwarra—
mujcheln an verjchiedenen Plätzen der Oſtküſte Neu Medien:
burgs und im Süden Neu:Bommerns. Durch Bleichung erhalten
jie eine möglichjt weiße Farbe und werden auf Fäden auf:
gezogen, von denen ein ziveimetriger etwa den Werth eines
Thaler® Hat. Ich Führe die Entjtehung dieſes Mujchelgeldes
jowohl auf urjprüngliche Schmudgelüfte als auch auf religtöje
Vorſtellungen zurüd: es geht die Sage, daß der Geijt des Vulkans
Unafofor alles Diwarrageld gejchaffen und ausgejtreut habe.
Jedenfalls bejtehen zahlreiche, noch nicht genügend geflärte Be-
ziehungen zwijchen dem Diwarra und dem Kultus. Ohnedem
wäre es jchwer, zu ergründen, wie eine winzige Mujchel von ge:
tingjtem technischen oder woirthichaftlichen Subjtanzwerth den
Funktionswerth des Geldes erlangen fonnte. Bei Salz, Vieb-,
Metall:Geld iſt jtetS die Brücde von der Subjtanz zu der Funktion
vorhanden, bei diejer werthlojen Mujchel fehlt jie ohne die Ver—
mittlung religtöfer und äjthetijcher Elemente gänzlich. Trogdem
hat das Diwarra einen jo feiten Geltungswertb, daß es ſich jogar
zu dem europätichen Metallgeld mit überrajchender Schnellig-
fett — in ein bejtimmtes Werthverhältniß gejett hat. Es läuft
jegt neben diejem als Geldjurrogat (Gelderjagmittel) um. Aller—
dings it die Vorliebe für Silbergeld — Einmarkſtücke und
Shillings — jehr im Wachjen begriffen. Merfwürdig, aber jebr
erflärlich it dabei die ausschließliche Bevorzugung nur einer
Münze, für deren Vielfaches — in Thalern oder Fünfmarkitüden
— nur jehr Wenigen langjam das Berjtändnig dämmert. Die
große Bedeutung einer ſolch immerhin beachtenswerthen Ent:
widlung von Geldwirthichaft unter einem tiefjtehenden Naturvolt
liegt auf der Hand; fie ebnet dem Kulturbringer die Wege beiter,
als Bibel und Gejangbud. Daß auf den Starolinen von alters
ber ein Steingeld umläuft, it befannt; die Herkunft und Ent:
ſtehung deſſelben dürfte gleichfalls in religiöje Vorjtellungen ein-
münden, wie ja das gejammte Wirthjchaftsleben der Menjchen und
am meiten noch das jolcher Naturvölfer in innigem Zuſammen—
Das Wirthihaftsleben der deutfhen Südſeeinſeler. . 311
hang mit Glauben und Seelenleben entſtanden iſt und ſich ſo
fortbildet bis in unſere Tage hinein.
In Neu-Guinea iſt dieſes Ineinanderweben von Volkspſyche und
Volkswirthſchaft auf Schritt und Tritt noch ganz deutlich zu erkennen,
vor Allem auch in den Anſchauungen über die Eigenthumsverhält—
niſſe, bei denen wir noch einen Augenblick weilen müſſen. Einiges
darüber iſt ſchon gelegentlich im Anſchluß an die Schilderung der Zu—
ſtände in Landwirthſchaft, Gewerbe und Handel gejagt: es kann
auch an diejer Stelle nur eine furze Zujammenfafjung der Eigen-
thumsverhältnifje, wie jie im Großen und Ganzen Geltung haben,
gegeben werden. Die vielerlei örtlichen Abweichungen werden dabei
nicht berüdfichtigt. Der Grundzug allen Bejiges auf den deutjchen
Südfeeinjeln ift das Mutterrecht, ſowohl für Liegenjchaften, als
auch für bewegliche Habe. Die Erinnerung daran, daß die rau,
die Hüterin des Herdes und Säerin des Feldes, auch die Schöpferin
der Familie it, beherrjcht noch die gefammten NRechtsanichauungen
über Eigenthum. Daß das Weib dabei der wirthichaftlichen Ausbeute:
luſt und phyſiſchen Ueberlegenheit des Mannes zum Opfer fiel, hat ihre
hiſtoriſche Stellung im wirtbichaftlichen Rechtsleben fait garnicht beein—
flußt: das Erbrecht insbejondere fußt durchaus auf dem Mutterrecht.
Brivat-EigenthHum am Grund und Boden ijt unbefannt. Das
bebaute und das in den Bezirk einer Dorfichaft fallende Land
eignet dem ganzen Dorfe. Berhandlungen und Berträge über
Yandfauf müfjen daher mit der Gejammtheit der Inſaſſen, vertreten
durch die Meltejten, geführt werden. Auf der Gazellehalbinjel
icheint der Boden urjprünglich unter die einzelnen Sippen getheilt
und danach jeder Bezirf benannt zu fein. Die Sippe, die meijt
auch heute noch mit der Dorfjchaft nach Umfang und Abjtammung
zujammenfällt, it die Eignerin des ihr von altersher gehörenden
Yandes. Das Haupt der Familie oder Sippjchaft it nur der
bevollmächtigte Vertreter der gemeinjam bejigenden Gejammtheit,
wenn auch einige jolcher „Häuptlinge“ im Berfehr mit den Weißen
gerne don „ihrem“ Grund und Boden jprechen. Ein jolches
Zondereigenthumsrecht bejteht weder fraftdergejchichtlichen Entwidlung
noch hat es jich unter dem Einfluß europätjcher Kultur eingebürgert.
Se mehr freilich der Weiße als Anwerber auf Grund und Boden
auf den Plan tritt, je intenjiver alſo die Bodennußung ſich ge:
jtaltet, um jo jtärfer wird auch bei den Schwarzen das Bedürfnis
nach Privateigenthum an Yand erwachen. Anfänge jolcher Um:
werthung des Eigenthumsbegrifies jind bereit vorhanden.
312 - Das Birtbihaftsieben der deutſchen Südſeeinſeler.
Für andere unbewegliche Habe, jo für Kofosnuppalmen
und jonjtige Fruchtbäume gilt jchon eher ein gewiljes Privat:
eigenthumsrecht. Häufig werden einem Kinde bei der Geburt be-
jtimmte Nugbäume zugejprochen oder junge eigens für den Neu:
geborenen gepflanzt. Solcher Einzelbejis iſt äußerlich kenntlich
gemacht durch Umwinden mit Blättern, Fäden, Tüchern, dem Tabu,
der eine tiefe (religtöjfe) Scheu genießt. Im Uebrigen jind Dieb-
itahl, Betrug, Hehlerei nicht nur dem Begriff nach befannt, jondern
werden auc ausgeübt. Zivil: und Strafprozekordnung fehlen
aber, Wiedervergeltung, Buße und Neugeld jind die Nechtsmittel
gegen den Webelthäter. Miethe, Pacht, Darlehen, Bürgjchaft find
unter den Neu-Pommern und Neu-Lauenburgern feine Seltenheiten,
ım Saijer-Wilhelmland dagegen nur auf den höher entwidelten
Inſelchen (Tarawai und Valies voran) befannt.
Die wenigen beweglichen Habjeligfeiten des Papua tragen
ausschließlich den Charakter des Privateigenthums, meiſt jind es
ja nur die von jedem Einzelnen jelbit gefertigten Schmudjachen
und Waffen, die-nach jeinem Tode theils die Neife zum Schatten:
reich mitmachen, theil$ ins Tamboranhaus wandern oder auch nad)
dem Muttererbrecht an die nächiten Verwandten, nicht an die Söhne,
übergehen. Die jeefahrenden Stämme haben das Privateigenthum
an beweglicher Habe jchon weiter gebildet. Der Bejig eines
Kanus, neuerdings eines Segelbootes, giebt dem Eigenthümer nicht
nur ein wirthichaftliches, jondern auch politijches Uebergewicht.
Hier fann der Hebel der Kultur am erfolgreichiten einjegen. Auch
das Mujchelgeld wird als Sondereigenthbum des Einzelwejens be
trachtet, in der Kegel aber von dem Familienhaupte im Diwarra-
haus aufbewahrt: der Einzelne hat daher feine freie Verfügung
über dieſen todten aufgejpeicherten Schaß, deſſen Bedeutung er
eigentlich nur empfindet, wenn er gezwungen iſt, jich Bundes:
genojien gegen Feinde zu faufen. Nur für diefen Fall fühlt der
Wohlhabende die Macht des Geldes; zur Verfeinerung des Yebens-
genufjes, zu größerer Behaglichkeit, bejjerer Kleidung, Wohnung
und Nahrung verwendet er jeine Neichthümer — noch nicht. Aber
die Zeiten dieſes Kommunismus nahen ihrem Ende.
Ein Eigenthumsrecht an fremde Berjonen, Sklaverei, bejtebt
im Allgemeinen nicht, doch fennen die Neu = Pommern ein Wort
dafür und die Bewohner der Injel Natom im Norden der Gazelle
halbinjel jind jogar von Altersher berüchtigt, die Bergſaſſen der
Yaining in Sklaverei zu halten und in fremde Knechtſchaft weiter
Das Wirtbihaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler. 313
zu verfaufen. Der Preis für ſolch' einen Unglüdlichen beträgt im
Allgemeinen 10 Faden Diwarra. Kinderraub fommt allenthalben
vor; auf den Salomoinjeln haujen gefürchtete Kopfjägerſtämme;
aber Sklaven werden nur gehalten, wo der Haushalt fremder
Arbeitsfräfte bedarf, in der Regel iſt die lebende Striegsbeute für
die Mägen der hungernden Streiter bejtimmt.
Die armfeligite Sflavenjchaft duldet aber im ganzen deutjchen
Südſeeſchutzgebiet das weibliche Gejchleht. Um Geld oder Geldes:
werth wird die ‚rau, oft jchon als Kind, vom Vater für den
Sohn gekauft, und it außer dem Nurgejchlechtswejen, dem Weib:
thier, das gebärt und ſäugt, lediglich das Arbeitspferd des
Mannes. An jeinen „höheren“ religiöjen Interejjen, dem Dufduf
und Ingietbund hat jie feinen Antheil. Wie wunderbar jpinnt
die Natur ihre Fäden: Das Weib, die Finderin und Hüterin des
Feuers, des Herdes, Die erite Säerin des Bodens, die Gründerin
des Heims, dann fraft roher Körpergewalt die Sklavin des Mann:
thieres und je höher und jchöner Gefittung und Bildung ſich
emporwinden, die ebenbürtige Genojjin, die bejeligende Kraft—
jpenderin des Mannes, der mit ıhr vereint um die höchiten
(Hüter der Menjchheit ringt!
Wenn wir zum Schluß die in großen Zügen angedeuteten wirth:
ichaftlichen Zujtände bei den Bewohnern des deutjchen Südſee—
ſchutzgebiets unter die Kategorien der theoretiichen Wirthichaftslehre
zujammenfafjen, jo vermijjen wir zumächjt die Grundjäße der weit:
gehenden Arbeitstheilung, ohne die wir uns einen großen wirth—
jchaftlihen Bau garnicht vorzujtellen vermögen. Eine berufliche
Gliederung it nicht einmal in ihren einfachiten Anfängen — Priejter,
strieger, Händler — vorhanden. An dem Bund der Ingiet und den
Dufduffejten kann allem Anjchein nach jeder erwachiene Mann Theil
haben, jofern er jich dem Mummenjchanz der Aufnahmefeſtlichkeit
unterzieht und — das nöthige Geld für die Vortänzer und Schreier
aufbringen fann. Dieje aber Haben mit den „PBriejtern“ anderer Natur:
oder Halbfulturvölfer aus Gegenwart und Antife nur das gemein,
daß fie ihren „Zauber“ wohl zu eigenem wirthjchaftlichen Vortheil
zu nützen wijjen. Die Briejter des Ibis und die Medtzinmänner
der Delaware find ja auch gute Gejchäftsleute gewejen, und Die
innige Beziehung zwijchen religiöjer Beherrſchung der Gemüther
und Bereicherung der priejterlichen Faullenzer bejteht unter den
Palmen der Gazellehalbinjel auch ſchon; vielleicht iſt Dies Der
Beginn einer Ausjcheidung von bejonderen „Prieſterkaſten“ in
314 Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler.
dem Entwidelungsgang, den das Geje der Arbeitstheilung durd
die Iahrtaujende hindurch gemacht hat. Urſache und Wirkung
werden in dieſer Hinficht kaum reinlich zu fcheiden fein.
Ebenjowenig fann von einem bejonderen Kriegerjtand die Nede
jein: jeder waffenfähige Mann nimmt jeinen Antheil an den zahl:
reichen Fehden, die von Urahnenzeit her die Bewohner Neu:
Guineas aufreiben. Führer im Felde find die förperlich Stärfiten
und Gewandtejten, aber auch nur für die Dauer des Kampfes.
Nach jeinem Ende fehren Alle, gleich geachtet und nicht geachtet,
zu ihrem QTagewerf, zu ihrem Yaulthierdajein zurüd. Waffenübung
im Frieden unter bejonderer Leitung iſt nicht befannt.
Daß Sich weder ein Aderbauer-, noch Händler- oder
Handwerferjtand herausgebildet hat, ift bei der geringen Be:
thätigung all! dieſer Zweige des wirthichaftlichen Lebens begreif:
ich; um jo jchärfer jind die Wirkungskreiſe der männlichen und
weiblichen Thätigkeit gejchieden. Die Beitellung und Wartung
des Feldes, die Heimjung der Früchte, ihre Zubereitung, der Be:
juch des Marktes, jegliches Lajtenjchleppen, die Töpferei, die Pflege
und Beaufjichtigung der Kinder — kurz, man möchte jagen, alle
Ichweren Arbeiten find dem Werbe gebürdet, der Mann jagt,
fijcht, Ichnigt Waffen und Schmudwerf, baut allenfalls einmal eine
Hütte oder ein Kanu, im Ganzen ıjt er ein Tagedieb und läßt
lieber jeine halbwüchjigen (weiblichen) Kinder für fich arbeiten. In
Mifronefien und unter dem Fiſchervolk der Blanchebucht jind die
Gründe zu einer Bejlerung diejer Arbeitstheilung nad) Gejchlechtern
ichon gelegt; dort beginnt auch der Mann zu jchaffen, aber lang-
jam, jehr langjam. Das Mißverhältniß in der Bertheilung der
Laſten zwijchen Mann und Weib jchneidet tief in das wirthichaft:
liche und gejellichaftliche Yeben diejer Naturvölfer ein. Der Nieder:
gang dieſes Volksthums, das einjt wie jämmtliche Bewohner
Ozeaniens, jchon einmal den erjten FFlügeljchlag zu einem Aufflug
gethan hatte, erklärt ſich in feinem legten Grunde vielleicht aus
der würdelojen Stellung, die der Frau in diefem Wirthichaftd- und
Sejellichaftsleben angewieſen it. Die Entwidlungsgejchichte der
Menschheit ijt die umgefehrte Bahn gegangen, indem jie das Weib
mehr und mehr von dem harten, allen Berjönlichkeitstrieben ent:
gegenjtrebenden Geſetz der Arbeitstheilung befreite, und jie muß
und wird — troß des widerjprechenden Schein der Gegenwart —
dDiejen Weg weiterwandeln, wenn immer die Menjchheit höher
und höher jteigen joll.
Das Wirihſchaftsleben der deutſchen Sübdfeeinjeler. 315
Eine technifche Arbeitsgliederung iſt bei dem niederen Stand
aller handwerklichen Thätigfeit jo ziemlich ausgejchlojien. Wo An-
fänge einer jolchen dämmern, it jchon gelegentlid) darauf hin—
gewiejen. Am ehejten tritt eine Scheidung der technijchen Arbeits:
leitung noch beim Kanubau zu Tage und fehlt dort auch feines-
wegs. Aber im Ganzen iſt jeder Einzelne der Fertiger aller feiner
Bedürfniggegenftände, der Befriediger aller jeiner Wünjche. Da—
gegen macht jich das Geſetz der Arbeitstheilung, das ja wechjel-
wirfend auch ein Geſetz des Arbeitszujammenjchlujjes it —
cooperation simple et compliquee und labour cooperation — in
der Erjcheinung geltend, daß mitunter ganze Sippen ſich gruppen,
um ein größeres Werf zu leijten, jo die Flechtung eines großen
Fiſchnetzes.
Dieſer Umſtand — wenn auch nur vereinzelt auftretend —
iſt für die Vergeſellſchaftung der Papua um ſo bemerkenswerther,
als ſonſt faſt jede Bedingung zu einer geſellſchaftlichen und ſtaat—
lichen Einigung und Gliederung fehlt. Boden- und Gelände—
beſchaffenheit ſind den Beziehungen der Menſchen untereinander in
Neu-Guinea nur hinderlich; ja fie ſchließen einen Verkehr geradezu
aus. Die Thierwelt, deren ſchreckliche Vertreter in anderen Zonen
die Menſchenrudel zuerſt zu engerem Zuſammenſchluß zwangen, iſt
dem Papua ganz ungefährlich, noch dräuen fremde, feindliche
Menſchenmächte. So ermangelt Neu-Guinea aller Bedingungen,
die ein Anfangſtaatengebild zeugen könnten, und in der That iſt
ſchränkenloſer Kommunismus das einzige Kennzeichen des öffent—
lichen und joztalen Lebens. Es giebt fein Machtanjehen, nicht des
Alters, nicht einzelner Gejchlechter, faum das der Meltejten in den
wichtigiten Gemeinfragen. Der einzige Bezirk in Katjer- Wilhelm:
land, in dem die Anfänge einer jtaatlichen Gliederung und Herr:
ichaft vorhanden jind, it das Meich des Häuptlings Maſſoi auf
den Inſeln Tarawat und Valies. Die Schöpferin diejer Daje in
der papujchen Finfterniß it die malatische Kultur gewejen, die auf
den gejegneten Eilanden von Altersher eine Pilanzitätte errichtet
hatte. Die Berührung mit der Sundarafje hat die ohnehin in Folge
ihrer Raumbejchränftheit arbeitjameren Inſelſaſſen den Werth des
Schaffens und Beſitzens gelehrt und der Neichjte unter ihnen ward
„König“, wie immer aus Urzujtänden heraus Tapferfeit (jo bet den
Germanen) oder Bejit oder (geütige) Zauberfraft die erjten
Bildner aller Klajjenunterjchtede gewejen jind. Dieſer joztologijche
Differenzirungsprozeß aber bedeutet den Fortichritt, — in anderen
316 Das Wirthſchaftsleben der deutfchen Sübdjeeinjeler.
‚sormen auch heute noch: das Beijpiel von Tarawai giebt um:
den Fingerzeig, wie dem entwidelungsfeindlichen Kommunismus
der Papua beizufommen jei. ‘Freilich dürfen wir nicht unterjchägen,
dat der Malaie jenen Eilanden eine Kultur zutrug, die ihrer eigenen
unendlich viel näher jtand, als die unjrige. Um jo jchwerer üt
unjere Aufgabe. Wir müfjen viele Mittellinien ziehen und werden
janften Zwang und weiſe Selbjtbejchränfung unjererjeite üben
müjjen. Anders kann es nicht gelingen, den Papua als nützliches
Glied in unjern Wirthichaftsbau einzureihen ; dies Ziel aber ent:
jpricht jowohl dem Selbjtinterefje als dem der Menschlichkeit und
Menjchbeit.
Auch im Bismardarchipel find faum die Anfänge einer Ttaat-
lichen Gliederung vorhanden. Das höchite joziale Gebilde iſt die
Sippe, die den ihr urjprünglich zugefallenen Landjtreifen benamtt,
ohne damit den Begriff eines politischen Gemeinwejens zu verbinden.
Immerhin hat die an und für jich die Papuafultur überflügelnde
Wirthichaftsgliederung der Neu-Pommern und Neu-Lauenburger
ichon eine Scheidung von Reich und Arm gezeugt. Dieje bat den
Grund gelegt zu einer Anfangbildung von Ständen, indem die
samilienhäupter (agala), die Anführer im Kriege (luluai),
und die Reichen (uviana) als Träger bejonderer Würde geachter
werden. Dieje Differenzirung bat die Yandesverwaltung mit Ge:
chi ausgenugt, um eine dauernde gejellichaftliche Gliederung,
richterliche und politische Gewalt zu jchaffen.
Auf den Marjhallinjeln find ebenjo, wie im Bismardarchipel
Häuptlingswürde und Reichthum nicht unbefannt. Freilich fann
auch dort von wirklichen jtaatlichen Gemeinwejen nicht die Rede
jein. Eher tft dies der Fall auf den Balaoinjeln, wo eine Reihe
von fleinen Republifen unter angejehenen Oberhäuptern jchon die
Grundlage eines größeren Verbandes erfennen läßt. In ganz Mikro
nejien jcheidet jich die Bevölferung in gewiſſe Klaſſen, deren Ur-
jprung wohl auf Einwanderung von Tagalen und Negritos zurüd:
zuführen fcheint. Alte Beziehungen zu den Vhilippinen find ja
allenthalben zu erfennen. Auf den Ktarolinen (Ponape) weten
alte Ruinen und Steintafeln darauf hin, dag — wahrjcheinlich doch
— die Urahnen der jeßigen Bewohner, oder vielleicht der älteiten
Kaſte unter ihnen jchon einmal eine höhere Entwidlungsitufe er
reicht hatten, die indeR wieder in Verfall und Vergeſſenheit gerietb,
ebenjo wie die Steinfolojje und Höhlenbauten der Djterinjel nad
den beiten Forſchungen die Werfe dejjelben polynefischen Stammes
an
Das Birthihaftsleben der deutſchen Sübdjfeeinjeler. 317
jind, von dem jegt faum einige Hundert jtumpf ihrem legten Tage
entgegenfichen. Das Zeichen des Krebſes jcheint über manchen
Eilanden der Südjee zu jtehen; Spuren des Niedergangs mehren
jich in Fülle, je genauer man zufieht, und es lohnt wohl, einen
Augenblick noch den wahrjceinlichen Urjachen diejes Verfalls unjere
Aufmerkſamkeit zu jchenfen.
Die Räthjel des Bevölferungproblems geben uns die
Schlüſſel an die Hand. Die Thatjache der Volksabnahme in
Hamati, in Franzöfijch-Ozeanten, in Saledonien, in Neujeeland
iſt allgemein befannt. Man hat den Alkohol, Seuchen, Kriege,
religiöje Mafjenopferungen, Menjchenfraß, die würdeloje Arbeits:
vtehjtellung der Frau dafür verantwortlich gemacht. Unter allem
dieſem jcheint der legte Grund der ausjchlaggebendjte zu jein.
Nicht nur die langen Laftationspertoden, fondern noch viel mehr
die durch Jahrhunderte hindurd) geübte WVerfrüppelung des Weibes
baben jeine Zeugfraft immer mehr beeinträchtigt, fie jelbit als nur
gebärendes und jäugendes Gejchlechtswejen entartet. Dann aber
bat die von Gejchlecht zu Gejchlecht währende Inzucht — Die bei
der Stleinheit jo mancher Atolle und der Abgejchlojjenheit jeder
Dorfſchaft erflärlih it — am Ende ihre furchtbaren Folgen ge:
zeitigt. Die Alpenthäler, in denen Nehnliches jich heute vor
unjeren Augen abjpieit, liegen ja nicht allzu fern und auf den
Inſeln der Siüdjee wüthet und rächt ſich die Naturwidrigfeit jchon
jeit Jahrhunderten; denn es iſt jicher, daß die rajende Abnahme der
Bevölferung (jo in Neufeeland) jchon eingetreten war, bevor die Weißen
ihren Branntwein und ihr Eijen an jene Gejtade getragen hatten.
Tas legtere hat übrigens vielfach jchlimmer gewirkt al3 der Alkohol
und die Pſyche des Südjeeinjelers härter getroffen als jenen Magen
der Branntwein. In Katjer-Wilhelmland und dem Bismarcarchipel
hat der legtere glüdlicher Weije jeinen Einzug nicht gehalten und doc)
tritt auch dort mindejtens feine Vermehrung der Bevölferung ein. Die
häufige wirthichaftliche Not), der ausgeprägte Kommunismus, der
Mangel an jeglicher Hervorfehrung der eigenen Berjönlichkeit, aljv
auch derer, die dejjelben Blutes jind, mehren die Urjachen des
Bevölferungitillftandes: Kindertödtung und Abtreibung der Leibes—
frucht ſind leider jehr im Schwunge; der Beweggrund mag dabei
initinftiv die Nahrungsjorge jein, und ſolch' blühende Dörfer wie
Tarawai und Valies mit ihrer jubelnden fräftigen Kinderjchaar,
ihren arbeitjamen, aber doc) lebensfrohen rauen und vor Allem
ihren im Feld und auf dem Waſſer geichäftigen Männern bilden
318 Das Wirthſchaftsleben der deutihen Südferinfeler.
eine herzerquidende Ausnahme, leider eine jehr jeltene Ausnahme.
Und doc muß es der Zwed einer gefunden Wirthichaftspolitif au
jenen Schollen des Weltmeers jein, die Papua, die Melanejier und
die Mifronejier uns und fich jelbjt zu nützlichen Arbeitern zu
erziehen.
Die Mittel und Wege, die zu dieſem Ziele führen, jind ın
Kürze folgende: Die Grundbedingung eines Erfolges aller
erzieherifchen Thätigfeit unter den Südjeeinjelern tjt die
Befreiung des weiblichen Geſchlechts von jeinen
Ueberbürden.
Im Zujammenhang damit müjjen Maßnahmen für
eine geregelte Eheſchließung und Kinderzucht getroffen
werden und es iſt dahin zu wirfen, daß eine größere
Miſchung des Blutes eintrete.
In unmittelbarer Anfnüpfung an die aderbauliden
und jeemännijchen „Fertigfeiten der Papua muß man
ihnen Gelegenheit geben, ſich — jei es im Dienjte der
Weißen, jei es in ihrer eigenen Wirthſchaft — unter
planmäßiger Nußgung der Segnungen unjerer Kultur zu
vervollfommnen.
Das Wejentliche ijt Dabei, daß man dem Papua nur
gegen ernjte regelrechte Arbeitsleiftung nicht gegen Eth—
nologica und Kuriojitäten jeine eben erjt erwachte Be-
gehrlichfeit nach Eijen, Tuch und Berlen befriedige.
Der Lohn für joldhe von Eingeborenen geleiitete
Arbeit muß nach Maßgabe ihrer, nicht unjerer Werth:
voritellungen abgeihäßt, er darf jedenfalls nicht zu
hoc) jein.
Die beiden legten Punkte umfaſſen eigentlich die Kernfrage der
Erziehung des Papua zur Arbeit und find doch bisher am meiſten
außer Acht gelajjen worden. Die Kuriofitätenwuth des Werken bat
die wirtbichaftliche Leberlegenheit des Europäers über den Schwarzen
geradezu in das Gegentheil verfehrt. Es thut dringend noth, ın
beiderjeitigem Interefje, nöthigenfalls von Amtswegen, einen gelinden
Drud zu üben, wie überhaupt die Yandesverwaltung in der Er
ziehung der Eingeborenen ihre vornehmjte Aufgabe erbliden müßte.
Wie fie hierbei den Schwarzen ein Hort gegen mögliche Uebergrifi:
von Pflanzern und Händlern jein joll, jo muß ihr anderjeits ein
milder väterliher Zwang gegen ihre braunen Unterthanen unter
allen Umständen gejtattet jein. Es iſt bezeichnend, daß jelbit von
Das Birthihaftsleben der deutihen Eübdjeeinfeler. 319
maßgebender jozialdemofratijcher Seite die Heiljamfeit ſolcher Ein-
geborenenpolitif anerfannt wird. Aus Zwang wird Gewohnheit,
aus Gewohnheit Bedürfnig und it dieſes erſt vorhanden, dann
fönnen wir getrojt hoffen, daß die Bewohner unjerer Südjeeinjeln
nicht gleich den Kariben der Antillen vor vier Jahrhunderten unter
dem Einfluß einer höheren Kultur zu Grunde gehen, jondern jich
als nügliche Glieder in das weltumjpannende Wirthichaftsgebilde
der heutigen Menjchheit fügen werden. Die fejte ehrliche Abjicht,
diefem Ziele zuzuftreben und in diefem Sinne Bildung und Ge:
jittung über unjere Tochterländer, über den ganzen Erdball zu
breiten, fann allein einer großen jtolzen Nation, fann allein des
deutfchen Volfes würdig jein.
Voltaire als FFriedensvermittler.
Yon
Dtto Herrmann.
So befannt es iſt, daß der gefetertite Cauſeur an Friedrichs II.
Tafelrunde in Sansjouct zugleich als Dichter, Philojoph und
Gejchichtsjchreiber ich ausgezeichnet hat, jo wenig hört man da-
von, daß er auch in der Politif eine Rolle gejpielt und jpeziell
während des jiebenjährigen Strieges jeine Hand mehrfach dazu ae
boten hat, den Frieden zwijchen Preußen und Frankreich wieder:
herzujtellen. Und doch it es einerjeits jehr begreiflich, dat Xoltaire
ji) von dem jtillen Hafen der Dichtkunit auf das hohe Meer der
Bolitif Hinauswagte, da ihn ja viele, zum Teil enge Beziehunger
mit Fürſtlichkeiten, StaatSmännern und Günjtlingen Deutichland:
und Frankreichs verbanden. Andrerjeits dürfte grade jeine Thätigken
als Friedensvermittler, wenn jie auch jchlieglich ohne Erfolg blieb,
wegen der ihr zur Grunde liegenden Motive und wegen der Auf—
nahme, die fie namentlich bei Friedrich II. fand, nicht uninter:
ejiant jein. Es ijt daher gewiß anzuerfennen, daß ein franzöſiſchet
Hiltorifer, der Herzog von Broglie, in jeinem fürzlich erjchienenen
Buche: Voltaire avant et pendant la guerre de sept ans dieſen
Gegenſtand aufs Korn genommen bat. Yeider hat aber der Herzog.
welcher Mitglied der Pariſer Akademie it und bereitS mehrer:
große Werfe über das Fridericianiſche Zeitalter veröffentlicht bat,
trot aller den Franzojen eigenen Klarheit und Eleganz der Dar
jtellung in der vorliegenden Frage fein Necht, das letzte Wort ju
beanjpruchen. Er hat nämlich) mit gleichfalls echt Tranzöfticer
Sorglofigfeit eine jchon gedrudte Hauptquelle für die Friedens—
Voltaire als Friedensvermittler. 321
verhandlungen überjehen, die wichtiger iſt als jeine Mättheilungen
aus ungedrudten Minijterialakten, und it auch nicht immer den
Regeln der Chronologie gefolgt. So mußte er begreiflicher Weije
mehrfach zu theils ungenügenden theils jchiefen Rejultaten fommen.
Wir wollen daher im Folgenden den jo interefjanten Gegenjtand
einer erneuten Betrachtung unterwerfen, indem wir verjuchen, die
Fehler des franzöfiichen Autors nicht bloß aufzudeden, fondern
auch zu repariren. —
Schon vor dem Ausbruch des jiebenjährigen Krieges hatte
Voltaire zweimal in die Beziehungen zwijchen Preußen und Frank—
reirh einzugreifen gejucht, und zwar im Direften Muftrage der
franzöfiichen Regierung: 1740 jollte er, unter dem Vorwande, den
jungen König Friedrich zu feiner Thronbefteigung zu beglüd-
wünjchen, ihn über jeine Pläne zur Eroberung Schlefiens aus»
borchen; 1743 hatte er den Auftrag, den preußifchen König
zum Wiederanjchluß an das Bündnig mit Ludwig XV. zu bewegen.
Aber Friedrich, jo jehr er den Dichter Voltaire bewunderte, wollte
doch von dem Spion Voltaire, den er durchjchaute, nichts willen
und ließ ihn daher unverrichteter Weije abziehen. Wenn Broglie
daher meint, die franzöfiiche Regierung hätte auch im Jahre 1750,
als Voltaire der Einladung Friedrichs nach Berlin folgte, ihn als
Spion verwenden jollen — Richelieu und Mazarin hätten dies
jiher getan —, jo jcheint mir unjer Autor auf dem Holzwege zu
jein; denn Voltaire würde damals, auch wenn er jich Mühe gegeben
hätte, aus jeinem föniglichen Gönner ebenjowenig über dejjen
politifche Anfichten herausgepreßt haben wie 1740 und 1743.
Der Aufenthalt Boltaires am Berliner Hofe dauerte nur drei
Sahre. Seine Habjucht, wie fie fich in der Einjchmuggelung in
Preußen verbotenen ſächſiſchen Bapiergeldes zeigte, und jein
Iitterarijcher Ehrgeiz, wie er in jeinem Streit mit Maupertuis, dem
Präjidenten der Berliner Afademie, zu Tage trat, verjtimmten den
großen König gegen den großen Dichter. Als dem Könige nun
vollends eine Meußerung Boltaires hHinterbracht wurde, er babe
feine Luft mehr, Friedrichs „schmugige Wäjche zu wajchen“, d. h.
jeine franzöfijchen Verſe zu forrigiren, da erflärte Friedrich: „Man
drüdt die Orange aus, dann wirft man fie weg“ und ertheilte dem
gentalen Franzoſen, wenn auch ungern, die erbetene Erlaubniß zur
Abreife. Voltaire beging nun nod) die Unvorfichtigfeit, einen Band
Gedichte des Königs mitzunehmen, wurde deshalb in Frankfurt am
Main durch den preußijchen Nefidenten, Baron Freytag, feſtge—
Vreußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 21
322 Roltaire als Friedensvermittler.
halten und mußte bier, als er einen Fluchtverſuch wagte, ſich einem
Arrejt unterwerfen, in Folge dejjen er nach jeinem eigenen Zeugnih
franf wurde und aus dem ihn, nach Ablieferung jener Gedichte,
nicht die Vermittelung jeiner Negierung, an die er ſich vergeben:
wendete, jondern erjt eine Kabinetsordre aus Berlin befreite.
Mochte Voltaire, wie Friedrich glaubte, mit jeiner Strankbat |
nur Komödie gejpielt oder mochte die ihm widerfahrene wenig rüd:
fichtsvolle Behandlung wirklich jo jchwer getroffen haben, die Krän-
fung wirfte jedenfall jo lange in ihm nach, daß er vor Begunr
des jiebenjährigen Krieges — er hatte fich inzwijchen auf ein Yan)
gut in der Nähe von Genf zurüdgezogen — zunächſt mit einer ge
wijjen Genugthuung jeinen früheren Gönner einer übermächtiger
Allianz gegenüberjtehen jah. Er jchrieb damals an eine }Freundın |
der Bompadour, eine Gräfin Yübelburg: „Sie erwarteten wohl nıdt
daß Frankreich und Dejterreich eines Tages Bundesgenofjen ſein
würden. So einjam und der Welt abgejtorben ich lebe, jo bin ıd
doch übermüthig genug, mich über dieſes Bündniß zu freuen."
Einige Tage jpäter fragte er die Gräfin, ob Maria Therejia Bor
bereitungen zur Wiedereroberung Schlejiens treffe. „Der Moment |
iſt jegt günjtig hierfür; wenn fie ihn vorübergehen läßt, wird er
nicht wiederfommen. Freuen Ste ich nicht zu jehen, wie ze
‚rauen, zwei Saijerinnen (Maria Therefia und Elijabeth) mi
unjerm großen König von Preußen, unjerm nordijchen Salome
Fangball jpielen? . . Und würden Sie jich nicht freuen, Salomı
in Wien am Hofe der Königin von Saba zu jehen?“
In dieſer Zeit juchte Friedrich II. das freundjchaftliche Per:
hältnig mit Voltaire wieder anzubahnen, indem er ihn zwar nid
perſönlich — Dazu war er zu vorfichtig — aber durch jenen
Sekretär und Vorlejer, den Abbe de Prades, zum Bejuch bei jıd
aufforderte; er reichte ihm wieder die Hand, mit der er ihn, nad
Broglies Ausdrud, furz vorher „jo brutal geohrfeigt hatte“. Ten
Grund für dieſes Entgegenfommen jieht Broglie darin, daß Fried
rich in Frankreich populär bleiben wollte, „in Theatern um
Akademien beweihräuchert”, und daher „den furchtbaren Spötter‘
auf jeiner Seite zu haben wünjchte; mir jcheint eher das leiden:
ichaftlihe Bedürfnig des Königs nach der geiftvollen Plaudern“
Voltaires den Anjtoß gegeben zu haben. Mag dem jein, wie ıhm
wolle: der Dichter lehnte ab, er zog es vor, wie er jagt, rubig au
jeinem von den Alpen überragten Yandgute mit jeinen „Büchern
Gärten, Weinbergen, Pferden, Kühen“ weiter zu leben. Ti
Voltaire als Friedensvermittler. 323
Schwärmerei Voltaires für das Landleben wird ihn aber wohl
ebenjowenig zu jeiner Ablehnung bejtimmt haben wie „die Wer:
gänglichkeit der Ehrenjtellen“, die er an anderer Stelle vorjchüßte;
es war vielmehr jedenfall® noch ein jtarfer Reit von Empfindlich-
feit gegen jeinen früheren Mäcen in ihm zurüdgeblieben. Wie
groß dieſe Empfindlichfeit war, fünnen wir aus einer Aeußerung
Voltaires entnehmen, welche in die Zeit nach Friedrichs erjten Er—
tolgen im jiebenjäyrigen Kriege fällt: „Diejer Teufelsferl von
Zalomo jcheint das Uebergewicht zu befommen. Wenn er jtets
alüclich und jtegreich bleibt, wird meine ehemalige Vorliebe für ihn
gerechtfertigt werden; wird er gejchlagen, jo werde ich gerächt wer:
den.“ Zugleich bat er den Marjchall von Nichelieu, jeinen „Heros“,
wenn er nach Frankfurt fäme, ihm von Dort die Uhren des
ſchurkiſchen Baron Freytag mitzubringen.
Ueberwog hier noch das Gefühl der Rache, jo wurde dajjelbe
vollfommen in den Hintergrund gedrängt, als Friedrich II. nach
der Schlacht bei Kolin und ihren verderblichen Folgen in den Ab—
grund des Berderbens hinabgejtürzt zu jein jchien: Voltaires ganzes
Beitreben ging jetzt dahin, feurige Kohlen auf das Haupt des
preußischen Königs zu jammeln. Er jah wie Broglie, freilich
die ‚sarben etwas jtarf auftragend, bemerft — mit einem Schlage
die Gelegenheit, fich durch einen Mft großen Edelmuthes berühmt
zu machen, indem er den, welcher ihn furz zuvor unterdrüdt hatte,
jegt aber „gedemüthigt zu jeinen Süßen lag“, vom gänzlıchen
Untergang rettete, und zugleich mit Glanz wieder in den Kreis
diplomatijcher und politischer Angelegenheiten einzutreten, von dem
er zu jeinem Schmerze ausgejchlofjen worden war. Es war aljo
nicht jowohl jelbitloje Dinneigung zu Friedrich oder ein Gefühl
des Danfes für die jchöne Zeit, die er an der Spree und Havel
in den föniglichen Schlöjjern verlebt hatte, als vielmehr perfönliche
Gitelfeit, die Voltaire bewog, jett die VBermittlerrolle zu über-
nehmen.
Er wandte ſich zuerſt nicht an Friedrich direkt, ſondern an ſeine
Schweſter, die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, deren enge
Beziehungen zu ihrem königlichen Bruder er kannte und mit der er
auch ſchon vorher forrejpondirt hatte. „Geſtatten Ste mir“, ſchrieb
er ihr, wahrjcheinlich im Juli 1757,*) „dab ich Ihnen eine meiner
Ideen mittheile. Sch bilde mir ein, daß der Marjchall von
*) Die Daten des Briefmehjels zwifchen Voltaire, Wilhelmine und Friedrid)
find in dieſer Zeit ſehr unficher.
21*
324 Voltaire als Friedensvermiltler.
Nichelieu jich gejchmeichelt fühlen würde, wenn man ſich an ibn
wendete. Es iſt meiner Anficht nach nothwendig, ein gemifjes
Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, und ich glaube, daß es für ihn
feicht jein würde, das Interejje jeines föniglichen Herrn mit dem
Interefje jeiner Verbündeten und dem Ihrigen zu verjchmelzen.
Lajjen Sie ihn gelegentlich jondiren: Niemand fann geeigneter
jein als der Marjchall von Richelieu, eine ſolche Miſſion zu er
füllen. Ich jpreche von diefen Dingen nur in der Vorausjetuna,
daß Ihr Bruder, der König, gezwungen würde, Frieden zu jchlieken,
und um Sie darauf aufmerfjam zu machen, daß er Ihnen in
diefem Falle gewiß zu großem Danfe verpflichtet wäre, jelbit
wenn die Umjtände ihn nöthigen jollten, Opfer zu bringen.“
Zu gleicher Zeit jchrieb Voltaire auch jelbit an Nichelieu,
jeinen „Heros“, der im Jahre 1756 die Inſel Minorfa den Eng:
ändern entrifjen hatte und gerade jetzt als Nachfolger des
Marſchalls d’Ejtrees zum Kommandirenden der franzöjiichen Armee
im nördlichen Deutjchland ernannt wurde. Um Politif befümmere
er jich zwar, jo bemerkt er in feinem Brief an Nichelieu mit offen:
barer Berjtellung und ich jelbjt gleich darauf widerlegend, genau
ebenjo wenig wie um die Streitwagen der alten Aſſyrer, er babe
aber doch nicht umhin gekonnt, der Marfgräfin von Bayreuth) den
Wunjch vorzutragen, daß er, Nichelieu, die Rolle eines Feldherrn
mit der eines Schiedsrichter vereinigen möge. Dieje jeine der
jei fein Rath, jondern eben nur ein Wunjch, der Niemanden
fompromittiren fönne, und der nur jeinem Eifer für die Perjon
und den Ruhm des Marjchalld entiprungen jet.
Der Rath Voltaires fiel jowohl bei Friedrich II., der durch
jeine Schweiter informirt worden war, wie auch bei dem Marjchall
von Nichelteu auf fruchtbaren Boden. Friedrich jchrieb am 6. Sep:
tember 1757 einen Brief an Nichelieu, „den Mann, der die Iniel
Minorfa troß ungeheurer Schwierigfeiten erobert hat, und der auf
dem Punkte jteht, Niederjachjen zu unterwerfen“. Es handele ih
um die „Kleinigkeit“, Frieden zu ſchließen, jo erflärte der König
vorjichtiger Weije in diefem Briefe, um jeine Nothlage nicht ein-
räumen zu müſſen. Er jet bereit, die alte, jechzehnjährige Ber:
bindung mit Frankreich wieder aufzunehmen. Wenn Richelieu in
Bezug auf die VBorjchläge, die er ihm mache, feine Injtruftionen
habe, möge er jtch welche erbitten und den König von ihrem
Inhalt in Kenntniß jegen. Der Marjchall antwortete hierauf,
da er mit einem Helden wie Friedrich lieber verhandle als kämpfe:
Voltaire als Friedensvermittler. 325
da er in der That ohne Injtruftionen fei, werde er einen Kourier
abfertigen, um die franzöfiiche Negierung von den „Eröffnungen“
des Königs zu benachrichtigen.
Worin bejtanden dieje „Eröffnungen”, fragt Broglie, und be-
antwortet die Frage dahin, daß wir leider gar nichts hierüber
wüßten, weil „feine jchriftlihe Spur“ davon erhalten jei. Ein
Irrthum des franzöfiichen Autors: nicht bloß eine, ſondern viele
jchriftliche Spuren über dieſe Friedensverhandlung find erhalten.
Weshalb hat Broglie diefe Spuren nicht entdedt? Weil er, wie
wir oben jagten, mit echt franzöfiicher Sorglofigfeit die Haupt-
quelle für alle politijchen Verhandlungen Friedrich IL, jeine
Korrejpondenz, nicht benußt hat. Dieje „Politiſche Korrejpondenz
‚sriedrichd des Großen“, welche jchon vor einigen Jahren bis zum
Ende des jiebenjährigen Krieges geführt it, it ein monumentales
Urfundenwerf gleich der Correspondance de Napoleon LJ., und es
erjceheint uns Deutjchen fajt unbegreiflich, wie ein in Franfreich
und über die Grenzen Frankreichs hinaus mit Recht berühmter
Hiltorifer, der ſich Hauptjächlich mit der Periode Friedrichs II.
bejchäftigt, jte überjehen fonnte. Der Fehler ijt um jo jchwerer
verjtändlich, weil Broglie in jeinen früheren Werfen die Korrejpondenz
benußt, ja jogar im vorliegenden Buche über Voltaire einmal
zitirt bat.
Nach der „Politischen Korreſpondenz“ ſchickte Friedrich am
6. September den Kammergerichtsrath) von Eidjtedt, der Spezial:
gejandter an den Ddeutjchen ‚sürjtenhöfen war, mit jeinem oben
erwähnten Briefe und einer bejonderen Injtruftion an den Marjchall
von Nichelieu. Auch in diejer Injtruftion iſt übrigens von feinen
‚stiedensvorjchlägen des Königs die Rede; Eidjtedt jollte vielmehr
danach, ähnlich wie Friedrich es in jeinem Briefe that, den
Marjchall auffordern, jich „zu äußern“, falls er zu Vorjchlägen
ermächtigt wäre, wenn nicht, jogleich an jeinen Hof zu jchreiben.
Die Abjicht des Königs ging nach der Inftruftion dahin, „daß
Sch den Frieden antragen lajje und durch Euch den Marechal
über Die Conditions und Propofitiong, wie man jolchen zu jchließen
vermeinet, jondiren laſſe.“ Der König folgte dem Nathe Voltaires
aljo ganz genau, er bediente jich dejjelben Ausdrudes „jondiren“,
den jener in jeinem Briefe an die Marfgräfin von Bayreuth an-
gewendet hatte. Die Idee des Dichters fand demnach eine jehr
günjtige Aufnahme bei ‚Friedrich, wenn er ihr auch nicht jofort
folgte, jondern erſt dann, als jeine militärische Lage durch den Sieg
326 Voltaire als Friedensvermittler.
der Ruſſen bei Großjägerndorf jic noch mehr verjchlimmert hatte.*) De
„Eröffnungen“ Friedrichs aber, von denen Nichelieu in feiner Ant-
wort }pricht und die Broglie joviel Kopfzerbrechen machen, ent:
halten, wie gejagt, feine detaillirten Vorſchläge zum Frieden.
Am 20. September (Bolit. orrejpondenz Bd. 15, Nr. 935%
überjandte Eidjtedt dem Könige nebjt der obigen Antwort Richeliu:
einen Bericht über zwei Unterredungen mit dem Marſchall. Tu:
nach hatte Ddiejer auch mündlich) die baldige Abjendung eine
Kouriers nach Verſailles zugefichert, zugleich aber betont, daß de
Friedensſchluß mit Preußen ohne Opfer diejes Staates bei jene
Regierung auf Schwierigfeiten jtoßen werde, da Maria Thereitı
den Franzoſen die öfterreichijchen Niederlande (etwa das heutic
Belgien) verjprochen habe, falls jie ihr bei der Wiedereroberum
Schlefiens helfen würden. Eickſtedt erhielt nun Befehl, wen
Richelieu von Abtretungen oder dergleichen jpräche, „beicheiden‘
hervorzuheben, „daß Vorjchläge dieſer Art nicht das geeignete Mittel
wären, um den Frieden in die Wege zu leiten;“ der Marſchal
möge fich erinnern, was Ludwig XIV. 1672 in Utrecht paſſite
(mit der Einnahme von Utrecht endete der Siegeszug Ludwigs AN.
in Holland). Bon Abtretungen aljo wollte der König jett, an
24. September, nichts wifjen, obwohl er noch furz vorher, am
18. oder 19. September, jeiner Schweiter Wilhelmine gejchrieben
hatte, er jehe voraus, „daß die beiten Bedingungen, die man von
diefen Leuten (den Franzoſen) erhalten wird, demüthigend un
jchreeflich jein werden.“ Aber das war nur der Ausdrud em!
momentanen, bis aufs Höchite gejteigerten Niedergejchlagenbeit; in
Allgemeinen hielt Friedrich, bei allem Wechjel jeiner durd du
Kriegsglüd bedingten Stimmungen, von nun an mit eier
Energie an dem Grundſatz fejt, lieber zu jterben als einen faulen
Frieden, einen Frieden mit Yandabtretungen, zu jchließen.
Die von dem preußiichen Könige ungeduldig erwartete Antwort
der franzöfifchen Regierung traf um die Mitte Oftober endlich an:
der Hof von Berjailles lehnte es ab, mit Preußen allein, ohn
Zuziehung feiner Verbündeten, noch dazu bloß durch einen Genen
über den Frieden zu verhandeln. Nach dem Berichte Eicjtedt!
hatte Nichelieu diefer von ihm vorgelejenen Antwort jeines Hofet
noch mündlicy hinzugefügt, ohne die Zeſſion Schlejiens ſei M
Friede unmöglich. Damit war das Band der Verhandlung zunät
*) Vergl. B. Bolz: Kriegführung und Rolitit König Friedrichs des Grob!
in den erjien Jahren des ficbenjährigen Krieges, Berlin 1896.
Voltaire als Friedensvermittler. 327
durchichnitten, denn von Abtretungen wollte der König ja eben
nichts wiſſen. Er war aber nicht verzweifelt, jondern hoffte, wie
er jeiner Schweiter am 17. Oftober jchrieb, daß Die Franzoſen
ihre Unverſchämtheit und, ihren Stolz noch bedauern würden.
Drei Wochen jpäter jchlug er fie bei Roßbach. —
Unmittelbar nachdem dieſe durch ihn veranlaßte erfte
‚riedensvermittlung gejcheitert war, arbeitete der unermüdliche
Voltaire bereits an einem zweiten Plane, um Frankreich und
Preußen zu verjöhnen. Hatte er jic) das erite Mal eines Generals
als Mittelsperjon bedient, jo wollte er diesmal einen Staatsmann,
den mit der Markgräfin Wilhelmine befreundeten früheren franzö—
jiichen Minister des Aeußeren, den in Lyon lebenden alten Kardinal
Tencin, in Aftion treten lajjen. Voltaire wandte jich nicht direkt
an Tencin, der ihn früher einmal bei einem Bejuche etwas ungnädig
empfangen hatte, jondern an den Bankier Trondin in Lyon. Am
20. Oftober jchrieb er ihm, er jei der Marfgräfin jehr zugethan,
babe ihrem Bruder „angehört“ und finde es nicht in der Ordnung,
dag man dem Haufe Dejterreich noch mehr Macht zufommen lafjen
wolle, als es jelbit unter Kaiſer Ferdinand II. bejejien habe.
Der König von Preußen müſſe freilich Opfer bringen, weshalb
aber ihn jeines ganzen Befiges berauben? Welche jchöne Wolle
fünne Ludwig XV. fpielen, indem er die für Frankreich jo ruhm:
volle Zeit des weitphälischen Friedens erneuere! Da nun die Marl:
gräfin in freundichaftlichen Beziehungen mit einer Perſon jtehe,
die Tronchin oft jehe — Voltaire meint den Kardinal Tencin — möge
jie an den König von Frankreich einen „rührenden“ Brief jchreiben
und „die Berjon“ möge dann diejen Brief dem Könige mundgerecht
machen. Ia „die Perjon“ — Voltaire vermeidet es, Tencins
Namen zu nennen, um jich nicht bloß zu jtellen — die Perſon
fönnte vielleicht jpäter jogar dem zu berufenden Friedenskongreſſe
präfidiren und jo ihre bisherige Zurüdgezogenheit mit dem ehren
volliten und edeliten Amte, welches es auf der Welt gebe, ver:
taujchen.
Dem alten Kardinal, einem Gegner des franzöftich = öjter-
reichiſchen Bündnifjes, jchmeichelte die ihm zugedachte Nolle nicht
wenig. Er war jogleich bereit, den Brief der Marfgräfin zu über:
mitteln und empfahl ihr nur noch durch Voltaire, in diefem Briefe
auch dem Abbe Bernis, dem derzeitigen franzöſiſchen Miniſter des
Auswärtigen, einige Nojen auf den Weg zu itreuen, da er großen
Einfluß in Verjailles habe.
328 Voltaire als Friedensvermilttler.
Bis hierher fünnen wir Broglie folgen. Seine weitere Dar:
jtellung der zweiten Boltairejchen Friedensverhandlung it aber
durchaus lücken- und fehlerhaft, weil er wieder die „Politiſche
Korrejpondenz“ nicht eingejehen und auch die Daten verwirrt hat.
Er nimmt an, die Boltaire-Tencinjche Friedensvermittlung je
hauptjächlich durch Friedrichs Steg bei Roßbach und jeine darauf
geitügten Ansprüche durchfreuzt worden; in Wahrheit fällt aber
der größere Theil der Verhandlung — den Broglie gar nidt
bringt — erjt, wie wir jehen werden, in die Zeit nad) diejer Schladt
(5. November 1757).
Nachdem Boltaire am 27. Oftober die Marfgräfin von jeiner
neuen Idee in Kenntniß gejeßt, wandte fich dieje, wir wifjen nicht,
an welchem Tage, aber doch frühejtens in den eriten Tagen dei
November, an ihren Bruder mit der Bitte, ihr jeine Abfichten
mitzutheilen und welche Antwort fie Voltaire geben jolle. Friedtich
beſchied (13./14. November) die Markgräfin dahin, es jei ihm
erwünscht, jich im Fall der Noth eine Hinterthür aufzuhalten, er
dürfe ſich das aber nicht merfen lajjen. Wilhelmine jchloß hieraus
jehr richtig, daß der König gegen ihren Briefwechjel mit Voltaire
nicht8 einzuwenden habe, wenn jie den Anjchein vermeide, al:
handle jie in jeinem Auftrage. Sie jtellte deshalb am 23. No
vember Voltaire den Brief für Tencin in Ausjicht; dieſen Brief
jelbjt hat fie, wir willen nicht aus welchen Gründen, erjt am
27. Dezember abgehen lajjen, nachdem ihr Bruder ihr noch zuvor
(18./19. Dezember) den Wunſch zu erfennen gegeben, zu
willen, „wie man in ‚sranfreich über den Frieden dent.‘
Alfo nicht die Schlacht bei Roßbach hat die Tencinjche Ber:
mittlüng jcheitern lafjen, jondern vielmehr ein von Broglie jelbit
angeführter, den franzöfiichen Minifterialakten entnommener Befebl
des Abbe Bernis an Tencin, ſich nicht um Dinge zu befümmern,
die ihm nichts angingen, und der Marfgräfin höflich, aber ablehnen?
zu jchreiben. Der arme Kardinal mußte das Konzept zu Diejem
Schreiben, nachdem es Voltaire begutachtet, aud) Bernis vorlegen,
der noch einige Ausdrüde dejjelben veränderte, die zuviel Ent:
gegenfommen für Friedrich verriethen.
So verlief Voltaires Vermittlung mit Hilfe des Politiker?
Tencin ebenjo ergebnilos wie die mit Hilfe des Generals Kichelieu;
jie hatte aber außerdem noch für den ehrgeizigen Dichter ein un
angenehmes Nachjpiel im Gefolge. Frankreich jchwärmte damals
für den Helden von Roßbach, der mit jeinem fleinen Heere fich jo
Voltaire als Friedensvermittler. 329
unvergängliche Yorbeeren erworben hatte. „Das ganze Königreich‘‘,
jagt Bernis in jeinen Memoiren, „war preußijch geworden, unjere
Armeen waren preußijch, jelbjt mehrere unjerer Minifter wären es
gewejen, wenn jie gewagt hätten, die Maske abzuwerfen, und
unjer Bündnig mit Dejterreich und Rußland wurde mehr in Paris
als in London befrittelt.“ Da zu den Unzufriedenen bejonders die
Itterarijchen Freunde und philojophiichen Glaubensgenofjen des
Königs von Preußen gehörten, jo geriet) Bernis auf den Verdacht,
daß Voltaire die Vermittlerrolle nur deßhalb übernommen habe,
um jich bet jeinem alten Gönner, dem Feinde Frankreichs, wieder
in Gunſt jeßen und zu ihm zurücfehren zu fünnen. Bernis hatte
früher als junger Abbe und Ffleiner Verſemacher mit Voltaire und
einem gewiſſen d'Argental in einem fröhlichen, literariichen Klub
verkehrt und jich dabei wegen jeines wohlgenährten Ausjehens den
Spignamen „Babette“ erworben; jet aber war er der zugefnöpfte
Herr Minijter, der von früheren Scherzen nichts mehr wijjen wollte
und dem Dichter jeine Anfnüpfungsverjuche mit dem Feinde jehr
verübelte. Da er auf VBoltaires Briefe nicht antiwortete, ſo wandte
jich Diejer nun in heller Verzweiflung an d’Argental mit der Bitte,
ihn „bei jeiner lieben Babette* zu rechtfertigen. „Zerſtören Sie
den Argwohn, daß ich mich noch für den Mann interejjire, über
den ich mich jo jehr zu beflagen habe.“ Endlich ließ ſich Bernis
erweichen, den Betheuerungen des Dichters zu glauben, und Vol:
tatre jandte ihm nun einen feurigen Danfesbrief, welcher jchloß: „Ver:
zeihen Sie dem alten Schweizer jein Gejchwäß, und möge Eure
Eminenz ihm daſſelbe Wohlwollen bewahren, mit welchem die jchöne
Babette ihn beehrte.‘
Wir fommen jet zu dem dritten und Schlußafte des Dramas:
Voltaire als Friedensvermittler; er it länger als die beiden vor:
angehenden Akte, endet aber ebenjo wie jie mit einem Fiasko des
Helden. Zu jeinem Hauptmitjpieler hatte der Dichter in dieſem
dritten Akte den Miniiter Choiſeul, wie im erjten Nichelteu und im
zweiten Tencin. Unjer Autor Broglie muß, um im Bilde zu bleiben,
diefen Akt nur halb gelejen haben, denn jeine Erzählung davon,
jo hübjch fie klingt, enthält noch mehr Lücken und Fehler als jeine
früheren Auseinanderjegungen.
Nach der Schlacht bei Kunersdorf, im September 1759, nahm
Voltaire, nad) fajt zwetjähriger Pauſe, zuerit wieder einen Anlauf,
ſich dem preußifchen Könige als ehrlichen Makler für den ‚srieden
in Erinnerung zu bringen. Aber die Folgen diejer Schlacht waren
330 Boltaire ald Friedenspermittler.
jür den König bei Weitem nicht jo verderblich als diejenigen da
Niederlage bei Kolin. Die Nujjen wagten ihn bei Beuthen a
der Oder nicht anzugreifen, jondern zogen ſich nach Polen zurüd: ;
die Dejterreicher, welche Dresden erobert, hoffte der König durc
Entjendung des Finckſchen Korps jchnell nach Böhmen zu werten
um dann Dresden zurüdzuerobern. So lehnte er Voltaires Ar |
träge zunächſt ab: er wiſſe, welches Unglüd er erlitten, aber dx |
Schlaht bei Minden und der Berlujt Kanadas müßten aud dı
Franzoſen vernünftig machen; möge doc Voltaire den Frieden ge
nießen, den er bejige. Bald darauf aber erlitt das preußiſche Her |
nicht minder wie der preußiiche Waffenruhm eine jchwere Einbuße
indem eben jenes Finckſche Korps in offenem Felde die Wafter
itredte. Der König fonnte nun weder die Dejterreicher aus Zadia
vertreiben noch Dresden zurüderobern, und jeine Ausjichten für der
fommenden Feldzug gejtalteten jich jehr trübe. Als Daher ir
franzöſiſche Dichter zu Beginn des Jahres 1760 mit neuen Friedens
erbietungen an ihn herantrat, ging er, wie wir jehen werden, ei:
darauf ein.
Voltaire hatte jich furz zuvor, im November 1759, durd |
jeinen Freund d’Argental dem Herzog von Choijeul, Bernis’ Nad |
folger al$ Premierminiſter, der ihn als Dichter jehr hoch jchäste
obwohl er jelbit nicht, wie jein Amtsvorgänger, poetijcher Dilettant
war, und der jeiner Hilfe im Kampfe gegen die Jejuitenparter be
durfte, auch als politischen Agenten zur Verfügung gejtellt. Cr
hatte Argental, „jeinen Schugengel‘“, flehentlich gebeten, den
Herzoge Folgendes vorzujtellen: „Voltaire jteht in regelmäßiger
Briefwechjel mit Luc“), obwohl er jehr aufgebracht gegen ihn ſein
darf und muß, und er wird diefen Verfehr, mit weiterer Unter:
drüdung jeiner Empfindlichkeit, um jo lieber fortjegen, wenn er
dem Staate damit einen Dienſt erweilen kann.“ Er jtehe ferner ın
Beziehungen mit mehreren fleinen deutjchen Fürjtenhäujern (Pral;,
Württemberg, Gotha) und habe Freunde in England. Er könne
überall hinreifen, ohne den mindejten Verdacht zu erregen. So
möge man jich denn jeiner, wie ehemals des Abbe Gauthier vor
dem Utrechter Frieden, als Agenten bedienen, um die Würde der
Krone nicht bloßzuitellen, wie eine Jagdgejellichaft durch einen
Piqueur erit das Yager eines Wildes umgehen laſſe, bevor fie ſich
zum Stelldichein begebe.
*) Unjauberer Beiname Friedrichs II.
2
Voltaire als Friedensvermitiler. 331
Voltaire erzählt, daß jeine Bitten größeren Erfolg hatten,
als er jelbit zu beffen wagte. Choiſeul habe ihn zum Diplo:
matiſchen Kurier gemacht und ihm mehrere „ojtenjible‘ Briefe fr
‚sriedrich II. überjandt, die jo abgefaßt waren, daß Defterreich
gegen die franzöfiiche Negierung nicht mißtrauiſch werden fonnte.
Sa, er habe jogar von dem preußischen Könige einen förmlichen
‚sriedensentwurf erhalten, deſſen Bedingungen allerdings wenig
annehmbar gewejen jeien.
Nach Broglie verdient diefe Erzählung feinen Glauben.
Voltaire habe ſich hier eine Bedeutung beigelegt, die ihm nicht
zufomme, und die ganze Berhandlung zwijchen Friedrich Il. und
Choiſeul jet nicht jo „ernithaft‘ gewejen, wie der Dichter glauben
machen wolle. Von jenen „ojtenjiblen‘ Briefen, behauptet Broglie,
jet feiner mehr erhalten. Gine Spur von dem Antwortjchreiben
Friedrichs finde ſich zwar in den Briefen an die Herzogin von
Gotha, aber in einer „geheimnißvollen“ Sprache und unter fingirten
Namen, was die Kenntniß der Verhandlungen „unmöglich“ mache.
Bisweilen entjchließe jich Friedrich wohl dazu, jelbit an Voltaire
zu jchreiben, aber dann gejchehe es in Verſen und mit offenbarer
Verjpottung des Dichters. Nachdem jich der König von Preußen
eine Zeit lang, jagt Broglie, mit einem „Spiele“ bejchäftigt hatte,
welches ihm im Grunde genommen „Eindiich‘ erjcheinen muhte,
warf er plöglich die Karten weg, da der „unglüdliche Anfang‘
des Feldzuges von 1760 ihm nicht mehr erlaubte, jeine Zeit „mit
Scherzen zu verbringen“; am 1. Mai 1760 erklärte er Voltaire,
die Waffen erſt nach drei Feldzügen niederlegen zu wollen.
Wenn an diefen Behauptungen unjeres Autors faum ein
wahres Wort ift, und wenn er von den damals gepflogenen Wer:
handlungen gar nicht mitzutheilen weiß, jo liegt der Grund hier—
für eben wieder -darin, daß er es nicht der Mühe für werth ge—
halten hat, einen Blid in die „Politiſche Korrejpondenz Friedrichs
des Großen‘ zu werfen. Nach dem 19. Bande derjelben, welcher
genügende Zeugnijje enthält, um Perſonen und Dinge far zu
beurtheilen, joll in Folgendem das dritte Stadium der Voltaire:
ihen Friedensvermittlung dargeſtellt werden, wobei ſich Gelegen—
heit finden wird, Broglies falſche Anſichten, namentlich ſeine ver—
kehrte Auffaſſung von der Politik Friedrichs II. zu berichtigen.
Zunächſt lieg Choiſeul im Januar 1760 dem preußiſchen
Könige durch Voltaire die Mittheilung zugehen, Frankreich wünjche
jehnlichit, fich mit England und Preußen zu vertragen, jelbjt wenn
332 Voltaire als Friedensvermittler.
es jeine eigenen Berbündeten im Stiche lafjen müßte. England
jollte gegen Minorfa und die franzöfischen Bejigungen in Afrika
das jchon eroberte Kanada mit der Inſel Guadeloupe wieder
herausgeben; Preußen jollte Sachjen räumen und dem Kurfüriten
von Sachjen eine fleine Entjchädigung geben.
Wie ernithaft Friedrich diejen „oftenjiblen‘ Brief Choijeuls
aufnahın, geht daraus hervor, daß er jofort in einer eigen:
bändigen Denkſchrift, „idees pour la paix“ betitelt, darauf ant-
wortete. (E8 iſt dies jedenfalls der fürmliche riedensentwurf,
den Voltaire erwähnt.) Mit Preußen, heißt es Darin, könne
Frankreich fich leicht verftändigen. Denn gegen die Räumung
Sadjens habe der König nichts einzuwenden, vorausgeſetzt, daß
auch die Franzoſen die preußiichen Gebiete am Rhein und in
Weitphalen räumten und daß die Ruſſen und Schweden fich ın
ihre Heimath zurüczögen; der Kurfürjt von Sachjen möge, wenn
erforderlich, durch Säfularijation von Erfurt entjchädigt werden.
Schwieriger jet es, die Anjprüche Franfreich$ und Englands zu
vereinigen. Da aber die Engländer feine franzöfiihe Yandung
in England jelbjt mehr zu befürchten hätten und aljo noch 30000
Mann nach Deutjchland werfen fünnten, da jie ferner auf dem
Punkte jtänden, Martinique und PBondichery zu erobern und den
jranzöfiichen Handel gänzlich zu zerjtören, jo jollte ein jo weiſer
und aufgeklärter Miniſter wie Chotjeul jich nicht länger von
Deiterreich als Statift gebrauchen lajjen, jondern lieber jeinem
Herrn die glänzende Nolle verjchaffen, Europa zu beruhigen, und
jich dadurch) jelbjt unjterblichen Ruhm erwerben.
Stleichzeitig (23. Januar 1760) ſetzte ‚sriedrich den engltjchen
Minijter Pitt durch jeinen Gejandten Knyphauſen von den Bor:
ichlägen Choiſeuls in Stenntniß und bat ihn um jeine Anjichten
darüber. Der Herzogin von Gotha aber, an die Voltaire jene
Borjchläge zur Weiterbeförderung an den König überjandt hatte,
ichrieb er von jeiner Hoffnung auf guten Erfolg. „Die Erjchöpfung
ihrer Finanzen macht die Franzoſen jo weije wie lauter Blatos....
Die Dejterreicher werden jich dem Frieden anjchliegen müfjen, wenn
ein jo mächtiger Berbündeter wie Frankreich fie verlajien bat.‘
Uebrigens möge die Herzogin ſich Voltaire gegenüber nichts davon
merfen lajien, daß jie um das Geheimniß wilje; das fünne dem
Herzog von Choiſeul, dem Schlußnagel (cheville ouvriere) der
Verhandlung, unangenehm jein. Nach einer Meußerung gegen:
über dem Herzog Ferdinand von Braunjchweig jah der König
Voltaire als Friedensvermittler. 333
ferner in dem „eparatfrieden mit Frankreich das einzige Mittel,
um der Ueberzahl jeiner Feinde widerjtehen zu können; jonjt werde
er ſich höchitens bis Ende Auguſt halten.
Schon hieraus erjieht man deutlich, daß die Voltaire-Choiſeulſche
Vermittelung Friedrich II. durchaus nicht als eine ‚Spielerei‘ er:
ihten, wie Broglie meint. Der König ging aber noch weiter.
Da die englifchen Minijter ihm riethen, Alles zu thun, um Die
wirklichen Abfichten der franzöfiichen Regierung aufzudeden, jo ſchickte
er, mit dem Einverjtändniß der Herzogin, den gothaiſchen Freiherrn
von Edelsheim nad) Barıs. Er gab ihm eine Injtruftion für jich
und einen Brief an den Bailli de Froullay, den Großmeiſter des
Maltejerordens, den er von Potsdam ber fannte, mit auf den Weg.
Er machte Froullay, wie in den „idees pour la paix,“ auf die
Nachtheile aufmerfjam, welche die Franzoſen bei einer Fortjegung
des Krieges erleiden würden, und bat ihn, als guter Franzoſe für
den Frieden zu wirken ; Edelsheim jollte, bevor er Froullays Ant:
wort erhielte, die Stimmung am Berjailler Hofe zu erforichen juchen,
und, wenn Froullay ihn im Stiche ließe, ich direft an Choiſeul
wenden. In einem Schreiben an die Herzogin von Gotha vom
26. März fündigte der König ihr dann „die Ankunft“ an und
theilte ıhr mit, daß der „B. de F.“ jogleich die Eijen ins Feuer gelegt
habe, aber dieje Ausdrüde werden uns durchaus nicht, wie Broglie,
geheimnißvoll erjcheinen.
Inzwijchen hatte Friedrich durch Voltaire eine Aeußerung
Choiſeuls erfahren, wonach, wenn der Frieden im Juni noch nicht
geichlofien jei, er nur nad) der Zerjtörung dreier Reiche oder der—
jenigen Preußens zu Stande fommen fünne. Schon dieje Neußerung
mußte den König jtußig machen; er erklärte der Herzogin von
Gotha, er jei fein Oedipus, um jolche Räthſel zu löſen. Noch miß—
trauifcher machte ihn Die, wieder durch Voltaire übermittelte
Forderung Choiſeuls, er jolle Wejel und das Herzogthum Kleve an
Frankreich abtreten. Er meinte, wie er Voltaire jchrieb, der Minifter
Choiſeul müfje „von zehn Legionen öjterreichticher Teufel‘ beſeſſen
jein, um eine jolche Forderung zu ftellen. Es jtimmte ihn aud)
nicht zuverfichtlicher, al$ der am 27. März in jeinem Hauptquartier
sreiberg in Sachſen angelangte Baron Edelsheim ihm eine Ant—
wort Froullays überbrachte, wonach Frankreich, laut einer Erklärung
Choiſeuls, aus Rückſicht auf Maria Thereſia den Frieden mit
Preußen nicht direkt, jondern durch Vermittlung Englands betreiben
wollte, Er entjandte Edelsheim zwar nach Yondon, jchrieb aber
334 Voltaire als Friedenspermittler.
gleichzeitig an Knyphauſen, er jehe ein, daß Frankreich ohne ihn
mit England Frieden jchliegen wolle, um gegen Preußen deſto
freiere Hand zu haben und es zu Gebietsabtretungen zu nöthigen,
in die er jedoch niemals einwilligen werde.
Gerade in Ddiejer Zeit, als Sriedrich merkte, daß man ibn
franzöfiicherjeit8 wohl doch nur dupiren wollte, erhielt er aus Kon—
jtantinopel die erfreuliche Nachricht, daß die Türken bereit jeien,
mit ihm ein Vertheidigungsbündnig abzufchliegen und an Oeſter—
reich den Krieg zu erflären. Dieje Nachricht, der er allzu leicht
Slauben jchenfte, und nicht der „unglücliche Anfang‘ des Feld:
zuges von 1760, wie Broglie meint, bewog ihn am 1. Mai, jenes
oben erwähnte Schreiben an Voltaire aufzujegen, in welchem er
jeine Entjchlojjenheit zur Kortjegung des Krieges befundete, Unter
dem „unglüdlichen Anfang” des Feldzuges fünnte man nur die Ver:
nichtung des preußijchen Korps unter General Fouqué bei Yandes-
hut in Schlefien verjtehen. Dieje fand aber erit am 23. Juni
itatt, zum Theil veranlapt durch die Yeichtgläubigfeit des Königs,
der Fouqué nicht unteritügte, weil er eben türfische Hülfstruppen
erwartete. Im Mai dagegen rechnete der König bejtimmt auf
friegertjche Erfolge; jo jchrieb er am 18. an Fouqué, er wolle in
Böhmen und Mähren einfallen, den Türfen die Hand reichen und
den Ktriegsjchauplat an die Donau verlegen. Wegen jeiner Sieges—
zuverficht aljo, und nicht weil der unglüdliche Anfang des Feld—
zuges ihm weitere „Scherze“ verbot, jchrieb der König am 1. Mai
an Voltaire: „Wie aud Herr von Choijeul gejonnen jein mag,
er wird mit der Zeit gar jehr auf meine Pläne hinhören müjien.
Ich erfläre mich nicht näher darüber, aber in weniger als zwer
Monaten wird man die ganze europätjche Bühne jich verwandeln
jehen, und Sie jelbjt werden zugeben, da ich Necht hatte, Ihrem
Herzog Kleve zu verweigern . . . Sch werde die Waffen erſt nad)
drei Feldzügen niederlegen. Dieje Schurfen jollen jehen, daR jie
meine Yangmuth mißbraucht haben : der König von England wird
den Frieden nur in Paris, ich werde ihn nur in Wien unter:
zeichnen.“
Das Vertrauen des Königs auf den Sultan aljo, oder „auf
den Doftor der Medizin mit großer Müge, der den Kranken heilen
wird, indem er denen, die den Stranfen nicht lieben, Arme und
Beine abjchneidet‘‘, wie er der Herzogin von Gotha in einer nur
Broglie, nicht uns „geheimnigvollen“ Weije jchrieb — das Ver—
trauen auf die baldige Hilfe der Pforte war es, welches ihm, nebit
Voltaire als Friedensvermittler. 335
der Ueberzeugung, daß die Franzoſen ihn nur dupiren wollten, ein
weiteres Entgegenfommen unterjagte, als er es jchon gezeigt hatte.
Am 12. Mai jchrieb er Voltaire, der ‚sriede jet mit den Schmetter:
lingen fortgeflogen, man werde jich jchlagen bis „in saecula
saeculorum.“ Und als Voltaire jpäter, um die Mitte des Juni,
im Einverjtändniß mit Choijeul, noch einmal erklärte, Frankreichs
Abjicht wäre feineswegs, daß der König Schlejien verliere, er möge
ſich nur vor einer großen Niederlage hüten, da antwortete Friedrich:
„ch habe Alles gethan, was im meinen Sträften jtand, um den
‚stieden ziwijchen Frankreich und England mit Einbeziehung
Preußens in die Wege zu leiten, aber die Franzoſen haben mir
auf der Naſe jpielen wollen, und jett laſſe ich fie ganz einfach
jigen. Ich werde nicht ohne die Engländer, und die Engländer
werden nicht ohne mich Frieden jchließen. Sch würde mich eher
37 EN laſſen, als Euch Franzoſen noch einmal das Wort
Frieden zurufen.‘
Dieje wiederholte runde Abjage machte den Dichter wieder
empfindlich, und er mwünjchte jet ſogar, nur aus gefränfter Eitel-
feit, daß Friedrich gedemüthigt werde. „Sorgen Sie nur für
gute Truppen und gute Generale”, jo wandte er fi Ende Juni
1760 an Choijeul, „und Ste werden nichts zu fürchten haben.
Wenn Yuc verloren ift, werden Sie der Schiedsrichter des deutjchen
Meiches, und alle Fürjten dejjelben liegen Ihnen zu Füßen.“ Die
£leinen Erfolge der Franzoſen gegen die alliirte Armee bei Korbach)
und Bergen jchienen ihm große Siege in ihrem Schooße zu ent:
halten, und er bat Choijeul, den Frieden erit nach) einem triumph:
reichen Feldzuge abzujchliegen.
So endete auch der dritte und lebte Verſuch Boltatres,
Europa den Frieden zu geben, mit einem fläglichen Miperfolge.
Der Friede war, da der König von Preußen in feine Gebiets:
abtretungen einwilligen wollte und da die franzöfiiche Regierung ent:
jchlofjen war, ihren Berpflichtungen gegen Dejterreich getreulich
nachzufommen, nicht eher möglich, als bis Maria Therejia auf
Schlejien, den jchönjten Edeljtein in ihrer Krone, endgiltig verzichtet
hatte. Diejer Verzicht aber wurde ıhr befanntlich erjt durch den
Umjchwung der Dinge in Rußland aufgezwungen. —
Faſſen wir zum Schluß noch einmal die beiden Hauptperjonen
der Voltairejchen FFriedensvermittlung, den König und den Dichter,
ins Auge. Der König hat die Hand, welche ihm Voltaire dreimal
entgegenitredte, bald jchneller, bald langjamer, jedesmal aber be—
336 Voltaire ald Friedensvermitiler.
reitwillig und mit der Ausjicht auf Erfolg ergriffen. Es tft eine
falſche Auffaſſung feiner Bolitif, wenn man mit Broglie annimmt,
er habe dabei zuweilen mit Voltaire ein findisches Spiel getrieben,
denn es war ihm, wie wir aus jeiner Korreſpondenz jahen, jtets
voller Ernit. Auch uns muß es freilich auf den erjten Blick jelt-
jam erjcheinen, daß ein jo klarer Kopf die Unmöglichkeit eines Er-
folges nicht von vornherein erfannte, und die Ihatjache, daß er
Voltaire einmal als Friedensengel bejungen und in diejer Eigen
ſchaft noch) über Birgil geftellt hat, muthet uns bei einem jo be:
rechnenden Berjtande gleichfalls jeltfam an. Aber der König war
eben nicht bloß eine flar berechnende, jondern auch eine von
augenbliclichen Stimmungen jehr abhängige, phantajtiiche Natur,
ja diejfe Stimmungen beherrichten zuweilen jeinen Verjtand. Diese
Eigenthümlichfeit jeiner Individualität, die ihn jo oft und Jchnell
ohne genügenden Grund von einem Extrem ins andere übergehen
ließ, ließ ihn auch die Voltaireſche Vermittlung, die ihm doch nicht
viel mehr als dem Ertrinfenden ein Strohhalm nützen fonnte, zu:
erit hoffnungsfreudig ergreifen und dann, auf jenes unfichere Wer:
jprechen der Türfen bin, ebenjo jchnell wieder fahren. Mit Diejer
Eigenthiümlichkeit hängt auch jeine „Manie” zum Dichten zufammen,
wie er fie genannt hat; es war ihm ein Herzensbedürfnig, jeinen
wechjeinden Stimmungen und Grlebnifjen in Verſen Ausdrud zu
geben, mochte der Gegenjtand auch dem jo aktuellen und unpovetijchen
Gebiete der Politik entlehnt jein.
Die Gründe, welche Voltaire bewogen, das Delblatt des
Friedens bin und ber zu tragen, hängen ebenfall® auf Engjte mit
jeinem Charafter zujammen. Die Baterlandsliebe hat jedenfalls
auf jeine Friedensideen den geringiten Einfluß gehabt, denn er
jpottete nicht minder über jeine Yandsleute, wie er jich den Spott
des preußischen Königs über fie gefallen ließ. Im erjter Linie
jtachelte ihn der Ehrgeiz, nicht bloß als Dichter, jondern auch als
Bolitifer eine Nolle zu jpielen und fich in der Gunjt eines Hofes,
jei es Verjailles oder Sansjouci, zu jonnen. Sodann jchmeichelte
es jeiner Eitelfeit, gerade dem Manne zu helfen, der ihn jchwer
gefränft hatte und jo vor aller Welt im Lichte der höchſten Groß—
muth zu erjcheinen. Endlich war es, wie Broglie mit Recht
bervorhebt, eine „magnetische Anziehungskraft“, die ihm immer
wieder zu Friedrich hinzog und ihn bewog, ihm zu helfen. „Es
gab einmal“, jo heißt es in einem Briefe Voltaires an den
König, „einen Yöwen und eine Watte. Die Ratte verliebte ſich
— e — —
Voltaire als Friedensvermitiler. 337
in den Löwen und machte ihm den Hof. Der Löwe gab ihr
einen fleinen Schlag mit der Tate; die Natte ging in ihr Loch,
liebte aber den Löwen weiter. Und als fie eines Tages jah, wie
man ein Neß ausfpannte, um den Löwen zu fangen und zu tödten,
zernagte fie eine Majche defjelben.“
* *
*
Die obige Unterſuchung hat gezeigt, wie ſehr der Herzog von
Broglie den Grund-Charakter der politiſchen Verhandlung, mit
der ſich ſein Buch bejchäftigt, verfannt hat. Aber wir würden
dem illuftren Autor Unrecht thun, wenn wir nicht in den Lefern
auch eine Vorjtellung von dem Glanz feiner Darjtellung und der
eindringenden, pjychologijchen Feinheit feiner Charafteriftif zu er—
weden juchten. Wir haben nicht viel in Deutjchland, was fich
in dieſer Art mit den Franzofen meſſen fann. Laſſen wir einen
Franzoſen jelber jprechen: A. Meziere8 hat im „Temps“ Die
Charafterijtit Broglies folgendermaßen wiedergegeben:
Dans les dispositions d’esprit ou Voltaire a quitte la Prusse, il ne
faut pas s’etonner qu’en 1756 il fut du petit nombre de ceux qui
applaudirent au rapprochement de la France et de l’Autriche. Il
prenait sur le passe une sorte de revanche lorsque Frederic II recom-
mencait à lui faire des avances pour s’epargner des &pigrammes, pour
ne pas ajouter a tant d'inimities coalisees l’hostilit€ des philosophes
qu’un mot de Voltaire pouvait dechainer contre lui.
Il n’eut cependant pas la cruaut€ de souhaiter que Frederic füt
reduit aux dernieres extremites. Il eut möme ä ce sujet un bon mou-
vement; en apprenant que le roi de Prusse ne voulait pas survivre &
la perte de ses Etats, il lui &crivit pour le dissuader du suicide.
Paroles sensees, humaines, mais trop generales, peu appropriees aux
circonstances, peu appropriees au caractere de l’homme. Il y a dans
l’äme de Frederic des parties stoiques et-heroiques dont l'intelligence
de Voltaire, si ouverte qu’elle soit, ne comprend pas la grandeur.
Les sentiments de cette nature lui sont à lui-même si etrangers qu’il
n’y entre pas facilement. Le bel esprit, le philosophe couronne avec
lequel il echange des pieces de vers et des propos philosophiques est
avant tout un soldat et un roi, decide a remplir jusqu’au bout les
devoirs de sa fonction.
On peut le vaincre, on peut le deposer, On ne l’humiliera pas,
il ne tombera pas vivant aux mains de ses ennemis. Sur ce point,
sa correspondance est catögorique. Chaque fois qu’il touche à ce sujet,
on y sent la resolution arrätee d’un homme qui a beaucoup reflöchi
aux vicissitudes humaines et dont le parti est pris avec une fermete
Preußifhe Jahrbücher. Bb. XCVIII. Heft 2. 22
338 Voltaire als Friedensvermittler.
inebranlable. Dans la mauvaise fortune, Frederic pense et sent en Ro-
main. Si. comme le dit Voltaire, il etait un composé de César et
de l’abbe Cottin, il y avait aussi en lui quelque chose de Brutus.
Ce que M. le duc de Broglie met surtout en lumiere avec beau-
coup de sagacite, c'est le gout persistant qui, apres tant de griefs et
de motifs d’irritation, finit toujours par rapprocher les deux amis.
Quelques raisons qu’ils aient de se mepriser l’un l’autre, Frederic et
Voltaire meprisent encore plus le reste du genre humain. Eux
seuls se sentent de plain pied dans les regions superieures de l'esprit,
au-dessus des prejures et des erreurs ol se complait la sottise humaine.
Des qu'une occasion se presentait pour eux de reprendre leur conver-
sation brutalemwent interrompue, ils la reprenaient à distance à travers
les obstacles, en t&eınoignant une jvie sincere de rentrer en communication
l’un avec l’autre. Ils ressemblent a deux amoureux qui ne parviennent
pas à se brouiller compl&tement et qui ont, par instant, des retours
de tendresse. L’opinion qu’ils ont l’un de l’autre ne change pas, mais
de même qu’on prut encore aimer une femme qu’on meprise, chez tous
deux l’attrait naturel survit a l’estime disparue.
Dans l'intimite, au milieu de leur entourage, ils ne se menagent
guere. Voltaire ne prut s’empecher de dire que le roi. au fond, n'est
qu’un vaurien. Frederic ne prononce jamais le nom de Voltaire en
presence de son &tat-major sans accoler à ce nom une serie d’epithetes
injurieuses qu'ı) srrait difficile de eiter toutes, dont les plus douces
sont crlles de dröle et de fripon. Voltaire essaye-t-il d’obtenir que
Mine Denis rentre en gräce aupres du roi, le roi fait r&pondre imme-
diatement: „Que je n’entende plus parler de cette niece qui m’ennuie.
On parle de la servante de Molıere, mais personne ne parlera de la
niece de Voltaire“.
Vienne au contraire une occasion de correspondre directement,
tous deux la saisiront avec einpressem=nr et se diront au besoin les
choses les plus aimables. „Vous manquez a mon bonheur, éerit Voltaire
au roi, j'aime vos vers, votre pro=e, votre philosophie hardie et ferme.
Je n’ai pu vivre ni sans vous ni avec vous; je ne parle pas au roi,
au heros, e’est laffnire des souverains; j- parle a celui qui m'a enchante,
que jai aime et cont“- qui je suis toujours fäche.* Frederic repond
sur le möne ton: „Vons etes la creature la plus seduisante que je
eonnaisse, capable de vous faire aimer de tout le monde quand vous
voulvz. Vous avez tant de gräc- dans l’esprir. que vous pouvez offenser
et meriter en meine fenps I’.ndulgence de ceux qui vous connaissent.
Enfin, vous series parfait si vous n’e'iez pas homme.“
l.a verite nons oblige à dire que dans cet &change de paroles
gracieuses Frelerie n'éorit pas une ligne qui puisse faire tort &
sa mémoire, dunt puiss-nt rougir pour lui ses descendants, Dans
Voltaire als Friedensvermittler. 339
ses €panchements les plus intimes avec un Francais, il reste
jusqu’au bout roi de Prusse. Il caresse l’'homme et ne flatte pas le
pays. Jamais sa verve ne s’exerce en notre faveur aux depens de ses
soldats. Il ne dit rien dont il nous soit possible de tirer parti contre
la grandeur et la gloire de son regne. Malheureusement, Voltaire
n'observe pas la möme reserve. Apres la bataille de Rosbach, il regoit
une Epitre singulierement injurieuse pour les troupes frangaises, et ila
le triste courage de s’associer, par des vers celebres, à l’ironie du
vainqueur. En rapprochant ainsi les deux illustres representants de deux
grandes nations, il faut bien convenir que les Prussiens n’ont point &
se plaindre du leur, et que le nötre, malgre tout son esprit, ne nous
donne pas une entiere satisfaction. M. le duc de Broglie &crit avec
trop de nuances pour le dire expressement, mais il le laisse entendre
presque a chaque page de son tres attächant et tres spirituell reeit.
29%
Notizen und Beiprechungen.
Pädagogit.
Neue Schriften zur Schulreform.
Wenzel, Der Todesfampf des altipradlihen Gymnafial-Unterrichts.
Berlin, (Karl Dunder). 1899. 47© Mi. 1,—.
Aler. Wernide, Die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Forſchung in
ihrer Stellung zum modernen Humanismus. Berlin (Otto Salle) 1898.
18 ©. in 4. Mt. 1,—.
Julius Asbach, Darf das Gymnafium feine Prima verlieren? Düſſel—
dorf (2. Schwann) 1899. 18 ©.
Die beiden erjten der hier vorliegenden Schriften fünnen injofern zu:
fammengejtellt werden, als beide die gleiche Thatjadhe zum Ausgangspunkt
nehmen: daß der philologiihe Schulunterridt, wie ihn früher das Gym:
nafium bot, zur Zeit nicht nur aus feiner Machtſtellung verdrängt ift,
fondern fi in der Lage des Unterdrüdten befindet.
1. In der rüdhaltlojen Anerkennung diefer Thatjahe liegt dad Haupt:
verdienit, wenn ouch nicht das einzige, der Ausführungen von Wenzel.
Es giebt immer noc Freunde des Gymnaſiums, welche ihm dadurch einen
Dienjt zu ermweifen meinen, daß ſie verjichern, ed vermöge mit dem latei-
niſchen und griechifchen Unterricht, wie er jeßt betrieben wird, etwas
Tüchtiged zu leilten. Die Preußiichen Jahrbücher haben ſchon im ver-
gangenen Jahrzehnt, als noch der Lehrplan von 1882 galt, dieje Auffaſſung
bejtritten. In einer Reihe von Aufjägen, zuerjt*) im Januarheft 1889,
wurde der Nachweis geführt, daß die alte Zateinjchule, in dem Bejtreben
ihre äußere Alleinherrichaft zu behaupten und um dieſes Preijes willen
aud allen modernen und realijtiichen Anforderungen gerecht zu werden,
*) „Die Gefahr der Einheitsſchule.“ Diefe Abhandlung ift mit anderen
von verwandtem Inhalt zufammengefakt in meiner Schrift: Suum cuique,
Fünf Auffäge zur Reform dee höheren Schulweſens. Kiel und Leipzig,
1889.
Rotizen und Beſprechungen. 341
gar zu viel verjchiedenartige Stoffe neu in ihren Lehrplan aufgenommen
und dafür die alten, in denen ihre Kraft beruhte, gar zu jehr eingeichräntt
babe. Die Verkürzung ſei jchon jo weit gediehen, daß die Beſchäftigung
mit Latein und Griechijch zwar immer noch mande Mühe made, aber
feinen fühlbaren Gewinn mehr bringe. Ganz ebenſo urtheilt Wenzel über
den gegenwärtigen Zuftand, der freilich — jeit der neuen „Reform“
von 1892 — die jchlimmen Erjcheinungen, die fich ſchon damals beobachten
ließen, in erhöhtem Grade zeigt. Auch in den Folgerungen, die er aus
der gewonnenen jchmerzlichen Erfenntniß zieht, bewegt ſich der Berfafler
in derjelben Richtung wie wir: er verlangt, daß dad Gymnafium jeden
Vorzug an Äußeren Berechtigungen vor den beiden Schweiter-Anftalten
aufgebe und dafür die Freiheit eintaufche, ich im Inneren mit feinem
eigenen Lehrplan jo einzurichten, daß damit wieder etwas Rechtſchaffenes
erreicht werden könne.
Es giebt eine Erzählung von einem vorfichtigen Manne, der gehört
batte, daß man unter Federbetten jehr warm liege. Che er fich entichloß
ein ſolches anzuſchaffen, wünſchte er die Eigenichaften dieſer Betten in
fleinerem Maßjtabe kennen zu lernen: er ließ jich eine von ganz
geringem Umfange anfertigen, legte ji) darunter — und fror. Nun war
fein Urtheil gebildet: wenn es jich jchon unter einem Kleinen Federbett jo
unbehaglich liegt, wie viel jtärfer mwirde das Mifbehagen unter einem
größeren fein! Natürlich hütete er fih nun, Geld für ein ſolches aus—
zugeben, und freute fich, daß er jo jchlau gewejen war erjt im Kleinen
die Probe zu machen.
Diefe Geſchichte drüdt jo ziemlich diejenige Beurtheilung des alt=
ſprachlichen Gymnafial: Unterrichtes aus, die wir ſeit Jahren zu widerlegen
fuchen. Es ift ſehr erfreulich, hierfür einen Bundesgenofjen zu finden;
und defjen Eintritt in den Kampf erwedt um fo mehr friche Hoffnung,
al3 er ganz jelbjtändig erfolgt iſt. Wenzel hat von dem, mas Die
Preußischen Jahrbücher über jein Thema gebracht hatten, feine Kenntniß
gehabt.*)
2. Bom Standpunkte der fiegreichen Bartei aus ſpricht Alexander
MWernide, aber in mildem und verjöhnlihem Sinne Wie in jeinem
größeren Werke: „Kultur und Schule“, über das an diejer Stelle vor
zwei Sahren berichtet wurde (Bd. 89 ©. 371 ff.), fo überjchüttet er auch
diedmal den Leſer mit einer Fülle kultur und literargeſchichtlicher Einzel—
heiten, deren innere Verbindung und geiftige Verarbeitung nicht volljtändig
gelungen ift. Nicht einmal das Thema ijt klar formulirt; ungefähr dürfte
es durch einen Gedanken ausgedrüdt werden, der öfter wiederfehrt und auf
©. 12 jo lautet: „Sollte der Gegenſatz von Geijteswifjenjchaften und
Naturwiſſenſchaften wirklich jo groß fein wie man gelegentlih behauptet?*
*) Auf den Inhalt der Wenzelihen Schrift geht etwas genauer ein meine
Anzeige in der Wochenſchr. für klaſſ. Philologie, 1899 S. 1089.
842 Rotizen und Beſprechungen.
Wenn die Frage ſo geſtellt wird, ſo antworten auch wir getroſt mit
„Nein“; denn „gelegentlich“ behauptet „man“ gewiß recht Verkehrtes und
Uebertriebened. Der Berfafjer aber jcheint num wieder nad) der entgegen-
gejegten Seite vom Richtigen abzuweichen, indem er den Unterjdied
zwijchen beiden Wifjensgebieten als geringfügig darzufiellen judt. .Ihre
Methode“, jagt er, „it im Weſentlichen diefelbe; fie it die induftiv-
deduftive Methode der modernen Wiſſenſchaft, welche jchließlich überall dem
Prinzipe der gejegmäßigen Entwidelung folgt.“ Gewiß ift e8 möglich,
wifjenfchaftliche8 Denken in jo allgemeinen Worten zu bejchreiben, daß
damit beide Arten von Forſchung, die hijtorifche und die naturwiſſenſchaft—
fiche, gleichmäßig getroffen werden. Darum bleibt ed doch wahr, daß auf
beiden Seiten nicht nur die Stoffe grundverjchieden find, jondern auch den
Stoffen entſprechend die Aufgaben, die gelöjt werden jollen, und die Wege,
die zum Biel führen. Wie jtörend diefer Gegenjag wirkt, wenn er verfannt
wird, wie fruchtbar er wird, wenn man tiefer nachgräbt, davon haben wir
gerade Eiirzlic) in dem Streit um die Methode der Geſchichtswiſſenſchaft
Proben erlebt. Auch an zujammenfafjenden prinzipiellen Crörterungen
des inneren Verhältnifjeg zwijchen den beiden großen Wifjensreichen Hat
e3 jet wie früher nicht gefehlt. *)
Nur injofern könnte Wernide Recht haben den Gegenjag zwijchen
Natur: und Geiſteswiſſenſchaften zu leugnen, als das Verhältniß zwiſchen
beiden fein feindliches zu fein braucht. Er ſelbſt mahnt ja zur Eintracht,
zu gegenjeitigem Verjtehen; nur der Name „Geiſteswiſſenſchaften“ jcheint
ihn wie andere gefränkt zu haben. Wirklich ift die Bezeichnung, wenn aud)
nicht ohne Sinn, doc, ungejchicdt gewählt, und geeignet einen oberflächlichen
Betrachter irre zu führen. „Hiſtoriſche Wifjenfchaften“ klingt' befcheidener
und ift treffender. Aber wenn hier etwa wie Ueberhebung aus dem
Namen herausgelejen werden fann, jo wird ſolche von manchen Vertretern
der anderen Seite und unter ihnen auch von Wernide (S. 14) wirklich
geübt, indem jie meinen, „Wiſſenſchaft“ ſei überhaupt nur diejenige
Forſchung, die nach den Gejegen der „exakten Wiſſenſchaft“ verfahre.
Bon dem bunten Inhalt der vurliegenden Schrift in der Kürze eine
Vorftellung zu geben, ift nicht möglid. Suchen wir den Gejammteindrud
alle3 dejjen, was der Verfaſſer beigebracht Hat, feitzuhalten, jo iſt es
diejer: auch in den Zeiten, die von den Ankängern philologiſcher Bildung
als die glänzenditen angejehen werden — im griechiſchen Alterthum, im
Zeitalter der Renaiſſanee und des Humanismus — Hat doch zugleich die
*) In erfter Linie ift bier immer wieder an die Heidelberger Reltoratsrede
von Helmbolg zu erinnern: „Ueber das Berbältnik der Raturmiffen-
Ihaften zur Gefammtheit der Wiſſenſchaft“ (1862). Aus neuefter Zeit ver
dient die bei gleicher Gelegenheit gehaltene Rede von Windelband über
„Geſchichte und Naturwiſſenſchaft“ (1894) Beadhtung. Insbejondere von
Seiten der Methode ift der Unterfchied erörtert in meinem Vortrag über
„die Methode des Birkelfhluffes“, Preuß. Jahrbüder 92 (1898) ©. 48 ff.
Rotigen und Beſprechungen. 848
Erforihung der Natur einen wichtigen Pla eingenommen und mächtige
Fortſchritte gemacht. Dies ijt richtig. und wird auch dem, der es nicht
ohnebin wüßte, durch die von Wernide gejammelten Belege anjchaulid.
Aber was folgt daraus? — Die Erwartung, jcheint mir, daß nun umge—
fehrt in einer Periode, die von den Anhängern der naturmwiljenjichaftlichen
Bildung ald eine beſonders glänzende angejehen wird — eben in unjerer
Bet — aud der philologiſchen Wiſſenſchaft ein wichtiger Pla einge-
räumt und die Sraft, Großes für die Menjchheit zu leilten, zugetraut
werden muß. Etwas der Urt hat wohl auch Wernide jagen wollen; denn
er giebt auf den legten Seiten feiner Schrift jelbit Material, durch welches
der mathematifhe und naturwifjenjchaftliche Unterricht nady der geſchicht—
fihen und philologiihen Seite hin ergänzt werden fol. Dieſe kurzen
Mitteilungen find wirflid) werthvoll und anregend. Gie berühren ſich
nahe mit den Vorſchlägen, die kürzlich Profefjor Mar E. P. Schmidt*)
gemacht Hat, nur daß beide Schulmänner von entgegengejeßten Eeiten her—
fommen. Schmidt ijt Philologe und wünſcht den Unterricht feines Faches
dadurch zu bereichern und im feinem Niedergang aufzuhalten, daß
beim Lateinifhen und Griehijhen mehr als bisher auch auf das
geachtet wird, was die beiden alten Bölfer in Geographie, Natur-
forſchung. Mathematik geleijtet haben. Wernide jet die Worherrichaft
der realiitiichen Fächer ald gegeben voraus und empfiehlt jeinen
Fachgenofjen, innerhalb diefer Fächer den Anforderungen des hiftorischen
Dentend dadurd gerecht zu werden, daß ſie nad) Möglichkeit auf Die
Geichichte der exakten Forſchung, bejonderd® auf ihre Anfänge im
Altertum, hinweiſen, wozu oft jchon eine etwas aufmerkjamere Betrachtung
der Terminologie den Anlaß giebt. Schade, daß der Verfaſſer ſich auf
fnappe Andeutungen bejchräntt hat. Er jchöpft hier aus dem Vollen, aus
eigenfter Erfahrung, und würde durch etwas reichere Ausführung an diejer
Stelle fi) mehr Dank verdient. haben als durch die zufammengeraffte
Motizenmenge der vorhergehenden Abichnitte.
Bei aller Freundlichkeit, die Wernide fo zuleßt der philologiichen Seite
des Uinterricht3 ermweijt, bleibt er doc fern davon, fie in ihrer wirklichen
Berehtigung anzuerkennen; es ijt eben nur freundliche Duldung, was er
gewähren will. Und dies hat im lebten Ende darin feinen Grund, daß
er fi, hierin der Mehrzahl der Philologen ganz ähnlich, nicht entichließen
fann, verjchiedene Arten von höherer Geijtesbildung neben einander gelten
zu lafjen. Das Phantom einer „allgemeinen Bildung“ beherrſcht auch ihn.
So lange man fi) aber don diefem nicht frei mat, wird es nie gelingen,
in dem Lehrplan einer höheren Schule die Wiſſenszweige jo anzuordnen,
daß feiner zurüdgedrängt wird und verkümmert. Wir leben in einer Zeit
der Goethe-Erinnerungen; und da ift es wohl angezeigt, einen Saß wieder
*) Schmidt, Zur Reform der klaſſiſchen Studien auf Gymnaſien, Leipzig
(Dürr) 1899. 40 S. Mt. 0,75.
844 Rotizen und Beiprehungen.
aufzufriichen, in dem der Alte von Weimar jeine reiffte Ueberzeugung aus—
geiprochen hat: „Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jeßt die Welt
ohnebin auf, wir brauchen und deshalb darum nicht weiter zu bemühen;
dad Bejondere miüfjen wir und zueignen.“
3. Die Thatjache, von der Wenzel und Wernide ausgehen, wird von
dem Berfafjer der zulegt genannten Schrift ausdrücklich beſtritten. Asbach.
Direktor des Kgl. Gymnafiums in Düfjeldorf, verſichert: „Wir fönnen
an zahlreiden, zum Theil glänzenden Beifpielen den Beweis liefern, daß
die Primaner von heute, wenn die Schule ihre Pflicht gethan, mindejtens
ebenjo gut vorgebildet wie früher zur Univerfität übergehen. Die Lektüre
der lateinischen und griechiſchen Autoren bereitet ihnen feine größeren
Schwierigkeiten als der früheren Generation.“ Da kann id nur wieder,
fo wie kürzlich Oskar Jäger gegenüber, befennen, daß meine Erfahrungen
durchaus entgegengejegter Art find. Doc möchte ich glauben, daß mein
verehrter Herr Kollege im Grunde ganz ähnlich gefonnen ift; denn auch
er jtellt unter den praftiichen Borjchlägen, die er nachher madıt, -an den
eriten Pla (S. 13) die Forderung, daß das Lateinifche im Unterricht ver-
jtärft werde, und begründet dies durch einen Hinweis auf die mangelhafte
Kenntniß diefer Sprache, die fi bei den Studenten gewifjer Fächer neuer-
dings gezeigt habe.
Die eigentliche Abjicht der Asbachſchen Schrift lag übrigens nicht in
der Erörterung diejes Punktes, jondern war allgemeinerer Art. Er wollte
gegen einen Plan protejtiren, den furz vorher Wilhelm Münch — früher
Provinzial-Schulrath in Koblenz, jegt Honorar-Profefjor an der Berliner
Univerſität — in zwei viel bemerkten und viel bejprochenen Aufjägen *)
angedeutet hatte. Münch hatte vorgeſchlagen, ſchon von Oberſekunda auf:
wärts, entjprechend dem künftigen Berufe und den beginnenden wijjenjchaft-
lihen Neigungen der Schüler, eine Differenzirung des Lehrplanes eintreten
zu lafjen, jo daß ein Theil derjenigen Unterrichtsjtunden, an Denen jeßt
Alle theilnehmen müſſen, durch fakultative erjegt würde, für die zwiſchen
alten Sprachen, neueren Sprachen und exakten Wiſſenſchaften die Wahl frei
ftünde. — In einem Bedenken hiergegen, dad von Münch im Voraus er:
wähnt und dann aud von Asbach beſonders betont wird, jehe ich gerade
einen Borzug ded Planes: er durchbricht das bisherige „Prinzip der all:
gemeinen und gleihmäßigen Ausbildung“. So nähert er und der Mög—
lichkeit, daß jeder Schüler gerade die Bildung erhalte, die ihm und jeinen
Anlagen gemäß if. Dabei würden in Zukunft nur für einen Theil der
Primaner, etwa für ein Drittel, Griechiſch und Latein die Hauptmajje des
Lehritoffes ausmachen; die Wenigen aber, die freiwillig fommen, würden
fi) — bei neu vermehrter Stundenzahl — mit den alten Sprachen und
ihrer Literatur viel eingehender beſchäftigen und viel werthvolleren Ertrag
) Wilhelm Münch, Einige Gedanken über die Zukunft unſeres höheren
Schulweſens. National⸗Zeitung, Novbr. 1898.
Rotizen und Beſprechungen. 845
davon haben können, als jet die Vielen, die und von miderftrebenden
Eltern aud Sorge um die Berechtigungen zugeführt werden. Weit entfernt
aljo, feine „Prima zu verlieren“, würde dad Gymnafium durch eine folche
Einrichtung erjt wieder hergeftellt und zu neuem Leben gefräftigt werden.
Denn jeine Stärke beruht doch — im Ganzen jo gut wie im Einzelnen —
niht in der Menge der Scüler, die ihm zufjtrömen, fondern in ber
Gründlichfeit und inneren Einheit der Geijtesbildung, die es geben kann.
Daß dieje Bildung ihrer ganzen Art nad) nicht für die Vielen ijt, hat man
zum Unglüd vergefjen; Münch erinnert wieder einmal daran.
Der Münchſche Gedanke unterjcheidet jich der Sache nad) faum von
dem, was die Preußifchen Jahrbücher jchon jeit lange fordern und was —
zu meiner Freude — ſchließlich (S. 17) auch Asbach billigt: daß den drei
vorhandenen Formen der höheren Schule die gleichen äußeren Rechte und
jo in freiem Wettfampf Gelegenheit gegeben werde, zu zeigen, was jede
vermag. Ob das Biel bejjer auf dem von und empfohlenen Wege oder
auf dem etwa3 verjchlungenen, den Münch juchen will, erreicht werden
fann, ift nur noch eine äußere Frage, über die eine Verjtändigung wohl
zu erzielen fein würde. Leider giebt Mind in einer jüngſt veröffent-
lihten*) Rezenfion, die jih mit Asbachs Kritik auseinanderjeßt, zu ver-
ftehen, daß die Ausfichten auf Verwirklihung feine Planes inzwiſchen
geringer geworden feien. Er klagt nicht ohne Grund über die Hemmungen,
unter denen organifatoriihe Vorſchläge in Deutichland und zumal in
Preußen zu leiden haben; diesmal liegt doch ein Theil der Verantwortung
für den mangelnden Erfolg bei ihm jelbjit. Die Art, wie er feine Ge—
danken vortrug, war nicht recht geeignet Freunde mitzuziehen, geſchweige
denn Gegner zu überzeugen. Mit ehrenwerther Aufrichtigfeit gedachte er
der technifchen Schwierigkeiten, die einer Organifation, wie jie ihm vor»
ſchwebt, entgegenftünden; aber er jagte nicht3 über die Frage, wie denn
diefe Schwierigkeiten zu löſen feien. Die ganze Auögeftaltung feiner Idee
ſchien er Anderen überlafjen zu wollen; und da hat fich denn freilich Keiner
gefunden. Vielleicht entjchließt er jelbit ſich nachträglich, der praktiſchen
Seite jeiner Entwürfe näher zu treten und und — in den Hauptzügen
nur — zu entwideln, wie er fich die Durchführung denkt. Sicher würde
dadurch die Literatur der Schulreform um einen gedanfenreichen, hoffent=
lich auch um einen folgenreichen Beitrag vermehrt werden.
Düffeldorf, 8. Oktober 1899. Paul Eauer.
*) Deutſche Literaturzeitung 1899 ©. 1503 f.
846 Notizen und Beiprehungen.
Hochſchulfragen.
A. Riedler, Unſere Hochſchulen und die Anforderungen des zwanzigſten
Jahrhunderts. Berlin (A. Seydel) 1898. 120 ©. Groß-Oktav. ME. 1,00.
Derfelbe, Die techniſchen Hochſchulen und ihre wifjenjchaftlichen Be
ftrebungen. Rede, zum Antritt des Reltorates der Kgl. Techniſchen
Hochſchule zu Berlin gehalten am 1. Juli 1839. 17 ©.
Bor acht Jahren erichien eine inhaltreiche und verdienjtliche Schnit
eined inzwijchen verjtorbenen Beamten der Bauverwaltung, Egon Zölle:
„Die Univerfitäten und techniſchen Hochſchulen“, auf die wir an dieler
Stelle (Bd. 67 ©. 718 j) aufmerkfjam gemacht haben. Riedler behandelt
ein ähnliches Thema, ohne übrigen® von feinem Vorgänger Notiz zu
nehmen. Sein Bud ijt im Kreiſe der Fachgenojjen viel gelefen und
beijprochen worden; e3 verdient aber auch darüber hinaus befannt zu
werden. Fragen von allgemeiner Bedeutung werden darin zwar ın er
müdender Breite, aber mit offenbarer Sachkenntniß erörtert, und mit nt
fchlofjenem Urtheil, das denn freilich mitunter zu Konjequenzen führt, de
den Widerſpruch herausfordern. Eben jetzt hat der Berfajjer durch feine
frifh und flott gehaltene Rektoratsrede erneuten Anlaß gegeben, ſich mit
jeinen Gedanken zu bejchäftigen.
Die Grundlage, auf der das Ganze derjelben beruht, ijt eine lebhafte
Ueberzeugung von dem hohen Werthe, der der Berufdarbeit des Techniters
zufommt. Daß ein Baumeijter, um aud nur Ausreichendes zu leilten,
während jeiner Studienzeit viel mehr arbeiten muß als ein Philologe oder
gar ein Juriſt, kann wohl nicht bejtritten werden. Und was die Dieniie
betrifft, die der Techniker für die menſchliche Gejellichaft feiftet, jo braudt
man nur einmal fich der veränderten äußeren Bedingungen bewußt ju
werden, unter denen heute im Vergleich etiwa zu der Zeit vor hundert
Jahren unjer Leben jich abjpielt, um den freudigen Stolz gerechtfertigt
zu finden, der den Berfafjer im Gedanken an feinen Beruf erfüllt. Wenn
er in einzelnen Aeußerungen diejer Gefinnung (S. 5 f.) über das Bid
hinausſchießt, jo iſt das erflärlich; denn er jteht im Kampfe gegenüber der
zu geringen Achtung, die Staat und Geſellſchaft der Arbeit des ngenieurs
zollen. Sollten die Züge von leichgiltigkeit der eignen Werwaltung
gegen hervorragende Verdienfte, die Riedler (S. 65 f.) anführt, nicht ver-
einzelt dajtehen, jondern Proben einer herrichenden Anſchauungsweiſe je,
jo verjteht man feinen Unmuth und — man lernt unjere Unterricht‘
verwaltung ſchätzen. Weniger begründet jcheint mir die Klage, dab aud
die Gejellichaft für bedeutende Leiftungen der Technik nicht genug Verjtändnik
und Interefje habe. E3 mag ja in verjchiedenen Gegenden Deutichlands ver»
ichieden damit jtehen; dann iſt aber, was der Verfaſſer jagt, mindejtens ın
dieſer Allgemeinheit unrichtig: „Ueber den Zujammenhang der ngenieur:
werfe mit der Nulturentwidlung weiß der Gebildete überhaupt nicht?“ (S. 45).
Rotizen und Beſprechungen. 847
Eine andere Beſchwerde, die er gegen die Gelellichaft erhebt, wird
man anerkennen müfjen: fie giebt noch immer der Unriverjität und Allem,
was zu ihr gehört, einen Vorzug, der in den thatſächlichen Verhältniſſen
niht mehr begründet iſt. Riedler betont dad Recht und den Adel der
ſchaffenden Wifjenjchaft neben der forjchenden. Wenn er fie fogar über
jene jtellen möchte, jo ift das eben eine Uebertreibung, wie fie der Eifer
des Streite® mit fi bringt, und ijt ein Beiſpiel des jo oft begangenen
Schlerd, daß man meint, Dinge ald größer und kleiner, bejjer und
jchlechter vergleihen zu müſſen, die viel mehr der Art nach ald dem
Grade nad, von einander verjchieden find. Für die Eigenart des Uni—
verfitätsunterrichteö zeigt der Verfaffer nur mäßiges Verjtändniß, indem
er gelegentlich (S. 92) verlangt, es müfje „eine jcharfe Grenzlinie gezogen
werden, um der bisherigen VBermengung von Forihung und Lehre vor-
zubeugen“; wogegen er das Wejen der technijchen Berufsbildung vortrefflic)
Ichildert, ald ein Charakteriftiiches dabei das „Bewußtjein der Berantwort-
lichkeit“ hervorhebend, das fie im Menjchen erziehe (S. 67).
Wenn Niedler für das äußere Anſehen ſeines Standes kämpft, jo tft
died nur Mittel zu feinem eigentlichen Zweck; es ijt die nothwendige Vor:
ausfegung für das, was er erreichen will: Vermehrung und befjere Orga-
nijotion der technifchen Hochſchulen. Dieſer Zufammenhang ift einleuchtend.
Die bejtimmten Vorjchläge aber, die nun in erjter Linie gemacht werden,
find — zwar nicht an fid) überrafchend; denn Nehnliche® hat man öfter
gehört — aber als Folgerungen aus den vorher dargelegten Thatjachen und
Buftänden etwas befremdlih. ES ijt, ald ob der Verfaſſer mit plöglichem
Ruck jeine Haltung änderte, vor eben den Mächten, die er ſiegreich befämpft
hat, fich verneigte und bejcheiden bäte, nun doc ihn und die Seinen
freundlich aufzunehmen. Angenommen, die „allgemeine Bildung“ dächte
wirklich jo geringihäßig von den Werfen der Technik und ihren Schöpfern,
wie Niedler meint, jo wäre das eben nur ein Beweis mehr, daß die joge-
nannte allgemeine Bildung nicht? taugt, daß wir ihr je eher je lieber den
Laufpaß geben und und bemühen jollen, eine Anzahl bejonderer Bildungen
an ihre Stelle zu jeßen, unter denen denn auch der Gedankenkreis des
Techniferd und die Art, wie er die Welt anjehen muß, zu ihrem echte
fommen würden. Statt dejjen hält NRiedler die allgemeine Bildung wie
etwas an ſich Gutes fejt, hofft nur, fie jo zu erweitern, und das heißt zu—
gleich zu verdünnen, daß auch von den Berühmtheiten der Technik wenigitend
ein wenig in ihr Plaß finde (S. 20. 45). Bon den Univerfitäten urtheilt
er nicht mit Unrecht, daß fie aus ihrer langen Geſchichte manches Ueber-
febte an Formen und Einrichtungen mitjchleppen, wodurch es ihnen er—
ſchwert wird, den fich ändernden VBedürfnifjen einer neuen Zeit recht zu
genügen. Und doch weiß er für die techniichen Hocichulen, die eben aus
dem Leben diejer neuen Zeit erwachjen find, nichts Schöneres zu wünſchen,
als daß jie ald neue Glieder in den alten Organismus eingefügt werden
8348 Notizen und Beiprechungen.
(S. 75 - 81). Er plant eine Geſammthochſchule mit etwa 12 Fakultäten,
von denen die Hälfte auf technijche Fächer fommen würde. In diefem Zu—
fammenhange wird dann natürlich aud dad Recht der Doltor-PBromotion
für die neuen Fakultäten gefordert. — Das Fehlen einer ‘langen Tradition,
die Vorausſetzungsloſigkeit des Schaffens ift zugleich ein Mangel und eine
Stärke. Man follte meinen, die Techniker würden lieber die Seite der
Stärke hervorfehren, anjtatt immer an den Mangel zu erinnern; fie müßten
einen Stolz darin finden, etwas durchaus Neues, Eigenartiged, Lebenskräf—
tige8 neben dad alternde Gebilde der Schweiteranitalt zu jtellen. Der
Verfaſſer erwähnt dieje Anficht ald eine unter feinen Berufsgenojjen*) ver:
tretene (S. 80), läßt aber erfennen, daß er jelbit den anderen Weg, die
Vereinigung mit der Univerfität, vorziehen wiirde.
Nur für den Fall, da es dazu nicht kommen jollte, geht er auch auf
jene Möglichkeit ein und giebt bier, wo es ſich um die Ausgeitaltung eines
ihm vertrauten Inſtituts handelt, ſehr praftiihe und beherzigensmwerthe
Rathſchläge. Er warnt davor (©. 94 f.), das Privatdozententhum, jo wie
e3 ſich an den Univerfitäten entwidelt hat, einfach herüberzunehmen, weil
ed, noch mehr als dort, für die techniſche Hochichule darauf anfommen müſſe.
„wifjenjchaftlich Hochitehende Kräfte aus der Praxis“ zu Lehrern beran-
zuziehen. — Sodann protejtirt er gegen den Verjud), an den man wohl ge=
dacht habe, die Univerfitäten dadurch zu vervollitändigen und zu moderni—
firen, daß einzelne Fächer, die ihrer Natur nad) auf beiden Seiten Anſchluß
finden können (Geometrie, Phyſik, angewandte Chemie u. a.), von Der
technischen Hochſchule abgejplittert und ganz mit der Univerfität verbumden
würden. Dadurdy würde man die Hochſchulen der Techniker zu bloßen Fach—
ſchulen herabdrüden, während Riedler verlangt und in feiner Rektorats—
rede aufs Neue begründet, daß auch fie in ihrer Weije einen univerfalen
Charakter tragen jollen. Deshalb empfiehlt er, ähnlich wie dies jeiner Zeit
mit eingehenderer Begründung Zöller gethan Hatte, eine Befejtigung und
Erweiterung der hier und da fchon mit dem Polytechnikum verbundenen
allgemeinen Abtheilung, die „mehr biete, als das tägliche Brot der grund
legenden und Hilfswifjenihaften“; bier jollen ji die Studenten über
ſolche Gebiete orientiren können, die nicht zu ihrem eigentlichen Fache ge—
hören, mit denen aber ihr Beruf fie in nahe Berührung bringen wird:
Nechtökunde, Staatöwifjenfchaften, Hygiene, VBolldwirthihaft u. U. Dem
allen würden wir rüdhaltlos zuftimmen fünnen, wenn der Verfaſſer nicht
die Ungerechtigkeit beginge, eben die Verkürzung, die er von den techniichen
Hochſchulen abwehren will, für die Univerfitäten zu fordern (S. 92. 96);
das darf natürlich nicht zugegeben werden. Es jchadet ja gar nicht, wenn
*) Einer derjelben bat ganz neuerdings den „Doktortitel der Techniker“
abgelehnt mit Gründen, die den oben angedeuteten verwandt find,
und mit einer beinahe trogigen Selhftahtung, vor der man Reſpelt
haben kann. Sonntagsbeilage der Kölniihen Zeitung vom 8. Ditober.
Rotizen und Beiprehungen. 849
beide Anftalten, ungehindert und ohne Fünftliche Verſchmelzung neben ein-
ander geitellt, in einem Theile der ®egenjtände, die fie behandeln, über-
einftimmen. Die Art der Behandlung wird dann eben veridhieden fein
und, indem fie von zwei Seiten her wirkt, um fo kräftiger in den Stoff ein=
dringen, wie fich das für Mathematit und Phyſik jchon bisher genugſam
bewährt hat. |
Diefe Möglichkeit des freien Wetteiferd der beiden Schmweiteranftalten
auf einzelnen gleichartigen Gebieten möchten wir auch in Bezug auf den
dritten Punkt empfehlen, den Riedlerd praktifche Vorſchläge betreffen, die
Lehrerausbildung. Er will davon nicht3 wiſſen — was Zöller befürmwortet
hatte — daß etwa für Gymnafiale und Realſchullehrer dad Studium in
Mathematik und Naturwifjenichaften der techniſchen Hochſchule zugemwiejen
werde; aber für deren eigene künftige Dozenten fordert er (S. 93) einen
gemilchten Bildungsgang etwas fomplizirter Art, ohne zunächſt einen ge—
naueren Plan dafür vorzulegen. Mir jcheint, man müßte fich hier wie
andermwärtd vor zu vielem Reglementiren hüten und ruhig den Weg weiter
gehen, den kürzlich die preußijche Unterrichtöverwaltung, wenn auch erjt mit
ganz bejcheidenen Anſätzen, bejchritten hat: in der neuen Prüfungsordnung
für das höhere Lehrfacd (1898) ift den Kandidaten der Mathematik und
der Naturmwifjenichaften gejtattet, biß zu drei Semeftern an einer technijchen
Hochſchule zu ftudiren. Wenn foldhe Freizügigkeit, in erweitertem Maße,
herüber und hinüber zugelajjen wird, jo werden ſich gegenfeitige Anregung
und fruchtbarer Austaufh von Gedanken und Anjchauungen von jelbit
einjtellen.
Ermähnt fei nod), daß Riedler zum Schluß auch die äußerlich drin-
gendjte Frage, die der Neugründung von techniihen Hochichulen, umfichtig
erörtert. Er verlangt mindeſtens zwei für den öjtlichen Theil der Monarchie,
eine in Danzig, die ja inzwijchen der Verwirklichung ein Stüd näher gerüdt
ift, und eine in Breslau, und empfiehlt eine dritte, die er ebenjo wie in
Breslau mit der Univerfität vereinigen möchte, für Kiel.
Wir jchließen hier zwei Reden an, in denen namhafte Vertreter der
Univerjität, beide auf Niedlerd Buch Bezug nehmend, verwandte Themata
behandelt haben:
Felir Klein, Univerfität und technifche Hochſchule. Rede, vor der Ver—
fammlung deutſcher Naturforjcher und Aerzte zu Düfjeldorf am 19. Sep-
tember 1898 gehalten.
Wilhelm Waldeyer, über Aufgaben und Stellung unferer Univerfitäten
jeit der Neugründung des deutjchen Reiches. Berliner Rektoratsrede,
am 15. Oftober 1898 gehalten. Berlin (Aug. Hirihwald) 1898. 31 ©.
Der Göttinger Mathematifer, jelbjt ein Kind der großen niederrheinis
ſchen Snduftriejtadt, jteht den Erfolgen wie den Forderungen der Technik
mit vollem PVerjtändniß gegenüber. Er erkennt an, daß die beiden Hoch—
ſchulen gleichartige Anjtalten find und daß, worauf ſchon Riedler hinge—
350 Rotizen und Beiprehungen.
deutet hatte, dad Polytechnitum faum in anderem Sinne eine Fachſchule ift
als die drei fogenannten oberen Fakultäten der Univerjität. Bei der vierten,
der philofophifchen, findet er allerdings ein Ueberwiegen des rein alademi-
fhen Betriebes, kunftatirt aber mit Befriedigung, daf feit einiger Zeit eine
Bewegung begonnen hat, die dahin geht, die Art, wie die fünftigen Gym—
nafiale und Neallehrer wifjenichaftlic, ausgebildet werden, den Bedürfniſſen
ihre praftifchen Berufes etwas mehr anzupafjen. Klein fieht ein Mittel,
durch welches die Profefjoren feines eigenen Faches, die der Geſchichte, der
Spraden mit dem Leben des Berufes, für den fie doch vorbereiten jollen,
Fühlung gewinnen, in den „Ferienkurſen“, die ſich an mehreren Univerjis
täten bereit eingebürgert haben. Während er hier wünjcht und hofft, daß
die zu frühzeitige Epezialifirung, das einſeitige Betonen der wiſſenſchaft—
lihen Forichung, das der Freude am fpäteren Lebensberuf leicht jchatet,
durch praftiihe Rückſichten ergänzt werde, empfichlt er umgekehrt den tech—
nischen Hochſchulen die Einführung eine® Spezialunterridtes, der den
tüchtigjten ihrer Zöglinge ähnlihe Gelegenheit zu wifjenichaftlicher Ver—
tiefung und jelbitändiger Forichung geben joll, wie fie die Univerjität in
ihren gelehrten Seminaren bütet. Auf diefe Weife jollen beide Anjtalten
von einander lernen und fich innerlich näher femmen.
Der Eindrud dieſer durchaus gefunden, furz und treffend begründeten
Gedonfen wird ein wenig dadurd) beeinträchtigt. daß auh Klein zum
Schluß, wiewohl nur zaghaft, für den Pan einer aud) äußeren Verbindung
der techniſchen Hocichule mit der Univerfität feine Sympathie zu erfennen
giebt. Dieſe Wendung hängt wohl damit zufammen, daß er fih von dem
Glauben an die Möglichkeit einer einheitlichen „allgemeinen Bildung“ nod
nicht ganz frei gemacht hat. Ererzählt, vaß vor dreißig Jahren der damalige
obırite Beamte unjered NRegierungsbezirfed ihm zu beweiſen gejucht Habe,
ed gebe zwei Arten höchſter wiljenichaftliher Bildung, die techniſch-natur—⸗
wifjenichaftlide und die humaniſtiſche; dagegen habe er nah Kräften
protejtut. — Ob die Namen völlig zutreffend gewählt waren, mag
zweijelhaft bleiben; noch mehr, ob dıe Zweizahl gegenüber der zunehmenden
Fülle moderner Geijteskultur ausreicht: in der Hauptiadhe hatte jener Herr
gewiß recht. Je mehr man die Eelbitändigfeit verichiedener „Bıldungen“
anerfennt, deſto mehr. wird gerade dad erreicht werden, was Klein im
Grunde wünjht: der Austaufch fruchtbarer Anreaungen zwiichen den
Nachbargebieten. Auch für die höheren Schulen, dıe an die Schwelle der
Hochſchule führen, läge die Rettung in folder friedlichen Auseinander—
feßung. So haben, um durch einen Bergleihh zu iprechen. Preußen und
Deiterreich einen förderlihen Bund erjt ichließen können, als fie nicht mehr
in die enge Form einer gemeinjamen Verfaſſung gezıwangt waren.
Der Anjicht, die wir vertreten, und auf die Klems Gedanten bin
dräng n, jteht Waldeyer mit bewußter Ablehnung gegenüber. Er wıll die
Vergleihung auch nur der medizinischen Fakultät mit einer technijchen
Rotizen und Beiprehungen. 351
Fachſchule nicht recht gelten laſſen. „Das Weſen der Univerſität liegt“
feiner Meinung nad „darin, daß fie für alle gelehrten Berufe die grund—
fegende wifjenfchaftlihe VBorbildung geben will und muß“. Für die Zeit,
in der die. überlieferte Form der Univerjitäten begründet wurde, war das
gewiß richtig. Seitdem aber hat fich das Gebiet der gelehrten Berufe
und ihre Zahl erweitert; und ob fie immer noch alle auf der Univerfität
ihre Vorbereitung finden, läßt fich nicht au3 einer begrifflichen Definition,
fondern allein durch Beobachtung der Thatfachen feſtſtellen. Thatſache
aber ift, daß der Arditelt, der Maſchinenbauer, der Bergmann für feine
Arbeit nicht geringerer Wifjenichaft bedarf als der Direktor einer chemischen
Fabrik, ald der Arzt und der Amtsrichter, daß es aljo eine ganze Reihe
durchaus „gelehrter* Berufe giebt, für die man befondere Anjtalten zur
wiflenschaftlihen Vorbildung Hat einrichten müſſen. Diefen modernen
Hochſchulen vermag Waldeyer von feinem Standpunkte aus nicht ganz ge-
recht zu werben.
Uebrigens bildet in feiner Nede dad Berhältniß der Univerfität zum
Polytechnikum nur einen Theil des Themad. Er erörtert weiter, und
zwar in vorurtheilslofem Sinne, die Frage des Frauenſtudiums und Die
Bewegung der University extension, die er in der modifizirten Form, die
fie in Berlin angenommen hat, dem Intereſſe jeiner Kollegen empfiehlt.
Bulegt geht er auf die akademische Selbjtverwaltung ein, die neuerdings
in Gefahr fei, von Regierung und Boltövertretung verfannt und deshalb
verfürzt zu werden (S. 25). Waldeyer warnt vor foldhen Verſuchen mit
erfreulicher Entjchiedenheit. Und dabei wendet er ſich nicht bloß gegen die
politiijhen Mächte, die geneigt fein fünnten in das Leben der Univerjitäten
einzugreifen, fondern auch an feine Berufägenofjen, denen er zeigt, wie jie
jelber durch die Art ihrer Thätigkeit dahin wirken fünnen, daß fremde Ein»
miſchung ausgeſchloſſen bleibe. Unter den beiden Aufgaben des afademijchen
Lehrers jtellt er dad Lehren dem Forjchen voran: zum Forſchen fühle jich
ein Jeder von felbjt angetrieben; aber die Lehrarbeit jei „da8 mühjamere
Verf, wenn fie mit dem ganzen Ernjte und mit der vollen Hingebung
durchgeführt wird, wie eine gereifte Hörerfchaar und die hohe Aufgabe der
Univerjität dies fordern“. Man wird faum jagen können, daß diefe Auf—
fafjung heute die herrichende jei. Sollte ſie es wieder werden, jo würde
darin allerdings die bejte Gewähr dafür liegen, daß nicht Außenjtehende
fi) veranlaßt jehen, die Univerfität an die Dienjte zu erinnern, die fie der
Gefellichaft leiften foll, und um deren Willen fie geichaffen worden iſt.
Düfjeldorf, 29. September 1899. Paul Eauer.
Theater:Korrefpondenz.
Deutfhes Theater: Ein glüdlihes Paar. Luftipiel in drei Aufzügen
von Hermann Faber. — Das Friedensfeſt. Schaufpiel in drei
Akten von Gerhart Hauptmann.
Berliner Theater: Baumeifter Solnef. Schaufpiel in drei Aufzügen
von Henrik Ibſen. Deutjch von Dr. Sigurd Ibſen.
Hermann Faber hat das aus mir unbekannten Verdienſten ftammende
große Glück gehabt, zwei Stüde im Zeitraum von etwa einer Woche an
zwei erjten Bühnen Berlins zur Aufführung gebraht zu jehen. „Emige
Liebe” fiel im Schaufpielhaus durch. ch hatte von vornherein fein Ber:
trauen dazu und rettete mir den Abend dur Fernbleiben. Zu dem
Luſtſpiel „Ein glüdlices Paar” ging id. Denn ich vertraute und baute
auf das „Deutjche Theater“, das durd die Klugheit feines Direktor aber
auch durch andere Umftände mehr äußerer Art in den verdienten Ruf ae
fommen ift, der Yiteratur zu dienen. Doch man darf wohl niemals blinv
vertrauen. Bon dem Stüf des Herrn Faber jage ich nicht3 Anderes —
und ich fage das als ernftes Urtheil ohne die Abficht der Uebertreibung —,
als daß Mojers Werke als Haffiih im Verhältnig zu dem Faberſchen Stüd
zu bezeichnen find. Was mich in diefem Fall interejfirt, wäre einzig umd
allein die Beantwortung der Frage: Was fann den Direktor Brahm zur
Annahme dieſes Machwerks veranlaft haben? Ich mei Feine Antwort
darauf. —
*
Die Aufführung des Hauptmannſchen „Friedensfeſtes“ war eine
herrlihe Auferjtehungsfeier. Es mar das zweite Werk, mit dem Haupt:
mann vor die bejchränfte Deffentlichkeit der „Sreien Bühne“ vor faft zehn
Jahren trat. Ich Halte dieſes Stück für das beite Drama, das dem
Dichter überhaupt gelungen ift; und ich verftehe hier den Begriff des
Dramas in dem Sinne, wie ihn Hebbel im Vorwort jeiner „Maria
Magdalena” vdefinirt hat. Darnach hat und das Drama das Leben und
die Weltzuftände in der Gebrochenheit darzuftellen, wozu das „Moment der
Idee“ zu treten hat, in der das Yeben „die verlorene Einheit wiederfindet“.
Die dramatische Auffafjung des Weltprozejjes ift aljo durchaus dialektiſcher
Theater-Rorrefpondenz. 353
Natur. Gegenjäte, aus der Tiefe des Weltjeins jtammend, bewegen fich
gegeneinander und offenbaren fich nah aufen hin als das, was mir im
Drama „Handlung“ zu nennen pflegen. Die Handlung ift aljo mit dem
Weſen des Dramas und des in Ddiefem dargejtellten Weltvorganges aufs
Innigſte und Innerſte verfnüpft und nicht etwas, das mit Rüdficht auf die
äußere, effeftvolle Bühnenmwirfung erft von klugen Technifern hinein:
getragen ift. Hauptmanns „Friedensfeſt“ enthält in vollfommener Weife
jolde Handlung, die aus dem den Dingen ureingeborenen Zwieſpalt
hervorgeht.
Der Dr. med. Fris Scholz hat in jüngeren Jahren weite Reifen
durch die ganze Melt gemacht. Nirgends konnte er Ruhe finden. Er ift
eine jener ruhelojen, modernen Naturen, die an dem Zwieſpalt zwiſchen
Schnjuchtsfülle und Erfüllungsmöglichkeit jchwer zu leiden haben. Nichts
genügt den Sinnen und dem Denken. Das Denken möchte eine ganze
Melt einheitlih umfaſſen und ihr Geheimniß auf einen Sclag löjen.
Das geht nidt, und nun beginnt die Zerfplitterung und Berfajerung,
Scholz hat ſich bejonders lange in der Türkei, dem Yande der Harems,
und in Japan, dem Yande der Geishas, aufgehalten und dabei natürlic)
mitgenommen und ausgefoftet, was jolche Yänder an bejonderen Genüfjen
bieten. Aus dem unfteten Yeben des Weltwanderers fällt er plößlich in
das Ertrem des infiedlerdafeins. Er miethet ſich ein „einfames Land—
haus‘ und nimmt fih ein Weib. Er vertaufcht die zerjtreute und berufs-
mäßige Sinnlichkeit der türfiichen und japaniihen Schönen mit der indivi-
duellen Yiebesfraft eines robuften Mädchens aus dem Wolfe, das auf ihn
allein feine unverbrauchten Sinne fonzentriren wird. So meint er für fein
leibliches Theil gejorgt zu haben. Das einfame Yandhaus hat zwei Etagen,
eine untere und eine obere. In die obere zieht fih Scholz zurüd, um hier
einfam zu finnen, zu Denken, zu träumen, zu phantafiren. Hier lebt er
gewiſſermaßen ald Gehirnmenidh. in der unteren lebt er mit feinem Weibe
zujammen und zeugt finder. So führt er ein gebrochenes Yeben der Seele
und des Yeibes. Die Ehe des geijtreihen, von Natur tief veranlagten und
hochſtrebenden Dr. Scholz mit dem derben Mädchen aus dem Wolfe ftellt
die Gebrochenheit des Yebens in einen leiblichen und einen geiftigen Theil
offenfundig dar. In diefen Zwieſpalt find vom Beginn ihres Dafeins die
Kinder ſolcher Ehe gejett. Jeder Theil will fie für fich haben. Der Vater
will fie in jeiner oberen tage in ein Yeben des Geiftes hineinzmingen
und meint, ihnen zu dem Zweck in einjeitigjter Weiſe Weisheit eintrichtern
und einprügeln zu müſſen. Die Stinder laufen ihm davon und halten es
lieber mit der Mutter, die ihren Trieben und Neigungen freien Yauf läßt.
So fommt es zu Szenen, in denen das Kind — mie Wilhelm erzählt —
vom Vater am einen und von der Mutter am anderen Arm gezogen wird.
Schließlich muß der Vater als der weniger robuste Theil nachgeben. Die
Kinder tragen am Ende dazu bei, daf der Vater immer mehr jich auf
jeine Etage bejchränkt, ſich immer mehr abjondert, immer abjonderlicher wird.
Er wird in feinem Denfen und Fühlen von Niemand in feinem Haufe
veritanden. Er fühlt fih — nicht ohne Grund beargwöhnt, belauert,
beladht, befeindet. Er zieht ſich immer mehr in fich zurüd. Cine unheim—
liche Furht und ein tüdisher Haß überfommen ihn, der in feinem
Preußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2 23
354 Theater-Rorrefpondenz
Seelenleben jih von der robuften, brutalen Yeiblichfeit der unteren Etage
immer mehr und mehr bevränat fühlt. Er haft dieſe Yeiblichkeit, er
verachtet jie und er fürchtet fie auh. Er hält fie für etwas Gemeines, das
zu Allem fähig it. So kommt er dazu, jeine Ehefrau dem Knecht
gegenüber hinterrüds des Chebrudys zu bezichtigen. Das ijt zweifellos
niederträchtig, feige, ehrlos, Es tft aber in feiner innerften Bedeutung
doc immer das Aufbäumen einer in Furcht und Haß geſetzten Seele gegen
die verabjcheute Uebermacht des Sinnlihen und Xeibliden. In dem
Moment aber, in dem das Geiftige ſich aufs Tiefjte erniedrigt und ins
Segentheil feiner Beftimmung verkehrt hat, erhebt ſich aus dem Yeiblichen
ein Jdeal in Gejtalt der Liebe des Kindes zu dem Yeibe, der es getragen
hat. Der empörte Sohn jchlägt aus Yiebe zur Mutter den Water ins
Angefiht. So find die Verhältniffe zur äuferften Spite getrieben. Diejes
Leben in dem einjamen Yandhaufe ift von Grund aus zerflüftet. Water
und Sohn gehen aus dem Haufe. Die Familie Scholz hat aufgehört zu
eritiren. Es find Die zentrifugalen und atomifirenden Tendenzen des
Yebens, die den alten Scholz früher in Uneinigfeit mit fich jelber durch
die ganze Welt getrieben haben und die jeßt die von ihm begründete
Familie auseinanderiprengen.
Es giebt aber auch zentripetale Kräfte, die darauf ausgehen, zu ver:
einigen, was getrennt iſt und zujammenzuführen, was auseinander:
itrebt. Es wirft unter den Menſchen eine Araft der Yiebe, die es nit
begreift, daß Haß die auseinander halten follte, die zujammengebören.
Dieſe Kräfte wirken in der Familie Buchner. Mit ihr dringt zum erften
Mal Wärme und Freude in das einjame Yandhaus. Ida Buchner hat
fih mit Wilhelm Scholz, dem aus dem Haufe gegangenen Sohn, verlobt.
Da iſt es erklärlich, daß die Mutter, die jung vermwittwete ſchöne und edle
Frau Marie Buchner, den innigen Wunjc hat, den Bräutigam ihrer
Tochter mit feiner Familie wieder auszjujöhnen. Der Zufall will es, daß
zugleih mit Wilhelm, am Weihnachtstage, auch deſſen Vater nad) jechs
Jahren zum erjten Mal mieder fein Haus betritt. Der alte, jchredliche
Gegenſatz könnte vielleicht wieder aufleben. Frau Buchner übernimmt die
Vermittlung. Und jie findet den Boden zur Verföhnung bereitet. Denn
in der Trennung haben die mit Sehnſucht an einander gedacht, Die mit
einander ſich jo bitter haſſen. Der Kerzenglanz des Weihnahtsbaumes
ftrahlt über eine verföhnte und glüdliche Familie. Das Weihnahtsliev,
das da fingt, wet mit holven, reinen Tönen die >artejten und ſüßeſten,
befeligendjten Empfindungen — aber auch die böfeften Dämonen. Diefer
Umſchwung, der während des Yiedes hereinbricht, ift von ungeheueriter
dramatischer Aunft und Kraft. Wilhelm liebt feine Braut aus tiefjtem
Herzensgrund. An der zarten Reinheit ihrer unbefledten Seele glaubt er
jelber reiner und bejjer werden zu können; ihre ftarke und opferfähige Güte
wird die feiner Seele eingeborenen wilden Hräfte zu bezwingen wiſſen
Doch auch der ältere Bruder Robert hat das Verlangen, dur die Mact
der Yiebe zu genefen. Und als die Yiebe in Geitalt das zum eriten
Male holdſelig und ſonnig in das düftere Haus tritt, da entbrennt der
Unglüdjelige in Yiebe zu feines Bruders Braut. Er kämpft jein Gefühl
jtandhaft nieder. Denn er ift im allertiefften Grunde feiner Seele aut.
Theater-Rorrefponden;. 355
Als nun aber das Yied Aller Seelen löſt und die Empfindungen auf:
wühlt, da kann fi Robert in feinem Schmerz, in feiner milden
Sehnfuht, in feinem innigen Glüdsverlangen kaum beherrſchen.
Er mill fih aber noch beherriben und fo fommt er dazu, hinter die von
ihm vielfach gebrauchte Maste des Cynismus zu flüchten. Er bezeichnet Die
ganze Szene als jentimentale Albernheit Dagegen braujt der im Augen-
blide hingebendjten Glüdsgefühls jäh verlegte Wilhelm auf. Die Brüder
gerathen aneinander. Der Vater wird bei dem ausbredhenden Streit an
das furchtbare Geſchehniß erinnert, das ihn vor Jahren aus dem Haufe
trieb. Der geiftig zerrüttete Mann verwechjelt Gegenwart und PVergangen-
heit. Er mähnt, die Angriffe ſeien wieder gegen ihn ſelber gerichtet.
Furchtbar aufjchreiend bricht er zujammen, um in ein tödtliches Fieber zu
fallen. Die Yiebe trat in dieſes Haus, um ihr frommes Werk zu thun.
Es ſchien gelungen. Da jollte es fich ermweifen, daß in diefem Haufe, bei
dieſen von der Hand des Schidfals ſchwer belajteten Menjchen auch die
viebe zum Unheil ausichlägt. Die Yiebe wollte erretten und fie vollendete
beim Rettungswerk das Nerderben.
War die Kraft und das Wefen diefer Yiebe vielleicht noch nicht jtarf
und rein genug? Auch die jelbitlofeite Liebe läuft, in diefe Welt der Sinne
gebannt, Gefahr, beflekt zu werden. So muß denn aud die cdle und
gütige Frau Marie Buchner befennen, Wilhelm nicht ganz ohne allzu
perjönlihes Wohlgefallen in ihr Haus gezogen und ihrer Tochter zum
Bräutigam erwählt zu haben. Auch die Welt der Yicbe ift in dieſem
Drama eine zerbrochene und im innerjten Wejen gejpaltene. Nah allen
Seiten hin und mit unerbittliher Konjequenz ijt der Weltproze in feinem
Gebrocenjein dargeftellt. Aber Wilhelm und Ida werden dody glüdlich
werden. Gerade im Augenblid des tiefiten Elends ſchließen fie fi, mie
es ſcheint, fefter denn je aneinander. Sie glauben bejtimmt an das Glüd
ihrer Zukunft. Auch der Zufchauer fönnte es glauben. Vielleicht jogar
hat es auch der Dichter jo gemeint, jo daß Wilhelm als ein armer Heinrid)
aufzufaflen wäre, dem durch eines reinen Mägdeleins Opferfähigkeit Glüd
und Leben bejchievden wäre. ch halte diefen Schluß für ſchwächlich und
glaube nicht an ihn Robert mit feinem allzu fcharfen Blid für die Nacht:
jeiten des Yebens hat Recht, wenn er auf Wilhelms Trage nad) das
Zufunft an feiner Seite erklärt: Die wird wie die Mutter, d. h. die alte
Frau Scholz. da würde das nie und nimmer zugeben. Doc fie täufcht
jih über fih und ihre Liebe Es tft das im tiefiten Grunde garnicht nur
die erlöjfende und jelbitlofe Liebe der reinen Jungfrau. Unbewußt ſteckt in
diefem Trieb zu heilen und zu erlöfen auch ein finnlicher Schauer vor dem
Abgrund, der ſich aufthut. Wilhelm ift der leivende, aber auch ein wenig
der dämoniſche Mann, der ſchreckt und im Schreden zugleich anzieht. Solche
Schauer find gemijcht aus Luſt und Unlujt, d. h. fie find Wolluft. Mit
der Erlöfung des Mannes durch Weibesliebe ift das doch jtets jo eine
eigene Sade. Es handelt ſich da wohl immer mehr um einen poetijchen
Mahn als um eine praftiiche Wirklichkeit. Das Schidjal der Familie
Scholz ift unabänderlid durch alle Generationen hin beftimmt. Es iſt ein
Yeben der Gebrocenheit, ein Dafein in grauenvoller Nacht; aber aus dieſer
Nacht ftreden die Menfchen flehend die Arme empor zu den Sternen der
28*
356 Theater-Korrejponden;z.
Liebe und des Friedens, nach denen unabläfjig, aber immer vergeblich ihre
Sehnfuht ringe. „Das Friedensfeſt“ ift in Wirklichkeit eine gemaltiae
Tragödie des Haſſes, in der Idde aber zugleich ein Schaufpiel der Yiebe.
Darin liegt die ungeheure dramatische Kunſt und tragiſche Wirkung, das
wir in jedem Augenblid, in dem diefe Menſchen ſich haſſend zerfleijchen,
zugleich ihr herzliches Bedürfniß nach erlöfender Liebe herausfühlen. Sie
möchten ſich lieben und müſſen fich halfen. So iſt ihr Schidjal in der
Dialeftit des Weltprozeſſes graufam bejtimmt.
Dieſe tiefe Tragödie wurde im „Deutjchen Theater” mit hoher Voll:
endung Ddargeftellt. An eriter Stelle jei Mar Reinhardt als Fris Scol;
genannt. Er verzichtete richtiger Weife auf alles pathologiihe Beimerf.
Es jpielt da nämlih ganz unnöthig ein Stüd Gehirnerweihung hinein.
Diefe Pathologie in der Poefie ift eine naturaliftiiche Schrulle, die aus einer
oberflächlichen und falfchen Auffajiung Ibſens ftammt und heute längit
überwunden tft. Herr Reinhardt entwarf ein tiefergreifendes Seelen:
gemälde und jteigerte im Augenblid der Kataftrophe die Tragif zu einer
Gewalt, die wahrhaftig im alten Dr. Scholz einen alten König Year er
bliden lie. Sehr gut war Rudolf Rittner als Wilhelm, ganz Cholerife:
und durhaus der Sohn feines Vaters, auf den ſich das jpezielle Schickſal
diefes Waters vererbt hat. Mit individuelliter Charakterijtif jtellte Emanuel
Neicher den Nobert auf die Bühne, den Cyniker mit dem hellen, harten
Bid für die Nachtjeiten des Lebens, der im tiefunterjten Seelengrunde doch
von der Sehnfucht nad) einem deal verzehrt wird. Annie Trenner mar
eine gute Augufte Scholz, die mit dem einen Bruder den Cynismus, mit
dem andern das cholerifsche Temperament gemeinfam hat. Hans Fiſchers
Hausfnecht Friebe war ein eindringlid) charakterifirtes \ndividuum. Frau
Marie Buchner ijt die einzige individualitätsloje blafje Figur des Stüdes.
Aus ihr machte Youife Dumont, was zu machen tft. In der Rolle ver
Ida liegt doch viel mehr, als Giſela Jurberg herauszuholen vermochte.
* *
Unter Ibſens Dramen iſt „Baumeiſter Solneß“ am ſchwerſten zu ver
ſtehen und am meiſten der Auslegung bedürftig Es iſt klar, daß die
ſämmtlichen Vorgänge des Dramas ſymboliſch gemeint find. Hinter den
materiellen NWorgängen auf der Bühne fteht eine andere Welt mit einem
tieferen Leben. Das gilt es zu begreifen oder zu empfinden. Ob man beatei'
oderempfindet, ift aber ein grundlegender Unterſchied. Bei Maeterlind genügt es.
zu empfinden, bei Ibſen muß man begreifen. Maeterlind dichtet aus einer
lyriſchen und mufifaliihen Erregung heraus ; Ibſen dagegen jchafft meh:
mit dem Hirn aus philofophiicher Grundjtimmung. Den Dramen Maeter
linds liegt das wogende Meer der Gefühle zu Grunde, die Werfe Ibſens
jtammen aus dem hohen Himmel der Jdeen. Maeterlincks Dichtungen ſtehen
wir gegenüber wie einem Mufitftüf. Das regt bejtimmte Gefühle in uns
auf, die tiefer, heftiger und geheimnifvoller find, als die unjeres Jonitiacn
Yebens. Wir ahnen etwas, und in diefem Ahnen empfinden wir Yuft.
Ibſen dagegen giebt ein Näthjel auf. das veritandesgemäß gelöjt werden
muß. Solche Löſung erfordert aud) das Räthſeldrama vom Baumeiiter
Solneß.
Theater-Korreſpondenz. 357
Solneß iſt „in einem frommen Hauſe auf dem Lande“ aufgewachſen
und er hat Alles das, was in einem ſolchen „frommen Hauſe“ als heilig
und ewig und ſittlich gelehrt wird, als heilig und ewig und ſittlich in ſich
aufgenommen. Er iſt „Baumeiſter“ geworden, nicht „Architekt“; „denn
dazu hat er nicht gründlich genug gelernt,“ wie er ſelbſt erklärt, er hat
nicht alle vom Staate vorgeſchriebenen Kurſe durchgemacht und Examina
abgelegt. Er hat aber Genie und in ſich das Bewußtſein, das Schönſte
und Größte, was es nur giebt, bauen zu können. Doch das genügt ſelbſt—
verſtändlich nicht, die Leute zu veranlaſſen, dem Unbekannten und noch
Unbewährten Aufträge zu ertheilen. Nun bewohnt er aber ein altes Haus
mit einem großen Garten rund herum, das er von der Mutter ſeiner Frau
ererbt hat. „Von außen nahm es ſich aus wie ein großer, häßlicher, dunkler
Holzkoſten. Aber inwendig war's doch ganz nett und gemüthlich.“ Würde
dieſes Haus abbrennen, dann könnte er den großen frei gewordenen Platz
benußen, um auf eigene Rechnung zu bauen. Er hegt den Wunſch, das
Haus möge abbrennen, damit er dur den Brand in die Höhe fommen
fönnte -- und das Haus brennt thatjählih ab: denn es giebt ‚einzelne,
auserforene, auserwählte Menfchen, denen die Gnade verlichen ward und
die Macht und die Fähigkeit, etwas zu wünſchen, etwas zu begehren, etwas
zu mwollen — jo beharrli und jo — jo unerbittlih, — daß ſie es zulegt
befommen müſſen.“ Solne gehört zu Ddiefen „Auserkorenen“. Indeß
„allein wirfet einer jo große Dinge nit”. U nein, — Die Helfer und
und die Diener, — Die müſſen ſchon auch dabei jein, wenn's „zu was
werden ſoll“. Dieje Helfer und Diener bedeuten die günjtigen Umſtände
und glüdlichen Zufälle, die der Wünfchende und Wollende klar zu erfennen
und flug zu benußen fähig jein mul. Solche günjtige Umjtände befördern
den Brand des Haufes thatjächlich, in Geſtalt einer „Rite im Schornitein“,
die eine ftändige Feuersgefahr bedeutete und auf Die Solneß feine
Hoffnungen und Wünſche in Beziehung auf den Brand baute. Allerdings
bricht jchließlich das Feuer nicht, wie erwartet war, durch die Ritze aus,
Jondern anderswo, — — Zur Zeit des Brandes hatte des Bau:
meijters Gattin Aline gerade Zwillinge geboren. Der Schreden erjchütterte
ſie jo entjeglich, daß fie das ‚Fieber befam, „und das ging in die Mild
über”. Die Kinder jtarben daran. Doc Solnef; hat erreicht, was er
erreichen wollte: die Möglichkeit zum Bauen; und er baute, und bald tft
er ein großer Baumetjter, gerühmt von allen Menjchen, unter denen er
lebt, ein Baumeiſter, der das Herrlichjte baut, was jene Menichen zu bauen
haben: Kirchen!
Als Solneß mieder einmal eine Kirche zu bauen hat, in einer fleinen
Stadt hoc im Norden, in Yyjanger, wo er in der Einjamfeit „Orübeleten
ungejtört nachhängen“ fonnte, da „erforichte und prüfte er jich jelbit“,
und das Ergebniß tft, daß er, im Bemuftiein einer bisher gleihjam latenten
Kraft, am Tage der Einweihung felber den Thurm erjteigt und den Kranz,
nad; Yandesjitte, an die Spite hängt. Bisher hat er nie gewagt, „hoch
und frei hinaufzujteigen“, weil er an Schwindel litt. Wie er nun da
hoch oben, über der Menge, in freier, E£larer Yuft, ſteht, da jpricht er
zu Gott, dem er bisher gedient hat: „seht höre mich an, du Mächtiger!
Non heute an will ih auch freier Baumetiter jein. Auf meinem Gebiet.
358 Theater-Rorrefponden;.
Wie du auf dem Deinigen. Nie mehr will ich Kirchen für dich bauen.
Nur Heimjtätten für Menſchen.“ Er baut fortan Heimjtätten, darin ſich
ein Jeder jo einrichten kann, wie ed ihm bequem ift, wie es feiner Natur
entipricht, unbefümmert um die Anderen.
Es ijt unverkennbar, daß die gejchilverten Borgänge nur Spmbole
find: Jenes alte, ererbte Haus, darin es fih jo „nett und gemüthlic“
wohnt, bedeutet die alten überfommenen Ideale, die von Geſchlecht zu Ge:
ſchlecht unbeſehen herübergenommen find, bedeutet den einfältigen Glauben,
die überlieferten Autoritäten, die frommen, in gutem Glauben aufge:
nommenen Lügen, die alle die dummen, aufdringlichen ragen nach dem
„Woher“ und „Wozu“ bequem beantworten. Die „Kirchen“ find
der Gipfelpunft aller joldyer vermeintlichen Ideale und Wahrheiten,
jte find das Aelteſte, Chrmwürdigite, Heiligite innerhalb der Gejellihaft, die
Verförperung der offiziellen Anfchauung.
Solnef, in einem „frommen Haufe auf dem Lande“ erzogen, d. h.
dort erzogen, wo die gekennzeichneten Anfchauungen am üppigjten mwucern,
will, im Bemußtjein jeines Genies und feiner Kraft, einer der Erſten, cin
Führer der Gefellichaft werden. Zu dem Zmwede indeß muß er fih Raum
Ihaffen, muß er Diejenigen verdrängen, die vor ihm den Pla und ven
Ruhm bejegt haben. Mit der rüdfichtslofen Kraft feines Willens, eines
eifernen, brutalen Erobererwillens, jchafft er fich diefen Pla: er veranlagt
den Brand des Hauſes, d. h er vernichtet gemaltfam, was ihm im Wege
ſteht. Dod fein Sieg ift nicht jo volljtändig, wie er gedadt hatte: Er
fannte genau die Schwächen feiner Gegner, er war gemillt, diefe Schwächen,
dieje „Helfer und Diener‘ zu benußen, doch das miflingt zum Theil. Wir
fönnen hier an die Vorgänge bei Revolutionen denken: mit aller Kraft jegen
die Nevolutionäre die Hebel an die jchwächiten Stellen der zu vernichtenden
Sefeliichaft und meinen, den Sturz genau vorausberechnen zu Fönnen.
Meiftens aber brechen vie Flammen unerwartet an ganz anderer Stell:
hervor, und bei dem jähen Sturz erleiden auch die den Schaden, melde
zuerft und zumeift an diefem Sturz gearbeitet haben. So geht es aud
Solneß. Es wird jetzt klar fein, was jene Ritze im Schornftein des alten
Gebäudes, die an anderer Stelle hervorbrehenden Flammen und der
Verluſt der Kinder bedeutet.
Hat der Baumeijter auch nicht ohne eigene, jchwere Verluſte fein Ziel
erreicht, Jo hat er es aber immerhin erreicht. Jetzt hat er Plat und freien
Weg zur Herrichaft und zum Ruhm. Bald it er einer der Eriten, der
Führer; er baut Kirchen mit höheren, gemwaltigeren Thürmen, als man fie
bisher gebaut hatte, d. h. er baut das überlieferte Gebäude der Gejellichaft
weiter aus, er vertritt am fühnjten und bedeutenditen die überlieferten
Glaubensſätze. ch möchte jagen: er tjt ein genialer Reaftionär.
Aber er bleibt es nicht. Se höher er jteht, um jo weiter reiht fein
Geſichtskreis, um jo einjamer wird es um ihn. Er durchſchaut das Schein
heiligthum des vermeintlichen Heiligthums, er erkennt das Todte, Ge
ſpenſtiſche der vermeintlich ewigen Jdeale. Er giebt feine bisherige Welt:
anſchauung auf, er will feine Kirchen mehr bauen, jondern „Heimſtätten mit
hohen Thürmen und Spigen‘‘, d. h. er will die Menjhen aus der Mover
athmojphäre todter deal: emporheben in die klare Yuft, ins helle Sonne:
Theater:Rorreiponden;. 359
licht; er will in Jedem die Perfönlichkeit weden, er will der Individualität
Raum ſchaffen, damit fie fi, unbefümmert um Andere, in allen ihren
Trieben und Gedanfen frei und ganz ausleben fann. Dod es ift ſchwer
und mühevoll, als Perfönlichkeit, als Einzelner, nur auf fich jelbft geitellt,
zu leben; es iſt viel bequemer, überfommene Gedanken aufzunehmen, als
neue zu denken; es ift viel gemüthlicher, fich in irgend ein Syſtem ein:
zuhüllen, das durd fein Alter heilig geſprochen iſt, als ſich eine Welt:
anjhauung neu zu erringen. Und die Menjchen lieben das Bequeme und
SGemüthliche, es ift jo fiher, wenn der Eine fih an den Zmeiten u. ſ. f.
anlehnen fann. Damit hatte der fühne Baumeifter, der fühne Neformator
nicht gerechnet. Die Menfchen wollen gar nicht feine Heimftätten mit hohen
jpigen Thürmen; er hat vergeblih gebaut, er hat die Menſchen überjchäßt.
Und er hat auch noch etwas Anderes überſchätzt: feine eigene Willens:
fraft. Die Menſchen hat er nicht glücklich gemacht, feine eigenen Kinder
hat er verloren, die Lebensfreude feiner Frau hat er zerftört. Seine brutale
Thatfraft iſt in vielen Kämpfen zerrieben und nad) Erreichung des Jirles, im
Beſitz, ſchwach geworden; von jenem ehemaligen rüdjichtslofen, chernen
Erobererwillen iſt fajt nichts geblieben. Dafür aber hat die Neue in feinem
Herzen Plat genommen, Gewiſſensbiſſe zernagen feine Seele. Sein Getit
ift verwirrt und zerrüttet, er it dem Wahnfinn nahe. Nur ein einziges,
phantajtijches Glück malt er fi) noch aus, eine einzige, lächerliche Hoffnung
heat er: obwohl thatjächlid und zweifellos der Bejit von Kindern für ihn
ausgejchlofien it, und obwohl er das jelbjt genau weiß, jo wartet er doc
immer, wie mit der Hoffnung eines Jrrfinnigen. auf dieſe Kinder, auf Das
„Unmögliche“, und daher hat er in feinem finderlofen Haufe „Kinderſtuben“,
nicht eine, — drei.
In dieſe Situation tritt Hilde Wangel. Sie kommt aus Yyjanger,
aus jenem Städtchen hoch im Norden, wo Solneß vor Jahren Die oben
erwähnte Kirche gebaut hatte. Sie fommt „ohne Geld und ohne Koffer“,
d. h. ganz frei, nur auf ſich angemwiefen, ohne Worurtheile, ohne jene
Ideale, die ſonſt innerhalb der Gefellihaft hoch im Kurs ftehen. Sie
fommt mit der ungebrodenen Kraft der Jugend, mit ebenderjelben
rüdfichtslofen Energie, die Solneß bei Beginn jeiner Yaufbahn zu eigen
gewejen ift. Sie tritt in das Haus des Baumeijters, um ein erhaltenes
Verſprechen einzulöjen und um ihr Glüf zu gewinnen. Damals, als
Solneß in Lyſanger war, hatte er ihr gejagt, daß fie ausjehe wie eine
fleine Prinzejfin, und wenn fie erft groß fein würde, dann jollte fie feine
Prinzeſſin fein. „Und als ih dann fragte,“ jo erzählt Hilde, „wie lange
ich warten jollte, da jaaten Sie, Sie kämen in zehn Jahren wieder —
wie ein Unhold — und entführten mid. Nach Spanien oder irgend jo
einem Yande. Und dort würden fie mir ein Königreich kaufen, verfprachen
Sie.” Und darauf hatte er das Mädchen gefüßt.
Hilde Wangel hat dieſen Vorgang in den zehn feither verflofienen
Jahren nicht vergefjen. Dem fühnen, genialen Baumeifter fühlte fie fich
qleichgeartet, wahlverwandt. Daß jie ihn da oben den Kranz an die
Spite hängen jah, das „war ja jo entjeglich jchön und jpannend! Ich
fonnte mir nicht denken, daß es in der ganzen Welt einen Baumeijter
gäbe, der einen jo ungeheuer hohen Thurm bauen könnte. Und dann,
360 Theater-Rorreiponden;.
daß Sie jelber droben jtanden, an der alleroberjten Spite! Ein wirklicher
lebendiger Menſch! Und dab Ahnen garnicht ein bischen ſchwindlig murde!
Das mars eigentlich, wovor einem am allermeiften — jo — ſchwindelte“
Als er fie dann geküßt hatte, da hat fie ihn von Stund an als ihr
eigen, als ihren Kameraden betrachtet, und als die zehn Jahre verfloiten
find, da kommt jie nun und präjentirt ihre Forderung. Natürlich will ſie
et nicht mehr das Königreich in Spanien; was fie will, das iſt ein
Yeben in Freiheit und Selbitbeftimmung, fi ausleben will fie, un:
gefejlelt durch alle Jdeale und Vorurtheile und PBeritellungen und all das
Yächerliche und Komiſche, was die Menſchen gewöhnlich hoch und heilia
halten — das will jie, und Solneß als den Genojjen ihrer Freiheit.
Sie findet in Solne nicht ihr deal wieder; jie findet ihn frant
und Schwach geworden, als einen gänzlich Anderen. Und darum, eben
weil er ein Anderer geworden tft, hatte er auch das Intereſſe an jener
Begegnung mit Hilde verlieren müflen, mit der Veränderung feiner Seele
mußte auch jenes Ereignig mehr und mehr in jeiner Erinnerung ver:
blajjen, — und in der That, als Hilde davon zu jprechen beginnt, weiß
er nichts mehr von diefer Begegnung. Aber jo ganz ijt Die alte, kraft—
volle Seele doch nicht in ihm gejtorben, fie iſt nur gewiſſermaßen ein-
geſchlafen, hat nur ein Traumleben, ein Yeben des Unbewußten geführt.
Er geſteht: „Iſts nicht jonderbar? — Ne mehr ich jest darüber nachdente,
— da fommts mir vor, als wär ich lange Jahre herumgegangen und hätte
mich damit abgequält — — auf etwas zu fommen — jo etwas Cr:
lebtes, von dem ich meinte, ich müßte es vergejlen haben. Und nie fan
ich heraus, was das jein könnte.“ Wie nun Hilde alle Details aus
jener Zeit ihm vorführt, wie fie gewiſſermaßen an ihm rüttelt, da erweckt
jie die eingejchlafene Seele, da friſcht fie die verblafte Erinnerung wieder
auf. Mit aller Kraft jest Hilde ihr Bemühen ein, den Baumetjter wieder
völlig zu ihm ſelbſt zurüdzuführen. Zu dem Zmwed muß jie Alles be:
jeitigen, was den Baumeifter zu dem Veränderten, Schwächeren gemadıt
hat. Sie erfährt ſein Schickſal, die Geichichte von dem Brande des alten
Gebäudes. Ste erfennt mit jcharfem Blid die Schuld, welche des Bau-
meiſters Umgebung an feinen Yeiden trägt.
Da iſt zunächſt Kaja, Buchhalterin bei Solneß, ihrer äußeren Stellung
nah. Sie jteht aber auch in einer inneren Beziehung zu ihm. Sie ge
hört zu den nervöfen, heftig empfindfamen anjchmiegenden Frauennaturen.
die das Große fühlen, wo fie ihm begegnen, die fich ihm ganz hinaeben,
wie einer dämoniſchen Macht, die aber jonjt nichts weiter vermögen,
als eben ſich hinzugeben, ganz in das Andere, Große aufzugeben,
ohne aus eigenem Kraftvorrath einen pofitiven Einfluß ausüben zu
fünnen. In der Thea Elvitevt des Dramas „Hedda Gabler“ hat
Ibſen bereits einmal einen jolden Charakter gezeichnet. Naja empfindet
das Bedeutende und Starke in Solneß, fie bewundert und liebt ihn mit
Yeidenjchaft, ihr ganzes Weſen geht in ihm auf. ber fie bat feine
Ahnung von der früheren Größe des Baumeijters, fie begnügt fi mit den
Trümmern diejfer Größe, fie fann ihn nie heben und ftärfen. Sobald ver
jtärfere Einfluß Hildes auf Solne wirkt, muß Naja aus ihrer Position
verdrängt werden. Die rüdjichtslofe und jtarfe Hilde vernichtet die ſchwache
Theater-Forreipondenz. 361
Kaja gerade jo, wie Thea Elvftedt an Hedda Gabler ihren Einfluß auf
Löoborg verliert.
Drüdender uno jtärfer als das Verbindungsband mit Kaja iſt Die
Kette, durch welche Solneß an jeine Gattin Aline gefeilelt if. Was dem
Charakter. Alines das Gepräge giebt, das iſt ihr Begriff der „Pflicht“.
„Pflicht“ ift ihr Alles, das ganze Yeben iſt ihr eine „Pflicht“. Das
Haus iſt abgebrannt, fie hatte das Fieber, fie follte die Kinder nicht
nähren und fie that es dennoch: denn es war ja ihre „Pflicht“ — und
die Kinder ftarben an dieſer „Pflicht“. Das erlittene Unglück zehrt an
ihr, aber fie klagt nie laut, freudlos und jchmeigend wandelt fie umher,
ein leibhaftiges Jammerbild, — denn zu dulden und zu jchweigen ift ja ihre
„Pflicht“. Sie hat für des Gatten Beftrebungen nicht das mindeite Ver-
itändnif, nur Mifbilligung, aber fie bringt es nie zu einer Ausſprache
und Verftändigung, denn fich zu unterwerfen tft ja ihre „Pflicht“. Sie be-
ſorgt die Wirthichaft, denn das iſt ja ihre „Pflicht“ ; fie beforgt die Ein-
fäufe für Hilde, obwohl ihr das Mädchen tief unſympathiſch iſt, denn das
it ihre „Pflicht“. Kein Saft, feine Kraft ift in dieſem Gejpenjt, Fein
Muth, dem Wunfche des Herzens Raum zu geben und die Forderung, das
Necht auf eigenes Glüd zu vertreten. Alles Warme, Belebende tft erftict
und Ddurchfältet in der eifigen, jonnenlojen Atmofphäre diejer „Lrlicht”.
„Pflicht“ — das hört ſich „io falt und ſpitzig und jtechend“ an, bemerkt
Hilde. An „dieſe Todte“ iſt Solneß bei lebendigem Yeibe gefettet, er, der
ein freudelofes Yeben nicht tragen kann; dieſe Frau hat er beitändig um
ih, an der jeder Blid, jede Bewegung eine ftumme lage und Anklage
bedeutet, und die fich garnicht bewußt it, welche Qualen folche ſtummen
Nlagen der Umgebung bereiten. Solneß glaubt an dem Unglüd jeiner
rau einzig und allein jchuldig zu fein, an ihrem Unglüd der Kinder—
lofigfeit; er meint, mit dem Tode der Kinder damals bei dem Brande jet
ihr ganzes Lebensglück mit getödtet. Cr jagt: „line, die hatte aud
ihren Beruf im Yeben. Ebenſowohl, wie ich den meinigen. — — —
Aline, — die hatte auch ihre Anlagen zum Bauen. — — — Neine
Häufer und Thüren und Pfeiler — — nichts von dem, mas ich jelber
treibe. — Kleine Hinderjeelen aufzubauen, Hilde. Kinderſeelen aufzubauen,
jo daß jie groß werden im Gleichgewicht und in jchönen, edlen Normen.
So daß ſie fich erheben zu geraden, erwachjenen Menjcenfcelen. Das
war's, wozu Aline Anlagen hatte.* —
Solneß täufcht fich jehr, er hat Frau Aline viel zu hoch geichät.
Eines Bejleren werden wir belehrt aus einem Gejpräch zwischen Hilde und
Aline. Erſtere beklagt das traurige Schidjal der Frau Solneß, bejonders
ven Tod der Kinder. Doch Frau Solnej meint, der Verluft der Kinder,
das wäre eine höhere Fügung. Die hätten es jett jo gut, wie man cs
fich nur denken fünne. Ueber die ſollte man fich bloß freuen. Und dann fährt
ſie fort: „Nein, es find die fleinen Verlujte im Yeben, die einem wehe
thun bis in die Seele hinein. Wenn man das Alles verliert, mas andere
Yeute fajt für gar nichts adhten. Da verbrannten zum Berjpiel alle die
alten Porträts an den Wänden. Und alle die alten jeidenen Kleider, die
der Familie wer wei mie lange gehört hatten. Und die Spitien der Mutter
und der Großmutter — die verbrannten aud. Und denken Sie nur —
362 Theater⸗Korreſpondenz.
die Schmuckſachen! (ſchwermüthig) und dann alle die Puppen. — Frau
Aline hatte „neun wunderſchöne Puppen“, mit denen ſie immer zuſammen
geweſen war, auch nachdem ſie erwachſen war, und auch, nachdem ſie ver—
heirathet war, — und „dann verbrannten fie ja die armen Dinger‘. Die
zu reiten, da dachte Niemand dran. Ad, das ift ein trauriger Gedanke.
Auf ihre Art waren die ja auch lebendige Weſen.“ — Nun fennen mir
Frau Aline —
Aus dem Geſpräch mit ihr geht Hilde, der „etwas recht Warmes und
Herzliches” nothmendiges Yebensbedürfnif ift, hervor wie aus einem „Grab:
gewölbe*. Es iſt flar: von diefer Frau muß Hilde den Baumeifter be:
freien, wenn fie ihn retten will. Aline fteht zwiſchen ihm und feinem
Glück. Und Hilde fann und will ed nun nicht begreifen, „daß einer nad)
jeinem Glück nicht greifen darf. Nach feinem eigenen Yeben nit! Bloß
weil Jemand dazmwilchen fteht, den man fennt!” Ind nun fommen mir
zu einem Wortaustaufch zwischen Hilde und Solneß, der recht eigentlich
die Are des Dramas bedeutet, den Schlüjjel für das Verſtändniß des
ganzen Stüds bietet: auf die foeben zitirten Worte Hildes bemerkt der
Baumeifter: Jemand, an dem man nicht vorbei darf.
Hilde: Ich möchte wiſſen, ob man das im Grunde nicht dürfte. — —
Sie find krank, Baumeister. Schwer frank glaub ich fait.
Solneß: Sagen Sie verrüdt, denn das meinen Sie je.
Hilde: Nein, am Berjtande, glaub ich, fehlt Ihnen weiter nichts.
Solneß: Wo fehlt’s mir denn? Heraus damit!
Hilde: Ob die Sache nit die ift, daß Sie mit einem fränflichen
Gewiſſen zur Welt gefommen find.
Solneg: Mit einem Fränkliden Gewiſſen? Was tft denn das für
ein Teufelsding?
Hilde: Ich meine, daß das Gewiſſen bei Ihnen recht ſchwächlich it.
So — zart gebaut. Daß es feinen Stoß verträgt. Daß es das, mas
ſchwer tft, nicht heben noch tragen kann.
Solnef: Hm! Wie follte denn das Gewiſſen fein, wenn ich fragen darf!
Hilde: Ber Ihnen möcht ic am liebften, dah das Gewiſſen jo —
jo recht robuft wäre.
Ein wenig weiter heißt es, man märe glüdlicher, „wenn man ein
recht Fräftiges, von Geſundheit ftrotendes Gewiſſen hätte. So daß man
ſich das getraute, was man am liebjten möchte“. Darauf meint Solneß:
Ich meinerfeits glaube, da die Meiften in dem Punkte ebenjo große
Schwächlinge find, wie ich jelber.
Hilde: Mag jchon fein.
Die zitirte Szene legt den Kernpunkt des Dramas, das Tragiice
darin bloß: Diejes Tragijche beruht auf dem Doppelcarafter des Menſchen
als Egoiſt und Altruift. Hilde will, wie bereits gejagt it, dem Bau
metiter feine alte Araft und Freiheit wieder verſchaffen. Sie will dem
egoiftiichen, individualijtiichen Prinzip, das die Grundlage ihrer beiden
Charaktere it, zum Siege verhelfen. Sie führt Solne immer wieder
jeine frühere thatkräftige Senialität und Kühnheit vor Augen. Er ke
raufcht fich in dieſer Erinnerung an fich jelbit; er will wieder der jein,
der er war, er will den Beweis dafür geben, dal; er es bereits iſt, er
Theater-Rorrefponden;. 363
will von Neuem ein Probeftüd liefern. Er entjchließt ji, den Thurm
jeines eben gebauten, neuen Wohnhaufes am Tage der Einweihung wieder
ſelbſt zu befteigen. Der Baumetjter ſoll jelber jo hoch fteigen, wie er
bauen fann. Und wenn er dieſen Thurm bejtiegen hat, dann mill er
nur nod eins bauen, etwas, das noch nie dagewejen iſt, zujammen mit
Hilde, etwas jo Herrlihes und Großes, wie es fih nur die fühnite
Phantaſie ausmalen fann: ein „Luftjchloß“, aber ein Luftſchloß mit einer
„Grundmauer“, und da hoch oben wollen die beiden dann leben. Dieies
„Luftſchloß“ iſt im Grunde gar nicht verjchieden von den vorher beiprochenen
„Heimjtätten“ mit jpıigen hohen Thürmen. Es it dadurd jymbolifirt die
völlige Ausbildung der Perjönlichfeit, der kraſſeſte Individualismus, ein
Yeben in höherer freiheit und Selbjtherrlichkeit, als in jenen „Heimftätten für
Menſchen“ eine jo ungeheure, ſchwindelnde, fonnennahe Höhe, wie es ſich die
fühnfte Phantaſie nur ausmalen fann; aber es joll doch Fein Phantaſieſtück fein,
es joll eine reale Unterlage, die Grundmauer haben, es joll aljo beruhen
auf der ins Ungehcure gejteigerten, genialen Kraft Hildes und des Bau-
meijters. Beide trauen fih eben eine jolde Kraft, ein ſolches Nietzſcheſches
Uebermenjchenthum zu.
Der Tag, da das erwähnte Wohnhaus eingeweiht werden foll, ift da.
Solnef bejteigt den Thurm — bis zur Spite — ein Schwindel ergreift
ihn — er ſtürzt — zerjchmettert liegt er am Boden. Cr hatte ſich eben
nur an feinem eigenen Bilde aus früherer Zeit beraujcht, er glaubte die
frühere Kraft mieder zu bejisen, aber dieſe Kraft war jeht nur eitel
Vhantajterei. Die einmal gebrochene Kraft ijt nicht mehr zu heilen. Und
Hilde? — Der Tod des Baumeifters trifft fie tief ins Herz, mie irr ftarrt
jie auf ven Fallenden. Aber fie ift zu fraftvoll und muthig, um beim
eriten Anfturm des Schidjals gebrochen zu merden. Wenigjtens gelang es
ihr doch, den Baumeijter wieder jo hoch zu jehen, wie fie ihn fchon einmal
gejehen hatte, wenn er ſich auch nicht dauernd und ficher auf der Höhe
halten fonnte. Den Baumeijter wieder jo hoch geſehen zu haben, das tjt
ihr ein Triumph. Und mährend jo gleichzeitig an Irrſinn grenzender
Schmerz und triumphirende Freude ihre Seele durchftürmen, jagt fie, „wie
in jtillem, irrem Triumph”: „Aber bis zur Spite fam er. Und ich hörte
Harfen hoch oben. Mein — mein Baumeijter!“
Es mu etwas Gkitatiiches, Vifionäres in der Art liegen, wie jie
diefe Worte fpriht. Denn dahinter liegt noch die Vorjtellung verborgen,
daß ſie jelbjt nicht nur eben jo hoch jteigen, jondern fich auch jo hod)
dauernd halten wird, in Freiheit und Selbjtherrlichfeit, aus eigener Kraft
dem eigenen Glüde lebend. Wird fie es? — Mein! — Wohl vertritt
fie jegt noch, jung und im Grunde unerprobt, die Theorie von des Herzens
Härtigfeit und der Seele Mitleidloſigkeit Sie iſt eine Illuſtration zu dem
Sate des Philofophen Nietzſche: „Gebunden Herz, freier Geiſt. — Wenn
man fein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man jeinem Geiſte
viele Freiheiten geben.“ Aber auch in ihr jchlummern jene Krankheits—
feime eines zu „zarten Gemijjens;“ und menn jie auch noch nicht groß
gewachſen find und die ganze Seele durchwuchert yaben, — von Zeit zu
Zeit regen fie fih doch ganz leife: Als Hilde mit Aline Solneß ſpricht,
da überjchleicht auch fie das Mitleid mit der unglüdjeligen Frau, wenn
364 Theater-Rorrefpondenz.
auch nur vorübergehend. Als ein gewiſſer Nagnar Brovik den Baumeiſter
um eine Empfehluug bittet, legt fie für ihn Fürſprache ein, obwohl Solne
dieje Empfehlung nur mit Schädigung jeiner eigenen Intereſſen geben kann.
Als fie den auch oben zitirten Sat verfiht, man dürfe an dem vorüber
gehen, was hindernd im Wege fteht, da meint fie doch: „Ach, wenn man
doch die ganze Gejchichte verjchlafen könnte.” Und endlich: In der erften
Nacht unter des Baumeiſters Dah träumt ihr, fie ſtürze „von einer un—
geheuer hohen, fteilen Felsmand hinab.“ Auch Solnef; träumt öfter der:
aleihen. Diefer Traum vom Fallen iſt die ſymboliſche Darftellung jenes
Sefühls der Schwäche, von dem fehr bedeutende Männer rüdjichtsloie
Ihat in geheimjten unbewachten Augenbliden überfallen werden: ſolche
Menſchen ftehen auf denkbar höchjter Höhe menjchlicher Macht, fie halten
jih für unbezmwinglih, wie vom Schidjal auserwählt und gefeit, um
doh haben fie Augenblide: da taucht in ihren Seelen wie aus einem
tiefiten, verborgenften Winkel das Gefühl menjchliher Gebrechlichkeit
empor, erhebt fich grauenvoll und gefpenftiih die Ahnung nahen Sturzes.
Aus allem Dargelegten ergiebt jih als Problem des Dramas dus
Verhältniß zwiſchen Egoismus und Altruismus. Cs tft dajjelbe Problem,
das ſich auch in anderen Dramen Ibſens findet und das ich bei der Be
iprehung von ‚„‚Rosmersholm‘ unlängit dargelegt habe. Was den Geſammt
werth diejes Dramas betrifft, jo dürfte es wohl das ſchwächlichſte unter allen
jein. Auf der Höhe feines Könnens hat Jbjen die große Fähigkeit, den
mit Fleifh und Blut zu umkleiden und individuell darzujtellen. ‘a
„Baumeijter Solneß“ dagegen find die Ideen doch nur zu einem Schatten:
dafein gebracht. Wir haben es mehr mit perjonifizirten Begriffen zu thun.
Auch die oft geradezu ins Mleinliche gehende Symbolik iſt als ein Vortheil
nicht anzuerkennen. Doc bleibt es immer ein Werf \bjens, das der cin:
gehenden Behandlung trog aller Mängel werth ift.
Warum das Berliner Theater feine Abonnenten mit diejer Aufführune
beglüct hat, ijt nicht zu erjehen. Weder Publikum noch Schaufpieler find
hier ibſenreif. Was foll man dazu jagen, daß die Nolle der Aline von
der Daritellerin komiſch aufgefaßt wurde! Aline iſt unſympathiſch, aber
doch eine durchaus tragische Geſtalt. Das Rublitum übrigens ging auf die
verfehlten Intentionen der Darjtellerin mit größten und aufrichtigem Ver—
anügen ein. Beſondere Heiterkeit erregten die neun Puppen, mit denen
Aline geipielt hat. Die Damen, die im Parfet und in den Yogen ſich
vor Lachen jihüttelten, wiffen gar nicht, daß fie jelber, auch wenn fie ſchon
Großmütter fein follten, noch immer mit ſolchen Puppen im Ibſenſchen
Sinne jpielen. Rühmend fann ich Fräulein von Pazatka nennen, die die Kaya
mit richtigem Verftändni und der eigenthümlichen, vom Bann der Suggeftion
erzwungenen Hingabe ſpielte.
19. 10. 99. Max Lorenz.
Politiſche Korrejpondenz.
Aus Dejterreid.
15. Oftober 1899.
Dad Minifterium Thun hat jein Ende erreicht. Seit Monaten
war an demjelben nicht mehr zu zweifeln, da es feinen Weg gab, die dem
Grafen Thun von der Krone gejtellte Aufgabe, den Reichsrath lebensfähig
zu machen, in irgend einer Form zu löfen. Im Augenblide des Abſchluſſes
der Negierungsthätigkeit de3 genannten Grafen und feiner parlamentarischen
und bireaufratijhen Mitarbeiter legt man fich nothwendig die frage vor.
wie dieje Herren überhaupt jemals daran denken fonnten, mit Erfolg zu
arbeiten, und man fann darauf feine andere Antwort geben, als daß die
einzelnen Elemente dieſes Minijteriums von jehr verichiedenen Voraus:
jegungen ausgegangen jind und daß der gänzliche Mangel eines auf die
zu erwartenden Ereignifje berechneten, deutlichen Programmes den Sturz
dejjelben zur Folge haben mußte.
Das Nuftreten des Grafen Thun läßt fi ſachlich in gar feiner
Weije erklären, ed kann wohl nur auf ganz perjönliche Beweggründe
zurücgeführt werden; denn es ift ganz unmöglich, einem Manne, der
als Vermwaltungsbeamter die wejt-öjterreichiihen und namentlich die böh-
mischen Berhältnifje kennen gelernt hatte, diejelben phantaftiichen Wor-
jtellungen von der Macht und den Mitteln eines öſterreichiſchen Minijter-
präfidenten zuzujchreiben, von denen Graf Badeni erfüllt geweſen war.
Diejer hatte Galizien zu regieren verjtanden und war der Meinung, daß
die Künſte und noch mehr die rüdjichtslofen Nechtsbeugungen, die ihm
dort über alle Schwierigkeiten Hinweggebolfen hatten, auch in den
Erbländern zum ‚Ziele führen würden, wenn man nur rückſichtslos
genug in der Anwendung jei. Seine Zuverſicht war durch die Wolle,
die ihm bei der Bejeitigung de3 Ktoalitionsminijteriums Windiichgräß-
Plener zugefallen war, begreifliher Weije geiteigert worden, ſie hat ihn
von einem faljchen Schritte zum anderen fortgerijjen und hätte wohl zu
noch gefährlicheren Gewaltthätigfeiten geführt, wenn die Krone bereit ge-
366 Politifhe Korreipondenz.
weien wäre, ihm dieſelben zu gejtatten. Graf Thun hat die Gelegenheit
gehabt, den Irrweg feined Vorgängerd zu beobachten und den Schluf
daraus zu ziehen, daß der offene Krieg gegen die Deutichen nicht geführt
werden fünne, ohne die Grundlagen und die ſeit Maria Thereſia be—
ftehenden bewährten Einrichtungen des Staated preißzugeben. Er fonnte
nicht im Unflaren darüber fein, daß die Tichechen in feiner Weije geeignet
find, die Aufgaben zu übernehmen, die biäher den Deutſchen zugefallen
waren, dab fie am allerwenigiten gejammtöfterreihijche Intereſſen ım
Auge haben, fondern abjichtlic) Verwirrung und Feindjeligkeit unter den
Öjterreichiichen Nationen fördern, um im Trüben — ihren böhmijchen
Staat herausfiihen zu können. Sie wollen jo wenig von einer Kon:
föderation der Nationen etwas wiljen, als von einem die nationalen Be-
dürfniffe gerecht abjchäßenden, die Einheit der Verwaltung jedoch unbedingt
fejthaltenden Zentralismus; ihnen ſchwebt immer nur die Abjiht vor, aus
Böhmen ein zweited Ungarn zu Eonjtruiren, einen Staat, in weldjem die
Tichechen ebenſo alleinherrichend werden. wie es die Magyaren in der
jenfeitigen Neichshälfte thatjächlich geworden find. Darüber konnte ſich
Graf Thun feinen Täufchungen Hingeben, auch wenn Herr Dr. Kaizl es
versucht haben jollte, ihn von der Loyalität der tichechiichen Aniprüche zu
überzeugen. Auch den Einfluß der Polen und der deutichen Kierifalen
fann er doch nicht überichägt Haben, er fann nicht angenommen haben,
daß dieſe im Stande jein würden, ihre politiichen Freunde zu jreiwilligem
Verzichte auf alle ihre Lieblingspläne zu bewegen, nur damit Graf Thun
Minijterpräfident bleiben Eönne? —
Es ijt nicht wahrjcheinlih, daß die geheimen Pläne Thuns jemals
das Licht der Deffentlichfeit erbliden werden, man wird jeinem Auftreten
daher auch kaum jemals eine bejondere Bedeutung beilegen fünnen. Seine
Regierung hat feinen anderen Zwed gehabt, als den Ausgleid mit Ungarn
in Oejterreich zu oftroyiren und die Unhaltbarkeit der Badenischen Sprachen:
verordnungen ad oculos zu demonjtriren; das Lebtere hat fie mit aller
wiünjchenswerthen Bolljtändigkeit erreicht. Daß dazu auch der Bertrauensmann
der Jungtſchechen mitwirken mußte, mag diejen wohl jehr unangenehm
jein; es ijt daher begreiflich, daß fie ihren Groll den einjt jo gefeierten
Kaizl fühlen laſſen; dennoch fönnen jie es nicht ungefchehen maden, das
jie die Regierung in Händen gehabt haben und nichts damit anzufangen
wußten. Es geht nicht an, die Betheiligung der gegenwärtigen Neich:-
rathsmajorität am Minifterium Thun zu verjchweigen oder abzuleugnen
und von einem zulünftigen Minijterium der Rechten al$ einer vielver:
iprechenden parlamentarischen Neuheit zu Sprechen, der die Löſung der
öjterreichifchen Berwidlungen gelingen könnte. Die Herren Dipauli, Kai!
und Kaſt waren Vertreter der Rechten im Minifterium Thun, die echte
bat ſich wiederholt demielben zur Verfügung geftellt; mehr könnte ſie nicht
tun, wenn auch noch die Ebenhoch und Ferjancic mit Minifterportefewilles
Politiſche Korrefpondenz. 367
ausgeitattet würden. Nicht Thun allein, auch die Rechte ijt unterlegen,
indem fie das Erbe Badenis anzutreten verjucht hat.
Dad neue Minijterium, das jich als ein Uebergangsminifterium
eingeführt hat und nur aus vier Minijtern, im Uebrigen aus „Leitern“
der verwaiiten Minijterien beiteht, hat gar Feine Beziehungen zu den
parlamentariichen Parteien, es joll die Gejchäfte im Auftrage der Krone
jo lange führen, bi8 auf dem Wege der Koalition ein neues parla=
mentarijches Minifterium entitehen kann. Mit diefer „Widmung“ ijt ihm
vielleicht eine längere Dauer zugedacht, als die gegenwärtige Majorität des
Reichsrathes annehmen zu wollen jcheint. Der Minifterpräfident Graf
Manfred ClarysAldringen, früher Landes: Präfident von Schlejien, jeit
Bacquehems wohlverdientem Berjinfen in ruhmloje Bergejjenheit Statt:
halter von Steiermarf, bringt feine anderen Vorbedingungen für fein
ſchwieriges Amt mit, al3 die genauejte Kenntniß der Bedürfniffe der Ver—
waltung und der arbeitenden Bevölferung im Norden und Süden der
Donau, dazu die unbejtrittene Eigenichaft, als Beamter den Verfehr mit
allen reifen eifrig gejucht und daraus Belehrung über alle VBerhältnifje
in den von ihm verwalteten Ländern geichöpft zu haben. Man weiß, daß
er ein überzeugter Katholik it, fich jedoch niemals den Ultramontanen an—
geichloffen hat. ein Umijtand, der für Selbitändigfeit in Auffaſſung und
Willen jpricht. Er hat ji für alle Fälle darauf eingerichtet, die Regierung
jo fange zu leiten, ald man feiner bedürfen wird; die Nefjortangelegen-
heiten werden gewiß mit Geſchick behandelt werden: Männer wie Körber,
Witteck, Hartel, Stribat find vollkommen geeignet, für die tadelloje Fort—
führung der Gejchäfte zu bürgen. Graf Clary war von vornherein ent-
ichlofjen, die Sprachenverordnungen für Böhmen einfach aufzuheben, „weil
fie einfeitig und auf eine Weije zu Stande gelommen jeien, welche die
Deutjchen verlegen mußte“; er beruft den NeichSrath. nachdem der Zujtand
wie er vor dent Jahre 1897 in allen Sprachenangelegenheiten geberricht
bat, wieder hergejtellt it; er wird dem Reichsrathe in fürzejter Friſt ein
Spracengejeg zur Berathung unterbreiten, dad mit Berücjichtigung der
von den nationalen Parteien namentlich aber in dem Pfingitprogramme
der Deutjchen geäußerten Wünſche dad Staat3interefje zu wahren geeignet
fein ſoll. Dies hat er nicht nur zu dem Vertretern der deutichen Parteien
fondern auch zu den Jungtichechen geäußert, worauf dieje nicht anjtanden,
ihn ihrerjeit3 ald einen Feind des tichechischen Volkes zu erklären, das
befanntlidy ein angeborened Recht darauf zu bejigen vorgiebt, daß in jedem
Orte des Königreiches, wenn derjelbe auch ausjchließlih von Deutjchen
bewohnt ift, tichehhisch Gericht gehalten und verwaltet wird. Die Be:
ziehungen des tichechiichen Bolfes zu dem Lande, dad vom Erzgebirge,
Niefengebirge, vom Böhmerwalde und von einer im böhmiſch-mähriſchen
Geſenke laufenden Linie begrenzt wird, bilden nämlich den Inhalt
jenes geheimnißvollen Staatsrechtes, deſſen Wortlaut Niemand, aud)
368 Politifhe Korrefponden;.
fein Jung- und fein Alttſcheche Fennt, das aber das Palladium dei
tſchechiſchen Volkes, oder vielmehr aller jener auf tichechiichem Boden
überſchüſſigen Sünglinge bilden joll, die als Beamte in deutjchen Städten.
Märkten und Dörfern angejtellt werden wollen. Daß auch die böhmiihen
Feudalen dem Minijterium Clary die Oppofition ankündigen, fann nid
Wunder nehmen. Diele Herren träumen davon, in dem neu zu errichtenden
böhmischen Staate die erjte Geige jpielen zu dürfen und glauben, went
nur erſt die demofratiichen Sungtichechen die Kajtanien aus dem Feuer
geholt haben werden, jie mit Hilfe ihrer klerikalen Gefolgſchaft beieitigen
und ſelbſt im Sejuitenfinne vegieren zu fönnen. Ihr öſterreichiſcher
Patriotismus, von dem fie jtet3 überfließen, richtet Sich in erjter Linie
gegen die bejtehende Ordnung im Staate und gegen die Tradition der
regierenden Dynaſtie. Mit dieſen Ddejtruftiven Elementen wird fein
öjterreichiiched Minifterium jemals rechnen Fönnen.
Die katholiſche Volkspartei und die Polen find jedenfall nicht ab:
geneigt, mit dem Grafen Clary zu unterhandeln, jie danken ihm die Cr
löjfung aus einer Geiellichaft, die ihnen jchon viel zu theuer geworden il.
um fie nicht auch einmal gerne zu entbehren. Entſcheidend für die Miſſier
des „Uebergangs-Miniſteriums“ wird aber felbjtverjtändlih die Haltung
der Deutſchen jein. Nach Allem, was bis jetzt jowohl von der Anfid!
des Kaiſers über die Gejtaltung der Verhältnifje im Staate und über di:
Aufgaben der Regierung befannt geworden ift, kann ein erniter Zeil!
über das, was den Deutichen bei der gegebenen Sadlage frommt un)
nüßlich werden wird, faum bejtehen. Sie haben die Hand zu ergreifen.
die ihnen geboten wird, fie haben die Regierung zu unterjtüßen, durd
welche die Badenischen Sprachenverordnungen aufgehoben worden. Oppoſitio—
gegen diejelbe wäre nicht etwa nur ein politiicher Fehler, jondern er
Widerſpruch mit dem eigenen Programme, ein jelbjtmörderijcher Narrer-
jtreih. Mögen unjere Radikalen immerhin noch Bürgichaften darsı
verlangen, daß nicht wieder einmal im Verordnungswege der Beitt
jtand der Deutjchen angetajtet werde; bis jie dieſe Bürgjchaften ix
formuliren vermögen, twerden die Deutihen doch nicht umbin fönner.
jenen Minijtern ihr Vertrauen zu bezeugen, die den Kampf gegen di
Tſchechen nöthigenfalis aufnehmen, und fi für den Fall dieſes Kampie
auch jeder anderen Regierung zur Verfügung zu jtellen? Wenn jemal:
jo mögen fie ſich jegt den Rath Bismarcks zu Gemüthe führen, daß —
vor Allem darauf ankommt, ſich wieder in den Sattel zu ſchwingen, de
Reiten werden ſie dann vielleicht erlernen. Dazu gehört jedoch eine a
wiſſe Mäßigung der Forderungen, für die unfere Radikalen aller
dings wenig Verjtändniß zeigen. Der vielgenannte Abgeordnete ol’
dejjen Popularität längit über die Schönerers hinausgewachſen ift, verlanc:
u. U. eine Zuficherung der Krone, nie wieder von dem im 8 14 des &
jepes über die Nechtsvertretung der Negierung eingeräumten Rechte der
Politifhe Korreſpondenz. 369
Gejeggebung im Berordnungswege Gebrauch machen zu wollen. Davon
fann wohl nicht die Rede fein, folange die Objtruftion eine Waffe der
Minoritätparteien bleibt; denn man fann doch von einer Negierung
nicht erwarten, daß fie fich freiwillig jede Mittels benimmt, die Staats—
geſchäfte fortzuführen für den Fall, daß das Parlament feine Mitwirkung
hierzu versagt. Die Deutſchen müfjen an der Regierung theilnehmen, dann
werden fie nicht in die Gefahr fommen, durd) den $ 14 vergewaltigt zu werden;
ihre Aufgabe ift ed, nachdem die Krone ſich von der Slloyalität der
Tſchechen überzeugt hat, eine Negierung zu ermöglichen, welche ebenjo den
nationalen Bedürfnifjen der Deutichen wie den gejammtftaatlichen Intereſſen
entſpricht. Die verewigte Verfafjungspartei hat fich dazu unfähig gezeigt:
e3 wird ſich num erweijen, ob. die auf Grund eines nationalen Programms
geeinigten deutſchen Parteien durch die Erfahrungen der legten Jahre
klüger und widerjtandsfähiger geworden find. Unter diefen Erfehrungen
ift nicht die werthlofefte, daß die Tichechen nur deshalb aus der Regierung
entfernt werden, weil fie mehr für jich in Anſpruch genommen haben, als
der öjterreidhiiche Staat ihnen gewähren kann und darf. hre politische
Unmäßigfeit hat ihren Fall verurfaht. Die Deutichen können Die
angejtrebte neue Koalition ruhig abwarten, vorausgejeßt, dab fie
das Minifterium lary-Aldringen, da3 feiner überwiegenden Mehr:
beit nad) aus ehrlichen Deutſchen zufammengefegt ijt, im Amte erhalten.
*
Der ſozialdemokratiſche Parteitag in Hannover.
Der vom 9. bis 14. Oftober in Hannover abgehaltene ſozialdemo—
fratifche Parteitag iſt ein Ereigniß, an dem wir hier nicht mit einigen
furzen Bemerkungen vorbeigehen können, das im Gegentheil eine genauere
Betrachtung verlangt. Er jtellt eine neue bedeutfame Etappe auf der
Bahn des Wandel3 der ſozialdemokratiſchen Anjchauungen dar, er iſt viel-
leicht die wichtigſte Tagung der deutichen Sozialdemokratie jeit der Auf—
hebung de3 Sozialijtengejeges.
Schon jeit dem Erfurter Tage (1891), auf dem der Marxismus als
geichlofjened Syitem in dem neuen WBarteiprogramm zur offiziellen Ans
erfennung gelangte, geht durd die fozialdemokratiiche Partei ein Zwieſpalt
zwijchen der alten revolutionären und einer neuen reformerijchen Richtung,
die ſich allmählih in einen immer entjchiedeneren Gegenſatz zu den
marziftiihen Boltrinen gejeßt hat. Zunächſt lediglich die Wichtigkeit der
Aufgaben der Gegenwart dem revolutionären Endziel gegenüber betonend
und fi auf die praftifchen politiichen und gewerfjchaftlichen Fragen be—
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 24
370 Politifhe Korrefpondenz.
ichränfend, ging diefe Richtung dann, ald durch das eingehende Studium
der Agrarfrage der Glaube an die abjolute Gültigkeit der marriftijchen
Theorien in weiten Kreiſen der Partei erjchüttert war, zu einer gründ«
lihen Kritik der theoretiihen Grundanfchauungen über, die in dem be
fannten Buch Bernjteins*) und in jeiner Verwerfung faſt des ganzen
marziftiichen Syſtems gipfelte.
Um das Ergebniß der Verhandlungen des hannöverſchen Barteitags,
die hier im Allgemeinen ald aus der Tagesprefje befannt vorausgejeßt
werden miüjjen, richtig beurtheilen zu können, muß man jich in aller
Kürze den wejentlihen Inhalt der bisherigen fozialdemokratiichen Gedanken—
welt vergegenwärtigen.
Die revolutionäre ſozialdemokratiſche Theorie, wie fie von Marr be:
gründet und von Engels weiter ausgebaut ift, wurzelt in der Ueber:
zeugung von der abjoluten Hoffnungslofigfeit der Lage der arbeiten:
den Klaſſen innerhalb der heutigen Gejellichaftdordnung., Denn der
Kapitalismus erzeuge durch die rajtloje Ausdehnung und VBervolllommmung
des majchinellen Großbetriebes „eine das durchichnittliche Beſchäftigung—
bedürfniß des Kapitals überſchreitende Anzahl disponibler Lohnarbeiter.
eine vollſtändige induſtrielle Reſervearmee, disponibel für die Zeiten, wo
die Induſtrie mit Hochdrud arbeitet, aufs Pflafter geworfen durch den
nothiwendig folgenden Krach, zu allen Zeiten ein Bleigewicht an den
Füßen der Urbeiterklajje in ihrem Eriltenzlampf mit dem Kapital, ein
Negulator zur Niederhaltung des Arbeitslohnes auf dem, dem
fapitaliftiihen Bedürfniß angemesjenen niedrigen Niveau"
(Engel3, Herrn Eugen Dühringd Ummälzung der Wiſſenſchaft, S. 24.
„Das Gejeß, welches die indujtrielle Rejervearmee jtet3 mit Umfang und
Energie der Napitalalfumulation im Gleichgewicht Hält, jchmiedet den
Arbeiter feiter an das Kapital, als den Prometheus die Meile de
Hephäjto® an den Fellen. Es bedingt eine der Affumulation von
Kapital entfprehende Allumulation von Elend. Die Altumulation
von Reichthum auf dem einen Pol ift aljo zugleich Akkumulation von
Elend, Arbeitöqual, Sklaverei, Unwiſſenheit, Brutalifirung und moraliſchet
Degradation auf dem Gegenpol* (Marz, Kapital I, ©. 611). „Und von
der kapitaliſtiſchen Produftionsmweije eine andere Vertheilung der Produkt
erwarten,“ ſetzt Engel hinzu, „hieße verlangen, die Elektroden einer
Batterie jollten dad Waſſer unzerjegt Iafjen, folange fie mit der Batteri:
in Verbindung jtehen, und nicht am pojitiven Bol Sauerjtoff entwideln
und am negativen Wajjerjtoff.“
Aus diejer gänzlich hoffnungslofen Lage kann fid) die Arbeiterklafje nur
durch Die Befeitigung des Kapitalismus, durch die Eroberung der Staat&gemalt
*) Die Borausfegungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial
demofratie. Bon Eduard Bernftein. Stuttgart 1899.
Politiſche Korreipondenz. 371
und Die revolutionäre Umgeſtaltung der ganzen Fapitaliftischen Gejellichafts-
ordnung retten. Dieje Umgeftaltung wird durch die Akkumulation des
Kapitald und die Konzentration der Betriebe vorbereitet; denn
dadurch wird einmal die fozialiftifche Organifation der Gejellichaft weſent—
lich vereinfacht und außerdem wird durch zunehmende Proletarifirung der
Mittelichichten das revolutionäre Proletarierheer bejtändig vergrößert, bis
e3 jchließlic die große Mehrheit der Bevölkerung umfaßt und damit zu
einer uniderjtehlihen Macht geworden ijt.
Der Zuſammenbruch des Kapitalismus wird durch den in ihm ent-
baltenen Widerſpruch zwilhen Broduftion und Ronfumtion be=
jchleunigt. Durch die Beichränfung der Konjumtion der Mafjen auf ein
Hungerminimum untergräbt fich der Kapitalismus den eigenen inneren Marf;
er ijt gezwungen, den ganzen Erdkreis nad neuen Konſumenten abzu=
jagen; die Ausdehnung des Abſatzes kann aber mit der Ausdehnung der
Produktion niht Schritt halten. Die Kollijion wird unvermeidlich;
periodijche Kriſen jtellen fid) ein, in denen die fapitoliftiiche Produktions»
weije ihrer eigenen Unfähigkeit zur fjerneren Verwaltung der Produktiv—
fräfte überführt wird, bis dann jchließlih mit dem Stoden der weiteren
Ausdehnung der Märkte der Kapitalismus in einer ungeheueren Kriſis
zujammenbredhen muß. Alsdann tritt die Arbeiterklaffe in Aktion, ver—
itaatlicht oder vergejellichaftet die Produftiongmittel und hebt damit den
dem Kapitalismus immanenten Widerjpruch zwijchen Broduftion und Kon—
jumtion endgültig auf, um im Sozialismus „eine ununterbrodyene, ſtets
rajcher fortichreitende und praktiſch jchranfenloje Steigerung der
Produftion herbeizufuhren, die „allen Gejellichaftögliedern die voll—
ftändig freie Ausbildung und Bethätigung ihrer körperlichen und geijtigen
Anlagen garantirt“. Und nicht in nebelbafter Ferne liegt diefe Möglich:
feit; im Gegentheil, fie iſt ſchon jegt da. Schon jetzt hat Die Ent-
widelung der Produftion einen Höhrgrad erreicht, auf dem Die Leitung
der Gejellichaft durch die Kapitalijtenklajje „nicht nur überflüffig, jondern
auch ökonomiſch, politiih und intelleftuell ein Hinderniß der Entwidelung
geworden ift. Iſt der politiiche und intellektuelle Bankerott der Bourgeoifie
ihr jelbft kaum nod ein Geheimniß, jo wiederholt ſich ihr ökonomiſcher
Banterott regelmäßig alle zehn Fahre.“
Dad ift — großentheild® mit Engeld eigenen Worten — in aller
Kürze der Hauptinhalt der jozialdemokratiichen Lehre, deren jtrenge logiiche
Konfequenz, die Prümifien einmal zugegeben, fait Jeden, der ihr näher
getreten ijt, für längere oder fürzere Zeit in ihren Bann gezogen bat.
Das it das Zauberlied, das ſeit Jahrzehnten der deutichen Arbeiterichaft
immer wieder erflungen iſt und Hunderttaujende, ja Millionen begeijtert
hat. Es ift durch und durd) revolutionär; das Endziel, die Bejeitigung des
Kapitalismus, ericheint in greiibare Nähe gerüdt; praktiſche Arbeit
auf_dem Boden der heutigen Gejellihaft hat nur geringen Werth.
24*
872 Politiſche Korrefpondenz.
Dad war die Stimmung, die den größten Theil der Sozialdemokratie
unter dem Sozialiftengejeß und namentlich in den Fahren 1890 und 1891
erfüllte, ald die großen Wahlerfolge im Februar 1890, Bismarcks Ent-
loffung und die Aufhebung des Sozialiftengefeges ihr Selbftvertrauen und
ihren Optimismus aufs Höchſte gejteigert hatten. Damals konnte Friedrid
Engel3 den „Umſchwung der Dinge von Grund aus“ für 1898 in Au:
fiht ftellen, damal3 fonnte Bebel auf dem Erfurter Barteitage erflären:
„Die bürgerliche Gejellichaft arbeitet jo kräftig auf ihren eigenen
Untergang los, daß wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem
wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben. (Zuſtim—
mung). Da, ih bin überzeugt, die Verwirflihung unjerer
legten Ziele ijt jo nahe, daß Wenige in diefem Gaale jind,
die diefen Tag nicht erleben werden.“ (Bemegung).
„Wenn wir nun jehen, was für eine folofjale Ummwälzung auf öfone-
mifhem und politiichem Gebiet jtattgefunden hat, wenn wir jehen, wie alle
Berhältniffe ſich allmählih jo entwidelten, daß fein vernünftiger
Menſch mehr darüber im Zweifel fein kann, daß die Dinge auf eine
längere Dauer jo nidht mehr weiter gehen fünnen und darum
die Kataſtrophe nur noch eine Frage der Zeit ijt, dann iſt ed
nicht nur natürlich, dann ift es nothwendig, daß man zu Anjchauungen.
wie ich fie habe, fommt und fie auch ausſpricht.“
Mocte Bollmar auch jhon damals Bebeld Anfichten al3 den Wunder:
glauben eined fitatiferd verhöhnen, die überwältigende Mehrheit der
Partei jtand unzweifelhaft grundjägli auf der Seite von Engel! und
Bebel, obwohl die dem Kapitalismus noch gewährte Gnadenfrift manchem
etwas allzu kurz erjchienen jein mag.
Zu wiederholten Malen Hat Bebel auch in der Folgezeit den
„Kladderadatich“ als bevoritehend prophezeit, unter dem er nicht, wie viel:
fach) angenommen worden ijt, eine fiegreiche revolutionäre Erhebung der
Arbeiterflafie, jondern ganz im Engelöihen Sinne den Zufammenbrud
des kapitaliſtiſchen Syſtems in einer ungeheueren Kriſis verjteht, der die
Gejellichaft zur Einführung des Sozialismus zwingen würde. Won dieſer
phantaftiihen Anjchauung ijt Bebel und mit ihm ein Theil der Partei
auch heute noch erfüllt. In Hannover hat er erklärt, er fei auch heute
noch davon überzeugt, daß einmal — wenn auch nicht jo bald, wie er
früher geglaubt — in Folge der Ueberproduftion und bei der Unmöglichkeit,
neue Exportgebiete zu finden, eine Periode chronischer Kriſen eintreten
werde, in der — bei Arbeitern wie Unternehmern — die „allgemeine
Ueberzeugung entiteht, jo kann ed nit mehr weiter geben,
die Grundlage der bürgerlichen Gejellichaft ift abjolut unhaltbar, wir
müfjen und zur Schaffung einer neuen Grundlage entichließen.“ Nur
jo ijt es zu verjtehen, daß er auf einer Seite den Gedanten an eine ge
waltjame, revolutionäre Erhebung ſtets mit Entrüftung von ſich wies, auf
Politiſche Korrefponden;. 373
der anderen Seite aber von der baldigen Verwirklichung des Sozialismus
träumte.
Es kann hier nicht meine Aufgabe fein, die naive Vorjtellung, der
Zuſammenbruch unferer Exportinduftrie würde die Arbeiter ins gelobte
Land ded Sozialismus führen, näher zu fritifiren. Ich bejchränfe mich
hier darauf, referivend feſtzuſtellen, daß dieſes Hauptitiid des bisherigen
jozialdemofratiihen Katechismus auf den hannoverſchen Parteitag nicht nur
von den Neformern, jondern auch von den jcharffinnigeren Köpfen unter
den Radikalen rüdjicht3[los verworfen worden iſt; Bebel jtand hier mit jeiner
bedingten Bertheidigung diejer Idee ganz allein. Bernitein und David
lehnten fie rundweg ab, Auer hat die Kladderadatſch-Idee graufam ver-
böhnt, aber auch Kautsky will nicht3 von der „lädherlichen Zufammenbruchd-
theorie“ wiſſen; er hält fie für jo „idiotiſch““ daß er fie jogar — allen
unzweideutigen Stellen in Engels Schriften*) zum Trotz — einfach für
„legendär“ erklärte. „Hätte Engeld da3 gejagt, jo wäre er nicht der große
Denker gewejen, der er war, er wäre ein ſolcher Idiot geweſen, daß
fein einziger Wahlkreiß ihn zu feinem Delegirten auf den Varteitag ge=
wählt hätte.“ Auer war jo bo8haft, jofort darauf aufmerkſam zu machen,
wie wenig jchmeichelhaft diefer Sag für Bebel fei, nachdem jchon vorher
David Kautskys Verleugnungen der Srijentheorie gegenüber ausgerufen
hatte: „Soll fie nicht mehr gelten, gut, jagen wir das, dann find wir
einig! Spielen wir aber nicht Verjted, jagen wir, wir haben dieje
Theorie al3 ein läherlihes Märchen erfannt.“
Mit der Aufgabe der Zujammenbruchstheorie hat die Sozialdemokratie
eines ihrer faszinirenditen Argumente aufgegeben. Ihr feljenjefter Glaube
en das herrliche ſozialiſtiſche Jenſeits beruhte in eriter Linie auf der
kühnen und großen Perſpektive, daß das kapitaliſtiſche Diesjeitd an jeinen
inneren Widerſprüchen in nicht ferner Zeit von ſelbſt zuſammenbrechen,
unter der unendlichen Fülle des Reichthums, den es nicht zu verwenden
vermag, von jelbit erſticken werde.
Giebt man dieje Lehre auf, jo kann man den Sieg ded Sozialismus
nur noch von der Sonzentration und Alkkumulation der Betriebe und
Kapitalien erwarten; damit ſetzt man an die Stelle einer baldigen drama—
tiihen Kataſtrophe, in der der angebliche vollſtändige Wahnjinn unjerer
Geſellſchaftsordnung ſich offenbart, einen fomplizirten und langwierigen
Prozeß, der — mie jelbjt die Nadifalen für die Landwirthſchaft nicht un—
bedingt leugnen — zahlreiche gegentheilige Tendenzen aufweiſt, dejjen Ab—
wicklung beftenfalld noch viele Jahrzehnte, vielleicht viele Sahrhunderte dauern
muß, und der jchon deshalb nicht geeignet ijt, die Mafjen mit unbedingter
Siegedzuverficht und revolutionäre Begeifterung zu erfüllen.
*) Mit Marx liegt es in der That anders; eine fo jchroff zugelpigte Krijen«
theorie, wie fie Engels im Antivühring entmwidelt bat, findet jih im „Kapital“
nicht.
374 Politifhe Korrefpondenz.
Mit dem Fallenlafjen des grenzenlojen Optimismus für die jozia-
lite Zukunft geht die Aufgabe des abjoluten Peſſimismus für die Fapita-
fiftiiche Gegenwart Hand in Hand. Auch die Lehre von der zunehmenden
DVerelendung oder mindejtend der unbedingten Hoffnungsloſigkeit
der Arbeiter unter dem Kapitalismus kann nad) den Verhandlungen in
Hannover al3 von allen Seiten aufgegeben gelten. Der von Bebel geprägte
Begriff der „relativen Verelendung“ fann nur als ſchwache Verhüllung des
eingetretenen Rückzuges gelten, und mit Recht Hat David aud im diejer
Frage fich gegen das „Verſteckſpielen“ gewandt: „Spielen wir nicht Verited,
fondern erllären wir ruhig: dieſe Pojition des Programms über
die Verelendung ift ein Irrthum.“
Damit bricht aber auch der andere Eckſtein des Revolutionarigmus
aus. Sit die Lage der Arbeiter in der heutigen Gejellihaft3ordnung
feine unbedingt hoffnungsloje, findet fchon Heute ein Aufſteigen der
Arbeiterklafje jtatt, ermöglicht ſchon die Gewerkſchaftsbewegung, die
jozialpolitifche Gejeßgebung , die genofjenfchaftliche Organifation u. A. m.
die jtändige Hebung ihrer Lebenslage, dann gilt ed doch, alle Kräfte auf
dieje Aufgaben zu fonzentriren, jtatt in peſſimiſtiſcher Verzweiflung ar
der Gegenwart alle Heil vom zukünftigen Kladderadatſch oder von dem
fürchterlichen Salto mortale der jozialen Revolution zu erwarten.
Heberlegt man jich das Gejammtergebniß der Bernjtein-Debatte auf
dem diesjährigen Parteitag, jo fieht man, daß die beiden Haupttheorien
der bisherigen jozialdemokratijchen Gedanfenwelt, auf denen ihr Revolu
tionarismus in erjter Linie beruhte, die Theorie von der abjoluten Hof:
nungslofigfeit der Lage des Proletariat3 unter der heutigen Gejellichaft::
ordnung und die Lehre vom baldigen Zuſammenbruch des Kapitaliämus
in einer ungeheueren Krifis, im Großen und Ganzen von der radikalen.
wie der opportuniftiichen Seite als thatſächlich aufgegeben gelten können:
joweit man unter allen möglichen Verklaufulirungen fcheinbar noch an
ihnen jejthält, hat man fie wenigſtens aller praftifchen Bedeutung ent
Heide. Der Sieg der Neformer ijt in diejen beiden Punkten ein vol;
jtändiger, ſodaß fich der prinzipielle Gegenjag der beiden Richtungen
im Wejentlichen auf eine verjchiedene Auffafjung der Konzentration:
theorie zujpißt.
Für die Radikalen hat die Konzentrationstheorie abjolute Bedeutung;
in der Indujtrie, wie in der Landwirthichaft und im Handel vollzieit
fi nach ihnen eine Zufammenballung der Kapitalien, dringt der Grof-
betrieb ſiegreich vor und jchafft die technijchen und adminijtrativen Bor:
bedingungen für die Sozialifirung der Produktion. Trotz der nicht mehr ae
leugneten Berjchiedenheit der Formen, in denen fich dieier Prozeß im Ge
werbe und in der Landwirthſchaft abjpielt, ift das Endergebniß nach ihnen über:
all dafjelbe: Proletarifirung der Mitteljchichten, der Handwerker und Bauern
bejtändige Vergrößerung der „Tozialrevolutionären Armee,“ die allmählich
Bolitiſche Korrefpondenz. 375
jo anjchwellen wird, daß fie die Staatdgewalt niederwerfen und in der
revolutionären Diktatur des Proletariatd die völlige Umgejftaltung der
Gejellichaft vollziehen fann. Am deutlichiten kommt dieſer Gedanfengang
in den Reden der Roja Quremburg zum Ausdrud:
„Die Genoijen, die glauben, in Ruhe, ohne Kataklysmus die Gejell-
ichaft in den Sozialismus hinüberleiten zu fünnen. jtehen durchaus nicht
auf Hijtoriihem Boden. Wir erjtreben eine gänzlihe Umbildung der
berrichenden kapitaliſtiſchen Gejellichaft3ordnung, die nicht auf dem
Wege der joztalen Reform herbeigeführt werden kann.“
Diejen Anjchauungen jtehen Bernftein und feine Anhänger durchaus
ablehnend gegenüber, indem fie der Slonzentrationdtheorie nur eine jehr
bedingte Gültigkeit zujprechen. Fir das eine große Gebiet alles wirth—
ichaftlichen Lebens, für die Landwirthichaft, leugnen fie ihre Richtigkeit
rundweg und behaupten, daß bier die Entwidelung viel eher in der
Richtung der weiteren Ausbildung des Mittel- und Slleinbetriebed ver:
laufe. Die in Induſtrie und Handel unzweifelhaft in hohem Grade
vorhandene Tendenz zur Betriebsfonzentration erkennt Bernitein an,
obwohl er ihre Intenfität etwas zu unterfchägen ſcheint. Mit vollem
Recht betont er aber, daß die veränderten gewerblichen Organijations-
formen jehr mannigfaltige, fomplizirte und ſich gegenjeitig kreuzende
Intereſſengegenſätze jchaffen, nicht aber einfach, wie die Radikalen annehmen,
ein einheitliches jtändig wachjendes „jozialrevolutionäres Heer” einer Kleinen
Ausbeuterklaffe gegenüberjtellen.
Der Entwidelungslehre Bernjteins und feiner Anhänger fehlt jede
revolutionäre Spige; jie ijt durchaus und bewußt evolutionijtiich. Bernſtein
fennt feine abgrundtiefe Kluft zwiſchen kapitaliſtiſcher umd ſozialiſtiſcher
GBejellichaftsordnung, die nur die Revolution zu überbrüden vermöchte.
Sein Sozialismus ift im Grunde genommen nicht Anderes ald die Vor-
ftellung einer ftändig fortichreitenden Verbeſſerung der volföwirthichaftlichen
Organifation, auf die Staat und Gejellihajt immer größeren Einfluß
gewinnen, verbunden mit einer allmählichen Hebung der Lage der arbei-
tenden Klaſſen. Das find Unfchauungen, die auch bei den jogenannten
bürgerlichen Parteien nur vereinzelt auf prinzipiellen Widerſpruch jtoßen
werden. Wer leugnet, daß unjere volk3wirthichaftlihe Organifation im
hohen Grade verbefjerungsbedürftig ijt, und wer wird bejtreiten, daß
unjere Zeit von der Tendenz beherrſcht ijt, alle Stantsthätigfeit mehr
und mehr in Wirthichaftspolitit und Sozialpolitif zu verwandeln!
Obwohl die Anjchauungen Bernjteins und feiner Anhänger zu den
revolutionären Doltrinen der Sozialdemokratie, die ſich vor weniger als einen
Dezennium noch der unbeitrittenen Anerkennung erfreuten, in unverſöhn—
lihem Gegenfaß ftehen, obwohl er Alles verbrennt, was die Partei bisher
angebetet hat, hat fi) der Parteitag nicht entichliegen können, mit den opportus=
niftiichen Ideen reinen Tiſch zu machen. Während jeinerzeit die „ungen“,
376 Bolittide Korreipondenz.
deren Anfichten ſich nur unmefentlid von der offiziellen Parteiboftrin
unterſchieden, kurzer Hand außgejchlofjen wurden, hat es der Sozialdemokratie
diesmal troß alles vorherigen Gejchreies der jächfiichen Revolutionäre an
der erforderlichen Energie zur entjchiedenen Stellungnahme gegen den
Opportunismus gefehlt, die allerding® wohl die Partei in zwei Stüde
zerriffen hätte. „Der Sceiterhaufen war ſchon da,“ wie Bollmar böhnte,
„aber die Zündhölzchen wollten nicht anbrennen, und die Kraft hat nicht
audgereiht, und auf den Sceiterhaufen zu werfen!“ Anjchauungen, die
die volljtändige Negation der Marx-Engelsſchen revolutionären Ideen
bedeuten, können nunmehr al3 legaler Bejtandtheil der jozioldemofratijchen
Gedantenwelt angejehen werden: dad iſt dad wichtigſte Ergebniß des
hannoverſchen Parteitags.
Aber nicht nur, daß die Einheitlichkeit der ſozialdemokratiſchen An—
ſchauungen zerriſſen iſt, auch der Radikalismus ſelbſt hat ſich dem Einfluß
opportuniſtiſcher Vorſtellungen nicht zu entziehen vermocht. Auch unter
den Revolutionären dürfte Niemand fein, der an den baldigen Zujammen-
bruch unjerer Gejellihaft3ordnung glaubte, der die Lage der Arbeiter in
der Gegenwart für unbedingt hoffnunglos hielte. Auch für den Radikaliamus
in der jozialdemofratifchen Partei ift, wie jchon oben angedeutet, der
Sozialidmus nur ald Endprodukt eined langwierigen und fomplizirten Ent-
widelungsprozejje3 denkbar, der nicht nur der revolutionären Propaganda,
fondern aud; und in erjter Linie der praftiichen Arbeit, der Iangjamen
Hebung der Arbeiterklafje gewidmet fein muß. So wild ſich der Revolu—
tionaridmus einer Luxemburg und Zetfin noch gebärdet, jieht man genauer
zu, jo hat er doch jchliehlich einen recht akademijchen Charakter. Die
Revolution ift auch den Radikalften der Radikalen nicht mehr die gejprenate
Thür, durch die der Arbeiter aus der tiefiten Nacht des kapitaliſtiſchen
Elends auf einmal in das jonnenbeglänzte Paradied des Sozialidmus ein-
tritt; fie ift auch ihnen jeßt nur der Schlußjtein, oder vielleicht richtiger
die deforative Spige eines großen Gebäudes, das noch nicht allzu weit über
die Fundamente gediehen ift.
Das interefjante Redeturnier in Hannover hat die Fülle von Intelligenz,
von frijchem, geiftigen Leben, die in der Sozialdemokratie ſteckt, deutlich
offenbart. Mit derjelben rückſichtsloſen Schärfe, mit der fie bisher die
bejtehende Geſellſchaftsordnung kritiſirt hat, Fritifirt fie jeßt ihre eigenen
Anſchauungen; was die Prüfung nicht bejteht, wird kurzer Hand zum alten
Eijen geworfen. Die Ummandlung aller Ideen, die ji) vollzieht, ijt jchon
weit vorgejchritten und für Jeden, der die Augen nicht abfichtlich ver:
ihließt, offenkundig. Sieht fi) doc) jelbit die „Kölnische Zeitung“ zu der
Erklärung genötbigt: „Der Streit, ob die Sozialdemokratie in einer lang:
ſamen Mauferung begriffen ift, ift für ernithafte Yeute erledigt, mögen die
Scharfmacher auc noch jo betrübte Gejichter machen.“
Welchen Einfluß wird der Wandel ihrer theoretiihen Anjchauungen
Poliliſche Korreſpondenz. 377
auf die praktiſche Politik der Sozialdemokratie und auf die weitere Ent—
widelung der deutſchen Parteiverhältnifje haben? Das ift die wichtige und
ſchwierige Frage, die ſich und jet aufdrängt, deren Erörterung aber einer
jpäteren Betrachtung vorbehalten bleiben mag; vielleiht wird ſich ſchon im
nädjten Heft Gelegenheit bieten, auf diefen Punkt genauer einzugehen,
wenn wir willen werden, ob der Verſuch ded Abgeordneten Bafjermann,
eine wirklich arbeiterfreundlihe Politit zu treiben, eine Spaltung der
nationalliberalen Partei zur Folge hat oder nicht. V.
Der Ausbruch des ſüdafrikaniſchen Krieges.
Der ſüdafrikaniſche Krieg iſt durch das Ultimatum des Präſidenten
Krüger ſchneller zum Ausbruch gekommen, als man annahm. Die Buren
haben nicht abwarten wollen, bis England ſeine Rüſtungen vollendete und
ſeine geſammelte Streitmacht an ihren Grenzen aufmarſchiren ließ, um
ſeine Forderungen auf der Spitze des Schwertes zu überreichen, ſondern
haben ihrerſeits die Initiative ergriffen, ihre Mannſchaften zuſammen—
gezogen und den Krieg provozirt. Seit Napoleons Tagen, haben die
engliſchen Staatsmänner geſagt, ſei in ſolcher Sprache nicht zu ihrem
Lande geredet worden. Nicht mit Unrecht. Aber nicht aus Uebermuth
haben die Buren dieje herausfordernde Haltung eingenommen, fondern
da der Krieg ihnen einmal unvermeidlich deuchte, jo wollten fie fich die
jtrategifhen Vortheile, die ihnen ihr Vorjprung in der Mobilijation ges
mwährte, nicht entgehen Infjen und warfen den Engländern den Handſchuh
ins Geſicht. Dad Ultimatum war nicht geftellt, um angenommen zu
werden oder noch irgend eine Verhandlung zu ermöglichen, jondern im
Gegentheil, um fie abzujchneiden und den Krieg auf der Stelle zu
erzwingen.
Auch auf den Urſprung und den eigentlichen Grund dieſer kriegeriſchen
Ereigniſſe wirft dieſer Vorgang ſein Licht. Wie ſo häufig bei großen
hiſtoriſchen Kataſtrophen iſt auch hier der letzte Differenzpunkt, der zum
Kriege führt, anſcheinend ſo klein, daß man wohl fragen mag, was
eigentlich den blutigen Waffengang nöthig macht. Die Buren haben die
Hauptforderung der Engländer, den Uitlanders nad) fünfjährigem Aufenthalt
das Stimmredt zu verleihen, im Prinzip zugejtanden, dieje Konzejjion je-
doch an die Bedingung gelnüpft, daß England feinen Anſpruch auf Suzeränität
aufgebe und die volle Suveränität Trandvaald anerfennee Wenn man
nun bedenft, daß die Majorität der Einwohner Transvaals bereit3 engliſch
ift und bei der Ausdehnung des Minenbetriebed noch in jtetem Wachjen,
378 Bolitiſche KRorrefponbenz,
daß alfo im Laufe weniger Jahre auch die Majorität der Wähler un der
Nepublif aus Engländern beftehen müßte, jo jieht man, daß die Suveränitäts
frage praftiich garnicht die große Bedeutung hat, die jonjt dem Prinzip
innewohnt. Ungenommen, die engliihe Regierung hätte auf alle umd
jede Suveränitätsrechte über Transvaal verzichtet, jo wäre Ddiejer Staat
mit der Zeit dennoh ein englijch regierte® Gebiet geworden, und
die Regierung in diefem Gebiet hätte wegen de3 natürlichen Gegen:
ſatzes gegen das in die Minorität geworfene Buren =» Element ihren
Anſchluß bei England gefucht, und England hätte damit vielleicht
mehr Einfluß gewonnen, als bei dem unbejtimmten und bejtrittenen
Recht der Suzeränität, dad fortwährend zu Sompetenztonflitten Anl;
giebt. Weshalb hat die engliiche Regierung alfo dieſe natürliche Ent
widlung nicht einfach) abgewartet? Die Antwort: aus Herrſchſucht und
Habiucht, aus unerfättlicher Eroberungsgier, mit der man heut in Deutid-
land bei der Hand ift, genügt doch wohl nicht zur Erklärung. Dieler
Krieg iſt von fol einer Tragweite, daß die engliichen Staatdmänner jıd
wohl werden überlegt haben, ob jie fich darauf einlafjen jollen. Der
Vergleich von einem Rieſen, der über einen Zwerg berfällt, paßt midi
ganz. Die fede Art, mit der die Buren endlich, ohne die legte Möglichlen
von Verhandlungen zu erjchöpfen, auf ihren Gegner losgegangen jind und
ihm mit ihrem Ultimatum ins Gejicht geichlagen haben, zeigt ten
Zwergenbewußtjein. In einer Siung des jüngjten Geographenfongreiie
jtreifte Herr Poultney Bigelow, der Südafrika ganz gut kennt, den bevor:
jtehenden Konflitt und jagte, feine Sympathie jei immer mit den
Schwächeren, deihalb gehöre jie in diefem Streite — den Engländern.
Die engliihen Minifter verfichern jept, fie hätten den Krieg nich
gewollt und erſt dad Krüger'ſche Ultimatum Habe ihn unvermeidlich ge
macht. Solchen PVerfiherungen pflegt man wenig Glauben zu jchenten.
aber es jcheint mir in dieſem Falle nicht ganz unmöglich, daß man gehofft
bat, wenn erjt die englijche Krieggmaht in Südafrika verjammelt ie.
unter ihrem Drud zu irgend einem Abkommen ohne Blutvergießen mit
den Buren zu gelangen. Was England durch den Krieg zu gewinnen bat
ijt, wie wir gejehen haben, gar nicht jo jehr viel; nur ein paar Jahre
Geduld und ed mußte fait von jelber fommen., Die Gefahren aber, dw
der Krieg für Englands ganze Weltjtellung mit ſich bringt, ſind jebr
groß und die Mojten werden unter allen Umjtänden ungeheuer jein. War
braucht aljo keineswegs in den Engländern die reinen Humanitätsfreunde
und jelbjilojen Vorlämpfer liberaler Ideen zu jehen, um ihnen doc zw
zutrauen, daß fie diejen Krieg nicht gewollt haben, jondern ganz ital
gewejen wären, durch Drohungen ein gutes Abkommen von den Burer
bewilligt zu erhalten.
Das aber wollten die Buren eben nit. Auch fie find fich natürlıs
ganz klar darüber, daß die Bewilligung des Stimmrechts fie einem en«
Politiſche Korrefponden;. 379
liſchen Regiment außliefert. Ein foldes Regiment wäre ja noch nicht der
Tod für ihre Nationalität: im Kapland leben die Holländer unter englijcher
Regierung und leben recht gut. Sie beherrichen ſogar das Parlament.
Sch wiederhole, was ich ſchon das vorige Mal gejagt habe, daß Das
Holländerthum ſich durc das Vereinigen der Burenrepublifen mit Kapland
in Südafrika befjer jtehen würde, ald durch die Fortexiſtenz dieſer Repu—
blifen. ber diefe Buren wollen nit bloß Holländer, fie wollen vor
Allem Buren bleiben. Das ift daS Entjcheidende. Diejer eigenthümliche
joziale Zuftand, der fich durch die Jahrhunderte gehalten hat und geheiligt
ift, dieſes chriftlich-halbbarbarifche Hirten» und Bauern-Dafein, ohne Ein-
mijchung anderer Elemente, ohne aufregende Aenderungen und Reformen,
abgejchloffen von der Welt und allein auf fich bezogen, das iſt das deal,
das fie nicht fahren lafjen wollen.
Wären die Engländer jehr vorfichtig vorgegangen und hätten ſich
auf die eine Forderung des Stimmredtes jür die jpäteren Einwanderer
beichränft, jo hätten fich die Buren dem wohl auf die Dauer faum ent=
ziehen können. Uber die günftige politifche Konitellation, wie wir fie im
vorigen Heft geichildert haben, hat die Engländer verführt. Sie haben
die Hände gerade frei und wollen den Augenblick benugen. Sie jtellten
Forderungen, die direft in das Innere des Staatdlebend Transvaals ein-
griffen, wie die Gleichberechtigung der englifchen Spradye und die Schleifung
des Sohannisburger Fortd, das die dortigen Uitlanders in Reſpekt
halten joll. Sie beriefen ji) auf ihr Recht der Suzeränität, was, wenn
auch nicht ganz abzuleugnen, doch auch nicht ganz einwandfrei zu behaupten
und in feinen Grenzen ganz unjicher ijt. Aber nicht ſowohl auf den
Anhalt der einzelnen Forderungen fam ed an, jondern darauf, daß
England fid als die Vormacht von Südafrika Hinjtellte, und wenn e3
das durchſetzte, zukünftig auch Deutjchland, Portugal und Frankreich
gegenüber damit auftrumpfen konnte. Herr Ehamberlain, der mit dem
vollen Selbjtbemußtiein des meltbeherrichenden England dieſe Politik
führte, bedachte nicht, daß er gerade damit den Buren die Waffe in
die Hand gebe. Auf dem Standpunkt eined dauernden Verjagend des
Stimmredted an die Witlander hätten fi) die Buren jchwer behaupten
tönnen. Aber entichlofjen, den Konflikt aufzunehmen, benußten fie mit
vollendeter diplomatifcher Gejchidlichfeit das Aufwerfen der Suzeränitäts-
frage, um den Streit auf diefen Boden hinüber zu jpielen. Hier hatten
fie das natürliche Recht und die öffentlihe Meinung der Welt gegenüber
dem englijhen Großmadtsdünfel von vornherein auf ihrer Seite, und ala
nun die Engländer drohten und rüjfteten, jchlugen jie zu.
Wie wird der Krieg verlaufen? Ein Blid auf die Geſchichte des
letzten Menſchenalters lehrt, wie ſchwer es ijt, den Ausgang eines Krieges
vorauszufehen. Wer hat genlaubt, daß die Spanier vor den Amerikanern
jo gänzlich ohnmächtig fein würden ? Wer hat geglaubt, daß die Griechen,
380 Politiſche Korrefpondenz. z
die den Türken jo muthig zu Leibe gingen, ſich auf Nichts als auf? Aus
reißen verjtehen würden ? Wer bat den Japanern zugetraut, daß fie die
Ehinejen jo vollitändig über den Haufen rennen würden? Wer bat ge:
glaubt, daß die Türken den Ruſſen 1877 einen jo zähen Widerjtand leiſten
würden? Wer hat geglaubt, daß das franzöfiihe Kaiſerreich 1870
Deutjchland jo wenig gewachſen wäre? Wer bat geglaubt, daß 1866
Preußen mit Oejterreich binnen wenigen Tagen fertig würde ?
Die Buren find augenblidlid in der denkbar günftigjten jtrategiichen
Lage. Sie haben offenbar in aller Stille fertig mobilifirt und dann durch
das Ultimatum den Krieg zum Ausbruch gebracht, während die Engländer
noch viele Wochen nöthig haben, um nur eine den Buren annähernd gleiche
Streitmaht in Südafrika aufjtellen zu können.
Die Frage ijt, wie weit fie im Stande find, den Vortheil der jtrate-
giihen DOffenfive wirflih auszunugen. Shre natürliche Stärke beruht in
der jtrategijchen und wohl ouch taktischen Defenfive. Das liege in der
Natur des Heered ald eined Bürgeraufgebot3. Kommt der Feind ins
Land, fo ſammeln fich ſehr jchnell alle erwachſenen Männer mit ihren
eigenen Waffen, in deren Gebrauch fie gut geübt find, auf ihren eigenen
Pferden, die Brujt jedes Einzelnen erfüllt von der höchſten Eriegerijchen
Entjchlofjenheit. Fehlt auch die eigentliche militärische Führung, jo find die
Umjtände doc) fo einfach, daß die Leitung der Bürgeroffiziere genügt. Die
Waffe, bei der das Fachmäßige jchlechterdingd nicht zu entbehren ift, die
Artillerie, ift bei den Buren natürlich am ſchwächſten, aber immerhin haben
fie doch für eine Anzohl vortrefflicher Gejhüge gejorgt, und die Mann:
ichaften follen gut eingeibt fein. Kommt alſo der Feind in ihr Land, io
wird er ſchwere Arbeit haben. Als die Dejterreiher 1878 Bosnien
offupierten und die Bevölkerung fich zum Theil dagegen auflehnte, mußten
ihließlich nicht weniger als 262000 Mann mit 300 Geſchützen aufgeboten
werden, um das Land völlig zu unterwerfen und im Baum zu halten.
Dabei wurden die Infurgenten nur auf 80000 Mann veranichlagt. Co
groß ift die Widerſtandsfähigkeit einer kriegeriſchen Bevöllerung auf dem
eigenen, von Natur defenſiv günjtigen Boden.
Um die Widerjtandsfähigkeit der Buren abzumejjen, fehlt vor Allem
jeder jichere Anhalt für ihre Zahl. Es heißt, weil im alten Tejtament die
Bollszählung verboten war und König David für die Uebertretung dieſes
Verbots bejtraft wurde, wollten die bibelfejten Buren aud) Heute noch
feine Volkszählung veranjtalten. Die Angaben für Transvaal ſchwanken
zwijchen 80000 und 150000 Geelen, dazu fommen noch etiwa
halb foviel im Dranje-freijtaat, aljo im Ganzen 120000 bi3 220000
Seelen. Wahricheinlih it die geringere Zahl die richtige. Nehmen
wir die höhere und rechnen als dad Marimum derjenigen, die
die Waffen tragen können, ein Fünftel, jo gäbe da8 45000 Mann,
dazu noch 5000 Mann Freiwillige anderer Nationalitäten, macht 50000
Politiſche Korrefpondenz. 381
Kombattanten. Könnten die Buren mit 50000 Mann in diefem Augenblid
eine rüdficht3lofe jtrategiiche DOffenfive unternehmen, jo könnten fie wohl
den größten Theil Süd-Afrikas innehaben, ehe die Engländer mit gleich
jtarfen Truppen zur Stelle find. ber der Fehler ift, daß diejer Armee
die Offenfiv-Eigenfchaft fehlt. Man bedenke, was es heißen will, 20 %
der Bevölkerung in die Waffen zu rufen. Preußen bat 1813 nur 5!/, %
aufgejtellt und das gilt für eine unerhörte Leijtung. 1870 hatte Deutich-
land etwa 3 % in Waffen. 20 % ins Feld zu jtellen ift nur möglich auf
ganz furze Zeit und auf ganz kurze Entfernungen, aljo im eigenen Lande
oder an jeiner unmittelbaren Grenze zur VBertheidigung. Das Wirthichafts-
leben macht Anjprüche, die genau jo unabweisbar auftreten wie Hunger
und Durjt. Als die Tiroler 1809 Innsbruck genommen hatten, gingen fie
zunächſt nad Haufe, „um das Heu einzubringen,“ und mittlerweile
famen die Franzoſen wieder zurüd.
Bon Mafeling und Glencoe, wo jebt gefämpft wird, bis nad, Kap—
jtadt ijt etwa jo weit zu marjchiren, wie von Königsberg und Memel bis
nach Bajel, und die engliihen Truppen haben an verjchiedenen Stellen
Befeitigungen angelegt, die nicht jo ohne Weiteres zu erjtürmen find. Mit
modernen Waffen ijt auch eine Minderzahl in der Defenfive jehr ſtark und
was die burifche Artillerie gegen die fachmäßig gejchulte englifche leijten wird,
muß ſich erjt zeigen.
Um mit ihrer Offenfive einen wirklichen. d. h. nicht bloß einen vor:
übergehenden, jondern definitiven Erfolg zu erreichen, müßten die Buren
wirklich 50000 Mann ftark fein (was doch jehr unwaährſcheinlich ijt), und
müßten ferner irgend welche wejentliche Hilfe, ſei e8 durch eine Erhebung
der Eingeborenen, fei ed der Holländer im Kapland erhalten. Die
Holländer im Kapland haben gewiß eine jtarfe nationale Sympathie für
die Buren, aber daß fie fid) in einen furchtbaren Krieg jtürzen jollten um
ihretwillen, ift doc wohl faum zu erwarten. Und wenn die Kaffern ſich
erheben, jo muß ſich zeigen, ob jie vorziehen, gegen die Engländer oder
die Buren zu kämpfen.
Gelingt ed nun den Buren nicht, mit ihrer Offenjive einen großen
Bortheil zu erlangen, ein ganzes engliſches Truppen-Korps zu vernichten,
oder menigjtend ganz Natal zu erobern, jo hat ihnen die Offenfive nicht
nur feinen Nutzen, jondern jchweren Schaden gebracht. Wohl mögen jie
einige Eijenbahn-Brüden und ſonſtige Anlagen zerjtören und dadurd) den
zufünftigen Vormarſch der Engländer erſchweren, aber was jie ihrerjeits
dabei zujeßen, ift doch noch koſtbarer.
Das Ueble für fie ift ja, daß ein ſehr großer Theil ihrer Leute nicht
gar zu lange von Haufe wegbleiben fann. Fallen fie nad) ein bi zwei
Monaten aus der Offenfive in ihre eigentliche Pofition, die Defenfive
zurüd, jo find ihre Kräfte ſchon zum großen Theil verbraudt. Die Leute
drängen nad Haufe, und das Land ijt zu groß, um fie fo ganz jchnell
382 Bolitifche Korrefponbenz.
wieder auf bedrohte Punkte zu verfammeln. Beide Sreiftaaten zufamr
find nicht viel Heiner, als das beutfhe Reich und fie haben ut
mehr al3 drei oder vier Eiſenbahn-Linien. Ein Landſturm, der erft eine
Woche marfchiren muß, bi8 er an die Stelle fommt, wo der Feind er-
wartet wird, wird, wenn der erite Enthufiagmus verraucht ift, immer
gewaltige Lüden aufweifen. Stehende Heere haben eben auch vor dem
beiten Landfturm fehr große Vorzüge.
Ein eigentlicher Unterwerfungäfrieg gegen die beiden Buren-Staaten
würde für die Engländer immer ein fehr ſchweres Stüd Arbeit bleiben.
Aber vielleicht werden fie Hug genug fein, darauf garnicht auszugeben,
fondern den Buren, jobald fie ihnen irgendwo eine Niederlage beigebradt
haben, einen Kompromiß anzubieten. Selbft wenn die Suzeränitätäfrag:
formell unentjchieden bleibt und nur dad Stimmredt für die Witlander
fejtgehalten wird, jo haben die Engländer ja Alles, was fie gebrauden.
Umgekehrt die Buren fönnen, ſelbſt wenn fie fiegen, die Konzeſſion dei
Stimmrechts an die Witlanderd unmöglich für alle Ewigkeit verfagen. Auf
bei ihnen wird aljo für die Stimmung, „wozu eigentlih das Blut-
vergießen?“ bald genug Raum werden. Wenn es ihnen wirklich ge
länge, die Engländer völlig aus Südafrifa zu vertreiben und einen
hulländiihen Bundesitaat vom ap zum Limpopo zu errichten, würd
diefer Krieg eine welthiltoriiche Bedeutung erlangen. Daran iſt abe
jchwerli zu denken. Umgekehrt, wenn die Engländer jehr ſchnel
und volljtändig fiegen jollten, wird ihr Selbſtbewußtſein, das jet jchen
groß genug iſt, ind Unermeßlihe anfchwellen. Die pofitive Mad
verjchiebung würde nicht jo jehr bedeutend fein, da das gährende, unter
drüdte Buren = Element noch lange eine kranke Stelle am engliſchen
Staatsförper bilden würde. Aber der moraliihe Impuls, die kühne
Eroberungspolitit weiter und weiter zu verfolgen, das Biel, Afrile
englisch zu machen von Alerandrien bi8 zum Kap, nunmehr ohne Zaudern
ins Auge zu fajjen, würde jehr jtark jein, und die Macht, mit der England
dann zunächit zujammenftößt, ift — Deutſchland.
21. 10. 99. D.
383
Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu-
iufzjegangen, verzeichnen wir:
7 Schleiermacher, Fr. — Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Ver-
ächtern. Zum Hnndertjahr-Gedächtniss ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprüng-
lichen Gestalt neu bera geben und mit Uebersichten und Vor- und Nachwort
versehen von R. Otto. it 2 Bildnissen Schleiermachers. XII. 182 8. Oktarv.
Eleg. kart. M. 1.50, in Lwbd M. 1.80. Göttingen, Vandenhoerk & Ruprecht.
— A. v. — Das Rad in Reimen. 1888, M.1. Kiel und Leipzig, Lipsius &
ischer.
Untersuchungen über die Lage der Hausirgewerbes in Deutschland. 8. und 5. Bd.
Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXIX. LXXXI 308, 858 S. Leipzig,
Duncker & Humblot.
Untersuchungen über die La des Hausirgewerbes in Schweden, Italien, Gross-
britannien und der Schweiz. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXXIIL
223 S. Leipzig, Duncker & Humblot.
Die Verhandlungen des 10. evang.-sozialen ar re abgehalten in Kiel am 25. und
26. Mai 1890. (138 S.) M. 2,—. Göttingen 1899, Vandenhoeck & Ruprecht.
Fogel, Dr. Jul. — Goethes Leipziger Studentenjahre, geb. M. 4.—. Leipzig, Carl Meyers
Graphisches Institut.
A.2...:.. W. A. — Monte-Carlo. Roulette et Quarante. (51 8.) O Pf. München 1899,
Carl Haushalter.
Welter, N. — Frederi Mistral, der Dichter der Provence. Oktav. (356 8.) M. 4.—. Mar-
burg, N. G. Elwert.
Wiedemann, R. — — dere vorn 18. Juli 1899, M. 1.80. Selbstverlag
des Herausgebers, Halensee-Berlin, Friedrichsruherstr. 18.
Achelis, Prof. Dr. Th. — Soziologie. 145 S. M. 080. Leipzig, G. F. Göschen.
Der Bote für deutsche Litteratur. Organ des Scheffelbundes. 2. Jahrg. Heft 5—10.
Leipzig. G. H. Meyer. .
Bräunlich, Lie. theol. Pfarrer. — Leo Taxil. Ein Miniaturbild a. d. grossen Ver,
zweiflungskampfe der römischen Priesterherrschaft um ihren Bestand. 15 S.
München, S. F. Lehmann,
Bräunlich, Lie. theol. Pfarrer. — Die österreichische Los-von-Rom- Bewegung. 08 5.
M. 0.60. München, 8. F. Lehmann.
Brix, Theodor. — Der nationale Grössenwahn und der Kampf mit den Dänen. 31 S.
Berlin, Imberg & Lefson.
Danietson, Joh. Rich. — Finlands Vereinigung mit dem russischen Reiche, Oktav.
188 S. Helsingfors, Weilin & Göös.
Dreyer, Max. — Lautes und Leises.,. 105 S. Leipzig, G. H. Meyer.
—— rnotd. — Die Waffen hoch! 74 S. Braunschweig, Albert Limbach.
. m. b. H.
Hoarrassonitz, Otto. — Die schwedisch-norwegische Union und ihre staatarechtliche
Grundlage. (A. d. Stockholmer Ztg. Nya Dagligt allehanua). 24 S. Stockholm,
Hasse W. Tullebery.
Hartmann, M. — Der Islamische Orient. Berichte und Forschungen. I. (40 S.) M. 1.
Berlin 1890, Wolf Peiser Verlag.
Hase, Karl von. — Kirchengeschichte, 10 Lieferungen je 50 Pf. Liefr. I. Berlin.
Breitkopf & Härtel.
Harsindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Oesterreich. Bd. 2. Die Haus-
in«ustrie der Frauen in Berlin. 616 S. Oktav. Bd.8. Mittel- und Westdeutsch-
land, Oesterreich. 550 S. Ortav. Bd. 4. Gesetzgebung, Statistik und Uebersichten,
2778. Oktav. Leipzig, Duncker und Humblot.
Lehmann-Hohenberg, Professor Dr. — Bismarcks Erbe. Los von Rom, — gut deutsch
allewege 478. Oktav. München S. F. Lehmann.
Livps, Dr. G. F. — Grundriss der Psychophysik. 16435. M.0.80. Leipzig, G. F. Gösuben.
Löwenstimm, Aug. — Der Fanatismus als Quelle der Verbrechen. 88 S. Berlin,
Johannes Räde,
Menge, Dr. H. — Die Oden und Epoden des Horaz. (505 S.). Berlin, Langenscheidt-
sche Verlagsbuchh.
— — Ernst. — Altrheinische Geschichten. 208. Dresden und Leipzig, Karl
issner.
Müller, Leonhard. — Badische Land geschichte, Erster Theil: Der Anfang des
Landständischen Lebens im Jahre I819. (223 S). Berlin, Rosenbaum & Hart
Neubürger, Emil. — Goethes Jugendfreund Friedr. Maximilian Klinger. 35 S. Frank-
furt a. M., Reinhold Mahlau (Mahlau & Waldschmidt).
Ompteda, Frh. e. — Freilichtbilder. Novellen. 248 S. Berlin, F. Fontane & Co.
Oncken, W. — Die Sendung des Fürsten Hatzfeld nach Paris. Sonderabdruck a. d.
„Deutschen Reyue*“. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt.
Pan 189. 5. Jahrgang, 1. Hälfte. Berlin, F. Fontane & Co.
Pfutlf; Otto 8. 4. — Bischof von Ketteler. (1811—1877). 2. Bd. 240 8. Oktav. Mainz,
Franz Kirchheim.
Pichler, Adolf. — Letzte Alpenrosen. Erzählungen a. d. Tyroler Bergen. 168 8.
Leipzig, G H. Meyer.
Riesen, E. ve. — Gedanken über eine ee S. Berlin, Emil Apolant.
Schulze-Smidt, R. — Die drei Romane. Bd. 1 2198. 2256 S. Dresden u. Leip-
zig, Kari Reissner.
Seidier. — Die gesetzlich unmöglichen Verurtheilungen des Amtsgerichtsrath Seidler
124 S. Oktav. Berlin, Imberg & Lefson
Sewett, Arthur. — Der Armenpastor. Ein sozialer Roman. 27 S. Dresden u. Leipzig,
Karl Reissner.
Stiltich, Dr. Oskar. — Die Spielwaaren - Hausindustrie des Meininger Oberlandı
100 8. M. 2—. Jena, Gustav Fischer.
Verwattungsbericht der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Berlin für d.
Rechnungsjahr 1898,
X: ot, A. D. — Les Principes Fondamentaux de l’Histoire. Oktav. 3488. P
est Leroux.
Bernheim, Dr. Benedikt. — Der ambulante Gerichtsstand der Presse. Referat e
am 1. Juli 1889 i. d. Tonhalle zu Zürich gelegentlich des VL allgemeinen
— und Schrittstellertages 189. 2 S.Oktav. München, Knorr
20. b.
Brix, Theodor. — Was in dem „Lande der Denker und Dichter“ passiren kann.
Oktav. Berlin, Herm. Walther.
Caspari, Prof. ©. — Das Problem über die Ehel vom — —
und sozialen Geschichtspunkte. 126 8. Oktav u. VI 2—- F
J. D. Sauerländers Verlag.
Deritz, Franz. — Bebel — v. Bogislawski — Bleibtreu. Neuere Betrachtungen
Deutschlands Heer und Wehr. 128 S. Oktav. Berlin, Herm. Walther.
„_F_— Bibliographie der deutschen Zeitschriftenlitteratur. Band
Leipzig, Felix Dietrich.
Ernst, Otto. — Ein frohes Farbenspiel. 191 S. Leipzig, Staackmann.
Euler, Carl. — Friedrich Friesen. 2, Aufl. 102 S. eipzig und Wien: A. P
Wittwe & Sohn.
Flugschriften der deutschen Volkspartei. 1. Heft: Die Verfassungsrevision in W
Fredericg, Paul. — L’Enseignement sup6rieur de l’Histoire.
Paris, F. Alcan. Gand, J. Vuylsteke.
licher Grundlage. 8 Oktav. (274 S) M.8.-. Berlin, Verlag von Conrad
Kögel, Gottfried. — Rudolf Kö Bd. 1. +72 S, Berlin, E. S. Mittler & Sohn.
Langmesser, Dr. A. — Jakob —— der Freund Lavaters, Lenzens, Kli
(216 S) M.4.— Zürich, E. Speidel.
Latscha, J. uw. Pfr. W. Trudt. Nationale Ansiedelung und Wohnungsreform. 2,
83 8, Frankfurt a. M., Richard Ecklin.
Das Leid als die Wurzel des Glückes. Ein Beitrag zur Reformation des Gla
Von einem Christen. 472 S. Oktav. Leipzig 1 Eduard Schmidt,
Leist, Dr. Alexander, Prof, — Vereinsherrschaft und Vereinsfreiheit im kün
Reichsrecht. 54 S. Oktav. M. 1.20. Jena, Gustav Fischer,
Manujfripte werden erbeten unter der Adreſſe des Her
geber3, Berlin- Charlottenburg, Sinejebeditr. 30.
Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entf
über die Aufnahme eined Aufjages immer erjt auf Grund einer j
Prüfung erfolgt.
Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite ded Papi
jchrieben, paginirt fein und einen breiten Rand haben.
NRezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbudhhand!
Dorotheenjtr. 72/74, einzufciden.
Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück,
Berlin -Charlottenburg, Knesebeckstr. 30.
' Verlag von Georg Stilke, Berlin NW, Dorotheen-Strasse 72/74,
Druck von J.S,Preuss, Berlin SW. Kommandantenstr. 14,
circa TO gr. irca 875 gr. enthaltend
zu 50 Pf.. zu 430 Pf.
a. an
AR — ———
* ren Hauptniederlagen in Perlin ber Herren:
, J.F.Heyl&Co., Dr.M.Lehmann,
3 — W., Charlottenstr. 66 C., Heiligegeiststr. 43/44
Ap jötlheken und Drogerien erhältlich. [,‚eere
2, Pr, pros: Stick zurückgenommen
zu Fr Biliner Sanerbrunn >owonneneı
stilles de Bilin
(Biliner Verdauungszeltchen)
a eliches Mittel bei Sodhrennen, Magenkr — Blähsucht
— bei Maxrenkatarrlien, wirken überraschend bei
ı im kindlichen Organismus
srl D Hals zufnlen sitzender Lebe
emptehlen.
X ken Mineralwasser-Handlungen, in den Apotheken und
Droguen-Handlungen.
Brunnen-Direction in Bilin (Böhmen).
3
Be ,, Bu J
Geheimrath Prof. OSCAR
0
— .
Er
sehreilt in _, Three freien N DL 4
„Ein derartig brauchbares W
„Für langere Trinkcuren,
„Zur Regulirung des Stofiwec
‚„‚ Bei Fettleibigkeit, chronise he
„Bei Hamorrhoidalleiden
„Als besonders geeignet zu &
Professor Dr. LANCEREAUX,
rule J Yırleet — —— er j
| „Gerade dieses Wasser eignet &
„Für die Behandlung chronische
Verdient eine Ausnahmestellümg
in der hydrologischen Therape
ENTHÜUMERIN UND BRUNNER
[EN-GESEL SE
I
j
Drogie Le
(lern.
er
Dom deutfchen Gott.
Bon
9 Gallwitz.
Der Gott, welcher unjern Borvätern von den chriftlichen
Miſſionaren verfündet worden iſt, war zunächit ein fremder Gott.
Nicht der Gott, welchen Jeſus Chriſtus verfündigt hat, jondern der
Gott, welchem die römiſch-katholiſche Kirche diente. Dieje jelbjt
hat mit ihrer Gotteslehre eine Erbjchaft von der griechijchen Kirche
angetreten, aber nicht ohne diejes Erbe jelbjtändig umzugejtalten
und zu mehren. Ehe von dem deutjchen Gott geredet werden fann,
wird es nöthig jein, von dem griechischen zu handeln.
Für das Verjtändnig des griechifchen d. h. des Platonijc)-
Pythagoreiſchen Gottesbegriffs tt feitzuhalten, daß die Griechen
fein Ziel für die Fortentwicklung des Menjchengejchlechts und feine
daraus jich ergebenden Aufgaben fannten. Die Abgrenzung der
Völker jchien ihnen ebenjo eine unverrüdbare Naturordnung zu
jein, wie die Gliederung der Stände innerhalb der Bürger chaft
und die Nothwendigfeit des Sklavenjtandes als der breiten Grunde
lage für das bürgerliche Gemeinwejen. Der Gedanfe, den Gegen
ja von Freien und Sklaven zu verwijchen, jchien ihnen ebenjo
unvollziehbar, wie die Aufhebung des Nangunterjchtedes zwiſchen
Griechen und Barbaren. Die jittlicfe Weltordnung in ihrer da=
maligen gejchichtlichen Ausprägung galt als eine unabänderliche,
die Hauptfunftion der oberiten Gottheit war die Gerechtigkeit,
nämlich die Pflicht, die gegebenen Grenziteine zwijchen den einzelnen
Völfern, den Ständen und den damaligen Normen von Gut und
Böje unverrüdt zu erhalten.
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 25
386 Bom deutſchen Gott.
Was für ein Interejje konnte dann noch vorliegen, die Idee
einer über der Welt thronenden Gottheit auszubilden, wenn es feın
Ziel gab, dem die Gejchichte entgegengeführt werden jollte? Kein
anderes als das Bedürfniß, die Widerfprüche und Mängel, welche
allen irdijchen Dingen anhängen, abzujtreifen und mit der logijch
gejchulten Denkkraft zur Idee eines höchiten, in ſich widerjpruchs-
freien göttlichen Wejens aufzufteigen. Die Gottheit mußte die
VBerförperung des nad) der Schäßung des Philojophen höchiten
Organs des Menjchen, der Denkkraft werden; die Weltanjchauung
jelbjt konnte nur eine äfthetijche nicht eine teleologijche jein. Bier
liegen die Wurzeln der Platoniſchen Ideenlehre jowie die Triebfräfte
ihrer Fortbildung zum Neuplatonismus, und hieraus will das
Wejen des griechiichen Gottes verjtanden werden.
Der Mann, welcher ihn in die firchliche Glaubenslehre ein—
gebürgert hat, mag er auch jelbjt darüber zum Ketzer geworden
jein, ijt Origenes. Der Grundgedanfe jeines Syſtems it: Gott iſt
reiner Geift, daher unmwandelbar und nur durch das Gejet der
logischen Nothwendigfeit beherricht. Von Ewigfeit hat er alle
Dinge, auch den Fall der Menjchen vorhergewußt, welcher, da
Gott durch feine außer ihm befindliche Kauſalität eingejchränft jein
fann, auch von Ewigfeit gewollt und nothwendig gewejen iſt. Die
Schöpfung diejer Welt, die den Menjchengeijt zu einem natürlich:
jinnlichen Leben nöthigt, it ein Strafaft für den vorzeitlichen
Sündenfall, und das Erlöjungswerf bejteht nicht in einer fittlichen
Neujchöpfung, jondern in der Erhebung des Geijtes über die Biel:
heit und Unruhe der natürlichen und gejchichtlichen Welt. Nüdfehr
zum reinen Geift, Anjchauen der Ewigfeit Gottes ift der Weg zur
Heiligung und Seligfeit. In dem fünftigen Zuftand der Vollendung
wird für die erlöjte Seele auch die bunte Fülle der verjchtedenen
räumlichen Anjchauungen und Formen untergegangen jein, ſie
wird in der einzig vollfommenen, reinen Form erjcheinen, der
Kugelgeitalt.
Da göttlich Ewiges und gejchichtlich Menjchliches grundjäglich
unvereinbar jind, muß auch das Erlöjungswerf Chriſti ebenjo wie
der Sündenfall in die Ewigfeit zurücdverlegt werden. Das chrijto-
logische Problem tt das der ewigen Zeugung; Jeſus Chriftus iſt
wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigfeit geboren, er ijt die Idee,
durch deren Anjchauen jich der Menſch über die Sündhaftigfeit und
Bergänglichfeit jeiner Natur erhebt und die Gewißheit jeiner Er-
löjung in fi) aufnimmt. Sind nicht die göttlichen Eigenjchaften
Vom deutfhen Gott. 387
der Allgegenwart, Allwifjenheit, Allmacht, Unveränderlichkeit, kurz
die Züge des reinen Geijtes in Jeſus Chrijtus nachzuweiſen, jo
ift den Menjchen die Hoffnung auf ewiges Leben und Theilnahme
an der göttlichen Natur abgejchnitten.
Aus diefem griechiichen Gottesbegriff find die theologischen
Probleme herausgewachjen, welche bis in die neueite Zeit das
Denfen der Dogmatifer bejchäftigt haben: die Lehre von den gött-
lichen Eigenjchaften, der Trinität, der Schöpfung aus Nichts, die
Lehre der zwei Naturen in Chriftus, die von der Prädejitination
und der Unfreiheit des menjchlichen Willens, d. h. der Unverein-
barkeit des menschlichen Willens mit dem göttlichen, endlich auch
die Lehre von dem Wirken des Geijtes durch die Saframente. Der
Weg zu Gott iſt für die Gebildeten das philojophijche Denten,
welches jich mit der Kraft des heiligen Geijtes dedt. Ihnen ver:
bürgt die in Chrijtus gejchenfte reine Gotteserfenntnig Erlöſung
und ewige Leben, während für die ungebildete Menge in der
Myſtik und in der Asfeje die Wege vorgezeichnet find, auf welchen
jie aus der Welt des wechjelnden und aufregenden Scheins flüchten
und zum Genuß der ewigen Ruhe in Gott fommen fönnen. Da
Gott als eine in fich gejättigte, unmwandelbare dee vorgejtellt
wird, jo jind gejchichtliche Aufgaben für das Reich Gottes in der
Welt nicht zu löſen. Die Natur und mit ihr der Menjchengeift
vermag nicht mit dem göttlichen Geiſt in Wechjelwirkung zu treten,
beide jind nur Spiegel, in welche die göttlichen Ideen hineinleuchten
fünnen, um die ihnen wejensverwandten Stoffe in die obere Welt
zurückzulocken. |
Der Gott der griechiichen Bhilojophie it geboren in der Zeit
des beginnenden Niedergangs der hellenischen Kultur. Die Blüte
Griechenlands war verwelft, ohne Frucht angejeßt zu haben, die
ichaffenden und gejtaltenden Kräfte waren erlahmt, als die reflef-
tirenden, anjchauenden auf den Plan traten. Da eine hoffnungs-
volle Aufgabe für die Zufunft fehlte, jo blieb auch den Göttern,
von welchen die Philojophen redeten, nichts mehr zu jchaffen übrig.
Die reiche Zeit lag rückwärts im goldenen Zeitalter; damals herrjchte
noch ein fräftigeres Göttergejchlecht, während das gegenwärtige an
dem allgemeinen Niedergang theilnahm und ebenjo wie die Philo—
jophen von des Gedanfens Bläſſe angefränfelt war.
Die Platonische Philojophie mündet daher auch folgerichtig in
das neuplatonijche Denken aus. Nachdem es auf diejer Welt den
Gegenjtand jeines Denfens und Handelns verloren hat, irrt es in
25*
388 Vom deutfhen Gott.
den weiten Himmelsräumen der Ewigfeit unjtät umher, bemüht, Die
irdijchen Sinne und das auf ihnen fich erbauende, räumlichzzeitliche
Erfennen von ſich abzuthun und ein neues Organ bei ſich auszu—
bilden, vermitteljt dejjen e8 das Ewige, Unfaßbare, Unnennbare
unmittelbar in jich aufnehmen und nachempfinden fünne. Um aber
einen Ausgangspunkt für das Denfen über die Welt zu gewinnen,
mußte der Neuplatonismus ein bejtimmtes Bild des Weltorganismus
vorausjeßen und fand es in dem römischen Weltreich, welches in
itarrer, fajt ewiger Rechtsordnung einen Theil des WVölferchaos
zur Einheit zujammenjchlog und in der äjarenvergötterung ich
als die Verjinnlichung der göttlichen Weltherrjchaft und Weltord-
nung daritellte.
Nachdem der Cäſar Chriſt und Oberhaupt der chrijtlichen
Staatsfirche geworden war, ward e8 auch dem chrijtlichen Denfen
geläufig, jeine Herrjchaft als Abbild des göttlichen Weltregiments
zu jchauen und ihn als den Wächter und Garanten der orthodoren
Lehre zu betrachten, wie es in der rujjiichen Kirche bis zur Gegen-
wart der Fall tft. Noch leichter mußte es dem römischen Bijchof
werden, nachdem er al8 Oberhaupt der abendländijchen Kirche an-
erfannt war, mit dem Anjpruch aufzutreten, Gottes Statthalter zu
jein und jein Haupt mit dem Strahlenfranz göttlicher Weisheit und
Gerechtigkeit bis zur Unfehlbarfeit zu jchmüden. Diejer Ehebund
zwijchen Neuplatonismus und römischer Weltfirche ift von Auguſtinus
eingejegnet worden und hat die Jahrhunderte bis zur Gegenwart
überdauert.
Es ijt nicht zu verwundern, daß dieje griechijche Denfart auch
in der römischen Kirche und Theologie ein unheilvolles Wirken
entfaltet hat. Der Ehriltengott wurde zu einer blutleeren greijen=
haften Gejtalt; nicht zum König, der zum Kampf aufruft, um jein
Neid) aufzurichten, jondern zum griechiichen Denfer, der jich mit
den beitehenden Berhältnifjen jo gut als möglich abzufinden und
der beitehenden Weltordnung noch möglichjt viele vernünftige Züge
abzugewinnen jucht.
Yag die goldene Zeit der Bolllommenheit am «Anfang der
menschlichen Entwidelung und durfte auf eine neue aufiteigende
Entwidelung nicht gerechnet werden, jo blieb der chrijtlichen Theologie
nichts Anderes übrig, als rückwärts zu jchauen und die Urjache,
welche den urjprünglichen Zujtand aufgehoben hatte, zu bejeitigen.
Wie fann der Siündenfall für uns aufgehoben 'werden?, jo hieß
das Thema, welches das theologijche Denfen bejchäftigte. Wie
Bom deutihen Gott. 389
fann das von Adam Gejchehene, was auf der Menjchheit ohne ihr
perjönliches Zuthun dauernd als Schuld lajtet, ungejchehen gemacht
werden? Dieje Frage beherrjchte die Gemüther derartig, daß feine
‚sreudigfeit und Kraft übrig blieben, um an die pofitive Ausbildung
der von Gott verliehenen Anlagen zu denfen. Troß aller Ber:
jicherungen, welche die Kirche in ihrer Glaubenslehre wie in den
Saframenten über die Sühnung jener anfänglichen Schuld darbot,
fam e3 niemals zu der freudigen apojtolifchen Heilsgewißheit: das
Alte it vergangen, es iſt Alles neu geworden; es ijt ein neuer
Bund gejchlofjen zwijchen Gott und den Menjchen, in welchem der
vergangenen Schuld nicht mehr gedacht werden, und ein neues,
fruchtbares Reben erblühen joll. Die Kirche ward aus einer Heils-
anjtalt mehr und mehr ein Gefängniß, in welchem die Menjchheit
jene anfängliche Schuld abzubüßen hatte, und verrannte jich der—
artig in ihr Mißtrauen gegen die natürliche Austattung und Ent:
widelung der menschlichen PBerjönlichkeit, daß fie ein Leben außer:
halb des Gefängnijjes nicht für möglich hielt und das Bewußtjein
verlor, daß Gott der Schöpfer, Erhalter und Regierer der Natur:
ordnung tt, und daß feine menschliche Naturanlage ohne jein
bejonderes Wirken entiteht.
Die griechiiche philojophiiche Weltverneinung und die im
römischen tatholizismus der Völferwelt aufgezwungene, die Mannig—
faltigfeit der Individualitäten in jtarrer Einheit zuſammenfaſſende
Weltbejahung find das geiſtig jittliche Erbe der alten Welt, welches
die germanifchen Völker angetreten, und von welchem jie Jahr—
hunderte hindurch gezehrt haben. Den göttlichen Herrjchaftsanjpruch
der römischen Kirche haben jie im jechzehnten Jahrhundert zurüd-
gewiejen, aber Stimmung und Art des griechiichen Denfens find
von ihnen beibehalten worden, dieſe haben noch im neunzehnten
Sahrhundert die idealiftiiche Philojophie in Deutjchland beherrjcht
und auch die Gedanken des chrijtlichen Glaubens geformt.
Luther ijt der Neformator der Stirche und der Prophet einer
neuen Zeit geworden, weil in ihm Gott jich auf eine neue un—
mittelbare Art offenbart hat, wie es jeit den Tagen der Apojtel
nicht gejchehen war. Aber zu einer in jich abgeflärten evangelijchen
Weltanſchauung hat es Luther nicht gebracht, vielmehr die Theologie
der alten Kirche unbejehens in die Stirche der Reformation herüber-
genommen.
Die freie, gläubige, fruchtbar jchaffende, chrijtliche Perſönlichkeit,
welche in Xuther zuerjt auf deutjchem Boden erjchienen iſt, bedarf,
390 Bom deutfhen Gott.
wenn jie über jich jelbjt Har werden und ſich in der Welt recht:
fertigen will, einer neuen Gottes: und Weltanjchauung im Gegen:
ja zu der griechifchen, welche Ausdruf der Stimmung der ſich
auslebenden Antife it.
Der deutjche Gott ijt nicht der gelehrte Denker, der in jeinem
Innern ein harmonijches ideales Weltbild zu jchaffen und feit-
zubalten weiß; er ijt der König oder Herzog, welcher fein Reich
aufrichtet und gegen Die Feinde der Wohlfahrt und des Lebens
zu Felde zieht. Er lehrt Güter jchaffen und rohen Stoff geſtalten,
den Urwald lichten und aus der Fülle verjchiedenen Samens den
geeignetjten und fruchtbarjten auf das Feld ausjtreuen. Er lehrt durch
Liit und Gewalt jchädliche Thiere ausrotten und dem Ungeſtüm
der Elemente Schranfen ziehen. Er will die in die natürliche Welt
wie in die Menjchenbrujt gelegten edlen Keime entwidelt und die
widerjtrebenden Kräfte vernichtet oder doch niedergehalten jehen.
Er kann nicht unterwürfige, willenloje Sklaven als blinde Werf:
zeuge in jeinem Dienjt gebrauchen, ihn verlangt nad) erworbener
Ueberzeugung und jelbjtändiger Verantwortung der Seinen.
Ebendarum fann er auch feine Sicherheit geben, daß ein bejtimmtes
Weltziel unvermeidlich erreicht werden muß, wie e8 den Griechen
fejtitand.
Nach dem griechiichen Glauben hat der Weltverlauf feinen
pofitiven Fortſchritt. Da die Erkenntniß Gottes, welche ewiges
Leben bringt, in der Offenbarung fertig gegeben tft, jo handelt es
ji) nur darum, ob eine größere oder geringere Zahl von Ehrijten
zum Genuß diejer in ſich gleichartigen Seligfeit gelangt, in welcher
die Individualität vermwijcht, und ein Geift dem andern gleich fein
wird. Nach den Inftinkten des deutjchen Glaubens läßt fich das
Neich Gotte8 nur durch einen wirklichen Kampf Chriſti und der
Seinen auf Erden aufrichten. Diejer Kampf it das Thema der
Weltgejchichte und erhält die Herzen aller Mitfämpfer in bejtän:
diger Spannung. Da es feine logische Nothiwendigfeit giebt, daß
ein bejtimmtes Ziel des Gejchichtsverlaufs erreicht wird, jondern
Gottes Pläne nur durch freie menschliche Mitarbeit ausgeführt
werden fünnen, jo it dadurch die Verantwortung und zugleich der
Wert der Einzelperfönlichfeit ins Unendliche gejteigert. Ahr iſt
Gottes Ehre anvertraut, wie dem TFahnenträger die Ehre des
Regiments und des oberiten Kriegsherrn. Der Sieg des Gottes:
reiches über das Reich der Welt kann glänzender oder dürftiger
ausfallen, die Ernte fann reicher und geringer jein. Durch menſch—
Bom deutfhen Gott. 891
liche Trägheit, Selbjtjuht und Charafterlofigfeit werden dem
Neiche Gottes unmiederbringliche Verluſte beigebracht; die Zu:
funft der Gejchichte, nicht nur des eigenen Volks, ſondern auch der
Menschheit it der Chriftenheit und jedem Einzelchriiten auf das
Gewiſſen gelegt.
Durd) dieje Ungewißheit über den Ausgang der Weltgejchichte
wird der ganze Reichthum der geiſtigen und leiblichen Anlagen
zu energijcher, Zebensentfaltung gerufen: Nicht nur perjönliche
Verantwortung und perjönliches Schuldgefühl über Verſäumniſſe,
jondern auch Freude über Erfolg, Demuth und Stolz, Furcht und
Hoffnung nicht in Bezug auf das armelige leibliche Ich, ſondern
um die Ehre Gottes und den Sieg jeiner Sache, aud) in Bezug
auf Größe und Bedeutung des Waterlandes und des eigenen
Lebenswerfes. Alles was der moderne Menjch als den bejonders
werthvollen Inhalt jeines inneren Lebens hoch zu jchägen liebt, it
aus der Wurzel des deutjchen Glaubens hervorgewachſen, den Gott
in Yuther gewirkt hat.
Aber diejer Gott jelbjt iſt zunächit ein verborgener, unbefannter
Gott geblieben, er hat nur theilweije von Luthers Berjon Beſitz
ergreifen fönnen: Gefühl und Willen hat er fich unterthan zu
machen vermocht, aber über den Kopf iſt der alte Gott der Griechen
Herr geblieben. Die überlieferten Glaubenslehren hat Luther nicht
antajten wollen, jo fühn er die ärgerliche Firchliche Brarıs befämpft
hat, welche daraus hervorgewachjen war.
Die Frage, weshalb der kühne Bibelfritifer und Bejtreiter der
Unfehlbarfeit der Konzilien nicht auch die überlieferten Glaubens:
lehren der Väter als gleichgiltig und gefährlich für den perjönlichen
Heilsglauben bei Seite geworfen hat, it pſychologiſch nicht leicht
zu entjcheiden. Luthers Schriften enthalten die jtärfiten Ausdrüde
gegen die Vernunft. Er verjteht unter ihr nicht die von Gott ver:
liehene vernünftige Ausitattung des Denkens, vielmehr hat er diejem
neben der göttlichen Offenbarung in der heiligen Schrift eine
jouveräne Stellung angewiejen. In dem Befenntnig auf dem
Wormjer Reichstag jind die beiden Fundamente, auf welche er den
Bau jeines Glaubensgebäudes ſtützt: die heilige Schrift und helle,
flare Gründe der Vernunft. Was er als des Teufels Hure be:
fämpft, iſt die entartete, verfnöcherte Vernunft, wie jie ihm in dem
entarteten, mittelalterlichen Erbe der Scholaftif und ebenjo in der
formalen humaniſtiſchen Bildung jeiner Zeit entgegentritt. Er be—
fämpft, um ein modernes Wort zurüd zu datiren, den theoretijchen
392 Vom deutfhen Gott.
Menjchen, deſſen unmittelbares Empfinden und Wollen unter der
Herrſchaft der wiljenjchaftlichen Methode verknöchert ijt, und der
darum auc das Zeugniß des lebendigen Gottes an jeinem Herzen
nicht mehr zu vernehmen vermag. Gott jelbjt hatte unter der
logijchen Zergliederung der Schultheologen jein Leben eingebüßt,
er war entweder zu einer Abjtraftion geworden, welche der gejchulte
Dialektifer nach Willfür jeinen Zweden dienjtbar machen konnte,
oder zu einem fernen Lichtglanz hoch über diejer Welt, zu dem der
Myſtiker mit jehnjüchtig ahnungsvollem Herzen aufjchaute, ohne
doch die jeltenen flüchtigen Augenblide völliger Erleuchtung und
jeligen Friedens länger fejthalten und mit den Weltaufgaben ver:
einigen zu fönnen.
Die Vernunft der Scholaftif wie die des Humanismus jind
die nachgeborenen Kinder des griechiichen Gottes, jo daß Luther
im Recht war, ihre Lehrjäge im Vergleich zu der Gottesfindjchaft,
deren er jich im Glauben unmittelbar bewußt war, wie Hurenfinder
und Teufelsbälge zu behandeln. Den altkirchlichen Lehren über
Gottes Wejen und Eigenjchaften, über die Vereinigung der gött—
lichen und menjchlichen Natur in Chriftus, über die Saframente,
bei welchen Prieſterwort den heiligen Geiſt ebenjo mechanisch mit
der Materie zujammenjchliegt, wie die göttliche und menjchliche
Natur in Chriſtus zujammengefügt tt, jah Luther diefen Bajtard-
charafter nicht mehr an, jondern behandelte fie als echte Kinder
des in der heiligen Schrift waltenden Gottesgeiites.
Auch it er von begreiflicher Scheu befangen gewejen, an Die
Nevifion und Umarbeitung der Gejammtglaubenslehre der Kirche
heranzutreten und vielleicht gerade in der Erwägung, daß dabei
der Vernunft, d. h. der jcholajtiichen Methode und dem Heiden
Aristoteles ein allzugroßer Einfluß eingeräumt werden müjje, und
der lebendige Gott, der in Furcht und Liebe ihn zu fich gezogen
hatte, jich zu einer todten Formel verflüchtigen werde.
Wenn wir erwägen, mit welchen Mitteln der nominaliftijchen
Dialeftif Luther die Konjubjtantiation jeiner Abendmahlslehre und
die in der Kindertaufe fich vollziehende Wiedergeburt zu bemweijen
gefucht hat, jo werden wir befennen müjjen: Es it ein Segen
für die weitere Entwidelung des Broteitantismus, dat Luther nicht
wie Augujtin jeine Hauptwirfjamfeit in wijjenjchaftlich-theologifcher
Schriftjtellerei gejucht hat. Es hätte noch größere Gefahr bejtanden
als bei Augujtin, daß die Stimme des Propheten von der des
Thilojophen und Theologen zum Schweigen gebracht worden wäre
Bom deutſchen Gott. 393
oder von den Epigonen überhaupt nicht mehr hätte herausgehört
werden können. Die Zeit der Reformation, welche nur in den
ſchulmäßigen Formeln des weltmüden griechiſchen Geiſtes zu denken
vermochte, konnte wohl einen neuen Glauben in ihr Herz aufnehmen,
aber ihn nicht als giltige, durchſichtige Weltanſchauung aus—
geſtalten.
Dieſe Aufgabe, deren Löſung allein der Reformation zum
Abſchluß und der evangeliſchen Kirche zum Zuſammenſchluß ver—
helfen kann, iſt in den zwei letzten Jahrhunderten wohl oft ver—
ſucht, aber nicht erfolgreich durchgeführt worden.
Der Pietismus beſaß in ſeinen führenden Perſönlichkeiten
ſtarke Kräfte, um gegen ſittliche Verbildungen den Kampf aufzu—
nehmen; er hat auch das Innenleben der Einzelſeele bedeutend
vertieft, aber alle Erkenntniſſe zu einer chriſtlichen Weltanſchauung
zujammenzufajjen, und die Olaubenserfahrungen mit den Er:
gebnijjen der Welterfenntnig zujammenzujchliegen hat er nicht als
Aufgabe anerfannt. Sein natürlicher Sohn, der Kationalismus,
welcher unter der breiten Mafje der Bevölkerung in Stadt und
Land Begeilterung für Berjtandesbildung jowie Eifer für fittliche
Zucht und ehrbares Leben eingebürgert hat, it zwar bemüht ge—
wejen, eine vernünftige Weltanjchauung zu jchaffen; da er aber
den Nuten, d. h. das jinnliche Wohlergehen der Kreaturen als
legten und höchiten Weltzwed fette und unter dieſem Gefichtspunft
die Zwecmäßigfeit des Weltalls wie der Menjchheitsgejchichte zu
rechtfertigen unternahm, fonnten jeine Ergebniſſe nicht anders als
fünjtlich) gejucht und trivial ausfallen. Sobald der Optimismus
des vorigen Jahrhunderts mit jeiner Anbetung der vollfommenen
Welt und der menjchlichen VBortrefflichfeit angefichts des Zujanmımen=
bruch$ der alten Weltordnung in der franzöfiichen Revolution das
‚seld räumte, war der Nationalismus dem Fluche der Yächerlichkeit
verfallen.
An der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts haben in
Deutfchland drei Männer: Goethe, Kant, Schleiermacher, an der
Bertiefung der fittlichen und religiöjen Ideen mit jolchem Erfolg
gearbeitet, daß die Gegenwart noch immer damit bejchäftigt ift,
aus der Fülle ihrer Gedanken Anregung und Befruchtung zu
ihöpfen. Allen Dreien ijt aber der griechiiche Gott, welchem jie
unmijjentlich dienten, verbängnigvoll gewejen, und hat die Offen»
barungen, welche der deutjche Gott unmittelbar in ihnen gewirkt
hatte, in fremdartigen Formen ausgeprägt, jo daß jie dadurch ent=
394 Vom deutfchen Gott.
jtellt und unverjtändlich geworden find und nur die Herzen derer,
welche gelehrte Bildung bejaßen, zu bewegen vermocht haben.
Goethes Jugendftreben ift ganz vom deutſchen Gott geleitet.
Fauſt im erjten Theil ringt danach, alle Anlagen und Triebe der
deutjchen Individualität in jich zu entfalten, um fie zu harmonijcher
Einheit zujammenzujchliegen und in ihrer Neinheit zu erhalten.
Der Ehebund mit der Helena hat feinen fühnen Getitesflug
gelähmt und ihn an der Abgejchlojjenheit und Selbitgenügjamteit
der griechifchen Natur Gefallen finden lajjen. In feinem Alter
läßt er fi) an dem Genuß der Elafjischen Schönheit und an der
Freude, welche technijche Betriebjamfeit gewährt, als an dem
höchſten, vollauf befriedigenden Lebensinhalt genügen, nicht ohne
Einbuße jeines Berjönlichfeitslebens. Die zarten Gewijjensregungen
der Jugendzeit find überwunden, die überweltlichen Ziele find dem
zunächjt Erreichbaren angepaßt. In der Jugendzeit wallt jein
Herz in freudigem, unermüdlichem Zufunftshoffen: der Gott, den
er im Herzen trug, hat ihn zum Kampf angefeuert gegen das in
die Welt eingedrungene Böſe und ihn mit Abneigung erfüllt gegen
den niedrigen Gefährten, der dem edlen Gottesfind in der
Menjchenjeele beigejellt iſt; ſpäter hat er die Ruder eingezogen
und den Kahn jeines innern Lebens auf dem Strom des Welt:
lebens treiben lajjen:
„Ueber's Niederträchtige nimmer dich beflage;
Denn es ift das Mächtige, was man dir auch fage.“
Er hat zwar auch im Alter innere Harmonie und tapferes
Hoffen troß verjtärkter Refignation nicht verloren, aber fie haben
ihr jicheres Fundament in dem Glauben an einen perjönlichen heiligen
Gott, der jein Gottesreich auf Erden aufrichten will, eingebüßt
und führen als Stimmungen ein unficheres, jchwanfendes Dajein.
Carlyle, nach Luther wohl der gewaltigite Prophet Gottes
unter den germanijchen Männern, hat ſich ganz bejonders an der
Hoffnungsfreudigfeit einer Goethejchen Ode aufgerichtet, welche er
den Marjch nennt, nach dem das tapfere teutonifche Geſchlecht
durch) die Dede des ihm beitimmten Abjchnitte8 der Emigfeit
marjchirt:
„Die Zukunft dedet
Schmerzen und Glüde
Scrittweis dem Blide;
Doch unerichredet
Dringen wir vorwärts.
Bon deutſchen Gott. 395
Und ſchwer und ſchwerer
Hängt eine Hülle
Mit Ehrfurcht. Stille
Ruhn oben die Sterne
Und unten die Gräber!
Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geifter,
Die Stimmen der Meifter:
Berfäumt nicht, zu üben
Die Kräfte des Guten!
Hier winden fih Kronen
In ewiger Stille,
Sie follen mit Fülle
Die Thätigen lohnen!
Wir heißen euch hoffen.“
Aber diejer Hymnus it zur WVerherrlichung der Maurer ge:
ichrieben, der Bertreter der immerhin jeichten Aufklärung und
ſchwächlichen Menjchenliebe des vorigen Jahrhunderts, welche in
Deutjchland weder durch Opferwilligfeit noch durch Heldengröße
jih einen Namen gemacht und verhältnigmäßig wenig gethan
haben, eine neue Zeit heraufzuführen.
Die jtärkite erneuernde Straft an der Wende des vorigen Jahr:
hunderts tt ohne Zweifel von der Begeijterung für den fate-
gorischen Imperativ der Kantjchen Philojophie ausgegangen. Durch)
den jtegreichen Erfolg der aus ihr herausgewachjenen Erhebung
des deutſchen Bolfes gegen die Napoleonijche Sinechtjchaft it ihr
der Stempel echter göttlicher Offenbarung aufgedrüdt. Kants
fritiiche Philojophie it nach zwei Seiten eine echte Weiterbildung
des Werfes der deutichen Neformation. Sie hat der Perſönlichkeit
die WBerantwortlichfeit zugejchoben, 1) für ihre empirischen Er—
fenntnifje, 2) für ihren moralichen Glauben. Die Erfenntnif
des Menjchen und zwar Die auf jinnliche wie auf überjinnliche
Dinge gerichtete, it damit zu einer ethischen Funktion geworden;
der Philojophie als planlojer Uebung des menjchlichen Scharfjinns
oder als Mittel, jeden beliebigen Sat als einleuchtend und wahr:
icheinlich hinjtellen zu können, ijt binfort die Wurzel abgegraben.
Aber wie bei Luther die Denkthätigfeit nicht aus den Geleijen
des griechiichen Geijtes herausgefommen tft, ebenjowenig hat Kant
vermocht, das unbedingte Soll des Sittengejeges, welches von Gott
unmittelbar in die Bruſt gelegt jein joll, mit den aus jeiner Er:
kenntnißtheorie jich ergebenden Erfahrungsjägen zu einer wider:
396 Vom deutfhen Gott.
ſpruchsloſen Einheit zu verbinden. Seine idealiſtiſche Philojophie
ift, wie fchon ihr Name andeutet, die Erbin der griechijchen Ideen,
der Denfweije des verwelfenden Heidenthums, dem die Welt ent:
göttert war, und welches nun jenjeits der wirklichen Welt jich eın
Neich der Ideen erbaute. Die platonijche Ideenlehre bedeutet für
die wirkliche Welt den Verzicht auf Weiterentwidelung; höhere Ziele
des fittlichen Lebens, welche erreicht werden fünnten, jind aus:
gejchlojien. Diejen Charakter des Fertigen trägt auch das Kantjche
Denken. Das jeweilige Inventar der Ideen der menjchlichen Ver:
nunft gilt ihm al8 das Map, wonach das Wejen des Seins zu
bemejjen und als die Form, in welche jeine Fülle hineinzuzwängen
it. Es ijt ein zeitlojes, mit der Gejchichte nothwendig auf Kriegs
fuß stehendes Denken. Da die ewigen Dinge dem Gejeß des
Werdens nicht unterjtellt jind, jo müſſen die Urtheile der menſch—
lichen Vernunft, wenn fie zur logijchen Klarheit entwidelt find, bei
Allen diejelben jein, jo daß für Jeden der Grundſatz giltig it:
Handle jo, dat die Marimen deines Thuns zur Norm einer all:
gemeinen fittlichen Gejeggebung erhoben werden fünnen. Der
menschlichen Individualität darf, weil fie nicht der reinen Vernunft
angehört jondern empirisch bedingt tt, feine Bedeutung zuerkannt
werden.
Dieje jpröde Schale griechiicher Ideen hat bei Kant ebenjo die
fruchtbare Entfaltung der in ihm zum Leben drängenden jittlichen
Kraft verhindert, wie in Luther durch die herrjchende ſcholaſtiſche
Methode die Neubildung der evangeliichen Glaubenslehre ver:
fümmert iſt. Und ebenjo it es leicht, bei der Iheologie Schleier:
machers, des genialen Erneuerers des religiöjen Empfindens, des
fräftigen Mitarbeiters an der fittlichen Wiedergeburt Deutjchlands,
denjelben verhängnigvollen Einfluß griechiicher Denkweiſe nach—
zuweilen.
Die Neligion als jchlechthinniges Abhängigfeitsgefühl von Gott
fann fich mit den fchaffenden fittlichen Kräften nicht organiſch ver:
binden und muß dieje mit jtetem Mißtrauen betrachten. An einem
Siegesfejt muß die Frömmigkeit folgerichtiger Weije trübjelig bei Seite
jtehen, weil ihr Gott die kräftigen Affefte, welche dabei zur Ent:
faltung fommen, nicht als ſich wejensverwandt anerfennen fann.
Ebenjo hält die jchlechthinnige Abhängigkeit das perjünliche Ver:
hältniß der Einzeljeele zu Gott nieder, entjprechend dem Sat des
Spinoza: Wer Gott liebt, darf nicht erwarten, dal er von Gott
wiedergeliebt werde. Den Gegenitand der Vorjehung Gottes bildet
Vom deutihen Gott. 397
nicht die einzelne geheiligte, zur Vollendung ihrer Eigenart ge—
fommene Berjon, jondern die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen,
welche ebenjo wie die Berjon ihres Stifter bei Schleiermacher alle
Merkmale einer griechiichen Idee trägt.
Die Kant-Schleiermacherjchen Gedanken haben in verjchiedenen
Schulen die ſyſtematiſche Theologie der evangelijchen Kirche das
legte Jahrhundert hindurch beherrjcht, ohme jemals fich von der
Gebundenheit des griechiichen Geiſtes losmachen zu fünnen und die
Bedeutung der menfchlichen Einzelperjönlichkeit, welche durch un:
mittelbare Gemeinjchaft mit Gott ihren jelbitändigen Wert erhält,
in der Glaubens: und Sittenlehre praftifch durchzujegen. Das
Wort von der Nechtfertigung durch den Glauben ohne des Geſetzes
Werk ift im Protejtantismus Deutjchlands noch nicht verwirklicht,
nur daß es nicht mehr das Geſetz des jüdijchen oder römijchen,
jondern des griechiichen Geiſtes ijt, welches auf uns lajtet.
Der griechijche Gott ift nicht der Schöpfer der Welt; er jteht
als Idee oder reiner Geiſt der Materie als einer fremdartigen Macht
gegenüber; er mag wohl unter bejonderen Umjtänden einmal ın
die Welt eingreifen, jo lange der Denfer durch das Schema des
Naturgejeges jich nicht gehindert fühlt, der Willkür und dem Zufall
in der Welt freien Zugang zu gewähren, aber die Grundvorjtellung
it: das Wirken der Gottheit it von allen Analogien des irdijchen
Geſchehens und menschlichen Handelns frei zu denfen. Alle räum—
lichen und zeitlichen Schranfen find aus dem Gottesbegriff zu ent—
fernen. Die Süße von der Idealität von Naum und Zeit Jind
‚solgerungen der platonijchen Sdeenlehre.
Wir Menichen find durch unjre Sinne genötigt, alle Dinge
außer uns räumlich nebeneinander zu ordnen. Da Jeder jeinen
eigenen Horizont bejitt, und es nicht ausbleiben fann, daß von
verschiedenen Standpunften aus die Perſpektiven fich verjchieben,
jo hat die Ehrfurcht vor dem überweltlichen Gott daran gehindert,
dem Raum in Gott einen Bla anzuweiſen. Man hat Gott Die
menschliche Raumanjchauung abgejprochen und die Jdealität des
Raumes behauptet, wober unbejtimmt blieb, ob der Nebeneinander:
ordnung der Dinge im Raume, welche wir durch unjere Seh- und
Tajtnerven vorzunehmen gezwungen find, auch irgend eine Qualität
oder Kraft in der Wirklichkeit entipreche. Dagegen muß fejtgejtellt
werden: der Naum, welchen unjer Auge beherrjcht, nämlich das
Sonnenſyſtem, welchem unjer Planet unmittelbar angehört, unter:
jteht einer räumlichen Gliederung, über welche jich unbejchadet der
398 Vom deutfhen Gott.
Verfchiedenheit der finnlichen Wahrnehmung genaue Urtheile be-
ſchaffen lajjen.
Wie wir die Willfür unjerer jubjeftiven Wärme: und Kälte:
empfindung durch den Thermometer regeln, d. h. eine Naturfraft
der andern zur Kontrolle jegen, ebenjo müfjen auch die ſich drehenden
GSejtirne jelbit anzeigen, in welchen Kurven jie jich bewegen, welche
Abſtände fie von einander halten und mit welcher Gejchwindigfeit
fie fich durchs Weltall bewegen. Die pünftliche Genauigkeit, mit
welcher jie den auf menjchliche Beobachtungen beruhenden Be:
rechnungen wirklich entjprechen, it der Beweis, daß die von uns
wehrnehmbare räumliche Nebeneinanderordnung der Gejtirne im
Weltall nicht eine unwejentliche Zugabe iſt, jondern mit dem Geſetz
der Gravitation und damit der Grundlage alles organischen Lebens
unabtrennbar verbunden iſt. Dann aber ift das Geſetz der räumlichen
Beziehungen zwijchen den ebenjoviele raftzentren darjtellenden Welt:
förpern auch von Gott gejchaffen und muß von ihm bei jeiner Welt:
regierung rejpeftirt werden. Das wäre ein jchlechter Meiiter, welcher
bei einem Bau bejtändig die von ihm gelegten Grundlagen ändern
müßte, um den Bau weiterführen und zum Abjchluß bringen zu fönnen.
Dagegen wird der Einwand erhoben: Gott ijt reiner Geijt
und jteht daher erhaben über der mechanischen Wechjelwirfung der
Natur. Aber diejer Einwand, der Gottes Wejen vor Vermijchung
mit der Welt bewahren will, führt dahin, auch jede Wirkung Gottes
in der natürlichen Welt und damit Weltjchöpfung, Erhaltung, Ne-
gierung, wie jie der chrijtliche VBorjehungsglaube fordert, für un:
möglich zu erklären. Iſt die Wechjelwirfung der mechanijchen
Kaufalität, welche als Vorausjegung der Natur und Grundgejet
des Seins anerfannt werden muß, nicht von Gott gejegt, jo braucht
jie aud) Gottes Gedanken nicht dienjtbar zu jein. Iſt ſie aber bei
ihrem Werden Gottes Geijt unterthan gewejen, jo darf Gott nicht
als reiner Geijt in der von Kant geprägten Wortbedeutung be-
jchrieben werden. Weil die mechanijche Kaujalität das Werf Gottes
iſt und die Züge jeines Geijtes an jich trägt, darum vermag Gott
auf ſie und durch fie zu wirfen, während er im entgegengejegten
Falle nach einer Yüde im Naturgejeß juchen müßte, um noch eine
Wirfjamfeit auf Erden ausüben zu fünnen und vor den sort:
jchritten der modernen Naturwijjenjchaft ſich in Wahrheit in den
leeren Raum jenjeit3 der Sterne zurücdziehen müßte.
Wenn der Pjalmjänger Gottes Nähe und Wirkjamfeit überall
jpürt, wohin er auch eilen mag in allen drei Dimenfionen des
Vom deutfchen Gott. 399
Raumes, jo liegt dem nicht eine mathematische Anjchauung von
der abjtraften Unendlichkeit und Unbegrenztheit des leeren Raumes
zu Grunde, vielmehr fieht er, joweit Wirklichkeit gegeben ift, auch
göttliche Wirfjamfeit. Gottes geijtiged Wejen und Wirfen wird in
den Pſalmen mit einem natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren
Prozeß verglichen, mit dem Licht, dejjen erjtes Aufleuchten nach
dem mojfaijchen Bericht das Schöpfungswerf eingeleitet hat, welches
zu erleuchten, zu wärmen, Xeben zu zeugen und zu heilen vermag.
Mögen die Alten das Licht als etwas Jmmaterielles der ftofflichen
Welt entgegengejegt haben, jo hat die genauere Forſchung dod)
diefe Scheidung aufgehoben, und läht auch die uns wahrnehmbaren
Erjcheinungen des Leuchtens und Wärmens auf den naturgejeglich
gebundenen Wırfungen eines Stoffes, des Aethers, beruhen. Sit
nun das Licht zu etwas Stofflichem geworden, jo hört es doc)
nicht auf, ein geeignetes Sinnbild der Gottheit zu jein, es bleibt
für alle Zeit das beite Abbild des Geiſtes, aber e8 mahnt uns,
daß wir den Geiſt nicht in ausjchliegenden Gegenjat zum Körper:
lichen jeten, vielmehr ihn nach Analogie des Lichtes als die feinste
Art des Stoffes und der jtofflichen Wirkſamkeit zu verftehen juchen.
Hat man früher von einem unvereinbaren Gegenſatz zwijchen Körper
und Geiſt geredet, jo fam dies daher, daß man dem Stoff das
Prädifat der Undurchdringlichkeit jeitens anderer Stoffe zujchrieb
und Deshalb dem Geist, welcher mit dem menjchlichen Leibe that:
jächlich eine Verbindung eingegangen tft, eine jchlechthin andere,
wenn auch nicht weiter vorjtellbare Bejchaffenheit als reiner Geiſt
zugejchrieben hat.
Iſt gegenwärtig der Nachweis gelungen, daß verjchiedene
Körper, welche früher als undurchleuchtbar galten, von bejtimmten,
jtofflich vorzuftellenden Lichtjtrahlen durchdrungen werden, jo tt es
auch der Phantaſie unverboten, den die Welt erfüllenden und re—
gierenden Geift, davon auch wir einen Theil in uns bejigen, als
einen allerfeiniten Stoff aufzufajien.
Dabei muß freilich davon abgejehen werden, ıhn als eine
träge, ruhende Mafje allenthalben in der Welt gleichmäßig vertheilt
zu denfen. Da er die treibende und leitende Kraft alles Werdens
it, und alle Bewegungen von ihm ausgehend zu denfen find, jo
muß er vorgejtellt werden, wie er von einem oder von verjchiedenen
Zentren ausgehend die dazwijchenliegenden trägen und dunfeln
Bartien zu bewegen und zu durchleuchten jich bemüht, wie er jic)
theilt, um von verjchiedenen Seiten einen fonzentrijchen Angriff
400 Bom deutfhen Gott.
vorzunehmen und ſich aus der Zerjtreuung wieder an bejondern
Bunften zu größeren Majjen jammelt. Die unterjchiedsloje Stetig-
feit und Gleichförmigfeit des göttlichen Wejens und Wirfens, welche
man im Snterefje der göttlichen Einfachheit und Welterhabenheit
ausgejagt hat, jteht in Widerjpruch zu der Art des natürlichen und
geichichtlichen Werdens. Nirgends in der Welt giebt es eine Gleich:
fürmigfeit des Lebens. Die Oberfläche der Erde iſt nicht regelmäßig
geitaltet und bietet daher auch nicht gleichmäßige Lebens- und
Entwidlungsbedingungen dar, weder für die Pflanzen: und Thier-
welt, noch für das gejchichtliche Leben der Menjchen. Scheinbar
regellos und zufällig geht hier und da über ein Bolf ein befruchtender
Geitesregen nieder. Hier tjt es eine einjame, riefenhafte Perſön—
fichfeit, auf der Gottes Geijt in bejonderem Maß ruht, welche aber
unveritanden unter einem Gejchlecht von Zwergen wandelt. Dort
wendet ſich der Geiſt produftiven Schaffens und fruchtbarer Er:
fenntniß gänzlich von einem Volk, nachdem es Jahrhunderte hin-
durch feinen Mangel an jchöpferiichen Geiltern gehabt bat. Bei
auserwählten Bölfern und in bejonderen Zeitabjchnitten fünnen
die erleuchteten Geijtesträger jo zahlreich jein, daß von dem ganzen
Volk oder der ganzen Zeit ein gleichmäßig heller Lichtichein aus:
jtrahlt wie von der Milchitraße, jo daß aus weiter Entfernung der
Glaube entitehen fann, es jei die Helligkeit gleichmäßig über den
ganzen Naum verbreitet, ohne von einzelnen Zentren auszujtrömen.
Eng verbunden mit Allgegenwart pflegt Allwijjenheit von Gott
ausgejagt zu werden. Soweit Gott räumlich als allgegenwärtig
anerfannt werden muß, darf ihm auch Allwifjfenheit nicht ab:
gejprochen werden. Was er geijtig durchdringt, geht auch in jein
Bewußtjein ein oder ijt bereits im Voraus darin gegeben. Die
göttliche Allwifjenheit will aber nach der Lehre der Kirche mehr
bejagen als das gleichzeitige, allbeherrichende Ueberjchauen alles
dejien, was gejchieht. Gott joll jederzeit ein Bewußtſein aller
Dinge haben, der zufünftigen ebenjo wie der gegenwärtigen. Die
Gejchichte Joll bis zum Abſchluß in allen Einzelheiten durchjichtig
vor jeinen Augen ausgebreitet liegen, die Zeit und das ihr inne:
wohnende Geſetz der Entwidlung beitehe nicht für ihn, er jehe alle
Dinge sub specie aeternitatis.
Eine jolche Darlegung hebt die Perſönlichkeit Gottes wie das
lebendige Vertrauen zu ihm auf. Ein Technifer, der eine Majchine
fonjtruirt hat, vermag das Jneinandergreifen der Näder und die
Umwandlung der zugeführten Rohſtoffe in das fertige Fabrikat in
Vom deutihen Gott. 401
zeitlofer Folge als nothwendig gegeben jich vorzujtellen. Ein
Mathematiker, der eine Riejenrechenaufgabe richtig durchgeführt hat,
vermag den Gejammtverlauf der Rechnung in einem momentanen
Anjchauungsbilde jich vorzuhalten. Jener operirt mit jtarren, ans
nähernd unveränderlichen Stoffen und Kräften, diejer mit fertigen
Begriffen und Zahlenbildern. Das zeitloje Borherjchauen des
Zieles ermöglicht jich bei beiden dadurch, daß fie nicht mit lebendigen
und unberechenbaren Sträften zu thun haben, jondern mit todten
und genau abgemefjenen Größen. Sobald eine derjelben jich ändert,
fällt auch die Sicherheit der Berechnung dahin. Wird von Gott
schlechthin ein Vorauswillen alles Zufünftigen ausgejagt, jo wird
damit der Menſch auch nur als ein todte Ziffer oder ein willen:
(ojes Rad in einer Maſchine angejehen, es wird ihm jein Erit-
geburtsrecht vor allen Kreaturen abgeftritten: jeine Individualität,
jeine Freiheit, furz jeine Entwidlungsfähigfeit und die Damit gejeßte
Unberechenbarfeit ſeines Wejens.
Der Gott, welcher jede Sünde, jede Katajtrophe von Ewigfeit
vorberjieht, it entweder ein Gott, der nur von ferne der Welt:
geichichte zujchaut, alle Ereignijje vorausweig, aber nicht im
Stande ijt, in fie einzugreifen und fie zu hindern, oder er ijt nahe,
er fönnte helfen, aber er hat feinen Eifer, fein Erbarmen.
Beide Gedanfenreihen widerjprechen den Ausjagen, welche wir
aus dem Munde der Begründer und Erneuerer fruchtbarer reiner
Sotteserfenntniß bejigen. Ihnen liegt vor Allem am Herzen, die
vertrauenerwedende heilige Perſönlichkeit Gottes zu behaupten.
Dieje haben jie mit allen Affekten ausgejtattet, welche aus dem
Augenblik geboren werden und auf der Unfenntnig der Zukunft
wie auf dem Gegenjat beruhen, den Vergangenheit und Zufunft
zur Gegenwart bilden. Gott trauert über die Entartung eines
Menſchenkindes oder den Verfall eines Volkes, er zürnt über die,
welche jeine Bundestreue verachten, er einpfindet Neue, daß er an
Unwürdige jeine Wohlthaten verjchwendet hat, er it eiferjüchtig
auf die fremden Gottheiten, denen die Liebe jeines Volkes zufällt.
Er hört nicht auf zu mahnen, zu warnen, zu jtrafen, zu tröjten,
feine Hände gegen jein Volk auszubreiten. Er thut, was nur ein
Menſch thun fann an einem Freunde, oder ein Vater an jeinem Kinde,
foweit er in deſſen Entjchließungen und Nöthe Einblid hat, um es
nach Kräften vor Sünde und Untergang zu bewahren.
Sicherlich bejigt der Gott, welcher jedes Menjchen Anlage
geichaffen, die Eltern und Boreltern geleitet hat und alle Einflüjfe,
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 26
402 Vom deutfchen Gott.
die jeine Natur bejtimmt haben, von Anfang an überjchaut, eine
vollfommenere Ktenntni des Menjchenherzens, als fie ein Menjchen:
find auch bei den nächſten Angehörigen fich anzueignen vermag.
Deshalb ijt ihm auch ein viel umfafjendere® Vorherwiſſen des
menjchlichen Entwidlungsganges eigen als unferer bejchränften
Einjicht, aber gleichwohl muß es für Gott in der Individualität
des Menjchen ein dunfles Gebiet geben, welches er mit jeinem
Vorherwiſſen nicht zu durchdringen vermag. Er mag vorausjehen,
wie dieſer oder jener Eindrud auf diejes oder jenes Individuum
wirken, und welde Stimmungen und Thaten er zeitigen wird:
aber ob die Perjönlichfeit dem Eindrud fich treu und gemwifjenhaft
bingeben und ihn in Wirkjamfeit umfegen, oder ob fie träg und
gleichgiltig alsbald in ihre Nuhe zurüdfehren und die Wogen der
innern Erregung alsbald durch die Deltropfen äußerer Nücdhjichten
aufhalten und glätten wird, iſt nicht vorherzujehen.
Ohne dieſe Schranfe giebt es für uns Menjchen feine
Sittlichkeit, fein Fürchten und Hoffen, feine Opferfreudigfeit und
Hingebung, weder Glauben noch Treue. Wenn dieſes unjer
Slaubensleben uns immer mehr gottähnlih macht, jo iſt der
Schluß nicht abzuweijen, daß auch in Gottes Geijt, wenn in ihm
Glauben und Hoffen wohnen ſoll, eine Schranfe jeines abjoluten
Vorherwiſſens gegeben jein muß.
In dem menschlichen Geiftesleben it das Wiſſen eine Begleit-
erfcheinung des aus der dunfeln Tiefe der unbewußt triebhaften
Negungen aufiteigenden Wollens und Handelns. Wir fordern, daß
ein Mensch jeine Triebe möglichtt vom Bewußtjein durchleuchten
und klären lajje, ehe er jie in Thaten umfegt. Wir erfennen
wohl bei jchöpferischen Geiltern ein Wirfen an, weldyes über die
bewußten Regeln und Grundjäte und Einfichten hinausgeht; aber ein
dauernder Zwiejpalt zwijchen Wiſſen und Wollen darf bei einer
menjchlichen Berjönlichfeit nicht angenommen werden, jie würde
damit den Charakter der normalen Gejundheit verlieren. Wo
derartige Erjcheinungen fich einstellen, deuten fie auf franfhafte
Entartungen oder vorübergehende Krijen. Wird Gott nach Art
des menjchlichen Geiſtes als Perſönlichkeit gedacht, jo darf fein
Widerjtreit zwiſchen Wiſſen und Wollen in ihn hineingetragen
werden, d. h. Gottes Entjchliegungen dürfen niemals den bewußten
Srundjägen und Erfenntnifjen widerjprechen, während es doch nicht
ausgejchlofjen it, dat es auch bei ihm ein Handeln giebt, welches
über das Handeln nach bewußten Zwedjegungen hinausgeht.
Bom deutſchen Gott. 403
Wird Gott abjolute Allwifjenheit auch in Bezug auf Die
fünftigen Dinge und insbejondere alle bevorjtehenden menjchlichen
Entjchliegungen und Thaten zugejchrieben, jo muß ihm auch uns
bedingte Allwirkjamfeit zufommen. Wider jein Wiffen und damit
auch wider und ohne jein Wollen fann auch nicht das Geringjte
gejchehen, daher ijt jeder bejtehende gejchichtliche Zuſtand auf ihn
als die letzte verantwortliche Urjache zurüdzuführen.
So iſt es thatjächlich in der unter der Tradition des Neuplato:
nismus erwachjenen Dogmatik der Fall. Die widerfinnigen Folgerungen
diejer Behauptung, daß Gott auch der Urheber der Sünde jei,
haben die Dogmatifer abzujchwächen verjucht, indem jie theils die
Wirklichkeit der Sünde geleugnet, theil8 in Gott eine Scheidung
zwijchen unmittelbarem und mittelbarem Wirfen, zwijchen Wirfen
und Zulaſſen, oder zwijchen dem Gebiet des Wiſſens und Wollens
durchzuführen verjucht haben. ine Löjung der Schwierigfeit,
welche in dem Sat von der Allwirkjamfeit Gottes liegt, ijt Dadurch
nicht erreicht worden.
Daß die Naturordnungen, joweit jie ſich den menjchlichen
Einwirkungen entziehen, ausjchließlich geleitet werden vom Willen
Gottes, der fie gejchaffen hat, bedarf feiner Erörterung. Dagegen
fordert es eine jorgfältige Prüfung, inwieweit der menjchliche
Wille dem göttlichen erfolgreichen Widerjtand entgegenzujegen ver:
mag. Die Thatjache einer jolchen Kreuzung des göttlichen Willens
durch den menjchlichen wird von der heiligen Schrift mit aller
Unbejangenheit anerkannt. Jeſus flagt über die Einwohner
Serujalems: Wie oft hab ich euch verfammeln wollen, wie eine
Henne ihre Küchlein jammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht
gewollt, und wiederholt damit nur die Klage, welche fort und fort
von den Propheten gegen ihre Zeitgenofjen erhoben ift. Die jchein-
bar entgegenftehenden Ausjagen, welche die unwiderftehliche Wirk—
jamfeit Gottes auch auf dem Gebiet zu behaupten jcheinen, welches
der menjchlichen Entjcheidung vorbehalten it, erflären jich daraus,
daß von jolchen Berjönlichkeiten die Rede iſt, welche ſich von
Gottes Geift leiten lafjen und immer tiefer in Gotte8 Gedanken
eindringen. In ihnen wirft Gott Wollen und Bollbringen nad)
jeinem Wohlgefallen; ihre Herzen lenkt er wie die Waſſerbäche.
Sie erkennen auch in jcheinbar zufälligen Erlebnifjen den tiefen
Zujammenhang des göttlichen Wirfens. David urtheilt über die
Beichimpfungen, welche er von Simei zu erdulden hatte
(2. Sam. 16, 10): Der Herr hat es ihn geheißen, um zum Aus—
26*
404 Bom deutfhen Gott.
drud zu bringen, daß er in dieſen Schmähungen den von Gott
geordneten Zujammenhang mit feinen früheren Verjchuldungen er:
blide. Ebenſo fann mit Recht behauptet werden, daß Gott die
einzelnen Menjchen auch ohne ihr Wiljen benugt, um ſie jeinen
Zielen dienjtbar zu machen. Eine ſolche Benußung menschlicher
Willenskräfte geht nicht über die Analogie der Einflüjje hinaus,
welche ein bedeutender Menſch auf das Wollen Anderer ausübt.
Endlich unterliegt auch feinem Zweifel, daß Gott in jedem Augen:
blid die Macht bejitt, die Ausführung eines menjchlichen Willens:
aftes zu hindern, da, wenn er jeine Hand von dem Menjchen ab-
zieht, deſſen Leben ein Ende findet.
Die jpezielle Frage: Wo findet Gottes Allwirkjamfeit eine
Grenze?, it auf das Gebiet des perjünlich ethijchen Lebens bejchräntt
und läßt jich auf die Formel bringen: Vermag der Menjch den
heimlichen Einwirkungen Gottes, durch welche ein erhöhtes heiliges
Leben in ihm gejchaffen werden joll, Widerjtand zu leijten oder
nicht? Jeder wird aus jeiner eigenen Erfahrung darauf bejahende
Antwort geben. Wir fünnen durch Leichtjinn und Trägheit mandıe
Anlagen unjerer Natur verfümmern und entarten lafjen, jo daß
die gejammte Perſönlichkeit minderwerthig wird. Falls ein jo
Entarteter jein Gejchi auf unentrinnbares göttliche8 Verhängniß,
auf unverbejjerliche angeborene Berbrechernatur zurüdführen wollte,
jo wird doch im Widerjpruch zu ihm Die Pädagogik wie Die
Strafrechtspflege, jede um ihrer Selbjtbehauptung willen, feithalten
müjjen, daß ein bejcheidenes Maß von Selbitzucht auch bei der
ungünjtigiten Beanlagung mitgejeßt it und durch geeignete Be
handlung gejtärft werden fann. Stommt es nicht zu diejen Aften
der Selbitzucht, jondern entartet die Perſönlichkeit weiter, bis ſie
unter die Herrichaft zuchtlojer, gewaltthätiger LXeidenjchaften oder
in geiftige Verblendung hineingerätb, jo ift auf diefem Punkt der
göttliche Heilswille in der Welt nicht durchgedrungen, und die un:
beilvollen Wirkungen, welche von dem Verhalten jolcher Perſönlich—
fetten ausgehen, find nicht von Gott gewirkt, jondern durch Wider:
ſtand gegen Gottes Willen durchgejegt.
Will man von der Wirfjamfeit der Inquifition, welche durch
Ausrottung des evangeliichen Glaubens in Spanien, Italien und
Frankreich den allmählichen Niedergang diejer Yänder verurjacht
hat, ausjagen: Gott hat es jie geheifen? Will man die plan:
mäßige Ausrottung der Indianer Nordamerifas durch den weißen
Mann, die Vergiftung Chinas durch Opium, der Negerrajien durd
Vom deutjchhen Gott. 405
Branntwein auf Gott abjchieben mit der Folgerung: Gott hat es
zugelafjen, darum entipricht es jeinem Willen, andernfalls hätte er
es zu hindern vermocht? Wir Menfchen bejiten eine weitgehende
Vollmacht, auf die Gejeße unjerer Anlage und auch des uns be—
fannten Naturzufammenhanges eine Einwirkung auszuüben, nicht
nur die verborgenen Anlagen des organischen und geiltigen Lebens
zu entfalten, jondern ebenjo auch fie zu zeritören und das ung
von Gott überwiejene Material zu verunjtalten. Gott hätte den
Prozeß der Degeneration, welcher als Thatjache vorliegt, unter:
drüden fönnen, dann hätte überhaupt das menschliche Leben aufs
gehoben werden müſſen. Läßt Gott dem Prozeß der Entartung
bis zur völligen Selbjtauflöjfung freien Lauf, jo it er nicht jchuldig
an den dadurch gewirkten Uebeln. Sie find nicht von Anfang an
mit der Schöpfung als nothwendig gejeßt, jondern fallen der
menschlichen Sünde in ihren mannigfaltigen Formen und Ab:
ſtufungen zur Laſt.
Wird dieſe Thatſache anerfannt, jo muß die gewohnte An—
jchauung von der durchgängigen Bolltommenheit in der Welts
ordnung eingejchränft werden. Der Kampf ums Dajein oder der
Kampf um die Macht ıjt eine göttliche Ordnung, er hat in der
Welt jeinen Pla behauptet, noch ehe der Menjch in ihr erichienen
it. Das organische Leben erbaut ſich auf dieſem Geſetz des
Stärferen gegen das Schwache als auf feiner heilfamen,
reinigenden, erziehenden Grundordnung und würde längjt entartet
jein, wenn es anders wäre. Daß bei der Herrjchaft diejes Grund:
gejeges in der Schöpfung immer höhere und feinere Organismen
ſich gebildet haben bis zum Abjchluß der Schöpfung, dem Menjchen,
welcher als das jchwächjte und bedürfnigreichite aller Gejchöpfe in
die Welt getreten ift und doch durch geiftige Beanlagung die Zügel
der Weltherrichaft in die Hand befommen bat, liefert den Beweis,
daß der Geijt die ſtärkſte Macht in der Welt bildet und das Gejet
der Selektion auf allen Stufen jeinem Endziel dienftbar zu machen
gewußt hat.
Dagegen verjtößt es gegen dies göttliche Grundgejet, wenn
der Menjch, der Träger des Geijtes und berufene vernünftige Herr
der Schöpfung, eine Sklave der niederen Mächte wird, um elender
und thierijcher als jedes Thier zu jein. Wohl find Unfälle, Altern
und endliche Auflöfung des Leibes unvermeidliche Bedingungen
des natürlichen Lebens, wie auch der Schmerz jeine heiljame Leben
erhaltende, vor Gefahr warnende Bedeutung im Haushalt des
406 Vom deutſchen Gott.
thieriſchen und des ſeeliſchen Lebens beſitzt. Damit iſt aber nicht
das ganze Heer von Schmerzen, Seuchen, und verunglückten
Exiſtenzen auf Gottes Weltordnung zurückzuführen. Die menſch—
liche Sünde trägt die Schuld, wenn das geſunde Blut in Millionen
verdorben iſt, wenn in manchen Gegenden bis fünfzig Prozent der neu—
geborenen Kinder innerhalb des erſten Lebensjahres wieder ſterben,
oder wenn das Durchſchnittsalter der Männer in Ständen, welche
unter ungünſtigen ſozialen Verhältniſſen leben, bis unter das
dreißigſte Jahr heruntergeht. Das unüberſehbare Heer der giftigen
Krankheiten, die ſich durch Generationen hindurchziehen, ſind nicht
Gottes urſprüngliche Schöpfung, ſie können auch wieder beſeitigt
werden, wie ſie in die Geſchichte eingetreten find. Die Welt—
geichichte hätte einen viel bejjeren Fortgang nehmen und Zeiten
prächtigerer Blüthe und reicherer Ernte aufweijen können, wenn
manche Entartungen nicht eingetreten wären.
Solche Erörterungen flingen der Gegenwart unfromm. Es iſt
ein Lieblingsjaß der dDurchjchnittlichen pajjiven Frömmigkeit: Man
muß fich in Gottes unabänderlichen Willen ergeben und auch in
jedem Leid jeinen guten und gnädigen Willen erbliden. So zu
jprechen mag vom Standpunkt des abjterbenden Griechenthums,
des Buddhismus und des Islam richtig und geboten fein, dem
chrijtlichen Glauben entjpricht e8 nicht. Wird der gefammte Welt:
(auf mit jeinen chriftlichen Berbildungen und Entartungen auf Gott
als lette und ausreichende Urjache zurüdgeführt, jo it Gott nicht
mehr als fittliche Perſönlichkeit vorgejtellt, jondern er iſt der Welt
gleichgejeßt und nur als logischer Begriff, als causa prima von
der natürlichen Welt unterjchieden. Er hat Schuld an dem lang:
jamen Fortichritt der Zivilijation, an dem Untergang zahlreicher
Völker, welche troß hoher Begabung für die Kultur feinen Gewinn
gebracht und nicht einmal vor ihrem Abjterben den Frieden einer
reinen Gotteserfenntnig gefunden haben. Seine unmittelbare
Ordnung müßte es jein, daß die geoffenbarte Religion jowohl im
alten Bunde wie im neuen die unbeilvolle VBerbildung in der
Hierarchie des Judenthums wie der römischen Kirche genommen
hat, wodurd) der Sieg des Reiches Gottes über die Erde viel
jtärfer aufgehalten iſt als durch den Aberglauben der heidnijchen
Volfsreligionen und die Verfolgungen der römischen Cäſaren. Bei
diejer Annahme würde Gott wohl der allmächtige, durch feine
ethiichen Geſetze und Nücjichten eingejchränfte griechiiche Deipot
jein, aber nicht eine PVerfönlichkeit, welche Vertrauen und Glauben
Vom deutſchen Gott. 407
und Treue fordern darf, ſo wie der Deutſche ſich nicht nur ſeinen
König, ſondern auch ſeinen Gott vorſtellt.
Hieraus folgt zugleich, daß der Glaube an eine jeden Orga—
nismus der natürlichen Welt liebevoll umfaſſende und ſchützende
Vorſehung unhaltbar iſt. Ein ſolcher liegt mehr im Intereſſe eines
gedankenloſen Optimismus als einer ihrer Verantwortung bewußten,
wahrhaftigen Frömmigkeit. Die natürliche Theologie des vorigen
Sahrhunderts glaubte beweijen zu fünnen, daß wir in der beiten
aller denkbaren Welten leben; fie hat folgerichtig zu dem Satz
von der endlichen Erlöjung und Seligfeit aller vernünftigen Wejen
fortjchreiten müſſen und für jede jchmerzliche Ziwedwidrigfeit eine
Necdhtfertigung Gottes gejucht, wobei es unmöglich war, Plattheiten
und Ungereimtheiten zu vermeiden. Die Urkunden des chrijtlichen
Glaubens wijjen nichts von einer alle Menjchen gleichmäßig ums
fafjenden Vorſehung Gottes. Nur die allgemeinen Bedingungen
des Lebens find für Alle mit der gleichen Umficht geordnet: Gott
läßt jeine Sonne aufgehen über Gute und Böje und läßt regnen
über Gerechte und Ungerechte. Eines bejonderen Schußes fünnen
jih nur Diejenigen erfreuen, welche zu den Auserwählten Gottes
gehören. Bei einem bejonders erjchütternden Unglüdsfall, welcher
im Tempel während des Opferns vorgefommen war, hat Jeſus die
Folgerung gezogen, daß der Tempel nicht mehr Gottes Offenbarungs—
ftätte und Iſrael nicht mehr Gottes Volk je. Ev. Luc. 13.
Die bejondere Borjehung, welche früher über Ijraei gewaltet
hatte, wird auf Diegenigen übergehen, welche fortan das Bolt
Gottes bilden. Die, welche durch Ehrijtus zur wahren Gottes-
erfenntniß gebracht jind und ihre Kräfte aufrichtig in Gottes Dienjt
jtellen, dürfen für ihr Lebenswerk auf eine bejondere Förderung
und Bewahrung rechnen: Ihre Haare auf dem Haupte jind alle
gezählt, über ‚ihnen wachen Gottes Engel und behüten fie auf
allen ihren Wegen. Da ihnen jelbjt ihr leibliches Wohlbefinden
nicht als höchites Gut gilt, jondern ihr Lebenswerk, dem jie ihre
beiten Sträfte weihen, jo bejigen jie die Verheißung, daß ihr Werf
gegen blinden zerjtörenden Zufall gejchügt fein, und daß auch ihr
Leben, joweit es zur Erreichung dieſes Zieles unentbehrlich it,
erhalten werden joll.
Aus dem Obigen ergeben ſich die Folgerungen: Eine gleich:
mäßige göttliche Vorjehung, welche alle Intereſſen der Menjchen
zu fürdern geneigt wäre, ijt weder verheigen noch wahrnehmbar.
Die natürliche Weltordnung erfordert von Menjchen ein bedeutendes
408 Vom deutfhen Gott.
Maß von Umſicht, Thatkraft und Selbitbeherrichung, wenn das
Leben erhalten und verfeinert werden joll. Der Leichtjinnige und
Träge wird erbarmungslos von den lebensfeindlichen Mächten ver:
ichlungen. Dagegen wird jeder Chrijt, welcher in Gottes Dienit
arbeitet und deswegen in bejonderem Maß mit Widerwärtigfeit
zu thun hat, die Erfahrung machen, daß eine bejondere Vorjehung
über ihm waltet, die ihn befähigt, auch gegen eine Welt von
Hindernifjen feine perjönlichen Zwede, weil jie Gottes Zwecke find,
durchzujegen.
Wo ein ftarfer, an eigenen Erfahrungen ſich nährender Bor:
jehungsglauben vorhanden tjt, beweiit er nicht, daß eine durch—
gängige Teleologie die ganze Welt beherrjcht, er ift vielmehr ein
individueller Erwerb diejer gläubigen Perjönlichkeit und fann nicht
ohne Weiteres von einem beliebigen anderen Menjchenfind auf die
eigene Perſon bezogen und verallgemeinert werden. Gottes höchites
auf die Erziehung freier fittlicher Berjönlichfeiten gerichtetes Wert
fann nicht jtetig und gleichmäßig feinen Fortgang nehmen, wie die
rohe mechanische Wechjelwirfnng, es ıjt abhängig von der Empfäng-
lichfeitt und Mitarbeit, welche es im Menjchen findet. Gottes
jittliches Wirfen darf weder nach phyſiſchen noch logijchen Kate:
gorien berechnet, jondern nur nach Analogie des produftiven
menjchlichen Schaffens vorgejtellt werden. Die geijtige Wirkſamkeit
einer Berjönlichfeit verläuft nicht jtetig und unveränderlich, vielmehr
bedingt durch die Anregungen, welche von der Umgebung auf fie
ausgehen. Einem Redner, Lehrer, Mujifer iſt befannt, wie durd)
eine veritändnißvolle eifrige Zuhörerjchaft die eigene Leiſtungs—
fähigfeit gemehrt wird. Je feineres Verſtändniß ein Menjch bei
einem andern findet, um jo rücdhaltlojer fann er jein Herz aus
jchütten, dadurch jeine Gedanken und Stimmungen flären, jowie
die Kraft jeines Wollens jteigern. Eben aus derjelben unerläßlichen
Wechjelbeziehung zwijchen Gottes Wirfen und menſchlichem Ent:
gegenfommen erklärt jich die Thatjache, daß die Geſchichte des
geiftig-fittlichen Lebens feine Stetigfeit aufweilt, jondern ſprunghaft
fortjchreitet.
Es ijt daher der Tod der ‚srömmigfeit, wenn Gott eine jtarre
Unveränderlichkeit zugejchrieben wird. Er würde der Sphinr gleichen,
welche mit demjelben unbeweglichen Ausdrud des Gefichts Die
Sahrtaufende der Gejchichte am ſich vorüberziehen jieht und den
Wünjchen und Enttäufchungen des Menjchenherzens nur Theil—
nahmlojigfeit entgegenbringt. Er wäre nicht ein Gott, vor welchem
Vom deutfchen Gott. 409
ein Gebet möglich wäre, d. h. auf Erhörung rechnen dürfte. Jedes
Gebet jet voraus, daß eine Veränderung in Gott vorgehen fann.
Gott wartet auf Das Gebet der Seinen, um feine Hilfe nieder-
itrömen zu lafjen, wie die Negenwolfen, welche über die Erde
ziehen, warten, daß eine von der Erde aufjteigende Strömung fie
aufhalte und ihre Schleujen öffne, während fie über wüſtem Gefilde
weiterziehen müjjen, ohne das verdurjtete Land tränfen zu fünnen.
Gottes Unveränderlichfeit — nicht in metaphyfiichem, aus dem
Begriff des reinen Seins gewonnenen Sinn, jondern in fittlichem
Sinn — iſt jeine Treue. Dieje aber ijt nicht unveränderlic),
jondern wie der Magnet in dauerndem ZJujammenhang mit Eijen,
in welches jeine Kraft übergehen fann, dieje jelbjt erhöht, jo wächſt
auch Gotte8 Treue gegen die, welche in jeinem Dienjt treu find.
Sn ihnen fann er um jo reichere Wirfungen ausüben, fie dürfen um
jo zuverjichtlicher beten und ihm Erhörung jolcher Bitten abdrängen,
an welche ein Anderer zu denken nicht wagen darf. Sie dürfen
unter Umständen bitten, daß Gott ihnen das Schwert jeiner All
macht, jeine Wunderfraft anvertrauen möge, deren Gebrauch für
jelbjtjüchtige bejchränfte Menjchen unheilvoll jein würde.
Ein Luther hat das Leben jeines todfranfen Mitſtreiters Me—
lanchthon von Gott jtürmijch fordern dürfen, wie ein bewährter
Mintiter bei jeinem Monarchen wohl die Kabinetsfrage jtellt, um
eine von ihm für unentbehrlich gehaltene Maßregel durchzujegen.
Bei der Erfranfung jeiner Tochter hat er nicht gewagt, das ihm
perjünlich teure Leben von Gott zu fordern.
Solche lebensvolle perjönliche Wechjelwirfung zwijchen Gott
und Menjch ijt das Merkmal des deutichen Glaubens, der bejondern
Offenbarung Gottes in der deutjchen Individualität. Der deutjche
Gott hat innerliches jelbjtändiges Berjonleben gewirkt in der Fülle
von originalen Anlagen und Charakteren, durch welche unjer Bolt
ausgezeichnet gewejen it. Er hat gewohnt in der unendlichen Zahl
der geijtlichen und weltlichen Liederdichter, welche alle natürlichen
Stimmungen der Seele mit Frömmigkeit zu durchdringen und zu
heiligen gewußt haben: Geduld und Ergebung im Leiden, todes-
verachtenden Muth und Kampfesluſt, Troß gegen brutale, hierarchijche
Gewalt und Berachtung aller freiheitsfeindlichen Mächte, inniges
Naturverjtändnig und jprudelnden Uebermuth, zarte Minne und
eheliche Liebe. Ja jelbit die das Leben erhöhenden Wirfungen des
Weines haben die Seele von E. M. Arndt in Andacht zu Gott
erhoben, jo daß er von dem edlen Geift des Traubenblutes rühmt :
410 Vom deutſchen Gott.
„Es wäre Glaube, Liebe, Hoffen und alle Herzensherrlichkeit
Im naflen Jammer längft erfoffen, und alles Leben hieße Leid,
Märft du nicht in der Waffersnoth des Muthes Sporn, der Sorge Tod!“
Und Fr. v. Hardenberg fann Sich die Seligfeit des künftigen
Lebens nicht vorjtellen ohne die verflärende Wirfung eines neuen
edlen Tranfes :
„Die Sternwelt wird zerfließen zu golbnem Lebenswein ;
Wir werden ihn genießen und lichte Sterne fein.“
Die Stimme des deutjchen Gottes klingt ſeit zwei Jahrhunderten
fait ohne Pauſe aus den Tonjchöpfungen der großen Ddeutjchen
Muſiker heraus. Nicht nur die Protejtanten Händel und Bad,
auch der Katholif Beethoven beweijen, daß dieſer Gott auch in
Zeiten des Niederganges und jeichter Aufklärung in dem deutjchen
Bolfe gelebt und in den Herzen jeiner auserwählten Propheten
Klänge von jolcher Majejtät und Stlarheit, Tiefe und Sehnjucht zu
weden vermocht hat, daß alle Völker der Welt mit frohem Staunen
herbeieilten, um zu laujchen und ihm die Ehre zu geben.
Derjelbe Gott hat den deutjchen Denkern fich perjönlich offen-
bart, jo daß fie ihn in ihren Willen aufgenommen und jeine
majejtätijge Nähe in Ehrfurcht angebetet haben ; aber fie haben
bisher in fremden Zungen von ihm geredet, es iſt ihnen noch nicht
gelungen, den Gebildeten und Ungebildeten unjeres Volks Gottes
Wejen und Wirken in anfchaulichen Bildern überwältigend vor
Augen zu führen. Gott al$ „Ding an jich“ als „reiner Geijt“ mit
den unperjönlichen, abjtraften PBrädifaten des reinen Seins: der
Allgegenwart, Allwiffenheit, Allwirkſamkeit, Unveränderlichkeit hat
als unheilvolles Erbe des griechischen Volkes Denken und Ausdruds-
weije der idealiftiichen Philojophie beherricht, jo lange dieje lettere
jelbjt die Herrichaft behauptet hat.
Im legten Menjchenalter hat in Folge des Aufblühens der eraften
Naturwiſſenſchaft eine andere Grundanjchauung von der Welt jich
im öffentlichen Bewußtjein eingebürgert: der Materialismus. Er
bildet die nothwendige Neaftion gegen die in der idealiſtiſchen
Philoſophie ausgejprochene Verachtung der Materie und hat diejer
zu der ihr gebührenden Bedeutung zu verhelfen gefucht, nicht ohne
in der Belämpfung des reinen Geijtes die Materie zu einer ebenjo
unbrauchbaren Abjtraftion zu machen.
Was iſt die Materie ? Diejes große Näthjel hat man damit
zu löjen verjucht, daß man die allergröbjte und roheite Wirfungs-
form der Natur, die mechanijche Kaujalität, welche bei feinem den
Vom deutſchen Gott. 411
Sinnen wahrnehmbaren Vorgang geleugnet werden fann, als die
einzige Wirfungsart der Materie anerkannte und aus blinder, ſinn—
lojer mechanischer Staujalität allein den geheimnigvollen Aufbau
aller Yebensorganismen bis zum Menjchen und auc) den aufiteigenden
Lauf der Menjchheitsgejchichte abzuleiten, um nicht zu jagen zu er—
flären, verſuchte. Es iſt dies diejelbe Anmaßung, welche fich in
Spinozas tidealijtiichem Syitem offenbart, alle Vorgänge der wirf:
lichen Welt aus den zwei geiftigen Wbjtraftionen, Denken und Aus:
dehnung, zu fonjtruiren. Beidemal ergiebt ſich eine Welt der Ein—
bildung, welche der Wirklichkeit nicht gerecht wird.
Der jetige Materialismus jteht, wenn er auch theoretijch gegen
den Glauben an Gott eifert, gleichwohl Gott näher als die jogen.
pofitive idealijtiiche Philojophie. Er jett einen angeblid) uns
vernünftigen Urftoff voraus, durch dejjen Bewegungen alle Dinge
entjtanden find, und zwar ohne daß ein nach Analogie des Menjchen
gedachter Geiſt mitgewirkt hat. Aber die der Materie innewohnende
Unvernunft it viel weijer als der menjchliche Geijt, fie iſt von einer
Zwedmäßigfeit bejeelt, welche das menschliche Denken noch immer
nicht voll und ganz ergründet hat. Sie hat das Licht des Geijtes
aus dem Menjchenleib hervorbrechen lajien und hat den Menjchen,
das empfindlichite, Hilfsbedürftigite aller Gejchöpfe, in die Herrichafts-
itellung über die Schöpfung erhoben. Wenn die geiftigen Heroen,
welche durch jchöpferifche Gedanfen eine neue Zeit heraufgeführt
haben, mit ihrem Vertrauen auf den möglichen Fortgang der Welt:
gejchichte zu Ende waren, dann hat dieje „blinde Materie” immer
noch neue Ziele und überrajchende Wendungen bereit gehabt.
Diejer Materialismus it frömmer als eine idealiftiiche Philo—
jophie, welche von dem griechischen Dualismus den Ausgang ihres
Denfens genommen hat und darum nie dazu gefommen it, Natur
und Gott in eins zu jchauen.
Die von dem Materialismus gepredigte Sittenlehre nennt ſich
Egoismus im Gegenja zu der vom griechiſchen Geijt gepredigten
Abtödtung des individuellen Selbjt, mag dieje fich durch leibliche
Asfeje oder durch Aufopferung der perjönlichen Affekte und eigenjten
Initinfte im Dienſt des überweltlichen Denfens vollziehen.
In dieſem Gegenjat bezeichnet der Egoismus eine vertiefte
Sittlichkeit. Gilt das Denken als das die Menjchen zu Gott
erhebende Clement, jo it für die Entfaltung der menjchlichen
Eigenart fein Raum mehr, in der Beziehung zu Gott jind
alle Menjchen gleich, da ſie alle diejelbe vernünftige Aus:
412 Vom deutjhen Gott.
jtattung des abjtraften logischen Denkens empfangen haben. Die
jeßige chriftliche Sittenlehre ijt dadurch, daß jie aus dem griechtijchen
Denfen herausgewachjen ijt, nicht nur mit den Ausſagen Chriſti
in Widerjpruch gefommen, jondern auch außerordentlich langweilig
und widerjpruchsvoll geworden. Daß die chrijtliche Religion die
Gleichheit der Menjchen vor Gott lehre, it eine der landläufigen
Lügen, welche nur durch die philojophijche Verbildung der chriſt—
lichen Religion erflärlich it. Das Chriſtenthum der heiligen Schrift
it weit davon entfernt, die Menjchen als vor Gott gleich anzu:
jehen oder von dem unendlichen Werth einer jeden gejchaffenen
Menjchenjeele in Gottes Augen zu reden. Es fennt eine fleine,
verhältnigmäßig feine Schaar von Auserwählten Gottes. Wer
jich gegen das Evangelium verjchließt, iſt und bleibt im Tode, er
bringt es nicht zu der mit der Gottesfindjchaft bezeichneten
Berjönlichfeitsbildung und befigt feinen Werth in Gottes Augen.
Die chriftliche Religion will eine Scheidung unter den Menschen
herbeiführen, die tiefer und jchärfer iſt als alle natürlichen Unter:
ichiede. Sie fann daher auch nicht gegen alle Menjchen diejelben
Pflichten predigen. Gegen den chrijtlichen Bruder fordert jie Yiebe,
volle Herzensgemeinjchaft und die dazu gehörigen VBorausjegungen:
Offenheit und Vertrauen; gegen „Jedermann“ iſt nur ein ehrerbietiges
Verhalten, unter Umjtänden hilfreiche Barmherzigkeit gefordert.
(1. Betr. 2,17.) Wenn von der Feindesliebe die Rede iſt, wie in
dem befannten Spruch: Liebet eure Feinde u. j. w., jo ijt damit
nicht ein allgemeines jtetiges Verhalten gegen Jedermann be:
zeichnet, jo wenig wie mit den Borjchriften: So dir Jemand
einen Streich giebt auf den rechten Baden u. j. w.; Diele
Mahnungen wollen für die Fälle, in denen ein Chriſt unter
der Bosheit eines ihm perſönilch mißgefinnten Gegners leidet,
ein Mittel und zwar das allerfräftigite angeben, um feurige
Kohlen auf das Haupt des Feindes zu jammeln und jein SDerz
zu überwinden.
Die ganze Sittenlehre des biblischen Chriſtenthums fann ın
dem Schema des Egoismus dargejtellt werden: Laß dein Ic,
deine Perjönlichfeit zur möglichiten Entfaltung fommen nach dem
Bilde des vollfommenen gottähnlichen Menjchen Jeſus Chriitus.
Paulus it jo wenig ein Gleichheitsapoftel, daß er die Chriſten
in Korinth) ermahnt, alle Kräfte anzufpannen, um Andere zu
iibertreffen und vor ihnen mit bejonderer Würde befleidet zu
werden, wie es den Siegern bei den Iſthmiſchen Spielen zu Tbeil
Vom deutfhen Gott. 415
wurde. Ebenjo haben wir ein Wort Chrijti, welches als jelbit-
veritändlich vorausjegt, daß es auch im ewigen Leben Unterjchiede
des Ranges und Ehrenpläße zu jeiner Rechten und Linken geben
wird. Dieje zu erlangen, hängt aber nicht allein ab von dem
Map des Eifer und der geijtigen Kraft, die Jemand im Dienit
Gottes aufwendet, jondern wejentlich von der geijtleibluhen Aus—
ftattung, die er von Gott empfangen hat. (Matth. 20, 23.)
Es iſt ein jeltfames Verhängniß, daß dieje biblijchen Gedanfen-
reihen über den Kampf um die Nusleje nicht durch die Predigt der
Ktirche, jondern erjt durch Vermittlung der materialiftiichen Natur:
wifjenjchaft unjerm Bolf befannt geworden find und noch immer
vom Bewußtjein der Kirche als unchriftlich geächtet werden. Als
Ausdrud der chriftlichen Sittenlehre findet man fajt durchweg bis-
ber eine Anjchauung, welche eine fräftige Entfaltung der In—
dividualität für gefährlich) anjieht. Demüthige Ergebung in die
Verhältnifje, Zufriedenheit auch mit unmwürdiger Lage, ein gleich:
mäßig auf alle Mitmenjchen vertheiltes Wohlwollen, Bedürfnik-
lojigfeit für die eigene Perſon, eine gleichförmige Gemüthsrube,
welche fich von Höhepunften und Tiefpunften der Stimmung, von
kräftiger Liebe und fräftigem Haß möglichjt weit entfernt hält, find
ungefähr die Grundzüge in dieſem Sittlichfeitsideal, welches viel:
mehr den Lebensinterejjen eines Diogenes als eines chritlichen
Apojtels entipricht.
Im injtinktiven Gegenjat dazu verlangt der Protejtantismus
der Gegenwart nach Entfaltung der Individualität des Einzelnen,
nach Behauptung der Standesinterejjen, Sicherung der materiellen
Lage, Erhöhung des Einfommens, um an den Gütern des Lebens
in höherem Grade Antheil zu gewinnen und größere Macht aus:
üben zu fünnen. Nicht nur der Gelehrte ſieht jeine Wiſſenſchaft als
Mittel an, das ihm zur Macht verhelfen joll, auch die evangelijchen
Pfarrer treten mit gutem Gewiljen zu Verbänden zujammen, um
ihre Standesinterefjen zu jchügen und ihre materielle Yage zu ver:
bejjern. Mag dieje Erjcheinung von Vielen als Zeichen des Nieder:
gangs von der früheren Höhenlage des Idealismus verdächtigt
werden, jo fann jie mit demjelben Necht auch als die Bor:
bedingung einer fraftvolleren, glaubensfroheren Sittlichfeit ge—
deutet werden. Der deutjche Gott erjcheint aufs Neue auf dem
Kampfplatz, um fein Volk aus dem geiltigen Dienjthauje zu führen
und von dem fremden Geſetz eines vergangenen, abgejtorbenen
Zeitalters zu befreien.
414 Vom deutfhen Gott.
Mögen auch zur Zeit gewaltige führende Geijter fehlen, jo tt
doch der Blid der großen Mafjen nicht mehr rüdwärts, jondern
vorwärts gerichtet. In den breiten Schichten unjeres Volks it
eine Thatkraft erwacht, wie fie bisher nur bei unjeren angel»
ſächſiſchen Stammesbrüdern befannt war. Die weibliche Jugend
fühlt in fich Kraft und Freudigkeit, ſich neue Arbeitsgebiete zu er-
jchliegen und jcheut nicht zurüd, auch den Konkurrenzkampf mit
den Männern aufzunehmen. Die Knaben, welche früher nur ihre
Phantafie mit Lederjtrumpfs und Robinjons Abenteuern genährt
haben, während jie dabei von ängjtlicher Scheu bejeelt blieben, aus
den gewohnten, ficheren, heimathlichen Berhältnijjen herauszutreten,
haben begonnen, ihre Thatkraft zu üben, um ihre perjönliche
Leiltungsfähigfeit zu erhöhen. Mag aud) der Eifer für das Sport-
wejen jich noch nicht aus der Periode jeiner Kinderkrankheiten
herausgearbeitet haben, jo hat er doch einen frijchen, hoffnungs—
rohen Geiſt bei der Jugend geweckt, der geeignet it, Die geijtige
Sticluft des Rauchens, Biertrinfens und Startenjpielens, die in
den früheren Jahrzehnten die Atmojphäre der deutjchen Jünglinge
und Männer während ihrer Erholungszeiten bildete, zu vertreiben
und die Brujt tiefer aufathmen zu laſſen. Endlid hat den
Arbeiteritand ein heißes Verlangen nach allgemeiner Bildung und
itraffer Selbjtorganijation ergriffen, und er giebt troß bedauerlicher
Ausschreitungen Proben einer fittlichen Kraft, welche die oberen
Stände theils mit Bewunderung, theils mit eiferfüchtiger Sorge erfüllt.
Das neuerwachte, auf zukünftige Ziele gerichtet, jeiner Kraft
frohe Streben hat zunächjt nichts mit chrijtlicher Frömmigkeit zu
thun, es fühlt jich injtinktiv im Gegenjag zu einer Kirche, welche
die alte gute Zeit rühmt, gern in der Sprache der Vergangenheit
redet und Beugung unter die Erfenntnigformeln und Symbole
vergangener Jahrhunderte vorschreibt. Die neue zum Licht der
Welt erwachte Ihatkraft weiß noch nicht, daß. alle neuen geijtigen
Lebensfeime von Gott gepflanzt werden, und daß jie jich nur
dann fruchtbar und jchön entfalten fünnen, wenn ihre Art, Her—
funft und Beltimmung vom Bewußtjein richtig erfaßt werden.
Bisher ijt meiſtens nur, wenn es ſich um Entjagen, Selbjtüber:
winden, Kampf gegen die Natur handelte, von Gott und Gottes
Gebot die Nede gewejen; dazu muß die Ergänzung gefügt werden:
Auch die jchaffenden, erneuernden, begeijternden Lebensfräfte in
uns jind Gottes Werk, in ihnen joll Gottes Nähe ebenjo empfunden
werden wie in Heimfuchungen des Leidens. Dann wird das Wort
Bom deutfhen Gott. 415
Gottes nicht als läftiger Zwang, jondern als frohe Botjchaft ver-
fündigt wie einjt in der Fülle der Zeit.
Wenn gegenwärtig ernite Stlagen laut werden, daß unter den
Deutjchen feine führenden Geijter von weltumfajjender Bedeutung
zu finden jeien, und daß auf dem Gebiet der Künſte und Wiſſen—
ichaften die Deutjchen im Niedergang begriffen jeten und hinter
andern Nationen zurüdtreten, jo mögen die Thatjachen zugegeben
werden, aber jie rechtfertigen nicht das tiefe Verzagen, aus dem
die Klagen entjpringen. Der deutjche Geiſt hat alle feine Kräfte
anzujpannen, um in wirthichaftlicher Betriebjamfeit, in fühner
Unternehmungsluft, in organifjatorischer Selbitzucht den angel»
jächjischen Vettern nachzufommen; ihm fehlt jet das gejättigte
Behagen und der abgejchlofjene Horizont, welche zu künſtleriſchen
und wijjenjchaftlichen Leitungen erften Ranges unentbehrlich find.
Die deutjche Kultur und zwar ebenjo auf protejtantischem wie
auf katholiſchem Boden bedarf einer neuen tieferen, unmittelbareren
Sotteserfenntnig. Sie braucht Propheten, welche den Ddeutjchen
Stämmen und Ständen zurufen:
Siehe da ift euer Gott! Er ift euch nahe, er iſt zu euch ge—
fommen in dem Ringen um die politische Verfafjung, in den blutigen
Kämpfen um die Einigung Deutjchlands, in dem fühnen Unter:
nehmungsgeift, welcher die deutſche Flagge über das Weltmeer
geführt hat, in dem milden, hochherzigen und doc) fraftbewußten
Geiſt, dem die Sozialpolitif entjtrömt ift, und auch in dem rück—
ſichtsloſen Streben nach Erweiterung der politischen Nechte, welches
die Arbeiter und Subalternbeamten durchdringt. Gott jelbjt ijt in
dieſem Sturmwind braujender Antriebe und gährender Gedanfen
zu jeinem deutjchen Volk herniedergefahren, um es aus der Stid-
luft der Niederung auf eine Höhe zu führen und ihm einen freieren
Ausblid in das neue Jahrhundert zu gewähren. „Gott iſt es, der
in euch wirfet beides, das Wollen und das VBollbringen nad) jeinem
MWohlgefallen, darum jchaffet euer Heil mit Furcht und Zittern“,
jo hat Paulus einjt den Chriſten in Philippi die Beichen der
jtürmijchen Zeit gedeutet.
Wir warten auf die Propheten, welche den einzelnen Ständen
und Gruppen unjeres Volks, joweit die deutjche Zunge Elingt, in
verständlichen, ungelehrten Lauten zurufen werden: Siehe da tt
euer Gott!
Sie werden nicht Streitfragen über die Vergangenheit hervor:
ziehen, ſondern die Zufunft deuten und mit Luft und Liebe die
416 Bom deutfhen Gott.
Gegenwart verjtehen lernen; jie werden Gott nicht durch Ueber:
lieferung in ſich aufnehmen und durch Verſtandesſchlüſſe fich feiner
vergewijjern, jondern jie werden feine Herrlichkeit mit Augen fchauen
und jein Wort mit ihren Ohren vernehmen und jeine Kraft in
ihrem Willen jpüren. Und dann wird auch an uns Deutjchen die
Berheigung erfüllt werden: Sie jollen mein Volk fein, jo will ich
ihr Gott jein!
Sigmaringen.
Die Lage in Indien und ran.
Bon
Albreht Wirth.
Die Ereignijje in Transvaal haben jchon zur Zeit des Jameſon—
Einfalles eine ungeahnte Rüdwirfung auf die politische Lage der
ganzen Welt ausgeübt: Gegenjat der Deutjchen und Briten; An:
näherung zwijchen Berlin, Paris und Lijjabon; Sinfen des englifchen
Preitiges in Süd» und Dftaften; Sympathiefundgebungen zwijchen
Deutjchen, Vlamingen, Buren und Deutjch-Amerifanern; endlich .
Beichleunigung der aujtralifchen Bundesbewegung und der Imperial
Federation in allen britijchen Kolonien. Die Wucht der jebigen
jüdafrifanischen Ereignifje wird noch viel allgemeiner und viel
jtärfer in der Weltpolitif empfunden werden. Bereits drängt Die
england=feindliche Strömung der um ihre aujtralajiatiichen und
füdamerifanischen Kolonien bejorgten Niederlande zum Zollanjchluß
an das Deutjche Reich und die burenfreundliche Schweiz denkt an
ein gleiche8® Vorgehen. Ebenjo haben Frankreich und Rußland
ſchon längjt für die Buren Stellung genommen. Die Vereinigten
Staaten jind mit ihrer Meinung und ihrem Beifall noch getheilt,
aber es läßt fich mit Sicherheit erwarten, daß die Iro-Amerikaner
für Krüger Partei ergreifen und jo den Riß in dem britijch-
amerifanijchen Einverjtändnig, den das Scheitern der fanadijchen
Grenzfommijjion und die Platform derer um Bryan und Crofer
hervorrief, noch beträchtlich erweitern werden. Für Indien vollends
wird der Ausgang der Dinge in Südafrika von entjcheidender
Bedeutung jein; da aber Berfien und Afghanijtan eng mit Indiens Ge—
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 27
418 Die Lage in Indien und Sran.
ichiden verknüpft find, auch für Iran. Die Erhebung der Zulu unter
Kekwayo wurde von hervorragenden englischen Offizieren unmittelbar
auf die Verlegenheiten, die damals General Roberts in Kabul
hatte, zurücdgeführt: ähnlich wird der Donnerhall des jegt in Süd—
afrifa ſich abjpielenden Dramas unzweifelhaft in Sübdafien jein
itarfes Echo finden.
Es wird jich empfehlen, zunächit die Beziehungen Indiens zu
Südafrifa im Lichte der jüngjten Gejchehnifje darzuftellen und dann
auf die gegenwärtige Gejammtlage in Iran und Indien einzugehen.
Wie Japan und China im reger Wechjelwirfung mit der
amerifanijchen Gegenküſte des Stillen Meeres jtehen, jo zwar, daß
viele Zehntauſende der gelben Raſſe von Aſien nach Amerika,
aber nur wenige Hunderte von Weißen den umgefehrten Weg
gewandert jind; jo hat auch die Bevölferung der jüdajiatijchen
Küjten ſtets rege Verbindung mit der Gegenküſte des Indiſchen
Ozeans im Schwarzen Erdtheil gepflegt, mächtige Auswanderungs-
tluthen nad) Afrifa werfend, aber jo gut wie feine Einwanderung
von dort empfangend. Indiſche Kaufleute bejuchten in der erſten
Zeit des Chriftentyums Abeſſynien, Somaliland, Sanfibar und
wahrjcheinlich auch jchon die Sofala und Madagaskar. Mastats
Smane errichteten im Anfang des achten Jahrhunderts mit Hilfe
belutjchijcher Söldner die Sultanate von Sanfibar und Kilwa und
brachten, die Ophirfahrten Salomos wieder aufnehmend, Gold von
Zimbabwe und der Sofala nach Indien, jowie jchwarze Sklaven
bis nach Kanton und Futſchau. Malayifche Stämme aus Inſel—
ajien eroberten im zehnten Jahrhundert*) den Often Madagastars.
Wenig jpäter jegten jich Araber im Norden der großen Inſel feit,
die fie el Komo oder Mondinjel benannten. Marko Polo weiß
vom regjten Verkehr zwijchen Südindien und Sanfibar zu be
richten. Da Gama findet in der Gegend von Quilimane gold:
beladene Dhaus, die nach Indien jegeln. So jehr war Oſtafrika
in Staatsleben, Handel und Kultur von Südafien abhängig, daß
es überhaupt gar feine andere Außenwelt fannte. Auch die An:
funft der Europäer änderte an dieſem Zujtand zunächit nur jehr
wenig. Für Portugiejfen wie Holländer waren ihre jüd- und oft:
afrifanischen Beſitzungen faſt ausschließlich Stationen der Indien:
fahrt, jet's zur Verproviantirung, ſei's als jtrategifche Puntte, um
*) Das (bisher völlig unbelannte) Datum erfhliche ih aus einer Stelle
des „Buches der Wunder,” einer arabifhen Sammlung von Schiffer
geihichten aus dem 10. Jahrh.
Die Lage in Indien und Iran. 419
das Indische Meer zu beherrichen. Das holländische Kap und
Mauritius wurden demgemäß von Batavia, und das portugiefijche
Mojambik bis in die Mitte unjeres Jahrhundert® von Goa aus
regiert. In Folge jolcher Verbindung famen muhammedanijche
Malayen nad) Kapitadt — ihre Zahl wird jetzt auf 15000 an-
gegeben — und Schaaren von Goanejen nach Moſambik. Mit
der englischen Flagge änderte ich die Lage. Europäiſche Ein»
wirfungen gewannen die Ueberhand. Allein die Hauptbedeutung
des Kaps wurde immer noch darin gejehen, daß es für den Wer:
fehr nach Aſien unentbehrlich war, jowohl vor wie nach der Er-
öffnung des Suezfanals, jowohl für Handel wie für Krieg. In
der That erwies fich die Beſetzung Südafrikas als ausjchlaggebend,
als 1357 die Meuteret in Indien ausbrach; es wird behauptet,
daß Sir George Grey, der eigenmächtig, unter bedenflichjter Ver—
antwortlichfeitt die abgelöjte Bejatung jtatt heim-, nach Kalkutta
ſchickte, das indische Neich jeinem Wolfe erhalten habe. Umgekehrt
wurden jehr häufig indifche Truppen für die Dämpfung jüdafrifa-
nischer Aufitände und Unruhen verwandt. Gewöhnlich wurden
auch die Statthalter am Kap aus Männern genommen, die
in Indien hervorragende Poſten befleidet. Im Gefolge der
europätjchen Kolonijation ftrömten jodann die indifchen Krämer
und Kaufleute noch zahlreicher nach Oſt- und Südafrika; deren
Kleinhandel von Makdiichu*) im Norden bis nach Durban it zu
Zweidrittel in ihren Händen. Indische Kulis aber gingen in
Schaaren nad) Mombaja, die Bahn nad) Uganda zu bauen, und auf
die Pflanzungen von Ujambara und Sciresland (zwiſchen Nyaſſa
und Sambeji) und nach Natal, das ein wahres Waradies für
jie geworden iſt, injofern nad) Ablauf ihres Stontraftes,
der meilt auf fünf Jahre läuft, die Kulis unter jehr günjtigen
Bedingungen ich anjiedeln fünnen. Ihre Zahl in Natal iſt raſch
im Wachjen und fann auf 90000 gejchäßt werden.**) Dieje weit:
liche Erpanjion der Inder tt von Wichtigfeit, denn Regierungen
wechjeln, aber die Mafje des Volkes bleibt und fie ift es jchließlich,
die dem Lande jeinen Charakter verleiht. Auch it diefe indiſche
Maſſe nicht leb- und hilflos, denn jie bejteht nicht lediglich aus
Sudras und Banyanen, jondern hat Männer der höchiten Kaſten
in ihrer Mitte, die regen geiltigen Austaufch mit der Heimath
*) Bon einem deutfhen Schriftiteller jüngft phantaftiih auf 1 Mill. an—
gegeben.
*") An der Somali-Küjte.
420 Die Lage in Indien nnd Fran.
unterhalten und die über alle weltbewegenden ragen wohl unter:
richtet find. Diele diejer Hindusflaufleute haben jogar in den
Augen der Buren Gnade gefunden, die ja jonjt auf „Kleurlinge“
ichlecht zu jprechen find. Merfwürdig it, daß gelegentlich Aighanen
jich den auswandernden Hindu anjchliegen, freilich nur, um, jobald
fie etwas Geld verdient, in die ferne Heimath zurüdzufehren.
Nach den Erwerb juchenden Zandsleuten, den Kaufleuten, Haufirern,
Handwerkern und Pflanzungsarbeitern fommen als flüchtige Gäjte
indifche Soldaten nad) Afrifa, zumeist Sikhs aus dem Pendichab.
Sie wurden zuerjt von Mac Donald in Uganda, dann in den Kämpfen
gegen die Sflavenjäger am Schire verwandt; jpäter am Nil und
als Bolizeitruppe in Matabeleland. Für diefe auswärtigen Wirr:
niffe, an denen es vollfommen unjchuldig it, muß Indien
mitzahlen, indem die Unterhaltung der indiſchen Regimenter der
indischen Staatsfafje aufgebürdet wird. Im Krieg gegen die Buren
jollen jedoch Feine farbigen, jondern bloß anglo:indische Truppen
verwendet werden, angeblich) um nicht Eingeborene daran zu ge
wöhnen, gegen Weiße zu fechten — ein Grundjag, den England
oft genug verlegt hat, denn am Ohio hat es Nothhäute gegen die
Franzoſen geführt, am Ganges Sepoys gegen Holländer, Deutjche
(Oſtende-Kompagnie) und Franzoſen benußt, am Oranje die Bajuto
den. Buren entgegengeworfen. Auch rechnet man jtarf auf die
Sikhs und Gurkhas gegen die Ruſſen. Der Grund ijt vielleicht,
daß man feine Zeugen etwaiger Niederlagen haben will.
Bon anglosindijchen Truppen jollen im Ganzen 17 000 nad)
Durban verjchifft werden. Die Mobilijation derjelben und ihr
Transport ijt, joweit ausgeführt — zur Zeit, daß ich jchreibe,
7000 Mann — viel glatter und jchneller von Statten gegangen,
al8 dies die Militärbehörden in England jelber fertig brachten.
Durch fortgejegte Grenzfriege hat die Bereitjchaft der engliſchen
Ktolonialarmee einen viel höheren Grad erreicht, als das Heer der
Heimath; jo waren die Provinzialarmeen eines Vespafian und
Severus jtet8 den Truppen der Hauptjtadt überlegen. Nur im
Sanitätswejen hat fich ein jchwerer Mangel gezeigt, da die Zahl
der anglosindijchen Nerzte unter das Minimum gejunfen, jchon vor
zwanzig Iahren für gefährlich gering erklärt wurde, und außerdem
durch die Peſt noch bejonders in Anjprud) genommen tt. Auch erlitt
die Verſchiffung der Neiterei Aufjchub, da im Hafen in Karatſchi
eine Krankheit unter den Pferden ausbrach, die man jedoch der
Dberleitung jchwerlich zur Laſt legen fann.
Die Lage in Indien und Iran. 421
Die Entfernung von 22 Prozent der weißen Truppen aus
Indien bedeutet einen militärischen Schritt von großer Tragweite.
Zu dem Zulufrieg waren mehrere anglosindiiche Negimenter ab-
gegangen und noch früher hatte Beaconsfield, ald Demonitration
- gegen Rußland bei den Präliminarien von ©. Stefano, 7000 Sepoys
nach Malta gejchidt; niemals aber fam es zu einer Truppenverjchtebung
von der Ausdehnung wie gegenwärtig. Die Frage entiteht, ob
dadurch nicht die Bertheidigung des Indiichen Reiches gegen
innere Feinde und gegen Rußland wejentlich erjchwert wird. Offen—
bar fühlen ſich die Engländer jehr ficher. Sie befürchten feine
Aufitände und willen fich im Befit einer „wiſſenſchaftlichen“ Grenze
gegen Nordweiten. Iſt das Sicherheitsgefühl gerechtfertigt? Die
stage fann vermuthlic) bloß praftijch entjchieden werden, denn
jehr bedeutende militärische Autoritäten haben erklärt, daß es Wahn—
jinn jei, an einen ruſſiſchen Angrıff auch nur im Traume zu denken,
und ebenjo bedeutende Männer haben jich dahin geäußert, daß
nicht8 Elarer, als daß ein jolcher Angriff erntlich beabjichtigt und
unabläflig vorbereitet werde. Je nachdem die eine oder die andere
Partei in England überwog, iſt man an der Nordweitgrenze vor:
oder zurüdgegangen und hat man die indijche Armee vermindert
— 1885 bloß 57000 Weiße — oder vermehrt. Die Whigs er:
achteten das Vorrüden für eine unnöthige Geldvergeudung und
eine gefährliche Herausforderung, die Tories waren meijt für eine
itarfe Bolitif. Im Allgemeinen war die Mehrzahl der Stimmen
für weije Selbjtbejchränfung; jelbjt Tory-Redner und »Schriftiteller
wiejen darauf hin, da man durch unaufhörliches Weiterdrängen
lediglich jichere Stügpunfte verlajje und ſich unnöthig exrponire.
Trotzdem iſt, wie einem verborgenen Gejeß der Schwere folgend
oder wie fortjchreitende Meereswellen, die Grenze, nach furzen
Schwanfungen und Rückſchlägen, im Wejentlichen immer weiter,
vorgerüdt. Afghaniſtan und Südwejtperjien wurden freilich wieder
aufgegeben, aber Kandahar und Schulter waren eben jowenig wirf-
liche englifche Grenzen, wie Amten® und Orleans vor einem
Menjchenalter deutjche.. Man konnte fich einfach in Afghaniitan
nicht halten, weil „eine große Armee dort verhungert, eine fleine
von den Bewohnern aufgerieben wird“. Dafür wurden 1893
Hunza und Nagar, 1895 Tichitral, 1897 Swat, im Norden und
Nordweiten von Kaſchmir angegliedert, 1898 wurde Tira gewonnen,
1899 Stelat amtlich) dem britischen Beludjchiitan einverleibt und
eine neue Karawanenjtraße von Quetta, dem jtärfiten und vor:
422 Die Lage in Indien und Iran.
gejchobenjten englijchen Waffenplag im Wejten, über Nuktſchi nad)
Mejched eröffnet. Acht Jahre früher war Quetta durch den be-
rüchtigten Bolanpaß mit der Feſtung Jafobabad und in Folge dejien
mit dem Indusgebiet mitteljt Eijenbahn verbunden worden. Auch
wurde eine jtrategiiche Bahn wejtlich vom Indus zwiſchen
Safofabad und Peſchawar begonnen und ijt zur Hälfte fertig.
Diejem, wie es nach englischen Zeugnifjen jcheinen jollte, durchaus
widerwillig unternommenen Erweitern der eigenen Grenze jteht
bloß ein höchſt geringes VBordrängen der Ruſſen gegenüber. That:
jächliche Gebietsausdehnung iſt jeit fieben Jahren im Grunde gar
feine zu verzeichnen, mit Ausnahme etwa einiger unbeträchtlicher
Bojten auf dem Pamir, nur eine große wirthichaftliche und
militärische Erjtarfung in dem bereits Gemwonnenen: die Bahn
bis Tajchfend und Andiſchan fortgejett, der Handel immer mächtiger
in DOjtturfeitan unter Verdrängung der englijchen Waaren,
Expeditionen nach dem Pamir und Ihian-Schan.
Paul Rohrbach hat in dieſen Jahrbüchern den ruſſiſchen
Standpunft dargelegt und von den Offizieren in Turkeſtan be-
richtet, daß jie nicht davor zurüdjchreden würden, jelbjt im Winter
den Hindufujch zu überjchreiten. Die engliſche Auffafiung hält
blog Sommerfeldzüge für möglich, wie denn jelbjt nicht einmal
eine Handelsfarawane nach Mitte Oftober Kajchmir verläßt, und
man glaubt, dat, wenn je rufjiiche Truppen Srinagar oder Peſchäwar
erreichten, fie dies nur als Gefangene thun fünnten. Ueber den
Hindukuſch führen zwanzig Päſſe, allein ſämmtlich jind jie äußerſt
ſchwierig und die wichtigjten dazu noch durch britijche Forts ver:
jperrt; meiſt jind fie von reißenden, bis einhundertundzwanzig
Meter breiten Flüſſen und Gebirgstobeln durchjtrömt, die fünf
und zehn Mal die Straße kreuzen, nirgends aber überbrüdt find.
‚ Die Furthen werden in der Regel von mehr oder weniger großen
Stantonnements beherricht. Häufig it der Weg bloß ein ab-
ichüffiger Stletterpfad, auf dem eine Abtheilung bloß im Gänje-
marjch vorgehen fann; von Kanonen feine Rede. Mitunter üt
auf jieben bis zehn Tagereifen, wie vom Wularjee bis Gilgit, Die
Gegend jo nadt und fahl, daß jelbit das Gras für die Maulejel
mitgeichleppt werden muß. Heike Fieberſchluchten wechjeln mit
Ichneejturmdurchtobten Hochjochen. Kommen aber wirklich einige
taujend Mann nach Kajchmirs lachender Ebene, jo war längit
Zeit, dorthin die dreifache Zahl indischer Soldaten zu werfen.
Der Weg nad Kaſchmir iſt noch der fürzejte, trotzdem wird ein
Die Lage in Indien und Iran. 423
Heer von mindejtens dreigigtaujend Mann zwei Sommer dazu
brauchen. Biel länger ijt der über Afghaniſtan, das zudem erjt
noch zu unterwerfen iſt; an achthundert SKtilometer durch den
Khaiberpaß und taujend Stilometer über Kandahar. Ueber die
Suleimanberge, die Afghanijtan von Sindh und dem Pendſchab
trennen, führen nicht weniger als fünfzig Bälle, aber nur drei bis
vier jind brauchbar und auc) die nur wenige Monate: wenn es im
Weiten diejer Päſſe jchon zu jchneien beginnt, ijt der Oſten noch
eine fieberbrütende Einöde, unpajlirbar wegen Ueberſchwemmung
und Hitze. Der Indus aber it tief und reißend und durch
Banzerflußdampfer gejchügt, während die Brüde bei Suffur durd)
die jtarfen Pläte Jafobabad und Multan, wohin man leicht in
zehn Tagen vierzigtaujend Mann von Süden, Ojten und Norden
werfen fann, und durch befondere Brücdenfort® ausreichend gededt
it. Selbit wenn eine Bahn von Buchora bis Kabul gebaut iſt,
jo vermindert das nicht die Schwierigfeiten, denn eine Armee von
fünfzigtaufend Mann würde, vorausgejegt, dat Alles ganz glatt
geht, wenigſtens einhundertundzwanzig Tage zum Transport
brauchen. Im Südwejten ijt vollends die einzige Feſtung Quetta
ausreichend, jede Invaſion zu vereiteln.
Gejchichtsfundige Leute haben nicht verfehlt, darauf hinzu—
weifen, daß thatjächlich Indien hundert Mal vom Wejten und
Nordweiten angegriffen worden iſt. Vielleicht jchon von Den
Skythen, auf die man die Takhs von Tarila und einige Rajput—
jtämme zurüdleitet, dann von Darius, Alerander und Seleufus;
jpäter von den Juntjcht, den Parthern, den Saſſaniden; nach
den erjten Werjuchen der abbajidischen Araber in Sindh und
Kajchmir die jechzehn Einfälle Mahmuds des Ghasnaviden,
darauf die Goriden, die Mongolen Dichingisthans, die Tataren
Timurs, jelbft die Chinejen über Tibet; in neuerer Zeit Nadir
Schahb der Perjer und verjchiedene Herrſcher der Afghanen.
Dieſer gewaltigen hiſtoriſchen Reihe jtellen aber die Engländer
mit Necht entgegen, daß alle jene Eroberer mit einem Saufen
uneiniger Bölfer und Stämme, niemals wie jegt mit einem großen
einheitlichen Staate zu thun hatten, daß unjere Schußwaffe die
ganze Ktriegstechnif von Grund aus verändert, daß damals weder
Eifenbahnen noch Telegraphen noch gepanzerte Flußdampfer be—
itanden. Es fann ohne Weiteres zugeltanden werden, daß Die
englifche Grenzitellung in Indien thatjächlich ungemein ſtark iſt,
und daß namentlich das Netz jtrategiicher Bahnen faum etwas zu
424 Die Lage in Indien und Iran.
wünjchen läßt. Dagegen leidet die englische Auffafiung an dem
unverbejjerlichen Fehler, daß fie den Gegner ganz und gar nad
der eigenen Schwäche beurtheilt. Der englifche Soldat ijt jehr
verwöhnt, er jcheut den Winter und die Alpen, er fann nicht
jo leicht brüdenloje Flüſſe pajfiren. Der Koſak fühlt ſich im
Schnee höchſt wohl und hat e3 gelernt, durch eine kunſtreiche Vers
fnüpfung jeiner Yanzen und der leeren Kochtöpfe gute Flöße her:
zujtellen. Vor Allem aber bedarf der englijche Soldat eines un-
verhältnigmäßigen Gepädes, bedarf der Offizier feiner Zigarren,
jeiner Badewannen, jeiner Wein: und Whiskyflaſchen. Auf zehn:
taujend Mann fommen zwölftaufend Troßfnechte und fünfzig-
taujend Kameele. Auf jolcher Grundlage fußend berechnete nod
jüngiteng eine englijche Autorität, Oberjt Hanna, daß eine rujfische
Invaſion mindeſtens Ddreihundertfünfzigtaufend Kameele haben
müjje. Nun jei aber in dem fahlen Afghaniitan ſelbſt für die
genügjamen SKameele fein Futter, daher — ſechs Pfund Gerite
für den Tag, gering gejchäßt, für jedes Thier — wiederum eine
Million und jechzigtaujend Kameele für Gerjte nöthig jeien; ein
Gerſte tragendes Thier fünne indeß ebenjo wenig von der Luft
leben wie eines, das Zelte trägt, aljo weiter drei Millionen
Kameele und mit Grazie ins Unendliche. Dabei nimmt der Oberit
jtet3 einen Mearjchtag, ebenfalls nach engliſchem Mufter, von
zwanzig Stilometer an. Derartige Sindereien werden vom eng-
liſchen Publikum und nicht minder von militärischen Fachmännern
durchaus ernjt genommen; aber wie, wenn die Koſaken gar feiner
Kameele bedürften? wenn jie alles Nöthige im Manteljadf mit jid
führten? wenn endlich ein Turfmenenroß zehn Tage lang je ein
bundertundjechzig Kilometer zurüdlegen fann und jelbjt jein
‚Sutter (KKlöße aus Schafsfett) aus einem vorgebundenen Beutel
im Traben zu ſich nimmt? Das giebt der Invaſion Indiens
ein verzweifelt anderes Geficht. Dazu haben die Engländer die
GSefälligkeitt gehabt, gerade die unzugänglichiten Alpenpäſſe und
die jchlimmjten Wüſten durch gute Straßen und Eifenbahnen zu
einem großen Theil gangbar zu machen. Jede Meile, die jie
den Ruſſen entgegengehen, macht es für ihre Feinde leichter.
Nach vielem Tajten und fruchtlofem Mühen, vielen Siegen
und Niederlagen und unentjchiedenen Gefechten haben die Engländer
bejchlofjen, Afghaniſtan in Ruhe zu lajjen und als Pufferftaat zu ver-
werthen. Dafür haben jie mit Erfolg jich bejtrebt, im Süden von
Afghaniſtan eine Einflußiphäre zu jchaffen und ihre indische Grenze
Die Lage in Indien und Jran. 425
bi8 nad) Perfien auszudehnen. Die Ausdehnung der Bahn von
Quetta bi8 Nuſchki ward jchon vor zwanzig Jahren empfohlen;
Zweige diefer Bahn jollten, jo meinte jpäter Sir Charles Dilfe,
nah Seiſtan (zwijchen Khorafjan, Afghaniſtan und Belutjchijtan)
und nach dem perjiichen Meerbujen gelegt werden. Seiſtan jelbit
wurde 1873 durch britiiche Vermittlung — Sir Charles Gold:
jmith, Leiter der perjiichen Telegraphenlinie — zwijchen den per:
fiichen und afghanischen Nebenbuhlern getheilt. Kelat wurde, wie
oben erwähnt, jüngſtens anneftirt, und mehrere britifche Erpeditionen
durchzogen in den legten Monaten den jchlecht befriedeten Süden
Belutſchiſtans, während die Küjte von Keratſchi bi8 Gwadar durch
indische Kanonenboote völlig beherrjcht wird. Alle dieſe Operationen
haben nicht den geringjten wirthichaftlichen Vortheil, fie find ledig-
(ich unternommen, die indische Grenze zu jichern. Das Gleiche gilt
zum großen Theil von den Berjuchen, in Sübdperjien, von deſſen
jonnverbranntem Boden wenig zu holen it, die ausjchlaggebende
Stellung zu erringen. Die Verſuche gehen bis auf den Anfang
des achtzehnten Jahrhunderts zurüd, als einige Beamten der
britiſch-oſtindiſchen Gejellichaft über Land nah Ispahan reiiten,
und richteten jich damals gegen die Holländer; fie erneuerten jich,
als Napoleon Gejandte nad) Teheran jchicte, einen Ueberlandzug
nach Indien planend, und als die Zaren Mlerander I. und Nikolaus 1.
den Schah befriegten. Im Jahre 1856 fuhr eine britijche Ab»
theilung den Karunfluß bis Schujter hinauf und eine andere eroberte
Buſchir; die offupirten Pläge wurden wieder herausgegeben, aber
fortan betrachteten Balmerjton und Nachfolger den perfiichen Bujen
für einen englijchen See. Sodann trachteten die Engländer dar-
nach, ganz Perfien wirthichaftlich zu unterwerfen. Sie gründeten
eine Reichsbank, riſſen den Handel an fi) und jchidten jich an,
den Tabaf zu monopolifiren. Die Ausdehnung der Ruſſen in
Dagheſtan, ihre Dampfjchiffe auf dem Kaſpiſee und ihr Schienen-
jtrang in Turkeſtan vereitelten jedoch diefe Bemühungen und ver—
fliehen Rußland das Uebergewicht. Sobald jich der weiße Zar
rühren will, fällt ihm Khoraſſan zu. Dadurch wird Herat ernitlich
bedroht. Zugleich rüdt der Indische Ozean näher. Hier iſt dem:
nad; eine neue Gefahr für das Indiſche Reich und ein neuer
Grund für die Ausdehnung von dejjen Wejtgrenze. Hier vorzus
bauen, hier ruffischem Vordringen zu begegnen, haben die Engländer
drei Mittel erfonnen. Zunächſt die unbedingte Seeherrjchaft an
der iranijchen Küſte; ferner das Gewinnen der halb oder ganz
426 Die Lage in Indien und Iran.
unabhängigen Stämme Südperjiens; drittens eine Eijenbahn, die
Karatjchi oder Quetta mit dem perfiichen Golf verbindet. Mit der
See iſt es ihnen bisher geglüct, fie haben nicht nur die politischen
Entwürfe der Franzoſen im perfiichen Golfe abgewiejen, jondern
auch die Dampferlinien der Franzoſen und Deutjchen (von Bremen)
dort aus dem Felde gejchlagen; ebenjo wenig haben bislang ſich
die Ruſſen in Bender Abbas fejtgejegt.*) Mit den Luren und den
Bakhtirern haben neuerdings die Engländer innige Freundſchaft
gejchlojjen, und haben durch ein Haus in Bagdad (Lynch und Co.
an fünfzigtaufend gute Gewehre in die Hände der friegerijchen
Ber Lam zwijchen Tigris und Puſcht-i-Kuſch und ihrer
Nachbarn, der Luren, gebradt; jie hoffen, jowohl der Luren, deren
Tüdliche Horden bis nad) Bender Abbas jchweifen, wie der Kurden
jich einjtens gegen die Ruſſen bedienen zu fönnen, namentlich wenn
Leptere nach dem Schatzel:Arab Berlangen trügen. In gleichem
Sinne find fie damit bejchäftigt, eine Straße von Schufter, die
Ihon vor zehn Jahren ein indischer Major in geheimem Auftrag
refognoszirt hat, nad) Ispahan zu bauen, als Vorbereitung für
die militäriſche Beherrſchung Südwejtperfiens. Dieje ganze geräuſch—
los ins Werf gejegte Befejtigung englifchen Einflujjes dient zugleich
dazu, ihre Stellung am unteren Euphrat zu fräftigen, die nun:
mehr nicht bloß von einem rufjischen Vorſtoß, jondern auch von
den Deutjchen bedroht it. Die Verlängerung unjerer anatolijchen
Bahnen bis Bagdad, die gejichert jcheint, ijt naturgemäß den
Briten ein verdrieglicher Dorn im Auge, und jie wenden alle ihre
Kraft darauf, ſich wenigitens jüdlich von Bagdad zu behaupten.
Denn der Augenblid it nahe, um den jeit Jahrzehnten gebegten
Lieblingsgedanfen einer jüdajtatiichen Ueberlandbahn vom Mittel-
meer bis an den Stillen Ozean endlid” in Wirklichkeit umzujegen.
Eine derartige Bahn joll entweder von Aleppo oder bejjer, da der
Sultan widerjtrebt, von Suez ausgehen, den Norden des Nadſchd
durchſchneiden, deſſen unabhängiger Emir, jo iſt die zuderfichtliche
Hoffnung, jich freundlich erzeigen wird, Basra oder Mohammerab
berühren, zwijchen Bujchir und dem hoben Tafellande hindurch nach der
jüdperjiichen Landſchaft Yariitan führen, jodann Belutjchtitan durch:
queren, wonach das indische Syitem ſich anjchliegt, und von Aſſam oder
=) Ih war neulidy dort und merkte, daß das hartnädige, von Bombay
aus unterhaltene Gerücht einer ruffifhen Bejeßung fih auf einen ein«
zigen Arzt bezog, den die Ruffen gegen die Belt ausgeihidt Hatten, den
einzigen Europäer des Drtes.
Die Lage in Indien nnd Jran. 427
dem birmanijchen Chamo (am Irawaddi) dem oberen Jangtje zuftreben
und zulegt Schanghai erreichen. Die Linie wäre zugleich ein Gegen:
gewicht gegen die jibirische Bahn. Andere Engländer bevorzugen
eine Verbindung der indischen Nordweitbahn mit der turfeftanijchen;
die Berbindung jei viel fürzer und die Grenze jei hinreichend
geichügt, um jolches Wagnis zu unternehmen. Auch bejteht, muß
zugejegt werden, fein hindernder Vertrag wie der, daß feine Bahn
ın Berjien bis November 1905 gebaut werden darf, es jet denn
von einer rujjiichen Gejellichaft.
Aus der Verlängerung von Eijenbahnen, wie überhaupt der
Einführung wejtlicher Kultur, ergiebt jich nicht ohne Weiteres und
nicht ohne Reſt eine entjprechende Vergrößerung europätjchen
Einflufjes im Orient. Wirkung ruft Gegenwirfung hervor. Wir
erleichtern und bejchleunigen den Berfehr, und die Drientalen
benugen dies, um in regere Beziehungen miteinander zu treten.
Wir greifen halb verfallene Einrichtungen und Staaten an, und
die Bedrohten werden aus ihrer Ruhe geſchreckt, um fich zu
tärferem Widerjtand zu rüften. Bereits jteigt in dem von hundert
Raſſen, Sprachen und Religionen zerrifjenen Indien in ungewiſſer
Dämmerung die Idee einer gemeinjamen Nationalität auf, Die
früher nie bejtand; bereits beginnt der gemeinjame Gegenjat
gegen das Chriſtenthum die Todfeinde innerhalb des Islams,
Sunniten und Schiiten, einander näher zu bringen; bereits offen=
baren jich Anjäge zu einer neuen, wejtlich angeregten, aber öjtlich-
national beitimmten Kultur, wie jie jo glänzend in Japan fich
entwickelt hat. Die Waffen des Wejtens werden gegen ihn jelbjt
gefehrt. Die wichtigjte dieſer jüngiten Erjcheinungen ijt der
Panislamismus. Seit mehreren Jahren it der Schah auf dem
treundjchaftlichiten zuge mit dem Zultan, und ich habe die Ueber:
zeugung — obwohl meine Freunde in Iran, von örtlichen Ein»
drüden geblendet, fajt durchgehends vom Gegentheil durchdrungen
jind — wenn je wieder im Jehad (heiligen Kriege) die grüne
sahne des Propheten entfaltet wird, Sunna und Shia ſich nicht
gegeneinander, jondern zujammen gegen die Europäer fehren werden.
Ich habe ferner die Leberzeugung, daß im näheren Orient auc)
politiſch daſſelbe gejchichtliche Gravitationsgejeg zu arbeiten an—
fängt, wie im ferneren Djten, wo es Die beiden Feinde, China
und Japan, im gemeinjamen Widerjtreit gegen die Wejtmächte zu
verjöhnen und zu vereinen jich anjchidt. Die trennende Kluft
örtlicher Interefjen fällt zur Zeit noch mehr in die Augen, allein
428 Die Lage in Indien und Iran.
die dauernde und unzerjtörbare Wahlverwandtichaft in Art, Sitte
und Anjchauung wird, jobald einmal zum Bewußtjein ermedt,
zulegt den Ausjchlag geben. Unzweifelhaft hat das Bewußt—
werden in den Beziehungen der junnitifchen Staaten ſchon be:
gonnen. Die Afghanen und ihr Emir hören auf den Sultan, die
muhammedanijchen Maharadjchas und ihre Unterthanen unterhalten
einen regen Berfehr mit der Pforte; Derwiſche durchitreifen pre:
dDigend, belehrend und anjtachelnd alle Lande von Oſtturkeſtan
und Birma bis zum Mittelmeer, wie denn ihrem Antrieb die
Unruhen jo im indischen Nordweiten, wie in QTurfeftan (Andijchen
1898), wie jogar in Kurdijtan zugejchrieben werden. In Mekka
vollends, wohin auch Schiiten pilgern, ift der große Sammelpuntt
nicht nur für religiöfe und fulturelle Nachrichten aus der ganzen
Welt des Islams, jondern auch für politifchen Meinungsaustaujd.
Kun iſt es aber notorifch, daß infolge der Dampfichiffe das
Wallfahrten nach Mekka, gerade auch von Indien, legthin ungemein
zugenommen hat. Der Panislamismus bildet zugleich ein neues
geiftiges Band zwijchen Südafien und Oſt- und Südafrika, ein -
Band, das die Interejjen der halben Bevölkerung der Gegenküſten
vereinheitlicht und ſtärkt. Eine ähnliche VBermittelungsrolle ſpielt
der jchwächere Bruder des PBanislamismus, der neu aufitrebende
Hinduismus, der zwar nicht jo viel Bedeutung beanspruchen dari,
weil er vorläufig bloß religiös, nicht politijch fich entfaltet, und
ferner weil er nicht jo weltweite Ausdehnung hat, deſſen jteigende
Macht aber nichtsdejtoweniger fich jcharf bemerkbar macht. Bei
dem Hinduismus hat jich zweimal die Erfahrung gezeigt, die bei
uns der römischen Kirche zu Theil ward, Wie der Katholizismus
aus dem Angriff der WProtejtanten geläutert und mit neu er
wachender Straft hervorging, jo hat der Brahmanismus den Angriff
der Buddhiſten überdauert, hat einige von dejjen Elementen auf
genommen und jich infolge Ddejjen (unter Mijchung mit Volks—
aberglauben) zum Hinduismus umgestaltet und hat nunmehr, von
den Ehrijten bedroht, jich zum Widerjtand aufraffend, aus eigener
Yebensfülle eine zweite, vielverjprechende Wiedergeburt erreicht.
Was übrigens an äußerer Wucht dem Hinduismus abgeht, erjegt
er durch die Zahl; jeine Anhänger werden auf 150 Millionen
geichägt, während die indischen Muhammedaner, obwohl gleicher:
maßen bejtändig zunehmend, faum auf 55 Millionen fich belaufen.
Neben den Neligionen liefern ein bleibendes und unverwüſtliches
Gegengewicht gegen die weitliche Kultur die Sprachen. Auch ihr
Die Lage in Indien und Iran, 429
Einfluß in dem Widerjtreite wejtöftlicher Wechjelwirkungen iſt im
Wachjen begriffen, denn durch den Drud von oben wurden die
jtärferen Sprachen in die Breite getrieben und zerdrüdten bei
ihrem Croberungsgange die jchwächeren. Wie fi) unter dem
Drud der Araber und Europäer Suaheli in Afrifa und Malayijch
in Inſelaſien ausbreitet, jo unter der Fremdherrſchaft in Indien
das Urdu oder Hindojtani. Der Herrjcher begünjtigt eine einheit-
liche Sprache bei feinen Unterthanen, weil dialektiſche und jprachliche
Buntheit jeine Verwaltung jtört. Wir jelbjit juchen bewußt in
Neuguinea einer der zahllojen PBapua-Mundarten den Vorrang
zu verjchaffen, einfach der Handlichfeit halber. So iſt es ge-
fommen, daß gegenwärtig Hindojtani von 95 Millionen gejprochen
oder verjtanden wird. Ebenjo ijt in Iran, das durch wejtliche
Einwirkungen, bejjere Straßen, Zelegraphen, Außenhandel zu
größerem Zentralijiren veranlaßt wird, das Perſiſche in einem
Stadium der Ausbreitung.
Sch habe mehrfach betont, daß die mächtigen Strömungen,
die eine innere Konjolidation des Orients zu verurjachen oder zu
befördern geeignet find, zwar bereit fichtbar, indejjen wejentlic)
noch im Entjtehen, keineswegs in voller Entfaltung und Wirkſam—
feit begriffen jind. Gegenwärtig werden die Verjchiedenheiten noch
zehnmal klarer und jchärfer empfunden, al® Die Ueberein—
jtimmungen, und auf Grund Diejer Verjchiedenheiten herrſcht
Europa. In PBerjien nimmt der Oſten feinen Antheil am Wejten
und der Norden hat feine Sympathie für den Süden, die jeßhafte
Bevölferung iſt wider die Nomaden und die Beamten wider das
Volk. Der tüchtigite Stamm des Reiches, die Leute von
Aferbeidjchan, sprechen türfifch, der äußerſte Südwejten Spricht
arabijch, im äußerſten Südoften jind Belutjchen; Kurden und
Luren und Bakhtiaren und Gilaner und Majenderaner haben je
ihre bejondere, meijt ans Pehlewi erinnernde Sprache und werden
von den Farſi Redenden nicht verjtanden. Dazu noch Armentjch,
das Sprijch der Nejtorianer und das jeltjame Patois der Juden.
Der Südweitjaum und ein Theil der Kurden gehört der Sunna
an, der größere Reſt der Schia. Mehnlich wird in Belutjchiitan
arabijch, belutjchiich und brahui gejprochen, während Farſi Die
Schriftjprache it. Afghaniſtan zerfällt linguiftiich in eine Unzahl
afghanijcher Mundarten (Bujchto), türfijch, ſeiſtan-perſiſch, ſartiſch
und die Sprachen Kafiriitans und der Nachbarländer. Indien
vollends ijt fein Land noch ein eich, jondern ein ganzer Erd—
430 Die Lage in Indien und Jran.
theil; Kap Komorin it von den Gipfeln Kaſchmirs joweit ent-
fernt, wie Stodholm von den Nil Kataraften, dem entjpricht denn
auch die ungeheure Mannigfaltigfeit jeiner Raſſen, Sprachen
und Zivilifationen. Urrajjen find die Ktolarier des Ganges und
Brahmaputra und die Dravida des Defhans, noch jetzt beiderjeits
viele Millionen umfaſſend; jpäter famen die Mrier, deren Ab—
fümmlinge reinen Blutes faum zwanzig Millionen betragen, nod
jpäter Türfen und Mongolen. Dazu wurden im Often und Nord:
often Birmanen und tibetanische Stämme angegliedert. Diejer
Völkermiſchmaſch enthält an neunzig Hauptſprachen. Das wichtigite
Trennungselement aber iſt der ſtets lebendige und legthin höchſtens
noch verjchärfte Gegenjaß zwijchen Hinduismus und Islam. Das
herrichende Volk bedient ich dieſer Gegenjäge meijterhaft. Es
nimmt jeine Soldaten aus den arischen Sikhs und den nepalijchen
Gurkhas (den Tibetanern verwandt), den Dogra Kaſchmirs und
den Karen des Salwen und Irawaddi, und denft jogar daran,
eine chinejische Grenztruppe zu errichten; es nimmt jeine Beamten aus
den hinduiftischen, jtolzen Nadjchputen und den muhammedanijchen,
feigen Bengalen, und refrutirt jeine Polizei aus allen Klaſſen der
Eingeborenen vom Pendſchab bis nach Madras und Birma, Wie
die Völfer, jo unterjcheiden ſich die Zivilifationen: Kopfjagende
Kannibalen und höchjtgebildete Denker und Künſtler. Die erjtaun-
liche Zerflüftung und Zerjplitterung Indiens hat das Erobern
und Herrſchen verhältnigmäßig leicht gemacht. Die Engländer
weifen mit Genugthuung darauf hin, daß einhundertundvierzig-
taujend Weiße im Stande find, zweihundertundneunzig Millionen
Eingeborene des indo=birmanijchen Reiches im Zaum zu halten,
und daß bei Plafjey, wo der Grundjtein der jegigen Herrichaft ae
(legt wurde, fünfzigtaujfend Bengalen vor den dreitaufend Mannen
Elives flohen. Auch wir behaupten mit wenigen Hunderten unjer
oſtafrikaniſches Reich von fünf Millionen recht rauflujtiger
Einwohner.
Die Engländer haben Indien gewonnen und dadurch
Itrategiich und finanziell ihre Weltherrichaft begründet und er:
halten. Auch hat, troß der vereinzelten Agitation einflußlojer
bengalijcher Journaliften und Advofaten, ihr Regiment vorläufig
feine irgendwie erniten Gefahren im Inneren zu erwarten. Selbit
die Mordanfälle fanatijscher Muhammedaner auf Europäer in
Yahore, Peſchawar, der Provinz Audh, haben nur örtliche Be-
deutung, da einjtweilen der indijche Islam einer fejten Organijation
Die Lage in Indien und Iran. 431
noch ermangelt. Die eingeborenen Truppen, deren Unterhaltung
vielen Maharadichas gejtattet ift, fünnen, außer etwa dem Heere
des Nizam in Südindien, feine Bejorgnijje erregen, da jie zu
ichlecht disziplinirt find. Ein Theil gerade der gebildetiten Hindu
und Moslems jind aufrichtige und überzeugte Freunde Englands.
Am bedenklichiten it noch, dak die Werken allmählich die Fühlung
mit den Yandesfindern verlieren. Früher, vor den Dampfern
und vor Suez, gingen die Weißen auf eine halbe oder ganze
Yebengzeit nach Indien und verjchmolzen in Sitte und An:
ihauung mit dem Volke; jet auf wenige Jahre mit Urlaub in
die Heimath dazwijchen, ſodaß die Interefjengemeinjchaft völlig
erlojchen it. Früher ehelichten ſie Töchter des Landes, jegt nur
weiße Frauen; früher bezogen fie ungeheure Summen und legten
jie in großartigen Paläſten und prunfvoller Haushaltung an: das
gefiel und imponirte den Ortentalen; jebt jind die Gehälter Fleiner
und möglichit viel von ihnen wird für die Heimath gejpart.
Andererjeit8 jteigen die Babu, die eingeborenen Beamten, empor.
Da dem Sahib die indischen Sprachen nicht mehr wie früher gleich
einer zweiten Mutterjprache geläufig jind, erjegt ihn der jtrebfame
und billigere Babu. Da ferner der Babu mit wenig Geld nad)
Yondon reifen fann und er dort viele Arme und Elende jieht und
nicht verfehlt, dies daheim zu erzählen, jo jinkt jeder Sahib in
der allgemeinen Achtung. Schon jeßt iſt dreiviertel der Verwaltung,
der Gerichte, der Bojten und Telegraphen, des Eijenbahndienftes
und ein jehr großer Theil des Außenhandels in den Händen der
Eingeborenen. Die Bejiegten nehmen im Frieden zurüd, was die
Sieger im Kriege genommen. Wie Walleniteind Bauern oder wie
die Ehinejfen von den Mandjchu. Die Sache wird um jo leichter,
je weniger die Eroberer als Ktoloniiten im unterworfenen Yande
Fuß gefaßt haben. Während nach Sibirien allein in den legten fünf
Sahren rund eine Million ruſſiſcher Bauern gewandert iſt und
Turkeſtan in zehn Jahren an 35000 rujfiiche Siedler empfangen
bat, haben die Engländer ein ganzes Jahrhundert durch in
Indien nichts für nationale Einwanderung gethan. Im Gegentheil,
ein bürgerlicher Siedler, weder Militär noch Beamter, jtört Die
amtlichen Kreiſe. Bloß in Ajjam find einige Theepflanzer jchottijcher
Herkunft. Der Fehler wird fich blutig rächen, denn auf die Dauer
it ein erobertes Land, jelbit ein tropiſches, ohne Koloniſten der
Grobererrajje nicht zu halten. Das haben Phönizier, Griechen,
Römer und jelbit die viel gejchmähten Spanier und WBortugiejen
432 Die Lage in Indien uud ran.
bejjer verjtanden. Dabei war der Fehler jo leicht zu vermeiden.
An den Abhängen des Himalaya, im herrlichen Feenlande von
Kaſchmir, in den Thälern der Suleimankette, in den Alpenweiden
des jüdlichen Pamir ijt das prächtigjte Klima und viel guter Boden
für britijche Siedler. In Indien fann fi) Jedermann jein Klima
und jeine Ackererde ſelbſt ausjuchen, er hat die größte Auswahl,
von der mittleren Indusebene, wo es heißer ijt als in der Sahara,
bis zu den nebligen Triften unter den Gletichern des Gaurtjanfar.
Die neueren auswärtigen Beurtheiler der britijchen Herrichaft
in Indien haben jämmtlich bloß Lobens- und Bewundernswerthes
gefunden;*) jo der bedächtige Freiherr von Hübner, der jenjationell
geijtreiche Orientaliſt Darmejteter, der burjchifos Tiebenswürdige
Plauderer Ehlers, die gelehrten Politiker Yacheval-Clavigny und
Barthelemy:St. Hilaire, unterjchiedliche amerikanische Miſſionare
und mehrere deutjche Philologen, Zoologen und Ethnologen. Ge:
wöhnlich mit vortrefflichen Regierungsempfehlungen verjehen, famen
diefe Beurtheiler zumeijt oder ausschließlich mit Engländern zu:
jammen oder folchen Europäern, die bereits englijcher Art jich an:
geähnlicht Hatten. Bielleicht iſt es nicht unnöthig, and) einmal
eine abweichende Meinung zu Worte fommen zu lajjen. Ich habe
joeben hervorgehoben, daß ein wurzelhafter Grundfehler des ganzen
Syitemd der Mangel eigener Ktolonijten it. Die Majchinerie des
Syitems mag noch jo vollfommen, noch jo fein ausgearbeitet jein, wie
die unabläjjige, angeitrengte Arbeit mehrerer Gejchlechter fie nur hat
ichaffen können, die einzelnen Schrauben und Räder mögen noch
jo glatt ineinandergreifen und jtörende Neibungen noch jo vorjichtig
vermieden werden: das Syjtem bleibt ein fünjtliches und wird nun
und nimmer ein organijches; es iſt wie ein leichter Güter-Schuppen
über der Erde, nicht wie ein feſtes Haus in die Erde hinein:
gebaut oder gar wie ein Baum aus ihr hervorwachjend. Daher
bedarf es feines Erdbebens, noch eines Bulfanausbruches, jondern
bloß eines mäßigen Sturmes, um das Gebäude zu erjchüttern.
Es ijt richtig, daß einige Tauſende der Landesſöhne in englijchem
Geijte leben und wirken, daß zwei bis drei Millionen die englijche
Sprache verjtehen, allein die Zahl der Erjteren ijt zu unbeträchtlidh
und eine Sprache, die bloß dem bequemeren Berfehr dient, iſt wie
ein Kleid, das an- und abgethan wird; aud) hat weder ihr Spaniſch—
*) Einer Zeitungsnachricht zufolge macht bloß ein franzöfilher Maler eine
Ausnahme, defjen Namen ich leider vergeffen. Der Maler ſieht viele
ihlimme Zeichen und prophezeit den baldigen Sturz der Engländer.
Die Lage in Indien und Jran. 433
Neden die Tagalen den Spaniern, noch das gemeinjame Holländijch
die Hottentotten den Buren geneigter gemacht. Diejenigen aber,
die von den Engländern einträgliche Stellen empfangen, wähnen
ohne fie noch fettere Aemter an jich zu reißen. Wirkliche Anhäng-
lichkeit an die Fremdherren hat unter Taujenden faum Einer, aber Alle
beugen fich dem Zwange oder klammern fic) an den zeitweiligen Nußen.
Mit dem Scharfblid des Schwachen und dem argwöhnijchen Neid
des Drientalen erjpähen die gebildeten Inder rajc die Blößen
ihrer Herren, während der Pöbel von jedem noch jo unficheren
Gerüchte wie Laub vom Wirbelwinde bewegt wird und auf ihn
nicht der geringjte Verlag iſt. Dilfe, Roberts, Rawlinſon geben
jelbjt zu, daß die geringjte Schlappe in einem Feldzug gegen die
Ruſſen der Achtung vor England jofort einen groben Stoß ver:
jegen würde und leicht jofort zu einem allgemeinen Aufitand an-
reizen fönnte. Größere Niederlagen, durch‘ die Hand des Zaren
oder jest in Südafrifa erlitten, werden daher für die englijche
Stellung in Indien unheil- oder gar verhängnißvoll fein. Bon
ji) aus wagen gegenwärtig die Orientalen fajt nichts, mit Hilfe
von Weißen aber fajt Alles. Das Scidjal Indiens hängt mithin
von Der inneren Zage nur wenig ab und fajt nur von auswärtigen
Ereignijien. Die Frage it nun jehr oft aufgeworfen worden, ob
die jegige Lage, ob die britijche Herrjchaft ein Glüd für das Land
jei und ob von anderer Regierung Bejjeres zu erwarten? Mit
einer gewiſſen Dürftigfeit der Phantaſie ward dabei die andere
Regierung ſtets mit einem Einfall der Ruſſen unausweichlich ver-
fnüpft, in jedem Falle aber wurde die Frage von den erwähnten
Beurtheilern jämmtlich dahin beantwortet, daß die jetige Ver:
waltung die denkbar bejte und geeignetite jei, die Eingeborenen
glücklich zu machen. Hier möchte ich nun zunächit fejtlegen, daß
Abjicht und Wirkung nicht verwechjelt werden dürfen: was aud)
immer das Ergebnik des bisherigen Negimes gewejen ijt oder jein
mag, das Ziel der Engländer war einzig und allein, England jtarf
und reich und glüdlich zu machen. Da uns Bismard gelehrt hat,
einzig und allein für Deutjchland zu jorgen und für andere Leute
feinen Finger zu rühren, jo dürfen wir darin fein Arg jehen. Sind
jedoch die Inder glücklich? Nein. Das kann nun ihre eigene
Schuld jein und iſt es auch zum Theile, da tadeljüchtige und halt-
oje Menjchen jchwer zufrieden zu jtellen find, oder fann Schuld
der hochmögenden Herren fein. Ob indejjen die Unzufriedenheit
berechtigt oder unberechtigt, das iſt wiederum wohl für den
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 28
434 Die Lage in Indien und Iran.
Moraliiten von Belang, aber ganz und gar nicht für den Politiker,
dem es lediglich darauf anfommt, wie tief und verbreitet die Un:
zufriedenheit ift und welche Wirkungen fie hervorrufen fann.
Sordan verbreitet jich in den „Sebalds“ über das träge
saullenzerleben der Seehunde von San Franzisko. Sie werden
vom Staate gefüttert, Niemand darf ihnen was zu Leide thun, fie
fünnen jich frei im Meere bewegen und thun was fie wollen; fein
Käfig, feine Schranfen. Und trogdem entdeckt der Dichter, daß
dies Schlaraffenleben den Thieren zur Laſt ift. Der ſtärkſte und feinjte
Neiz fehlt. Kein Hunger, darum fein Genuß; feine Gefahr, darum
feine echte Lebensfreude. Nehnlich it das Gefühl der einjtigen
Herrjcherklafjen Indiens, jo der Radjchputen und der Mahrattas, wie
der Mogulsmannen. Sie beziehen glänzende Benfionen und jchwelgen
in Ueppigfeit und Sinnenlujt, aber es iſt doch nur ein Schatten-
dajein, denn es it unthätig und unnüß. Gehen wir weiter zu
den einflußreichen Heiligen und Gelehrten der Brahminenfajte, jo
fann von ihnen feine Sympathie für den Weften erwartet werden,
der überall ihrem Einfluß in den Weg tritt und der für ihre
tiefiten Gedanfen nur Spott hat. Die zahlloje Beamtenfajte ferner
ärgert jich täglich über die gejellichaftliche Zurüdjegung, die jie
von den weißen Vorgejetten erfährt, jowie über den verdrießlichen
Umjtand, daß fie nicht nach edler orientalischer Sitte unterjchlagen
und erprejien fann. Die Maſſe des Volkes endlich hat Zweierlei
gegen ihre Herren vorzubringen. Bor Allem find diefe nicht ihres
Blutes noch Glaubens noch Lebenswandels, es find eben Fremde,
unverjtanden und jelbjt ohne Verſtändniß. Obwohl daher die
Verwaltung jo ziemlich aller native states, in denen ein dem
Namen nach jelbitändiger Vaſallenfürſt unter „Beirath“ eines
Reſidenten waltet, jchlecht und forrupt und volfsbedrüdend ift, jo
it e8 doch für die Engländer ein jteter Gegenjtand der Verwunde:
rung, daß jchier fein Menjch aus diefen Maharadjcha-Staaten nad
den doc) jo unendlich viel befier verwalteten Provinzen auswandert,
die unmittelbar unter englijcher Fauſt jtehen. Die zweite Klage
des Volkes ift Die, daß es immer ärmer, während der Sahib immer
reicher werde; früher jet der Durchjchnitt des Tageslohnes das
Doppelte und Dreifache gemwejen wie jeßt, da er auf 16 Pfennig
gejunfen. Wie weit das richtig, wage ich nicht zu entjcheiden,
jedenfalls hört man es allgemein behaupten. Alle Inder aber
empfinden auf das Bitterjte das Eingreifen in ihre Lebensgewohn—
heiten. Um den Staat fümmern fich jchließlich auch bei uns
Die Lage in Indien und Iran. 435
nur die Wenigjten: wenn man ihnen aber ihr Bier oder ihre
Pfeife nimmt, werden ſie ungemüthlih. Die Koreaner haben vor
drei Jahren eine Revolution gemacht, weil man fie ihrer Zöpfe
berauben wollte, und die Perjer, weil jie feine Zigaretten rauchen
wollten, die von ungläubigen Händen zubereitet. Ebenjo erzeugt in
Indien oft das Eingreifen in tägliche Sitte und Gewohnheit
Widerwillen und Feindſchaft gegen die Negierung. Diejelbe hatte
viel zu dulden, weil fie die Wittwenverbrennung verbot, und jeßt,
weil jie ihren Untertanen nicht erlauben will, an der Peſt und
Cholera zu jterben. Vielen ijt eben der Tod nach eigener Wahl
lieber, als das Leben nach fremder, ein jelbjtverordnetes Leiden
lieber, als Gejunden durch fremdes Nezept. Auch bei uns wäre
und iſt noch ein asketiſcher Katholik höchjt unwillig, wenn man ihn
bei jeiner Fleiſchestödtung jtörte. Kurz, britischer und orientalischer
Geiſt jind jo unvermijchhar wie Waſſer und Del.
Das Verhältnig des englijchen Eroberer8 zu den Eroberten
wird am klarſten dadurch bezeichnet, daß er fich möglichit von ihnen
abjondert, möglichjt wenig direft mit ihnen verfehren will. Mit
Ausnahme der tapferen Eingeborenen-Kegimenter haft und ver—
achtet er fie. Sein Hund und fein Pferd jtehen ihm näher als
jie. Sie haben feinen Theil an jeinem Leben. Es find wind:
Ichiefe Linien, die in aller Ewigfeit jeine Zirkel nicht freuzen.
Einige unbedeutende Ausnahmen bejtehen: ein Nadjcha wird ein
berühmter Kridet-Spieler, ein rühriger Buddhiit oder Jaina wird
von der Londoner Gejellichaft geehrt, vereinzelte Hindu und Parſi
werden in indijche Freimaurerlogen aufgenommen. Im Wejent-
lichen jedoch wird die colour line auf das Strengite bewahrt. Man
jollte nun denfen, daß im gelobten Yande der Kaſten jolche Aus:
Ichließlichkeit fein jonderlich Befremden hervorrufen fünne, allein
jeltjamer Weiſe gilt jie für natürlich bei Indern, aber für tadelns-
werth bei Europäern. Vielleicht jchwebt der Gedanfe vor, daß
der Herricher mit Jedermann und allen Klajjen auf gutem Fuße
jtehen jolle. So verfehren bei uns Burjchenjchaften nicht mit Korps,
aber Häufig Profejjoren unparteiijch mit beiden. Das Verhalten der
Engländer erregt um jo mehr Anjtoß, weil e8 nicht gleichmäßig
it. Denn, ohne jich irgend näher einzulafjen, bevorzugen jie that-
Jählih Hindu vor den Muhammedanern, welch lettere jich was
Bejjeres fühlen als ihre „götzendieneriſchen“ Nebenbuhler. Bor
einigen Wochen noch ging ein Sturm des Unwillens durch ganz
Yahore, weil der Statthalter des Pendſchab bei einem offiziellen
28*
436 Die Lage in Indien und Jran.
Bejuche bloß den anmwefenden Hindu, nicht den Moslimen die
Hand gedrüdt.
Indien iſt für Großbritannien eine unerjchöpfliche Quelle des
Reichthums. Die Gehälter der engliichen Offiziere und Beamten
belaufen ſich auf 1,6 Milliarden Mark, Ein Unter-Leutnant be—
fommt 340 Markt monatlich, ein Negierungspräfident jährlich
60—120 000 Mark, der Vizekönig 600 000 Marf. Eine derartige
Befeitigung der leitenden Klaſſen Englands ijt offenbar für das
britifche Reich jelbjt von unjchägbarem Nuten. Die Abficht, ein—
fach britifchen Bürgern zu einträglichen Stellen zu verhelfen, liegt
oft Ear zu Tage. Schon die Offiziere und Soldaten verbringen
faft ein halbes Jahr in angenehmer Muße auf den ſanitäriſchen
Höhenftationen, bei vielen hohen Beamten ijt aber ihr Amt gar
bloß eine Sinefure. Ein Mann wie Sir H. Nobertjon, der poli—
tiſcher Offizier bei dem afghanijchen Kronprätendenten Ajub Khan
ijt, mithin jo gut wie nichts zu thun hat, bezieht 75 000 Mar.
Sodann ijt der Außenhandel Indiens, der über 21/; Milliarden
Mark beträgt, überwiegend in britiichen Händen und das Beitreben
geht troß des gerühmten Freihandeliyftems genau wie in Negypten
darauf hin, fremde Mitbewerber „wegzuefeln“. Waaren aus
fontinentalen Staaten Europas werden bei der Zollunterjuchung
oder jchon beim Löſchen der Ladung geflifjentlich gejchädigt, während
britiiche Waaren glatt durchfommen,*) und jo weit geht die Klein—
lichkeit, daß 3. B. — ein Fall, der mir perjönlic befannt iſt, —
ein Franzoſe nie Preislisten heimischer Firmen lejen konnte, weil
jie ing Meer" getaucht und die Seiten aneinander geflebt waren.
Der ewigen Quängeleien müde, bejtellte der Franzoſe zulett bei
englijchen Firmen. Die Kolonialpolitif anderer Nationen wird für
proteftionijtijche Willfürherrjchaft erklärt, aber Indien wird despotijch
regiert und Freihandel bejteht hHauptjächlich in der Theorie. Drittens
werden aus dem indijchen Staatsjchag britifche Stationen und
Unternehmungen außerhalb Indiens bezahlt. Ein anderes Volk
würde, jobald in den Beſitz „der Schatfammer der Welt“ gelangt,
es vermuthlich gerade jo machen, nur jollte die angeljächjiiche Preſſe
nicht den Spaniern vorwerfen, daß fie vom Golde der armen
Kubaner ihre Gejandtjchaft in Waihington unterhielten. Das
indijche Neich zahlt die Gehälter der britiichen Gejandtjchaft im
Teheran und jämmtlicher Nefidenteu von Maskat bis ind Somali—
*) Die Varteilichkeit war in Aegypten fo offenkundig, daß deutſche Kaufleute
einen Prozeß anhängig madten, der lange die Diplomaten beſchäftigte.
Die Lage in Indien und Fran. 437
land, es unterhält die fojtipielige Feſtung Aden, die Wachtichiffe
und Leuchtthürme im Berfijchen und Rothen Meere, die britijchen
Telegraphenlinien durch die Türkei und Perſien, die Bolizeitruppen
von Singapur und Hongkong und es hat endlich aufzufommen für
die Kriege und Eijenbahnen nicht bloß in Belutjchiitan, Birma
und der jüdchinejischen Grenze, jondern auch für die meijten Kriege
in Oftafrifa, injofern dieje mit indischen Truppen geführt werden.
Englische Politiker jelber haben das Syitem als ein höchſt unge—
rechtes bezeichnet, auch richtet fich dagegen bejonders die Aftion
des indischen Kongrefies, jener Jahresverfammlung von Hindus
Agitatoren.
Perſien ijt mit jeinen neun Millionen Einwohnern weit
weniger wichtig als Indo-Birma mit zweihundertneunzig. Ueber
jeine gegenwärtige Lage ijt nicht viel Gutes zu berichten. Seit—
dem Mujafar den Thron bejtiegen, iſt das Land unaufhörlich zurüd-
gegangen. Noch nie waren die Straßen, jelbjt die Hauptfarawanen>
wege, jo unjicher und noch nie die Finanzen jo ärmlich. Das Heer
it in unaufhaltjamem Verfall und eine Flotte iſt nicht vorhanden.
Die Verwaltung it jchlecht und bejtechlich wie immer, Es wird
nicht lange dauern, jo wird auch Perſien in europäijche Gewalt
fommen. Dabei ijt, mit Ausnahme der gänzlicd) verworfenen
Schirafer, das Volk tüchtig und fernhaft; aus den Kurden ließe
jich eine Grenztruppe herjtellen, wie fie fein Reich fich befjer wünjchen
fann; es fehlt nicht an Kraft und Intelligenz, an jtaatSmännijcher
wie fommerzieller Fähigkeit. Bloß die Regierung it hoffnungslos.
Wie einjt die Parther aus einem unwifjenden, unbedeutenden Grenz:
ſtamme fich zum Herrjchervolf emporjchwangen, jo fünnten jeßt die
fraftvollen Kurden, deren Gejammtzahl fait zwei Millionen it, das
Szepter an fich reißen, wie jie es unter Obeidullah jchon 1880
verjuchten; fie haben gegenwärtig eine ähnliche Stellung wie die
Iren in Großbritannien und die Buren in der Stapfolonie. Allein
das unaufhaltjame Wordringen der Europäer wird es zu einer
nationalen Entwidlung der Kurden vorläufig nicht fommen lajjen.
Gewöhnlich wird eine Theilung Perſiens zwijchen Rußland und
England erwartet, und die Perſer jelbit haben fich in eine jolche
Ausficht Schon im Voraus hineingefunden. Beachtenswerth it, daß
auch eine deutjche Partei bejteht. .Unjer Handel iſt mächtig im
Wachen, ſowohl der über Trapezunt und Reſcht wie der über
Buſchir und Bagdad, unjere Ingenieure haben die Khanifin-Straße
gebaut, mehrere Deutjche jind im Dienjte das Schah, jchlieklich
438 Die Lage in Indien und Iran.
wird eine Verlängerung unjerer anatoliichen Bahn Berjien berühren
oder wenigitens der Grenze jehr nahe fommen. Ich habe Perſer
getroffen, die jogar eine Dazwiſchenkunft von unjerer Seite erhofften,
um Iran vor Ruſſen und Engländern zu erretten. Abdurrahman
aber war von der Rede des Kaiſers in Damaskus und jeiner
Freundſchaftserklärung an die muhammedaniiche Welt jo entzüdt,
daß er jtehenden Fußes einen deutjchen Lehrer für jeine Söhne
nach Kabul entbot und hinfort von allen Ungläubigen die Deutichen
am höchjten jtellt. Jedenfalls haben Deutjche und Franzoſen ein
bejjeres Berjtändniß und durchgehends auch mehr Sympathie für
orientaliiches Wejen als die Engländer, während bei den Ruſſen
jih mehr ein dumpfes Gefühl der Rafjen- und Wahlverwandtjchaft
geltend macht, als überlegene Intuition. In der That hat unjere
Völferfunde und Biychologie und Naturwifjenjchaft einen Fond
von Sympathie und Brennpunkte deutjcher Kultur in ganz Aſien
geichaffen, woran eine folgenreiche Entwidlung fich fnüpfen wird.
Ueberall wirken in ihrer Heimath Armenier, die auf unjeren Hoch:
jchulen ihre Bildung erlangten: Araber, Türfen und Perſer wiiien,
daß wir uns eifrig mit ihrem Schrifttyum und ihrer Kultur be-
fajjen; Inder und Chinejen, bei denen gelehrtes Wifjen jo unend—
lich viel mehr gilt als bei den genannten drei Rafjen, legen großen
Werth darauf, daß wir in der Sanskritliteratur und der Sinologie
den erjten Rang einnehmen; Japan tt jo jehr der deutjchen Wiſſen—
ichaft geneigt, daß an der Univerjität von Tofio mehr Profejjoren
aus Deutjchland find als aus allen anderen Nationen zujammen
und daß namentlich die japanische Medizin und fait das ganze
Necht deutjch find. Die ſibiriſchen Stämme haben zwar feine
Ahnung noch von unjeren Arbeiten, aber auch bier haben Deutjche
das Beite geleiftet, und es ijt wohl möglich, dat einjt die Gelehrten
der Burjaten und Jakuten das anerfennen.
Auch Iran wird dem Schiedjal europäijcher Herrichaft nicht
entgehen, allein es hat noch immer eine erjtaunlicze Lebenskraft
bewiejen und der nationale Geilt hat noch immer der Kultur der
Erobernden obgefiegt. Es hat die Skythene und Hunneneinfälle
und hat die Griechen überdauert; e8 hat in Wifjenjchaft und unit
der arabijchen Herren bald das Uebergewicht erlangt, es hat die
Mongolen zulegt abgeſtoßen und unter den einheimischen Sefaviden
eine hohe Blüthe erlebt, e8 hat die Osmanen aus Ajerbeidjchan
und die Ruſſen aus Gilan und Mazendaran vertrieben. Wenn es
aus den wejtlichen Ideen jet frijche Anregung erhält und unter
Die Lage in Indien, und Iran. 439
wejtlichem Drude zu jtarfer Einigkeit jich jammelt, fann es in ferner
BZufunft von Neuem eine nationale Wiedergeburt und ein glänzendes
Zeitalter heraufführen.
Die Kräfte, die ein Wiedererwachen orientalijcher Macht und
Kultur ermöglichen fönnen, wirfen indeß langjam und in der
Stille. Bloß in einem jo einheitlich entwidelten und jo national
jelbjtbewußten Lande wie Japan fonnte eine völlige Umbildung
und Neorganijation des Staate8 und Volkes in wenigen Jahr:
zehnten vor ſich gehen; in jo zerjplitterten und zerflüfteten Ge:
meinwejen, wie fie in Border: und Südaſien bejtehen, dauert ein
jolcher Prozeß viel länger. Auch wenn die Umwandlung durch
einen religiöfen Anſtoß bedingt iſt: jo hat der Buddhismus
zwei, das Chriſtenthum drei Jahrhunderte gebraucht, bis Die
religiöje Bewegung ſich in politiiche Macht umgejegt, und aud)
der raſch wie frejiend ‚Feuer um fich greifende Islam hat ein
Jahrhundert nöthig gehabt, um bis Spanien und Indien vorzu:
ſchreiten. Dazu iſt der wirthichaftliche Verfall wenigjtens in Iran
jo ungeheuer und die durch Dürre und Entwaldung verurjachte
Verödung des Bodens jo entjeglich, daß fünfzig Jahre Aufforjtens
und gewiljenhafter Landwirthichaft noch nicht Hinreichten, um
früheren Wohlitand zurüdzubringen. Dagegen iſt ein baldiger
bedeutender Aufichwung des Landes durch den wejtöjtlichen Handel
zu erwarten, der in jüngjter Zeit unverfennbar darauf ausgeht,
die uralten Verfehrsjtragen, die über Yand nach Indien führen,
aufs Neue zu beleben. Diejem Handel vor Allem verdankte einjt
Sciras feine Blüthe im jpäten Mittelalter, und Isfahan, das
noch) vor einem viertel Jahrtaujend eine Million Einwohner
zählte (gegen jechzigtaujend jett), und das bis zur Zeit Peters des
Großen und der englijch-perfiichen Handelsgeſellſchaften die größte
und reichite Stadt ganz Vorderajiens war.
Gegenwärtig iſt der wichtigite Faktor in der Yage jo Indiens
wie Süd-Irans Großbritannien. Die britijche Machtjtellung jedoch
it von zwei Stombinationen bedroht, einem Yandangriffe von
Nordweiten und einer Umgeitaltung der Meachtverhältnijje im
Indischen Ozean. Beiden Möglichfeiten gegenüber arbeitete
England mit Eifer daran, jich eine eigene Bahnverbindung
zwijchen Aegypten und Indien zu jchaffen, zum Schu und zur
Abwehr nach Norden zugleich und nad) Süden. Zu Lande hat
es dem Vordringen der Deutjchen von Anatolien, der Ruſſen von
den SKajpigegenden, der Franzoſen vom Mekong zu begegnen.
440 Die Lage in Indien und Sran.
Zur See verjucht Frankreich von Dichibuti, Madagasfar und
Tonfin aus Einfluß zu gewinnen; Rußland möchte ji) an der
Küſte in der Nähe Abeſſyniens feitiegen und hofft auf einen
perjiichen Hafen. Es jcheint zweifelhaft, ob da eine Ueberland—
eifenbahn den Engländern wirklich viel helfen fünne. Sie fann
nicht vertheidigt werden. Die britijchen Kenner behaupten freilich,
jie könne auch nicht angegriffen werden. Die Linie jei allent-
halben von menjchenleeren Wüften umgeben, die für größere Heere
unpajjirbar jeien. Die Meinung verräth indeß nur wiederum
einen Mangel an Einbildungskraft. Wir haben bereit3 die Er-
richtung von militärischen NRadlerabtheilungen erlebt, dem wird
die Benugung des Automobil auf dem Fuße folgen, wie dasjelbe
thatjächlich jchon auf den Philippinen in Anwendung jein joll.
Dem Automobil aber find Wüjten nicht unüberwindlid. Auch
abgejehen von folcher Zufunftsmufif zeigt die Durchbrechung der
englijchen Linie von Kimberley nach Mafefing, wie unmöglich es
it, jelbit von naher Bafis aus eine Wüjtenbahn mit Erfolg
zu jchüßen.
Die einzige und wichtigjte Stüte für das Britiiche Reich
bleibt immer dejjen Seeherrichaft. Die bisherige Erfahrung lehrt,
daß Südafien weſentlich nur durch die Beherrſchung der jüd-
aſiatiſchen Gewäſſer dauernd behauptet werden fann. Dies er-
fannten bereit3 Darius und Alerander. Beide entjandten Flotten
von der Indusmündung nad) dem Rothen Meere. Die Be:
herrjcher Perjiens, von den Arabern und Mongolen bis zu Abbul
Abbas und Nadir Schah juchten, jobald fie zu Lande einiger:
maßen jejt jtanden, auch im Indijchen Ozean ihr Gebot geltend
zu machen. Schah Ruf verjuchte und Nadir Schah vollbracdhte
die Eroberung Masfats; Abbas gründete Bender Abbas und
nahm die Injel Ormus. Noch belangreicher war natürlich das
Meer für die fernen Europäer. Ste mußten, um auf dem jüd-
afiatiichen Feitland Fortjchritte zu machen, aller Häfen von Natal
bi8 nach Malakka jich verfichern. Sobald dies den Portugiejen
gelungen, fiel ihnen der Handel von Perſien und Indien von
jelber zu. Die Holländer begannen ihre öjtliche Laufbahn damit,
daß fie in Aden, Masfat, Ormus, Diu (nördli) von Bomban),
Geylon, Kalikut, Madras und Malaffa die Portugiefen angriffen:
erjt nachdem jie zur See überwiegende Erfolge errungen, fonnten
ſich die holländischen Soldaten und Kaufleute in Indien und
Perjien entfalten. Als jpäter die Franzoſen ıhre Mugen auf
Die Lage in Indien und Iran. 441
Indien warfen, gewannen jie zunächjt eine Bafis in Madagaskar
und den umliegenden Injeln, bombardirten jiamejtische Häfen und
berannten Mombaja, Sanjibar und Delagva; darauf erjt gingen
fie unter Dupleir zu Zanderwerbungen im Inneren Indiens vor.
Selbit die Dejterreicher leiteten ihre beiden ojtindischen Unter:
nehmungen im vorigen Sahrhundert durch Bejegung von Delagoa
und den Nifobaren ein. Aus diejer Weberficht erhellt, daß zum
Mindeften ojtafrifanische Herrjchaft jtetS mit indijcher verbunden
war. Die natürlichen und die jtrategijchen Bedingungen werden
aber weder durch Dampfichiffe noch dur; Dum-Dum wejentlich
geändert; deshalb wird auch jegt noch Indien mit Oftafrika jtehen
und fallen. Niemand hat dieje Erfenntniß deutlicher gehabt und
folgerichtiger ihr gemäß gehandelt, als England jelbjt. Es ift
zwar mehrfach gejagt worden, am eindringlichiten jüngjt von
Pafjarge, daß England die transafrifanijche Bahn und den Er:
werb des Transvaals anjtrebt, um für einen etwaigen Berlujt
Indiens in einem abgerundeten afrikanischen Grofreiche Erſatz zu
finden; allein wenn je jo wird jetzt Aut Caesar aut nihil Eng—
lands Gejchid jein.
Die Pflicht zur Schönheit.
Bon
Alexander Freiheren von Gleihen-Rubwurm.
Die Natur ijt der Lehrer des Menjchen. Aus ihrem ewig
reichen Born jchöpft der Künjtler und der Philojoph, ihr entlehnt
der Dichter jeine Bilder und ihr entnimmt der Erfinder die Kräfte
für jeine Majchinen. Und jie it jchön. Im ewigen Eije der
Sletjcher, in der unermeßlichen Sandfläche der Wüſte liegt Die
Schönheit der Ruhe und, wenn am dunklen Firmament die Stern-
bilder glänzen und durch den nächtlichen Wald ein leijes Naujchen
geht, athmen wir befriedigt auf. Ein Gefühl breitet ſich in unjerer
Seele aus, das wir in die Worte fajjen möchten: Es iſt jchön.
Aber wir jchweigen. Denn lauten Jubel verträgt die Schönheit
nicht. Wirkt ihr Zauber auf uns ein, jo iſt es ein jtiller Frieden,
der die Ahnung auffeimen läßt, daß das Gefühl der Schönheit
jelig und daß Seligfeit jchön jei.
Sm Gewitterjturm, im Toben des Meeres fühlen wir die
Schönheit der Macht und jede Bewegung in der Natur vom
srühlingswind, der das Blumenblatt zur Erde fächelt, bis zum
Orkan, der Bäume zerbricht, als wären ſie ein Spielzeug für
Stinder, ijt jchön. Die Schöpfung wäre ein Meijterwerf, wenn der
Menjch nicht die Häßlichkeit Hineingetragen hätte.
Sehen wir durch das gewaltige Fernrohr des Aitronomen —
nicht als mejjende Gelehrte, bei denen jich alle Begriffe in Zahlen
verwandeln — jondern als Menjchen mit offenen Mugen und
Herzen, jo enthüllt jich ung eine Weite und Herrlichkeit, ein un
endlicher Raum voll bewohnter Welten, dejien Bild, in unjer
Die Pflicht zur Schönheit. 443
fleine® Menjchenauge zujammengefaßt, Einblid gewährt in Die
unendliche Harmonie des Großen. Lautlos gleiten die Weltförper
auf ihren Bahnen und, was wir Sphärenmufif nennen, iſt das
Wiederflingen des großen Schweigens in unjerer Seele. Halten
wir aber das Auge an das Glas eines Mikroſkops und beobachten
der geringjten Dinge eines, den Flügel der Fliege oder einen
Tropfen Wafjer, jo finden wir auch hier Farbenpracht und Fein—
beit der Zeichnung, Leben und XLebensfähigfeit bis in das
fleinjte Atom.
Leben an fich joll aber jchön jein, denn es iſt die Blüthe des
Organismus, die höchite Entfaltung jchlummernder Kräfte. Es joll.
Doh der Kampf um's tägliche Brot, die Sucht, um jeden Preis
das Neuejte neben dem Neuen anzuhäufen, it am Werf, den
edlen Keim des ewig Schönen zu erjtiden und jtatt dem fräftigen
Yebensbaum mit jtrogenden Blättern, duftender Blüthenpracht und
reihem Früchtefegen entjteht eine blajje, fümmerliche Pflanze, die
nichts weiß von Schönheit und Kraft und froh it, wenn ein
elender Zweig bis zum Sonnenlicht fommt. So find wir Menjchen;
ein Gefühl für das Schöne liegt in uns, aber unjerem
Bewußtſein ift die Pflicht entjchwunden, in den Werfen
der bildenden Kunſt, in unjeren Dichtungen und im
Gange des Lebens eine Richtfchnur fejtzubalten, welcde
die Linie der Schönheit bezeichnet.
Kampf it überall, von den Bakterien, die zerjtörend in den
menjchlichen Organismus eingreifen, bis zu den Weltförpern, die
in ungemejjenen Fernen dröhnend aufeinander jchlagen, aber wir
brauchen ihn, denn im Genuß friedlichen Dämmerns erjtirbt der
Yebenstrieb und das Nirwana der Buddhijten fann niemals das
deal fraftvoller Naturen jein. Nur die Häßlichkeit, die Rohheit
des Gefühle muß aus dem Dajeinsfampf unter Menjchen verbannt
werden. Yuch die Edeljten fünnen in Wettjtreit gerathen, aber jie
veritehen es, jogar in der höchiten Leidenjchaft ihres Krieges die
Gemeinheit fernzuhalten.
Nach Neuem ringt der Menjch, jeit er jich der Fähigkeit des
Erfennens bewußt ist, aber das Neue muß für uns hochentwidelte
intelleftuelle Naturen nicht nur auf dem Gebiete des praftijchen
Lebens, jondern auch in der Verfchönerung der Welt in uns und
um uns einen Fortſchritt bedeuten. Die Befriedigung förperlicher
Triebe ohne den Genuß des Schönen erniedrigt den Menjchen
unter das Thier, denn leben wollen, heißt jchön jein,
444 Die Pflicht zur Schönheit.
ſchmückt ich doch im Augenblide der Liebe jedes Lebewejen mit
aller ihm zu Gebote ftehenden Pracht. Die Natur jchafft und
befist die Schönheit ohne Nachdenken und Ueberlegung, der Menſch
hat die Pflicht, fie für fich jelbjt und feine Umgebung zu er:
werben, denn fie iſt das höchite Gut aller Zeiten und Völker.
I.
Es genügt nicht, zu wifjen, daß im Schooße der Erde ver:
borgen ſich Goldadern befinden, man muß ihre genaue Stelle
entdeden, Bergwerfe anlegen, das edle Metall fördern und läutern;
Gedanken allein — und wären es die herrlichjten — find nicht im
Stande, ein vollendetes Ganzes zu bilden. Man muß jie innerlich
verarbeiten, zu Tage bringen und mit dem Handwerk jeiner Kunſt
etwas aus ihnen geftalten. Ein Stunjtwerf zu fühlen hat feinen
Werth. Nur, wer es machen fann, ijt ein Künftler. Gold muß
man prägen, Gedanken fajlen wie edle Steine; erjt der Kopf des
Fürſten macht die Münze aus dem Metall, erit das Wort des
Dichters, die Farbe des Malers, der Ton des Komponijten giebt
dem Gedanken bleibende Kraft.
Warum aber einem Ding, das dauern joll, den Stempel der
Häßlichkeit aufdrüden?” Man ſucht nad) dem Gold in der
Erde, man joll ebenjo nach dem Schönen auf der Erde juchen.
Wer durch das Schlechte abgejtumpft ijt oder in einem üden
Sinnentaumel vertrauert, wer unter dem Wahren ausjchließlich
das Gemeine und äſthetiſch Verlegende verjteht, joll mit feinem
Singer an das Heiligtum der Kunſt rühren, mag er auch mit
vollendeter Meijterjchaft jein Handwerk beherrichen. Der Wille
zum Schönen muß wie ein Zaubermantel über jedes Kunjtwert
ausgebreitet jein und, wer es jieht, hört oder liejt, joll mit einem
Gefühle der Befriedigung von ihm jcheiden. Der höchſte Schmerz,
der gewaltigjte Kampf fann in jeiner Darftellung etwas Ber:
jühnendes bergen, das ihn aus dem Gemein-Menjchlichen heraus:
hebt, die größte Häßlichkeit fann durch einen Strahl von Güte
oder Geiſt das Abjtoßende verlieren. Jeder Menjch und jedes
Geſchöpf hat wenigjtens einen Augenblid im Leben, der ihm den
Adel der Schönheit oder den Reiz der Anmuth verleiht. Diejen
Zuſtand fejtzuhalten it die Aufgabe des Künſtlers, er joll nicht
verlegen, jondern muß erfreuen oder erheben, wagt er ſich aud
daran, ein Medujenhaupt darzuitellen.
Die Pfliht zur Schönheit. 445
Im klaſſiſchen Alterthum formte die Kunjt jchöne Götter und
Menschen und begnügte fich, voll jubelnder Freude das „Sein“
zum Ausdruck zu bringen. Der Menjch wurde im Bild zum Gott
uud der Gott zum vollendeten Menfchen. Als in der chriftlichen
Revolution die üppige Heidenwelt zujammenbrad) und der neue
itrenge Glauben das orientalische Verbot nad) Europa brachte,
Gott abzubilden, trat langjam das „Bedeuten“ an die Stelle des
„Seins“. Statt Götterbildern begann man Symbole zu jchaffen.
Die jogenannte „altchrijtliche* Kunſt fuchte alles dem Heidenthum
Entjtammte zu verbannen uud verneinte das griechijche Schönheits—
ideal. Sie erreichte erſt nach vielen unbeholfenen Verjuchen, dem
Schönen nahefommend, das Erhabene, indem die byzantinijchen
Bilder von Ehrijtus und der Madonna einen Zug jtiller Größe,
böchjten Leides und höchſter Verklärung enthielten. Die Annahme,
daß der Heiland häßlich gewejen, gejtügt auf eine Stelle in den
Propheten, wich im Bilde einer idealeren Auffafjung, denn die
Schönheit hatte fich unbewußt in die jtarre Form gejchlichen.
Als ſich Sokrates in Platos Gejprächen mit einem Sophijten
über das Wejen derjelben unterhält, führt er den eitlen Mann
allmählich auf den Gedanken, daß Alles auf der Welt Vergleich
jet und das Schönere der Feind des Schönen. Darin liegt das
Prinzip von Fortjchritt und Kampf auf dem Gebiete der Kunit.
Wer heutigen Tages genau wie die Alten malen oder Dichten
würde, fönnte feinen Beifall erwarten, denn jede Zeit hat ihr
Ideal und ihre Naivetät, jede Epoche eine andere Auffaflung vom
„Ewigichönen“. Deſſen ungeachtet bleibt, herrlich und jung, ver:
jtändlich und bewundernswerth für immer ein Werf, das innerlich)
den Anforderungen der eigenen Zeit voll entjprochen und im Ge:
wande der Schönheit das Wahre zum Ausdrud gebracht hat. Nur
die fanatiihe Moral verblendeter Mönche, die blutgierige
Zerjtörungswuth mißhandelter Völker und die verbohrte Einfeitigfeit
vor Wiljen dumm gewordener ?sachgelehrter verliert die Achtung
vor dem heiligen Kunſtwerk und zerjtört es jelbjt mit der fampf-
bereiten Fauſt oder jeine Wirfung auf unjer Gemüth mit der Kraft
des zerjegenden Wortes. Die Rohheit der Maſſen und ein zum
Schlagwort erhobenes, thörichtes Prinzip find in gleicher Weije
Feinde der Kunſt.
Das Leben der Völker iſt wie das Meer, Sturm fährt in die
ſpiegelglatte See und die Woge wirft erſt nach wildem Wetter die
Muſchel mit der Perle ans Land. Auf Perioden des Genuſſes
446 Die Pfliht zur Schönheit.
und der Vollendung, in denen die Menjchen vor den Altären der
Schönheit opferten, folgten immer Zeiten des Verfalls und Nieder:
gangs. Das Lied begeijtert auch den fämpfenden Krieger, aber
die höchite Kunst blüht nur dann, wenn der Sänger am Herdfeuer
in die Harfe greift, wenn durch die veredelnde Daritellung des
Streites die Disharmonien des Lebens in freien Akkorden fünit-
lerifcher Berflärung ausklingen. Ueber die Bitterfeiten der Parteien
erhaben, fern vom Schmuß der Straßen und vom Staub unjerer
Wohnungen gedeiht einzig und allein echte Poejie. Auch gerechter
Hat muß ſich im Herzen des Künſtlers läutern, che Worte ihn
fünden oder Farben ihm bleibenden Ausdrud verleihen. Cs
brauchen nicht Könige und StaatSmänner zu fein, mit denen ſich
die Phantaſie bejchäftigt. Homer verjtand es, den „göttlichen
Sauhirten“ uns lebendiger vor Augen zu jtellen, al3 mancher moderne
Dramatiker jeine „Eleinen Leute“, wenn auch der Duft von Kuchen
und Kaffee von der Bühne her leibhaftig in unjere Naſen zieht.
Die Daritellung des Natürlichen it zum Fluch geworden.
An Stelle des fieghaften Humors und der zügellojen Phantafie it
die Langeweile getreten. Der Wahrheit zuliebe wird oft die er—
Ichütternde Tragif durch Gähnen unterbrochen. Es iſt ein Ueber:
gang, den wir durchmachen. Seit Napoleon in Erfurt dem alten
Goethe die berühmten Worte über Politif und Kunjt gejagt hat,
haben die gährenden und wechjelnden äußeren Berhältnijje das
Gefühl für die Schönheit im Menjchen zurüdgedrängt. Eine Wolfe
it über die Sonne gezogen, in deren Schatten viel Großes und
Nützliches entjtanden it, aber die Zeit muß wiederfommen, in
welcher der höchjte Ausdrud des Lebens nicht eine große Waffen»
that, jondern ein jchönes Kunſtwerk it.
Die Blüthe des GriechenthHums waren die Tage des Perifles
in Athen, die römische Republik fand am Hofe eines Augujtus ihre
Vollendung und aus den deutſchen Keformationsfämpfen ging
Luthers Bibelüberfegung hervor, die unjerer Sprache das Rüdgrat
gab. Die Gejchichte der Päpſte gipfelt in den Namen Rafael und
Michelangelo, von der Größe Venedigs find Bilder und Bauten
geblieben, und als ewige Frucht aller Kämpfe der Aufflärungszeit
dauern die Werfe unjerer Klafjifer. Aber mit der Kunjt gebt es
wie mit dem Ader. Hat er reiche Früchte getragen und jeinen
Herrn mit einer fchönen Ernte erfreut, jo muß er brach liegen, bis
er neue Kraft in fich aufgejammelt, wieder ein Samenforn zu
entwideln und den Halm zur Reife zu bringen.
Die Pflicht zur Schönheit. 447
In einer Generation jchlummern die Kräfte, die in der nächſt—
folgenden zur vollen Entfaltung gelangen. Wenn nach einer Zeit
allgemeinen fünjtleriichen Durchdringens ſich die Idealgeſtalten
großer Geilter in öde Abjtraftionen verlieren, wenn fich im Bud)
und auf dem Theater, im Bild und am Bauwerf flache Nach:
ahmungen vergangener Größe jtatt Geitaltungen der eigenen über-
zeugenden Gedanken breit machen, begeijtert ein neues ſelbſtem—
pfundenes Werf unendlich leichter als die jchönjte Epigonenarbeit,
mag es auch derb, vielleicht jogar verlegend wirfen. Für feine
Zeit iſt es jchön, enthält es an ich auch viel des Unkünſtleriſchen
und Häßlichen. Es fann relativ bedeutend und abjolut vollitändig
ungenügend jein.
Man fonnte demnach glauben, das Wejen der Schönheit unter:
liege dem Wechjel, jogar der Mode, bejonders wenn man die ver:
ichiedenen Erklärungen der Philojophen lieſt, die ſich von Plato
bis Niegiche bemühten, den Begriff des Schönen feitzulegen. Am
einfachiten drückt fich für uns dieſer Wandel in den Worten aus:
Schön iſt, was gefällt, was den Beſten, Höchitentwidelten unter
uns gefällt. Haben wir doch ebenjo gut ein äjthetijches Gewifjen
als ein moralijches! Freilich fann es durch die Ungunjt der Ber:
bhältniffe dumpf und ftumpf werden, aber unterdrüden läßt es fich
ebenjo wenig als jenes. Das tiefinnerjte Wejen der Schönheit
bleibt ich gleich im Wandel der Zeiten, aber wir ändern uns, wir
ganz allein. Im Aufundabwogen der Entwidlung, von Jahr:
hundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk, von Glaube zu Glaube
war der Begriff, den man ſich von der Schönheit machte, bis zu
einem gewiſſen Grade veränderlich, je nachdem das äjthetijche Ge:
wiſſen reiner oder trüber im Menjchen lebte. War es nicht da$-
jelbe mit Gut und Bös? mit unjerem moralijchen Gewiſſen? Wie
oft jchwanft es bei der Beantwortung verwidelter pjychologijcher
tagen. Sollte den jchwierigen Räthſeln unſerer mannigfaltigen
Kunſt gegenüber das äjthetijche Gewiſſen ſtets jicher gehen?
Am unbefangenjten jtehen wir vielleicht dem Porträt gegen
über, denn der Menjch bezieht jeden Begriff vor Allem auf jich
jelbit. Dem Bild einer Perſon gegenüber, das ſonſt nichts will
als ähnlich jein, wird uns der eigene Schönheitsbegriff am leich-
teten flar.
Wirft man einen Blid auf die Gejchichte der Porträtfunit, jo
iallen uns zuerjt die masfenartig gemalten Gejichter auf den
ägyptiſchen Mumien in die Augen. Die Griechen fanden es bereits
448 Die Pflicht zur Schönheit.
geichmadvoller, den menjchlihen Körper in Stein zu hauen und
Alles an jeiner TDaritellung nad einem edlen Maße zu ordnen.
Vielleicht beitand zwiichen Modell und Kunijtwerf nur Familien—
ähnlichkeit. Das Bedeutende blieb, während das Zufällige unter-
drüdt wurde. An den Sofratesföpfen fann man das Verhältniß
der Griechen zum Häßlichen jtudiren. Die Materie wurde vom
Geifte bezwungen und der Ausdrud eines leuchtenden Beritandes
wußte die Fehler der Form zu bejiegen. Die Römer ſchwankten
bereitö zwijchen fonventioneller Schönbildnerei und kraſſem Realis-
mus, aber ihrem Wejen lag die Hauptgefahr aller Porträtfunit
fern, der Hang zum Sleinlichen. Das frühe Mittelalter zeigt uns
in Miniaturen und Grabjteinen eine traurige Kunit. Ein unflares
Schönheitsgefühl war allein aus allem Reichthum vergangener
Zeiten übrig geblieben. Schier götzenhaft jteht in Ravenna die
Gejtalt der Gala Placidia vor uns. Man hielt es jogar für
nöthig, mit findiicher Hand ihren Namen beizujchreiben, denn
erfennen fonnte jie Niemand. Auf den meiiten Grabplatten ver:
mist man jedes Schönheitsgefühl, es jei denn, es habe jich in .
jenen Ausdrud tragiicher Stille geflüchtet, den die fromm ge-
falteten Hände und die jtreng anjchliegenden Gemwänder verleihen.
Ein bedeutender Fortjchritt liegt in den individualifirenden Dar:
jtellungen der Donatoren auf manchem SHeiligenbild des Mittel:
alters. Sie jind mit Wahrheitsliebe und einer gewiljen Lebens—
freude gemalt; der unbedeutendite Ausdrud iſt oft durch den Ernit
aufrichtig frommer Gejinnung veredelt. Immer mehr bejtrebt jich
der Künſtler, jeine Bejteller „ſchön“ zu malen und in beſſeren Ein-
Hang mit der himmlischen Umgebung zu bringen. Kühnen Muthes
brachen die Italiener mit der Tradition, jie jahen das Herrlichite
auf Schritt und Tritt und hielten die menſchliche Schönheit für
würdig, göttliche Gedanken zu verkörpern. Frei behandelte man
das Heiligenbild, nur dem Geſetze des Schönen gehorchend, frei
das Bildniß des Menjchen, der damals als Selbitzwed und Mittel:
punft der Erde galt. Der Sage nad jah Gott am letten Tage
der Schöpfung mit Befriedigung auf dieje Krone des Werks und
mit Ehrfurcht ging man daran, e8 dem Ebenbilde würdig darzu—
jtellen. Leonardo da Binct gab in jeinem „Trattato della Pittura*
die Negel, ein Porträt habe den leibhaftigen Menjchen in einem
vortheilhaften Augenblid zu bringen. So malte Raphael Julius
den Zweiten. Der wilde Charafter des wie ein Landsfnecht
fluchenden Papſtes jpricht aus jedem Zuge, aber die innere Größe
Die Pfliht zur Schönheit. 449
des Freundes von Kunjt und Alterthum it nicht vergefjen. Das
Gefühl, dem Bilde eines bedeutenden Mannes gegenüber zu jtehen,
erfüllte uns, wüßten wir auch nichts von ihm und jeinen Thaten.
Raphael blieb mit jeinen Porträts in den Grenzen jchöner Menjch-
lichfeit. Ueber fie hinaus führte uns Michelangelo mit dem wunder:
baren Standbild des Lorenzo Medici „il pensieroso*“. Niemand
folgte ihm in dieſer heroiſchen Darjtellung des Einzelnen. Auch
in germanijchen Ländern befolgte man die Regel des großen
Leonardo. KLeuchtend und jchönheitsdurjtig glänzen Dürer3 Augen
auf feinem wunderbaren Selbjtporträt und wir möchten gerne jedem
biederen Niederländer auf Rembrands Bildern die Hand drüden.
Schön dünkt es ung, van Dyfs Damen die feinen Fingerjpigen zu
küſſen. Doch jelbit die allzu zierlichen Züge der Herren und
Damen auf den Rokokoporträts berühren nicht unangenehm, er:
innern fie doch an das reizende Plaudern jener Zeit, an das Be:
itreben, liebenswürdig und geijtreich zu fein. Es wird erzählt, daß
gewijie Maler im vorigen Jahrhundert mit fertigen Bildern, denen
nur der Kopf fehlte, von Schloß zu Schloß zogen. Wie fommt
es, daß troß jolcher Handwerfsmäßigfeit die jogenannten Ahnen:
bilder meiſtens den Eindrud jtiller VBornehmheit machen? Sie
ftören nicht, bewohnen würdig unjere Näume und wir jehen gern
in ihre Eugen, freundlichen Züge. Gemijjen modernen Malern
blieb es leider vorbehalten, unangenehme Porträts zu malen, bald
nebelhaft verjchwimmend, bald von beängitigender Unruhe, bald
erjchredend brutal oder nichtsjagend wie Wachsfiguren.
E83 gäbe viel weniger Unfinn auf der Welt, wäre man über
die urjprüngliche Bedeutung gewiſſer Schlagworte im Klaren.
„Konventionell* heißt der Popanz, mit dem viele tunjtjünger von
der Bahn des Schönen abgejchredt werden. Konvention (das heißt
Uebereinfommen) ijt e8 freilich, wenn man mit apodiftifcher Sicher:
heit behauptet, eine Naje 3. B. müſſe griechifche Form haben, um
Ihön zu fein. Aber ebenjo fonventionell it es, wenn man unter
Künstlern übereinfommt, daß es nicht erlaubt jet, etwas Herz—
erfreuendes zu malen.
Bon einer italienischen Landſchaft entzüdt, jagte eine Dame
zu einem modernen Maler: „Das ijt schön, das jollten Ste malen!“
Ernithaft antwortete er: „Das fann ich nicht, das iſt ja gar nicht
wahr.“ Einem blauen See die Wahrheit der Erjcheinung, Die
Berechtigung der fünjtleriichen Wiedergabe abzujprechen, um Wahr:
beit und künſtleriſches Intereſſe etwa dem Startoffelfeld allein zus
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 8. 29
450 Die Pfliht zur Schönheit.
zuerfennen, jollte dies nicht fonventionell jein? Der blaue Ze
und das Kartoffelfeld find beide wahr und mindeſtens gleichberechtigt
vor der Kunit.
Eine jeltfame Erjcheinung im heutigen Leben iſt ein gewiſſer
Hat gegen das Schöne. Es ijt der Haß des Kraftlojen, der in
jeiner Ohnmacht den Gürtel der jpröden Wunderjungfrau nicht zu
löjfen vermag und es dem Sonntagsfind mikgönnt, Kraft und
Willen in jich zu tragen. Aber das Sonntagsfind iſt zumeilen der
dumme Hans und läßt ſich von Neidlingen aufjchwägen, es wäre
eines Mannes würdiger, Jungfer Schönheit fahren zu lajien, um
einer plumpen Dirne nachzulaufen.
„An und für fich iſt Nichts jchön. ES wird erjt jchön durd
Die Art, wie e8 gemacht wird.“ Auf diefen Sat aus Platos
Gajtmahl bauten die modernen Realiſten ihre Theorien und
ichufen eine Stilrichtung, die unter der Yajt der Wahrheit die
Anmuth vergaß und in der Wahl des Stoffes oft eine Ge
jchmadlofigfeit fundgab, die lebhaft an die pathologijche Seite
des Affekts in den Marterdarjtellungen der Maler vom Ende
des jechzehnten Jahrhunderts erinnerte. Damals gab es Myſtiker
und WBathologen unter den Künſtlern wie heute, weil Dinge
dDargejtellt werden jollten, die malerijch nicht faßbar waren. An
und für fich iſt freilich nichts jchön, aber e8 muß den Keim zur
Schönheit enthalten, wenn aus ihm durch vollendete Technik ein
Kunſtwerk im heiligjten Sinne des Wortes werden joll. Nur ein
Meiſter wie Nembrand vermag aus einer anatomischen Szene
etwas künſtleriſch Großes zu jchaffen. Das Genie überwindet
einen Stoff, an welchem Talente elend zerjchmettern.
sm Mltertdum und in der Nenaifjance juchte man den
Stoff für die bildende Kunſt vor Allem im Körper des Menichen,
uns bietet ihn das gejammte Weich der Natur. Schon im
vierzehnten Jahrhundert wich der goldene Hintergrund der
Heiligen einer Landjchaft und die Heimath des Künſtlers gab
die Folie für das Legendenbild ab. Pinturicchios Darjtellungen
des damaligen Rom in den Borgiazimmern find von glänzender
Farbe und wundervoll zu den bibliichen Szenen gejtimmt,
aber jie jtehen wie die Dekoration im Theater gegen die
Figuren zurüd. Erſt die Kunjt des neunzehnten Jahrhunderts
hat die Yandjchaftsmalerei zu ihrer jetigen Bedeutung erhoben.
Dies beweiit, daß unjere Zeit troß allen gegentheiligen Be:
bauptungen ein jtarfes Gefühl für die Lyrif befigt. Denn der
Die Pflicht zur Schönheit. 451
Reiz einer ſchönen Landſchaft ruht in der Stimmung, fie it das
Yied in der Malerei.
Seine Liebe und jeinen Haß, jeinen Zorn und jeine Hoffnung
will man aus den Berjen des Dichters heraushören, jeine
Stimmungen joll man in den Naturjchilderungen des Landjchafters
wiederfinden. In den Zeiten: Claude Yorrains und Pouſſins
bedurfte man der Stilifirung. Die Natur an jich jagte den
Menjchen nichts, ehe jich die allgemeine Umwandlung der Gefühle
in Rouſſeaus „Konfejlions* fryitallifirt hatte. Die Leute aus der
Biedermeierzeit und ihre Nachfolger verlangten die gemalte jchöne
Ausficht ohne inneres Empfinden und unjere Stürmer und Dränger
juchten in einem künſtleriſch aufgebaujchten Gegenjag zu jenen
mit einem möglichjt häßlichen Stüdchen Erde und den gewagteiten
‚sarbenfombinationen myſtiſche und jymbolische Gefühle zu er:
weden.
Jetzt endlich jcheint man auch auf diefem Gebiete die Pflicht
der Schönheit zu erfennen. Sch habe in einer modernen unit:
ausitellung eine Landſchaft bewundert voll holder Einfalt und von
überzeugender Wahrheit wie ein Heinejches Gedicht. Ein reifendes
Kornfeld vom Walde umrahmt, tiefblauer Sonnenhimmel und
hoch in der Luft eine einjame Gabelweihe. Frieden und Sonne
lag über diejer Yandichaft. Frieden und Sonne jenfkte ji) in das
Herz des Schauenden. Ein jolches Bild im Zimmer zu haben
it ein Glüd. Vom Kunſtwerk muß eine jchöne erhebende Stimmung
ausgehen, erfüllt es jeinen Zwed, uns das fleine alltägliche Leid
vergeſſen zu lajien.
Die Epigonen unjerer Klajjifer und die fraftvollen Männer
aus den FFreiheitsfriegen hatten ihr Augenmerk hauptjächlich auf
das Nützliche gerichtet, ihnen genügte der Deldrud über dem
Plüjchjopha in der Miethsfaferne. Unter dem Freiheitsgefühl
der politifchen Menjchen war der Sinn für die Schönheit eriticdt.
Wir genießen die Früchte ihrer Arbeit und in uns entwidelt id)
langjam aber jicher das Gefühl: Alle bildenden Künſtler, mögen jie
Häufer und Kirchen, Bahnhöfe und Iheater bauen, mögen jie
Denkmäler errichten oder Statuetten für unjere Zimmer jchaffen,
mögen jie gewaltige Flächen mit Fresken ſchmücken oder uns ein
feines jtimmungsvolles Interieur geben, haben die einzige Pflicht,
Dinge zu jchaffen, die an ſich jchön, ihren Zweck und ihrer Um—
gebung entjprechend auf uns — empfindende und gejchmadvolle
Menjchen — wohlthuend wirken.
29%
452 Die Pflicht zur Schönheit.
II.
Eine Dijjonanz, die an ſich unjer Ohr verlegen würde, wirft
Schön durch die Art ihrer Auflöfung. Wenn jchreiende Gegenſätze
harmonisch ausklingen, find jie Fünjtlerijch verwendbar, denn in der
Dichtung it nur das Hoffnungsloje abjolut häßlich.
„Lasciate ogni speranza“, jagt Dante, ehe wir die Hölle
betreten und jpricht in diejen einfachen Worten die höchjte Qual,
das Entjeglichite des ewigen Verderbens aus. Unjer Dajein tft in
der Hoffnung begründet. Sie iſt das pojitive Gefühl in uns,
Lebensnerv und Triebfraft, ohne die wir rettungslos dem phyfiichen
und geijtigen Untergang geweiht wären. Der hoffende Menjch will
Schönes jchaffen und jchön jein.
Wenn durch eine Dichtung die Hoffnung zittert, und jich die
Wahrheit mit vollendeter Form vereinigt, dann ijt fie abjolut jchön
und wird auf uns als relativ jchön wirfen, jo lange ihre Hoffnung
in ung einen freudigen Widerhall findet, jo lange uns ihre Wahr:
heit als wahr erjcheint. Je weniger Tendenz; und je mehr wirk—
liches Leben ein Werf enthält, dejto länger fann es veritanden,
bewundert und geliebt werden.
Was und — jolange wir Kinder waren — äußerjt werthvoll
erichien, belächeln wir heute und, was uns heute als höchſtes Ziel
vorjchwebt, erjcheint uns jpäter vielleicht wenig erjtrebenswerth und
gering. Der Alltagsmenſch iſt veränderlich wie die Wölfer, Die
Woche ungleich wie das Jahrhundert, aber durch den Einzelnen
wie durch die Nation, durd) den Tag, wie durch die Zeiten flutet
der gleiche eleftrijche Strom, die Hoffnung, die uns das Bewußtjein
giebt, daß etwas Bejjeres, Schöneres unjerer wartet, die ung Die
Pflicht auferlegt, dem Guten und Schönen näher zu fommen.
Das Ideal einer Zeit jchlummert in allen ihren Kindern und
wird zuerit in den freien Dichterijchen Naturen gewedt, die im
Stande find, ihm Form und Ausdrud zu verleihen. In Homer
und Sophofles zeigt fi) das Wollen und Leben der Griechen, in
der platoniichen Geſtalt des Sofrates ihr philojophiicher Getit,
in der Bibel leuchtet das tiefe, orientalijche Denken der Juden, aus
der Edda jtrömt uns die jalzige Seeluft des Nordens entgegen und
aus Allen die Hoffnung nad Schönheit verlangender Menjchen.
Unjere Dichter, die jich theils aus VBejcheidenheit, theils um
einem ſtatiſtiſchen Bedürfniß zu genügen, Schriftiteller nennen, haben
das Glüd, Dank der fortgejchrittenen Kultur überall her jchöpfen
zu fünnen. Die Welt liegt wie eine Yandfarte vor und aus
Die Pflicht zur Schönheit. 453
gebreitet und wir fönnen in einem Jahr verjchtedenartigere Eindrüde
in uns aufnehmen als unjere Vorfahren in einem Lebensalter, aber
die bejchaulie Muße fehlt ans; Gedanken, Anregungen, ein
Ktinematograph wechjelnder Bilder jtürmen auf uns ein, doc) wir
fönnen nichts in uns behaglich ausreifen lajien. Das fojtbarite
Hut, die Zeit, ıjt im neunzehnten Jahrhundert abhanden gefommen.
Darın liegt vielfach der Verluſt an Schönheit begründet. Eile
verträgt jich nicht mit einer abgerundeten Bewegung, Eile jchadet
dem Dichter, verfaßt er jein Werf, Eile vernichtet die Wirkung des
Werfes, überfliegt es der Lejer, jtatt e8 zu genießen. Ueberhaſtetes
Treiben erniedrigt den Menjchen zur Ameije und nimmt ihm Die
Freude am Lebensgenuß, die Freude am Schönen. e breiter die
Maſſen werden, deren Anjpruch an ein jogenanntes, bejjeres Da:
jein den Zug der Zeit immer demofratijcher geitaltet, dejto jchwerer
wird es, einem Ideale zu dienen. Wie jich der Standpunft von
Dichter und Publikum langjam dahin veränderte, läßt jich am
beiten an den dramatijchen Werfen verfolgen.
Als in Religion und myſtiſcher Schwärmerei die einzige Trieb»
fraft des Lebens jtedte, erjchöpfte jich die dramatiſche Kunjt in
geiftlichen Spielen. Die Kirche herrjchte über das ganze Dajein,
ihrer gebieterijchen Hand ordneten jich die Künjte unter. Prächtige
Höfe traten in den Vordergrund, das Leben wurde immer ges
waltiger in jeiner äußeren Entfaltung und wenig jpäter, als unter
Päpſten und Medicäern Michelangelo und jeine ZJeitgenojjen Ewiges
ichufen, brachte am Hofe der Königin Elifabeth Shafejpeare die
Tragödie der Staatsaftion zur höchjten Vollendung.
Der Drang nach Bildung wurde allgemeiner, revolutionäre
Ideen bemächtigten jich, durch die Enzyklopädiſten angeregt, der
Menjchen und Beaumarchais griff in jeinem Luſtſpiel „Figaros
Hochzeit“ mit Fräftigem Spott die Zitten der damaligen Macht:
haber an. Das erjte politische Tendenz-Lujtipiel war gejchaffen.
In Deutjchland hielt Schiller mit jeiner fräftigen „Louiſe Millerin“
der Welt den Spiegel der Wahrheit vor Augen und jchuf das erite
bedeutende bürgerliche Trauerjpiel. Doch ihn und jeinen glüdlichiten
Nachfolger auf diejem Gebiet, Hebbel, verließ nie die tragiſche Größe
und fie vermieden es, durch Eleinliche Züge eine faljche Wirklichkeit
zu erzeugen. Das Leben darzujtellen, wıe es uns umgiebt mit
jeinen fleinen Mühen und Xajten, mit den blauen Flecken, die ung
ein Stoß an die Kante verurjacht, ohne die Grenzen der Schöne
heit zu überjchreiten, it eben nur mit Humor möglich. Ein Didens
454 Die Pfliht zur Schönheit.
fann Dinge bejchreiben, die einem Tragifer verjchlofien find.
Freilich geht das alltägliche Leben jeinen gleichmäßigen Gang,
während jich die Charaftere immer jchroffer gegenübertreten und
ſich die Kataſtrophe entwidelt. Die Uhr jchlägt ihre Stunden un:
geachtet der Qualen und Freuden in der menjchlichen Brujt. Aber
wie man jic) das Leben vergällt, wenn ſich die Stimmung durch
jede jtörende Kleinigkeit und durch jeden förperlichen Schmerz ver:
derben läßt, jo jchwindet aus der Dichtkunſt der Hauch von Poefie
und Größe, wenn uns jtatt fortjchreitender Entwidlung interejjanter
Menjchen und Handlungen nur ein noch jo fein beobachteter
Ausschnitt aus dem täglichen Leben geboten wird. Hoffnungslos
gemein jind ſolche Einblide gar oft, fie erjchüttern uns nicht, ſie
efeln uns an, wir jehen nirgends eine wohlthuende Auflöjung vor—
bereitet, wir hören nur Diſſonanzen und jehnen ung nad) Schön:
heit, denn wir verlangen nad ihr. Iſt doch das Schönheitögerühl
ein mächtiger Unterjchied, der uns — die Menjchen allein — aus
allen übrigen Gejchöpfen heraushebt.
Hätten wir überhaupt eine Kunſt ohne den Trieb zur Schön:
heit? Hätten wir ein Ideal ohne den Begriff des Schönen?
Was in uns an edleren Empfindungen jchlummert, wird ge—
wedt durch dieſe Wirfung auf uns und Die reine Freude jteht
bimmelhoch über allen jinnlichen Genüfjen, denen das Thier mit
gleicher Luſt zu fröhnen vermag.
Wer im Theater nichts verlangt als den Kitel überreizter
Nerven, wer in der Venus von Medici nichts Anderes jieht als
das jchöne Weib und nichts als die eigene ungejunde Phantajie
mit den Werfen der Dichter zu nähren jucht, it ein Barbar,
ichlimmer als jene, die mit frevelnder Hand Statuen zertrümmerten
und Tempel verbrannten. Er jteht nicht höher als Tieks berühmter
„geitiefelter Kater“, der den Tönen der Nachtigall laujchend jich
bereits die Schnauze nach dem herrlichen Braten ledte.
Wie fann aber ein Werk, das im Gemeinen wurzelt, den
Menſchen erheben, wie fann die ausschließliche Darjtellung niedriger
Xeidenjchaften und armjeliger Schmerzen ohne Hoffnung auf
Löjung, ohne Strahl göttlicher Größe die Ziele eines Kunſtwerks
erreichen ?
Seit Plato jeine Gedanken über „to xaAsv xar dyadsv' nieder:
gejchrieben, gehören das Gute und Schöne in edler Vereinigung
zujammen und jind nur dadurch getrennt, daß die Freude am
Guten in jeiner Wirfung liegt, die Freude am Schönen aber in
Die Pfliht zur Schönbeit. 455
ihm jelbjt. Die gute That gefällt in ihren Erfolgen, das jchöne
Werk erfreut uns einfach durch jein VBorhandenfein.
Die Flügel der Seele wachen und feimen beim Anblid der
Schönheit, jagt Plato, und jie jollen uns hinübertragen über Ge-
brechen und Krankheit, über Schmuß und Elend, über rüdjichtsloje
Semeinheit und niedrige Streberei. Das alles giebt es freilich
überall in reichem, überreichem Maße und wer es leugnen wollte,
ijt ein Narr und wer es als Künftler unterdrüden wollte, wäre
ein Idealiſt, der den Boden unter jich verloren hätte. Aber über
dem häßlichen Gewürm blüht die Blume und neben dem Schatten
des Lebens leuchtet eine herrliche, glüdjpendende Sonne. Nur
wenn man Dunfel und Licht einander gegenüberjtellt, wie jie draußen
auf der Straße, draußen in der weiten Natur ineinanderfließen,
ichafft man ein Kunjtwerf, das Wahrheit und Schönheit mit ein:
ander vereinigt. In der Photographie fehlt Farbe und Wärme,
in der genauen Schilderung einer Bauernjtube auf moderne Art
fehlt der würzıge Hauch, den die Menjchen hineintragen, fommen
ſie aus Gottes freier Natur.
Schönheit ijt nicht Gejchmadjache, obwohl ſich mit den An:
jchauungen das Urtheil über fie ändert, jie wirft immer über:
wältigend auf empfängliche Gemüther. „La beaute est composee
d’un jugement et d’un sentiment, enveloppes l’un dans l’autre.
(Cousin, fragments philosophiques).
In der Natur liegt fie latent — wie alle großen Kräfte —
der Menjch allein it im Stande, jie zu empfinden und durch
Intuition zu erweden. Aber nach Plotin bemerken nur jchöne
Seelen die Schönheit, für Andere ijt jie eine jchlummernde Kraft
ohne Nuten und Werth.
Verjpüren auch einige Künjtler-Naturen das Vermögen in jich,
zu eigener Freude und zum Frommen der Andern mit einem
Schönheitsideal vor Augen zu jchaffen, jo verhallt ihre Stimme
umjonjt, wenn jie fein Echo findet. Bon Alters her wurde Die
Schönheit mit dem Lichte verglichen und der betende Menjch neigte
fi) vor der Sonne. Aber der Sonnengott, der jtrahlende Helios-
Apollon, war der Bater der Mujen.
Licht jet die Kunjt! In der Welt unjerer Empfindungen und
Gedanken eine jtrahlende Sonne, die Yeben verbreitet, Wärme und
Luft, wie das Tagesgejtirn auf unjerer armen Erde.
Mag der tiefe Realismus eines Spinoza oder der oberflächliche
Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts im Schönen nur einen
456 Die Pflicht zur Schönheit.
angenehmen Reiz der Empfindungsorgane entdedt haben, uns jet
e8 wieder innere Freude und Gebet und das Wort „jchöne Literatur“
flinge nicht mehr wie ein Hohn auf die Schilderungen der hoffnungs=
lojen moralischen und phyſiſchen Verkommenheit, jondern werde
zur Wahrheit!
Die Schönheit jollte und könnte wie die Liebe bis ins Kleinſte
dringen, wir müßten fie täglich, jtündlich genießen, wollten wir
Menjchen im höchjten Sinne des Wortes werden. Nicht eine
Sammlung fonventioneller Bollfommenheiten ijt wahre Schönheit.
Ich las einmal in einem Märchen, wie jich Hans ein Weib wünjchte
mit Lippen wie Korallen, Wangen wie Milch und Blut, und Haaren
wie Gold. Doch all’ die machte das Weib nicht jchön, denn als
es dor ihm jtand in der Pracht der verlangten Eigenjchaften, wollte
es ihm fajt wie ein Ungeheuer erjcheinen.
Nicht jolche fonventionelle Dinge bilden die Schönheit der
Frau. Wenn jtatt indischer Gefalljucht ernite heilige Ueberzeugung
jie beherrjcht und in ihr die Pflicht lebt, jo jchön als möglich zu
jein, wird jede Geberde und jede Bewegung zur anmuthigen Ber:
föürperung edler Gedanken, ihre Sprache und ihr Lächeln behalten
den Zauber der Jugend über die Jahre hinaus. Bittoria Colonna
war eine alte Frau, als jie jtarb, aber wie jchön mußte fie zu
jein verjtanden haben, daß ein Michelangelo in Verzweiflung ihre
Hände fühte und fich vorwarf, daß er nicht den Muth gehabt, auch
die jchöne Stirn zu berühren, vielleicht die Lippen, von denen jo
viele anmuthige Worte geflojien.
Wir haben jet taujend Mittel mehr als früher, die Schönheit
zu fajjen und zu erwerben. Wie ein ftolzer König jeine Braut
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit führt, fann der Menjch in gerechtem
Stolze zeigen, was er auf Erden vermag. Er hat mit der Natur
im Wetteifer gejchaffen und die Welt, die er jic gebaut, braucht
jih vor dem Borhandenen nicht zu jchämen. Was jind Die
jchönjten Tropfjteine gegenüber den jteinernen Wundern der Gothif,
wie armjelig jind die wilden Früchte im Vergleich mit den berr-
lichen form: und farbvollendeten, die der Menjch zu erzielen ver:
ſteht. Derjelbe Menſch, der Stoffe in allen Farben des Regen
bogens weben fann, jchillernder, jchimmernder als die Fügel der
Libelle und des Schmetterlinge. Ja! wir find gewaltige Zauberer!
Mitten im Winter haben wir gelernt, alle Blüthen des Frühlings
eritehen zu lajjen, um unjer Leben mit ihnen zu jchmüden. Aus
der einen Gentifolie find hunderte von Roſenarten entjtanden, jede
Die Pfliht zur Schönheit. 457
für ji) ein Märchen an Schönheit und Duft. Der Mann, der
uns um eine Blume bereichert, verdient größere Bewunderung als
der Erfinder eines neuen Geſchützes. Wir jind Zauberer, Könige
auf Erden, Göttliche wohnt in ung. Vergeſſen wir das nicht!
Seien wir zu jtolz, um Häßliches und Gemeines zu ertragen!
Empören wir uns gegen die Häßlichfeit und jehen wir nicht mit
jeiger Gleichgültigfeit zu, daß die Ehrfurcht vor der Schönheit ab»
nimmt, die Freude an ihr verblaßt, daß jchöne alte Gebäude an—
geblicher Nüslichkeit weichen und das Stleinod idealer Gejinnung
mehr und mehr aus dem Herzen unjerer Zeitgenojjen jchwindet.
Je mehr das Schöne aus alter Zeit vergeht, dejto roher wird
der Gejchmad, denn unjer Gemüth verlangt Anfnüpfen an das
Beitehende und verbietet uns, mit der Vergangenheit zu brechen.
Ohne Gemüth ift jedes Werk der Nohheit verfallen. Aber das
eigenfinnige, Eleinliche Feithalten an der Tradition wird ebenſo—
wenig ein wahres Kunjtwerf hervorbringen als die franfkhafte
Sucht nad) Originalität. Der Menjch muß Lehrling, Gejelle und
dann erjt Meijter werden, die Augen immer mit Andacht nad) der
Göttin Schönheit gerichtet.
Wehe den faljchen Propheten, die uns zurüdjführen möchten
in die Finjternig unter dem Vorwand, das Leben dürfe nicht jchön
jein und biete nur Naum für nütliche Arbeit. „Sinjterlinge“
nennen die ruſſiſchen Bauern jelbjt ihren vermeintlichen Freund
Tolſtoi und dejjen Jünger, die eine Rückkehr zu primitiven Sitten
mit Wort und That predigen. „Wie“, jpricht der praftijch ur=
theilende Bauer, „diefer Mann, unjer Herr, iſt durch die Gunit
des Himmels und das Glück feiner Ahnen reich) geworden. Er
fünnte Kirchen bauen und Gärten anlegen zu Stolz und Zier der
Gegend, er fönnte für unjere Jugend Muſik jpielen laſſen und
Märchen erzählen, aber er zieht es vor, Stiefel zu fliden und Holz
zu jpalten. Er will in unjere Finſterniß hinunterjteigen, als ob
es Dadurch bei uns heller würde.“
Sp lautet das Urtheil über jold) jonderbare der Schönheit
und Kunſt jpottende Schwärmer. Ein gejund empfindender Menjc)
fann fic) ohne Neid an allem Schönen erfreuen, fann er es auch
nicht als Eigenthum erwerben. Was mein Auge und mein Ohr
ergößt, it mein. Doch hätte ich um theures Geld das Eojtbarjte
Stunjtwerf befommen und jtände ohne Verſtändniß davor und liebte
es nicht und ließe nicht Andere an meiner Freude theilnehmen,
dann gehörte es mir nicht wirflic) trog meines Kaufvertrages.
468 Die Pflicht zur Schönheit.
Es iſt menſchenunwürdig, wenn Einzelne praſſen wie Lucull.
aber ebenſo unwürdig, die ſchwarze Suppe der Spartaner für alle
kochen zu wollen. Das Mädchen Griechenland iſt nicht unſterblich
wegen des eiſernen Ringes Sparta, den es am Finger trug,
ſondern wegen des Zauber-Goldreifs Athen.
„A thing of beauty is a joy for ever.“ (Keats.)
Wer dem Menſchen eine ſolche immerwährende Freude ſchafft,
dem kann Vieles vergeben werden. Giebt es noch einſichtige
Menſchen, die es nicht begreifen, daß Leo der X. während der
Geſpräche mit Raphael und Michelangelo das ferne Grollen der
Reformation überhörte? Schönheit macht uns zwar nicht zu
moralijch vollfommenen Menjchen, aber fie bejjert ung und bändigt
zuweilen den böjen Geift, wie Davids Harfe das Gemüth König
Sauls. Das Höchite ift freilich, wenn die Liebe zum Schönen
Eitelfeit, Ruhm und Gewinnjucht joweit zu zähmen vermag, wie
bei jenem Tyrannen Demetrios, der die Eroberung von Rhodos
unterließ, weil dabei ein Stadttheil in Flammen aufgehen fönne,
der ein berühmtes Gemälde enthielt.
Ihre Kunſtſchätze jollten eine Stadt wie Rom bejjer vertheidigen
als die fleinen, elenden Forts, welche die Campagna verunzieren.
Ehrfurcht vor der Schönheit, Freude an ihr, Fähigkeit, Be
geiiterung zu empfinden, it das jchönjte Necht und eine gewaltige
Pflicht der Jugend. Wer über jolches jpottet, der jpottet jeiner
eigenen Menjchenwürde. Wie edel dachten jene Handwerfsleute in
Florenz — die Genojjen der „arte della Jana“ — die Stein um
Stein, Geldjtüdchen um Geldjtüdchen 'herbeitrugen, ihren Dom zu
erbauen. Die Florentiner find uns überhaupt ein jchönes Beijpiel,
bejonders als fie fingend und jubelnd Gimabue mit jeiner
Madonna auf dem Wege nach Santa Maria Novella umringten,
jo froh über das Ereigniß, es jei etwas mehr an Schönheit in
die Welt gefommen, daß der ganze Borgo nach ihrem Jubel
benannt ijt und noch heute „Borgo allegro* heißt.
Sie ahnten unbewußt den großen Sieg, der darin liegt, daß des
Menjchen Hand und Herz den jpröden Stoff zur Schönheit bezwungen,
denn jie ijt nichts Meußerliches und Ueberflüſſiges in unjerem Leben,
fie it ein hohes Gut, deſſen Beſitz zu erringen Menjchenpflicht it.
„Weißt du aud, was die Schönheit fei?
Sieh zu, ob ich's verfehle:
Ein Gleichniß beut die Liebe mir,
Sie geht vom Körper aus glei ihr
Und endigt in der Seele.“ (Srillparzer.)
Die Pfliht zur Schönheit. 459
III.
Unter Feuerbachs Einfluß jchrieb Richard Wagner: „Das Ziel
it Der jtarfe und jchöne Menſch. Die Revolution gäbe ihm
Stärfe, die Kunſt die Schönheit!“
St e8 auch nicht die Revolution im damaligen Sinne des
Barrifadenfämpfers, jo it es doch eine Auflehnung gegen das
Häßliche und Hoffnungslofe, die uns Stärke verleiht. Im Kampf
fräftigt jich der Körper, jtählt ſich der Geiſt und wenn unjer
Idealismus, Schönes zu jchaffen und e8 in einem fchönen Leben
zu genießen, nicht fern in den Wolfen ein ewiger Traum bleiben
ſoll, muß er zum Schlachtruf werden gegen die trübe Lehre des
Häßlichen und Gemeinen. Im der Kunſt zeigt ſich das Leben mit
feinen Zielen, die Anjchauungen einer Zeit jpiegeln ſich in Bild
und Wort und, wer ein jchönes Werf aus feiner Gedanfenwelt in
die Wirklichkeit zaubern will, muß verjtehen, in der Harfe des
Lebens nicht Disharmonien, jondern Akkorde zu greifen. Wollen
wir eine lichte Kunjt haben, jo müfjen wir die Heilung an unjerer
Perſon beginnen, nur dem Schönen Einfluß gewähren und das
Nüsliche mit dem Gewande der Anmuth befleiden. Ernjte Männer
werden den Kopf jehütteln und den Mahnruf des Idealiften in der
Hera der Majchinen und in den Zeiten der unruhigen Hajt vor:
läufig belächeln, aber ihr Spott wird jchwinden, wenn fie den
Werth des Schönen wirklich begreifen. Zieht Hoffnung in der
Menjchenjeele ein, herrjcht Zufriedenheit, wenn auch nicht mit dem
gegenwärtigen Zultand, jo doch mit dem, was man bei ruhiger
Entwidlung erreichen fann. Nur zufriedene Menjchen verlangen
darnad, ji) und ihr Leben zu jchmücden. Schönheit wird ihr
Streben, Schönheit wird ihr Gedanfe. Sie find an Leib und
Seele gejund und brauchen nicht in betäubendem Genuß franfe
Nerven zu reizen, jondern empfinden am wahrhaft Schönen reine,
glüdbringende Freude. Diejer Durſt gebildeter Menjchen wurde
ihon oft unter dem Schlagwort „Rückkehr zur Natur“ zuſammen—
gefaßt, it aber nichts Anderes als das zurücdgedrängte Bedürfnik
nach Schönheit, der Wille des Samenkorns, den Stengel und die
Blüthe zu treiben.
Warum jo häßlich? fragen wir uns, wenn wir den überarbeiteten
Schulbuben blaß, mit Brille und jchweren Büchern bepadt nad)
Haus wandern jehen. Warum jo häßlich? wenn ein dicker Student
mit zerhadtem Gejicht, aufgetrieben vom Biergenuß zur Kneipe
geht? Die Schüler, die zu den Füßen der alten Bhilojophen
460 Die Pflicht zur Schönßeit.
andächtig laujchten, jahen anders aus. Die Männer, deren Jugend
ein Hauch phyſiſcher Schönheit umwehte, blieben frijcher und jünger,
als die armen biergetränften Bureaufraten unjerer Zeit. Wer
prinzipiell die Vergangenheit bewundert, findet freilich nur Fehler
in der Gegenwart, wer jedoch die eigne Zeit liebt, auf Die Zukunft
vertraut und das Schöne verjchwundener Epochen nicht vergejien
will, bedauert, daß dem einjeitigen, gewaltigen Fortjchritt der große
Rückſchritt andererjeits gegenüberjteht.
Die Kultur des Alterthums wurzelte unter einem Himmels—
jtrich, der ein Yeben ım Freien ermöglichte, und der langjame Puls:
fchlag der Zeit geitattete den Menschen, faltenreiche Gewänder zu
tragen und in jchönen langjamen Bewegungen dahinzujchreiten.
Bedurften jie der Ktraftentwidelung und Gelenfigfeit, warfen jie
das Kleid ab. Sie waren jchön, was brauchten fie jich zu ſchämen.
Eine Rückkehr zum antifen Gewand erlaubt weder unjer Klima
noch die Art und Weije unjeres Lebens. Kohlenſtaub füllt die
Luft unjerer Städte, und Hände, die früher der Bedienung des
Einzelnen zur Verfügung jtanden, jchaffen jetzt mit gewaltigen
Majchinen an der Heritellung von Meajjenartifeln. Das Nützlich—
keits- und Gleichheits-Prinzip iſt der Schönheit feind, denn für Alle
fünnen nicht Meiiterwerfe gejchaffen werden und wer nur auf den
Gebrauchswerth der Dinge jein Mugenmerf richtet, betrachtet die
Welt vom Standpunfte des Ihiers, nicht aber von dem des be:
jeelten vernünftigen Gejchöpfes.
Es fehlt weder an Mitteln noch an Kenntnijien, unjere Um—
gebung viel jchöner als je zu gejtalten. Wann gab es Merzte, die
dem Körper die gleiche Sorgfalt zu theil werden ließen als jest?
Wann it in dunkler Nacht eine Lichtquelle hervorgezaubert worden,
wie heute die eleftrijche Flamme? Wann war es möglich, das
belebende Wort fajt gleichzeitig in allen Theilen der Erde zu verbreiten?
Im Norden wenn Wind und Wetter über das Yand jagen,
ſchmücken die jchönjten Blumen unjere Tafel, aber wir winden uns
feinen Kranz mehr aus ihnen und legen ihn um unjere Stirn,
denn wir würden uns lächerlich und grotesf vorfommen. Was wir
aber als lächerlich empfinden, tjt der wichtigjte Unterjchied im
Wandel der Sitten. Die Schönheit vergangener Zeiten eignet jich
nicht mehr für die rußgejchwärzte Gegenwart nnd wir müfjen, auf
der Bahn der Entwidelung fortichreitend, eine neue finden, die jich
Eingang erzwingt in die Paläjte und Hütten, die unjerer Kultur
und unjerer Gejchichte würdig üt.
Die Pfliht zur Schönheit. 461
Ein unruhiges Tajten macht jich jeit einigen Jahren bemerf-
bar, man jucht dem Buch, der Wohnung, dem Gebrauchsgegenitand
einen perjönlichen Stempel aufzudrüden, der das Verlangen nad)
Schmud und Schönheit enthält, aber man vergißt die Hauptjache:
ſich jelbit. Der Menjch, zu deſſen Füßen bezähmte Naturfräfte
ächzen, dejjen Gedanke den Erdball beherricht, hat die Zeit und
die Luft verloren „ſchön zu jein.“
Wir lachen über die vornehme Frau des achtzehnten Jahr:
bunderts, die ſich noch auf dem Todtenbett pudern und jchmücden
ließ und vergejjen, welches erhabene Pflichtgefühl fie zu Diejer
äußeriten Anftrengung leitete: die Pflicht zur Schönheit. Wir
jind im Kampfe des Lebens und in der Ueberfülle der Arbeit zu
ernſt geworden, um klaſſiſcher Heiterfeit Eingang zu gewähren,
deren größtes Ergebniß eine gejunde Seele in einem gejunden
Körper it. Wur auf dem Boden diejer Gejundheit fann fich das
Schöne entwideln, nur, wem eine fräftige Revolution gegen
Krankheit und Unterdrüdung Stärke verleiht, wird in jeinem Da:
jein Schönheit erreichen.
Ihr Feind iſt vor Allem die Einjeitigfeit und das bejtimmte
Ziel, deſſen fi) die Erziehung vom Knaben an jchuldig macht.
Hat der Egoismus des Staates, Fräftige Soldaten zu erziehen,
auch dem Turnen und Fechten Eingang verjchafft und bildet er den
erwachjenden Süngling zum fräftigen Mann, jo verliert fich bei
den Meiſten bald die Yujt an körperlicher Uebung oder wird im
beinahe berufsmäßig betriebenen Sport zur Ueberanjtrengung, die
den Menjchen ebenjo verhäßlicht wie das Gegentheil.
Die Luft zu unnatürlicher Steigerung und die Sucht fich
einander zu überbieten, nimmt unjerer Zeit den vornehmen
Ausblidt auf das Ganze, das bejtändige Berdunfelnwollen
einer fremden Sonne raubt uns die Freude am eigenen be—
jcheidenen Stern. Wir müjjen die Welt wieder mit den Augen
des Idealiſten betrachten, nicht zweifeln und fürchten jondern
wollen und hoffen.
Wie viel mehr Elend und Häßlichfeit gab es früher und wie
erhob fich in immer mächtigeren Wellen die Fluth der Schönheit
in der Mntife, der Renaiſſance und der deutſchen klaſſiſchen Zeit.
Immer größer wurden die Streije, die der gewaltigen Göttin unter:
lagen und wenn ſich jegt wieder Propheten regen, die vom Menjchen:
thum mehr verlangen als Wifjen und Können, die im getjtigen
Genuß des Gejchaffenen, in der Freude am Schönen allein ein
462 Die Pfliht zur Schönheit.
würdiges Ziel erbliden, jo liegt darin eine fröhliche Ausficht auf
die Zukunft.
Man hat von der politijchen Gleichheit und von der Wiſſen—
ichaft ein neues reiche8 Leben erwartet und wurde enttäujcht.
Die nationale Eitelfeit jollte Wunder wirfen und entflammte nichts
als gemeinen Streit. In Habſucht und Interefjenfampf löſte ſich
das einjeitige Leben für Handel und Induftrie. AU dieſe jorg-
fältig gepflegten Objtbäume im Garten des Daſeins gaben nur
Knojpen, die Wind und Regen vom te rifjen, während der ver-
achtete Strauch in der Hede jich mit wunderbaren Blüthen bededte
und nur weniger Pflege bedarf, um uns mit ſüßen Früchten zu
überjchütten.
Vom Baume der Erfenntniß zu ejjen war dem Menjchen ver-
boten und er aß doch. Neben ihm aber blühte unbemerft der
Strauch der Schönheit.
Aus den Worten der Philojophen von den alten Indern und
Plato bi8 zu den Denfern des heutigen Tages geht Elar und deut-
lid) die Lehre hervor, mögen jie das Dajein des Schönen an fich
leugnen, zerlegen und anerfennen, daß im reinen Empfinden der
Schönheit der höchite Ausdrud des Menjchenthumes liegt, weil
jih in ihr feine Befriedigung unjerer nothwendigen Bedürfnifie
findet, jondern weil fie allein zu unjerer Freude dient.
Sie jchlummert im Kinde, das in Feld und Wald Blumen
jucht, jie zum Heinen armjeligen Strauße zu verbinden, jie rubt
in den Anjchauungen niedrig jtehender Völker, die jich mit Mujcheln
und Federn jchmüden und in ihre Haut bunte Figuren ätßen.
Aber fie hat fich entwidelt und feite Negeln gewonnen und im
griechifchen Ideal ihren höchjten Ausdrud gefunden, der jich den
wechjelnden Zeitanſchauungen anjchmiegend in jeinem abjoluten
Wejen nicht mehr verändert hat.
Mögen uns Nörgler zurufen: ihr Idealiſten ſchwärmt für den
Hermes des Prariteles und für die Venus von Milo, aber ihr
jeht aus wie die Starifaturen in den fliegenden Blättern, ihr redet
euch die Lippen wund über die Zeiten des Perifle8 und der
Hypathia und jiht zwiſchen engen jchmudlojen Wänden aneinander-
gedrängt ohne Raum und Zeit zur Entfaltung, ihr habt die Najen
ın der Yuft und fallt in den Schmutzhaufen zu euern Füßen! jo
antworten wir ohne Zögern: Wir haben einen Bejen in der Hand,
vor unjerer Wanderung die Straßen auszufehren, unjere Kunſt
wird die Wände jchmücden, jo jchön, vielleicht fchönee als früher
Die Pflicht zur Schönheit. 463
und unjere reiche Gedanfenwelt wird aus der Enge hinausjtreben.
Der Wunjch jcehöner zu werden wird uns zur Erfüllung verhelfen.
Alles it Wille im Leben und wer die Pflicht zur Schönheit ernit
nimmt, fann jeinen Kräften entiprechend etwas erreichen, das durch
das Gejammtwollen der Menge zum Ziele führt. Nicht Jeder
muß Dichter oder Maler jein, aber Jeder kann Freude an den
ichönen Werfen der Auserwählten empfinden.
Daß unjer Dajein troß der großen Schäte, über die wir auf
allen Seiten verfügen, mit Bewußtjein immer häßlicher geworden
it, Liegt darin, daß wir in dem Bejtreben, reich zu werden, darauf
verzichten, reich zu fein. Der moderne Menjch ift zwar ein Egoijt
wie Die moderne Nation, aber es geht Beiden, wie der berühmten
Frau Gilebeute in Göthes Fauſt, die in dem Verlangen, immer
mehr und mehr zufammenzuraffen, die werthvolliten Stücke wieder
aus ihrer Schürze fallen läßt.
Das Yeben iſt kurz, doch es tt lang genug, um jchön zu jein,
wenn wir unjere Wiünjche mit unjferem Können in Einklang zu
bringen wijjen. Das Mädchen vom Lande iſt in feiner Tracht
mit einem Sträußchen veralteter Gartenblumen an der Bruſt in
jeiner Art ebenjo jchön wie die Dame im Glanze der Juwelen,
aber die Bäuerin mit ihrem jonnverbrannten Gejicht iſt häßlich,
wenn jie einen jtädtifchen Hut auf ihren Kopf jeßt, wie die alte
Kofette, wenn fie fich mit jugendlichen Farben ſchmückt.
Wie oft find es nur Nleinigfeiten, die uns die Freude am
Daſein vergällen, geringfügige Dinge, die der Schönheit den Ein-
tritt ins Leben verwehren, aber es fehlt die Gelegenheit oder der
Sejchmad, jie aus unjerem Kreiſe zu entfernen. Die eritere zu
ichaffen it Pflicht des führenden Theiles der Menjchheit. Geſetz—
geber, Dichter und Künftler haben die große Nufgabe, außer dem
Schädlichen das Häßliche zu entfernen nicht durch Verbot, jondern
durch Beijpiel und Preis des Schönen. Wird das Häpliche hier:
bei der Lächerlichfeit preisgegeben, um jo bejjer, denn nichts bildet
den Gejchmad des Einzelnen und des Volkes leichter, als wenn
man es lehrt an richtiger Stelle zu lachen. Keine Strenge und
feine Strafe heilt einen Schaden jo gut als das bejchämende Ge—
fühl der fomijchen Wirkung.
Der Gejchmad aber ift die Krone einer langen Kulturentwick—
lung und der Fluch der Emporföümmlinge liegt in jeinem ‘Fehlen.
Durchaus individuell gehorcht er feinem Gejeh und wird, jo lange
es Menjchen unjerer Art giebt, die wirkliche thieriſche Gleichheit
464 Die Pfliht zur Schönheit.
von uns fern halten. Gejchmad und Schönheit jind das Palladium
unferer Kultur und Bildung, ftreng arijtofratijch dienen jie Den
Beiten allein und werden immer den llnterjchted zwijchen den
innerlich Hochjtehenden und der Maſſe bilden. Je weiter die Kreiſe
werden, denen jie ſich offenbaren, deſto fortgejchrittener ijt unjere
Welt und wenn fich wieder ein perifleijches Zeitalter vorbereitet.
jo wird es fich nicht auf den Marftplag von Athen jondern auf
die Gejammtheit der aebildeten Nationen erjtreden.
Daß aber mitten in dem waffenjtarrenden Europa der ideale
Gedanfe immer mehr um fich greife und dadurd) das Weich der
Schönheit an Boden gewinne, jet Sorge Mller, deren Her; und
Horizont über das Kaſſenbuch, den blauen Aftendedel oder die
Spite des Säbels hinausgeht. Die Nenaijjance der Italiener und
unjere Elafjiiche Zeit trafen zwar mit politiichem Niedergang und
fremder Knechtſchaft zuſammen und man hört oft, die Größe Des
Staates hindere die Entfaltung der Kunft, weil jie die erjten
Geijter an das öffentliche Leben fejlele, aber im unabläfjigen
Drang nach vorwärts, der uns die Waffe oder die ‘Feder, Den
Hammer oder den Zirfel in die Hand drüdt, wird das Verlangen
immer deutlicher: nicht nur nüßlich, jondern auch jchön, nicht
wahr allein, jondern erhaben!
Wer fein Talent daranfegt, den niedrigen Yeidenjchaften der
Anderen zu dienen, und wer jeine Schäte an Zeit, Kraft und
Verſtand vergeudet, Gemeines oder Häßliches, jei e8 zu jchaffen,
jei es zu genießen, der gleicht jener Königin des Alterthbums, Die
ihre jchönjte Perle in den weingefüllten Becher warf und ihrem
Geliebten zum Tranfe gab. Der Wein ward nicht bejier und die
Perle war verloren.
Die Schönheit diene zum Schmud, nur dann erhebt fie uns
über die Kämpfe des täglichen Lebens.
Sm Traume wanderte ich einjt durch einen wunderjchönen
Garten, Blumen dufteten auf allen Seiten und wendeten ihre
farbigen Stelche der Sonne zu und Bögel jangen.
Zwijchen dem Yaub der Bäume über blühende Sträucher
hinweg jah man ins weite Land und mit gejchärftem Auge fonnte
ich erfennen, wie der Yandmann friedlich jeinen Acer bejtellte und wie
Schaaren fröhlicher Menjchen von ihrer Arbeit heimwärts wanderten.
Sie waren jtarf und jchön. Man jah ihnen an, daß fie thätig
waren, aber die Arbeit hatte nicht ihre Geitalt noch ihren Ausdrud
verdorben.
Die Pfliht zur Schönheit. 465
Id) wanderte weiter und fam in einen Hain, in Ddejjen
Schatten herrliche Statuen thronten. Sie ftellten Menjchen dar,
fchön, wie ich ſie vorhin gejehen, nur noch edler, ruhiger —
und nadt.
Da weitete ji) vor mir der Hain, die uralten Bäume traten
zurüd und vor mir lag, in NRojenbeete gebettet, ein Tempel. Es
jtiegen Leute die Stufen hinan, ich jchloß mich ihnen an und fam
in große, bildergejchmüdte Räume. Sc bemwunderte, denn Alles
war jchön, wahr und einfach. Ic hatte das Gefühl, all dieje
Werfe müßten jo und fünnten nicht anders jein.
Und die Menjchen um mich bewegten fich, als wären ihre
Bewegungen Muſik und, jie waren freundlich und jchienen froh.
Da famen wir in einen Raum, in deſſen Mitte jtand ein
Altar und vor dieſen trat ein Mann. Site jagten, er jet ein
Dichter.
Und er jprad:
„Sterbliche, die ihr den Tempel der Schönheit betretet ...“
Da erwachte ich und wußte, daß ich von einem Fabelland
geträumt hatte. Draußen aber durch den Sommermorgen riefen
die Sloden und luden zu einem Gottesdienjt ein, der jo ſchön
fein könnte und jo himmliſch, wenn nicht auch er allzu irdiſch
geworden wäre.
Der Traum eines Dichters ijt zu weit von der Wirklichkeit,
um Wahrheit zu werden, aber jeine Gedanken verdichten fic zu
Worten und jeine Worte erregen Sehnjuht in den Gemüthern.
Pflicht it aber, daß beide zur Schönheit mahnen: Die Ges
danfen und das Wort.
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 30
Sven Hedins und Landors Reifen
in S$nnerafien. *)
Bon
Paul Rohrbad.
Die Erforfhung Innerafiens hat ihre größten Fortſchritte nicht
jo jehr durch den rein geographijchen Entdedertrieb wie Durch die
politijchen Bejtrebungen der Ruſſen und Engländer in jenen
Gegenden gemacht. Ruſſiſche und englische Neifende find es auch
bei Weitem zum größten Theil, denen wir die Erweiternng unjerer
Stenntniß über das hohe Innere des Kontinents verdanfen — und
zwar waren die Neifenden bezeichnender Weije meijt Offiziere und
Beamte. Die beiden Unternehmungen, die den Gegenjtand diejes
Berichts bilden jollen, fallen aus der Sphäre jolcher mehr politijchen
Entdederthätigfeit heraus: jie jind von Privatleuten und mit
privaten Mitteln ins Werf gejebt, und fie haben rein wijlenjchaft:
lihen Zielen gedient. Sven Hedin, der Glüdlichere der beiden
Neijenden, it Schwede; das Gebiet jeiner Forſchungen bildet das
HBentrum der gewaltigen, abflußlojfen Gebiete Hochafiens, das jand:
erfüllte einftige Meeresbeden zwijchen dem Thian-ſchan und dem
Kwenlun, jammt feinen hohen Randlandjchaften. Landor, der vom
Mißgeſchick Verfolgte, iſt Engländer und hatte jich die Aufgabe
geitellt, nördlich) vom Himalaya, dem Laufe de8 Brahmaputra
*) Sven Hedin, Durd Aſiens Wüſten. Drei Jahre auf neuen Wegen
in Bamir, Yop«nor, Tibet und China. Mit 256 Abbildungen, 4 Chromo—
tafeln und 7 Rarten. 2 Bände, Leipzig 1899, F. A. Brodhaus. Preis
20 Marl. Henry ©. Landor, Auf verbotenen Wegen. Reiſen
und Abenteuer in Tibet. Mit 202 Abbildungen, 8 Ehromotafeln und
einer Karte. Dritte Auflage. Leipzig 1898. F. A. Brodhaus. Preis 10 Mt.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 467
folgend, Lhaja, die unzugängliche, verbotene Hauptitadt Tibets, zu
erreichen. Wenn man die beiden Männer nicht nad) ihren Erfolgen,
jondern nad) ihrer perjünlichen Kühnheit und dem Opfermuth im
Dienste ihrer Idee mißt, jo wird feiner von ihnen dem Andern
nachitehen; nichtSdejtoweniger aber iſt Sven Hedin doch ohne
Zweifel der bedeutendere, jtärfere Genius. Man fühlt ich jelbjt
gegenüber jolchen wirklichen Bionteren der Forſchung, jolchen jtählernen,
der Wiſſenſchaft ſich opfernden Charakteren Eein — jehr ein,
auch wenn man jich jagen darf, daß man zu Wajjer und zu
Yande ein Stüd von der Welt durchzogen und Gegenden fennen
gelernt hat, die nicht häufig als Neijeziel dienen und bereit außer:
halb jelbjt der Peripherie des europäischen ulturfreijes liegen. Immer:
bin, gegen Hedin und Landor find das unerhebliche Ausflüge,
und jelbit ein Monat unter den kurdiſchen Banditen in Hoch»
armenien und dergleichen mehr bedeutet gegen ein wochen:
langes Ningen auf Tod und Leben mit dem Dämon Durjt in der
Wirte oder gegen Martern, wie jie nur eine raffinirte Graujamfeit
erjinnt, nicht mehr als ein Spaziergang in den Bergen gegen eine
Hochgebirgstour. Auf der andern Seite geben aber eigene, wenn
auch bejchränfte Erfahrungen injofern ein Recht, auch Größeres
einer Würdigung zu unterziehen, als ein richtiges Augenmaß und
zutreffendes Schäßungsvermögen für Leitungen in der Art Hedins
und Landors ſich erjt einjtellen, wenn man jelber eine praftijche
Vorjtellung davon hat, was eine jolche Erpedition bedeutet. Wer
jelbjt das Satteln und Lagern fennt, Tag um Tag, die Freude
am flotten Vorwärtsreiten in freier milder Natur, in Klüften und
Einöden, durch Berge und Steppen, wo es noch feine Kultur giebt,
und die jpärlichen Bewohner des Landes über den Fremden, den
Europäer, nod) erjtaunen — wer jelbjt mit vollen Zügen den Reiz
des epijchen Erlebens im Barbarenlande genojjen hat: das Zus
ſammentreffen und Verhandeln mit den Eingeborenen, die Bejuche
in ihren Häufern, bei ihren Würdenträgern, auf ihren Beluftigungen,
das herrliche Gefühl der Freiheit, zu bleiben, zu reiten, zu rajten,
wo, wohin ich will, befehlen, jpenden, verjagen zu fünnen, mit
einem Wort, Führer zu jein, der jeine Ziele vor Augen jieht,
jeine Leute, feine Karawane jeinen Zwecken dienen läßt, mag
er dabei auch noch joviel mit Reibungen, Widerjtand, Hindernijjen
zu fämpfen haben — wer, jage ich, von alledem hat fojten dürfen,
der Lieft jolche Werfe wie Hedins und Yandors Bücher jozujagen
mit einer Art follegialen Empfindens, und jollte diejes jelbjt ein
80*
468 Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraften.
, wenig dem Gefühl verwandt jein, mit dem der fleine Provinzial:
jchaujpieler vom „Kollegen“ von der Refidenzbühne jpridt. Ganz
abgejehen aber von diejer bejonderen Art des Genufjes, den ic
perjönlic) bei der Lektüre gehabt habe, it e3 doch das Erleben und
das Erzählen der Helden an ich, „der Nimbus des Heroischen und
Abenteuerlichen, das poetische Gefühl eines naiven odyijeushaften
Heldenthums“*) in Gebieten, die zum großen Theil noch nie vom
Fuße eines Europäers betreten worden find, was Seden, der eins
der Werfe in die Hand genommen hat, jo jchwer von der Lektüre
wieder aufitehen lafjen wird. Noch wird es ja eine Weile dauern,
bis der legte große weiße led von der Erdfarte verjchwindet, aber
Sven Hedin hat ein mächtiges Stück diejes bisher noch unbetretenen,
unfolorierten Gebiet3 mit dem Gelb der Wüjte, dem Blau der
Flußadern und Seen, dem Grün der Dajengebietes und dem Braun
der Bergländer überzogen! Es iſt hHinreißend zu leſen, wie er
arbeitet, jtrebt kämpft: vorwärts, vorwärts, wie er jeine jieges-
gewiſſe, fühne Mannesjtimmung in jchlichter Offenheit reden läßt,
jchildert, wie das Geheimnigvolle, Abenteuerliche ihn lodt, mit
dämonijcher, magnetijcher Gewalt an ſich zieht — und wie doc
wieder auf jeder Seite der ernite, müchterne gejchulte, mejjende,
zeichnende, Gejteine, Gras und Kraut wie Münzen und Götter:
bilder jammelnde Jünger der Wifjenjchaft jich zeigt: der ebenbürtige
jchwedische Bruder des norwegiſchen Helden Nanjen. Glücklich,
wem die Götter ſolchen Sinn, ſolches Wiljen, ſolches Können,
jolches Erreichen verliehen !
Als Hedin jeine Neije antrat, war fein Vorhaben, Ajien von
Weiten nach Oſten zu durchqueren: von der faspijchen Niederung
bis nach Peking, im Durchjchnitt auf der Breite des vierzigiten
Parallelfreijes. Das mittlere Stück diefer Route, zwijchen Kajchgar
und dem Hoang-Ho, liegt in einem bisher bejonders unbefannten
Theile des Stontinents, in der wejtlichen Gobi, d. i. dem wiſſen—
Ichaftlich Höchjt interefjanten und wichtigen Beden des Tarimflujjes,
zwijchen dem fünfundjiebzigiten und dem neunzigjten Yängengrade.
Hedin giebt jelber an, daß er von den rund 10500 Kilometern,
die er fartographijich aufgenommen hat, auf 3250 der Erſte, auf
dem Reſt der Yweite, Dritte bis höchjtens Vierte war, der dieſe
Wege ım Dienjt der Wiſſenſchaft ging. Fragt man nad) den Re:
*) Dieſe vortreiflib charakterifirende Wendung fommt aus einer vom ®er:
leger mitgetbeilten Bejprehung in Weſtermanns AJlluftrirten deuiſchen
Monatsheiten.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 469
jultaten jeiner Reife, jo treten jolche für das große Publifum nicht
ganz in jo erfennbarer, flagranter Weije hervor, wie bei den Eırpe-
ditionen eines Stanley, Schweinfurt oder Nanjen, aber e8 wäre
ein großer Irrthum, fie deshalb für gering zu halten.
Da der Schwerpunft der Forichungen Hedins im Tarimgebiet
liegt, jo jet es gejtattet, zunächjt den Yejer über diejes merkwürdige
Stüd der Erdoberfläche furz zu orientiren. Quer durch Ajien
zieht ji) vom Oftfuß das Pamir bis gegen die Mandjchurei hin
ein fait 4000 Kilometer langes und im Durchjchnitt 700 — 800
Kilometer breites Wüjtengebiet hin, das unter verjchiedenen Namen
begriffen wird. Der größere, öftliche Theil wird gewöhnlich Gobi
oder Schamo genannt, der fleinere, wejtliche heißt Takla-Makan;
die Chineſen nennen das Ganze auch Hanshat, d. i. trockenes
Meer. Dies Gebiet ift gegen die hohen Nandlandichaften, welche
es umgeben, jtarf eingejenkt; im Weſten betragen die Differenzen
in der Höhe mehrere Taujend, im Djten gleichfalls noch Hunderte von
Metern. Der Boden der großen Mulde zeigt jelber feine jehr bedeuten—
den Niveauunterjchiede, wohl aber ijt ihr weitlicher Theil in einen viel
gewaltigeren, höher aufragenden Landblock hineingejchnitten, als
der öjtliche. Die Höhe der Sohle des Bedens liegt, wenige tjolirte Er—
hebungen ausgenommen, zwijchen 700 und 1100 Metern; nur an einer
Stelle, nahe dem Schnittpunft des 90. Längen- mit dem 42. Breiten
arade, nördlich vom Lob-nor, findet fich eine wenig ausgedehnte
Deprejjion von etwa 50 Metern unter dem Meeres:
jpiegel. Das ganze weite Gebiet iſt der Boden eines ver—
jchwundenen Binnenmeeres, das wahrjcheinlich noch zur Tertiärzeit
eriitirt hat und etwa Diejelbe Größe und auch annähernd die
Geſtalt beſaß wie unjer Mittelländisches Meer. Welche Umjtände
das Verjchwinden dieſer mächtigen Wafjerfläche veranlagt haben,
läßt ſich mit annähernder Sicherheit noch nicht jagen — ebenjo
wenig, wie man für das Einjchrumpfen des andern, mit jeinen
Reiten bis in die Gegenwart hineinragenden, inneraftatijchen
Binnenmeeres, des turanijchen, dejien Boden jett gleichfall8 größten-
theils Sandwüſte ift, eine haltbare Erklärung zu geben im Stande
ift. Thatſache iſt jedenfalls, daß fich ein langhingejtredtes immenjes
Ländergebiet, vom Kaufajus und dem jüdrujjischen Steppengebtet
an bis zu den die Monjune auffangenden NRandgebirgen im
äußerjten Oſten Ajiens, gegenwärtig in einem Zuftande jtarfer und
ftetig fortdauernder Austrodnung befindet. Gerade Hedins Reifen
haben das mit neueu Beobachtungen belegt.
470 Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien.
Berjegt man ſich in Gedanfen auf den gewaltigen Muitag-
ata, den „Vater der Eisberge* am Djtrande des Daches der Welt
auf dem Bamirplateau, wo Hedin einen großen Theil jeiner
Erpeditiongzeit zugebracht hat, und blidt von dort gen Oſten, io
wird man von dem eigenen Standort aus zur Rechten und zur
Linken und im weiten Bogen am Süd» und Nordhorizont, jo weit
das Auge reicht, jich fortjegend, einen ungeheueren Hocdlandswall
erbliden, der, in jtarfer Böjchung aufiteigend, ein mehrere Taujend
Meter tiefer liegendes, ebenes Beden umjchließt, das in der Haupt-
jache von Majjen graugelben Wüftenflugjandes erfüllt it. Nach
Diten, in der äußerjten Ferne, verlaufen die beiden Flügel des
um dieje Ebene emporgebauten Hochlandes weit jenjeits der Grenze
des Gefichtsfreijes; da, wo nördlich und jüdlich die legten deim Auge
noch jichtbaren Grenzpfeiler emporragen, bleibt zwiſchen dieſen
eine breite Lücke, wo der Horizont endlos erjcheint wie auf dem
Meere: dort jegt fich die Ebene gleich den Hochlandsrändern, Die
jie überragend begleiten, noch ins Grenzenloje hinein fort. Denken
wir uns auf unjerem fajt 8000 Meter hohen Standpunft unjer
Auge mit der zwanzigfachen Sehjchärfe des Adlers begabt, jo
würden wir jehen, daß rundum von dem Gebirgswall ſtarke
Wafjeradern hinabrinnen. Wo die Flüffe fließen, durchzieht ein
langer, grüner Streifen die Wüfte; dazwijchen aber ijt alles Sand,
Sand, nichts als Sand, zu hohen Dünenfetten zujammengeweht!
Die meiſten der zahllofen grünen Bänder, die vom Pamir,
vom Stwenslun und vom Thiansjchan konzentriſch gegen Die
mittlere Yängsare des Tarimbedens zu herunterfommen, dringen
nur wenige Tagereifen weit in die Wüſte vor; dann werden
fie immer dünner, löſen ſich in einzelne unzujammenhängende
Baum: und Gebüjchgruppen auf, und jchließlich hat der Sand
den lebten Tropfen des Waſſers, das zulegt nur noch unter:
irdiſch weiterficerte, verjchludt: Dann herrſcht nur noch der
Tod. Bon diefem Schidjal der Hunderte von jterbenden Waſſer—
läufen machen einige mächtige Adern eine Ausnahme. Sie ver:
einigen ich zu einem großen Strom, dem Tarim, der mit feiner
Wafjermajjie ojtwärts fließend den Sand auf einer Strede von
mehr als 1500 Kilometern bejiegt. Zuletzt aber erliegt auch er
dem furchtbaren Feinde; mächtige Schilffümpfe und weite, flache,
fortgejegt verdunjtende Wajjerlachen, die man unter dem Namen
Lob-nor zujammenfaßt, bezeichnen das Ende des Stromes ; hinter
dem Lob-nor herrjcht dann wieder als einzige Siegerin die Wüſte.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 471
Das Tarimbeden ift ein Oval von etwa 1500 Stilometern
Länge und halb jo viel größter Breite, das jind ungefähr die Ent:
fernungen von Warjchau nad) Baris und von Brüfjel nach Venedig.
Der Tarim jelber fließt mehr auf der Nordjeite der großen Mulde
und empfängt daher vom Thian-jchan eine Reihe von Zuflüfjen,
die jtarf genug find, die hier im Durchjchnitt wenig über 100 Kilo—
meter breite Sand» und Steppenbarriere bis zum Hauptſtrom zu
durchbrechen. Auf der Südjeite, vom Kwen-lun her, gelingt das
nur einem einzigen Gewäſſer, dem Khotan-darja, und auch diejer
erreicht den Tarim nur bei Hochwajjer. Weiter ojtwärts dringt
der SKterijasdarja tief in die Wüſte hinein vor, aber fünf bis jechs
Tagereifen trennen noch den Punkt, wo jein letztes Wajjer verficert,
von dem großen Fluß. Ein dritter Strom endlich, der Tſchertſchen—
darja, der gleich) den beiden vorigen von dem Nordrande des
Kwen⸗-lun-Syſtens fommt, läßt jeine Wafjer im Lob-nor-Gebiet jelber
mit dem des jterbenden Tarım zujammenfließen.
Mit diejer Skizze haben wir bereits einen Theil der Nejultate
und Erfenntnifje umjchrieben, die wir erjt Hedin verdanfen. Wenden
wir uns nun den Cinzelheiten jeiner Kreuze und QUuerzüge und
Erpeditionen zu. Ende Februar 1894 brach Hedin von Margelan,
der Hauptjtadt des rufjiichen serghanagebietes, nach jeinem erjten
Neijeziel, dem Pamir, auf, und Mitte Oftober langte er in Kaſchgar
im chinefischen Oſt-Turkeſtan an, welche Stadt nun für lange Zeit jeine
jtets wieder aufgejuchte Operationsbafis wurde. Die jiebenmonatliche
Durchforjchung des Pamir, namentlich jeiner Seen und der Gletſcher—
welt am Muftag-Ata, bildet den erjten, vorbereitenden Theil jeines
Werkes. Der eigentliche Kern der Unterfuchungen, die Hedin hier
angejtellt hat, ift jo jehr jpeziell fachwijjenjchaftlicher Art, daß der
Forſcher in den betreffenden Stapiteln, die etwa die Hälfte des erjten
Bandes füllen, jeine Ziele und Nejultate bloß andeutet. Bejondere
Bublifationen, deren genaue Ausarbeitung vorausfichtlich noch ges
raume Zeit in Anjpruch nehmen wird, fjollen das ganze Material
jammt den Nejultaten, zu denen Hedin gelangt, der gelehrten Welt
vorlegen. Nichtsdejtoweniger lejen ſich die Schilderungen vom
Bamir im höchiten Grade interefjant, jtellenweije prächtig jchön. Als
Probe möge die Szenerie des Lagerplates vom 16. Auguſt in
6300 Metern Höhe am Fuße des Eispanzers auf dem Muftag-ata
dienen.
„sc hatte einen malerischen Sonnenuntergang erwartet; er
war aber nicht bejonders ungewöhnlid. Die Sonne verjanf hinter
472 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
gelbroth jchimmernden Wolfen, die noch) lange nad) Sonnenuntergang
leuchteten, und auf denen die Gebirge von Pamir jich als jcharfe
Silhouetten abzeichneten. Das ganze Sarif-fol-Thal lag jchon eine
gute Weile im Schatten, als die Sonne nod) ihre legten Strahlen
über den Muſtag-ata ergoß. Doch bald wurde auch unjer Lager
von dunflen, falten Schatten umhüllt, der Gipfel des Berges er:
glänzte einen Nugenblid wie ein jcharlachrother Wulfanfegel, um
gleich darauf ebenfalls in Dunkel gehüllt zu werden.
Ic trat in die Nacht hinaus, um den Vollmond aufgehen zu
jehen. Wir hatten nicht weit nach dem unendlichen Weltenraum,
daher trat der Herricher der Nacht hier in jo blendendem Glanze
auf, daß man ihn nur mit Anjtrengung betrachten fonnte. In
jtiller Majejtät jtieg er hinter der dunfeln, jäh abfallenden Fels—
wand an der gegenüberliegenden Seite des Gletjchers empor. Tief
unten im Abgrunde lag der Gletjcher im Schatten. Manchmal
hörte man einen dumpfen Stnall, wenn eine neue Spalte ent:
itand oder das Gepolter eines Blodes, der vom Wanzereije her:
unterſtürzte. .. ....
Am ſchönſten iſt die Szenerie da, wo der Mond ſteht. Schon
die Architektur der Natur iſt ein kühnes Meiſterwerk! Hier dehnt
ſich der blaue Gletſcher aus, von ſeinen beiden, mit Eis- und
Schneefeldern gepanzerten Felswänden eingefaßt; dort erhebt ſich
der fünfköpfige Bergrieſe hoch zum Himmel empor. Die Felswand
uns gerade gegenüber fällt in ſo tiefen Schatten, daß wir nur
mühſam unterſcheiden können, wo das durchſichtige Manteleis auf
ihrem Grate endet und das ſchwarze Geſtein anfängt.
Alles iſt jtill; das Echo der Felswand dort auf der anderen
Seite antwortet nicht. Die dünne Luft ijt nicht zu fühlen und
braucht eine Yawıne, um in Vibration zu gerathen. Man jieht den
Athem der Yaks*), aber man hört ihre Athemzüge nicht, jtill und
regungslos jtehen die Thiere da. Ein jeltjames Gefühl ergreift die
Sinne. Es wird uns jchwer zu begreifen, daß vier Welttheile
unter unjeren Füßen liegen und daß eine durch den Punkt, auf
dem wir uns befinden, um die Erde gelegte fonzentrijche Kugel
nur die Spiten einer leicht zu addirenden Zahl von aſiatiſchen
und jüdamerifanischen Bergen abjchneiden würde. Man glaubt
an der Grenze des jchweigenden, grenzenlojen Weltraumes zu
jtebel: 4 4.
*) Mal, das als Reit und Laſtthier gebrauchte, hödertragende, jhmwarz-
baarige Rind Hodhafiens. Es lommt wild und gezähmt vor.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 478
Es war eine unheimlich lange Nacht, die fein Ende nehmen
zu wollen jchien. Wie jehr wir auch in unjere Nejter (in der Jurte,
der kirgiſiſchen Filzhütte) hineinfrochen und die Knie bis unters
Kinn heraufzogen, der Körperwärme war es doch unmöglich, den
Steg über die von außen überall hereindringende Kälte davonzus
tragen. Steiner konnte auch nur einen Augenblid jchlafen. Erſt
gegen Morgen fiel ich in eine Art Halbichlummer, wachte aber
immer wieder vor Yuftmangel und ängjtlichem Ringen nach Athem
auf... Endlich ging die Sonne auf!”
Ein Jahr nach feinem Mufbruch von Margelan, im Februar
1895, machte ſich Hedin von jeinem Standquartier Kaſchgar auf
den Weg nad Ojften, der Wüjte entgegen. Sein Diener Islam
Bai, ein rufjischer Kirgife aus der Stadt Oſch in Ferghana, war
unter jeinen Begleitern. Diejer Islam Bai jollte für Hedin ein
unvergleichlicher Schaß werden. Das Ziel war die Wüſte Takla—
mafan, jpeziell die Negion zwiſchen dem Jarkend-darja oder Tarim
und dem Khotan-darja. Beide Flüſſe vereinigen ſich unter einem
Ipigen Winfel; Hedin beabjichtigte, von einem Punkte am Jarkend—
darja, etwas über 200 Stilometer oberhalb des Zujammenflufjes, in
jüdöftlicher Nichtung quer durch die Wüſte auf den Khotan-darja
(oSzugehen. Die Entfernung ſchätzte er nach den ihm vorliegenden
Karten auf 287 Kilometer — 15 Tagereijen. In Maralbajchi be-
ſuchte ein achtzigjähriger Greis Hedin vor dem Antritt jeiner Reiſe
und erzählte ihm, er habe in jeiner Jugend einen Mann gefannt,
der fich einjt in der Wüſte verirrt und dort eine alte Stadt ge—
funden habe; in den Häuſern hätte eine Menge chinefiicher Schuhe
gejtanden, aber jo mürbe vor Alter, daß fie bei einer Berührung
in Staub zerfielen. Wieder ein Anderer habe, gleichfall8 an einer
Auinenftätte in der Wüſte, viel Silber gefunden, aber von einer
Schaar Wildfagen ſei er jo erjchredt worden, daß er davonlief und
die Stelle nachher nicht wiederfinden fonnte. in verjchuldeter
Mullah aus Khotan jei in die Wüſte gegangen, um dort zu jterben;
er habe jedoch in ihr Gold und Silber gefunden und jei jegt ein
reicher Mann. Hedin war fajt überzeugt, daß dieje Erzählungen
einen bejtimmten Grund haben müßten.
„Wie laſſen ſich“, jchreibt er, „Dieje Legenden von der großen
Stadt des Alterthums, Takla-makan, erklären? St es nur ein
Zufall, daß diefe Sagen von Khotan über Jarfend und Maral-
bajchi nad Akju von Mund zu Mund fliegen, und daß die alte
Stadt überall unter demjelben Namen befannt iſt? Wollen die
474 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien,
Eingeborenen ſich nur dadurch interefjant machen, daß jie ver
lajjene Häufjer, die fie gejehen haben wollen, bis in die fleinjten
Einzelheiten bejchreiben und bejtimmt verfichern, e8 habe in grauer
Vorzeit im Innern der Wüſte große Wälder gegeben, Aufenthalts:
orte für Mojchusthiere und anderes Wild?... Wie ein Kind
laujchte ich diejen abenteuerlichen Sagen, die mir die gefährliche
Fahrt, die ich zu wagen beabjichtigte, mit jedem Tage verlocdender
erjcheinen liegen. Sie hypnotifirten mich; ich wurde blind gegen
jede Gefahr, die unheimliche Wüſte verherte mich; jogar die Sand:
jtürme, die ihre Wurzel in der Tiefe der Wüſte haben, erjchienen
mir prachtvoll und bezaubernd.
Und dort Hinten am Rande des Horizonts thürmten die
Dünen ich in edel gerundeten Formen auf, die zu betrachten ic
nie müde wurde, und hinter ihnen lag in der Ruhe der Grabes-
jtille das unbefannte verzauberte Land, von deſſen Dafein nicht
einmal die ältejten Urfunden eine Ahnung haben — das Yan),
das ich als der Erjte betreten wollte!“
Das Land, in dem Hedin weilte, Oft-Turfejtan, gehört zu
China und mit chinefischen Beamten hatte er es in eriter Linie
überall zu tun. Die Sprache des Volkes iſt aber türfijch und in den
jiebziger Jahren diejes Jahrhunderts beitand hier unter dem berühm-
ten Rebellen Jakub-Bek von Kajchgar auch eine jtarfe, national
türkische und muhammedanijche Herrjchaft; ſeit Jakubs Ermordung
iſt es aber den Chineſen geglüct, ihre Autorität wiederherzuftellen.
Als ein Dentmal des landesväterlicden Waltens der chinefijchen
Negierung fand Hedin in einem Dorfe, Namens Meinet, bei
Maralbajcht folgendes Plakat in chinefischer und türkischer Sprache.
mit dem faijerlichen Namen darunter, angejchlagen: „Da ich (der
Katjer) gehört habe, day einige Bels dem Volke ungejegliche
Steuern auferlegt und jich das FFiichereirecht angemaßt haben, will
ich, daß derartige Uebergriffe beim nächiten Dao Tat (Gouverneur)
gemeldet werden. Wenn diejer nicht auf die Klagen hört, joll das
Bolf jich direft an mich wenden. Kuang-Tſü.
„Der arme Kuang-Tſül Er hat nie etwas vom Dorfe
Meinet gehört und kümmert ſich den Kuckuck um den Fiſchfang im
Jarkend Darja* — jagt unjer Neijender dazu.
Erjt am 10. April fonnte die Expedition aufbrechen, nachdem
die nöthigen Nameele und Borräthe bejchafft waren. Acht Thiere
zählte die Karawane, das Stüd zu 135 Marf gefauft. An Leuten
hatte Hedin außer jeinem getreuen Islam Bat noch drei Ein:
Sven Hedins und Zandors Reifen in Innerafien. 475
geborene angeworben — nur einer von Ddiejen follte die Wüjten-
reije überleben. Eiſerne Waſſerkiſten und Schläuche bildeten außer
dem Proviant und den njtrumenten den wichtigiten Beitandtheil
des Gepäds; dazu ein beträchtliches Quantum Sejamöl zur Er:
nährung der Stameele in der Wiüjte. Wenn das Kameel täglich)
einen halben Liter Del befommt, fann es einen Monat lang ohne
jede andere Nahrung marjchiren. Im Frühjahr, der Jahreszeit,
in der die Erpedition aufbrach, jollten die Kameele den dritten Tag
bereits nicht gut ohne Waſſer aushalten können, im Winter aber
und auf ebenem Terrain jogar jechs bis jieben Tage und jelbit
noc) länger.
Die eriten Tage des Wüſtenmarſches verliefen glüdlich; man
hielt jich in der Nähe des Jarkend-darja und fand öfters Waſſer.
Am 23. April gab Hedin beim legten Wajjerplat den Befehl, die
Züternenbehälter zur Hälfte, d. h. für einen Marſch von zehn
Tagen, zu füllen, überzeugte jich aber nicht perjönlich, ob jeine
Anordnung gewiljenhaft befolgt wurde. Die beiten Starten gaben
die Entfernung bis zum Khotan-Darja noch auf hundertdreigig
Ktilometer — ſechs Tagereijen — an; Hedins eingeborener Führer
behauptete jogar, es fünnten nur vier fein.
Der folgende Tag war glühend heit. Der Sand begann
jich zu langen Dünenzügen aufzuhäufen, und je weiter nach Djten,
deito mächtiger wurden die Ketten. Die Ktameele Eletterten jedoch
bewundernswerth ficher an den jteilen Abhängen hinauf. Auf einem
gigantischen Sandwall machte die Karawane Halt; die Ausjicht
über das Dünenmeer war endlos. „Daß ich nicht vor Entjegen
erbleichte*, jchreibt Hedin, „als mein Bli nach Oſten hinjchweifte,
über diejes Meer mit den Niejenwogen von feinem, gelbem Sande,
das uns jeßt überall umgab, fam wohl daher, daß ich nicht glauben
fonnte, mein Glücksſtern, der jtetS jo hell gejtrahlt, würde jet
erlöjchen . . . . Desiderium incogniti, die Sehnjucht nach dem
Unbefannten, hieß der Zauber, der mich unmiderjtehlich nach dem
Schlojje des Wüſtenkönigs Hinzog, wo ehrenvolle Entdedungen und
die verborgenen Schäße der Sagen meiner warteten... . „Vor—
wärts!“ flüjterte der Wilitenwind. „Vorwärts“! jang das Erz der
Starawanengloden. Taujend und aber taufend Schritte dem Ziel
entgegen, feinen einzigen rücdwärts!“
Am 24. April furchtbarer Sandjturm, Dünen über Dünen,
ein uferlojeg Meer von ungeheuren Sandmengen. Schon nach
dreizehn Kilometern war die Karawane erjchöpft und jchlug Lager.
476 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
Keine Spur von organijchem Leben mehr; fein Nachtjchmetterling,
der ans Licht flatterte; Fein dürres, vom Winde getriebenes Blatt
mehr. Am 25. April ſah Hedin nad) dem Waſſer und fand, das
es nur noch für zwei Tage reichte: die Leute hatten in der Ueber:
zeugung, bald an den Khotan-darja zu fommen, und um die
Stameele leichter zu beladen, weit weniger Wajjer mitgenommen, als
ihnen befohlen war. Nun erhob ſich die Frage: umfehren zum
Waſſer oder vorwärts in der Hoffnung, bald neues zu finden?
Den 26. April. Die Kameele begannen zu verjagen; Das
wenige noch übrige Waſſer wurde gehütet wie Gold. Nachmittags
machte man einen merfwürdigen Fund — die weißen mürben Ge—
häuſe einiger Schneden und mehrere vom Wajjer rund gejchliftene
Nolliteine. Wie lange Zeit mochte vergangen fein, jeit das Meer,
das einjt hier brandete, ihnen dieje Form gab. Abends verjuchten
die Leute einen Brunnen zu graben. In zwei Metern Tiefe wurde
der Sand feucht; man grub mit verdoppeltem Eifer und tranf von
dem Reſt des Wajjerd ohne Gewiſſensbiſſe, denn der Brunnen
jollte ja die leeren Zilternen wieder füllen. „Mittlerweile war es
Itodfinjter geworden, und zwei Lichtſtümpfe wurden in fleine Nijchen
in der Brunnenwand gejeßt. Der Inſtinkt trieb alle Thiere nad
der Schachtmündung. Die Kameele jtanden mit vorgejtredten Hälſen
da und bejchnupperten den fühlen, feuchten Sand ..... Wir
dachten nicht daran, nachzugeben. Wir wollten, wenn es jein
mußte, den ganzen nächjten Tag hierbleiben, aber Waſſer mußten
wir haben.“ Da plöglich jtöpt der Mann in der Tiefe einen halb
unterdrücten, entjegten Schrei aus: er war mit einem Male wieder
auf völlig trodenen Sand gejtoßen; alle Arbeit, der ganze Kräfte—
verbrauch, waren vergeblich gewejen.
Den 27. April. Alles, was zurückgelaſſen werden fann, wird
geopfert, um die Thiere noch einige Zeit bei Kräften zu erhalten.
Die Dünen erreichten an diefem Tage ihre Martmalhöhe, jechszig
Meter. Zwei Kameele jtürzten, um nicht wieder aufzujtehen. Gegen
Abend erblidten die Neifenden im Wejten dicke Negenwolfen; aber
fie zogen nach Süden ab und jchenften feinen Tropfen. Die Ein:
geborenen gaben jeßt die Hoffnung auf, am Leben zu bleiben.
Am 28. April neuer Sandjturm. Der Marjch fiel Allen jchwer,
denn von der Umgebung war vor wirbelndem Sande nichts zu
jehen. Die Leute jpotteten in ihrer Verzweiflung über Hedins
Kompaß, der jie doch nur in die Irre führe; es jei zwecklos, ſich
überhaupt noch mit langen Märjchen anzuitrengen. „Verlor man
Sven Hedins und Landors Reifen iu Innerafien. 477
die Andern außer Sicht, jo konnte man den Sturm weder dur)
Rufen noch durch Flintenjchüjje übertönen; man verirrte ſich und
wäre rettungslos verloren gewejen. Man ſah nur das nädhite
Kameel; die übrigen verjchwanden in einem undurcdhdringlichen
Schleier. Nur ein eigenthümlich pfeifender, ſauſender Ton
ließ fich hören, wenn die Milliarden von Sandförnern vorbei-
eilten.“ An dieſem Tage ging das dritte Kameel verloren. Am
Abend wurden alle entbehrlihen Sachen im Lager zurüds
gelafien: „Proviant auf drei Monate, Zuder, Mehl, Honig
Neis, Kartoffeln, Gemüje, Maffaroni und ein paar hundert
Stonjervendojen, alles wurde fajjirt. Mehrere Pelze und Filz:
deden, Kiffen, einige Bücher, ein großer Bad Zeitungen, der Koch—
apparat mit dem WBetroleumvorrath, Kochtöpfe, Porzellangejchirr
u. j. w. wurden zurüdgelafjen.“ Allerdings hoffte man, jobald
erit Wafjer gefunden wäre, die Sachen wiederzuerlangen; e8 wurde
auch ein hohes Merkzeichen bei dem Depot aufgerichtet. Nur
jolche SKonjerven, die Feuchtigkeit enthielten, namentlich etwas
Wajjer, wurden weiter mitgenommen, Doch ließen jich die ver:
ichhmachtenden Leute erſt dann herbei, davon zu genießen, als jie
ji) überzeugt hatten, daß Fein Schweinefleifch dabei ſei. An
Wafjer eriftirten noch zweit Liter, in zwei Kannen, aber am
näditen Morgen war die eine leer! Man hatte Verdacht auf
Solltichi, einen der Leute, aber es ließ fich ihm nichts beweijen.
29. April. Man fand einen uralten verdorrten Bappeljtamm,
ohne Wurzeln, und jchöpfte einen Augenblick Hoffnung, fich jetzt
dem Gebiete der beginnenden Vegetation zu nähern. 30. April.
„Wir hatten noch zwei Glas Waſſer in der etjernen Kanne.
Während die andern Männer mit dem Beladen der Stameele be:
jchäftigt waren, überrajchte Islam Bat den Jolltſchi, wie er, mit
dem Rüden nach) den Stameraden gefehrt, die eiſerne Kanne vor
dem Munde hatte... Bor Wuth fochend jtürmten Islam Bat
und Kaſim auf Solltjcht los, jchlugen ihn zu Boden, ohrfeigten
ihn, jtießen ihn mit den Füßen und würden ihn umgebracht haben,
wenn ich ihnen nicht jtreng befohlen hätte aufzuhören.“ Am
Abend wurden Die Lippen der Männer mit den lebten übrig:
gebliebenen Wajjertropfen angefeuchtet. Bis hierher hatte Hedin
am Schluß jedes Tages die Kraft gefunden, ausführliche Auf:
zeichnungen mit Tinte in jein Tagebuch zu machen. Bon jegt ab
wurden e3 nur ganz furze Notizen mit Bleiftift auf ein Stüd
Bapier: die Peilungen der Himmelsrichtung mit dem Kompaß,
478 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
die Zahl der Schritte in jeder Richtung und der allgemeine Gang
der Ereignijje.
Am 1. Mai trank Hedin, von Durjt entjeglic) gequält, ein
Trinkglas voll jchauderhaften chinejischen Branntweins, was ihn
für den ganzen Tag des Neftes feiner Energie beraubte. Schon
um halb zehn Uhr Vormittags waren jeine Kräfte zu Ende. Das
Belt wurde aufgejchlagen, um die Tageshite bi8 zum Sonnen:
untergang bejjer zu überjtehen. Hedin dachte, daß nun Alles zu
Ende jei; Phantafien und Träume bei offenen Augen jtellten ſich
ein. Unzählige Male jah er dabei nach der Uhr, und jede Stunde
erichten wie eine Ewigfeit. Gegen Abend wurde es fühler, und
die jchredliche Wirfung des Branntweins verflog. Je mehr die
Sonne fich dem Horizont näherte, dejto fräftiger fühlte jich Hedin
wieder. Ja, er glaubte fähig zu jein, Tage und Nächte hindurch
zu Fuß weiter zu wandern.
„sh brannte vor Ungeduld aufzubrechen, ich wollte nicht
iterben .... Wenn man todtmüde ift, ift Die Ruhe ſüß. Man
fällt bald in Betäubung und jchlummert jchmerzlos in einen langen,
jchweren Schlaf hinüber, aus dem man nicht mehr erwacht. Man
fühlt jich jehr verjucht, ſich dieſer ſüßen Betäubung zu überlajien,
doch bei dem Gedanken an die Meinigen hatte dieje Ber:
juchung jest ihre Macht über mich vollitändig verloren.“
Die Unglüdlichen griffen nun zu den verzweifeltiten Mitteln. Sie
hatten noch ein Schaf mit und jchlachteten es, um jein Blut zu
trinfen; aber der dide, rotbraune Strahl gerann fait augenblidlic
an der heißen Luft. Dann fingen jie ameelurin auf und mijchten
ihn in einem Becher mit Ejjig und Zuder. Hedin und der Diener
Kaſim waren die einzigen, die nicht davon tranfen, und das war
ihr Glüd, denn die Anderen mußten mit heftigem, die legten Kräfte
verzehrendem Erbrechen dafür büßen. Abermals wurde das Gepäd
reduzirt; was zurücdblieb, wurde in acht Kiſten verpadt und auf
die nach innen umgejchlagene Leinwand ins Zelt gejtellt, um
diefes auf dem Kamm einer Düne als weithin jichtbares Kenn»
zeichen fejtzuhalten — fall8 man noch einmal zurüdfehren jollte.
Zwei Diener, Mohammed Schah und Jolltjchi, waren im Sterben
und blieben hier zurüd. Blutenden Herzens und voller Selbit:
vorwürfe, daß er dieſe Leben auf jein Gewijjen geladen hatte,
nahm Hedin von ihnen Abjchied. ES war finjtere Nacht, und nur
das Lagerfeuer beleuchtete qualmend den Eleinen Flecken der Wüſte
zwijchen den furchtbaren Sanddünen, den einzigen Zeugen des
Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraſien. 479
Unterganges der Karawane. Wenige Dünenkämme waren erit
überwunden, als wieder ein Kameel jtürzte und jich zum Sterben hin—
legte. Mit Laterne und Kompaß jchritt Hedin durch die Nacht voran,
die iiberlebenden Diener und Thiere hinterher. Um Mitternacht
brach Islam Bai zujammen, bat, mit den Stameelen liegen bleiben
zu Dürfen und jagte, er wolle jterben. Hedin und Kaſim nahmen
Abſchied von ihm, um allein, ohne Gepäd und Kameele ojtwärts
vorzudringen. Der Khotan-darja konnte nicht mehr weit jein,
aber dennoch fündigte nicht das kleinſte tennzeichen jeine Nähe
an. Die brennende Yaterne blieb neben dem zujammengebrochenen
Islam Bai auf einem Diünenfamme jtehen und war den beiden
vorwärtsdringenden Männern noch lange jichtbar. Zwei Chrono-
meter, eine Uhr, ein Kompaß, ein Federmeſſer, ein Bleijtift und
ein Stüd Papier, eine Doje Hummer, eine Büchje Kakao und zehn
Zigaretten — das war alles, was Hedin von den acht Kameel—
lajten, mit denen er ausgezogen war, noch weiter mit jich nahm.
2. Mai. As es heiß wurde, gruben jich die beiden Männer
tief in den Sand und ruhten bis zum Abend. Die Nacht hin—
durch und am nächiten Morgen wanderten jie mit Unterbrechungen
weiter.
3. Mai. Kajims Falfenaugen entdedten am Rande des öjt-
lichen Horizonts eine grünende QTamarisfe. Auf dieje fonzentrirte
jich jeßt die ganze NRettungshoffnung. Als fie erreicht war, fauten
die Beiden wie Thiere an ihren jaftigen Nadeln. Bald erjchten
ein zweiter Strauch und nach Oſten hin waren noch mehrere zu
jehen. Den Tag über wurde wieder im Sande geruht. Abends
um zehn Uhr stieg man im Dunkeln plöglich auf eine Gruppe von
drei prächtigen Bappeln mit zwar jaftigen, aber bitteren Blättern.
Dort jammelten fie trodene Zweige auf und zündeten als Signal
für Islam Bat, fall8 er noch lebte, und für andere Menjchen, falls
jie jchon dem Fluſſe nahe jein jollten, ein gewaltiges Feuer an.
Ein Berjuch, nach Waſſer zu graben, war bei den ganz gejchwächten
Kräften nutzlos. Kaſim briet ſich eine mitgenommene Scheibe von
‚dem jaftigen Fettichwanz des Schafes, und Hedin würgte etwas
Hummer hinunter. Dann wurde Alles fortgeworfen bis auf die
ausgeleerte Stafaobüchje, um daraus von dem Wajjer des Khotan—
Darja zu trinfen.
4. Mai. Kaſim blieb liegen und Hedin ging allein durd)
Nacht und Sand weiter. An diefem Abend mußte er Die legte
Zigarette allein zu Ende rauchen — bis dahin hatte Kafim immer
480 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
die zweite Hälfte befommen. Um Mitternacht ſank Heden nieder.
Da hörte er eine Menjchenjtimme. Es war Stafim, der jich erholt
hatte und nachgefommen war. Nach einer Weile entdedten jte
plöglich) Menjchenjpuren im Sande — aber es waren ihre eigenen.
Sie waren jtundenlang im Kreiſe herumgegangen!
5. Mai. Endlich erjchien am Horizont eine dunkle Linie; fie
fonnte nichts anderes bedeuten, al8 den Wald am Ufer des
Khotan=zdarja! In der folgenden Nacht gelangte Hedin endlich,
nachdem auch Kafim noch — jchon im Uferwalde — liegen ge
blieben war, in das ausgetrodnete Flußbett. „Während ich ging“,
jchreibt er, „hielt ich den Blick bejtändig auf den Mond gerichtet,
in der Erwartung, unter ihm einen Silberftreifen im Waſſer des
Fluſſes zu jehen. . . . . Nach einer Wanderung von zweieinhalb
Kilometern unterjcheide ich jedoch die dunkle Waldlinie des anderen
Ufers. Sie wird immer deutlicher. Dort fteht ein dichtes Gebüſch
von Sträuchern und Schilf, und eine halb umgefallene Pappel
liegt jchräg über einer Vertiefung im Flußbett. Ich habe nicht
mehr viele Schritte bis ans Ufer, da fliegt pfeiljchnell eine aufge
icheuchte Wildente mit pfeifendem Flügeljchlag auf. Ich höre ein
lätjchern, und im nächjten Augenblide ſtehe id — am Rande
eines faum zwanzig Meter langen Tümpels mit friſchem, faltem,
herrlichem Wajjer!
Am Abend des 30. April war der legte Tropfen Waſſer über
Hedind Lippen gefommen, nachdem jchon vorher die Nationen
tagelang aufs Aeußerſte bejchränft worden waren. In der Nacht
vom 5. auf den 6. Mai erreichte er die Lache im trodenen Bett
des Khotan-darja! Das macht über fünf Tage, etwa einhundert:
undfünfundzwanzig Stunden — und das in der Wüjte bei glü—
hender Tageshige und nächtlichem Marjchiren oder vielmehr fort:
gejegtem Stlettern über hunderte und aberhunderte von bergehoben
Dünenfetten. Der Lejer wird fragen, welches die Empfindungen
Hedins waren, als er an dem rettendem Wajjer jtand. Cr deutet
an, daß jein erjter Gedanke ein religiöjer war, der zweite — wie
viel Schläge in der Minute jein Puls zählte! ES waren neun-
undvierzig. Darauf tranf er, trank... trank . .. tranf. Eins
undzwanzig Mal füllte und leerte er jeine E£leine, blecherne Kafao-
büchje, die etwa ein Trinfglas fahte, im Laufe von zehn Minuten.
Dann zog er jeine hoben, wajjerdichten Stiefel aus, füllte jie bis
an den Rand, 309 die Strippen auf die beiden Enden eines Stodes,
und machte jich damit auf den Weg zu Kaſim. Der lebte noch —
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 481
und leerte beide Stiefeljchäfte hintereinander auf einen Zug! Bald
darauf traf Hedin mit Hirten zufammen, von denen er Nahrung
erhielt, und einige Tage jpäter fand er den treuen Islam Bat,
der jchlieglich doch noch aus eigner Kraft mit dem lebten Kameel
und den werthvolliten Sachen, namentlich den wijjenjchaftlichen
Aufzeichnungen und Apparaten, mehr todt als lebendig am 7. Mai
Morgens das trodene Flußbett erreicht hatte. Dort brach er zu:
jammen, als er fein Wajjer fand und legte jich zum Sterben nieder;
aber wenige Stunden jpäter ritten durch eine glüdliche Fügung
Kaufleute auf dem Wege, der durch das Flußthal führte, vorüber
und retteten ihn! Der Brave hatte faſt Hebermenjchliches geleijtet;
Hedin und er gejtanden ſich jpäter gegenfeitig, daß, als fie fich
trennten, Jeder die Hoffnung aufgegeben hatte, den Andern wieder:
zujehen. Islam Bat hatte bei den Pappeln, wo Hedin und
Kajim das Signalfeuer angezündet hatten, mit der Art einen
tiefen Spalt in einen der Baumjtämme gehauen und daraus etwas
Saft gejogen — das rettette ihn, denn er befam erjt dreißig Stunden
jpäter al8 Hedin Wajjer!
Nachdem jich die drei Ueberlebenden wieder gefräftigt hatten,
machte Hedin noch einen Verjuch, das in der Wüſte zurüdgelajjene
Gepäd wiederzuerlangen, doch ohne Erfolg. So blieb ihm nichts
übrig, als nach Kajchgar zurüdzufehren, um von dort aus jich für
feine weiteren Pläne eine vollitändig neue Ausrüftung aus Europa
fommen zu lajjen. Die Zeit bi8 zum Eintreffen der Sachen be—
ſchloß unjer Neijender wieder auf dem Pamir zuzubringen, wo,
wie er wußte, gerade eine große engliſch-ruſſiſche Kommiſſion mit
der Feitjtellung der Grenzlinie zwijchen dem indobritijchen Gebiet
und dem Zarenreich bejchäftigt war. Es ift interefjant und amüjant,
von Hedin zu hören, mit welch einem Aufwand von Sekt, fran—
zöjischen Weinen und Delifatejjen, von Muſik und gegenjeitiger
Liebenswürdigfeit bei jplendiden Diners die Rivalen ihre Aufgabe
erfüllten. Den Höhepunft erreichten dieje Feſtlichkeiten, als das
Telegramm über die Genehmigung der von rujjijcher Seite vor=
gejchlagenen Grenzlinie durch Lord Salisbury eintraf. Hedin in
jeinem fadenjcheinigen Reijeanzug — von Manjchetten und Stragen
war natürlich feine Nede — fam ſich unter den Gala-Uniformen
und Ordensiternen wie die Krähe unter den Pfauen vor, wurde
aber wegen feines Todesmarjches hoch bewundert. Es gab Gänſe—
leberpajtete und Spargel und viele andere gute Dinge in diejer
welt und menjchenfernen Hochgebirgs:Wildnig — wohl zum erjten
Preußiſche Jahrbücher. Bd, XCVIII. Heft 3. 3
482 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
und legten Mal, jeit die Gipfel der ewigen Bergriefen des Pamir
gegründet stehen. Am dritten Oftober war Hedin wieder in
Kajchgar und im Beſitz einer neuen Ausrüftung.
Mitte Dezember brach Hedin auf, abermals der Wüſte, die
ihm jo verhängnigvoll geworden war, entgegen. Diesmal führte
jeine Route am jüdlichen Rande des Tarimbedens, auf Khotan
zu, das an der Stelle liegt, wo der Khotan-darja aus dem
Gebirge heraus und in das Wüſtengebiet eintritt, jechs jtarfe
Tagemärjche oberhalb der Stelle, wo die Trümmer der Unglüds-
karawane endlich an das Flußbett gelangt waren. Khotan oder
Iltſchi ift heute eine unbedeutende Stadt, aber eine jehr alte
Anjiedlung. Den Ehinejen, denen fie gehört, it fie von Alters
her wichtig durch das Vorkommen des von ihnen hochgeichäßten
Nephrit, eines hellgrünlichen, harten Minerald vom Werthe eines
Halbedeljteines, in der Nähe. Der Nephrit wird wie Gold ge
graben; gute Stüde fojten mehrere Hundert Mark. Die Umgegend
von Khotan iſt außerordentlich reich an Alterthümern, von denen
viele in die altbuddhiſtiſche, andere in die helleniftifche Zeit zurüd-
weijen; namentlich zahlreiche Gemmen und Terrafotten liefern einen
Beweis dafür, wie jtarf die Nachwirfungen des Aleranderzuges
bis in dieſe entlegenen Gebiete hinein jpürbar gewejen find. In
Khotan jpuften wiederum die Erzählungen von der alten, be-
grabenen Stadt in der Wüjte. Ein Mann erzählte Hedin, daß er
einmal draußen in der Wüſte jold) eine Stadt gefunden habe und
in ihr noch Leichen in jißender Stellung, als ob ein plößlicher
Sandjturm fie eingebettet habe. Bereits ein chinefischer Reiſe—
bericht aus dem Jahre 632 n. Chr. erzählt aber von einem alten
KKönigreiche Tuholo, nach Hedin ohne Zweifel dasjelbe Wort wie
Takla, das „jchon jeit Langem“ in eine Wüfte verwandelt jei, und
dejjen Städte in Ruinen lägen. Bejonders intereffant it es noch,
daß Hedin auch chriftliche AlterthHümer fand. Noch im Jahre 1274 lebten
nach Marco Polo im chinefiichen Oſt-Turkeſtan Jafobuschriften und
Nejtorianer, die ihre eigenen Kirchen hatten. Jetzt ift jchon lange
die legte Spur des alten Chriſtenthums in diefen Gebieten ver:
ſchwunden, doch giebt e8 jeit Kurzem in mehreren Städten ſchwediſche
Miſſionare. Hedin urtheilt mit Hochachtung über ihre Motive und
ihren jelbjtverleugnenden Muth, aber er bedauert es, daß jie an
einem unfruchtbaren und unflugen Werfe arbeiten. Ganz Turfejtan
ijt befanntlich jtodmuhammedanijch, und Muhammedanermiffion in
einem Gebiete mit, wenn auch nur lofaler, muhammedanijcher
Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraſien. 483
Obrigfeit, vollends dort, wo der Islam noch ganz und gar nicht
durch europätjche Kultureinflüfje, vor alem durch den modernen Ver:
fehr zerjegt wird, ift und bleibt eine Thorheit,wenn auch eine gut»
gemeinte. Darin fann ich Hedins Urtheil aus eigner Anjchauung
der orientalischen Verhältnijje heraus nur unbedingt beipflichten.
Am 14. Januar 1896, falt zwei Jahre, nachdem er in
Meargelan, der Hauptitadt des rujjiichen TFerghanagebiets, den
Boden jeines zentralafiatiichen Forſchungsgebietes betreten hatte,
brach er von Khotan, dem Yaufe des feſt zugefrorenen Fluſſes
nordwörts folgend, auf, diesmal ohne Zelt und Bett. Statt deren
diente ihm ein aus Ziegenfellen zufammengenähter Schlafjad, und
das bei einer Kälte, die Nachts oft unter zwanzig Grad minus
janf. In dem legten menschlichen Wohnplag am Fluſſe wurden
‚sührer nach der NRuinenjtadt in der Wüſte genommen. Bon hier
bog die Karawane rechtwinklig vom Flußlauf nad Dften ab,
wieder in das Sandmeer hinein. Am fünften Marjchtage er—
reichte fie einen großen abgejtorbenen Wald mitten in der Wüſte.
Gebleichte niedrige Stämme und Baumjtümpfe, jpröde wie
Glas, und zahllofe Wurzeln bededten eine weite Fläche
und lieferten ein unvergleichliche8 Brennmaterial. Am jechsten
Tage ſtieß man wirklich auf die alte Stadt. Allerdings
machte die Stätte eher einen merkwürdigen als einen impojanten
Eindrud, denn die Häujer waren nicht aus Steinen oder Yuftziegeln,
jondern aus Holz, Binjen und Stud gebaut gewejen. Auf einem
Gebiet von drei bis vier Kilometern im Durchmejjer waren zahl—
[oje hohe Pfojten oder Balfen fichtbar, mit Spuren von Wänden
dazmwijchen, die auf eine ganz eigenthümliche Art hergeitellt waren.
Bwijchen den jenfrecht in die Erde gerammten Balfen, die ın
größerer oder geringerer Anzahl, gleich den Pfojten eines Zaunes
nebeneinander jtehend, das Gerippe der Außenwände bildeten, liefen
zahlreiche dünne, horizontale Querlatten, an die in feiten Büjcheln,
eins dicht neben dem andern, Schilf gebunden war. Hierüber war
eine Schicht mit Häckſel vermijchten Lehmes gejtrichen und die
ganze — in einem Falle noch einen Meter hohe — Wand weiß
getündht. Eins diejer Häujer nannten die Eingeborenen Bud—
Chané, d. i. einen Buddha-Tempel. Die Wände waren gejchidt
bemalt: betende Frauen, jchwarzbärtige Männer, Hunde, Pferde,
auf Wellen jchaufelnde Schiffe waren da zu jehen, auch ein Stüd
„Papier“ mit unlesbaren Schriftzeichen. In einem anderen Hauje
fand Hedin eine Menge Gipsfiguren, die offenbar Buddhabilder
81*
484 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien,
darjtellten, ebenjo halbnadte Frauenbilder, Leiften, Frieje, Blumen
und Guirlanden von Gips, Thonjcherben, einen gewaltigen Mühl:
jtein aus Porphyr und andere Dinge. Lange jchnurgerade Doppel:
reihen von PBappelftümpfen, Spuren von Pflaumen: und Aprikojen-
bäumen und eine ausgedörrte Seidenraupenpuppe lieferten den
Beweis, daß es hier einjt Gartenanlagen und Geidenzucht, aljo
Maulbeerbäume, gegeben hatte. Ausgrabungen zu machen, erwies
fi) wegen der fließenden, ſtets nachrutjchenden Sandmajjen als
jo gut wie unmöglih. Nur ein relativ fleiner Theil der Ueber—
bleibjel — das, was gerade auf dem Grunde der Dünenthäler
lag — war überhaupt fichtbar; weitaus das Meijte jtedte unter
den Sandmafjen der mächtigen halbmondförmigen Kämme be:
graben.
Die Eingeborenen nannten den Ort Tafla Mafan. Hedin iſt
der erjte Europäer, der ihn gejehen hat, was ihn mit ebenjo
begreiflichem wie gerechtem Stolze erfüllt. Wer aber hat Ddieje
Stadt gebaut, und woher fommt es, daß fie jeßt mitten in Der
Wüſte begraben liegt? Bon den Ruinen find es nad) Weiten über
fünf Tagemärjche bis zum nächſten Gewäfjer, dem Khotan-darja —
ojtwärts aber erreichte die Karawane nad) drei Tagemärjchen
den nächjten Fluß, der, von dem füdlichen Hochlande herabfommend,
tief nach Norden in die Wüjte hineindringt: den Kerija-darja.
Hedin iſt der Meinung, daß der Kerijä-darja einjtmals bei der
alten Stadt vorbeigeflofjen jet, im Laufe der Zeit aber jein Bett
immer weiter ojtwärts verlegt und auf dieje Weije die Stadt dem
allmählichen Untergange geweiht habe. Thatjächlich zeigen ſehr
viele Flüſſe Turfeftans dieſe Neigung, ſich nad) Ojten zu verjchteben.
Unter Berüdjichtigung der herrjchenden Winde und der Schnellig-
feit, mit der die Dünen wandern, berechnet Hedin 1500 Jahre,
eher jogar noch ein halbes Jahrtaufend mehr, als das wahrichein-
liche Alter der Stadt. Der terminus a quo ijt das Eindringen
des Buddhismus in QTurfejtan, ein Vorgang, der fich ficher bereits
mehrere Jahrhunderte vor Chrijto vollzog; der terminus ad quem
iſt die arabtijiche Eroberung, die zugleich die Muhammedanijirung
des Yandes brachte, zu Anfang des achten nachcehrütlichen Jahr:
bunderts. Bor dem eriten Termin it es undenkbar und nad) dem
zweiten höchſt unmwabhrjcheinlich, daß eine buddhijtiiche Kultur
hier geblüht Haben jollte — ein buddhiftiiches Volt aber hat das
alte Tafla Mafan, wie aus den gefundenen Altertyümern ſicher
hervorgeht, bewohnt.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 485
Hedin behält ſich vor, in jpäteren Veröffentlicjungen auf dies
hiſtoriſche Problem noch bejonders zurüdzufommen. In jeinem
jegigen Werfe deutet er nur jeine VBermuthung an, daß es nicht
die Vorfahren der heute im Lande haujenden Turkſtämme gewejen
jeinen, von denen die Stadt bewohnt wurde. In Betreff der
geologischen Berhältniffe meint er, daß zur Zeit der Blüthe von
Takla Mafan mindejtens der Raum zwijchen jener alten Ortslage
und der heutigen Südgrenze des Sandes noch nicht Wüſte
gewejen jei, mit andern Worten: daß damals Tafla Mafan wahr:
icheinlich ebenfo am Rande der Wüſte auf bewäfjertem Fruchtlande
lag wie heute Khotan, Kerija und alle die anderen Städte in der
Grenzzone zwijchen dem Fuße des Kwen-lun-Syſtems und dem
janderfüllten Tarimbeden. Wenn Hedin Recht hat und dem wirflich
jo tft, dann muß noch in Hiftorischer Zeit die Wüſte um mehr als
100 Kilometer jüdwärts vorgedrungen jein, und noch zur Zeit
Aleranders des Großen hätte jich eim großes, fruchtbares und
bevölfertes Land dort ausgedehnt, wo e8 heute nur die todtbringenden
Flugſanddünen giebt. Es iſt dann allerdings nicht nöthig, mit
Hedin anzunehmen, daß gerade der Kerija-darja in jener Vorzeit
bei Tafla Makan vorbeigefloffen und dann in der Folge drei
Tagereijen weit oſtwärts gewandert it; wenn zwijchen der alten
Buddhiitenitadt und dem Kwen-lun damals noch fein Wüftenjand
lag, jo fann ebenjo gut eins der andern zahlreichen und ftarfen
Gewäſſer, die vom Gebirge herabfommen und jet vom Sande
verjchludt werden, der Gegend ihr Leben gegeben haben. Merk:
würdig tt in jedem Falle, daß fich die Ueberbleibjel des großen
Waldes bei den Ruinen und jogar ein jo vergängliches Baus
material wie die Binjen der Häujerwände durch) mehr als ein
Sahrtaujend erhalten haben — fraßen doch jogar die Ejel und
Stameele munter von eben jenen Binjen — aber Hedin verjichert,
daß die Ueberdedung mit dem feinen trodenen Sande der jtetig
wandernden Dünen eine im höchjten Maße fonjervirende Wirkung
auf organijche Stoffe ausüben. Noch wunderbarer erjcheint
es, daß ſich noch erheblich weiter in die Wüſte hinein,
eine Tagereife wejtlich vom Serija=darja, ſechs Tagereiſen öſtlich
von der Stelle, wo Hedin im Herbit des vorhergehenden Jahres
nad) jeiner Schredensreije an den Khotan-Darja gelangt war, die
Ruinen einer zweiten alten Stadt fand, die zwar jchlechter er—
halten war, aber jonjt ganz denjelben Typus zeigte wie die erjte.
Sogar ganz im Norden des Bedens, am mittleren Tarim jelbit,
486 Sven Hedind und Landors Reifen in Innerafien.
wußten die Eingeborenen von einem eben jolchen Orte in der
Wüſte zu erzählen, den fie Schar = ı- Köttef nannten, d. h. die
Stadt im todten (abgejtorbenen) Walde. Diejen legteren Punkt hat
Hedin nicht zu finden verjucht, da die Angaben gar zu unbejtimmt
waren. Jedenfalls ijt aber jchon das, was er thatjächlich gefunden
hat, von der höchiten Wichtigkeit, und der modernen phyſikaliſchen
und hijtorischen Erdfunde iſt durch die Entdedung jener verhältnik-
mäßig jungen Denkmäler einer hochentwidelten Kultur mitten in
der jchredlichiten Wüſte Ajiens ein Problem gejtellt, das interejjanter
und wichtiger it, als Alles, was bisher an vergleichbaren Vor-
fommnijjen befannt ijt.
Zur Ergänzung der Gedanken Hedins über das vernichtende
VBordringen des Sandes in Folge der herrſchenden Windrichtung
aus der Wüjte jüdwärt® möchte ich auf ganz parallele Be-
obachtungen aufmerffam machen, die im rujjiichen Transfaspien
angejtellt worden find. Dort liegen die Verhältnijie in etwas
fleinerem Maßjtabe ähnlich, wie in Oft-Turfejtan, im Großen: eine
Sandwüſte, Narasfum, dehnt fich im Norden aus, und ein Streifen
Fruchtland erjtredt jich am Fuße eines Gebirges, des Kopet-dagh,
im Süden als ein jchmales, grünes, fultivirtes Land von Weiten
nad) Oſten. Der Wind fommt auch hier überwiegend aus Norden
und die Folge it, dat der Sand erfolgreich bejtrebt ift, die etwa
25 Kilometer breite, von zahlreichen jpäter in der Wüſte ver:
jiegenden Bächen bewäjjerte Nulturzone zu verjchütten. Der
rujjische General Obrutjchew*), hat die Wanderjchnelligfeit des
Sandes bier auf 4—5 Kilometer im Jahrhundert berechnet und
gemeint, in 500—600 Jahren würden die Dünen direft am Fuß
des Kopet-dagh liegen. Das jtimmt fajt genau zu Hedins Be
rechnung für Taflasmalan: etwas über 100 Kilometer VBordringen
in rund 2000 Jahren.
Am 20. Februar, fünf Wochen nach dem Aufbruch von Khotan,
erreichte Hedin den Urwaldgürtel des großen Tarim und ging zwei
Tage jpäter über den fejt zugefrorenen, hier 156 Meter breiten Strom.
Einundvierzig Tage nad) dem Beginn dieſer Reife langten jie in
einem Ffleinen Städtchen nördlicd) vom Strome an, in Schah > jar.
„Hier fam mir eine große Idee“, jchreibt Hedin: Er beſchloß, nicht
erit, wie anfänglic) geplant, nad) Khotan zurüdzugehen und ſich
dort für eine neue große Expedition auszurüften, jondern, wie er
*) vgl Radde, Transkaspien und Nord-Choraſan, im Ergänzungsband
zu Petermanns Mittheilungen, 1898.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 487
ging und jtand, gleich oftwärts zur Löſung der Lob-nor—
Frage aufzubrechen. Bei diejer handelt es fich um eins der
wichtigiten Probleme der Geographie Inner-Aſiens.
Es iſt eine befannte Ihatjache, daß abflußloſe Seebeden, die
jeit langer Zeit von einem rejp. mehreren Flüſſen geſpeiſt worden find,
Jalziges Waſſer enthalten, und das ijt überhaupt nicht anders
denkbar. — Der Erdboden enthält überall in größerer oder ge—
ringerer Menge Salze, die vom Flußwaſſer aufgelöft und mitge-
führt werden; wenn nun der Fluß in ein abflußlojes Beden
mündet, jo entiteht dort zunächit ein See, deſſen Spiegel jolange
jteigt, bis die Fläche jo groß geworden iſt, daß die von ihr ver-
dunjtende durchjchnittliche Waſſermenge dem jährlichen Zufluß gleich
it. Während nun das einjtrömende Waſſer fort und fort ver-
dunſtet, müjjen natürlich die zugeführten Salztheilchen in dem
Beden zurüdbleiben, und mag ihre Menge auch Anfangs noch jo
gering jein, jo muß fich durch ihre Jahrtaujende lange fortgejegte
Summirung jchlieglich doch ein jtarfer Salzgehalt des Seewaſſers
ergeben. Auf dieje Weije find die meijten Salzjeen entjtanden, und in
einzelnen Fällen, namentlich in der warmen Zone und wenn die
Flüſſe ſchon an jich jalzhaltigen Boden durchfliegen, jteigert ſich
der Salzgehalt ihrer Mündungsjeen bi8 zu dem Charafter einer
Lauge oder gejättigten Sole, wie 3. B. beim Todten Meer oder
dem Elton-See in der Kaspiſchen Niederung. Da Wafjer nicht
mehr Salz in gelöjtem Zujtande in ich aufnehmen fann, als 28
bis 29 Gewichtsprozente, jo muß natürlich, jobald dieje Grenze
erreicht iſt, das überjchüjjige Salz ausfryitallifiren und, je nach
feinem jpezifiichen Gewicht, entweder zu Boden jinfen oder oben:
auf jchwimmen. Das leßtere it z.B. bei dem berühmten Tus-
Tſchöll, dem Tatta lacus der Alten, auf der Hochebene des inneren
Kleinafiens der Fall, wo im Sommer eine meterdide Salzichicht
gleich einer fompaften Eisdede, auf der man gehen und reiten
fann, über dem Wajjer lagert. Angefichts diejer Erwägungen und
Beifpiele it es theoretiich mit abjoluter Sicherheit zu erwarten,
daß aucd das Meündungsbeden des Tarim ein Salzjee it. Daß
der Strom in einen See mündet und nicht etwa allmählich im
Sande verrinnt, das jtand durch das einhellige Zeugniß der
hiftorischen und geographijchen Urkunden fejt.
Man kann ſich das Eritaunen der wifjenjchaftlichen Welt
denken, als der große ruſſiſche Neijende Prſchewalſkij im Jahre 1876
als erjter wijjenjchaftlich gebildeter Europäer das Ende des Tarim
488 Sven Hedins und Landors Neifen in Innerafien.
erreichte und einen Süßwajfjerjee fand. Außerdem lag Diejer
jüße Lob-nor viel jüdlicher als die alten chinefiichen Karten und
Erzählungen angaben. Als dieſe Nejultate in Europa befannt
wurden, erklärte der Berliner Geograph Freiherr von Richthofen,
die Lob-nor-Frage ſei durch Prichewaljfij, unbejchadet der jonjtigen
Verdienſte diejes großen Mannes, nicht endgiltig beantwortet, denn
man müſſe es als eine abjolute Unmöglichkeit bezeichnen, da in
Wirklichkeit das wahre Mündungsbeden des Tarım Süßwaſſer enthält
— zumal, da die Gegenden, durch die der Fluß jein Waſſer hindurch:
führt, befanntermaßen zu den jalzhaltigjten der Erde gehören.
Die Löjung des Räthſels, die Hedin fand, iſt jehr eigen:
thümlich: Der Tarim wechjelt mit jeiner Mündung zwijchen zwei ver:
jchiedenen, ziemlich weit von einander abliegenden Beden, Deren
eines immer troden wird, wenn das andere jich füllt.
Brichewaljfij hatte vollfommen Necht, al8 er 1876 einen Süßwaſſerſee
als Endbajfin des Stromes fand; aber er wußte nicht, daß Diejer
See erſt wenige Jahre exijtirte, geographiich gejprochen, „von
geſtern“ war. Darnad) hat e8 natürlich nichts Wunderbares, wenn
er noch nicht zur Salzpfanne geworden war. In den jechziger
Sahren noch floß aber die Hauptmajje des Tarimwajjer® in das
nördlichere Beden, wo fie auch während der letten hundert Jahre
wahrjcheinlich) dauernd jich hineinergojjen hat, und gerade zur Zeit,
da Hedin am Lop-nor weilte, zwanzig Jahre nad) dem Bejuche
Brichewaljfijs, war der jüdliche See jchon wieder im Verjchwinden
und der nördliche in der Füllung begriffen. Natürlich hatten einit-
weilen noch beide ſüßes Wafjer.*) Nur die durd) Sandanhäufungen
abgejchnürten Randlagunen zeigten bereits bradiges und jelbit
jalziges Wajler.
Immerhin ift es merfwürdig, daß ein Fluß von der Waſſer—
menge des Tarim nicht einen dauernden Mündungsjee von einiger
Größe zu Stande bringt, aber die enorme Verdunſtung in der
trodenen Luft der umgebenden Wüſte und die Gier des Sand»
bodens, in dem das Bett liegt, find ſtarke Gründe, die es ſchließlich
doch erklären. Gegenwärtig endet der Tarim in folofjalen Schilf-
) Ich darf den Lefer zum näheren Berftändniß für einen jolden Wechſel
einer Strommündung zwiſchen zwei verjchiedenen Bepreifionen auf das
verweifen, was ich im Sabre 1897 anläßlich der Beichreibung meines
Ausflugs nad Zurkeftan in diefen Jahrbüdern über die Mündung des
Amu-Darja in den Aralſee refp. den Sary Kamyſch und über den alten
Oruslauf ausgeführt habe. In der Buchausgabe meiner Reife (Berlin,
Georg Stille 1898) ift es Seite 135 ff.
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 489
wäldern, zwijchen denen fich nur noch wenige Beden und jchmale
Kanäle mit offenem Wafjer finden. Das Scilf jteht undurch-
dringlich, wie eine kompakte Holzwand, bis zu fünf Meter über
der Wajjerlinie hoch. In diejen dichten Maſſen halten die Loplik
(Leute vom Lop-nor) des Fiichfanges wegen jogenannten Tſchappgane
offen — ſchmale, forridorartige Kanäle von einem Meter Breite,
deren Eingänge meift faum fichtbar find und über denen fich in
der Höhe die Schilfwände dicht zujammenjchließen. In dem
Tichappgan werden Fiichnege ausgelegt, und Hedin jah Hunderte
davon auf dem Grunde des flaren, mehrere Meter tiefen Wafjers
liegen, während er in einem mit Zopleuten bemannten großen Ein»
baum darüber hinglitt.
Am äußerſten Ditende jeiner Lop-nor-Route befand ich Hedin
Ichlieglich über taufend Kilometer von feiner zeitweiligen Operations»
baſis Khotan, wo fajt fein ganzes Gepäd und der größte Theil
jeiner WReijefajje lagen. In den legten Apriltagen trat er den
Rückweg an und ritt am 27. Mat, nach einer Abwejenheit von
piereinhalb Monaten, wieder in Khotan ein. Jetzt blieb ihm nur
noch das letzte Stüd des Programms, das er ſich vorgenommen
hatte, zu erfüllen übrig: die Durchquerung Nord-Tibets. Man
fann jagen, daß es heute nirgends auf der Erde mehr, außer in
den Wolargebieten, ein zujammenhängendes Stück von jolcher
Ausdehnung giebt, von dem wir in geographijcher Hinficht jo
wenig wüßten, wie von dieſem verjchlojienen Lande Tibet. Nur
der verhältnigmäßig kleine wejtliche Zipfel am oberen Indus, der
zu dem indosbritiichen Wajallengebiet von SKafchmir gehört,
ijt einigermaßen gut befannt. Alles Uebrige ijt ein großer weißer
Fleck mit vielen hypothetijchen und nur jehr wenigen ficher feitgelegten
Seejpiegeln, Gebirgszügen und Wajjerläufen. Tibet jteigt in jeiner
mittleren Höhe in einer Ausdehnung von mehreren Millionen
Quadratfilometern über 4000 Meter hoch empor, d. h. eine Fläche
der Größe Mitteleuropas liegt theils nahe dem Niveau der Montblanc-
Spite, theild noch höher. Wirklich bewohnt find daher nur Die
relativ am tiefiten gelegenen Theile im Süden, die Thäler des
Indus und Brahmaputra, wo die großen Städte Leh, Schigatje
und Lhaja in etwa 3600 Meter Höhe, aljo nur eine Stleinigfeit
unter dem Gipfel des Groß-Glodner, liegen. Weitaus das Meijte
von Tibet, der ganze Norden, iſt völlig menjchenleer. Gerade hier
aber, wo der riejenhafte Kwen-lun, das längjte Hochgebirge Ajiens
und das ältejte der Erde, das Land erfüllt, harrt eine ganze Reihe
490 Sven Hedins und Landor Reifen in Innerafien.
der wichtigjten geographiichen ragen und Probleme der Antwort.
Um nur eins herauszugreifen, jo jet auf die eigenthümliche Boden:
bildung in abflußlojen Gebieten hingewiejen, über die hier Be
obachtungen im größten Maßſtabe gemacht werden fünnen. Da die
Derwitterungsprodufte der Gebirgsgrate, Gipfel und Abhänge nicht,
wie in andern Gebirgen, durch fließendes Waſſer fortdauernd zum
Meere hHinabgejchafft werden fönnen, jo bleiben die bejtändia
wachjenden Maſſen auf den Flanken der Bergzüge und in den
Deprefjionen zwijchen ihnen in Gejtalt unermeßlicher Schuttmajjen
liegen, und das ganz Gebirgsſyſtem erjcheint unter diefen Trümmern
fürmlich begraben. Die gewaltige Durchjchnittshöhe namentlich der
nördlichen Theile Tibets iſt, wenigjtens bis zu einem gewiſſen Grade,
eine Folge diejer Abflußlojigfeit, die jede einjchneidendere Thal-
bildung durch Erofion zur Unmöglichkeit macht. Im diejer Hinficht
das Beobachtungsmaterial zu erweitern, jowie Studien über die
Elimatischen und geologijchen Berhältnifje im Allgemeinen, über
bydrographijche und atmojphärische Vorgänge im Bejonderen an-
zujtellen, war eine Aufgabe, die auf diefem jungfräulichen und nad)
allen jeinen Berhältnijjen einzigartigen Forjchungsgebiet für Hedin
den höchjten Reiz haben mußte.
Sn den eriten Julitagen jtand Hedin mit einer großen Kara-
wane von 56 Pferden, Ejeln und Stameelen bei Dalai-fturgan am
Fuß der ungeheuren Nordfette des Kwen-lun, etwa unter dem
85. Grade öjtlicher Länge. Er hatte jech$ zuverläjjige turfeitantjche
Diener mit ich; außerdem wurde hier eine große Anzahl von
Tagliks — Eingeborene der Gegend bei Dalai-Kurgan — engagirt.
Der Kwenslun hieß hier Toffus-dawan. Am 7. Auguſt wurde der
Kamm in 4780 Meter Höhe auf dem Jappkaklik-Paſſe überjchritten.
Als am Abend das Lager aufgejchlagen wurde, nannten die Ein:
geborenen, die in großer Zahl für die eriten Reijetage als Begleiter
und Helfer engagirt waren, den Ort: Bulaf-bajchi, d. i. Haupt
der Quelle. Das war der lette Name, den Hedin nach dem Be:
ginn des Vordringens in Tibet notirte, zugleich auch der letzte
türkische Name auf feinem Wege durch Ajien. Bis dorthin famen
im Sommer noch einige Goldgräber aus Turfejtan, aber nur vom
Sult bis September erlaubt es die Witterung zu arbeiten. Von
bier an mußte Hedin die Lagerpläge, Seen, Flußläufe und
Gipfel nummeriren, denn nie war ein Menjch hierher ge
langt, der ihnen hätte Namen geben können. Nur Chulane
(Wildejel) und Yaks belebten die Gegend. Sie nähren ſich
Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 491
von dem dünnen, mageren Graje, das in den Thälern und
auf den Abhängen wächit, und das fie während des größten Theils
des Jahres unter dem Schnee hervorjuchen müfjen. Die Tagliks
begannen zu dejertiren, da jie Furcht hatten, immer weiter ins
menjchenleere Yand hinein mitgenommen zu werden; auch Hedins
chineſiſcher Dolmetjcher wurde bald mit einem Begleiter zurüd>
geichidt, da er furchtbar an der Bergkrankheit zu leiden
anfing. Die Lager mußten öfters mehr als 4700 Meter hoch auf:
geichlagen werden; Nachts fiel das Thermometer Anfang Augujt
auf — 7°; der Inhalt des Tintenfafjes gefror zu einem Eisflumpen ;
nur ganz wenige genügjame Pflanzen dauerten in diejer Region
aus, und die Slarawanenthiere mußten von dem mitgenommenen
Mais leben. Einige zwanzig Ejel trugen die Maisjäde; e8 war
vorauszufehen, daß die armen Thiere allmählich unter den Strapazen
des fortgejegten Marjches, in dem Maße, wie fich das Futter ver:
minderte, zu Grunde gehen würden. Auch eine Heerde Schafe und
Biegen ging als lebender Proviant mit.
Die Karawane war jebt zwijchen zwei Ketten des Kwen-lun,
der nördlichen, bereits überjchrittenen, und einem mächtigen, jchnee-
tragenden Kamm, dem Arkastag im Süden. Hedins Marjchrichtung
war direft öjtlich, aber, um in die Gegenden zu gelangen, wohin
er wollte, mußte er den Arka-tag überjteigen. Ienjeits diejes Ge-
birges wollte er dann wieder jeinen öjtlichen Marjch zum Stillen
Ozean fortjegen. Die Bergfrankheit, von der Hedin übrigens ver-
ſchont blieb, machte die Leute immer verdrofjener. Bei Yager 4
fehlte nur noch eine Kleinigkeit an 5000 Metern Höhe. Reis und
Fleiſch Fochten nicht mehr weich, da der geringe Luftdruck das Wajjer
viel zu früh zum Sieden brachte. Nach) 3 Uhr Nachmittags fiel
das Thermometer bereits unter Null, und Hedin jchreibt, daß Die
Pfeife das Einzige war, woran man überhaupt noch) etwas ‘Freude
hatte. Bei Lager 5 — Höhe 4975 Meter — glaubte Hedin von
einem jchweren Schlage betroffen zu werden ; jein Islam Bai er:
franfte. „Eigentlich“, heißt e8 im Neijetagebuch, „war er es jtets,
der unjere Karawanen zujammenjtellte und ordnete... .. Zehn
Mann hätten ihn nicht aufiwiegen fünnen ; er ijt unerjeßlich. Und
nun liegt er da, gebrochen ‚wie ein GreiS und röchelt wie ein
Sterbender. Es wäre bitter, wenn er jeßt jtürbe, nun da er im
dritten Jahre fein ruhiges Leben in Oſch aufopfert.... Unjer
Lager gleicht einem Kranfenhauje und mit Invaliden umberzuziehen
it unmöglih. Man fühlt jich unter jolchen Verhältnijjen wie fejt-
492 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
gefettet und hat feine andere Wahl, als die Kranfen unter Be
defung zurüdzulafien oder — umjzufehren! Bor der letteren
Alternative fühle ich jedoch ein wahres Grauen; ich muß die un:
befannten Hochländer, die jich im Süden des Arkastag ausdehnen,
unterjuchen.“
Wie unvergleichlich Hedin jelbjt durch Temperament, Charakter
und Konſtitution zu feinen Forjchungsreijen ausgerüftet war, dafür
mögen noch einige weitere Worte jeine® Tagebuch von diejem
Zagerplag als Beleg dienen: „Wie herrlich it es hier oben im
Gebirge, in der Elaren, frijchen Luft zwijchen bejtändig wechjelnden
Landjchaftsbildern, im Gegenjag zu den einförmigen Wüſten mit
ihrem grauen Himmel, ihrer Stidluft, ihren Sforpionen, Zeden
und Mücden und ihrem Wafjermangel! Ic bin überglüdlich in
dem Gedanfen, jene Gegenden hinter mir zu haben. Aber meine
Diener fürchten die jtillen Berge und jehnen ſich nad) dem Tief:
lande zurüd.“
Nach einigen Tagen erholte jich Islam Bat, und man machte
den Berjuch, den Arka-tag zu überjchreiten. Mit unjäglicher Mühe
arbeitete jich die Karawane zu einem Paß in die Höhe, der jüds
wärt® hinüber zu führen jchien — um oben zu jehen, daß
der jchneebededte jcharfe Hauptfamm, durch eine breite, tiefe
Senfung von ihnen getrennt, noch weit jüdwärts lag, allein Anjchein
nach hier unüberjteigbar. 5253 Meter hoch wurde gelagert; am
Morgen gab es Fein Teuerungsmaterial, und Hedin mußte mit
Kakao in Eiswafjer vorlieb nehmen, was ihm in der Wüſte Takla-
mafan entjchieden lieber gewejen wäre als hier bei 59 Kälte.
Bei Lager Nr. 8 erfannte Hamdan Bai, einer der Taglifs,
Die Gegend wieder: er hatte im vorigen Jahre mit dem eng—
lifchen Reiſenden Littledale Tibet jenfreht auf die Route
Hedind von Norden nach Süden durchquert und bejann fich jest
darauf, daß fie damals in diefer Gegend einen Paß über den Arka—
tag gefunden hatten. Da trat ein Ereigniß ein, das alle weiteren
Pläne Hedins über den Haufen zu werfen drohte: jämmtliche Tagliks
dejertirten in der Nacht vom 18. auf den 19. Augujt. Als Hedin
und jeine wenigen turfejtanischen Diener am Morgen aufwachten,
jahen ſie jich allein; dazu fehlten eine Menge Ejel, Pferde und
Vorräte. Sofort ſchickte Hedin jeine vier zuverläfjigiten Leute gut
bewaffnet auf den beiten Pferden den Flüchtlingen nad. Um
Mitternacht jahen die Berfolger deren Lagerfeuer, jprengten ohne
einen Augenblid zu zögern heran und drohten Jeden niederzujchießen,
Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien., 498
der ſich widerjegen oder zu entfliehen verjuchen würde. Wider:
jtandslos ließen die Durchbrenner jich die Hände auf dem Rüden
zufammenbinden und zum Lager der Karawane zurüdtransportiren.
Dort wurde Gericht gehalten. Die Turfejtaner drangen auf tüchtige
Prügel für die Dejerteure, aber Hedin ließ die Körperitrafe durch
zwölf leichte Hiebe eigentlich bloß marfiren; im Uebrigen lautete
jein Urtheil dahin, die Leute hätten alle ihre rechtlichen Lohn—
forderungen verwirft, ob ſie jchließlich etwas befommen würden,
jollte von ihrem ferneren Benehmen abhängen und vorläufig
müßten fie Nachts gebunden jchlafen. Dieje Milde,. verbunden mit
der jtarfen moralijchen Demüthigung, erwies fich al8 das Bejte, was
Hedin thun konnte. Auch diejer Zug zeigt jeine unvergleichliche
Begabung als Forjchungsreijender.
Täglich zwifchen ein und zwei Uhr Mittags jtellte jich jet
ein furzer aber heftiger Hageliturm ein, der die Gegend weiß ein—
hüllte. Beim Aufjtieg zu Littledales Paß ſtieß man auf einen
Ejelfadaver von der englijchen Expedition: das mumienartig ein-
getrodnete Thier war ganz unverjehrt. Alſo nicht einmal Wölfe
und Naubvögel gelangten hierher! Erjt am 24. Auguſt wurde der
Arkastag überjchritten — Paßhöhe 5544 Meter. Jetzt hatten fich
Alle an dieje enormen Höhen gewöhnt und Steiner litt mehr an der
Bergkfrankheit. Von oben erjchten jüdwärts ein Seebeden, dem
alle Gewäſſer vom Kamme herab zuzujtrömen jchienen: das Strom:
gebiet des Lop-nor lag endlich im Rüden und das abflußloje Hoch:
fand von Tibet war erreicht. Die Szenerie war überwältigend:
völlig todt und jchweigjam — aber phantajtische Wolfenbildungen,
Schneefetten, jchwarzblaue Bergwände und jchaurig = jchöne Be—
feuchtungseffefte bewegten die Seele des Neijenden.
Fünf Wochen lang zog Hedin jet gen Oſten durch unbe:
fanntes, unbewohntes Gebiet. Zwanzig abflußloſe bitterjalzige
Seebeden hintereinander wurden pajjirt. Zuletzt wartete Alles
mit faſt brennender Ungeduld auf die erite ſüße Wajlerfläche —
als ein Zeichen, daß die abflugloje Region endlich durchzogen jei.
Eins nach dem anderen von den Thieren fiel, um nicht wieder
aufzuftehen; zulegt auch Hedins treues Neitpferd. Am 27. September
fanden die Leute ein tibetanijche® Obo: einen Haufen he=
jchriebener Schieferplatten. Man hatte aljo einen Ort erreicht,
wo Menjchen hinfamen! Bald mehrten fich jolche Funde. Hedin
machte jich einmal an das Kopiren einer ſolchen Inschrift — als
er eine halbe Stunde lang die fremden Charaktere nachgemalt
494 Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
hatte, merkte er, daß fich nach je fieben Zeichen immer diejelbe
Sruppe wiederholte! Es war die buddhiftiiche Gebetsformel:
„Om mani padme hum“ (DO, das Kleinod im Lotos, Amen), die
wohl viertaujendmal auf jiebenundvierzig Platten gejchrieben ſtand.
Der Xejer wird ſich den Merger und die Enttäufchung des
Reiſenden denfen fünnen. Am 1. Oftober endlich fand man die
eriten Menjchen — mongolijche Nomaden, wo Hedin neue Pferde
und Proviant faufen fonnte und freundliche Aufnahme fand. Am
9. November wurde der gewaltige Koko-nor oder Blaue See er:
reicht. Von bier an hört die eigentliche Forſchungsreiſe auf;
e3 handelte fich für Hedin jegt nur mehr darum, jo jchnell wie
mögli Peling und die Heimathb zu erreichen. Am
taujendunderjten Tage jeiner Reife durch den aſiatiſchen
Kontinent jah er die Stadtmauer von Peking vor ſich auftauchen.
Begreiflicher Weiſe wollte er jich erjt einen menschlichen Anzug
machen lajjen, bevor er Europäer aufjuchte, aber als er bei der
ruſſiſchen Botjchaft vorbeifam, hielt er es nicht aus und jtürmte
hinein... ..! Am 10. Mai 1897, dreieinhalb Jahre nach dem
Verlafjen der jchwedischen Heimath, tauchten die Thürme von
Stodholm vor den Augen des fühnen Neifenden wieder auf.
Große Ehren warteten jeiner.
* *
*
Kann nad) den vorgeſteckten Zielen, nach den erreichten
Nejultaten und nicht zum Mindeiten noch der Methode und den
Mitteln, mit denen der Genius feine Ideen verwirflicht, fein
Zweifel daran jein, daß Hedin ein Forjcher großen Stils iſt, eben-
bürtig den Livingjtone, Nachtigal, Nordenjtjöld? — jo wird fid
Henry ©. Yandor, der jein Unternehmen begann, als Hedin
durch Rußlands Ebenen der Heimath zueilte, mit einem etwas be
jcheideneren Plage begnügen müſſen. Nicht nur, daß er im Gegen:
ja zu dem ebenjo glüdlichen wie fühnen Schweden vom Miß—
gejchid verfolgt wurde und nur einen fleinen Theil jeines Planes
verwirklichen fonnte — jeine Berjönlichkeit entbehrtauch in etwas jener
ruhigen Größe, die nur durch ihre Bejcheidenheit, wie durch die Höhe
der Aufgaben, die ſie Sich jtellt und die fie durchführt, imponirt.
Yandor ijt ein verwegener Draufgänger, ein Menjch von
phänomenaler Widerjtandskraft gegen alle Uebel und von beinahe
unbegrenzter förperlicher Xeijtungsfähigfeit, den das für unmöglid
GSeltende an jich reizt. Diejer Veranlagung entjpricht jein Ziel:
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 495
nach Xhaja, der verbotenen Hauptjtadt Tibets, vorzu—
dringen, und zwar von Indien aus.
Der legte Europäer, der Lhaſa gejehen hat, ift der franzöfijche
Mijfionar Pater Huc, der zujammen mit jeinem Kollegen Gabet
im Jahre 1845 die Stadt von Peking aus über den Kofo:nor er:
reichte. Schon in der erjten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts
war der Franziskaner-Mönch Odorich von Pordenone, päpitlicher
Sejfandter in China, in Lhaſa; im fiebzehnten und achtzehnten
Ssahrhundert haben Sich franzöfiiche Jeſuitenmiſſionare jogar
fängere Zeit dort aufgehalten. Sie Wlle erzählten die merf-
würdigiten Dinge von dem Yande und namentlich der Hauptitadt,
vom Dalai Yama, dem buddhiftiichen Papſt, der in Lhaja refidirt,
von dem eigenthümlichen Kultus, der bejfonders an diefem Zentrum
der tibetaniſch-buddhiſtiſchen Kirche die frappanteiten Aehnlichkeiten
mit fatholischen Riten aufweiſt — aber jeit der Mitte diejes Jahr:
bunderts verjchließen die Tibetaner ihr Yand, vor Allem aber die
zentralen Gebiete um Lhaſa herum mit jolcher Hartnädigfeit, daß
es feinem Europäer mehr gelungen it, hineinzufommen.
Bonvalot und Prinz Henry von Orleans gelangten Anfang
1890 bis auf wenige Tagereifen an die Stadt heran. Sie waren
vom Lop-nor aufgebrochen, überjchritten nacheinander von Norden
nach Süden zahlreiche Ketten des Kwen-lun-Syſtems und gelangten
durch die unbewohnten Theile Nord-Tibets, ohne Menjchen zu
jehen, bis in die Nähe des gewaltigen Sees Tengrisnor, der nur
noch hundert Kilometer nördlich von Lhaſa liegt. Dort fängt das
Yand an, bewohnt zu werden, und fie wurden von Eingeborenen
bemerft, die ihr Nahen meldeten. Zwei Tagereijen jüdlich vom
Tengrisnor verjperrte ihnen eine jtarfe Abtheilung tibetanijcher
Soldaten den Weg und troß jiebenwöchentlicher Unterhandlungen
gelang es nicht, den Weg frei zu befommen. Mit einem großen
Bogen nach Oſten erreichten die Franzoſen jchlieglich Tonfing.
Landor wählte jeine Einbruchsitelle nach Tibet weit wejtlic)
von Lhaſa unfern der Gangesquelle. Bor allen Dingen fam es
für ihn datauf an, die Tibetaner über jeine Abjichten in Unkenntniß
zu erhalten. Aber gleich dieſe nothwendige Worbedingung des
Erfolges gelang es nicht, zu erfüllen. Der tibetantjche Gouverneur
jenjeit8 der Grenze erfuhr durch Spione von Yandors Plan und
ließ die Bälle über den Hauptlamm des Himalaya bewachen.
Während Hedin eine unvergleichliche Stübe an jeinen muham—
medanifchen QTurfeftanern und namentlih an Islam Bat beſaß,
496 Spen Hedins uud Landors Reifen in Innerafien.
war Landor darauf angewiejen, jich jeine Diener aus der zwar
förpeilich brauchbaren, aber zaghaften und durch jede Gefahr aus
der Faſſung zu dringenden Bergbevölferung in den jüdlichen
Himalaya-Thälern zu nehmen. Dieſe Leute, die jogen. Schofas,
find Heiden, und es ijt fein Zweifel, daß der Muhammedaner ſich
im Allgemeinen tüchtiger und unerjchrodener zeigt. Auch in Indien
jelbit fann man dieje Beobachtung machen. Da Landor wußte,
daß der Iong Pen (Statthalter), der in der Grenzfeitung Taklakot
jaß, die Wege gegen fein Eindringen bewachen ließ, jo faßte er
die Idee, über einen jechstaujendjiebenhundert Meter (!) hohen Paß
zu gehen, wo natürlich, zumal um dieſe Jahreszeit, unendliche
Schneemafjen lagen. Niemand hätte ihn an diejer Stelle erwartet;
einmal drüben, wäre er tief in das jchwach bevölferte Yand hinein-
gefommen, ohne entdedt zu werden, und jobald die Grenzwächter
erit jeine Spur definitiv verloren hatten, hoffte er, vermöge jeines
großen Vorjprungs, nicht mehr erwijcht zu werden. Freilich lief
er dann immer noch Gefahr, beim erjten Begegnen mit Tibetanern,
auc) jolchen, die garnichts von ihm wußten, als Europäer erfannt
und den Behörden denunzirt zu werden. Aber in diejer Beziehung
verließ er fich auf jein gutes Glüd. In der That jollten nad
einigen Wochen jeine Gefichtsfarbe einen jo dunfeln Ton und jeine
Kleidung ein jo reduzirtes, undefinirbares Ausjehen annehmen, daß
ihn die Tibetaner zeitweilig für einen Indier hielten.
Bevor Landor jeinen eriten Einbruchsverſuch machte, jchidte
er einen kräftigen Schofa aus, um den Paß zu refognosziren. Der
Mann wurde unterwegs beinahe von einer Lawine verjchüttet,
fehrte um, bevor er die Höhe erreicht hatte und meldete, da je
fein Durchfommen. Landor, ein Arzt Dr. Wiljon, der ihn Anfangs
begleitete, und mehrere Eingeborene machten ſich nun auf den Weg,
um jelber nachzujehen. Bei jechstaujend Meter fingen alle an,
an Bergfranheit zu leiden. Bald blieb der Doktor zurüd, dann
einer von den Dienern, dann noch einer. Landor bejchreibt die
Situation folgendermaßen: „Ein dider Nebel fiel und umhüllte
uns, was dag Emporklimmen bedeutend erjchwerte. Unſere An:
jtrengungen, weiter zu fommen, waren verzweifelt ; unjere Lungen
waren in frampfhafter Thätigfeit, als ob fie beriten wollten, unjere
Bulje bejchleunigt. Unjere Herzen Elopften, al® wollten fie jich
einen Weg aus dem Körper herausbahnen. Erjchöpft und von
einer unwiderjtehlichen Schlafjucht ergriffen, erreichte ich mit dem
Nongba (der einzige Diener, der mit aushielt) ſchließlich dennoch
Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraften. 497
die Höhe. Trogdem ich mir jchon lange die Unmöglichkeit klar
gemacht hatte, meine Leute auf diefem Wege hinüber zu bringen,
war es eine Genugthuung, hierher gelangt zu jein und eine folche
Höhe erreicht zu haben.“
Es war elf Uhr Nachts und jchneidender Nordojtwind; heller
Mondichein lag über den endlojen, hoch überjchneiten Bergzügen,
und die Sterne funfelten unbejchreiblich hell. Unter dem Stand:
ort Zandors lagen Nebel; als jie ſich ein wenig hoben, zeichnete
jic) auf ihrer wallenden, brauenden Oberfläche die Gejtalt Landors
im Mittelpunkt eines leuchtenden Kreiſes als ein großes dunfles
Gejpenjt unheimlich und phantaftijch ab; er jtand innerhalb eines
Mondregenbogens. Wlöglich überfiel die beiden Männer der Schlaf.
Troß alles Anfämpfens brachen fie auf dem Schnee zujammen; die
Wirkung glich der eines jtarfen narkotijchen Mittels. Der Rongba
ftöhnte vor Schmerzen, und Landor widelte ihn aus Mitleid in
jeine Dede. Aber die Eleine Anjtrengung genügte, um ihn im
Kampf gegen den Schlaf unterliegen zu laſſen. Nach rüdwärts
auf den Schnee fallend, machte er noch) eine letzte verzweifelte An—
jtrengung, zu den gligernden Sternen emporzubliden, dann trat
Bewußtlojigfeit ein In diefem beginnenden Erjtarrungsichlaf hatte
Landor eine ſchreckliche Viſion: er jah jich mit allen jeinen Ge—
fährten in einem weiten Grabe von durchjichtigem Eije eingejchlojjen,
dejien Wände ich jchnell nach innen zujammenzogen. Der Alp
preßte ihm einen lauten Schrei aus, er erwachte entjegt, be—
griff mit dem Reſt jeines Bewußtjeins die Situation, rüttelte
feinen Gefährten auf, und Beide erreichten glücklich die weiter unten
Wartenden.
Biel weniger jchlimm als dieſe jchredliche Paſſage war der
mehr al3 5700 Meter hohe Uebergang, auf dem man schließlich
nach Tibet gelangte, auch nicht. Sehr bald traf die Karawane
auf tibetanische Spione, aber die beiden Europäer waren bereits
durch die Sonne und die Wirfung der biendenden Schneeflächen
ftart verbrannt und trugen Qurbane und Schneebrillen, daß Die
Spione die Gejellichaft in dem Glauben verließen, einen Hindu—
doftor mit jeinem Bruder und Dienern gejehen zu haben, die auf
einer Bilgerfahrt zum heiligen Manjarowar-See und dem Berge
Kelas jich befinden.
Zwei Tage darauf jtieß Yandor auf eine große Abtheilung
Soldaten. Nach) langem WBarlamentiren gelang es ihm, Den
Weitermarjch bewilligt zu erhalten — da verriet) ihn einer jeiner
Breußifhe Jahrbücher. Bd. XCVIII Heft 3. 82
498 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien,
eigenen Leute als einen Sahib („Herr“ = Europäer). Nun fahte
er den Plan, die Tibetaner durch eine andere Liſt zu täujchen.
Er that jo, als ob er ſich in jein Schiedjal ergebe, kehrte zum
Himalaya um und entwich in einer jtodfinjtern Sturmnacht beı
fürchterlichjem Schneetreiben mit nur ſechs Mann, die er glücklich
zum Mitgehen bewogen hatte, aus jeinem Lager, während ver
Doftor Wilfon mit der Mehrzahl der Leute zurüdblieb. Den
ganzen folgenden Tag über blieb das Lager jtehen, um einen Auf:
enthalt Landors an diefem Punkte zu markiren. Die Liſt jchien
geglüct zu fein, und für mehrere Tage verloren die Tibetaner Die
Spur der Eindringlinge. Da, als Alles gut zu gehen jchien,
machte Zandor eine niederjchmetternde Entdedung: in der Eile Des
Aufbruchd war viel zu wenig Proviant eingepadt worden. Mur
ein fühner Entjchluß fonnte Rettung bringen. Bier Schofas
jollten verkleidet nach Taflafot gehen, Speife einfaufen und jid)
einzeln wieder zurücdjchleichen. Yandor jelbjt mit zwei Leuten blieb
in einem verborgenen Schlupfwinfel zurüd. Dort lebten die drei
fünf Tage lang von jungen Nefjeln und jahen während diejer
Zeit öfters tibetanische Soldaten unterhalb ihres horitartigen Ber:
jtedS auf der Suche nad) ihnen vorüberreiten. Schlieglidd kamen
die Leute mit Lebensmitteln zurüd, aber nur, um jich in der
nächjten Nacht den Preis von fünfhundert Rupien zu verdienen,
den der Jong Pen von Taflafot auf Yandors Kopf gejett hatte.
Zu ihrem Unglüd waren fie dumm genug, die Gejchichte von dem
Preife Landor zu erzählen. Dadurch wurde Ddiejer mißtrauiſch,
und als in der Nacht ein Schofa mit jeinem großen Mejjer heran
jchlich, befam er von Landor furchtbare Prügel mit dem Flinten—
folben. Tags darauf, nachdem man eben aufgebrochen war,
merfte Landor noch im legten Augenblid, daß ihn die Leute, die
vor der tibetanischen Tortur eine furchtbare Angſt hatten und
fic) durch) feine Auslieferung zu retten hofften, geradenwegs einem
feindlichen Wachtpojten in die Hände führen wollten. Die
Folge beitand wiederum in einer freigebigen Tracht Prügel
für die getreuen Diener. Nur auf zwei von ihnen, Tjchanden-
Sing und Man-Sing, fonnte fi) Landor unbedingt verlajien.
Leider litt Man:Sing am Ausjat in jeinem beginnenden Sta:
dium. Die weiße, glänzende, jtraff gejpannte Gefichtshaut und
die gefrümmten verzogenen Finger waren untrüglice Zeichen.
Nach einem erniten Balaver willigten die Schofas endlich, jchein-
bar ergeben und fügjam, ein, Zandor bis zum Maium-Paſſe,
Spen Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 499
der vom Indus» bis zum Brahmaputragebiet hinüberführt, zu
begleiten.
Borläufig waren die Tibetaner getäufcht. Freilich hatte Landor
jtatt der dreißig, mit denen er aufbrach, nur noch ſechs Leute mit
ſich, aber er konnte ſich mit diejen jchneller bewegen und eher dem
Berdacht entgehen, daß er ein Europäer fein. Sein nächjtes Ziel
waren Die beiden Seen Manjarowar und Nafastal, der heilige
und der Teufelsjee. Nördlich von dieſen beiden großen Wajjer:
beden, die nur durch einen jchmalen langen Felsdamm von ein=
ander getrennt, in 4700 Meter Höhe neben einander liegen, erhebt
ji) die merlwürdig geformte Pyramide des fait 7000 Meter hohen
heiligen Berges Kelas, der in Nordindien, Nepal und Tibet als
ein Thron der Götter gilt. Zahlreiche Pilger wallfahrten jährlich
dorthin und umwandern den Berg an feiner Bafis, was gewöhnlich
drei Tage dauert; die frömmiten legen den ganzen Weg friechend
wie Schlangen zurüd, andere gehen auf den Händen und Knieen,
noch andere rücdmwärts, um das Verdienjt ihrer Pilgerjchaft zu er-
höhen. Die Situation war einjtweilen für Landor eine leidliche;
man verfolgte ihm nicht und es war daher möglich, Feuer anzu—
zünden und warme Speiſen zu genießen. Als fie am Nafastal
angefommen waren, zeigte einer der Diener auf einen Felſen im
See: „Sahib, ſiehſt Du jene Injel? Auf ihr wohnt ein Lama:
Einfiedler, ein heiliger Mann. Er ijt dort allein und lebt von
Fiſchen und Schwaneneiern; nur im Winter, wenn der See ge:
froren ift, werden ihm Vorräthe gebracht. Der Einjiedler jchläft
in einer Höhle, fommt aber ins Freie, um zu Buddha zu beten.“
Während der folgenden Nacht trug der Wind ein undeutliches
Geheul vom See her den Lagernden zu. „Was iſt das?“ fragte
Zandor die Schofas. „Es ijt der Einfiedler, der zu Gott jpricht“,
antworteten fie. Jede Nacht Flettert er auf den Gipfel des Felſens
und richtet von dort jeine Gebete an Buddha, den Großen!“ Am
See gab es mehrmals fleine Nenfontres mit Räubern, die aber
feinen ernjthaften Ueberfall zu machen wagten. Ein Trupp ver:
juchte, durch die Neize zweier Weiber, die ſchmutzig und jtinfend,
die Gefichter, um das Aufipringen der Haut zu verhindern mit
ichwarzer Salbe bejchmiert, am Wege ftanden und winften, die
Reifenden zum Ausplündern in jein Zeltlager zu loden, hatte aber
feinen Erfolg. Mit einer anderen Bande war das Zuſammen—
treffen nüßlicher. In wilden Galopp verfolgte ein ganzer Schwarm
Landors Eleinen Zug. Als der Befehl erfolgte, zu halten und die
gar
500 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
Näuber zu erwarten, waren die Schofas vor Furcht wie gelähmt;
Landor dagegen nahm faltblütig die Flinte in die eine, feinen
photographijchen Apparat in die andere Hand und ging den
Banditen entgegen. Mit den jchlechten tibetanijchen Yuntenflinten
it e8 nur auf ganz furze Entfernung möglich zu jchießen —
Landor jtellte daher feine Kamera ruhig ein und wartete, bis er
die Räuber gut auf der Bifirfcheibe hatte. Die nun folgende
Szene ijt jo fojtbar, daß fie nur mit Landors eigenen Worten
wiedergegeben werden fann: „Dann löjte ich den Momentverichluf
aus, als jie nur nod) dreigig Meter entfernt waren und eben von
ihren Pferden herunterfletterten. Nachdem die Kamera ihre Schuldig-
feit gethan hatte, legte ich jie jchnell auf die Erde, und nun fam
die Büchſe dran. Sch jchrie ihnen zu, die Waffen niederzulegen,
und um meinem Befehl mehr Nachdrud zu geben, legte ich meinen
Mannlicher auf fie an.
Sch glaube, eine janftere Räuberbande iſt nicht zu finden,
obwohl diejes Gelichter oft tapfer ift, wenn es für fie leicht iſt,
muthig zu fein. Ihre Luntenflinten flogen mit unglaublicher
Schnelligfeit von den Schultern auf die Erde. Die juwelenbejegten
Schwerter, die jie trugen, wurden rajch neben die Feuerwaffen
gelegt. Die Banditen fielen nieder, nahmen ihre Müten mit beiden
Händen ab und jtredten zum Zeichen des Grußes und der Unter:
würfigfeit (jo iſt es Sitte bei den Tibetanern) die Zunge heraus.
Ich konnte nicht umhin, ein zweites Momentbild von ihnen
aufzunehmen, denn fie jahen gar zu komiſch aus.“ Nun befamen
auch Landors Diener wieder Muth und redeten die Räuber ım
Auftrag® ihres Herrn an: „Sie jollen mir einige Yaks und Pierde
verfaufen, ich werde fie gut bezahlen.“ Nach vier Stunden Han-
delns waren zwei Vals zum Tragen der Laſten eritanden — Preıs
vierzig Nupien (eine Silberrupie = annähernd einer Mark), Nah
dem Handel wurde ein Mahl gehalten ; Tſamba und Thee waren
die Hauptbejtandtheile. Die Tjamba iſt die Nationaljpeije der
Tibetaner; fejter Hammeltag und Gerjitenmehl werden verfnetet
und mit heißem Wafjer zu einem Brei vermijcht. Den Thee ri»
ten fie mit Butter und Salz vermijcht an, und wenn jie jich eın
bejonderes Feſteſſen machen wollen, jo bereiten fie jich die Tſamba
itatt mit heigem Wajjer mit diejer Brühe. Aus dem Brei werden
mit unjagbar jchmugigen Fingern Kugeln geformt und eine nad)
der andern in den Mund gejchoben. Nach dem Eſſen wurde es
warm, und Männer und Weiber entledigten fic) ihrer diden Pelz
Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien. 501
fleidung, die jie auf dem bloßen Körper tragen, ungenirt bis zu
den Hüften. Die Pelze find zu allen Jahreszeiten nothiwendig,
denn die Temperaturjchwanfungen betragen auf dem tibetanijchen
Hochlande auch im Sommer im Laufe von vierundzwanzig Stunden
bis zu fünfzig Grad,
Am Manjarwar:-See liegt eine große Gomba, ein buddhi—
jtiiches Klofter mit einem Tempel. Landor fühlte ich jo ficher,
daß er dort einen Beſuch zu machen bejchloß, um Lebensmittel zu
erlangen und das Kloſterleben unter den Lamas fennen zu lernen.
Zwijchen zwei und drei Uhr Nachts langten die Neijenden vor der
eriten Hütte des Klojterdorfes an und Elopften jo gewaltig, daß fie
beinahe die Thür einjchlugen. „Ihr jeid Dakoit“ (Räuber), jagte
eine heijere Stimme von innen, „jonjt würdet Ihr nicht um Dieje
Stunde fommen.” „Nein, das find wir nicht ; bitte, öffnet, wir
jind wohlhabende Leute. Wir wollen Niemandem etwas zu Xeide
thun und für Alles bezahlen.“ „Kann nicht jein, nein! hr jeid
Dakoit, ich werde nicht öffnen.“ Statt der abermaligen Antwort
traten Landors Leute jet die Thür ein und jeßten jich, ehe der
Beier des Haujes ein Wort jagen fonnte, um das Feuer, das
Drinnen brannte. Der Wirth berubigte ich, als er einige Silber:
münzen auf jeiner Handfläche fand.
Am nächſten Morgen badeten die indifchen Diener Landors
alle im heiligen See Manjarowar, in dem nach ihrem Glauben
Siva, der größte aller Götter lebt. Wer in diefem Waſſer gebadet
bat, wird in ganz Nord: Indien hochgeehrt. Gleichviel, welche
Verbrechen er vorher begangen haben mag, ein Eintauchen des
Körpers genügt, die Seele zu reinigen. Um die Leute zu erfreuen,
jchleuderte auch Landor einige Geldjtüde in den See, dann betrat
er fühn das Innere des Tempels und lieg nur zur Vorſicht jeinen
Tſchanden-Sing mit geladener Büchſe am Eingang Poſto faſſen.
Kluge Devotion und, was noch wirfjamer war, reichliche Silber:
fpenden vor den zahlreichen Götterbildern gewannen Landor bald
die Freundſchaft der Yamas.
„Welches find die böjen Eigenjchaften, die man am meijten
vermeiden muß ?* fragte Landor den Einen von ihnen, der ihn
führte. „Wolluft, Stolz und Neid,“ antwortete diefer. Dann er:
griff er die Hand des Fremden und öffnete fie. Kaum hatte der
Lama einen Blid hinein gethan, jo fing er an, Xandor mit ſelt—
jamer Unterwürfigfeit zu behandeln. Er jtürzte fort und theilte
den Anderen irgend etwas mit, das ſie alle in große Bejtürzung
502 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
verjegte. Jeder wollte jegt Landors Hand jehen, und dies Be—
nehmen war ein vollftändiges Näthjel für ihn. Er jollte jpäter
den Grund erfahren.
Nun folgen in Yandors Buch zwei außerordentlich interefjante
ftapitel über das tibetaniſche Mönchthum der Lamas und Die
mannigfaltigen religiöjen, medizinischen und jonjtigen Borjtellungen,
jowie die jozialen und fittlichen Verhältnijje des Volkes. Ich ſtehe
nicht an, dieſe Stüde, jowie überhaupt Alles, was Yandor an Be:
obacdhtungen über das Leben und den Charakter der Tibetaner
bringt, für das Werthvollite in jeinem Buche zu erflären. Auch
die Schilderungen der merkwürdigen Natur des Landes find vor:
trefflid) und, was hervorgehoben zu werden verdient, es wird jchwer
jein, ein beſſer und unterrichtender illujtrirte® Buch über eine
Reife zu finden, als das jeinige. Nicht auf derjelben Höhe iteht
ed in rein geographijcher und geologifcher Hinfiht. Um nur ein
Beijpiel zu nennen, jo giebt er zwar auf jeiner Starte an, daß die
beiden Seen Nafastal und Manjarowar, obwohl jie genau im
gleichen Niveau liegen, doch feinerlei Kommunikation mit einander
haben, aber er bemerkt nichts über den Salzgehalt ihres Wajjers,
was wichtig zu erfahren wäre, denn der Rakastal ijt der Quellfee
des jtarfen Induszufluffes Sadletih und muß daher Süßwaſſer
haben, der Manjarowar aber jalziges, wenn er wirklich ohne Ber-
bindung mit dem Erjteren und daher abflußlos ift.
Bald nad) dem Aufbruch aus dem Kloſter verlor Yandor
jeine jämmtlichen Schofas. Einen Theil entließ er freiwillig, da
er jah, dat die Leute völlig demoralifirt und eher eine Gefahr
für ihn als eine Hilfe waren ; zwei, die Anfangs weiter mitgehen
wollten, dejertirten bei der nächjten Gelegenheit des Nachts
und nahmen den ganzen mühjam erhandelten Proviant, jowie
eine Menge nothwendiger Sachen mit. Jetzt war er allein mit
jeinen beiden getreuen Hindu-Dienern Tjchanden-Sing und dem
armen, ausjägigen Man-Sing, jowie den beiden Yaks. Trotdem
bejchloß er jeinen Marjch fortzujegen. Aber jchon am erjten Tage
jah er, daß die Tibetaner doch Kenntniß von jeinem Aufenthalt im
Lande erhalten haben mußten. 150 Soldaten verfolgten ihn. Auf
einem hohen Berggipfel wurde er eingeholt und obwohl es ihm bei
der Feigheit dieſer „Krieger“ gelang, die ganze Gejelljichaft in die
Flucht zu Schlagen und jogar noch Lebensmittel von ihnen zu er-
beuten, jo war Doch jeine Yage jegt verzweifelt. Zwar fam er unter
unjäglichen Bejchwerden noc etwa dreihundert Kilometer weiter
Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien. 503
auf dem Wege nad) Lhaſa und entdedte unterwegs die zweite Haupt:
quelle des Brahmaputra, aber bei einem Flußübergang ging ihm
fajt jein ganzes Gepäd und alle Munition bis auf die
wenigen Batronen verloren, die er und jeine beiden
letten Getreuen bei jich trugen. Damit war jein Schidjal
bejiegelt. Vortrefflich jind die Beobachtungen, die‘ aud) während
des legten jo gut wie hoffnungslojen Bordringens jelbjt nach diejem
Schlag noch gemacht wurden, und man fann dem eijernen Troß
des Mannes, der nicht eher einen Schritt rüdwärts thut, als bis
er gefangen und gefejjelt fortgejchleppt wird, unmöglich die höchjte
Bewunderung verjagen — aber aller Muth Landors und alle Treue
der beiden Hindus wurden jchlieglich an dem unabwendbaren Schid=
jal zu Schanden. In der höchjten Noth jchien noch einmal das
Glück zu lächeln. Man traf Tibetaner, die Pferde und Lebens:
mittel verfaufen wollten, aber das Ganze war faljches Spiel.
Während Landor fid) bücte, um den Fuß eines der Pferde zu unter:
juchen, jtürzten ich einige dreißig fräftige Männer auf ihn, ein
Strid wurde ihm um den Hals geworfen und dann fejjelte man
ihn und jeine gleichfalls hinterrüds überfallenen Yeute — nod)
etwa zwölf Tagereifen von Lhaſa.
Was nun folgt, it geradezu jchredlich zu lejen. Unter den
furchtbariten Martern jchleppten die Tibetaner die drei Unglüdlichen
den Weg zurüd, den fie gefommen. Mit jeinem Blute zeichnete
Landor unterwegs heimlich, dort wo die Route von jeinem Hin—
marjche abwich, eine Kartenſkizze des Weges, aber ficherlic) wäre
er jchließlich doch zu Tode gepeinigt worden, wenn der Pombo oder
Großlama (Provinzialjtatthalter), dem er in die Hände gefallen
war, nicht auf den Gedanfen gefommen wäre, erjt ein Orakel ein=
zubholen, ob man den Fremdling tödten oder am Leben lajjen jolle,
Dazu brauchte er einen Fingernagel des Gefangenen und als die
Singer an Yandors gebundenen Händen gejpreizt wurden, um Dies
Erfordernig zu bejchaffen, geriethen die Tibetaner wiederum in Dies
jelbe eritaunte Aufgeregtheit, wie früher in dem Kloſter am See
Manjarowar. Das hochnothpeinliche Berfahren wurde jofort ein=
geitellt, und der Pombo befahl, nachdem er Yandors Hände gleich:
falls bejichtigt hatte, daß er noch am jelben Tage, wenn auc) ge:
fejjelt, die Rückreiſe nach der indischen Grenze antreten und jammt
jeinen Dienern freundlich behandelt werden jolle. Erjt nach jeiner
Befreiung erfuhr Landor den Grund diejer Seltjamfeit: jeine Finger
jind etwas höher hinauf zujammengewachjen, als es bei den meiſten
504 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
Menjchen der Fall ift, und die Tibetaner glauben, wer jolche Finger
befigt, dejjen Leben jei durch Zauber gefeit; was man auch mit
ihm anjtelle, ihm fönne fein Leid gejchehen! Thatjächlidy hatte
Landor jchon geradezu Unbegreifliches zum Erjtaunen jeiner Quäl—
geifter ausgehalten. Faſt das Schlimmjte waren die Tortur durch
das Ungeziefer, das fich in den zerlumpten von Blut und Schweik
durchtränften Kleidern majjenhaft anfammelte. Nur einmal durften
die Gefangenen, als fie auf dem Nüdtransport an den Manjarowar:
See famen, baden. An derjelben Stelle, wo er im Frühjahr die
Grenze zwiſchen Indien und Tibet überjchritten hatte, wäre Yandor
ichlieglich doc) noch um ein Haar einem fichern Tode ausgeliefert
worden: der Statthalter weigerte jich, ihn direft über die Grenze
zu entlafjen, und wollte ihn zwingen, einen Umweg von jechzehn
Tagereifen über einen unwegjamen Paß nad, Indien zu machen,
damit er unterwegs vor Hunger und Schnee umfäme, ohne da
man direft Hand an ihn zu legen brauchte. Jetzt waren die Drei
Männer aber nicht mehr gefejjelt; in ihrer Verzweiflung, da fie
jowiejo den fichern Tod vor Augen glaubten, griffen fie ihre aus
zahlreichen Soldaten und Offizieren zu Fuß und zu Pferde be:
itehende Esforte mit aufgelejenen Steinen an und — die ganze
Wache riß aus. Als halbe Leichen gelangten fie, nachdem fie noch
einige aufregende Zwiſchenfälle bejtanden hatten, glüdlid nad
Taflafot, unter deſſen Mauern jie ſich befanden, hinein, denn
Yandor hatte erfahren, daß der Doktor Wilfon und ein eingeborener
Agent der indijchen Regierung in der Stadt jeien. Sie waren
über die Grenze gefommen, um von dem tibetanijchen Gouverneur
Gewißheit über Yandors Schikjal zu erlangen. Wilfon und der
Anent hatten mit ihrer Begleitung ein bejonderes Lager in der
Stadt aufgejchlagen. Als Landor in das Zelt des Doktors trat,
jah er in einer Ede eine Quantität Kandiszuder liegen; er war
jo verhungert, daß er jofort große Stüde davon verjchlang. Dann
wurde er gebadet, verbunden und gepflegt, ebenjo die beiden
Diener, die nicht weniger erlitten hatten, al8 ihr Herr. In den
nächiten Tagen gelang es, von den tibetanifchen Behörden einen
großen Theil von dem fonfiszirten Gepäd Landors, darunter jein
Tagebuch jammt Karten und Skizzen, zurüdzuerlangen, und mehrere
Monate jpäter wurden noch über vierhundert photographijche Negative
durch Bermittlung der indischen Regierung an ihn ausgeliefert.
Etwas eigenthümlich berührt e8 und wäre wohl bejjer unter:
blieben, daß Yandor am Schluß jeines Buches ein ausführliches
Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 505
ärztliches Atteit des Doktor Wilfon über die vielen jchredlichen
Wunden abdrudt, die jein Körper bei der Befreiung zeigte, und
ein gewijjes Kopfjchütteln wird der Lejer auch nicht unterdrüden
fönnen, wenn er auf Seite 481 eine Scene photographirt fieht,
wie Landor ſich nad) jeiner Befreiung von Tichanden-Sing,
während er mit bloßen Füßen auf dem Schnee jteht, bei elf
Grad Froſt eine Schale Eiswajjer über den nadten Rüden gießen
läßt. Landor jchreibt, daß er diefe Szene wiedergebe, um zu zeigen,
was er troß jeines gejchwächten Zuſtandes noch zu ertragen im Stande
war. Aehnliches fommt öfter in dem Buche vor, und der Ber:
fajjer unterläßt auch nicht, darauf hinzuweiſen, daß er auf jeiner
ganzen Reiſe fajt nie eine andere Kopfbedeckung gebraucht habe,
als einen Strohhut oder ein Feines Müschen.
* *
53
Ich hoffe, durch dieje theilweife recht ausführliche Auswahl
ous dem reichen Inhalt der beiden großen Neijewerfe, die der
Brodhausjche Verlag feinen Traditionen getreu in mufterhafter
Ausjtattung und zu einem verhältnigmäßig geringen Preiſe dem
deutjchen Publiftum vorgelegt hat, bei dem Lejer den Wunjch er:
wedt zu haben, die Bände möglichit bald vor fich zu jehen. Won
Hedin haben wir allerdings noch eine bejondere Publikation über die
jtreng wijjenjchaftliche Musbeute jeiner Reife zu erwarten, worüber
ich voraussichtlich ihrer Zeit den Freunden dieſer Jahrbücher werde
berichten fönnen. Alsdann, wenn der geniale jchwedijche Forjcher
den letzten und tiefiten Ergebnifjen jeiner Arbeit jelbjt die end—
gültige, für die Deffentlichkeit bejtimmte Form gegeben hat, wird
es auch an der Zeit jein, näher auf Die jpeziell erdfundlichen
Details und neuen Einfichten in die geologiiche Entwidlungs-
gejchichte Innerafiens einzugehen, die uns Hedin voraussichtlich
mittheilen wird. Cinjtweilen iſt die bloße Wiedererzählung der
vorzüglichiten Erlebnifje für ihn wie für Landor der bejte Tribut,
den man den Xeijtungen und dem Muthe beider Männer zu zollen
im Stande iſt.
Hedin ift übrigens jchon vor einigen Monaten wieder nad)
Tibet aufgebrochen. Islam Bai begleitet ihn wieder und die
ruffiiche Regierung hat ihm eine geradezu unjchägbare Unterjtügung
gewährt: eine Esforte von drei Kofafen, die er überall hin mit:
nehmen darf. Beſſere Begleiter, als Dieje Leute, die europäijche
Dipziplin und Entjchlofjenheit mit aſiatiſcher Bedürfnißlofigfeit
506 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.
und Widerjtandsfähigfeit gegen phyfijche Unbilden verbinden, kann
jich ein ?Forjcher in jenen Gegenden garnicht denken.
Wie es heißt, haben fich Hedin bei der Bearbeitung jeiner
gewonnenen Schäße unerwartet jo wichtige Nefultate, an die ſich
neue ragen fnüpften, ergeben, daß er jich ganz plößlich zur aber:
maligen Reiſe entjchloß, die wieder auf nicht weniger als Drei
Sahre projektirt if. Auch Nanjens „Tram“ ift ſchon wieder
draußen. Es find doch jchneidige Menfchen, diefe Nordländer!
Notizen und Beiprechungen.
Literariſches.
Willibald Beyſchlag, Zur deutſch-chriſtlichen Bildung. Halle
a. ©., Eugen Strien. Preis: Broc. 5.00, eleg. gebd. 6,00 Mt.
„Zur deutjchschriftlichen Bildung“, „populärstheologische Vorträge“, jo
benennt jich das neuejte Werk von Willibald Beyichlag, das fein bewährter
und verdienjtvoller Verleger Eugen Strien joeben auf den Büchermarkt
bringt. Wie der Verfaffer in einem kurzen Vorwort und mittheilt, fündet
fi) diefe Sammlung als zweite Auflage eines im Jahre 1880 erjchienenen
Buches an, ift aber in Wirklichkeit ein zu zwei Dritteln neues Bud. in
welches nur fünf von früheren Vorträgen aufgenommen find, während zehn
Vorträge ganz neu find.
Vorträge aljo find ed, um die es ſich in diefem Buche handelt, Vor—
träge über Fragen chriſtlicher Bildung und firchlicher Zeitbewegung, weldye
der Berfafjer während jeines fajt vierzigjährigen Lehramted in kirchlichen
Vereinen umd Stonferenzen gehalten hat. Wenn der Berfafjer ed als einen
tiefgreifenden Mißſtand unjerer deutjch-proteftantifchen Zuftände empfindet,
daß unjere allgemeine Bildung und unjere Theologie jo wenig Fühlung
mit einander haben, jo wird ihm wohl jeder der Sache näher Stehende von
ganzem Herzen zujtimmen. Und wenn er nun auf die Fragen chrüjtlicher
Bildung und kirchlicher Beitbewegung mit bejonderer Sorgfalt eingeht und
jeine Anſichten hierüber in einer Sammlung geijtreiher Vorträge und
Eſſays einem größeren Leſerkreiſe darbietet, jo kann ihm diejed, fofern es
diefen bewegenden Fragen nicht gleichgiltig gegenüberjteht, nur Dant
dafür willen. —
Zu einer Anbahnung näherer Fühlung unferer allgemeinen Bildung
und unjere Theologie erjcheint faum ein Anderer jo berufen, wie gerade
Willibald Beyſchlag. Der Mann, der fich in jeiner alademijch langjährigen
Laufbahn und in einer Reihe ernjt wifjenichaftlicher Werke auf dem Gebiete
der ſyſtematiſchen und eregetiichen Theologie als ein Gelehrter im jtrengiten
508 Notizen und Beiprehungen.
Sinne des Wortes hinlänglich dofumentirt hat, der dann in feinen Selbit-
biographien und mehr noch in dem nach meiner Meinung Bejten, das er
je geſchrieben: in dem „Leben eines Frühvollendeten“ durch alle hiſtoriſchen
und wifjenichaftlirhen Erörterungen dad warm pulfirende Blut, das reiche
Gemüth des Poeten hindurch bliden läßt, der ſchließlich in feinen Gedichten
und jeinem Märchen „Godofred“, aller wifjenjchaftlichen Strenge entkleidet,
nur al3 Dichter zu uns fpricht, diefer Mann hat nicht nur den immerhin
jhwierigen Kompromiß des Gelehrten mit dem Poeten in einer für beide
erjprießlihen Weiſe geichlojjen — er fann ihn in feiner vermittelnden
Stellung nun aud mit Erfolg übertragen auf das Gebiet wifjenjchaitlicher
Forſchung und allgemein literarifcher, ja dichteriicher Bildung. So ent—
halten die hier gejammelten Vorträge eine Reihe wechſelnder Bilder. Die
eriten „Jeſus und das alte Teſtament“, „Die Idee und Thatſache der
Berföhnung“, „Die Offenbarung Johannis“ juchen theologische Fragen und
Probleme in allgemein veritändlicher Weife zu löſen — unter den fol-
genden, die literariichen Inhalts find, ift der neuejte und zeitgemäßeite:
„PBrotejtantijches in Goethe“. Der Verfafjer geißelt hier mit gutem Rechte
die DVerunglimpfungen von Goethed Charakter, wie fie aus Anlaß des
Straßburger Denktmaldunternehmens von der ultramontanen Seite auf das
Plumpite erhoben worden jind. Er nimmt Goethe gegen fie in Schuß und
hebt al3 tiefiten Grundzug ſeines Wejend die Wahrhaftigkeit hervor und
die Herzensgüte; er verhüllt aber auch nicht die peinlihe Schattenjeite in
jeinem Charakter: den Mangel an Selbitzuht in feinem Verhältniß zu
Frauen. „Es iſt da nichtö zu vertujchen oder zu bejchönigen. Die Tragif
jeine8 Lebens verräth die ganze Größe diejer fittlihen Schwäche. Diejelbe
hat ihn um das Glüd und den Segen einer edlen Häußlichfeit, einer eben—
bürtigen Ehe gebracht“ (©. 139).
Näher geht der Berfafjer dann auf das Verhältniß Goethes zum
Ehrijtentyum ein. Die Preußiſchen Jahrbücher haben erjt vor Kurzem
einen größeren Aufſatz über Goethes Verhältniß zur Religion aus berufener
Feder gebracht. In diejem ift die viel umitrittene Frage unſeres größten
Dichters zum Chriſtenthum jo eingehend behandelt und nad) meiner Meinung
jo glücklich gelöjt worden, mandjes Duntel ift hier jojcharf beleuchtet worden, daß
ich an diejer Stelle nicht nody einmal auf den Gegenitand eingehen würde,
wenn es jeßt nicht um jo interefjanter wäre, auch Beyſchlags Anſichten
über ihn. fennen zu lernen und wenn diejfe Anfichten nicht ein jpezielleres
Merkmal trügen: fie behandeln nämlich mit liebevoller Vertiefung die be—
jondere Stellung Goethes zur reinjten Ausprägung des Chriftenthums :
zum Protejtantismus.
Für das Verhältnig Goethe zum Chriſtenthum als ſolchem muß es
auch Beyichlag für die jüngere Periode Goethes bei der geltenden Anficht
bewenden lajjen, daß Goethe wohl ein frommer Menſch gewejen, daß jeine
Frömmigkeit jedoch in feiner jüngeren Periode feine jpezifiich chrijtlichen
Rotizen und Beiprehungen. 509
Züge trägt. Ganz anders aber jtellt fi) Beyichlag zu der älteren Periode
im Leben Goethes; überzeugend weiſt er nad), wie der Dichter, je mehr er an
Alter und Erfahrung wuchs, je mehr Schwankungen und Wechſelfälle eines
längeren Lebens hinter ihm lagen. um jo näher der chriftlihen Religion
trat. Seine Iphigenie, die ethiſch Zarteſte jeiner Schöpfungen, jpiegelt
ahnungsvoll das tiefite Geheimniß des Chriſtenthums wieder, daß der Fluch)
eines jchuldvollen Geſchlechts durch die Liebe einer reinen Seele gelöjt
werden fann. Sein Fauft vollendd ruht auf dem Gedanken, daß der
Menſch, irrend jo lange er jtrebt, gerade in diefem unermüdlihen Streben
erlöjungsjähig bleibe. Und nicht nur erlöjungsfähig, jondern erlöft, denn
die Liebe von oben nimmt Theil an ihm und ftredt ihm verjühnt die ret-
tenden Gnadenhände entgegen.
Als Chriſt aber ift Goethe von Haus aus ein Find des deutjchen Pro—
teſtantismus gemejen, geboren und erzogen im Schooße der evangelifch-
lutheriſchen Kirche. Der Verfaſſer zeigt, wie feine geijtige Entwidelung in
eine Zeit fällt, in welcher die Bervegung und Erhebung de3 deutichen Geiſtes
ausſchließlich auf protejtantiihem Boden wurzelt, denn von Gottſched und
Gellert an bis zu Goethe und Schiller findet ſich in der ganzen Literatur:
geichichte auch nicht ein einziger Fatholiicher Namen und während ein Klop—
jtod, Zejfing, Herder, lauter Söhne deutjcher Reformation, dem deutjchen Geiſte
den Aufihwung bahnen zu einem in feiner Weije einzigartigen und welt-
geichichtlichen Höhepunkt, liegt der katholiiche Volkstheil, nad) den Greueln
der Gegenreformation den Jeſuiten ald Grabeswächtern überantivortet,
im tiefen Todesichlaf. Die VBorbedingungen zur Entfaltung des Goethejchen
Genius wären hier jchlechterdingd nicht vorhanden geweſen“ (S. 147).
Und Niemand ijt fich dieſes Kindesverhältnifies zur deutichen Reformation
jo dankbar bewußt gewejen wie Goethe. Das jpricht jo recht aus einer
Yeußerung über Shafejpeare: „Der größte Lebensvortheil, den ein Dichter
wie Shafejpeare hat genießen können“, jagt er, „it gewejen, daß er als
Protejtant geboren und erzogen wurde. ben daher erjcheint er als
Menſch mit dem Meenichlichen volllommen vertraut, ohne daß er ald Dichter
jemald die PVerlegenheit gefühlt, das Abfurde vergöttern zu müſſen.
(A. v. Dettingen, Vorleſ. über Goethes Faujt I S. 55). — „Luther“, jagt
er an einer anderen Stelle, „war ein Benie jehr bedeutender Art, er wirft
nun ſchon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen
Sahrhunderten aufhören wird, produktiv zu jein, iſt nicht abzujehen“
(Edermann Il ©. 229). — Bor Allem betrachtet Goethe die Reformation
gerne als eigenthümliche That des deutjchen Geijtes, ald Durchbruch des
der germanijchen Art eigenen Freiheitstriebes:
„Sie lagen nur in halbem Schlaf,
Als Luther die Bibel verdeutiht jo brav;
Sanft Paulus, wie ein Ritter derb,
Erſchien den Rittern minder herb.
510 Notizen und Beiprehungen.
Freiheit erwacht in jeder Bruſt,
Wir protejtiren Alle mit Luſt.“
Bekannt ijt ed, mit welcher Liebe und Verehrung Goethe lebenslang
das greifbarite Segenerbe der Reformation, die Bibel, umfaßt hat. Sie
it die liebjte Nahrung feines kindlichen Geiſtes geweſen — er hat das
alte wie das neue Tejtament in den Grundſprachen gelejen, er hat fich bei
fortjchreitender Bildung auch der aufflärenden Bibelkritif nicht entzogen,
aber dieje Kritik hat ihm den göttlichen Kern nicht zerjeßt. ihm nicht, mie
den ungläubigen Ratholiten Voltaire, zum Spott herausgefordert. „Ic
für mein Theil“, jagt er in Wahrheit und Dichtung, „halte fie (die Bibel)
lieb und werth, denn jajt ihr allein war ich meine jittlihe Bildung
ſchuldig.“
Kühler und zurückhaltender freilich als zur Bibel ſtand Goethe zur
proteſtantiſchen Kirche als ſolcher — vor Allem fand er den proteſtantiſchen
Kultus arm und dürftig, und in Wahrheit und Dichtung räth er der pro:
tejtantifchen Kirche, nicht nur ihren Kultus zu bereichern und zu verjchönern,
jondern vor Allem das ganze Leben reichlicher mit kirchlichen Weiheakten
auszujtatten und die zwei Saframente nad dem Borbilde der katholiſchen
Kirche auf fieben zu erhöhen. Reformatoriſch aber joll die Kirche dabei
unter allen Umjtänden bleiben:
Dreihundert Jahre find vorbei,
Werden auch nicht wiederfommen.
Sie haben Böjes franf und frei —,
Auch Gutes mitgenommen.
Und doc von beidem ijt auch euch
Die Fülle genug geblieben.
Entzieht euch dem verjtorbnen Zeug.
Lebendiges laßt uns lieben.
„Und nun“, fragt Beyichlag, „wie fteht dieſer tiefblidende, vor:
urtheilsfreie Protejtant zum Katholizismus, den er in befchränftem Umfang
in jeiner Vaterjtadt, dann auf der italienifchen Reife in defjen Mutterland
und nicht am wenigjten durch Geſchichtsſtudien und Welterfahrung kennen
gelernt hat?“ Wenn Beyichlag hierauf (S. 150) antwortet: „Man meint
vielleiht, der phantafievolle, kunſt- und ſymbolfrohe Dichter habe
von der Schönheit und Poeſie des Fatholiichen Kultus geblendet
werden miüjjen, aber er überläßt das den geijtigen Schwächlingen
jeiner und unjerer Zeit“, jo möchte ich dieſe Antwort nicht ohne Ein:
ihränfung gelten laſſen. Daß Goethe von dem katholiſchen Kultus als
joldem eingenommen, ja bis zu einer gewijjen Weife geblendet war, er:
ſcheint mir fraglos. Beyſchlag jelber giebt das zu: „Wohl kennt er die
ergreifende Macht des altfirchlichen Kultus, wie das der Oftermorgen im
Rotizen und Beſprechungen. 511
Fauſt, und die Kirchenſzene mit dem dies irae bezeichnen, und jener Vor—
ſchlag, ſich evangeliſcherſeits die ſieben Sakramente anzueignen, zeigt ein
liebevolles Sichhineindenken in Fremdes“ (S. 151). — Aber ſollte das
nicht oft mehr ſein als „evangeliſirter Ideallatholizismus aus alter Zeit?“
Hat ſich Goethe nicht zum Mindeſten äſthetiſch als Künſtler für den
fatholiichen Kultus enthuftasmirt? Und wäre das ein Unrecht gewejen?
Kann man nicht ein guter, mehr noch ein jtrenger, ein ausgejprochen anti=
fatholiicher Protejtant fein und doch von der Macht und Schönheit —
natürlich nicht in fittliher Beziefung — des katholiſchen Kultus berührt
werden? Ic habe das in gewiſſer Beziehung am eigenen Leibe erfahren,
und zwar erjt in dieſem Sommer auf einer Reiſe nad) Italien. An einem
Eonntag war ed in Mailand. — Schon in dem Aeußeren des Domes mit
jeinen Skulpturen und Statuen, feiner herrlihen Faſſade, geſchmückt mit
üppigen Ornamenten in den zierlichjten Blumens und Fruchtgewinden, mit
feinem unermeßlichen, von fajt jechdtaujend jteinernen Heiligen und Engeln
bevölferten Wald von Thürmen, auf den man vom Hauptthurm herabblidt,
ſchon in‘ diefem Weußeren offenbarte ji) eine ganze Welt von Er—
habenheit und Poeſie und anziehendem geheimnigvollen Myſtizismus.
Und nun gar das Innere — nun gar die große Mefje, der ich dort bei-
wohnte. Nie ijt mir die auf die Sinne jpefulirende, alle leicht empfäng-
fihen Triebe des Menſchen willenlo8 in ihren Feſſeln jchlagende Macht
des fatholiichen Kultus jo zum Bewußtſein gefommen, als bei diefer Mejje
im Mailänder Dom — nie ijt meine Anficht, daß die Stärke des römischen
Katholizismus vielmehr in feinem die Sinne beraufchenden Kultus als in
feiner Obrenbeichte und feinem mujtergiltigen bierarchiichen Syitem beiteht,
treffender beftätigt worden, ald durch dieſen großartigen Gottesdienjt in
jenen bläulich ſchimmernden, weihrauchdufterfüllten Marmormafien, deren
riejige Verhältnifje das raffinirte Halbdunkel zur Unendlichkeit geitalten.
Dazu die unbejchreibliche Pracht, die man in dieſem Kultus entwidelt,
diefe imponirende Prozejjion, die fich, von bald bußzerfnirjcht bebenden,
bald jiegesjauchzend zum Himmel ftürmenden Gejängen begleitet, feierlich
und dem Gedächtnifje unentreißbar durch die gewaltige Kirche bewegte.
Ein unermeßlicher Zug! In feiner Mitte unter herrlihem Baldadin von
purpurrother, von den Stalienern jo geliebten Farbe, der höchjte geijtliche
Wiürdenträger in blendendem Gemwande, fein Baldahin getragen von den
reichten Mailänder Bürgern, die Diefe Ehre um hohe Summen
für die Kirche erfaufen. Und nun, wo die Prozeſſion beendet
iſt und die Mefje beginnt, durchzittert ein Geſang die gewaltigen Hallen,
wie ich nie einen Slirchendyor habe fingen hören. Die weichen Klänge der
unvergleichlihen Orgel jchmiegen ſich dieſem Gejange an, als wollten jie
ihn auf Engelsfittigen zum Himmel tragen — dann athemloje Stille! Ich
jehe die Menge auf den Knien liegen — id) denke an die liturgijche Aus—
gejtaltung in fo vielen unjerer evangelifchen Kirchen — ein unbejchreibliches
512 Rotizen und Beiprehungen
Gefühl überfommt mid. Man muß jold) einem Gottesdienft im Mailänder
Dom beimohnen, um zu wifjen, was die Menjchen jo gewaltig zur Fatho-
liſchen Kirche zieht. —
Eins aber vermag auch der großartigfte Kultus nicht : den denfenden
Menſchen hinwegzutäuſchen über die Leere und Lächerlichleit deſſen, was er
in gleißend übertünchten Gemwande verhült — ja, je pomphafter und be=
raujchender diefe Zeremonien find, um jo mehr fommt Einem in dem erjten
nüchternen Augenblid zum Bewußtjein, daß fie nicht3 Anderes find, als die
verjchwenderisch und raffinirt gejchmüdten Gräber, die unter jich nichts
bergen, als den leeren, falten, verwejenden Tod. —
Und treffend weift nun Beyichlag nad) — und hierin befinde ich mic
mit ihm ganz in Uebereinjtimmung —, daß Goethe, mag ihn der katholiſche
Kultus auch hier und da geblendet haben, doc) nie von ihm verblendet ijt.
„Heute ward ich aufgeregt“, jchreibt Goethe, kurz bevor er Rom betritt,
„etwas auszubilden, was garnicht an der Zeit it. Dem Mittelpunft des
Katholizismus mic nähernd, von Katholifen umgeben, mit einem Priejter in
eine Sedia eingejpannt, indem ich mit ernitem Sinne die wahrhafte Natur
und die edle Kunſt aufzufaſſen trachtete, trat mir jo lebhaft vor die Seele,
daß vom uriprünglichen Chriſtenthum jede Spur verlojchen iſt. Wenn ich
es mir in feiner Reinheit vergegenwärtige, jo wie wir e3 in der Apoitel-
geihichte jehen, jo mußte mir fchaudern, was nun auf jenen gemüthlichen
Anfängen für ein unförmliches, je barodes Heidenthum lajtet.“ Und jelbit
jene großen Beremonien, die ihn äjthetiich oft in Banden jchlngen, ver-
mögen dieſes Urtheil nicht zu inildern. „ES war auf Allerjeelen in der
päpstlichen Hausfapelle auf dem Quirinal,” erzählt Goethe, „die Funktion war
Ihon angegangen, Papſt und Kardinäle ſchon in der Kirche. Der h. Vater
die Schönste würdigſte Männergejtalt. Mic ergriff ein wunderbares Ber:
langen, das Oberhaupt der Kirche möge den goldenen Mund aufthun und
von dem unausiprechlihen Heil der feligen Seelen mit Entzüden jprechend
uns in Entzüden jegen. Da ich ihn aber vor dem Altar nur fi) hin und
her bewegen ſah, bald nad) diejer, bald nach jener Seite fich wendend, ſich
wie eine gemeiner Pfaffe geberdend und murmelnd, da regte jich die prote—
Itantiiche Erbfünde und mir wollte das befannte Meßopfer hier keineswegs
gefallen. Hat doch Chriſtus jchon als Knabe durch mündliche Auslegung
der heiligen Schrift und in jeinem Jünglingsleben gewiß nicht jchweigend
gelehrt und gewirkt. Was würde er jagen, dachte ich, wenn er hereinträte
und fein Ebenbild auf Erden jummend und hin und wieder wanfend anträfe.
Das „Venio iterum erueifigi* fiel mir ein." — Mag aljo Goethe aud
etwas größere Sympathie für den Kultus der Tatholifchen Kirche in äſthe—
tiiher Beziehung gehabt haben, als Beyſchlag ed wahr haben will — mag
er vereinzelten Elementen in der fatholiichen Kirche jogar den Vorzug vor
denen der evangelischen Kirche gegeben haben (ct. die Saframentzlehre), in
der Hauptiache behaupten die geijtreichen Ausführungen Beyſchlags ihr Reit:
Notizen und Beiprehungen. 513
Alle dieje Aeußerungen ändern nicht das Geringite an der Schärfe des
Goetheſchen Urtheil3 über den Katholizismus als ſolchen. Ueberall erblidt
er in ihm ein Syſtem, das mit Natur, Vernunft und Wahrheit in jchneiden-
dem Widerfpruch fteht. Der Mönch und der Priejter find ihm tyyviſch
abjtoßende Gejtalten. Seinem ernjten Wahrheitsfinn und Wahrheitsglauben
widerjtrebt auf das Aeußerſte „ein Obſkurantismus, der auf der einen
Seite die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nüplichen hindert, auf der
andern da3 Faliche in Kurs bringt.“
Und gerade auf der italienischen Reife, wo Goethe den Katholizismus
im Großen mit Augen zu fchauen befommt, erreicht jein fittlidher Pro—
teftantenzorn einem hohlen Papſtthum und leeren pomphaiten Zeremonien
gegenüber feine Höhe. Viele noch wenig befannte Beugnifje Goethes
wider den Katholizismus und für den Protejtantismus führt Beyfchlag
©. 152-159 an. „Wir wiſſen garnicht“, jagt er zu Gdermann, „was
wir Quthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu verdanten
haben. Wir find frei geworden von den Feſſeln geiftiger Bornirtheit, wir
find in Folge unjerer fortwachjenden Kultur fähig geworden, zur Duelle
zurüczufehren und das Chriſtenthum in feirer Reinheit zu fafjen.... Se
tüchtiger aber wir Protejtanten in edler Entwidelung voranfchreiten, um
fo jchneller werden die Katholiken folgen.“ (Edermann Ill ©. 371—73.)
Sch habe bei diefem Vortrage länger vermweilt, weil er gerade für
unjere Tage von bejonderem Interejje iſt. Die anderen Vorträge jtehen
ihm nicht nad). Sehr geiſtreich iſt die bereit3 länger bekannte Ausführung
über „Leifings Nathan den Weifen und das pojitive Chriſtenthum“, wenns
gleich hier die Dichtung nicht immer aus der Tichtung heraus erklärt iſt.
Beyichlagd Gedanke über das jungdeutiche naturalijtiiche Drama werden
auch den anregen, der ihnen nıcht rüdhaltlos zujtimmt.
Das Bud) ift Allen warm zu empfehlen, die im Gewoge des Tages
und im Einerlei des Berufsleben: nad) edler und veredelnder Lektüre
fuchen, die eingeführt werden wollen in die Bahnen chrijtlicyer Bildung
und kirchlicher Zeitbewegung; möchte der Wunſch des Berfaljerd in Er—
füllung gehen, daß dieſes Buch ein wenig dazu beitrage, „den tiejen
Frieden, welcher zwiſchen dem echten Chrijtenglauben und echter Bildung
beiteht und den nothwendigen Krieg, den wir zur Behauptung unjeres
deutjchsevangelifchen Geifteserbes zu führen haben, ind Licht zu ſtellen“.
Arthur Braujemwetter.
Goethe-Literatur.
Goethe-Fahrbud. Herausgegeben von Ludwig Geiger. Bwanzigiter
Band. Mit dem vierzehnten Zahresbericht der Goethe-Geſellſchaft. Frank—
furt a. M., Lit. Anſtalt Rütten & Löning. 1899. 319 ©. groß
Dktad, ©. 320—331 Perſonen-Regiſter zu Bd. XX. ©. 332—337
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 38
514 Nothzen und Beſprechungen.
Regiſter über Goethes Werke und Leben. Darauf folgt mit beſonderer
Paginirung Erich Schmidts am 27. Mai d. J. bei Gelegenheit der
14. Generalverfammlung der Goethe-Gejellichaft in Weimar gehaltener
Feitvortrag: „Goethe Prometheus“, 20 S. Sodann der Jahresbericht
12 ©. und dad Mitgliederverzeichniß, S. 15—63.
(Dem Vorwort voran war die betrübende Mittheilung von dem am
2. Mai zu Berlin erfolgten Ableben des erjten Präjidenten der Goethe:
Gejellichaft, de3 wirft. Geh. Rathes Dr. Eduard von Simjon zu
geben, wie 1897 von dem der edlen Erbauerin des Goethe: und Schiller:
Archivs, der Großherzogin Sophie (geb. 8. 4. 1824, get. 23. 3. 1897).
Goethes Leipziger Studentenjahre Ein Bilderbudy zu Dichtung
und Wahrheit als Feitgabe zum 150. Geburtötage des Dichter von
Dr. Julius Bogel, Kuſtos am Städtiichen Mufeum der bildenden
Künjte zu Leipzig. Leipzig, Karl Meyerd Graphiiches Injtitut, 1899.
87 ©. Doppelquart, elegant gebunden 4 Marf.
Goethe. Bon Richard M. Meyer. BPreisgefrönte Arbeit. Zweite
Auflage. (Als Band 13—15 der Anton Bettelheimjchen „Geifteshelden“.
Berlin, Ernjt Hofmann & Co. Preis 7 Mi. 20 Pf. 712 ©. Text,
©. 7183—722 Ueberſicht der Goethe-Literatur, S. 723—747 Berjonen:
und Sachverzeichniß.
Wenn dad Freie Deutſche Hoditift in Frankfurt und die Goethe:
Gejellihaft, die nah Simjong Tode den Geh. Hofrat Dr. E. Ruland,
den Verwalter des Goethe-Haujes in Weimar, des jogenannten Nationals
Mufeums, zu deſſen Nachfolger als ihren Präfidenten gewählt bat, eine
bibliographiiche Ueberjicht der jämmtlichen literariihen Darbringungen in
Form von Büchern, Sournalartikeln, BZeitungsberichten und Feuilletons
oder als Erzeugnijje der graphiichen und plaftischen Künjte geben wollte,
die aus Anlaß der gemeinschaftlich in Frankfurt begangenen Feſte diejes
Jahres in Deutjchland und in der ganzen gejitteten Welt zu Tage ge
fommen find, jo würde jie allein wie der Katalog einer ftattlihen Bıblio-
thel wirlen müfjen und beredjam die für unjer Volk hocherfreuliche That:
jache predigen, daß die Liebe und Verehrung und dad Verſtändniß ſeines
Lebenswerkes in den legten fünjzig Jahren in ganz außerordentlihem
Make zugenommen haben, daß und und aller Welt die Größe dieſes
Einzigen unermeßlich jichtbarer geworden ijt. Die Mitgliederzahl der
Goethe-Gejellichaft ijt natürlich nicht ald einziger Gradmeſſer für jenes
gewaltige Wachſen zu betrachten, denn fie betrug am 31. 12. 1898 nur
2606 und der beflagenswerthe Abgang ift nicht eingeholt worden. Wären
wir Engländer oder Amerikaner, jo würde es ſich für jeden einigermaßen
wohl fituirten gebildeten Menjchen als nationale Ehrenjache von jelber
verjtehen, einem jo Große und in jedem Sinne Bedeutende darbietenden
Vereine, der auf viele Jahre hinaus noch aus den Schäßen des Goethe—
Rotizen und Beſprechungen. 515
Archivs jchöpfen darf, anzugehören, und damit auch den Neichthum der
ihm für den geringen Sahresbeitrag von 10 Mark zugehenden Publi—
Fationen, des Jahrbuch und je eines jtattlihen Bandes der Schriften der
Goethe:-Gejellichaft (wir erwarten eben den 2. Band der immer interefjanter
und wichtiger werdenden Briefe der Romantifer an Goethe und defjen
köſtlicher Antworten), wejentlich zu erhöhen. Wir find ja wohl im Allge—
meinen ärmer, als unjere englijchen freunde, Die recht eigentlich die ganze
Erde ald ihre „Speiſe“ betrachten, und fich al die von ihrem Brahma
ernannten „Efjer“, aber follte man nicht denken, die Mitgliederzahl müſſe
ſich leiht auf das Doppelte oder Dreifache erheben, wenn 3. B. nur
allgemein gewußt würde, daß das diesjährige Goethe-Jahrbuch (Bd. XX)
auf ©. 37-75 die Weijeberihte Goethes von 1813 aud Naumburg,
Dresden, Tepliß an jeine Hausehre, Chrijtiane, mit eingehendem
Kommentar (S. 75—94) bietet? Hätten wir auch gewünjcht, daß Bern-
bard Suphan in feiner geiltvollen Weije diefe Anmerkungen ganz ges
jchrieben hätte, ftatt fie dem Herausgeber zu überlafjen, jo fann man
doch für dieſe köſtlichen Beugnifje, für Die Reinheit jenes jo vielfach
beihmußten Verhältniſſes, das Goethe vom erjten Tage an als eine
jefte, unverbrüchlide Che angejehen Hatte, nur von Herzen dankbar
fein. Wie rührend ift doch die verjchämte Mittheilung an jeine „liebe
Kleine“*) auf S. 71: „Den 12. Juli habe ich bei einem großen
Saftmahl im Stillen gejegnet.“ Wa iſts denn mit dieſem
12. Zuli? Nun ed war der Tag der jilbernen Hodzeit. Man hat in
diejen legten Felttagen in Weimar auch nad) dem vernachläjjigten Grabe
Chriſtianens gefragt, dad ein Berliner Feuilleton in der Fürſtengruft
gejehen haben will, da es auf dem alten Kirchhofe iſt, der jegige noch gar
nicht eriftirte. Wäre es nicht eine Ehrenpflicht Weimars, dejjen Läjter-
mäuler die gute Frau bis heute verfolgen, in goldenen Buchitaben die
Worte Goethes nachträglich dort zu befejtigen, die er nad) ihrem Tode
ſchrieb:
Gatte der Gattin.
6. Juni 1816.
Du verſuchſt, o Sonne, vergebens
Durch die düftren Wolfen zu jcheinen!
Der ganze Gewinn meines Lebens
Sit, ihren Verlujt zu beweinen.
Der Lejer müßte ſich dann doc wohl jelber jagen, eine Frau, Die
Goethen jo lieb war, ihm fo hoc) jtand, muß doch wohl ſittliche Quali—
*) Wenn er fie anredet (S. 73 Nr. 21) „mein allerliebftes Kind“, jo diktirt
er das nicht, wie er ſonſt in diefen Jahren pflegte. John war ihm eben
erkrankt nnd er hatte ihn nad Karlsbad geihidt, aud ein rührender
Zug des Alten, da er ihn ja recht gern los fein wollte.
88*
516 Notizen und Beiprehungen.
täten anderer Art gehabt haben, als ihr Caroline Herder e tutte quante
anzudichten bemüht waren. *)
Eine höchſt willlommene Erweiterung unferer Stenntniß der Be—
ziehungen Goethes zu Byron, deren wir gelegentlid der Heineren
Schriften Mich. Bernays zu gedenken hatten, giebt hier gleich der erite
feinfinnige Aufjag A. Brandls (S. 8—37).
Es fann aber nicht meine Abſicht fein, den ſehr reichen Inhalt des
Buches hier im Einzelnen vorzuführen, da wohl anzunehmen jteht, daß der
größere Theil unjerer Leſer längit der Goethe-Geſellſchaft angehört und folg-
lich genau weiß, daß die ftattlihe Reihe ihrer Jahrbücher und „Schriften“
ein unentbehrliche® Material der Goethe-Wiſſenſchaft und wie man fait
auch jagen fünnte, der Goethe-Religion bedeutet.
Der Heraudgeber, Ludwig Geiger, fand fi, ich glaube mit Recht,
beengt durch den vielen Raum, den allemal die Bibliographie im Jahrbuch
in Anspruch nahm, als er fie jedoch fortlafjen wollte, erhob fich lebhafte
Nachfrage grade nad) ihr. Gewiß hätte manche wiſſenſchaftliche Erörterung
an anderen Orten gedrudt werden fünnen oder als jelbjtändige Schrift
auf den Markt gelangen, aber der Charakter des Jahrbuch als eines
Nepertorium der gefammten Goethe-Wiſſenſchaft hätte darunter gelitten
und nicht das allein, das nöthige Material wäre dem Forſcher mwejentlich
vertheuert worden. Ließe fich nicht etwa jo der Noth fteuern, daß man
fich entjchlöfje, ein etwa halbmonatlic) zu Lieferndes Korreſpondenzblatt des
Goethe-Vereins herauszugeben, das zunächſt die Bedürfnifje der an der
Forſchung interejfirten Kreife ins Auge fahte, vor Allem aljo Fragen
jtellen dürfte und die Antworten jammelte? Hier ließe jih u. U. ein er:
heblicher Theil dejjen bemeijtern, wa3 der von Herm. Grimm ausge
mworfene Gedanke eines Goethe-Wörterbuches eigentlich Wollte. Hier wäre
auch der Ort, immer frijch die fort und fort nachſprudelnde Bibliographie
vorzulegen, auf die man nicht mehr ein volles Jahr zu warten braudte.
Und wie vielfältige Anregungen nad) den verjchiedenjten Richtungen bin,
Berichtigungen irriger Annahmen — nur ohne gehäſſige Polemit — und
vielleicht auch Perjonalien, die den Forjcher interefjiren können, fänden bier
ihren Platz. Much eine durchgängige, rein chronologijche Rubrik „Goethe—
Regeſten“ wäre durchaus erwünscht, da hier Arbeitstheilung unentbehrlich
it. An Kräften zur Ausführung eined ſolchen Unternehmens fehlt es
nicht, ich rege den Gedanken hier nur vorläufig an, vielleicht findet er
Anklang. —
*) Gin an fi wenig Haffiicher, aber in dieſem Punkte offenbar ehrlichſt
überzeugter und aufrichtiger Zeuge tft der junge Zacharias Berner,
der am '5 4. 1808 an Goethen Schreibt (Romantikerbriefe IL, 5): „Ihrer
trefflihen Gattin küſſe ih die Hände mit tiefer Rührung; was fie ıf,
babe ich erjt in der legten Abjchicds-Minute erfahren: fie verdient es,
die Martha meines Meisters und Herren zu ſeyn.“ Noch einmal (22. 11.
1808) preijt er fie als feine „Für- und Seeljorgerin“.
Rotizen und Beiprehungen. 517
Aus dem jonjtigen Inhalte des Jahrbuchs ſei hier nur noch erwähnt
„Ein Nachſpiel zum Briefwechſel mit Schiller“ von C. Schüddekopf
(S. 94-105). Es bezieht fi) auf die Empfindlichkeit, mit der der
Minijter E. Fr. v. Beyme 1830 in Goethes AZueignungsichrift dieſes
Briefwechjel3 an König Ludwig don Bayern einen Vorwurf „für die
Fürften Deutjchlands* finden wollte, den er wenigitend von dem König
von Preußen abzumenden verpflichtet je. Goethe jah ſich nicht beivogen,
in der Angelegenheit dad Wort zu nehmen. „Was jollte aus den jchönen
mir noch gegönnten Lebenstagen werden, jchrieb er für Niethammer an
den Kanzler von Müller (21. 5. 1830), wenn id) Notiz nehmen wollte
von Allem, was in dem lieben VBaterlande gegen mich und meine Nädjiten
geſchieht!“ — Endlich, weil ed weit gehört zu werden verdient, ein Wort
des tüchtigen Charles Francois Dominique de Villers an Goethe
übel 10. 8. 1803, aus dem Archiv dur Jul. Wahle mitgetheilt).
Puisse le noble esprit de la sagesse et de la poesie germanique
vaincre le pernicieux demon de l’immoralite et de la superficialite
francaise! —
Dad ald Nummer 2 genannte Leipziger Bilderbuch wird Vielen
Freude gemacht haben. Goethe jelber zwar pflegte fih im Alter vor
diefer Leipziger Periode einigermaßen zu entjegen und zu befreuzen*), das
darf und freilich nicht hindern, auch fie, wie ja der Dichter jelber in
Dichtung und Wahrheit maßvoll gethan, ald Faktor ſeines Werdeganges ın
Rechnung zu ftellen, denn was hilft der nachträglihe Seufzer: Hätt' id)
jtatt dejjen in einer wirklich bedeutenden Landſchaft und geijtiger Atmojphäre
gelebt?! Dabei fann ganz wohl bejtehen, wad Meyer ©. 51 betont, daß
1768 der junge Goethe ebenſo jehnjüchtig nad) Yeipzig und zwar nad)
dem Dejerjchen Kreije zurücblidte, wie 1788 nad der Rückkehr aus
Stalien nad) den Römischen Freunden.
Immerhin ijt das Buch interejjant genug, da e3 uns in hübjchen Zeit—
bildern das damalige Klein-Parid und z. Th. auch Dresden und alle dies
jenigen Perjonen vorführt, deren Goethe dankbar oder etwa auch reu—
müthig gedachte. Vor Allen ijt in den etwa fiebzig zur Hälfte bisher
gänzlich; unbelannt gebliebenen Abbildungen Käthchen Schönkopf und ihr
Haus und ihre Familie, dann aber bejonderd der Maler Adam Friedrich
Defer und feine finder berüdjichtigt. S. 62 ijt richtig erkannt, daß wir
es mit dem jungen oh. Friedr. Ludwig Defer und nicht etwa mit einem
Goethebildniß zu thun haben. Auch die Breitfopf jind gebührend ver:
treten, von Profefjoren wohl alle von Goethe genannten. Zu dem
Snterefjantejten gehören die beiden NRadirungen des jungen Goethe, an
denen doc wohl Meijter Dejer das Beite wird gethan haben. Bei diejem
Anlaß machen wir die Freunde Goethiſcher Kunftübung gern aufmerkjam
*) Man ſehe u. A. den Brief Gis an feinen Sohn Auguft nad) Heidelberg
vom 3. 6. 1808, bei Meyer zitirt S. 472.
518 Rottizen und Beſprechungen
auf K. Kötichaus Auffap „Neue über Goethe als Radirer“ im der
Beitichrift für bildende Kunft, Mai 1899 (X, 8). Schon im Februar 1893
hatte dieſe Beitichrift (mit Tert von G. Wuftmann) jene beiden
NRadirungen in ehr viel fchöneren Druden gegeben, als fie bei Vogel
erſcheinen. —
Ueber R. M. Meyers „Goethe“ wollen wir und möglichjt kurz
fafjen. Der Vermerf auf dem Titel „Preidgefrönte Arbeit“ kann für die
Deurtheilung nicht in Betracht fommen, er jcheint aber manche Kritiker ver-
drofjen zu haben; wenigſtens las ich in einer Berliner Zeitung (7. Sept.)
unter Anderm, das Werk fei zu ſehr Blender, die anſpruchsvolle Perſon
des Verfafjerd jtöre. Ich kann das nicht unterfchreiben, da ich auch nicht
weiß, ob in der That Heinemanns Goethe-Bivgraphie jo vortheilhait
davon abjteche.
Eine gerechte und billige Beurtheilung hat ſich doch von vornherein
bewußt zu bleiben, daß die unüberjehbare Weite und Fülle eines fo reichen
Lebend unmöglid von einem Menden, und wäre er ein Rieſe an
Arbeitskraft und Einficht, gleichmäßig und in vorgefchriebener Allgemein:
veritändlichkeit oder populär dargejtellt werden Fann. Auch daß Die An:
fihten über manches Goethifche Werk, über mandyes Thun und bejonders
auch Unterlafjen des einzigen Mannes, über taufende feiner offenherzigen
Urtheile, weit auseinander gehen, ijt nicht zu verwundern. War ich dod
jelber nah Durchleſung des IX. Kapitels „Goethes Lyrik“ (S. 146
bis 162) mit einem Iyrifchen Proteft bei der Hand, den ich getroit
berjegen darf, da die paar fchlechten Neime die kritiſche Proja kaum
unterbrechen.
Dankbar ehret, preijet Goethen,
Aber preijet ihn bejcheiden.
Soll der Selige noch erröthen?
Dürft ihr uns das Dichten leiden ?
Einer fann nit Alles flöten:
Friſcher Sang bei Chrijt und Heiden
Bleibt troß feinen Einzigfeiten
Heut und ewig hoch von Nöthen.
Sc bemerfe aber vorweg, daß ich das ganze Buch mit lebhaften An-
theil und Genuß gelejen habe und es im Ganzen für wohl gelungen und
auf jehr umfangreichen und gründlichen Studien aufgebaut anerkennen
muß. Wenn Goethed Leben ſelbſt „dad größte jeiner Kunftwerfe*
genannt wird, fo ift das ja eine Phrafe, die man nicht zu jehr drüden
fol. Sein Leben gejtaltet fi) Keiner allein und nemo sibi vivit, nemo
sibi moritur jagt der Mpojtel. Die Beurtheilung des Water, „der nie
recht jung gewefen zu fein fcheint“, mag ungerecht klingen und id darf
dawider noch einmal das treffliche Büchlein der Frau Telicie Emwart
Rotizen und Beſprechungen 519
geltend maden. Das hat der alte Herr, der ganz allein das Werk einer
jeltenen Jugendbildung an jeinem früh reifen Knaben vollendete bis zur
Reife zur Univerfität, doc nicht verdient, daß man von ihm jage, er
„gehöre zu jenen Männern, denen Niemand dad Necht bejtreitet, von un—
getbaner Arbeit fich würdevoll auszuruhen“.
Der Verfafjer giebt jich durchaus nicht al3 unbedingten Bewunderer
des Dichters. Wer dürfte das auch verlangen? Goethe hat allerdings
— im Alter — „Süße gebaut, deren Steifheit nur der Fanatiker leugnen
fann“. Es ijt ihm auch wohl eine Strophe mit durchgelaufen, deren ein=
jahe Wortlonftruftion faum zu errathen it. Die „Mitjchuldigen“ zu be:
wundern, weil fie von Goethe find, darf Niemand und anjinnen, aber
e3 iſt fein eigentlich äjthetijches Urtheil, wenn man fie „ein wahrhaft un—
ſittliches Stüd“ nennt.
Die frühejte Goethiſche Lyrik, die der Leipziger Zeit, 1768—69
wird als „janjt zweifelnde Melancholie“ gewerthet. Man möchte Hinzu
jegen: doch mehr im Stile der Zeit, denn aus eigener Seelenerfahrung
gequollen, was für den faum Neunzehnjährigen fein Vorwurf jein kann.
Der Abſchnitt „Straßburg“ hält jich auf dem Niveau üblicher Auf-
jafjung, an der Goethe freilich die Schuld jelber trägt. Herder ſoll es
gewejen jein, von dem Goethe das Gefühl der Ehrfurcht vor menschlicher
und künſtleriſcher Größe erit gelernt habe. Friedrih Nietzſche einen
Herdern vielfach verwandten Prediger unjerer Tage zu nennen, ijt etwas
gewagt.“) Straßburg bradte und den Göß ein, darnach Wetzlar den
Werther, während die Gährungsfeime zum Fauſt ji wohl auf Leipzig,
Frankfurt und Straßburg vertheilen.
Den Götz kann man ja unter die Rubrik der „Unklagedramen* allen-
fall3 einreihen, aber damit ift nicht viel gejagt, mit den Ibſenſchen
Stüden — der Berf. nennt die „Stüßen der Gejellichaft“ gleichjam als
Paradigma (a posteriori) — hat dieſes BZeitgemälde doc) wenig gemein,
eher Schillers aufregendes Stück „Luije Millerin“, wie denn Lefjings
„Emilia Galotti* auf Goethen feine nachweisbare Verführung ausgeübt
hat. Wir haben feinen Dichter gehabt, der jo früh über alle Tendenz-
poefie hinaus war und, müfjen wir binzujegen, der jo jümmerlich als
Dichter jcheiterte, ald er denn doch einmal fi) auf dieſes eigentlich
publiziftiiche Gebiet begab.
Baterlandsliebe, wenn damit der heute gepriejene Baradepatriotismus
gemeint it, hat Goethe ſicherlich gering geihäßt. Der Verf. findet das
nur zu begreiflih. Wer hätte aber den Muth, möchten wir hinzufügen.
heute den Mann darum zu jchelten, der nach der Anficht Viktor Hehns
den vollen Gehalt alles deſſen erjt jeit begründet hat, was wir zu lieben
*) Bol. noch S. 547, wo neben Rochefoucauld und Lichtenberg, Ar.
Nietziche als der eigentliche Klafliter des Aphorismus gepriefen wird.
520 Notizen und Beiprehungen.
und vielleicht noch lange mit aller Kraft zu vertheiden haben, der aljo
der Bismarckſchen Schöpfung ihren Werth im Voraus geliehen hatte?
Mit dem Götz von Berlichingen trat Goethe jogleid an die Spitze
der neuen Bewegung. Diejer Erfolg jtempelte ihn für immer zum
Dichter, und drängte die doch nie gänzlich; aufgegebenen Belleitäten
zurüc, fi) der bildenden Kunſt zu widmen. Hat Goethe jelbit gejtanden,
dag die Wirkung Straßburgd (und vielleiht noch mehr der Einfluß
Herders) eine Abkehr von franzöſiſcher Kunſt und entichiedene Belehrung
zu der heimifchen für ihn bedeute, jo läßt ſich ja hieraus zwar ganz
wohl der Widerwille Friedrich3 des Großen gegen ſolche Irokeſen-Poeſie
begreifen, aber allzu ernit braucht man jein dilettantijche8 Urtheil nicht zu
nehmen. Mit dem Werther gründete der junge Titane feine europäiſche
Berühmtheit.
„Goethe,“ jagt der Verfafjer, „war einmal Werther, aber er war es
nicht mehr, als er den Roman ſchrieb.“ „Das Herzendleben der modernen
Menſchen war der Poejie gewonnen.“ Alles Romanhafte — gemeint it
Alles, was man bisher dafür anſah — war zuerjt hier entfernt.
Bon dem fogenannten „Spinozismus* Goethes macht aud Ric. M.
Meyer, fcheint mir, zu viel Aufhebend. Schon die unjerm Dichter immer
widerwärtige mathematifch fonitruirende Methode feiner Daritellung wird -
ihn abgejchredt haben, und erweislich ijt wohl nicht viel mehr, als daß der
Artikel Spinoza in Bayles Dictionnaire historique et critique, allerdings
eine infame pfäffiiche Anklageichrift, den Straßburger Studenten mit tiefer
Indignation und damit auch mit Reſpekt vor dem jo Behandelten erfüllt
hat. Später hat ihm dann Freund Frib Jacobi allerlei krauſes Zeug
vorgegaulelt. Wir wiſſen ja, daß noch jpäter Herder, indem er zwei
Fliegen mit einer Klappe jchlug, der Charlotte von Stein zum Geburts
tage und ihrem Freunde und unferm 1784 einen Spinoza gejchenkt bat,
daß Goethe ihn auch gelegentlich „unjern Heiligen* genannt bat, allein
an wirkliches Studium und nun gar in jchönen Abendftunden mit der
Freundin gemeinfam, glaube wer mag. Goethen wird genügt haben.
was Herder ibm davon vorzupredigen mußte, aber fein Pantheismus war
doch etwas Anderes, als die Abjtraktionen Spinozas, er war auf das Geift-
jehen in der Natur, voraus der organiſchen, gerichtet. Es gehört aber zum
guten Ton, von Goethes Spinozismus zu orafeln.
Mit Meyer (S. 144 fgd.) meinen wir, daß freilid Merd mit dem
befannten Urtheil über den Clavigo im Rechte war. „Gewiß, heißt es.
wir hätten an Goethe (der bedauert hat, daß er nicht damals ein Dutzend
Stüde der Art geichrieben) einen deutichen Zope de Vega gewonnen
(wenigſtens einen etwas geijtvolleren Kotzebue) ... . Wir hätten vielleicht
zwanzig Clavigos; aber wären fie den einen Taſſo werth?“ Das ijt jebr
richtig, aber die Goethefreunde erinnern fich der kurioſen Bewerthung der
Goethiſchen Dramen, die Paul Heyſe in Weimar zum Bejten gab. Wer
Rotizen und Beſprechungen. 521
ſchüttelte damals nicht den Kopf, einen Mann, der jelber tief in das
poetijche Metier eingeweiht ijt, jo oberflächlich die Partei der Clavigos
nehmen zu jehen? So verwüſtet die moderne Theaterfererei das literarische
Urtheil. Als 0b auf die Gefchäftdunternehmungen der Sudermann, Lindau,
L'Arronge, Blumenthal und Kadelburg etwas anfäme! —
Wir ſprachen ſchon davon, das wichtige Kapitel von Goethes Lyrik
möchten wir nicht durchaus unterjchreiben. Alles wurzelt hier, und ohne
Zweifel it Goethe hier der typische Dichter. Man muß jedoch nicht
Alles an ihm meſſen wollen, Goethe darf feine Schranfe werden. Es
giebt feine abjolute Lyrik, jede Zeit, die nicht ganz gottverlaffen wäre, hat
die ihr angemefjenen Formen oder Töne der Lyrik zu finden und, um an
Meyer anzufnüpfen, Storms Gediht „Mondlicht“, das gar nicht den
Anspruch erhebt mit Goethes berühmtejten „An den Mond“ zu wett—
eifern, iſt nicht deshalb ſchon als „erfältend“ zu jchelten, weil es in die
rührende Bitte an die Geliebte ausklingt:
Wie bin ich joldhen Friedens
Seit lange nicht gewohnt!
Sei du in meinem Leben
Der liebevolle Mond!
Uber fein ift die Bemerkung, Goethe ſei, wie die Alten, Meijter in
der lyriſchen Darjtellung der Erijtenz, nicht des Effelts. Goethes
Lyrik eben Alles und Jedes als unerreihbare Einzigfeit anzurechnen, lehnen
wir aljo entſchieden ab, wie er jelber in feiner genialen Bejcheidenheit that.
Nein! jo armfelig ift die nachgoethiche Dichtung und aud) die allerjüngjte
denn doch nicht, daß fie einfach einpaden müßte.
In dem Kapitel „Stella* (X) iſt von Stella eigentlich nicht die Rede,
dafür von der Schweizerreife und der Einladung nad) Weimar. Wir
fommen aljo zu dem fchikjalvolliten Abjchnitte dieſes Lebensbildes. Im
Ganzen folgt man der Darjtellung mit Genuß. Bezeichnend für unjern
Goetheforſcher und viele feiner Genofjen ijt dabei, daß ihnen troß aller
Berehrung Goethes doc eigentlih Leſſing der unerreichte Lehrer ift.
Der Gedankfengang der „Seheimnifje*, den wir doc recht undeutlich in
dem Fragment nur ahnen, ſoll beherricht fein von den Ideen, die Leſſings
Erziehung des Menjchengejchlecht3 gelehrt hat. Man kann da8 auf ſich
beruhen lafjen, zumal der damalige Einfluß Herderd in jedem Sinne
näher liegt. Mit den Folgen der italienischen Reife ift der Biograph nicht
jo durchaus einverjtanden und wer wäre es heute nod) außer einigen ganz
verjtodten Klaſſiziſten? ©. 234: „Wenn der Autor des „Götz“ den
Dichter der „Hermannſchlacht“ mit graufamer Strenge zurückwies und
fange aud) gegen den der „Räuber“ sich in Abwehr hielt — wenn der
einjtige Ruhmredner Erwins für das fühne Streben eined Cornelius
weniger al3 für manirirte Bilderchen aus Hajfjischen Bezirken Anerkennung
22 Notizen und Beſprechungen.
bat, jo gehört auch dies zu dem Folgen...“ Gewiß. und wenn aud
mit einer gewiljen Berechtigung gejagt werden konnte, ed gebe nur drei
große Erlebniffe für Goethe: Straßburg, die Berufung nad Weimar
und die italienische Reife, fo läßt fich doch, falld man nicht darauf einge:
ſchworen ift, auf Weimar abjolut nichts fommen zu lafjen, bei aller Be-
wunderung deijen, was er Weimar gegeben, gar wohl auch einmal fragen,
was es ihm aber auch als Menſchen und Dichter gekoſtet hat.
Einverftanden find wir mit dem, was über „Egmont“ und „Iphigenie*
ausgeführt wird. Es ijt nicht eben neu. Weniger jedoch, wenn von
.Nauſikaa“ gejagt ift, „ihr Verhängniß hätte fein jollen, daß jie ſich un—
widerruflih in den Augen der Ihrigen fompromittirt, wie Goethe ſich
ausdrückt.“ Das verjtehen wir jo faum, und follte es jo gemeint fein
wie Meyer will, jo hätten wir wohl nicht einmal Grund zu bedauern,
dat aus dem Ding nichts wurde. Iphigenie ift Manchem, und war dem
alten Goethe jelber zu modern, das wäre dann wohl zu antik geworden.
Sch glaube nicht, daß Goethe, als er in Sizilien das herrliche tragische
Idyll als dramatiihen Vorwurf ind Auge fahte, jolde Spipfindigkeiten
im Sinne gehabt haben kann.
Im Taſſſo ftedt, wie in fait allen Goethiſchen Dichtungen, natür-
fi; auch viel perſönlich Erlebtes, aber jo eigentlih als „große Beichte*
und al3 jolhe dem Werther und Fauſt parallel zu jtellen iſt er dod
faum. Was hätte denn Goethe jo groß zu beichten gehabt? Daß er
fih an die Stein verjchwendet hatte, der er gutherzig genug jeine welt:
männifche Erziehung verdanken mochte, wen ging denn das in Weimar
etwad an? Daß er jih im hundert Nichtigfeiten zum Amüſement des
Hofes verzettelt hatte, hat er wohl jpäter beklagt; aber davon jteht im
Taſſo fein Wort. Im Gegentheil, Weimar durfte ſich in dem dargeitellten
Glanze Ferrarad wie in einem allerdings verichönernden Spiegel erbliden.
An den Unjinn, der einigen Goetheforjchern nicht auszureden iſt, die
ganz richtig als pathologiſch dargejtellte Leidenjchaft Taſſos zur Herzogin
babe einmal in Weimarifchen Erlebnifjen ein Gegenbild gehabt, denkt doc
der neue Biograph nicht etwa auch? Man prefje und quetjche doch nicht
ewig an dem Ausdrud Beichte oder Generalbeihte! Goethe meint damit
gar nicht3 Anderes, als Selbjtoffenbarung, das Fundament freilid
aller feiner dichterifchen Schöpfungen. Am Ende jchnüffelt man auch noch
dad arme Gretchen auf, das der jchlimme Goethe-Fauſt verführt und
im Elend habe jigen lafjen, dafür er denn von Rechts wegen vom Teufel
hätte müjjen geholt werden.
Was Italien für den Dichter geworden und wejentlich durch ihn dem
gebildeten Deutichen bleibt, wifjen wir Alle. Das ewige Heimmeh nad
dem jchönen Lande, dad er nun empfand, hatte auch rein klimatiſche
Urjaden, denn über die unfreieren gejellichaftlihen Lebensarten jegte er
ji refolut hinweg und jchuf fi, zum ewigen Verdruß des jo keuſchen
Rottzen und Beiprehungen. 523
Weimars, ein jtilles häusliches Glüd. Wenn hier, wie jo oft wieder
vorgebradt wird, Charlotte von Stein die verlafjene Dido war, „die
einzige Geliebte Goethes, die ihm mehr gab, al3 fie von ihm empfing,“
jo braudt jtatt alle8 Proteſtes bloß auf die Briefe Goethes an fie
vermiejen zu werben, die fürzlih Dr. Jul. Wahle zum dritten Male
(nah Ad. Schöll und Wild. Fielig) forgfältigit herausgegeben hat.
Dean frage nur richtig empfindende Frauen, mit welchem Wehgefühl fie
Diejer einfeitigen Verſchwendung des Ueberreichen zujehen. Ihr Glück
ift’3 noch im Gedächtniß der Menfchen, daß jie jo Hug war, ihre Briefe
zurüdzuerlangen, um fie zu vernichten. Ganz wenige find zufällig erhalten
(I. jetzt auch Goethe = Kahrbuh XX, 105— 115). Woher wollen wir
wijjen, daß die Rückkehr Goethes nad Frankfurt, woran wohl einmal
ernitlih gedacht war, geradezu „ein nationale Unglück für Deutjchland“
geworden wäre?
Ueber die einzige Verbindung Goethes mit Schiller (Kap. XVII)
ließ ſich nicht bejonderd Neued erwarten. Das iſt längit erjchöpfend
behandelt, und unjere Zejer, denen wir O. Harnad3 „Schiller“ und
Bellermannd Ausgabe warm empfehlen konnten, brauchten deßhalb
das Buch nicht zu kaufen. Aber ich darf hier nicht verjchweigen, daß
N. M. Meyer mit gutem Fuge eine fommentirte Ausgabe des Bricf-
wechſels fordert, ein anjtändiges Stüd Arbeit, das das Zuſammenwirken
mancher frifchen Kraft nöthig machte.
Don Glück mag jagen, wem es gelänge, in Goethes großem Er-
ziehungsroman, dem Wilhelm Meijter, dem Schmerzensfinde fo vieler
Jahre, den leitenden Faden oder meinetwegen die dee zu finden. Es
läßt jich hören, es klingt ganz geiftreih, wenn hier von dem „Roman
de3 Dilettantiömud“ geredet wird. Hamlet jei daher Wilhelms Held, der
„Dilettant ded Heroismus“. Wäre Hamlet das nad) Goethes Meinung,
er hätte ji wahrlich nicht jo viel mit dem problematifchen Kerl be=
jchäftigt. Dder hätte gar Goethe fich jelber und jeine abgejchlofjene
AJugendperiode al3 dilettirend aufgefaßt? Nimmermehr! Als Werdenden
jtet3, als Dilettanten, d. i. den gewordenen Unfertigen, nie. Per alte
Goethe hat ji) mit der Firirung des Dilettantismus unendlich, man
fann jagen, abgequält, es war jeine letzte kritiſche Inſtanz, und Alles,
was ihm hinderlich und antipathiſch war, mußte fich dieſes Stigma ge—
fallen laſſen. Aber bereits den Roman als eine beabjichtigt geweſene
„Belegiammlung zu dem (jo viel jpäteren) Aufja über den Pilettantis-
mus“ anzujehen, das heißt uns zu viel zumuthen. Ein „Meifterwert
funftvoller Arbeit“ ift der Roman eben nicht, ald Ganzes nämlich; dazu
fehlt nicht mehr als Alles, Gejchlojjenheit und Klarheit der Fabel und
Einheitlichleit des Stils, beides verjchuldet durch die langen Pauſen der
Arbeit daran, durch das Hineinpacken disparater, inzwiſchen aus ganz
anderen Gegenden dem Dichter zugeflogener Epijoden, die fich ald bequemes
524 Rotizen und Beiprehungen.
Bülljel boten, nur um fie doch nicht verderben zu laſſen. Es ijt Daher
gar nicht zufällig, daß gerade diefer Roman, der nicht fowohl der Roman
des Dilettantismus iſt, als vielmehr im Sinne des älteren Goethe
jelber dilettantiſch, das Modellbuh des vagirenden Romantizismus, der
künſtleriſchen Zerfahrenheit und Stillojigteit, werden fonnte.e So viel
vermag ein wirklicher Dichter jelbjt da, wo er die Poefie zu fommandiren
ganz ohnmächtig geblieben war!
Das find böje Kegereien, ich fühl ed wohl, aber, da fie einmal aus
der Feder find, jo mag auch noch gejagt fein, Goethe ift wirklich der
rec;te Vater der Romantif, und wenn ihm jpäter davor graute und er in
den Klaſſizismus, ja bid zu den myjtiichen „Müttern“ flüchtete, die Geijter,
die er gerufen, ward er nicht mehr log. Was der Roman nad) feinem Plane
hat werden jollen, geht die Literaturgejchichte nicht3 an, facta loquuntur.
Ueber Hermann und Dorothea hat V. Hehn Beljeres gejagt.
Was von den Kenien als einer nothwendigen Abrechnung mit der
Mittelmäßigkeit, und was über die neue Blüthe der Balladen gejagt ift,
al3 deren Krone die „Braut von Korinth“ gilt (neben dem „Gott und der
Bajadere*) wird man als wohlbegründer gelten laſſen. Die „natürliche
Tochter“ wird jehr eingehend behandelt, jie gehöre „der ſinkenden Hälfte
ſeines Schaffens“ an, aber doch lejen wir ©. 408 die jchönen Worte:
„Nicht Jedem ift ed gegeben, den grenzenlojen Schmerz des Vaters im
dritten Alt kalt zu finden oder jelbjt kalt dabei zu bleiben :
Unjel’ge8 Licht! du rufjt mich auf zum Leben u. j. w.
Bei Gelegenheit des „Fauſt“ (S. 418 fgd.) hören wir das gewöhn—
liche, mit Verlaub, dumme Zeug über Goethe Che und Ehrijtianen.
Was drängen wir uns denn in die allerperfönlichiten Familien und Herzens:
angelegenheiten des edlen, herrlihen Mannes und in weſſen nterefie ?
Was gehen uns denn die „Goethen geijtig ebenbürtigen Weimarijchen
Damen“ an? Da hatte jeine alte Mutter einen gejunderen Sinn. —
Fauft. „Gretchen war jchon durd das Fauftbuch gegeben“. So? Wo
denn ? Soll etwa Goethes Gretchen in der „ziemlich jchönen, doch armen
Dirne* jteden, „die vom Land herein in die Stadt fommen und fi in
Dienjte begeben bey einem Kramer“ und die Fauſt ob ihrer Ehrenhajtigkeit
zu „ehelichen“ gedacht hatte? (j. Widmann, 21. Kap. ©. 511 des Abdruds
im 146. Bd. der Schriften des Lit. Vereins). Hier wird ihm zur Ent-
jhädigung die ſchöne Helena aus Grecia als succubus, als Teufelin zu
Theil. Uebrigens dachte Goethe jelbit von feinem Mephiftopheles, der eın
guter Theil feines eigenen Selbjt war, jehr viel rejpeftvoller, als jein
neuejter Biograph. Beiläufig will ich bemerken, die Szene „Wald und
Höhle“ deutet Har auf die Anſchauung des Veſuvs dur den Dichter, fie
fann aljo nicht jchon vorher in Rom in der Villa Borgheje konzipirt fein.
Freilich, es wird der Menſchheit eine Tages ebenjo gleichgiltig jein, warın
und wo und unter welchen unmittelbar perjönlichen Antrieben dieſes oder
Rotigen und Beiprehungen. 525
jenes Goethiſche Gedicht, dieſe oder jene Szene geboren ijt, wie e3 uns bei
Sophokles und felbjt bei Shafejpeare jein muß. Dann wird es zwar
vielleiht Goethephilologie auch noch geben, aber fie wird entlajtet fein
von der widerwärtigen Durchichnüffelung aller rein perjönlichen Dinge, ohne
deren archivaliiche Aufjpeiherung und gleichfam prozefjualifche Behandlung
im fontradiktorifchen Verfahren man ihn nicht zu verftehen ich einbildet.
Sehr geringihäßig wird über die Sonette gehandelt. Den tiefen
Klang zitternder Leidenjchaft darin zu vernehmen, ift wohl nicht Jedem ge—
geben. Dagegen ift „Pandora“ ein Wunderbares.
Die „Wahlverwandtichaften“ heißen recht gut der dritte Stein des
Anjtoßes für die Moralijten neben „Stella“ und den „Römiſchen Elegien.“
Für eine leere Phantafie halte ich die Bemerkung, daß Dttilie auch Züge
von Bettinen empfangen habe; juchte man darnad), jo war wohl eher auf
Lucianen zu weiſen. Bettinen, wie jie ſich nach Goethes Tode in dem
Briefwechjel mit einem finde gab, mag man ja als den „leibhaftigen
Genius der Goetheverehrung” allenfall3 gelten lafjen.
Ueber Goethes Selbitbiographie ein abjchließended Wort zu jagen, iſt
ganz bejonders gewagt und Schwierig. Der einfache Menjchenverjtand genießt
das lehrreihe Buch ohne Anſtoß und grübelt nicht viel über die „Prinzi—
pien feiner Technik“ (S. 497). Daß die „Folgerichtigkeit“ in diejes Frag:
ment einer doc durchaus idealilirten Lebensgejchichte — das wollte ja der
Titel bezeugen — erit nachträglich hHineingetragen ward, entgeht feinem
Aufmerkſamen. Wir bejigen, um an die glatte Folgerichtigfeit dieſes an—
geblich jo glüdlichen Lebensganges zu glauben, in Briefen und Gejprächen
des älteren und ganz alten Goethe gar zu viele Beugnifje für das viele
Störende, Unzwednäßige, Folge bindernde, das ihm im Leben und nicht
am wenigiten in Weimar begegnete und ihn oft genug fait zur Verzweiflung
bradte. Auch unjer alter Bismard würde wohl bereitwillig bezeugt
haben: man glaube ja nicht, daß es ein Vergnügen ift, in Deutjichland ein
großer Mann zu jein.*) —
Ras Meyer von der Aufnahme des Werkes, zu dem er die Stalienijche
Neije hätte Hinzurechnen können, vorträgt, iſt vortrefflidh und das köſtliche
*) Hier ſei nur an die ewigen Berfuche erinnert, die der alte Dichter beklagte
(f. Diwan, Buch des Unmutbs 6, Weim. Ausg. 6, 283) „Mid nach- und
vmjubilden, mißzubılden, Berfuchten fie ſeit vollen funfzig Jahren . .“
Das Gedichtchen iſt, was man nicht bemerft zu haben fcheint, ein Stüd
Sonctt und gehör frmit offenbar in die Jenager Zeit der „Sonctten-
wuth“ des Jahres 1807. Uriprünglih hieß es (ſ. ın den Lesarten a.
a. D.) „feit vollen vierzig Jahren“. Das flimmt genau auf 1807,
wenn man an die Zeit dee Eintritts in Yeipzig und 3. B. an die Frau
Hofrätbin Böhme und etwa an Gellerts Stiluitifum denkt. Da Goethe
das unfertig gebliebene Sonett für den Tivan bei Eeite legte (in den
es erſt 1537 aus dem Nachlaß Auinabme fand), zehn Jahre ipäter denke
ih, 1517, jo änderte er die 40 in ?O Jahre und es ſtimmte noch immer,
das Herumbefjern an feiner Exiſtenz rig eben nicht ab. 1827 hätte er
60 gejagt.
526 Rotizen und Beiprehungen.
Bitat deö alten Kirchenhiftoriferd Karl Hafe werden auch unſere Leſer mit
ihrem „Sa, ja!“ bejtätigen (S. 506):
„Wunderlihe Leute. Als große und grobe Sünder befennen fie ich
alle unbedenklich, da8 gehört zu ihrer NRechtgläubigfeit: wenn aber, wenig:
jtend von Einen, der nicht ihre Farbe trägt, etwas Menjchliches an den
Tag kommt, erheben fie jelbitzufrieden den Stein gegen jein Andenken.“ —
„Der moralifhe Egoilt Goethe war fertig.“
Die Bedeutung der Divan-Gedichte, ihr ganz wunderbar frijcher Iyriicher
Leidenſchaftsgehalt ift m. E. nicht genügend gewürdigt, mag man aud)
Manchem zuftimmen, was über den Aitersitil gejagt wird. Gebührend,
nach des feinfinnigen, fenntnifreihen Rommentatord G. v. Löpers Bor-
gange, find die „Sprüde in Proſa“ gepriefen. Man kann jagen, aud)
ſolche Sächelchen, auc wo fie bloßes Zitat find, bedeuten ein Stüd Selbit:
offenbarung. Wa3 war doch Goethe auch für ein gewaltiger Leſer! „Wir
Deutjchen,“ heißt es S. 547, „wären nicht, was wir find, wenn Goethe
uns diejen unjcäßbaren Reichthum an Scheidemünze der Weisheit nicht
gejchentt hätte“. Daß Goethe u. A. das Treffendite auch über Purismus
oder Sprachreinheit gejagt hat, fehe man ©. 551, 552. (1818 „Deutjche
Spracde* in Anlehnung an ein Büchlein des Schweizerd Ruckſtuhl.)
Der Kritik der Wanderjahre können wir zujtimmen, wenn wir aud
die Gleihung Melanie-Ottilie-Minna Herzlieb für ein Hirngeſpinſt halten.
Uns fehlt das Organ für den myſtiſch-ſymboliſchen Tiefjinn, wie uns denn
bei den legten Akten des zweiten Fauſt einfach die Luft ausgeht. Iſt ed abjolut
geboten, auch darin erhabenjte Offenbarungen, größte Errungenjchaften des
Goethiſchen Geijted zu bejtaunen, jo müßten wir uns getrölten, etwa in
einer bejjeren Welt mit den dazu nöthigen Organen audgeitattet zu werden.
Für Unfinn halten wir fein Wort Goethes, aber manches mit ihm jelber
für „Dalbunjinn“.
Am 31. 7. 1831 hatte Goethe das Lebenswerk, den Fauſt, abge—
ichlojjen und eingeſiegelt. Was hat man ſich bemüht und müht ſich fort
und fort, die Einheit ded Planes in dem Labyrinth zu finden! Der
Goethegläubige nimmt und wohl gar übel, mit dem guten Fr. Viſcher
über jo Manches zu lächeln. Darf man nicht der Wahrheit gemäß konſta—
tiren, daß nur ein Heiner, befangener Theil der heutigen deutſchen Bildungs-
welt mit voller Ueberzeugung dem dod am Ende unhiſtoriſchen Klaſſizismus
de3 alternden Dichterd noch anhängt, der wunderlichen Myſtik und Sym—
bolit*) des Greijes aber faum nocd ein Unbejangener?**)
*) An einem Briefe an Schelling 29. 11. 18.3 (ſ. Romantiferbriefe 1, 236)
„Können Sie ihm [dem Maler Martin Wagner] den Unterſchied zwiſchen
allegorifher und jymbolifher Behandlung begreiflihd machen, jo find
Sie jein Wohlthäter, weıl fih um diefe Achſe jo viel dreht." Hat aber
Goethe felber der öden Allegorie fi) dauernd enthalten ?
Der verehrte Herr Mitarbeiter geſtatte mır an diefer Stelle, nicht jomobl
als Redalteur, fondern als Leer, der wie jeder ganze Deutſche feine
**
—
Notizen und Beiprehungen. 527
Kann man nicht jogar felber ein Bißchen Goethe-Philolog jein, was
ja ohne Zweifel verdienjtvoll ijt und bleibt, wie jede Wiſſenſchaft, und dod)
fi von der fonventionellen Pflicht entbunden fühlen, aus feinem Herzen
eine Mördergrube zu mahen? Soll Goethe nit fort und fort Die
AJugend anführen als xpwroxommn;, jo wäre er reif für den langen Mus
mienjaal der Literaturgeſchichte. Wanderjahre und der letzte Faujt mag
man ja als Parallelwerke in formaler Hinfiht betrachten. Einen Haupt>
geſichtspunkt aber vergefje man nicht: Goethe hat mit diejen legten Alters—
produften auf die Mitlebenden nicht mehr einwirfen wollen noch fönnen ;
fie find Appell an die Kommenden, find Vermächtniß. Und gewiß, als
jolches und eines foldhen Geijtes, unſchätzbar, aber gleihwohl auf Die
eigentliche Abficht aller lebendigen Kunſt verzichtend. Kunſt ijt nun einmal
Jugend und Gegenwart, das Hinüberahnen in ferne Gejchlechter iſt
und bleibt jenil. Wollte man es zur allgemeinen Marime machen, das
„denket an die Nachwelt !*, wir fürchten, außer wenigen vom Größenwahn:
finn Gepadten würfen die Maler ihren PBinjel, die Bildner ihren Spatel,
Dichter und Schriftjteller die Feder in die fernjte Ede und würden lieber
Bierwirthe oder was jonjt feinen Mann ernähren mag.
Die geehrte Nachwelt wicd ſich ganz ohne unjer Gebet und Zuthun
ausjuchen und aneignen, was fie brauchen fann. Für den Wirkenden ift
Gegenwart Alles.
Der Verfafjer beklagt, daß der „reis der wahren Goethe-Gemeinde*
täglid) enger werde. Darin irrt er gewiß. Nur, wenn er an Menden
denkt, die ihr ganzes Leben auf nichts Anderes wenden mögen, als auf
die Erforjchung dieſes Einen, mag er Recht haben.
Nun bin ich doch leider geichwägiger geworden, als ich gewollt hatte.
Noch Manches bleibe in petto. Nur noch zu guter Lebe (nicht zu guter
Legt !): Rich. M. Meyers „Goethe“ ijt ein gutes, leſenswerthes, an—
regendes, geiitvolles Bud), das bejtens zu empfehlen bleibt.
Weimar, Anfang Oktober 1899. Franz Sandvoß
(Xanthippus.)
perſönliche Stellung zu Goethe hat, hier eine Anmerkung zu machen.
Ic denle über den zweiten Theil des Fauſt und feine Symbolik ganz
anders. Ich glaube, daß der innere Zuſammenhang und der Gedanken
gang feineswegs fo ſehr ſchwer zu verjtehen ift, wie das Dito Harnad
einmal in diefen Jahrbüchern (Bd. 68) ausgeführt hat und daß, nachdem
man den Faden einmal gefunden, die Symbolik des Einzelnen wie des
Ganzen voll der ticffinnigiten Offenbarung if. Ich babe der Auf
führung, die vor etwa 15 Jahren Devrient in Berlin veranftaltete, jo
oft ich konnte, beigewohnt und war jedesmal ganz überwältigt von dem
Eindrud. Delbrüd.
528 Rotizen und Beſprechungen.
Volkskundliches.
Allgemeine Sammlung niederdeutſcher Rätſel. Herausgegeben
von Rudolf Eckart. Zweite völlig neu bearbeitete Auflage. Göttingen,
Verlag von Franz Wunder. 148 ©. Fl. 80.
Volksthümliches aus dem Königreich Sachſen auf der Thomasjchule
gejammelt von Dr. Oskar Dähnhardt. Leipzig, B. G. Teubner. 1898.
Erjtes Heft VII und 102 S. Zweites Heft 156 ©. 8°.
Unjere Pflanzen. Ihre Namenderklärung und ihre Stellung in der
Mythologie und im Bolfsaberglauben. Bon Dr. Franz Söhns.
Zweite Auflage. Leipzig, B. ©. Teubner. 134 ©. geh. 90 Pf.,
geb. 1,15. —
Das deutjhe Volkslied. Ueber Weſen und Werden des deutſchen
Bolkögelanges von Dr. 3. W. Bruinier. Geh. 90 Pf., geichmadvoll
geb. 1,15 ME.
Anthologie au der ajiatijhen Volk3literatur, herausgegeben von
U. Seidel. Weimar, Emil Felber 1898. 395 ©. gr. 8%. (7. Bd.
der Beiträge zur Volks- und Völkerkunde.
Rudolf Edart, auf dem Gebiete niederdeutiher Sprachforſchung
längit als unermüdlich emjiger und forgjamer Forjcher befannt, 3. B.
durch die große Sammlung niederdeuticher Sprihmwörter und volksthüm—
liher Redensarten (Braunfchweig bei Appelhans und Pfenningstorff 1893),
bietet uns jeßt in feinem Heinen Büchlein doch wohl jo ziemlich den ge—
jammten Umfang und Inhalt der volksthümlichen Räthjeldichtung, zu dem
ſich allerdings noch vielfahd Varianten werden nadtragen laſſen. Der
allgemeine Charakter iſt wohl Einfachheit und Derbheit, auf urſprünglich
poetijcher, oft wahrhaft genialer Anjchauung oder Nalurempfindung bes
rubend, nicht auf Klügelei, manchmal dem Natürlich-Gejchlechtlichen jo
wenig ängſtlich ausweichend, daß vielmehr auch darin ein wejentlicyer Be-
Itandtheil des Bauerwitzes beruht, wohl einmal zotig, doch nicht lüſtern
und pridelnd. In vielen ijt die Pointe überrajchend witzig. Manche,
voraus die luſtigen Räthjelfragen, find uralt, wie das Räthſel der Sphinz,
das Dedipus zu löſen hatte. So wird 3. B. gefragt, „Warum jind es
ohne die heilige Urjula grade 11000 Jungfrauen?“ Die nedijche
Antwort muß man gelten lafjen: weil es ja bloß 10499 wären, wenn
eine davon geheirathet hätte. Das mag der Logiker einen circulus vitiosus
oder eine petitio prineipii jchelten: es find 11000, weil es eben 11000
find, das Volk hat feinen Spaß daran. ch Habe ja nicht nach der Zahl
gefragt, kann der Fragende jagen, jondern nad der Jungfräulichkeit
der 11000, und die beiteht doch darin, dab fie ehelos blieben. Wie
geiftreich it die verblüffende Frage, was ijt das Klügſte und was das
Dümmijte im Haufe? Jenes das Sieb, das den Staub fallen läßt und
Notizen und Beiprehungen. 529
das Korn behält, dieſes das Seihetuch, das die Milch durchlaufen läßt und
den Schmuß behält. Kaum als Näthjel, vielmehr als wunderbar feine
pſychologiſche Beobachtung der Bauernatur wird man betrachten: „Was iſt
des Bauerd letztes Wort?“ ©. 115 giebt ed in platideutfcher Form:
„Lat’t wejen (läß nur fein), Mudder, ick heww mi jo ümmer flitig tau
Kerk un Gottd Wort hollen.“ Wenn man fidy nicht auf Niederdeutjichland
beichränkte, die älteren Schwankbücher und die lebende Volkstradition,
Süd- und Südweſtdeutſchland heranzöge, aber auch jtreng das bloß
Literariihe und den Zotenwitz der Städte, der fich eindrängt, das bewußt
Erflügelte ausſchlöſſe, ſo füme man auf ein erweitertes gemeindeutjches
Räthſelbuch, wie e8 bereits Simrod gegeben hatte. Unſer Büchlein vers
dankt jehr Vieled der von uns früher bejprochenen Sammlung Woſſidlos:
Volksthümliches aus Medlenburg.
Die Dähnhardtſche Sammlung von Kinderliedern, Kinderreimen
und -Geſchichten, Aus der Schule, Verkehr mit der Natur, Spott- und
Nedreime, Auszählen, Bettelreime, Spiele, Das heilige Jahr und dergl.
(wir heben nur Einiges heraus) bietet und, wie der Verfaſſer mit Stolz
betont, nur ganz Unverfälichtes. Um das zu fünnen, dazu bedarf es
großer Hebung und Sicherheit im Erfajjen des Bollsthümlich-Echten, in
unjerm Falle dazu noch bejonderd pädagogischen Tafted, injofern er die
eigenen Schüler zur Mittheilung ihrer Erfahrungen veranlaßte. Da
Dähnhardt, der jeine Sammlung im Dienfte des Vereins für Sächſiſche
Volkskunde unternahm, ein Schüler und Freund des trefflihen Rudolf
Hildebrand (geb. 13. 3. 1824 in Leipzig, geit. 28. 10. 1894 dafelbit)
war, jo wurden ihm die wichtigen Nachlaßpapiere des auf diefem Gebiete
hervorragend Bewanderten zugänglid), und er fonnte und die jchönjte
Bugabe II, 95— 156 „Bollsthümliches aus dem Nachlaſſe R. Hildebrands*
bieten.
Unverfäljcht volksthümlich, das it doch bälder gejagt als geleijtet, wenn
die Quellen jo ganz modern und nicht bloß der Singemund der Land—
finder, ſondern auch jchon die najeweile Verquatichungslujt ded große
ftädtifhen Knaben fein muß. So findet fih Hier 1, Nr. 140
zwar die ganz gejunde und nützliche Abweiſung der Ueberhebung des
Städterd® in dem befannten Neime: „Meine Mutter Hat gejagt“,
nämlid):
Aus der Stadt, da mag ich fene,
Die hamm alle frumme Bene,
Die finn Alle liederlich,
Laſſ'n de Arbeit hinter ſich.
aber doc unmittelbar davor (Nr. 139) der halb hebräiſch Elingende Rath:
Nimm dir Ene aus der Stadt,
Die e paar 1000 Thaler hat.
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 34
530 Notizen und Beſprechungen
Die erjtgenannte Mutter hatte e3 bloß auf äußere Nettigleit abgeieben
(„die gewichite Stiebeln hat“). Eine Rubrik „Reiterlieder” ift injofern
nicht richtig, ald es fi) um bloße Variationen de einen kindlichen Reiter:
liedchens Handelt.
Auch dieſe Verschen, wie die Volksräthſel, von denen wir eben jprachen,
muß man nicht in ihrer lofalen Bereinzelung belafjen, jondern das Ver—
wandte in anderen Landesgebieten daran jtellen. So haben die Freunde
vom Verein für niederdeutjche Spradjorihung das fogenannte Ver—
wunderungslied (auch Ligenlied genannt) mit dem Refrain „Wunder über
Wunder“ durd viele Landichaften verfolgt. So dürfte, ja jollte man es
mit Vielem thun, ich erinnere bier an den Wundjegen, mit dem weinende
Kinder nad) einer Verlegung beruhigt, hypnotifirt werden. Zu Nr. 33
Heile, heile Segen,
Drei Tage Regen,
Drei Tage Schnee,
Nun thuts Schon nicht mehr weh.
ließen ſich leicht Dußende von Parallelen jtellen, bejonderd auch jolchen,
worin die Heilkraft in der Erregung angenehmer Vorftellungen in der
Phantafie des Kindes gefunden wird, das Kätzchen auf (oder unter) der
Stegen, das Mäuslein auf dem Dad oder im Loche fehlt dann nicht
leiht. Sogar der „richtige Berliner“ kennt noch jein „Heele, Kätzken,
heele!“
Bei den Spielliedchen brauchen wir den Kundigen doch nicht vor der
großen Gefahr erſt zu warnen, welche aus den rationaliſtiſch unkindlichen
Faſeleien der Fröbelſchen Kindergärtnerei entſtehen muß. Räthſel giebt es
hier im J. Hefte S. 61 ganzer vier, im II. S. 48 auch noch vier! Das
iſt doch auffallend wenig. Die kleinen Thomasſchüler wiſſen ſicherlich ihrer
viel mehr:
II. Nr. 241 fährt der „Eäne Amor“ ganz hochmodern „Ber
Velozipet“ (=hätt').
Interejjant ift dem Germanijten in jpradlider und mythologiicher
Hinficht viel mehr in diejen trümmerhaften Ueberlieferungen, al3 bier an:
zudeuten, geichtweige zu verfolgen wäre. Wenn ich den „Hammer“ in
I. Nr. 219 und Nr. 224 (hier wie ſchon 174 und 225 geht man mit
Doktor Quther recht gröblich um!), den blanfen Hammer in der dunfeln
Kammer*) zu Thor — Donard Gewitterhummer jtelle, jo dürfte das nicht
allzugewagt fein, wenn ich aud im Allgemeinen nicht dazu rathe, jich auf
Grund folher Trümmer in Kindermund in allerlei Bhantajtereien der
Heinen Mythologie allzueifrig einzulafjen. Es wird de Guten darin grade
genug gethan, und ſelbſt ein jo ernjter und bejonnener Forjcher wie Rud.
*) Nr. 225 ift dann feine Mutter, die den Donnerhammer gegen Boltor X.
bandhabt, offenbar des „Teufels Großmutter“,
Rotizgen und Beſprechungen. 531
Dildebrand it nicht immer von der Sucht frei, zu tiefen Sinn im
Eindjchen Spiel zu ſuchen. 1, 85 bei Gelegenheit des jehr merkwürdigen
Gebetes der Mädchen an den heiligen Andreas, der jeinem Namen gemäß
der Patron der männlihen QTüchtigfeit (vöpeiz, virtus) jein muß (in der
Nacht zum 30. 11.) wird offenbar irrig der Tert:
Ic bitte dich, du wolleft mir laſſen erjcheinen
Den Herzallerliebjten meinen
In feiner Gejtalt, in feiner Gemalt,
In feinem beiten Habit ...
geändert zu „in meiner Gewalt“, weil er ja dann nicht unter den
Pantoffel käme. Das kann aud nicht die Abficht der gläubig Betenden
fein, wenigjtend würde fie dem Heiligen nicht mit jo unheiligem Anliegen
fommen. ber in jeiner ganzen männlichen Herrlichkeit will jie fein
Bild jehen.
Das Erbeblichite des II. Heftes bieten in der That die Mittheilungen
aus Hildebrands Nachlaß. Recht nüglich für junge (und ältere) Poeten
fönnte 3. B. des Meijterd Belehrung über unjere natürliche alte Metrik
und Rhythmik jein (S. 100 fgd.). Die hat freilich mit den Trogäen und
Jamben der Schulmetrif nicht gemein und zu zweifeln ift nicht, „daß in
dem poetijchen Leben der Kinder — eben weil es Tradition ift — auch in
fo äußerlihen Dingen Fäden aus der Urzeit her bis in die Gegenwart
fich fortipinnen.“ *)
Auch das ijt richtig, was Hildebrand ausführt: der Sinn der Kinder—
reime, jo luftig fie im Spiele fein mögen, gebt oft wohl ganz in die Brüche,
aber es bleibt doch auch bie und da ein unverſtandenes Trumm des Ur—
jprünglichen darin haften. Wir erinnerten jchon an Thors Gewitter:
hammer. Cine ganze Reihe ſolcher Kinderjpiele find Dornröschen-Spiele
und Dornröschen ijt feine Andere als die alte Walküre Brunhilde (vgl.
S. 117 fgd.). „Ringel, Ringel, Dorne, Wer fißt in unjerm Korne?“
(in diejem Korn). Das S. 118 (Ortsangabe fehlt) gegebene Liedchen:
„Kling, Eang gloria! Wer jißt in diefem Thurm“ hört ich 1856 in
Halle fingen. Hier ift der Thurm wichtig, denn auch vorher ift das
Korn an die Stelle des unverjtandenen „wer figt in diefem Torne* ges
treten. Daß das Keſſellied aber ein Hochzeitölied fein joll, leuchtet nicht
ein. Dffenbar wird der Keſſel nicht gebaut, allenfall3 eingemauert, und
für „Bauer, baue Keſſel“, das Hildebrand als Herdgründung faßt, möchte
man vermuthen: „Braue, braue, Kejjel!* Aber wie, wenn Keſſel gar
fein Mefjel wäre, in den die „weiße Taube“ fällt, jondern der Name des
*) Iſt es nicht ein noch ungelöftes Räthiel, wie eine im Ganzen für höchſt
gebildet geltende Nation im Zheater den fogenannten fünffübigen
Jambus vier Stunden lang ertragen kann? Möglich ijt es vielleicht
nur dadurd, daß unfere Schaufpieler den Vers Bers fein laſſen und
lediglich eine rhythmiſche Proſa ſprechen.
34*
532 Rotizen und Beiprehungen
Bauerd, den man tröften will: „Morgen wird es befjer“, aljo Geßler
d. i. Gifelher? Dazu itimmt ©. 108 Nr. 6.
Da heißt e8: „Wer fit drinne? De alte Kejjelrinne” Natürlich
it das dann die alte Geßlerin, (Hild. fragte „eig. Keßlerin?““ Die
Variante „Eine große Spinne” würde ſich als die böfe Mutter des Bauers
Geßler ergeben. Das Einfallen des ganzen Keſſels ließe jich wieder auf
eine ganz andere PVorjtellung beziehen. Man redet vom Cinfallen des
Badojens, wenn das Kind geboren ijt und ©. 109 heißt e& in Osmaritz
bei Jena: „Wer figt drinne? Der Kaijer (Geißler?) mit dem Rinde.“
Dan fieht mwenigjtend, auch wenn es nicht gleich gelingt, dem Unfinn des
kindlichen Spieles jeinen Sinn abzufragen, es muß ihn urjprünglih ge-
habt haben und jchon das ift ein wichtige Ergebniß wifjenjchaftlicher Be—
ihäftigung mit diejen Dingen, in die oft ein bloßer Zufall, dad Belannt-
werden einer Variante, plößliches Licht bringen mag. ©. 112 iſt die
„goldene Brücke“ jicherlih richtig al8® die himmlische Regenbogenbrüde
Bifröſt gedeutet. An dem Spielliede — auch dieſes hört’ ich oft im
Halle — „Wir treten auf die Kette“ verzweifelte Hildebrand. ©. 129
oben find die „drei weißen Mädchen“ mythologiſch als die drei Nornen zu
fafjen (fie haufen no) in mandjem „Jungfernholz“).
Die Dritte jchließt den Himmel auf
Da gudt die Mutter Maria (oder die liebe Sonne) "raus.
Zu ©. 146 (S. 209 Schwandfedern bekommen) bemerfe ich, daß bei
der Nedensart an den Vogel, den Schwan, dod nur jo weit zu denken iſt,
ald die Volldetymologie des Worte® „mir ſchwant“ es wohl thut, die
aber nicht zu wiljen braucht, daß es ſich um „zufammengewachjenes „es
wänet mir“ handelt. „Unjer Jahrhundert darf nicht fchließen, ohne das
eine wirklihe eingehende Kenntniß des Volkes in den weitejten Kreijen
wenigiten® angebahnt wäre”. Diejes Wort Elard Hugo Meyers. das
Dähnhardt fih zum Motto gewählt bat, wird nod auf lange hinaus
rüjtige Arbeit erfordern. —
Das hübſche Büchlein „Unjere Pflanzen“ liegt bereits in zweiter Auflage
vor. Die Tendenz der Arbeit, die Kenntni der alten deutichen Namen
unjerer Flora wieder zu Ehren zu bringen, fann der Schule nur höchſt
willfommen fein, denn eigentlich e3 ijt doch eine unfinnige Zumuthung an
deutjche Kinder, daß fie den oft recht zujammengequälten wifjenjchaftlich-
internationalen Namen (man tauft ja Pflanzen wie die Nennpferde und
Nafjehunde) allein erfahren jollen, und ihnen der jchöne poejievolle
heimijche, der. auch wo er unverjtanden bliebe, die Phantafie und das
Sprachgewiſſen anregt, verborgen bleibt. Daher war zunächſt die Schule
anzuregen, ihr der tiefe Bezug darzulegen, der zwijchen Pflanzennamen
und religiöjen Vorſtellungen, ſowohl uralt heidnijchen, als jpäter chriftlichen,
der alten Bolfsheiltunde und vielfältigem Aberglauben, das ijt eben
Rotizen und Beſprechungen. 533
Glauben ded Volkes, beſteht. Dad Buch bedarf nicht mehr unjerer
Empfehlung, jo friih und anregend iſt e3 gejchrieben, der guten Sache
aber würde e3 förderlich fein, wenn die deutichen Schul- und Kirchenräthe,
zu Deutſch Minijterien des Kultus u. j. w. die Lehrerbildungsanitalten
anweiſen wollten, diejen vernünftigen und leider jo lange jchmählich ver—
nachläſſigten Weg endlidy zu betreten. Es kommt garnidyt darauf an, daß
man gleich überall eine unwiderſprechliche Erklärung der alten bdeutjchen
Wörter vor ſich habe, die fehlt uns ja auch zunächſt bei unjeren eigenen
PBerjonennamen und wie jteht es denn mit Hunderten, ja Taujenden der
tagtäglich gebrauchten Wörter unjerer lieben Mutterfpracdhe überhaupt? Das
erite Erforderniß ift Kenntniß des thatſächlichen Beſtandes, dann Weckung
des Sprachgewiſſens, das in dieſem Falle zu einer ſchönen Einführung in
die Phantaſiethätigkeit des Volles wird. Wer aber eine gründliche Kenntniß
der deutſchen Volksart erſtrebt, darf, auch ohne Botaniker zu ſein, an
dieſem bedeutſamen Wortſchatze nicht achtlos vorübergehen. Selber der
Goethephilolog wird hier (S. 6) Goethen als beſonderen Verehrer des
Veilchens und Verbreiter der Vorliebe für es kennen lernen, der nach
Pindars Vorgang ſein geliebtes Im —Athen, iostéphanos, die „veilchen—
umkränzte“ Stadt der Muſen, benannte.*) —
Für den Fall einer dritten und hoffentlich fernerer Auflagen möchten
wir dem Verfaſſer rathen, ſich mit einem ernjten Germanijten in Ver:
bindung zu jeßen, damit er nicht weiter die ältejten etymologiichen Märchen
verbreite.
Auh 3. W. Bruiniers begeijterte und kenntnißreiche Einführung in
das deutjche Volkslied ift als ein höchit wackeres Büchlein zu begrüßen.
Der Berfajler erkennt jehr richtig, dag — leider! Gott jei’3 geklagt! —
an der Ermwürgung guter alter deutjcher Volksart und Sitte, die in der
„Spinnjtubengejelligfeit“ einen jicheren Port für die Pflege des Volks—
geſangs beſaß, nicht ſowohl die wirthichajtliche Entwidelung die Schuld
trägt, als die löblichen Ort3behörden und da3 verehrlide Pfarramt.
„Kampf gegen die Brutftätten der Unzucht“, hieß ed. Was jchon der wider
den „Aberglauben“ wüthende Rationalismus und der poejiefeindliche Hoch—
mutb der bürgerlichen „Bildung“ an unjerm Volke, dad num Pöbel ge-
jcholten ward, gejündigt hatte, das jeßen noch immer Amtsvorſteher und
Gendarmen fort, nachdem der Herr Pfarrer längjt eingejehen, daß jeine
Vorgänger auf dem Holziwege gewejen waren, daß vielmehr zu hegen und
zu pflegen wäre, was jene unterdrüden wollten. Nur der ım Wirthshaus
efiende und der haufirende Menſch flößt dem Staate noch Ehrfurcht ein,
*) Nebenbei bemerkt, den Namen „Goethe-Veilchen“ hab ich bier in
Beimar nie nennen gehört. Er gehört wohl in die Legendenpoefie.
Ob das altgriehifche :ov das heutige Veilchen war, ift jehr fraglich,
wenn aud die ſprachliche Gleihung nicht anzujehten if. Man
denfe nur an die Levkoje, die ja das weiße Veilchen fein müßte
(Azuzöwv).
534 Rotizen und Beiprehungen.
die Tingeltangel der Großftädte und ihre Tanzböden find feine „Brut-
jtätten der Unzucht“.
Eine jtrenge Scheidung von Volkspoeſie und volfthümlicher Kunſt—
poefie bejteht in der That nicht, und wie heute Goethe, Ubland,
Eichendorff, Hauff, W. Müller, Scheffel allgemein gefungen werden,
denn Lied ijt nur, was fingbar ift, jo war e8 auch fchon in alter Zeit.
Das Volk als Kollektivum dichtet natürlich nicht, immer nur ein Indi—
biduum, nur kommt e3 auf feinen Namen nicht an. Auch der frühere
höfiſche Kunftdichter ftand weit ab vom Sänger, er war aber ein Schreiber.
Der Verfaſſer erweijt ſich als guten Kenner aller Reſte mytholo-
gijcher Ueberlieferungen, ein Schüler Salob Grimms und Müllenhoffs,
einer heute ungebührlic) vernadhläffigten Wifjenihaft.*) Mit Bilmar,
der große Verdienjte um den Volksgeſang hat, iſt Bruinier doc nicht
durchaus einverjtanden; ihm gilt als Hauptfriterium, daß ein Lied als
wirklicher Gejang, und zwar Chorgejang, im Volke lebe. Dabei fällt
mit Vielen Opih ganz aus, der dod) „Arien“ genug gedichtet hat**), und
jelbjt Schiller jcheint nicht einmal volfsthümlih, da Schule und Theater
hier wenig ind Gewicht fallen. Und ohne Zweifel fteht Goethe jeinem
ganzen Weſen nah dem Volksthum viel näher. Der Volkston, immer
auf ernjthaftem und wahrem Empfinden beruhend, hat mit Bänfeljänger:
thum, — mider dad die Polizei nicht3 einzuwenden hat, denn die
Bahrenden jind ja Steuerzahler und „Artiften“ — gar nichts gemein
(. ©. 46).
Die an der Hand R. Kögels gegebene Entwidelungsgefchichte des
deutichen Volksgeſangs ijt furz und Har. Als einzig erhaltenes Beijpiel
für das Lied des Stop oder Skof (Schoph) muß das jchon recht „zer:
jungene* Hildebrand3lied gelten. Die jpäteren Spielleute find nicht mehr,
wie der alte Stop, jelbitichaffende Dichter, jondern nur noch wieder:
holende Sänger. Nach der langfamen Verſumpfung bricht mit der Re—
formation auch auf diefem Boden ein herrlicher neuer Frühling hervor,
„es geht ein friiher Sommer daher.“ Dagegen bleibt das politifche Lied
des jechzehnten Jahrhunderts gereimte Leitartifelproja.
©. 108 fgd. wird von der Ballade oder Märe gehandelt. Woher
weiß der Verfaſſer, daß die Todtenrittmäre (Leonore) in ferndeutjchen
Gauen niemald jei gejungen worden? Ich glaube auch nicht, da das
Volk eben nur „Schickſale von Durchſchnittsmenſchen“ wolle (118). Nein,
dad Wunderbarjte und Poetiſchſte geichieht eben und geſchieht alle Tage
noch, und gejchäh’ es eined® Tages nicht mehr, dann verfiegte allerding®
*) Dafür bat fie fi bei den jprachvergleihenden Linguiften zu bedanten,
die ſich aller Biftorifhen Zeugniſſe zu entſchlagen gewohnt find.
**) Doch verdiente, menigftens in Studentenkreifen, 3. B. das hübſche
„Ich empfinde faft ein Grauen“ (ſ. Poet. Wälder; Biertes Bud,
Nr. XVII) Beadhtung.
Notizen und Beſprechungen. 535
der Quell der Poejie. Abweiſen muß ich daher die jeltiame Meinung
(124) „Sobald da3 Volk zu fühlen beginnt, daß, was es befingt,
frembdartig ijt, wendet e3 ſich davon ab. Es liebt ſich jtet3 die vollen
frijchen Wangen. Und da unjere Zeit natürlich und Gott fei dank (NB!)
nur noch wenig Märenjtoff bieten kann, ıjt neues Leben für diefe Lied»
gattung nicht wahrſcheinlich.“
Merkwürdig ungünjtig läßt der Verfaſſer fih aud über Walther
von der Vogelweide aus, der ihm zu höfiſch- unvollsmäßig it. ©. bei.
S. 151. Die vielverbreitete Form des „Morgenliedes* findet auch wenig
Gnade, und gegen die jogenannten Neidharde iſt er entichieden ungerecht,
wenn er fie ald Sanhagellied abthut. —
Die „Aſiatiſche Anthologie” von U. Seidel, dem Herausgeber der
Zeitſchrift für afrifanijhe und ozeaniiche Sprachen, führt und zwar weit
von dem heimischen Volksboden fort, verbleibt aber im reife des
Volksthums, und zeigt und auch in weitejter Ferne ganz überrajchend
Verwandtes. Died gilt nit nur von gewifjen Märchen und Novellen=
ſtoffen, die in der That etwas Internationaled oder Allgemein-Menjchliches
find, jondern noch mehr von vielfältiger Spruchweisheit. Die früher
allgemein angenommene Anficht, daß folches Literarijche® Gut, wie nad)
V. Hehn Pflanzen und Hausthiere, in jahrhundertelangen Wanderungen
langjam von Aſien (Indien, Perſien zumeijt) in die europäiſche Kultur:
welt jei hinübergepflanzt worden, hat man neuerding® zum Theil wohl
aufgeben müfjen, da jich nachweijen ließ, daß griechiiche ganz individuelle
Dichtererfindung umgekehrt nad) Arabien und Indien gelangt war. Wer
will jagen, wo zuerjt das befannte Bismardmwort jei geprägt worden:
„Wir Deutiche fürchten Gott und fonjt nichts in der Welt“? ine Lebens
beichreibung Aleranders ded Großen, die auf altgriehiihe Quellen zurück—
geht, giebt es jchon den imdifchen Gymnoſophiſten, den Fakirs, in den
Mund. Und in gauz derielben Weiſe antwortete der jpätere König
Philippus V. von Macedonien dem Römer Flaminius auf die Frage, was
er denn fürchte: „Fürchten? Niemand außer die Götter.“ Biel älter,
als Erommell und alle die Modernen, bei denen man das Wort nad)-
träglich aufgejtöbert hat, war aud die lateinische Form: Tutissima res
timere nihil praeter Deum, die Gruterus (1610) aus dem Publilius
Syrus oder den Sentenzen des Seneca jo gab. Wundern wir uns aljo
noch, in der Aſiatiſchen Anthologie S. 18 als turkeſtaniſch zu finden:
„Wer Gott fürchtet, wird die Leute nicht fürdten*? Heinrich Theodor
von Schön (f. Preuß. Jahrb. 5, 11) Hatte zum Wahlſpruch ermählt:
Thue dad Gute und wirfs ins Meer,
Siehts nicht der Fiſch, ſieht es der Herr.
Nah ©. 342 unjered Buches wär’ es perſiſch: „Thue Gutes und
wirf es ind Meer.“ Aber ſchon ©. 121 lejen wir ed (nach Bämbery,
536 Rotizen und Beiprehungen.
der wohl eigentlih Bamberger heißt), ald özbegiſch: „Thue Gute und
wirt e8 in den Fluß, der Fiſch fieht es jchon; und follte der Fiſch
e3 nicht finden, Gott fieht es ſchon.“ Wer vermag und zu jagen, mo
zuerjt jo ein Wort mag gejproßt fein, wie ©. 87 das türkiſche: „Man
hat den Eifel zur Hochzeit geladen; ohne Zweifel hat man Waſſer
oder Holz nöthig.“ Es war und Deutichen längft gäng und gäbe
(ſ. 3. B. Agricola (1529) „man ruft den Eſel nit zu Hofe, dann er
Säcke tragen ſoll“. — |
Wenn dad Wort „Die Mauer hat Ohren“ özbegiſch ijt, jo mußte
doch auch der alte Mimograph Publ. Syrus bereit: Nullum putaveris
esse Jocum sine teste, das Reinmar von Zweter bereit3 wie ein deutjches
Sprichwort verwendet: „walt hät ören, velt hät gesiht.“ So jpäter
Agricola 748: „Der waldt hat oren vnd das feldt augen“, dazu das
lateinifche: Rure valent oculi, densis in saltibus aures, was natürlich bloß
nenmodiſche ſchiefe Ueberjegung iſt. Der treffliche Heniſch (1618) bietet
dad hübſche alliterirende Wort (nad) Bebel) „Die windel und wäld
haben ohren“.
Bekanntlich verbittet ji) Walther v. d. ®. die unverjchämte Zu:
muthung, zu „harpfen in der Mühl“. ©. 225 erfährt man, daß auch der
Ehinefe jagt: „Er bringt eine Guitarre in die Mühle und fpielt dem
Ochſen etwas vor (mo, nebenbei bemerkt, die Gloſſe ded Herausgebers
„Perlen vor die Säue“, höchſtens auf den Zuſatz pafjen würde, der eine
jelbjtändige fprichwörtliche Redensart ift, wie „den Fiſchen predigen“ oder
„jein Leid dem Steine Hagen“). In vielen Fällen wäre cber, auch für
allerlei afiatifche8 Volk, gradezu die Bibel, die reihen Sprudjammlungen,
die auf Salomond Namen gehen (Proverbia, Ecelesiastes, Sapientia) und
Jeſus Sirach ald wahrfcheinliche Duelle zu bezeichnen gewejen, z. B. mas
über die Gewalt der Zunge überall zu klagen war, das brauchte man
nicht erjt bei den Neugriechen zu juchen, wie Anm 49. 50. geſchieht. Herr
A. Seidel hätte das Wort auch bei unjerem Freidant (164, 17) finden
fönnen (nad) Ecclef. 28, 21):
Din zunge diu enhät kein bein,
und brichet doch bein unde stein.
Welches Volk hätte nicht das auch bibliihe Wort von der Grube, in
die der falle, der fie dem Andern gegraben? Oder wo wäre nicht aud)
befannt, daß eine Schwalbe noch feinen Frühling oder Sommer madit,
daß die Nofen eben auf den Dornen jtehn? Das ift Samenzumehung von
Hunderten von Pflänzlein, deren Urheimath der Botaniker lange ſuchen
jol. Man kann ſolche Dinge getroſt Weltwiß nennen. Es wird darauf
ankommen. welches Kulturvolk das Meijte von dieſem köſtlichen Erfahrungs:
itoffe der Welt zu jammeln, aber auch zu verdauen und neu zu prägen
und auszugeben verjtehen wird.
Rotizen und Beiprehungen. 537
Aufgefallen ift mir bei dem Sammler, der in diefem Fall der Ver:
faſſer des Abſchnitts jelber ijt, die Unfreundlichkeit, mit der er die Perſer
behandelt. Ic ſollte meinen, man habe e8 hier doch nicht ſowohl mit den
Lebendarten der heutigen Perjer zu thun, als mit einer doch immerhin
höchſt reipektablen uralten Kultur, deren ethiiher Gehalt ja nicht allemal
dem Fremden in lebendigen Paradigmen begegnen mag. ES fehlt bier
ſcheint mir, jeder Reſpekt vor dem religiöjen Boden, auf dem die jo bitter
gloffirten Marimen ded Volkes doch ruhen, z. B. wenn der jchöne Rath,
ſich durch Almojen eine Anwartſchaft auf den Himmel zu erwerben, als
gemeinpfiffige Eelbjtverfiherung verläjtert wird, aud der oben erwähnte
Sat jogar von der Wohlthat, die man ind Meer werfen jolle. Was
haben die Perjer Herru Seidel gethan?
Daß auf Grund jo vieler, an Werth freilich jehr ungleicher Reiſe—
werfe und wifjenjchaftlicher Behandlung der mannigfachen afiatijchen Lites
raturen ein buntes Wllerlei entjteht, das lehrreich und interefjant ift,
braucht faum gejagt zu werden. Semiten, die Nord: und Südkaufafischen
Stämme, Kurden, Armenier, Griechen, Perſer, Ajghanen, Inder; die
übrigen Stämme Indiens, Malayen, Mongolen, die nordafiatijihen Kultur—
und Naturvölfer ziehen in bunten Bildern an und vorüber.
Die Genauigkeit der MUebertragungen in all diejen Sprach-Probe—
jtüden zu prüfen, find wir durchaus unzulänglic und dad Meijte wird
der Sammler jelber auf guten Glauben übernommen haben. In den
poetiihen Stüden hätten wir jedoch eine etwas forgfamere Behandlung
unjerer eigenen Sprade gemwünjcht. Lieber jchlichte wortgetreue Proſa
als ſolche Verſe. Wohin ift die jprachgewaltige Aneignungsfraft
Rückerts oder Fr. von Schacks gelommen? Ja jelbit der poejiejchwache
Bodenjtedt, er war doc och immer ein gewandter Geiltänzer der Form.
©. 225 lejen wir 3. B.:
R „In der Liebe Netz gefafjen
Irr' ich wire im Kreis herum,
Soll ic) lieben, joll ich haſſen“ u. ſ. w.
Der Nachdichter flektirt aljo das gute Verbum „fallen“ nach Unulogie des
reduplizirenden „lajjen“: „ich falle, fieß, gefaſſen“!! Es fchmerzt, zu
erfahren, daß dieſe Birmanischen Lieder S. 221-230 dem Werke
Bajtians über Birma entnommen find.
Weimar, Anfang Oftober 1899. Franz Sandvoß
(Xanthippug).
538 Rottzen und Beiprehungen.
Die neueſte Shaffpere-Literatur.
Bon Hermann Conrad (Groß,vLichterfelde).
1. Umfajjende Werte.
Die hervorragendite Beröffentlihung der legten Zeit it Sidney Lees
Shafjpere:-Biographie*. Lee hat jeinen jehr umfangreichen, auf
zwanzigjährigen Studien beruhenden Artikel über Shafipere in dem von
ihm herausgegebenen „Dictionary of National Biography“ mit einer Reihe
von Erweiterungen al3 Buch erjcheinen lajjen. Bortrefflich informirt, wie
er über den Gang der englijchen — leider nicht der deutjchen — Shakſpere—
Forſchung ift, giebt er in einem mäßig itarfen Bande zugleich eine An—
ihauung von den Quellen feiner Information und jchafft auf diefe Weile
ein Werk, das jedem Shalſpere-Forſcher der Zukunft eine dauernde Stüte
fein muß.
Wenn indejjen auch der Gejammtcarakter des Buches der eines zus
jammenfafjenden Referates ift, jo ift der Verfaſſer darum vor jelbitändigen
Studien nicht zurücdgeichredt, und die neuen Beiträge zur Shaljpere-Bio-
graphie, die dad Buch enthält, jind für die Kritif das Weſentliche. Die
Hauptmafje jeiner eigenen Arbeit bezieht fih auf die Sonett: frage Er
hat die Elifabethanijche**) und die gleichzeitige franzöfiiche Sonett-Literatur
durchforjcht und gefunden, daß der Charakter Ddiejer Lyrik ein vorwiegend
fonventioneller it. Das iſt für Deutjchland nicht? Neues; der Schreiber
diejer Zeilen hat jchon vor einundzwanzig Jahren ***) aus einer großen Maſſe
von Parallelismen der engliichen und italienijchen Sonett-Lyrif nachgewieſen,
daß die petrarkiihe Konvention dieſen Literaturzweig beherrſchte. Neu
dagegen ijt der Schluß, den Lee auß dieſer Thatjache zieht: daß die fonven-
tionell geformten Sonette Shakſperes einen autobiographiihen Gehalt nicht
haben könnten. Aljo weil der jugendliche Shakipere — und nur der
jugendiihe thut das — jeine Liebſte in der landläufigen italianifirenden
Form befingt, darum joll diefe Geliebte und diejes keineswegs Tonventionelle,
jondern auffallend eigenartige Liebesverhältniß nicht eriftirt haben? Der
Schluß it offenkundig falſch; ich habe mir in der oben genannten Arbeit
erlaubt, die nachgewiejenen Geliebten englifcher und italienijcher Sonettijten
zufammenzujtellen, die noch viel fonventioneller bejungen wurden, als Shaf-
ſperes jchwarze Schöne. Und Lee entzieht jeiner Theorie jelbit den Boden,
indem er nicht umhin fann, ein paar Liebesjonette dennoch für autobiv-
graphiic zu erklären.
*) A Life of W. Shakespeare by Sidney Lee. 2d Ed. (Die 1. war
wenige Monate früher erfhienen.) London, Smith, Elder & Go. 1598,
**) Gin mwerthvolles Kapitel des Appendig giebt über dieſe eingehende
Auskunft.
”*) In „Herrigs Arhiv“ und fpäter im 17. Bande des Shalipere-Jabr-
buches (1832).
Rotizen und Beſprechungen. 539
Vortrefflih gelungen ift ihm die Widerlegung der Theorie Tylers,
nach der der Graf von Pembrofe der Freund und Mrd. Mary Fitton,
eine leichtfinnige Hofdame der Elifabeth, die Geliebte der Sonette fein
Jollte. Freilich ift e8 nicht jchwer, den logischen Widerjinn der Argumen-
tation dieje3 von feiner vorgejaßten Hypotheſe ganz verblendeten Mannes
zu erfennen. Hinfällig dagegen iſt Lees Schluß, daß Southampton der
Freund jei, weil Shafjpere ihm jeine zwei Epen gewidmet habe. Dieje
Widmung beweiſt für Shalfpere ebenfo wenig ein intimed Verhältnig mit
Dem Mdrefjaten, wie für die Hunderte anderer demüthiger Literaten, die
einflußreihen Gönnern ihre Werfe zujchrieben. Intereſſant ijt die Dar—
Ttellung der Lebensverhältnifje des räuberifchen Veröffentlicher8 der Shak—
ſperiſchen Sonette (1609), Thomas Thorpe, die und gleichzeitig deſſen
Literariichen Raubgenofjen William Hall als den räthielhaften „Mr. W. H.“
der Sonett-Widmung wahricheinlich madıt.
Hinfällig ijt ferner die Verneinung der Frage, ob Shakſpere in Italien
war, ohne die Kenntniß von Theodor Elzes Schrift „Italienische Skizzen,
aus der ſich das Gegentheil ald eine faum bejtreitbare Thatjache ergiebt.
Ganz unhaltbar find die fittlih höchſt unvortheilhaften Folgerungen, die
Lee Hinfichtlih des Charakterd des jungen Dichters aus der einen auf
feine Verheirathung bezüglichen Urkunde zieht; daß bei diejer Verheirathung.
die allem Anjchein nad) ohne Wiſſen des alten Shafjpere und wahrjcheinlich
gegen jeinen Willen vor fi ging, nicht Alles in Ordnung war, iſt ziemlich
ficher; ganz; fiher dagegen, daß eine etwaige Schuld nidyt auf Seiten des
achtzehnjährigen Knaben, jondern der reifen, jech3undzwanzigjährigen Bauern-
dirne lag.
Neu und jehr interefjant und komijch wirkſam ift die Enthüllung, auf
Grund weſſen und wie Shakſpere nach einem Wappen jtrebte und durch
weten Hilfe er e3 endlich befam; des Dichters Stellung zu Jakob J., die
Berechnung feiner Einnahmen, die jchließlich dem Gehalte des deutjchen
Reichskanzlers gleichlamen, find ebenfalls von Lee aufgeklärte Gebiete.
Beigegeben ijt dem Bande ein Stich von dem 1892 entdedten Oel—
Porträt Shakſperes, in dem Lee mit Recht das Original des mißrathenen
Bildes der eriten Folio-Ausgabe (1623) fieht. Es wäre wünjchenswerth,
daß die deutjchen Stunjtverleger recht bald auf dieſes einzige authentijche
Porträt Shakſperes aufmerfjam würden und aus unferen Büchern und
Stuben jenen ſchwächlichen Chandos-Kopf verjchwinden ließen, der Paul
Heyſe viel ähnlicher fieht als dem britifchen Geijtesriejen.
Ueber Heinrich Bulthaupt3 jet in jechiter Auflage erjchienened Buch
über Shakſpere“) eine eingehende Rezenfion zu fchreiben, ijt überflüjjig,
troßdem es „neu bearbeitet“ iſt. Mit jeinem frifchen, geiftreichen Stil,
*) In der „Dramaturgie der Klaffiter“. Oldenburg und Leipzig,
Schulzeihe Hofbuhhandlung (A. Schwarz). 1899.
540 Rotizen und Beiprehungen.
mit feiner piychologiich feinen Durchdringung der Shafejperifchen Menjchen-
ihöpfungen, mit feiner unbefangenen, vom Weihrauchnebel unverdunfelten,
jelbjtändigen Auffafjung des Dichterd hat ed ſich in der Achtung der
literariihen Gejellichaft eine nicht leicht zu erſchütternde Stellung erworben.
Wenn aljo nad) feiner Seite ein Bedürfniß vorliegt, auf die einzelnen
Vorzüge des Buches, auf die befonderd gelungenen und zum Theil herr:
lihen Darjtellungen, wie die von „Heinrich IV.“ und „Macbeth,“ aufmerfjam
zu machen, jo dürfte es vielleicht im Intereſſe des für ein langes Daſein
bejtimmten Werfed jein, einigen Ausjtellungen Ausdrud zu geben, zu
denen eine erneuerte Lektüre mir Anlaß giebt.
Sch berühre eine Lebensfrage des Buches, wenn ich von der Methode
jeiner Darjtellung ſpreche. Bulthaupt fonnte in der Beurtheilung der
Shafejperijchen Dramen uns ausschließlich jeine Anficht geben, unbeſchwert
von Seitenbliden auf die Anjichten Anderer und von der Polemik gegen
ſie. Er hat diefen Weg nicht gewählt, fondern bejchäftigt fich oft genug
mit der Widerlegung von ihm faljch erjcheinenden Auffafjungen. Wenn
er aber ein jolches literarhijtoriich-fritifche8 Verfahren verfolgt, ſo er:
wächſt für ihn die Nöthigung, in jeder Neuauflage jeines Buches jich mit
den neuejten Erjcheinungen der äjthetiichen Kritik auseinanderzufegen, wenn
er nicht in die Lage kommen will, 3. B. im Jahre 1899 eine Anjicht zu
befämpfen, die vor dreißig Jahren einmal lebendig, jet ſchon längere
Beit im Grabe ruht. Dieſer Nöthigung hat Bulthaupt in den neueiten
Auflagen nicht Hinreichend Rechnung getragen, er kennt die allerneueite
Shakjpere-Titeratur zu wenig und geitattet ſich dennoch Urtheile über
deren augenblidlihen Stand. So Iejen wir auf Eeite 291: „Ich glaube
nicht, daß heutzutage noch Jemand ernitlid daran denfen kann, die ganze
zerrifjene und jchwermüthige Stimmung Hamlets erjt von ſeines Vaters
Tode herzuleiten, vielleicht mit einziger Ausnahme von Hermann Conrad.“
Diejer Ausipruh ift geradezu verblüffend: alſo fennt Bulthaupt die
Harmlet-Literatur der beiden legten Jahrzehnte nicht ?*) auch nicht einmal
Kuno Fiſchers Bud (j. ©. 277 ff.)? Der kritijche Theil des Shafjpere-
Jahrbuches allein hätte ihn über die Verfehltheit einer jolhen Behauptung
aufklären fönnen. — Und warum jollte denn der Tod des VBaterd und mas
damit zufammenhängt, Hamlet nicht zu einem anderen Menjchen gemadt
haben? — Weil ein folder Wechjel nicht im Laufe weniger Tage, ſondern nur
in langer Zeit jich vollziehen könne. — Wiederum unglaublich bei diejem
jonjt jo feinen Menfchentenner: das Gegentheil ijt wahr. Hat Bultbaupt
es wirklich) nie erfahren, daß gerade der unerjegliche Verluſt Heißgeliebter
Angehöriger frifche, frohe Menſchen ganz plöglich zu verbitterten Peſſimiſten.
ja geiftig Gejunde wahnfinnig machen kann? — Die thatjächlihe Ent:
*) Man vergleihe nur die allerneueften Hamlet-Auffaffungen im zweiten
Theile dieſes Artikels.
Rotizen und Beiprechungen. 541
widelung der Hamlet-Kritik jeit den Sechzigern ift eine derartige, daß
Bulthaupt jegt nahezu allein fteht mit feiner Anfiht von dem „phleg-
matifchen, melandolifchen*, grübleriichen, thaticheuen und doch todes—
veradhtend tapferen Hamlet, der ein Schwädling und ein föniglicher Held
zugleich ift. Und fie hat ſich jo entwideln müfjen: denn der Widerfinn
fann ſich für die Dauer nicht Halten, weder diejer, noch die daraus ſich
ergebende contradictio in adjecto, wie fie in der Vorftellung einer „Tragik
der Schwäche“ Liegt. — Bulthaupt würde ſomit gut thun, uns in fpäteren
Auflagen nur feine Anficht zu geben; Die ift aud ohne Berüdjichtigung
der ShakiperesLiteratur werthvoll genug.
Eine ähnlich veraltete Anjchauung liegt in der Meinung, daß die
bisherige literarhiftorijche Shalfpere-Forfhung den fommenden
Geſchlechtern faum noch etwa zu thun übrig gelafjen habe Im Gegen
theil: die Reihenfolge der Dichtungen Shakſperes jteht noch bei Weiten
nicht feft. Der Sport. nah äußeren Indizien, Anjpielungen zc., ſowie
nad) einem trugvollen rhythmiſchen oder Stilgefühl das Alter der ein-
zelnen Dichtungen zu bejtimmen, der troß ſeines zweihundertjährigen Alters
nicht verjtändiger geworden iſt, hat bekanntlich die bedeutenditen Gelehrten
zu den umvereinbarjten Ulteröbejtimmungen geführt. Und fo hat man
denn erjt in den legten Jahrzehnten den jolideren Weg der inneren In—
dizien bejchritten, den Weg einer gründlichen metrijhen und jtiliftifchen
Forſchung, der freilich jehr mühevoll und noch wenig begangen ijt, aber
fchließlich einmal zu verläßlichen Rejultaten führen wird. Dagegen iſt die
Erledigung der Bacon= Theorie, die nad) Bulthaupt die Zukunft bringen
joll, für die wirflihen Fachleute ſchon zur Beit ihrer Entjtehung erfolgt;
wenn dieje noch jebt hin und wieder ein Wort über jenen nur von der
Unmifjenheit aufrecht zu erhaltenden Wahn verlieren, jo geichieht da3 nur
aus Nüdjicht auf die Laien. Auch wird Bulthaupt unter jenen wmenige
Theilnehmer an feiner Anficht finden, daß dad Bormannſche Bnch dieje
Theorie am leöbarjten und Ffonjequentejten vertritt; mir perfjönlich iſt es
unleöbar vorgefommen wegen der ganz abnormen Qualität feines logifchen
Gehalts. \
Bu dem, was jpätere Ausgaben entbehren können, dürfte aucd die
Lanze gehören, die Bulthaupt für Rümelind Buch über Shakſpere bricht,
da3 jo ſpurlos im Schlunde der gefräßigen Beit verſchwunden ift, mie
jede bloß jenjationelle Schöpfung. Don Quixote jand wenigſtens fompafte
Windmühlenflügel vor, gegen die er kämpfen fonnte; Nümelin jchuf ſich
da8 Ungeheuer, das er erlegen wollte, erit in feiner Phantaſie. Wo in
aller Welt hat denn der Drachen „Shafiperomanie* feinen Schlupfwintel?
Etwa im reife der engeren Shakipere-Gemeinte? Das Shakſpere-Jahr—
buch jpricht ebenfo unbefangene Urtheile über den Dichter aus, wie wir
jie bei Bulthaupt finden. Gewiß giebt es einzelne Shafjperomanen, wie
e3 allerhand andere Manen giebt; aber die haben nirgendwo dad Heft in
TEE —.
542 Notizen und Beiprehungen,
Händen. Daß Rümelin ohne zureichende literarhijtorische Kenntniſſe über
Shakſpere fchrieb, mußte ihm wohl Hingehen; das wirkliche VBerwerfliche
war, daß er mit feinem naiven Kunftverjtande ſich an die Beurtheilung
ded größten: Dichterd wagte. So jchuf er ein geiltreich-oberflächliches
Bud), das ein wahrer Hohn auf unfere nationale Runftbildung war, und
deſſen Bernichter nicht die Shakjperomanen, jondern Männer von ge—
läutertem Gejchmad, wie Bulthaupt, waren.
Zu den ®Beralteten rechne ih aud) die Erklärung der beiden Lieb-
ihaften Romeos durch die Berliebtheit ſeines Weſens, für weiches die
leichter zu erobernde Geliebte die begehrenswerthere gewejen je. Die An
nahme, welche Bulthaupt vertritt, daß Nojalinde von Romeo ebenjo heiß
geliebt worden wäre wie Julia, wenn.fie weniger jpröde gewejen wäre,
it für die Wirkung des Stückes eine recht ungünitige. Wenn wir nicht
mehr an einen ummiderjtehlichen Zug der beiderjeitigen Naturen glauben
jollen, der — eine Schickſalsbeſtimmung — die herrlichen Gejtalten plötzlich
und unauflößfich zueinander reißt, dann bleibt von dieſer verzehrenden
Liebe nicht3 weiter übrig als ein Strohfeuer der Sinnengluth, dann ijt ihr
die Seelentiefe mit der Kraft der Dauer genommen. Die jo prätentiös
auftretende nnd fo jchnell verrauchte Leidenjchaft für Roſalinde erklärt ſich
würdiger durch die italienischen Xiebestheorien, denen der jugendliche
Shakſpere ganz hingegeben war. Dieje jpätplatonijche Liebespbilojophie,
über die man jich leicht unterrichten kann in Simpjond „Philosophy of
Shakespeare’s Sonnets*, nahm drei Stufen der geichlechtlihen Liebe an;
Romeo befindet ſich Rojalinde gegenüber auf der zmeiten, im Zus
jtande der „Fancy“, in dem das Herz für die Aufnahme der wahren
Liebe erjt bereitet und die Phantaſie von jeder reizvollen Weiblich:
feit erregt wird. Das Charakteriftiiche diefer Stufe ift die Unbeitändia-
feit der Neigung, die erjt aufhört auf der dritten Stufe, nachdem zu der
Erregung der Sinne durch äußere Reize der tiefinnere Zug der beiden
nad Ergänzung jtrebenden Seelen getreten it. Es liegt aljo nicht der
geringjte Grund vor, Romeo ald Charakter oder Shakſpere ald Charakter:
zeichner herabzujeßen.
Gern entbehren würden wir in einer neuen Auflage das Kapitel über
„Heinrich VI.“ Wenn man Shakſperes Kunſt daraus entwideln will,
hat man die Verpflichtung. ſich aus den englijchen Arbeiten über dieſes
Drama zu informiren, welche Theile von Shakſpere jind. Es als „höchſt
wahrſcheinlich“ hinzujtellen, daß Shakſpere das ganze Drama, aud) die
lähherlid) rohen Partien des erjten Theiles, gedichtet habe, ijt zwar bequem,
aber jehr unbillig gegen den Dichter. Nach jahrelangen ftiliftifchen Studien,
die jich auch jpeziell auf „Heinrich VI.“ erſtreckt haben, habe ich nicht den
geringjten Bmweifel, daß große Theile aus einer urjprünglichen unfähigen
Bearbeitung des Stoffed von einem anderen Dichter beibehalten find. —
Dagegen ijt e8 in hohem Grade bedauerlich, daß Bulthaupt ſich nicht ent=
Notizen und Beiprehungen. 548
ichließen fann, „Antonius und Kleopatra“, dad Meijterwerf des tiefjten
Seelentenners, zu behandeln.
Bon den Schwächen Shakjperes, die Bulthaupt in der Einleitung aus—
einanderjegt, müjjen wir manche anerfennen, 3. B. die Entwidlungslofigfeit
der Arditektonif feiner Dramen; dagegen ijt eine Entwidlung in der
Eharafterzeihnung, die Bulthaupt bejtreitet, entjchieden vorhanden. Der
plößliche und unmotivirte Gefinnungswechjel gehört z. B. nur den jugend=
lihen Dramen an: bei Leonted und Woljey, die Bulthaupt als Beijpiele
anführt, ijt er nicht vorhanden. Bei Oliver in „Wie e3 euch gefällt“
fommt er unzweifelhaft vor: und Bulthaupt hätte noch Claudio in „Viel
Lärm um nicht3“ und den Herzog in „Was ihr wollt“ hinzufügen können.
Aber die Annahme, daß dieje Dichtungen gegen das Ende des Jahrhunderts
geſchaffen jein jollen, it durch die ſtiliſtiſche Forſchung als Hinfällig erwiejen
worden: die beiden erjten und das Liebesjpiel in „Was ihr wollt“ gehören
nad ihren jtiliftischen Kennzeichen in die erjte Hälfte der Neunziger.
In dem Klafjiker » Verlage des Leipziger Bibliographiichen Inſtituts
iſt eine neue Ausgabe der Schlegel: Tiedjhen Ueberjegung von
dem Profejjor an der Berliner Univerjität Alois Brandl erjchienen*).
Vielleicht ift e8 dem Herausgeber ebenjo gegangen, wie dem Schreiber
diejer Zeilen, daß er ſich in feinen Jugendjahren im Schlegelichen
Shatjpere wurzelfeft gelejen, daß er viele Stellen in Schlegelicher
Fafjung feinem geiftigen Beſitzthum einverleibt hatte und dann in den
legten Jahrzehnten von den verichiedenen Ausgaben diejer klaſſiſchen Ueber:
jegung immer mehr enttäufcht — um nicht zu fagen: abgejtoßen — wurde
durch die „Verbejjerungen“, die gar zu philologische VBerehrer mit dem
Terte vorzunehmen für ihre Gewifjenspflicht hielten. Ach, es waren nicht
viel weniger Berjchlehterungen der Dichteriichen Diktion, als es Be—
richtigungen von Ueberjegungsfehlern waren. Die Grotejche Ausgabe von
Tſchiſchwitz ijt eine vortreffliche Yeiftung: aber wer fann darin zum
Beilpiel „Hamlet“ leſen, ohne fortgejegt geftört und befäjtigt zu werden
durch die Aenderungen eines jchönen Textes, den wir zum großen Theil
auswendig wiſſen. Noch jchlimmer jteht es in diejer Hinfiht um den
arg abgefeilten Text der Eottafchen Ausgabe von Mar Koch. Die Ueber—
jegung der Shakſpere-Geſellſchaft, an der zum Theil Kräfte erjten
Ranges, wie Alexander Schmidt und Hergberg, betheiligt waren, ent—
fernt fi) noch viel weiter von dem Original; fie enthält neun volljtändige
Nenüberjepungen und hat jogar Leijtungen aufgenommen, die gar feine
Ueberjegungen find. Leos fogenannte Macbeth = Ueberjegung iſt weiter
nicht al3 eine mehr oder weniger freie Bearbeitung, in der der Verfafjer
oft genug mit einer fomijchen UWeberihäßung ſeines Vermögens jeine
*) 1897 — 1899. Das Titelblatt enthält unverftändlider Weiſe keine
Jahreszahl.
544 Notizen und Beiprehungen.
eigene jtatt Shakſperes poetijcher Aber fließen läßt. Die von Bodenitedt
herauögegebene Ueberjegung ift zum Theil ganz unabhängig von Sclegel-
Tied, und fie faßt eine Anzahl von meilterhaften Leiftungen in jich: aber
— den alten, lieben Text finden wir in ihr leider nit. Man denke fich,
ein neuer Herausgeber Schiller „verbeſſerte“ Tells großen Monolog oder
die herrlichen Chöre der „Braut von Meſſina“! Man denfe ji, wir
follten die alten, jchönen Bolfölieder, die und unfere Mutter lehrte, im
Alter umlernen! — Etwa Uehnliched verlangen von uns die „verbefjerten“
Ausgaben der Schlegelichen Ueberjegung.
Darum danken wir — viele Taujende! — dem Herausgeber, daß
er und in der handlichen, gut ausgejtatteten und billigen Leipziger Aus—
gabe den alten, unverfälichten Tert wiedergegeben hat und auf die nicht
feltenen ımd zum Theil recht jtörenden Fehler taftvoll in einer An—
merfung aufmerkfjam macht, während er mit Bezug auf die bedeutfamjten
der dunfeln Stellen und die Korrektur offenkundiger Drudfehler am Ende
jede Bandes eine Kleine Anzahl von Bemerkungen zujammenjtellt. Dieje
generelle Zuſtimmung jchließt die Frage nicht aus, ob nicht einzelne be-
ſonders unzulängliche Ueberjegungen von Dorothea Tied und Baudiſſin —
ich denfe bejonderd an „Macbeth“ und „Antonius und Kleopatra“ — für
immer au&gemerzt und durch die ausgezeichneten Arbeiten von Bodenitedt
und Paul Heyie erjegt werden jollen.
Die facherklärenden Anmerkungen, ebenfal3 unter dem Texte, müßten
nach meiner Empfindung mindejtend verdoppelt werden. Auch fcheint es
mir im Intereſſe einer Volldausgabe zu liegen, daß die vorwiegend
literarhiftoriichen Einleitungen um eine eingehendere äjthetifche Würdigung
erweitert würden. Die Lepteren find für die unmifjenichaftliche Meberzahl
der Leſer viel wichtiger ald die erjteren, und ihr Fehlen jtellt ein un—
zweifelhafte® Manko gegenüber der Ausgabe von Gojhe und Tſchiſchwitz
und der von Bodenitedt dar. j
Die Einleitung enthält ein kurzes Leben Shakjperes, ein Kapitel über
das Nachleben Shakipered in England und ein anderes über den Beginn
der Shakjpereverehrung in Deutichland. Die Eintheilung der Dramen
nad) begrifflihen und jtofflichen Geſichtspunkten wird man im jeder
Einzelheit nicht billigen können. Ganz unverjtändlid ift, warum „Eym:
beline*, „Wintermärchen“ und „Sturm“ von den romantischen Dramen
ausgefondert werden unter der Bezeichnung „Romanzen“, „d. h. Stüde mit
berben Motiven, die fi) durch munderbare Fügungen noch in Glüd
auflöfen“ (2). Romanzen waren bisher Iyrifchepifche Gedichte, die, gleich-
viel ob der Grundcharakter der Handlung traurig, glänzend oder fröhlich
war, die ritterliche Empfindungswelt darjtellten. Und nun joll plöglich
ein Trama eine Romanze fein?
Sehr werthvoll find die eingehende, auf authentiicher Forſchung be=
rubende Darjtellung der Entjtehung der Schlegel-Tiedjchen Ueberjegung
Notizen und Beiprehungen. 545
und die Schilderung des Shakſperiſchen Theaterd, auf dejjen arditektonifche
Beichaffenheit eine Reihe von fompofitionellen Bejonderheiten feiner Dramen
zurüdzuführen find. Gegen eine der Grundvorausjeßungen Brandl muß
ich einen entichiedenen Zweifel ausſprechen. Ich glaube nicht, daß in der
Abbildung, die und vom „Swan“-Theater aus dem Jahre 1596 (ſ. das Bild
©. 26) zufällig erhalten it, das Muſter der Shakjperifchen Bühne überhaupt
zu jehen ift. Das auf zwei Säulen ruhende jchräge Dad), das von der
Wand ded Garderoben: Haujes ſich über die hintere Hälfte der Bühne, das
heißt, des bis in die Mitte des Parterres hervortretenden oblongen
Podiums, Hinabneigte, war offenbar nur ein Notbehelf für die Sommer-
theater, deren Parterre die Erde, deren Dad) der Himmel war. Es diente
dazu, die fojtbaren Koſtüme der Echaufpieler vor dem Regen zu jchügen.
Daß dieje fich für gewöhnlich nur auf der unbededten Vorderbühne auf:
halten konnten, erjcjeint mir darum jelbjtverjtändlich, weil die unter dem
Dach agierenden Schaufpieler vom zweiten und dritten Range aus gar nicht
gejehen werden fonnten.
Für die gededten Theater, „Blackfriars“ und die „private theatres“,
die im Winter doch wohl allein verwendbar waren, hätte das Dad über
der Bühne feinen Zweck gehabt und nur zur Beläftigung der Zufchauer,
zur Beſchränkung ihres Geficht3felded gedient. Für fie dürfen wir das
viel jpätere Bild vom „Red Bull*-Theater (1662) als maßgebend be=
trachten, defjen Bühnen-Einridhtung zweifellos volltommener ald die des
„Swan“:Theaterd iſt. An Stelle der zwei ungejchlachten Doppelthore, die
hier von der Bühne ind Garderobenhaus führen, giebt es dort nur einen
Ausgang in der Mitte; er ijt durch einen Borhang verdedt, hinter welchem
fi der und von Alters her befannte erhöhte Alkoven befand, der die Bühne
auf der Bühne („Hamlet“) oder einen abgejchlojjenen Raum, wie Die
Schlafkammer der Desdemona, darjtellte.
Die auf der Bühne aufgehängte Tafel, die den Ort der Handlung
nannte, fann ich nicht mit Brandl al® „fabel*haft auffaſſen. Wenn Brandl
in der befannten Stelle der „Spanish Tragedy“, wo ein Schaujpiel im
Schanſpiel eingeleitet wird mit den Worien „Hang up the title“, das
Wort „title“ als „Thenterzettel“ faßt, jo weiß ich nicht, worauf er ſich
bei diejer Deutung jtügt. „Title“ heißt „Aufſchrift“, und da die folgenden
Worte lauten: „Unſere Szene ift Rhodus“, jo kann e3 ſich wohl nur um
die Aufichrift des Lofald handeln. In einer andern befannten Stelle aus
Sidneys „Apology of Poetry“, die Brandl nicht berüdjichtigt. heißt es,
daß „auf ein altes Thor (im Hintergrunde der Bühne) mit großen Bud
ftaben ‚Theben‘ gejchrieben“ jei. Wie hätte denn auc anders als auf
folhe äußerliche, mechanische Weife das Lofal der Handlung angedeutet
werden fönnen, da ed Kuliffen und Hinterwände nicht gab? Aktprologe,
wie in „Heinrich V.“, waren, zumal in jpäterer Zeit, nur jelten.
Die Annahme, daß die Theater: Konftruktion zu Shakſperes Zeit die
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 35
546 Notizen und Beipredhungen.
mit einer Gallerie verjehenen Wirthhaushöfe, in denen berumziehende
Schauſpieler öfter ihre Borjtellungen gaben, fich zum Mufter genommen
hätte, it nach dem Erjcheinen des Buches von Ordijh über „Die eriten
Londoner Theater“*) nicht mehr haltbar. Ordiſh weit nad, daß die
Amphitheater (Zirkuffe) zu Scauftellungen der verjchiedenjten Art in
England uralt find. In einem ſolchen Amphitheater im alten London zu
Glertenwell wurden Moralitäten aufgeführt; die beiden ältejten Theater
in Zondon, „The Theatre“ und „The Curtain* waren ebenfall3 rund,
und e3 jteht feit, daß dieje keineswegs bloß zu theatralifchen Vorſtellungen.
jondern zu ähnlichen Yweden verwandt wurden, wie die beiden Amphi—
theater, die auf Bankjide (jet Southwarf, Süd-London) jtanden, ehe das
erite Sommer-Theater dort gebaut wurde, und von denen dad eine —
vorwiegend, wenn auch nicht ausſchließlich — zu Bären-, das andere zu
Stierbegen verwandt wurde. Auf einem Plane von London von Braun
und Hoggenberg aus dem Jahre 1572 ſtehen beide nebeneinander; in
Norden? Karte von London aus dem Jahre 1593 iſt eines gefallen; Dafür
jteht in der Nähe ein Schaufpielhaus; dieſe Gebäude find in ihrer äußeren
Geſtalt ebenjo wenig zu unterjcheiden, wie die alten zwei Amphitheater.
Dad „Hope*sTheater wurde nach dem vorhandenen Bau-Kontrakt ſowohl
für ſzeniſche Boritellungen al3 für Stier- und Bärenhegen eingerichtet;
daher mußte die Bühne entfernbar gemacht werden. Daraus ergiebt jich,
daß urjvrünglih für Heben, Preiöfechten, Ringen u. ſ. w. und für
theatralifche Boritellungen diejelbe Gattung von Gebäuden errichtet wurde,
nämlich) Amphitheater. Die Spielhäufer aber nahmen jpäter aus naheliegenden
Gründen — um die Zufchauer näher an die Bühne zu bringen — ſtatt
der runden eine länglidhe, oftogonale Gejtalt an, eine _Gejtalt, die mit der
Form eines Wirthshauſes nichts zu thun hat.
2. Hamlet=Literatur.
Bu den werthvolleren Büchern der beiden letzten Jahre gehört die
Schrift „Darftellung krankhafter Geiftedzuftände in Shakſperes
Dramen“ von Dr. Hand Laehr**. Der bei Weitem größte Theil des
Buches wird von einer Schilderung Hamlets eingenommen, die einerjeits
offenkundig auf der neuejten Hamlet =» Literatur aufgebaut ijt, andererierts
aber ihre eigenen Wege geht. Laehr ftellt feit, daß die natürliche Per:
jönlichfeit Hamlet3 feine anbere fein kann als die, die und Opheliad und
des Fortinbras Worte jo deutlich zeichnen — eine vielfeitig große, helden—
hafte. — Dieje eigentlich jelbitverjtändliche Anficht jcheint nun endlich
nach hundert Jahren, in denen die Kritik ein Phantafiegeichöpf an Stelle
de3 wirklichen Hamlet zu jeben pflegte, durchzudringen. — Das Werth—
*) T. Fairman Ordish: Early London Theatres. London, Elliot
Stod. 2d Ed. 1899 (1. Ausg. 1894).
**) Stuttgart, Baul Neff. 1898.
Notizen und Beiprehungen. 547
vollite an dieſer Darjtellung ift, daß hier ein Piychiater verfichert, daß
ein herrlich gejundes Wejen durch furchtbares Unglüf mit einem Schlage
ſich in fein Gegentheil verkehren kann. Hamlet ift nach Laehr nicht etwa
wahnjinnig; er befindet ſich nad) der Erſcheinung des Geiſtes nur im
Zuftande der Nervenüberreizung, hervorgerufen durch lange Gemüths-
aufregung vor der Enthüllung des Geiſtes und durch die ihr folgende
Schlaf und Appetitlofigkeit. In dieſem Zuſtande kann Hamlet nicht
mehr thun, was er will (an jeinem Wollen zweifelt Laehr nicht) und
was er jonjt jeiner Natur nad) wohl gelonnt hätte. Da nun Hamlet?
naheliegende Gewiſſensbedenken und die großen Schwierigfeiten, die in
jeiner Situation liegen, nicht berüdjichtigt werden, jo haben wir ed mit
einer reinen Srankheitögejchichte zu thun, die doch, wie Laehr ſelbſt zugiebt,
Sbhakſpere nicht hat jchreiben wollen. Die anderen Schilderungen — von
König Lear, Ophelia, Lady Macbeth — meijen die vollflommene Ueber—
einjtimmung der Srankheit3äußerungen bei Shafjpere mit des Verfaſſers
eigenen Erfahrungen nad; bei Lear begeht der Verfajjer den Fehler, im
Gegenſatz zu Hamlet eine natürliche krankhafte Dispofition vorauszujegen.
Werthvoll ijt die Auseinanderjegung über die „ärztlichen Anfichten des
Zeit Shakſperes“ und die Zufammenjtellung der Literatur diejed Jahr—
hundert3 über Shakſperes Seelenkranke — nicht weniger als 36 Schriften
und Bücher. Das Buch ijt übrigens gut gejchrieben.
Mit dem über Laehrs Hamlet-Auffafjung Gejagten ijt nahezu das
Urtheil geſprochen über dad forgfältig ygearbeitete Buch von Gujtad
Sriedrih über „Hamlet und feine Gemüthdfrankheit.*) Der
Verfaffer geht von dem nämlichen Ausgangspunfte aus wie Laehr: von
Natur iſt Hamlet ein willensjtarfer und geijtesfräftiger Menſch. Der
Gram aber, der ihn nad) der Enthüllung des Geiſtes erfaßt, macht ihn
nervenfrant und verjegt ihn in einen Zuſtand der „Entjchließungs-
unfähigkeit“, die Friedrich ald „Willenshemmung* bezeichnen möchte.
Hamlet fann nicht nur nicht thun, was er doc will — wie bei Laehr —
fondern er kann überhaupt nicht wollen. Das Eigenthümliche dieſer
nod nicht genügend erforjchten Seelen- oder Willenskrankheit ift, daß „ſie
als jolhe gar nicht ind Bemwußtjein tritt, vielmehr dem Kranken ſich
jtet3 in Gejtalt eines meift jcharffinnig erdachten Motiv gegen die momentane
Ausführung der beabjichtigten That darſtellt.“ Darauf beruht das Tragijche
des Schickſals Hamlets: er wird ſich felbjt zum Näthjel. Er erkennt die
Nothiwendigkeit der zu vollziehenden Handlung, er weiß, daß er die Mittel
des Vollzuges in Händen hat, will fie daher vollziehen und fann es nicht.
Sobald er zur Ausführung des Mordes jchreiten will, jchiebt ſich ein uns
bewußter innerer Widerjtand vor die That. Am vollfommenjten fenn=
zeichnet Hamlet diefe ihm unbewußte Krankheit im Monolog des zweiten Aktes.
*) Heidelberg, &. Weiß. 1899.
35*
548 Notizen und Beiprehungen.
Das ijt ſehr fein erdacdht, und ich zweifle ebenfowenig wie der Ver:
faffer an der Möglichkeit einer ſolchen Willenserkrankung. Woran id)
aber zweifle, ijt, daß der geſunde Shakſpere die Abſicht hätte faſſen
fönnen, und einen Krankheitsprozeß als tragiſches Objekt vorzuführen.
Erkrankung ift ein Schidjal, aber fein tragiſches. Das moderne tragijche
Schidjal entipringt nit aus der Feindichaft der Götter, fondern aus
den Charakteren der Menſchen: aus den Handlungen, in denen fich
ihre Charaktere projiziren, und aus den BZujtänden, die ihre Handlungen
ſchaffen.
Profeſſor Albert H. Tolman (von der Univerſität zu Chicago) ent—
wickelt ſeine „Auffaſſung der Auffaſſungen Hamlets“*), die in dem
zweiten Bande der Rieſen-Ausgabe des Dramas don Furness zuſammen—
geitellt find. Dieſes allerdings reiche Material, dad die verjchiedenen
Anfichten vermitteljt umfangreicher Zitate aus den betreffenden Schriften
darstellt, reicht indejjen nur bi8 Baumgart, dejlen Buh „Die Hamlet:
Tragödie und ihre Kritik“ 1876 erjchien. Die mafjenhaften Schriften, die
feitdem in Deutichland erjchienen find, — die englijchen fallen weniger ins
Gewicht — find daher, mit der einen Ausnahme Loenings, garnicht ver:
merthet. Die Pointe der Schrift iſt die Meinung, daß die einzelnen
Seiten im Charakter Hamlets, auf welche die verjchiedenen Interpreten ihr
bejondered Gewicht legen, Sich keineswegs immer widerjprechen und einige
von ihnen in Gemeinjchaft vorhanden jein mögen. So erflärt fich die
Unthätigfeit Hamlets nad) des Verfaſſers Anficht jowohl aus einer Neigung
zur Neflerion, als auch aus Willensſchwäche und Melancholie; welche von
diefen Eigenichaften das Hauptagens jei, könne nicht entjchieden werden.
Ebenjo mögen ihn auch jeine Gewiſſensbedenken hinſichtlich der Blutrache
und jein Abjchen vor dem Morden zurüdgehalten haben. Dagegen kann
der Verfaſſer praftiiche Hindernifje, die in der Aufgabe ſelbſt liegen, nicht
anerfennen ; das heißt freilich, vor der ganz realen furchtbaren Schickſals—
verfettung die Augen jchließen.
Auch Hält er e8 mit Kenny, March u. 9. für nicht unmöglich, dab
zwei unvereinbare Urbeitsihichten in dem Drama aufeinander lägen, Die
Urſchicht eines alten, verloren gegangenen „Hamlet“, in dem der Prinz
handelte, und eine jpätere Sicht von Shakſperes Hand, die einen reflef:
tirenden Helden darjtellte. Aber die Annahme eines „Urhamlet“, der
von Kyd war und nit von Shakſpere (Sarrazin), ijt eine müßige,
weil durch nicht zu jtüßende Hypotheſe. Und die Ungereimtheit, eine
Schöpfung wie „Hamlet“ Hinfichtlic) ihres Kompofitiondmwerthes mit
„Zimon* gleichzujtellen, kennzeichnet ebenjo deutlich die Stufe des Kunſt—
verjtanded jener Autoren, wie die Verzweiflung, aus den mannigjadhen
) A View of the Views about Hamlet. Baltimore, 1898. (The Modern
Language Association.)
Notizen und Beiprehungen. 549
Lebensäußerungen de3 Helden ein einheitliched Weſen herauszulejen, von
der Schwäche ihrer pſychologiſchen Ertenntniß zeugt.
Biel bedeutender it Hugo Traut3 „Hamlet Kontroverje“*)
troß der offenfundigen Jugendlichkeit des Verfaſſers. Es iſt wahr, er
flanirt zu viel auf den ferner und fernjtgelegenen Gebieten feiner Lektüre
umher: nicht bloß Sophofles, Gutzkow, Wildenbrud, Hauptmann werden
zur Durdleuchtung der Hamlet-Frage herangezogen, jondern auch Knigge,
Sader Maſoch, Lechleitner, Reinhold Ortmann, Robert Miſch u. A. Auch
verdeden ihm Titel und Nanıen häufig noch die literarische Sndividualität,
die er jpäter einmal jicher erfennen wird; es ift 3. B. nicht nothwendig,
daß ein Bud, welches ein Profejjor der Philofophie über „Hamlet“
jchreibt, bedeutend jein müßte. Es ijt das Traurige, daß jo viele von
den Hamletsfritifern geglaubt haben, fie könnten eine reine Kunjtfrage
mit dem bloßen Berjtande löjen, während die Kräfte einer lebhaft und
jiher jchaffenden Phantajie, einer tiefen und zarten Empfindung ebenjo
unerläßli jind zur Haren Anſchauung, wie zur Erzeugung eined Kunft=
werfed. So ijt 5. B. Dörings „Hamlet“ troß allen redlichen Bemühens
eine wirklich unbedeutende Leiftung, weil dieſem Philofophen jene Kräfte
abgehen; und der jugendliche Traut ijt viel bejjer befähigt zu einem Ur:
theil über Hamlet, weil er jene rezeptiv Eünjtlerifche Beanlagung, ohne die
ein echter Kunſtkritiker nicht denkbar iſt, beſitzt. Er ijt ein hoffnungsvoller
Schriftiteller, der außerdem zu feiner Aufgabe die Kenntniß der neuejten
HamletsLiteratur mitbringt.
Seine Auffaffung Hamlet3 ift eine moderne: defjen Thatlofigfeit ijt
nicht die Folge jämmerlicher Eigenjchaften feiner Natur, welche ald eine in
jedem Sinne große, aljo auch heidenhafte erjcheint, fondern der jchwierigen
Situation, in der er jich nach der Enthüllung des Geijtes befindet. Traut
vertritt Werder gegen Baumgart. Das ausjchliegliche Gewicht, daS der
Leptere auf die humane Lebensanjchauung, die hohe Bildung Hamlets legt,
erfennt er al3 einjeitig an. Dagegen jieht er nicht, daß die Aufgabe, die
der um Hamlet jo hochverdiente Werder dem Helden jtellt — das verlegte
Recht vor den Augen der Welt wiederherzuftellen und Rıchter, nicht Rächer
zu ſein — nit bloß aus feiner Zeile des Stückes herauszulejen, jondern
abjolut unmöglich ift, da der Hauptzeuge für eine jolche Rechtshandlung
aus der andern Welt jich nicht zitiren läßt. Auch find die Betäubung des
Geiſtes, die tiefe Verftimmung der Seele, welche die natürlihe Folge
eined jo umerhörten Schickſalsſchlages find, nicht genügend in Rechnung
gezogen.
Dur die Leltüre der Trautichen Schrift bin ich auf eine andere
aufmerkſam geworden, die, in einer Fachzeitſchrift verjtecdt, mir entgangen
war. Sie rührt von dem bekannten Moliereforscher Humbert ber und
*) Leipzig, Seele und Co. 1898.
550 Notizen und Beiprehungen.
gehört zu dem Allerbejten, was über „Hamlet“ gejchrieben ijt. Der Titel:
„Hamlet oder die hriftlich-jittlihen Jdeale und das Leben“*)
deutet die Tendenz des Verfafjerd an: die Tragödie foll „den Schmerz
des Spealijten über den Widerfpruch zwiſchen den chriftlich = fittlichen
Idealen und dem Leben darjtellen.” Nach einem reichhaltigen Ueberblid
über die Auffafjungen feiner Vorgänger entwidelt Humbert an der Hand
der Handlung die Bedeutung der einzelnen Reden und Thaten Hamlets
in ruhiger, tief einficht3voller Weife und kommt dabei zu folgenden
Rejultaten.
Hamlet ift, wie Ophelia und Fortinbras ihn fchildern; auch jeine
Selbitichilderung Roſenkranz und Güldenjtern gegenüber zeigt uns, daß
er vor dem Tode jeined Vaters das Gegentheil von einem melancholiſchen,
thatiheuen Grübler war. Er ijt eine tiefreligiöje Natur; feine Ueber:
zeugungen jind die der fatholiichen Kirche, aber in jeinem freien Denken
zeigt er zugleich einen protejtantifhen Zug. Daher feine Vorliebe für
Wittenberg; denn Wittenberg iſt Quther. Hamlet liebt eben die Geiſtes—
helden. die das Schwert des Worted furdhtlos und wirkſam zu führen
wiſſen; er ijt jelbjt ein jolder. Zu feinem freien Denken, feinem fcharfen
Verſtande gejellt fich eine tiefe Fünftlerifche Begabung. Als überzeugter
Chriſt ijt er fittlicher Sdealift, und die Verftimmung feiner Seele hat
nur in jeinem enttäujchten Idealismus ihren Grund. Aber Hamlet iit
nicht nur ein Geiftesheld, jondern auch ein Held der That, und Shakſpere
fennzeichnet ihn als foldyen auf die nachdrüdlichite Weile. Seine Freude
an der Waffenführung bejtätigt ihm fein Oheim ſelbſt. Wenn er nadı
den höchſten Nepräjentanten der Menjchheit jucht, jo find dies ihm die
Männer der That, Alerander und Cäſar. Sein fürjtlich kriegeriſcher
Sinn duldet feine Verlepung, ja, feine Bejchränkung feiner Perſon: das
zeigt er bei vielen Anläfjen, beim Berjchwinden des Geiſtes jeinen
Freunden gegenüber, bei der Tödtung des Polonius, im Gefecht mit den
Seeräubern, im zweimaligen Kampfe mit Laerted, und nachdem er den
König als jeinen und feiner Mutter Mörder erkannt hat. Er verhält
fih das ganze Stüd hindurch offenfiv gegen alle jeine Widerjaher. Er
weiß die richtige Gelegenheit, jobald fie jich zeigt, ſofort praltiſch zu ver-
werthen, wie die eriten Worte nad der Verkündigung der Ankunft der
Schaujpieler zeigen; und ſelbſt in der tiefiten Erregung, wie nad dem
Verſchwinden des Geijtes, ift er im Stande, einen momentanen Entſchluß
über das, was zunächſt gejchehen muß, zu fallen, wie er überhaupt in
den Augenblicken ver leidenjchaftlichiten Empfindung nie ohne Selbſt—
beherrichung iſt. Je näher er der Nachethat tritt, dejto ruhiger wird er;
jo nachdem er die Gelegenheit gefunden hat, des Königs Gewiſſen zu
prüfen, und nachdem er auf der Seereife die fiherften Beweiſe von der
*) N. Jahrb. für Phil. und Päd. 2. Abtbeilung, Het 3—5 (1896).
Notizen und Beiprehungen. 551
Schurkerei des Königs in Händen hat. — Von einer Schuld iſt bei ihm
feine Rede; der Tod iſt ihm nicht Strafe, ſondern Erlöſung.
Man kann Humbert faſt in jedem Punkte beiſtimmen, nur nicht in
der Auffaſſung Ophelias, die er zu tief unter den Helden ſtellt. Auch
über ſie giebt uns Shakſpere ſein unzweideutiges Urtheil ab in der
Stellung, die er ihr zuweiſt, zunächſt dem Herzen ſeines Helden und in den
Worten der ſündigen Königin, die ſie ihr mit den Blumen in das Grab
nachſendet: „Der Süßen Süßes.“ Es iſt faſt verwunderlich, daß ein
Mann von fo feiner Empfindung, wie Humbert, dieſe reizvolle Frauen—
geſtalt nicht als das erkannt hat, was ſie iſt: eine zarte, ſcheue Mimoſe,
oder, wie Mrs. Jameſon jo ſchön jagt, ein weißes Täubchen, das wider:
ſtandslos vom Schickſalsſturme mitgerifjen wird.
Die Lektüre dieſer tief dDurchdachten und gefühldwarmen Schrift macht
einen berzerfreuenden Eindrud gegenüber den zahlreihen Verletzungen,
die der bloße, beichränfte Verſtand dem herrlichſten aller dichterijchen
Geihöpfe, der großartigften Tragödie der Weltliteratur fort und fort
zufügt.
Auch die Freude an der Änterpretation diejed Kunſtwerkes nimmt
niht ab. So iſt in diefem Sahre Schlegeld „Hamlet“ erläutert
erichienen von Eduard CEoßmann*), defjen zahlreiche Anmerkungen Manches
berichtigen und aufflären, was Schlegel falſch oder jchief aufgefaßt hat.
In einer Anzahl von Fällen irrt der Verfaſſer, aber in der Mehrzahl
behält er Schlegel gegenüber Recht, und die Aenderungen, die er vorjchlägt,
find meijt wohlbegründet und ſprachlich fein formulirt.
(Uebernomm. m. einigen Kürzungen aus dem „Ritterarifhen Echo“,
II. Jahrg, Heft 4 und 5 [15. Nov. u. 1. Dez. 1899)).
Buhdramen.
Unter einigen Dramen, die alle das gleich jtarfe aber noch unerfüllte
Berlangen nach dem Licht der Nampen gemeinfam haben, ſeien zunächit
zwei öjterreichijche genannt: „Familie Wawroch“ von Franz Adamus**) und
„Michel Gaiszmayr“ von Franz Sranewitter.***)
Adamus wandelt gelegentlich in Zolas, öfter in Hauptmanns Spuren.
Jene Szene, in der die wild gewordenen Weiber Nahe an dem profit-
gierigen Wirth nehmen wollen, findet fich in ähnlicher Weife im „Germinal“.
Die fchlefischen Weber Hauptmanns find bei Adamus durch czechijche
Grubenarbeiter erjeßt. Selbit das Weberlied findet jeine übrigens durch—
) Baris, Firmin Didot & Eie. (D. 9%.)
*) Verlag von Albert Langen, Münden.
**) Berlag von ©. Fiſcher, Berlin.
552 Notizen und Beiprehungen.
ans nicht unwirkſame Parallele. Endlich greift aud hier zum Schluß das
Militär ein, jedoch von vornherein mit Erfolg. Mit diejer Aufzählung
von Mehnlichkeiten, die übrigend garnicht aufgefpürt werden brauchen,
fondern auf der Hand liegen, ſoll Adamus durchaus nicht von vornherein als
Ihwächliher und unfelbjtändiger Nachahmer Hingejtelt werden. Man bat
überall Plagiate auffpüren wollen. Bekannt ijt der Fall, in dem Leſſing
die unrechtmäßige Benutzung Anderer nachgewiefen werden ſollte. Von
modernen Yutoren hat man Knut Hamfun als Schuldner Doftojewätis
in Anklagezuſtand verjegt, und D’Annunzio, der große Staliener, joll gar
aus aller Welt und aller Zeit feine Werke zufammengejtohlen haben. Ent:
ſcheidend für die Selbjtändigfeit eines Autord dürfte aber in erjter Linie
faum die Erfindung der Situationen und Findung des Stoffs fein, jondern
vielmehr die Selbjtändigkeit der Anſchauung und inheitlichleit der
Empfindung. Das Perſönliche jollte immer jchwerer wiegen, ald das
Stofflihe. So kann auch Adamus feine Eigenart gegenüber dem Dichter
der Weber ruhig behaupten. Das Unterjchiedliche liegt, abgejehen von dem
anders gearteten Milieu, vor Allem in der individuellen Zufpigung, die
Adamus feiner Tragödie giebt. Er zeichnet nit nur dad große, graue,
eintönige Mafjenelend, jondern er hebt aus der Mafje beitimmte Perjonen
heraus und läßt deren Schickſal ſich vollenden. Es ift der Konflikt in der
Familie Wawrod, der ſich bejonderd zwifchen Vater und Sohn bis zum
Aeußerſten zujpigt. Der alte Wawroch ijt ein Trinker, Tagedieb und
Wichtigthuer. Beſonders groß kommt er ſich vor in feiner Stellung als
Vertrauensmann der Sozialdemokratie. Als es unter Anreizung und
Leitung einiger au8 Wien gejandter Agitatoren zum Streit und Aufrubr
fommt, geräth der Alte mit jeinem Sohn Robert in Konflikt. Robert hat
es als jtrebjamer, fleißiger, ordnungd- und rubheliebender Mann zur
Stellung eined Maſchiniſten gebracht und das ift im Verhältnig zur Lage
des Grubenarbeiter8 jchon eine Art Herrenjtellung. Robert hatte als
Nüngling den innigiten Wunſch, nod) weiter zu fommen, bis zum Ingenieur.
Die Fähigkeiten dazu hatte er jicher, wenn nur der Vater die Mittel dazu
hätte geben wollen. Der aber vertrant und vergeudete Alles, verlor jeine
Stellung und lebt nun von dem, was Frau und Sohn verdienen. So ift
es gefommen, daß Vater und Sohn ſich halfen. In einer Arbeiter
verjammlung, in der jein Vater den Vorfig führt, jpricht Robert, von
ehrlicher Ueberzeugung geleitet, gegen den ſozialdemokratiſchen Agitator: „a,
Gleichheit wie im Grabe! Nur eine Meinung im ganzen Land, auf der
ganzen Erde! Na natürlih! Ihr wollt ja Alles uniformiren! Der jetzige
Staat is nod) barmhberzig, gnädig, verglichen mit Euch; er uniformirt nur
die Soldaten, nur ein paar Leute, und nur von außen, feine Kafernen find
nur für Soldaten: Ihr aber wollt auch die Gedanken, Gefühle, Wünſche.
kurz Alles, Alles in eine ſchwarze Uniform fteden und die ganze Welt in
eine Kajerne verwandeln!“ Dies ijt die nicht gerade tiefe, aber ehrlich ge
Notizen und Beiprehungen. 553
meinte Weisheit dieſes Sozialiftenfeindes. Ob der Maſchiniſt für feinen
Muth, den Arbeitern entgegenzutreten, Obermajdinift werden wird? Im
Gegentheil. Gr erhält feine Kündigung. Und das geht jo zu. Die
Arbeiter find bejonderd auf ihn empört und wollen mit ihm nicht zus
fammen arbeiten. Dem Unternehmer liegt daran, möglihjt bald Ruhe zu
erhalten. Statt num die materielle Forderung der Arbeiter zu bewilligen,
giebt der Schlaufopf ihrer ideellen nad); er jchmeichelt ihrem Solidaritäts-
gefühl und giebt den Maſchiniſten Robert preis. - Der verliert Stellung und
Brod und mit ihm die Familie, deren Ernährer er war. Er, der Mann
der Ordnung und Disziplin, geht wieder zu der Kompagnie in der benach—
barten Stadt zurüd, in der er früher jeiner Militärpflicht genügt hatte.
Die nothleidenden und aufgehepten Arbeiter beruhigen ſich nicht jo jchnell.
Sie wollen alle Forderungen bewilligt erhalten. Sie ziehen in Rotten
umher und zerjtören die Werte. Militär wird herbeigeholt. Die Mafje
will nicht weihen. Es muß gejchofjen werden ; eine Kugel aus Roberts
Flinte trifft den alten Wawrodh. Der Sohn Hat den Bater erjchofjen.
Das könnte jchon ein Schluß fein, ein peſſimiſtiſcher Schluß, der da be—
deutete: jo jehr it die Natur von dem, was gejellichaftliche Ordnung heißt,
vergemaltigt, daß fich töten muß, was auf Innigſte zujammenjtehen jollte.
Der Dichter aber hat ed noch anders beitimmt. An der Stätte, an der das
Blut aufrührerifcter Bürger geflofjen ift, jeßt das nad) eingetretener Ruhe
wieder froh und fromm gewordene Unternehmertum ein Kreuz, zur
Sühne und Mahnung. Dieſes Kreuz wird in Anweſenheit eines hohen
Regierungdvertreterd und unter Anſammlung der ehrjürdtig jtaunenden
Maſſen feierlich enthüllt. Angeſichts des Kreuzes gejteht Robert, daß er
jeinen Vater nicht aus Zufall erſchoſſen hat: „Aller Jammer und alles
Elend, was über und gefommen is, das hab’ ich in ihm verkörpert ge=
jehen, damald! Wie er damals da oben gejitanden is, beraujcht, die
bejoffenen Kerle mit wilden Worten aufhegend, das Hemd aufgeriffen und
immer jchreiend und mit den Händen juchtelnd — jo gemein, jo pübel-
haft gemein! — was ich in meinem ganzen Leben erduldet hab’ von ihm
— umd von Anderen, aller Sammer und alle® Elend — mein ganzes
verpfujchtes Qeben — das hab’ ich mit ein'mal in mir gejpürt — lehendig
— und eine Erbitterung hat mid; gepadt — nit ihn — nein! ala
müßt’ ich Gott vom Himmel herunterreißen und vor meine Kugel ftellen!
Rache! Race! hat’3 in mir gejchrien — Rache für mein verpfufchtes
Leben! Rache fir Alles, was in mir brutal zertret'n word'n ijt! Und
mein Finger hat ſich Frampfhaft um das Gewehrzüngel geichloffen — und
— und — dann wurde es mir ſchwarz vor den Augen — und was
weiter gejchehen id, weiß ich nich ....“ Der Dichter treibt die Dinge
jtarf, jajt frampfhaft zur üäufßerjten Epige, aber ohne Einfeitigfeit. Er
ergreift nicht Partei. Alle find fie jchlecht und verfommen: Arbeiter
und Unternehmer, Sozialdemokratie und Regierung. Robert, der im
554 Notizen und Beiprehungen.
Grunde der Seele ein guter Menjch ijt, muß in dieſer Gejellichaft und
bei diejer Staatdordnung zu Grunde gehen, zum Verbrecher werden.
Vielleicht nicht ohne fymbolifche Bedeutung ragt am Schluß das Kreuz
mit dem ©efreuzigten über die Bühne, die eine jo elende Welt bedeutet.
„Erlöfe und von dem Uebel“ — das ift die Schlußjtimmung, die dieſe
Tragödie hinterläßt. Wenn auh — wie bemerkt iſt — der Dichter
Alles bis zur Spihe treibt, jo iſt doch zu bedenken, daß dieſe äußerite
Spige ſich auf einer gut und breit angelegten Bajis erhebt. Das
Milieu ift — unter Verwendung von fünf Dialeften — jorgfältig heraus-
gearbeitet, und die einzelnen Perjonen find in ihrer Individualität genau
geihaut und getreu wiedergegeben. Gerade die Bereinigung naturali:
jtiiher Treue in der Gejtaltung der Perjonen und theatraliicher Be—
gabung in der Herausbringung der Effekte läßt auf ein wahrhaft drama
tijihed, wenn auch noch in jeiner Jugendlichfeit unausgeglichene® Talent
ſchließen.
Ein ſoziales Drama ähnlichen Gehaltes, wie das eben beſprochene,
iſt auch Kranewitters „Michel Gaiszmayr“. Es behandelt den Aufſtand
der Tiroler Bauern und Bürger im Jahre 1625. Sie werden geknechtet von
dem Fürſten, dem Edelmann und dem Pfaffen. „Dem Edelmann, die Frucht
gehört ihm, die ihr ſaurer Schweiß der Erde abgetrotzt, dem Edelmann,
der Zins und Geld und Rabatt fordert, um bei Wein und Weib der
Luſt zu jröhnen, deren Tafel der Armen Hunger dedt. Weh diejen, drei
Mal weh, wenn Himmel! Ungunjt oder Roß und Hund des Herrn,
wenn jein Gejaid die Saat’n in den Bod'n jtampfte. Mit Stahl um-
panzert hat er jeine Bruit, mit Eis fein Herz, und falt'n Hohn's
entgegnet er dem Bau’r, der, ihn um Nachſicht bittend, fommt: Zahl oder
jtirb,* und treibt ihm weg von jeiner Hütt'n. Nicht befjer treibt’3 der
Pfaff. Auch ihm gilt's zu robott'n und zu zinſ'n von früh bis jpät,
und was einjt Baljam war, des Herrn Wort, das ijt jegt Gift, jeitdem
e3 Geißel ward in feinen Händen. Mit Ablaßkram und Bilderdienit
umnachtend feiner Scäflein Heerde, ſitzt eine Rieſenſpinn' er did im
Nep, der Mermiten aller Armen, der Wittwen und der Waijen Gut
verzehrend. Bei Gott, wenn er geboren, muß der Landmann bledh'n,
und wenn er jtirbt, jein Letztes nimmt der Pfaff. So leb'n Alle vom
Bauern; armjelig, ein Lazarus, bededt mit Schwär'n und mit Wund'n
jchleiht er dahin auf feiner Scholle. Mit jedem Jahr frümmt fich jein
Rück'n tiefer, wird fein Fußtritt ſchwerer, bis er endlicd), jtumpf an Geift und
Herz, ein Hohn des höchſten Schöpferwillen, der ihn als nächſtes Eb’nbild
erihuf, darin verſinkt.“ So fieht Michel Gaiszmayr, der Führer der
Bauern, die Dinge an. Anders ijt die Auffafjung des Edelmanns:
Der meint, „daß das die Ordnung ift, wie fie Gott g’jegt bat. Ciner
muß Herr jein und wieder einer Sinecht, und weil i einmal der Herr bin
durch jeine Gnad — bei Gott's Marter, will i's auch recht jein, verlang
Notizen und Beiprehungen. 855
i, was mir bührt und zulommt, nit mehr und nit weniger, nach altem,
ewig feitg’jegtem Necht !* Unter Führung Michel Gaiszmayrs empören ſich
die Bauern und ziehen brennend und mordend, vor Allem aber plündernd
durchs Land. In diefer Gefahr greift der Statthalter Salamanka
zu dem Mittel, die Aufrührer durch Berjprechungen zu beruhigen. Die
dummen Bauern laſſen fich wirklich von dem fchlauer Spanier umgarnen,
zerjtreuen fich und kehren heim, theilweis wenigſtens — der andere, Kleinere
Theil möchte weiterfämpfen. Aber jelbit Gaiszmayr hofft nichts mehr und
räth zur Heimfehr. Da erhält er die Nachricht, daß fein gefangener
Bruder graufam hingerichtet iſt. Auf diefe Schredendfunde hin erklärt er
jich bereit zu einerı Schritt, den er früher zu thun fi) gemeigert hatte.
Er will nad Venedig eilen und den äußeren Feind zur Unterjtüßung der
Bauern ind Land holen. Doc dazu fommt ed nicht. Denn er wird, für
vogelfrei erflärt, von einem jpaniichen Kriegsknecht meuchlingd ermordet.
So endet der Tiroler Bauernaufjtand damit, daß die Willfür und Grau—
famfeit der Herrichenden ſchwerer denn zuvor das gefnechtete Volk peinigen.
Das Drama ijt theatraliſch wirfjam und äußert bühnengerecht aufgebaut.
Eine Reihe von Szenen, in denen dad Elend des Volkes dargelegt wird,
find in ihrer Knappheit und dramatiichen Steigerung jehr gut gelungen.
Das Tragiiche in diefem Drama ijt darin zu erbliden, daß die Bauern
im Grunde durch eigene Schuld bejiegt werden, wie es auch eine der Per—
fonen offen ausſpricht: „Das ift’3 g’wei’n: Sie hab’n uns nit b’fiegt, ſelbſt
hab'n wir und b'ſiegt und and Meſſer g’liefert, weil wir, jtatt z'nehmen,
uns aufs VBerhandeln eing’lafj'n, weil Jeder nur auf jein Fell, auf fein’
Vortheil g’fchaut, weil wir nit einig war'n.“ Das ift das tragijche Ver:
hängniß dieſer Bauern, im Elend jo jehr verfommen zu fein, daß fie, faum
frei geiworden, der freiheit al& unwürdig jich erweifen. Das ijt das wahre,
das tragische Unheil der Noth, daß fie nicht nur unglüdlich, fordern aud)
ſchlecht macht. —
Soziale Tragödien werden heutzutage in manchen Kreiſen ganz be—
ſonders geſchätzt. Ich ſelber halte die ſoziale Tragik für den niedrigſten
Grad des Tragiſchen. In ihr beruht das Tragiſche auf beſtimmten Ge—
ſellſchaftszuſtänden, von denen die Menſchen und ihr Geſchick abhängig find.
Es find das eigentlich materialijtiiche Tragödien, die den Marxſchen Saß
zur Geltung bringen: „Es iſt das gejellichaftliche Sein, wodurd) das Be:
wußtjein der Menjchen bejtimmt wird.“ Solche gejellichaftlihen Verhältniſſe
find doc) jtet3 vorübergehender Art. Es giebt aber eine Tragif, die aus
einem Zwieſpalt jtammt, der der Weltjeele und dem Leben an fich eigen ilt.
Dad ijt ein ewig währender, geheimnißvoller Dualismus, der in jeinem
ureigenjten Weſen nicht verftandesgemäß zu erfennen, wohl aber in taus
jenderlei Gejtalten zu empfinden iſt. So halte ich denn 3. B. Hauptmanns
„Friedensfeſt“ für ein tiefered Werk als dejjelben Dichters Weberdrama.
Auch das individuelle, au der eigenen Seele jtammende Schidjal des Fuhr—
556 Notizen nud Beiprehungen.
manns Henjchel wirft ergreifender, als alles thurmhod) gehäufte Weberelend.
Uebrigens ift im großen Ganzen die Mode der jozialen Tragödie bereits
überjchritten und an die Stelle einer Tragödie der Gejellichaft die Tra—
gödie der Seele wieder in vertiefter Weife zur Herrſchaft gelangt. —
Als ein individualijtiiches Seelendrama it „Don Pedro“, Tragödie
von Emil Strauß*), aufzufaffen. Bon einer Vertiefung babe ich aller=
dings nichts finden können. Ich hatte dad Buch fchon fait zu Ende
gelejen und fragte mich noch immer: Was joll dad Ganze eigentlih? Der
Statthalter Don Pedro de Luna hat ein jchöned und vornehmes Mädchen,
Siabella, geheirathet. Er liebt aber Donna Juana de Menezed umd findet
bald nad) der Hochzeit Gelegenheit, ihr feine Liebe zu gejtehen. Sie weiſt
ihn ab, da fie jchon die Verlobte des Leutnants Don Bernardo de Aguilar
iſt. Den tödtet er. Pedro ijt bereit, Alled zu vernichten, was ihm hindernd
in den Weg tritt und Nuanas Liebe zu erzwingen. Er überwindet in der
That unglaublihe Nöthe und Gefahren und erreicht jchließlich, daß Juana
erklärt, jein Weib werden zu wollen. In dem Augenblid jtirbt er, vom
Ueberſchwang des Glücks ins Herz getroffen. Was joll dad nun? Was
bedeutet e3, daß Pedro ohne Bedenken und Gewiſſen jein rechtmäßiges
und ihn vergötternded Weib verläßt und einer anderen Liebe unter taujend
Gefahren nahjagt? Don Pedro giebt gegen den Schluß ded Dramas
jelber jolgenden Sinn jeined Lebend an: „Wozu hätte ich gelebt,
wenn ich nicht meine ganze, ganze Sraft dazu verbraucht hätte,
die Ungefügigfeit, Armuth und Schmerzhajtigfeit dieſes Lebens zu
mindern, indem ich wenigitend meiner Noth Herr zu werden fuchte?
. Da wirbelt nun vor und ein Strom feindlicher Gewalten, an
dem ich meine Kraft erproben, den ich durchichwimmen muß zum Ufer
friedlichen, geficherten Wirkens hinüber. Wer mir im Schwimmen
den Weg verlegt, den muß id; ermwürgen können, jonjt war id) die
Probe nicht wert! Nur die fiegreiche Kraft ift die rechte Kraft zum
Frieden und zur fortwirfenden Beglüdung. ... Auch ich habe Stunden
gehabt, wo ich verjunfen dahocdte, jchaudernd in den Tiefen meines
Lebens mwühlte uud mich von ihren Greueln und Lajten bejchweren lie,
aber dann mußte ich wieder aufitehen und die Hände waſchen, und mic
freuen über das unbegreiflihe Wunder, daß aus ſolchen Tiefen von Blut
und Unrath die weißejten Lilien aufjprießen.“ Wir haben es aljo mit
einer Urt des Uebermenſchen zu thun, mit einem Drama zur Ver—
herrlihung der Willendfraft. Wir begreifen nun wenigſtens die Abficht
des Dichters. Aber diefe Abficht ift emtichieden nicht erreicht. Der ganze
Hall Liegt zu abfonderlich, phantaſtiſch, romantiih, und iſt dabei, trog
des Abſonderlichen, Phantaſtiſchen und Romantiſchen, uninterefjant.
Viele8 in dem Drama, die Spradhe und da3 Temperament vor Allem,
*) Berlag von ©. Fiſcher, Berlin.
Notizen und Beiprehungen. 557
verrathen den Dichter, der aber in diejer Dichtung fehlgegangen ijt! Die
Tragif dieſes Dramas ijt wirkungslos, und zwar darum, weil wir aus
dem abjonderlichen Einzelfall durchaus nichts allgemein Menſchliches heraus—
fühlen können, das ung jelber trifft. Das Problem hat der Dichter jid
allerdings zugleic, als individuelles und generelled gedacht. Denn er läßt
jeinen Helden von ſich jelbjt behaupten: „Wie froh wäre ich, hätte ich
meinen fHleinen Handel von jeder Berfettung löjen können! Wäre er
mein eigen. Könnte ich ihn von der Allgemeinheit trennen, wie ich den
Apfel, den ich ejien will, vom Baume pflüde! Aber da3 ijt Fein Kleiner
Theil meines Leides, bei jeder Regung fühlen zu müfjen, wie jo unlösbar
ich ins allgemeine Leben verflochten bin!“ Der Held täujcht fich über ſich
jelbjt, wie und weil fih der Dichter über die Wirkung feined Dramas
getäufcht hat. — —
Geijtreih und tief ift das Problem in dem Trauerfpiel „Filippo
Lippi“ von Eberhard König.*) Es ijt ein Nenaifjancedrama und fpielt
in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts unter Florentiner Künſtlern.
Zwei Maler, Filippo Lippi und Pietro Borbottone jtehen ich gegenüber.
Lippi erjcheint al3 Kind des Glücks. Er ijt berühmt unter den Künftlern
und geliebt von allen Frauen. Eine jtrahlende, nie verjagende Heiterkeit
jcheint von ihm auszugehen. Die tolliten Streiche, die ein Bocaccio ver—
arbeiten könnte, werden von ihm erzählt, um jo toller, als der glücliche
Freund der Mujen und der Frauen auch Klarmeliterbruder und Kaplan
ift. Bu jener Beit war in Florenz unter der Herrichaft der Medicis eben
Vieles möglid und erlaubt. Ihm jteht Borbottone als audgejtoßener Sohn
des Unglücks gegenüber. Er bat ald Maler feine Erfolge, obwohl oder
vielmehr weil jeine Bilder voll brutaler Kraft und wilder Leidenſchaft
erfüllt find. Der häßliche Mann wird von den trauen verlacht und veradhtet.
Und doc) jehnt fich jeine Seele nad der Sonne des Ruhms und der Liebe.
Er gilt als gewifjenlojer Schurke und als neidischer Verkleinerer alles
Großen. Dody der Schein trügt. Lippi ijt gar nicht jo jehr der hehre
Sonnenjüngling. Er hat eine Masfe vor und — wie er jelber erklärt —
Geht einfam, unbelannt duch Welt und Menſchen
Einfam! Sein Herz ijt einfam! Seine Belle
Im jtillen Klojter kennt ihn beſſer, glaubt nur!
Die Stunden, da er mit jich jelbit allein,
Bei Gott dem Herrn, jind wenig neidenswerth!
Da fludht er jeinem Stern, der tollen Miſchung
Feindjeliger Willensfräfte in feiner Bruft,
Die ewig gären, nimmer Frieden geben,
Al wär's ein graufamsmüßiger Spaß des Schöpfers!
Da ringt und betet ev — und betet doc nicht,
*) Berlag von S. Fiſcher, Berlin.
558 Notizen und Beſprechungen.
Und padt fein Selbjt wie einen Widerjacher
Mit unbarmherz’ger Fauſt verzweiflungsitarf
Im Naden, drüdt es auf die Knie nieder,
Befiehlt und fleht: „O glaube! glaub und bete!*
Kajteit fein innere® Schaun: Madonnenreinheit
Zu jehen, zu bannen in frommem Yarbenpjalm —
Sa! Erdenweibes Schönheit findet er!
Die ottgebärerin — die Züge trägt fie
Der Weiber, die in jeinem Arm geruht,
Und lächelt jpöttiih. Ins Geſicht ihr jpeit er
Und ringt um SHerzendeinfalt, Kinderfrieden!
So ijt er denn mit all feinem Haften und Jagen, feiner Lujt und jeiner
Heiterkeit nichts als einer, „der in Aengſten ſucht das Glück“. Es ijt ihm
beichieden, dieſes Glück zu finden, in Lufrezia Buti. Sie wird ihm „die
Offenbarung, was ein Weib, ein echted, reined Weib dem Manne iſt. An
fie flammert er ſich „mit Seelenängjten“, weil fie erlöjen ihn, entjühnen
fol. Lippis höchſtes Glück wird Borbuttones tiefjtes Leid. Denn auch diefer
Unglüdjelige liebt Lukrezia, der er aber nicht einmal zu nahen wagen
darf. Borbottones Haß jchwillt über:
Kapbudelt Alles jeiner Herrlichkeit,
Dient Alles jeinem frechen Siegeöwillen —
Ih mad) den tollen Tanz um den Gefrönten,
Des Glückes Rojen in dem lod’gen Haar,
Der wie der Jiegende Junker Frühling jtrahlt —
Nicht mit! Er foll dran glauben!
Borbottone überfällt Lippi meuchlingd und tödtet den vermeintlichen
Sohn des Glücks. Nicht gewöhnlicher Neid und Heiner Haß iſt das
Motiv:
Mein Haß, mich deucht, ijt ewig wie die Welt,
Naturgewollt, wie der Elemente Feindjchaft!
Armſel'ge! Willſt du zwijchen Sturm und Fluth
Den Hader jhüren, der ihre Seele iſt? ...
Ha wart’! Er joll mir Rede jteh’n! — Vergehen
Soll er vor meines Nichterblided Droh'n!
Ihn frag’ ih aus — kann ich mit Gott nicht rechten:
Eoll mir die Vollmacht zeigen, die er hat,
Soll mir fein Bud, fein Soll und Haben zeigen:
Hier der Verdienſt — und hier der Lohn: das Glüd!
So ijt in Wahrheit Borbottone eine in tiefjtem Maße tragijche Geftalt,
gerade wie — nur umgekehrt — jein Gegner. Zum Sclufje löſt ſich der
Konflikt und jteigert fi die Tragif, indem Borbottone erfennen muß, daß
Rotizen und Beiprehungen. 559
Lippi garnicht der neidenswerthe Liebling der Gottheit war. Lippi
befennt jterbend:
Dir aber, Mordgejell, jet meine Rache!
Hör’: Was dich heulen mache vor Verzweiflung!
Dein Mord — war Irrthum! Nie war mein das Glüd!
In ineiner Seele fraß der Unruh Feuer
Wie in der deinen — Schmerz war mein Grfühnen,
Grimm meine Luft, Empörung mein Genießen,
Mein täglih Brot: Neue und Selbitverdammung.
Irrſal mein Dafein! Und dein Irrthum, Narr,
Log mir den Dolh ins Herz! Verzweifle dran!
Irrthum ift Alles! O wie ich's erkenne!
Nun möcht' ich ſteh'n auf einem hohen Berge
Und lehren alle Welt, was ich gelernt —
Und muß nun ſierben: es giebt kein Recht auf Glück!
Borbottone bricht klagend an der Leiche zuſammen:
Ich habe meinen einz'gen Freund erſchlagen!
Nun bricht die Welt,
Die morſche, über meinem Mörderhaupt zuſammen! ...
Wie biſt du ſchön! Du edles Angeſicht! ...
Ich hab' — dich je und je geliebt! Jetzt fühl' ich's,
Du ſüßes, herzbezwingend Liebenswürdiges!
Mein Haß war Liebe; eiſernder Sehnſucht Qual!
Irrthum war Alles!
Wir haben es unzweifelhaft mit einer tief gedachten, philoſophiſchen
Dichtung zu thun, deren Charaktere groß und Far gejtaltet find und
deren Sprache von Kraft und Wärme erfüllt iſt. Schade nur iſt es,
daß die große Mittellinie ded3 Werkes von einer Fülle von Nebenperjonen,
Nebenmotiven und Nebenhandlungen verwirrt wird, jo daß mir eine
Bühnenwirkung dieſes Dramas ausgeſchloſſen erjcheint.
Mar Lorenz.
Memoiren einer Idealiſtin von Malwida von Meyjenbug.
Drei Bände. Bierte Auflage. Berlag von Schuſter und Löffler,
Berlin und Leipzig. 1899.
Fräulein Malwida von Meyjenbug ift im Sahre 1806 ald Tochter eines
hohen Beamten, der bald darauf leitender Minijter ſeines Heimathlandes
wurde, in Kaſſel geboren. Sie beichließt jetzt in Rom ihren Lebensaben?.
Die Zeit Napoleond und die Zeit Bismard3 ift an ihr vorübergezogen
und der Strom der Zeit hat fie oft ſelbſt gepadt und mitgerifien. In
560 Rotizen und Beiprehungen.
der Zeit der Reaktion kam jie in gewiſſe Strömungen hinein, die damals
als revolutionär angejehen wurden. Die Folge war, daß fie nad England
ind Eril ging. Hier wandte jie fi) zunächſt an Kinkels, von denen fie
mit herzlichſter Freundſchaft Hiljßbereit aufgenommen wurde. Die Lejer der
„Jahrbücher“ wird nad) Kenntnignahme der im Auguſt- und Septemberbeft
veröffentlihten Briefe Johanna Kinkels ficherlid folgende Schilderung
interejfiren: „Sohanna Kinkel Hatte nicht3 in ihrem Aeußern von dem,
wad man gewöhnlid; bei Frauen jchön oder anmuthig nennt; ihre Züge
waren jtarf, faſt männlid, ihr Teint auffallend dunkel, ihre Geitalt
majjiv, aber über dem Allen thronten ein Baar wunderbare dunkle Augen
die von einer Welt von Geijt und Empfindung zeugten, und in den reichen
Modulatıonen ihrer tiefen, vollen Stimme tönte eine Fülle des Gefühls,
fo daß man unmöglich beim erjten Eindrud fagen konnte: „Wie häßlich ift
dieje Frau“, jondern fagen mußte: „Welch eine bedeutende Frau! und
weiches Glüd wird es fein, fie näher fennen zu lernen.“ — Kinkel dagegen
war, troß aller überjtandenen Leiden, in der vollen Kraft feiner männ-
lihen Schönheit; fein Benehmen hatte etwas Sanftes, Feines, ja Zierliches,
dad man Sohannas jchrofferem Wejen gegenüber weiblich nennen Eonnte;
er war höflich bis zur Galanterie, äußerjt angeregt in der Unterhaltung
und voller Wig, dem er zumeilen abfichtlich den Anſchein der Frivolität
geben wollte.“ — In dem Kreiſe der VBerbannten trat Fräulein von Meyſen—
bug neben vielen Anderen, 3. B. Lothar Bucher, der fie in der Vollks—
wirthichaft unterrichtete, bejonders Mazzini und ganz befonders deni Rujjen
Alerander Herzen nahe. Ihn jchildert fie mit eingehenditer Liebe und
nad) diejen Schilderungen muß er in der That ein ungewöhnlid) interejlanter
Mann gewejen jein, „nicht® weniger als ein doftrinärer Nevolutionär.
Er war viel zu geijtvoll, um zu glauben, daß man den lebendigen Strom
der Geſchichte in dad Bett eined Syſtems, einer vorgefaßten Theorie
ziwängen könne. Es mar ihm gleichgiltig, ob Monarchie oder Republik,
vorausgejegt, daß dad Leben nicht jtagnire, daß die Wellen hoch gingen
und das Dajein vorwärt3 trugen zu neuen Entiwidelungen.* Aus einem
jeiner Briefe wird folgende Meinung mitgetheilt: „Die Zeit der revolutionären
Demagogie ift vorbei. Mit jedem Tage ſehe ich klarer, daß die ganze
Epoche der politijchen Revolutionen zu Ende iſt, geichloffen wie die Epoche
der Rejtauration, ohne die Frage zu löſen. Iſt denn die religiöje Frage
beendigt? Nein — aber fie intereffirt nicht mehr. Wir gehen in eine
neue Zeit, und Alles, was diefe Herren, diefe Antediluvianer, jchreiben, ift
Vergangened.” Mit den Antediluvianern dürften wohl Marx und jeine
Anhänger gemeint fein. Won England begab fi Fräulein von Meyſenbug
nad Paris. Hier traf fie mit Wagner zujammen. Dejjen Muſik umd
Scopenhauerd Philofophie find dann für ihre jchließliche Lebensauffafjung
bejtimmend gewejen, ohne daß jie die individualijtifchideologiihe Grund—
ftimmung der bürgerlihen Demokratie aus der Mitte ded Jahrhunderts
Notizen und Beiprehungen. 561
ganz [08 geworden wäre. Doc wir follen aus diejen „Memoiren einer
Idealiſtin“ feine Philofophie lernen. Auch darauf kommt es garnicht in
eriter Linie an, fie als Gejchichtsquelle auf ihre größere oder geringere
Buverläffigleit zu prüfen. Ahr Reiz iſt in erjter Linie pſychologiſcher Art,
indem fie zeigen, wie eine kluge, tapfere und gerade Frauenjeele zu Er:
eignifjen und Perfönlichkeiten Stellung genommen hat, die fait ein Jahr:
hundert auszufüllen vermochten. Ein Sahrhundert im Spiegel einer
Frauenfeele — da3 iſt der Sinn diefer drei Memoirenbände.
Mar Lorenz.
Nationalöfonomie.
Die öffentliden Glüdsjpiele. Bon Dr. Rudolf Sieghart. Wien
1899, Manzſche Buchhandlung. VII und 411 Seiten.
Die voll3wirtbichaftlihe Behandlung der öffentlichen Glücksſpiele ift
biöher, im Gegenjaß zu der reichhaltigen juriftiichen Literatur, über vereinzelte
Monographien und Artikel über Spezialfragen jowie über allgemeine kritiſch—
agitatoriihe Broſchüren nicht hinausgefommen. Erſt das vorliegende vor
Kurzem erichienene Buch Siegharts giebt und einen volljtändige Dar—
jtellung der Geſchichte ſowie ded Weſens und der Wirkungen dei ver-
jchiedenen öffentlihen Glücksſpiele.
Als Kinder der Geldwirthichaft und einer an plögliche Gewinne ges
wöhnten Volksſtimmung find jie gegen Ausgang des Mittelalterd in den
reichen belgischen und italienischen Handelsjtädten aufgefommen, um ſich
von dort bald über fait alle europäijchen Länder zit verbreiten. Früh
wurden fie den finanziellen Intereſſen der Fürſten dienjtbar gemacht, die
fih vielfady mit allen Mitteln bemühten, die Spielleidenjchaft ihrer Unter-
thanen fünjtlich zu erregen. Eine ganz eigenartige Rolle haben die öffent-
lihen Glücksſpiele in Dejterreich geipielt, wo fie als wichtige Glieder in der
Kette der merfantiliftiichen Wirthichaftspolitif auftreten. Sie jollten die
Rapitalbildung für große induftrielle und kommerzielle Unternehmungen
befördern und zugleid; den Abſatz der Fabrikate erleichtern; daneben dienten
fie natürlich auch fiskaliſchen Zwecken.
Mit der Schilderung der Entſtehungsgeſchichte der öffentlichen Glücks—
ſpiele und ihrer wichtigen Rolle im Wirthſchaftsleben des ſiebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts hat Sieghart einen ſehr werthvollen und inter—
eſſanten Beitrag zur Kenntniß des Merkantilſyſtems und feiner Finanz- und
Wirthſchaftspolitik geliefert.
Nicht minder intereſſant, wenn auch natürlich in mancher Hinſicht ſchon
Bekanntes bietend, ſind die Abſchnitte über das öſterreichiſche und italieniſche
Zahlenlotto, die Lotterieanlehen, das Promeſſengeſchäft und die Klaſſen—
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heſt 3. 36
562 Notizen und Beiprehungen.
(otterien der einzelnen europäifchen Staaten. Sieghart ift ein entichiedener
Gegner der öffentlichen Glücksſpiele, und er verurtheilt das Zahlenlotto wie
die Klafjenlotterie in gleicher Weife. In der That läßt es fi) auch bei
genauerer Betrachtung der Frage kaum bejtreiten, daß ſich die Wirkung
der lafjenlotterie auf die unteren Volksklaſſen von der des Lotto nicht
erheblich unterjcheidet. Frappant ift der Nachweis des Verfafjerd, daß auch
die Gemwinnjthoffnung bei der preußischen Klafjenlotterie nicht größer ala
beim öjterreihiichen Zahlenlotto ijt.
Trogdem iſt Sieghart nicht für eine volljtändige Bejeitigung der
Lotterien, da er mit Recht annimmt, daß fich der Spieltrieb des Menjchen
dann in anderer, wahrjcheinlich noch jchädlicherer Weife Befriedigung ſchaffen
würde. Wie unausrottbar das Spiel ijt, fieht man ja an Frankreich und
England, wo an die Stelle der Lotterien die Wette, namentlich bei Wett:
rennen, getreten ijt, und wo die Wettluft fi) zu einer die weitejten
Volkskreiſe beherrichenden Leidenichaft ausgebildet hat. Sieghart ſchlägt
deshalb ald Ausweg aus dem Dilemma eine Bereinigung von Spiel- und Spar—
trieb nach Analogie der Lotterieanleihen vor: Der Staat joll unter Wer:
ziht auf jede fisfalifche Ausnugung der Einrichtung eine große Sparkaſſe
gründen, in der die Binjen ihrer Einlagen den einzelnen Einlegern nur
zum Theil gutgejchrieben werden, während ein anderer Theil zur Bildung
von Gewinnen benußgt wird, die unter den Mitgliedern der Sparkaſſe aus-
gelojt werden. Eine derartige Zinjenlotterie hat übrigens ſchon Lorenz
von Stein empfohlen, der jie ald eine Aufgabe, der Wifjenjchaft ebenio
wiirdig wie der Verwaltung, bezeichnet.
Die Entwidlung der deutjhen Rhederei jeit Beginn dieſes
Jahrhunderts. Bon Mar Beterd, Doltor der Staatswiſſen—
ſchaften. Erjter Band. Jena 1899, Guſtav Fiſcher. VIII und
185 Geiten.
Eine Geſchichte der deutjchen Rhederei, wie fie der Berfafjer zu
geben beabjichtigt, fehlte bisher; der Gedanke eines ſolchen Werkes mus
unzweifelhaft al3 jehr zeitgemäß bezeichnet werben.
Der vorliegende I. Band, der die Entwidlung der deutjchen Rhederei
bis zum Jahre 1850 jchildert, ift eine recht fleißige Arbeit, die aber, wie
jo viele Erjtlingdarbeiten, häufig im ſtatiſtiſchen Detaillram jteden ge—
blieben it. Der Berfafjer bat das augenscheinlich felbft gefühlt, und
er ſucht deshalb in der Vorrede dad Uebermaß jtatijtiiher Daten
mit der in diefem alle freilich recht deplazirten Redensart zu ent:
ſchuldigen, das habe ſich nicht vermeiden lafjen, „wenn nicht an Stelle
von Beweiſen umfontrolirbare Behauptungen treten follten.“ Es
wäre aber im Intereſſe der Arbeit viel beijer geweſen, wenn der
Notizen und Beiprehungen. 963
Berfajjer die Zeit und Mühe, die er aufgewendet hat, um für jedes
einzelne Jahr die Zahl und den Tonnengehalt der Schiffe von Wolgaft
oder Barth x. genau zu regiftriren und zu fommentiren, dazu benußt hätte,
einen einleitenden Ueberblid über die Entwidlung der Ahederei nad) dem
dreißigjährigen Kriege zu geben, der — als der tiefite Einfchnitt im deutfchen
Wirthſchaftsleben — überhaupt für alle neueren wirthichaftsgejchichtlichen
Unterjuhungen den Ausgangspunkt bilden jollte.
Un anderen Stellen dagegen, wo detaillirte Ausführungen gerade
am Plage gewejen wären, verjagt der Verfaſſer. So hujcht er 3. ©.
über die Frage ded Unterjchieds zwijchen Negijtertonnen brutto und netto
einfach mit der oberflächlichen Bemerkung hinweg, da3 Eingehen „auf die
Einzelheiten der fomplizirten Sciffvermefjungstechnif würde zu weit
führen.“ Das find aber gerade Tinge, deren Darlegung man von einem
Bud über die deutjche Ahederei mit Necht erwarten kann.
Auf die Fortſetzung der Arbeit werden wir vermuthlich noch längere
Zeit zu warten haben, da ihre „Weiterführung in Folge der Abreije des
Berfafierd ind Ausland auf fpätere Zeit verichoben werden muß.“ Biel:
leicht entſchließt fih Dr. Peterd noch zu einer gründlichen Umarbeitung
und Kürzung des bis jet erjchienenen Theild, um uns eine volljtändige
Geſchichte der deutichen Rhederei feit dem dreißigjährigen Kriege oder jeit
dem Verfall der Hanja in einem handlichen Bande zu geben.
Bei Krupp. Eine jozialpolitiiche Neijeflizze unter bejonderer Berüd-
jichtigung der Arbeiter-Wohnungsfürjorg. Bon Dr. W. Kley. Mit
vielen Skizzen, graphiichen Tafeln und Tabellen. Leipzig 1899, Dunder
& Humblot.
Der Verfaſſer jchildert zunächſt die Entwidlung des Kruppſchen
Etablifjement3, das ſich aus den denkbar bejcheidenjten Anfängen heraus
zum größten deutjchen indujtriellen Unternehmen entwicelt hat. Dann
fegt er die allgemeinen Grundjäße der Kruppſchen Sozialpolitik dar, wobei
er ſich leider jelbjt allzu jehr in den Gedanfengängen de3 patriarchalijchen
Unternehmerthums bewegt. Zu einer ruhigen objektiven Beurtheilung der
modernen Arbeiterbewegung hat er jich nicht aufzujchwingen vermocht; er
behandelt fie im &egentheil in einer Tonart, die ſelbſt in den Gejchäfts-
berichten von Unternehmer=Bereinigungen allmählid) jeltener wird.
Sehr injtruftiv ift dagegen die Schilderung der pofitiven Leijtungen
der Kruppſchen Sozialpolitif, die ja in der That auf dem Gebiet der
Urbeiterfürforge dur ihre Kranken-, Penſions-, Wittwen- und Waiſen—
kaſſen, durch ihre Konfumanftalt, ihre Schulen, ihre Sparlajje etc., vor
Allem aber durch ihre Wohn» und Logirhäufer ganz Hervorragendes ge=
leiftet hat. Die Wohnungsfrage wird, wie ja ſchon der Titel anzeigt, mit
36*
564 Notizen und Beiprehungen.
bejonderer Ausführlichkeit behandelt, und der Verfaſſer hat überdies jeine
Schilderungen durch Beigabe zahlreicher Abbildungen von Arbeiterwohne
häufern anſchaulicher und lebendiger geitaltet.
Interefjant ift, daß man in Efjen mit der Ueberlafjung der Häuſer
zu freiem Eigenthum der Arbeiter jehr jchlechte Erfahrungen gemacht hat,
da die Arbeiter bemüht waren, ihre Häufer durd Aufnahme möglichit
vieler Miether rückſichtslos auszunußen, alle mögliden Um- und Aus
bauten vornahmen und fo die fanitären und jozialpolitiichen Zwede Krupps
in furziihtigem Egoismus vereitelten. Was Kley über diefen Punkt mit-
theilt, erinnert, wie man jieht, jehr an die Schilderungen, die Herner in
jeinem Bud über die oberelſäſſiſche Baummollinduftrie von der cite ouvriere
in Mülhauſen entwirjt. Deshalb ift man in Efjen im Allgemeinen zur
bloßen Wermiethung der Häujer übergegangen, deren vorichriftgmäßige
Benußung durd eine gründliche Wohnungsinipektion gewährleistet wird.
Und in der That dürfte das Miethbhaud — das ja keineswegs mit der
Miethkaſerne identisch zu jein braucht — das den nterefjen der großen-
theil3 ſtark fluftuirenden Anduftriearbeiterichaft am meiften dienende Syſtem
darjtellen.
Berlin. Paul Voigt.
Theologie.
Stopford U. Brooke, Glaube und Wiſſenſchaft. Reden und Aufſätze.
In deuticher Uebertragung aus dem Englijchen von F. v. A. Mit einer
Einleitung von Charlotte Broicher, Göttingen 1898.
Als ich die erjte Hälfte dieſer ſechsundzwanzig Neden und Aufſätze
gelejen hatte, jtand ich unter dem peinigenden Gefühl, daß durch meine
verſprochene Anzeige ein jtarfer Ton des Widerſpruchs würde bindurch-
fingen müſſen. Ganz verjtummen kann er freilich im Folgenden nicht, aber
er wird wejentlich übertönt und gemildert durch den Ton der Zujtimmung
und der Freude. Denn je tiefer ich mich in die zweite Hälfte des Buches
bineinlas, dejto mehr wuchjen in mir die leßteren Empfindungen.
Jedoch ehe ich mic dem Inhalt der Reden felbjt zumende, ein kurzes
Wort über den Berfajjer und über die Entjtehung der vorliegenden
Samnılung.
Eine feinfinnige Einleitung aus der Feder der Frau Charlotte Broicher
unterrichtet den Lejer über Broofes Perjönlichkeit. Er ijt ein englifcher
Geijtliher von urjprünglich evangelifaler Richtung der englijchen Hochlirche.
Aus Gewiſſensbedenken trat er aus der Kirche aus, ohne ſich einer anderen
kirchlichen Gemeinjchaft oder Partei anzujchließen. Am nädjiten fteht er
den Unitariern. In einer eigenen lleinen Kapelle in London predigte er
Notizen und Beiprehungen. 565
einer feinen Gemeinde, die mit außerordentliher Treue an ihm Hing.
Seit 1897 hat er krankheitshalber fein Amt niedergelegt. E83 wird deutjche
Leſer, die überhaupt für religiöjed Leben etwas übrig haben, jofort für
Brooke interejfiren, wenn fie hören, daß er ein Shiüler oder, wie Frau
Broicher in der Einleitung jagt, ein „Ausläufer“ von Frederik William
Nobertion ift. Frau Broicher Hat eingehend und treffend die Verwandt:
ſchaft und die Verfchiedenheit beider Männer dargejtellt. Darauf ſei der
Lejer verwiejen. Nur foviel mag gejagt fein, daß Broofe ein würdiger
Schüler jeined Meijterd ift. Er hat Geijt von feinem Geiſt. Erreicht er
ihn auch nicht, jo jteht er doch nicht weit hinter ihm zurüd. Wer Robertſon
fennt und liebt, wird wijjen, daß damit viel gejagt iſt.
Die vorliegende Sammlung ijt eine, wohl vun der Ueberſetzerin ge:
troffene, Auswahl von Reden aus den verjchiedenen Bänden der Broofe=
jhen Sermons, die zum Theil in fiebzehnter Auflage vorliegen. Auch der
Titel unferer Sammlung rührt wohl von der Ueberjegerin her. Die hier
vereinigten Reden entſtammen ganz verjchiedenen Zeiten.
Und nun die Neden jelbft! Meinen lebhajtejten Widerſpruch muß ich
erheben gegen die vierte Rede: Die Anbetung des unperjönlichen Gottes.
Hier wird eine Art Frömmigkeit als chriſtlich proflamirt, gegen die wir
ald gegen eine Todfeindin des echten chrijtlihen Frommjeind mit allen
Mitteln anfämpfen müſſen, um jo mehr, als jie in der Gegenwart eine
jtarfe und verführeriihe Macht hat: es ijt die Aeſthetiſirung der
hrijtlihen Religion, ihre Auflöfung in Stimmung, Empfindung, Genuß.
Das heißt aber die Religion entfittlichen und zum Gegentheil von dem
machen, was jie ift. Um den Künjtler mit feinem poetiſchen Pantheismus
fürd Chriſtenthum zu gewinnen, verfichert ihm Broofe, daß jein
Schwelgen in der Poefie der Natur chriftliche Anbetung Gottes jei. „Am
Herzen der Natur, an dem wir erivarmen, empfinden wir das Pulſiren un—
endlichen Lebens und freuen und, in ihm mitzuleben und zu weben. Ein
mächtiger Strom von Schönheit, Harmonie und Freude fließt in mich über.
Sch öffne ihm Herz und Seele und bade mid) in feinem ewigen Thau
gefund. Die Himmel neigen ſich zu mir herab, die Erde freut ſich, daß
ich) über fie hinjchreite und die mächtige See iſt mein. Gie Alle und
Alles, was in ihnen lebt und wechjelt, ijt die ewig gleiche Liebe, aus der
ich mit reiner Freude trinke, einer Freude, die jenjeit3 des jchmerzerfüllten,
jündigen, ſturmdurchwühlten, perjönlichen Lebens Liegt, für welches ich
eines perjönlichen Gottes bedarf. Dede Meile, die ich weiter zurücdlege,
breitet das ewig mwechjelnde Al in neuen Formen vor mir aus, das in
jeinen Wurzeln Eins ift. Sch wandle mich mit den Erjcheinungen und fühle
doch ihre Einheit. An fie verloren, bin ich von meinem Sonderleben ent=
lajtet, befreit von dem ſelbſtbewußten Berjönlichkeitsgefühl. Jeder Wind—
bauch, jeder Blumenduft, jeder vorüberziehende Woltenjchatten iſt mir
erfüllt von der Schönheit und Liebe des unbegrenzten Lebens, und ijt mir
566 Notizen und Beiprehungen.
Offenbarung des unperfönlichen Gottesweſens. Ich liebe und bete fie jegt
an al® unperfönlih“. Sp Brooke der Poet, der Künſtler. Und eine
ähnliche „Anbetung“ muthet er dem Naturforjcher zu, der ſich ala Theil
der unperfönlichen „Kraft“, die dad All durchdringt, empfindet. So ver-
(odend aber diefe Stimmung gefchildert fein mag, einen jo beraufhenden
Genuß diefe „Erregungen“ auch bieten mögen, eine Stimmung, in der Der
Menſch darauf ausgeht, von feinem „jelbftbewußten Perſönlichkeitsgefühl
befreit“, „unperjönlich“ zu werden, ein „pflanzliche“ Dafein zu führen,
ift unfittlich, verwerflich, entnervend. Damit begiebt ſich der Menſch jeiner
Würde. Sie aber gar Anbetung Gottes, chriftlihe Anbetung zu nennen,
ift ein Schlag ind Angeficht der gefunden chrijtlichen Frömmigkeit. Denn
dad gerade will die chriftliche Religion leiften und leiſtet jie, daß fie mir
das perjönliche Leben dermaßen durch ihren fittlihen Gehalt jtärkt, daß ich
mich aller Natur ſchlechthin als überlegen fühle, daß ich mich bewußt und
ſtark von ihr unterfcheide, daß ich allem bloß naturhaften Sein einen neuen
perfönlichen Inhalt entgegenfege. Dies preisgeben, heißt das Chrijten-
tum preißgeben. Und ih würde vor Broofe warnen, wäre Der
eben Gejcdilderte der ganze Broole. Das ijt er aber nidt. Er iſt
nicht nur idealijtiicher Pantheift. Er jteht mit feinem Herzen jogar offen
und ehrlich zu dem perjönlidhen Gott. „Biel herrlicher als die Vor—
jtellung einer unperjönlichen ewig wirkſamen Kraft, welche die Welt bewegt
und fie zufammenhält, erjcheint auch meiner Vernunft die Botichaft des
Heilandd von einem perjönlihen Water aller Menſchen.“ Dennoch hat
Broofe — ein Zeichen, daß er ein jchlechter Theolog ift — einen ganz ges
brochenen Gottesbegriff: „Unſere Gottesvorjtellung muß eine perjönliche
und zugleich eine unperfönliche fein. Der Pantheismus und der perjön-
lihe Deismus find wahr, nur fofern fie einander ergänzen.“ Zu diejer
undurchführbaren „Ergänzung“ fommt Broofe durch eine übergroße
Nücdfichtnahme auf die Naturwifjenichaftler. Ihnen kann ja doch Der
Glaube an einen perjönlichen Gott nicht mehr zugemuthet werden! Ich
geftehe, daß mir dieſe fortgeiegten Verbeugungen vor den Naturwiſſen—
ichaftlern zumider find. Damit erreiht man aucd nicht, was man will.
Am Gegentheil, man verliert leicht bei ihnen die volle Achtung. Gewiß
haben wir Theologen eine ernſte VBerpfiichtung, den Schwierigfeiten nad):
zudenfen, mit denen ein moderner Naturforicher zu kämpfen bat, um
Ehrift zu werden, gewiß haben wir die Berpflichtung, immer deutlicher und
ſchärfer und verftändlicher heraugzuftellen, was Chriſtenthum iſt, aber wir
thun den Naturforfhern einen jchledhten Dienjt, wenn wir ihnen goldene
Brüden bauen wollen, wo fie jelbjt den alten Weg, der noch immer ins
Chriſtenthum hineingeführt hat, gehen müfjen. Diejer Weg ijt und bleibt
allein der, daß es emem Menjchen bange wird um einen wirklichen,
echten, bleibenden Lebensinhalt, der mehr werth ijt als Kunſt, Wiſſenſchaft
und Lebendgenuß. Dieſen Lebensinhalt finden wir aber nicht bei eimer
Notizen und Beiprehungen. 567
unperjönlichen Kraft oder einem unperjönlichen Al, fondern allein bei dem
verjönlichen Gott, den Jeſus Ehriftus feinen Vater genannt hat und den
wir durch ihn fennen. Das weiß auch Broofe und deshalb ijt eine Ver—
ſöhnung mit ihm möglich.
Dennoch bin ich mit meinem Widerjpruch noch nicht zu Ende. Von
jeinent Gotte3begriff aus fommt nämlich Brooke zu der Vorjtellung von der
„Wiederbringung Aller.“ Den Haupteinwand dagegen, daß nämlich mit
diejer Anjchauung die fittliche Freiheit alterirt ift, berüdjichtigt Broofe auch
einmal, ohne ihn aber zu entkräften. Es wirft ftörend, daß dieſer wunder:
liche Gedanke ji) wie ein rother Faden durd fait alle Neden hindurch—
zieht und mit derjenigen Zähigkeit vertreten wird, die jich einjtellt, wenn
Jemand in einen Gedanken verrannt ift und dagegen Widerjvruc erfährt.
Uebrigens bat Broofe in einer Rede, jedenfall3 in einer aus früherer Zeit,
die jehr richtige Bemerkung eingeichalten, daß es jich hierbei nicht um eine
„teligiöje, jondern nur um eine intellektuelle Spekulation“ handle.
Ein ganz anderer Ton, al$ in den erjten zwölf, wird in den leßten
Reden angeichlagen. Hier theologifirt Broofe nicht mehr, hier geht er aud)
nicht auf jeine unglüdliche Verſöhnung zwiſchen Religion und Naturwifjen-
ihaft aus — der Titel ded Buches ift deshalb auch nur zum Theil
rihtig —, hier behandelt er innerchriftlicye Fragen und da tritt denn
jeine Meijterfchaft au in der jchönjten Weife zu Tage. Er iſt ein
Meifter in der Schilderung ſeeliſcher Zuſtände; er hat dem Menjchen fein
Geheimniß abgelaujcht. Die Schilderung der Leidenfchaft in der fünfzehnten
Nede jucht ihre Gleichen in der Literatur. Unter unjeren deutichen Predigten
über Luk. 9, 24: Wer fein Leben erhalten will u. j. w. werden ſich
wenige finden, die an Tiefe und Gehalt und Wahrheit der Rede Broofes
über diejen Text gleihfommen. Dafjelbe möchte ich von der Rede mit der
Ueberjchrift: „Geduld und Ungeduld“ jagen über Röm. 12, 21: Laß dich
nit das Böſe überwinden u. ſ. w. Ueberhaupt geht feine dieſer letzten
Neden in alltäglichem Geleije. Jeder deutjche Prediger kann daraus lernen,
veraltete, reizloje und halbwahre Gedanfengänge loszuwerden, wie jie inner=
halb der deutjchen Predigtweiie und Literatur in Kurs gekommen find und
gleich langweilig find für die Gemeinde wie für die Prediger jelbit.
Nicht jchweigen fann ich von der ausgezeichneten, vollen, breit dahin-
fliegenden Diktion, die ſich doc gänzlich von Abjonderlichkeiten und un—
gefunden Reizmitteln frei hält.
So möchte ic) dad Buch vor allem Theologen empfehlen, weniger Laien.
Daß Naturwifjenichaftler dadurch gewonnen werden könnten, wie die Ein:
leitung hofft, bezweifle ih. Dad Bud wiirde mit warmen Worten Allen,
vor Allem den Freunden Robertjons zu empfehlen fein, wäre die Auswahl
der Reden vorfichtiger und nach anderem Geſichtspunkte getroffen worden.
Jena. Drews.
568 Notizen und Beiprehungen.
Ein jtrenger Lejer ſchickt und zu den lebten Heften folgende zwei
Bemerkungen ein.
I.
Auf S. 15 des Oftoberheftes wird das jfeptiiche Sprücjlein erwähnt
Hic liber est in quo quaerit sua dogmata quisque
Invenit quisque sua ....
Diefe Fafjung enthält in der zweiten Zeile einen groben metrifchen
Fehler und auch die erjte ijt nicht richtig zitirt. Der Vers jtammt von
dem PBrofefjor Samuel Werenfel3 in Bajel (gejt. 1790) und lautet
nah der Neal-Enzyflopädie für Proteftantiiche Theologie 2. A. 16. 701
Hie liber est in quo quisque sua dogmata quaerit
Invenit et iterum dogmata quisque sua,
Aber auch diefe Faſſung, die mit „Belanntlicdy“ eingeführt wird, iſt
nicht die urfprünglihe. Nach Diejteld Gejchichte des Alten Tejtaments
(S. 384) jteht dad Epigramm unter der Ueberſchrift S. Scripturae abusus
in Bd. II S. 509 Nr. 60 feiner Opuscula und lautet:
Hic liber est in quo sua quaerit dogmata quisque
Invenit et pariter dogmata quisque sua.
II.
Etwas von den Feldteuſeln.
(Sept.Heft. Bd. 97, 534).
Sandvoß (Kanthippus) freut fid) daran, daß Luther die „Dämonen*
der Vulgata mit „Feldteufel“ überjegt habe. Das fieht aus, ald ob er
den alten Irrthum, Luther habe „ichlantweg aus der Bulgata überjegt“,
den ich an diejer Stelle (Bd. 90, 518. 1898) ein für alle Mal glaubte aus—
getrieben zu haben, wieder aufnehme. Wielleiht meint er es auch nur
jo, daß er Luther damit ein bejondered Kompliment machen will, weil er
einen jo plaſtiſch deutichen Ausdrud fand, wo die lateinische Ueberjegung
fich mit dem ganz allgemeinen „Dämon“ begnügte. Wie dem nun aud) jei,
die Sache verhält fich jo:
Die Stellen, an denen die Bulgata das griechiſche daemones und
daemonia beibehalten hat, zählen nach Dußenden, aber an feiner findet
ſich bei Luther der Ausdrud „Feldgeiſter“ oder „Feldteufel“ als an den
vier (3. Mofe 17, 7; 2. Chr. 11, 15; Def. 13, 21; 34, 14), wo im
Hebräifhen das nur viermal, eben an diejen Stellen, ſich findende
Wort sair vorfommt, womit bodögejtaltige in der Wüſte haujende
Kobolde oder Geiſter bezeichnet werden. Un der erjten diejer Stellen wird
ausdrücdlich verboten, denjelben „auf dem Felde“ zu opfern, und dieje
Beitimmung wird Luther Anlaß gegeben haben, dad dunkle hebräiiche
Wort mit dem offenbar von ihm erjt geichaffenen Ausdrud „Feld—
Notizen und Beiprehungen. 569
geiiter* oder „Feldteufel“ wiederzugeben, während Hieronymus an den
beiden erjten Stellen nicht3 Befjered zu tbun wußte, als da8 unbejtimmte
daemones und daemonia zu wählen, und an den beiden legten nad) einer
nicht ficheren Etymologie pilosi die „Haarigen“ zu jeßen; um jo weniger
hat Luther jeine „Feldteufel“ dort „nad der Vulgata“ verdeutjcht, in der
fie da garnicht ftehen. Luther Hat den Ausdrud noch an einer fünften
Stelle (5. Moſ. 32, 17) für ein gleichfall3 ſeltenes, nur zweimal vor—
fommendes hebr. Wort (sched), für das er fi) dad zweite Mal
(Pi. 106, 37) mit dem einfachen „Teufel“ begnügt, Der Ausdrud „Feld:
teufel* beweift aljo ftatt Luthers Abhängigkeit von der Vulgata die Treue,
mit der er dem hebräifchen Text folgte, und das fprahjchöpferijche
Genie, mit dem er für ein dunkles Wort einen jo treffenden Ausdrud
ſchuf. Selbſt ein neuerer katholiſcher Ueberſetzer wußte nichts Beſſeres
als im Anſchluß an Luther „Waldteufel“ zu ſagen (Allioli), ein anderer
„Feldgötter“ (Van ER).
Laſſen wir dem Hieronymus ſeine „Haarigen“, Luther ſeine „Feld—
teufel“, Zanthippus die Freude an ſeinem „nad; der Vulgata NB*!
Maulbronn. Ed. Neitle.
Theater:Korrefpondenz.
Lejjing: Theater, Verein „Freie Bühne*: Ein Frühlingsopfer. Schau-
ipiel in drei Aufzügen von E. v. Keyſerling.
Oben genannte® Drama ift nicht das einzige, das ich in den legten
Wochen gejehen habe, joll aber das einzige fein, von dem ich hier aus-
führlicher reden will. Dieje Kürze ift darum angebracht, weil von den
übrigen die Literatur feinen jonderlichen Gewinn gezogen hat. Das er:
jtredt ji) zu meinem aufrichtigen Bedauern auch auf Ludwig Fuldas
Märchenſtück „Schlaraffenland“, das im Königlichen Schaujpielhaufe ge-
geben wurde. Es giebt Rezenjenten, und ſogar folche von Einfluß, die Fulda
unter allen Umftänden tadeln werden. Denn jie haben ſich von einem
dramatiichen Poeten von vornherein ein bejtimmied, übrigend garnicht
jchlehtes oder flaches Bild gemacht, dem Fulda nun leider nicht entipricht.
Dem gegenüber habe ich jtet3 den Standpunkt vertreten, daß der Kritiker
ſich zunächjt möglichjt in die Eigenart des von ihm zu Eritijirenden Dichters
zu verjenfen und diefe Eigenart mit Verſtändniß darzuftellen hat. Daß ich Das
-auc Fulda gegenüber in weitgehenditem Maße verſucht habe, wird er mir
jelber eingejtehen müfjen, falls er 3. B. meine früheren Ausführungen über
jeinen „Herojtrat“ gelejen haben follte. Dem damals entworfenen Bilde
feiner dichterischen Eigenart habe ich nichts Wejentliches hinzuzufügen. Was
nun „Schlaraffenland“ betrifft, jo halte ich diefen Märchenſchwank für die
ſchwächſte Dichtung, die idy von Fulda fenne. Feſtſtellen will ich aber doch,
daß der Dichter nad jedem der eriten beiden At zweimal, nad) dem Schluß—
akt ſogar ſechsmal von jeinem Publitum vor die Gardine gerufen ijt. —
Leider kann ich auch nicht in die Jubelhymnen einjtimmen, die zu Ehren
von Mar Dreyerd „Brobefandidat“ angejtimmt werden. E3 ijt zweifel-
[08 ein Senfationserfolg, der gewiſſen, gerade in den legten Tagen ich aufs
fällig machenden orthodoren Strömungen zu danken ijt. Als freier Mann
nimmt Dreyer für die Freiheit der Perjönlichkeit jcharf Partei. Das ist
jehr zu billigen. Aber Dreyer ſieht die Gegenftrömungen und Wirrnifje
Theater-Korrefpondenz. 571
der Welt doc) gar zu oberflächlich an. Gewiß: der Präpofitus v. Korff und
der Öymnafialdireltor Eberhard jind feine Geijteshelden. Aber der Probe—
fandidat Fritz Heitmann, in dem einige einen modernen Uriel Acoſta jehen wollen,
iſt doch auch nur ein großer Flachfopf. Der künftlerifche Werth des Dramas liegt
in den fed bingeworfenen Karikaturen der Lehrer Störmer und Benefeldt und
des verfrachten Gutsbeſitzers Malte Heitmann. Darin jtedt Leben und Wahr:
heit. Es find beabfichtigte Karikaturen. Aber gerade dadurchwird der ſpezifiſche
Gehalt diejer Charaktere, ich möchte jagen: ihre Idee jo recht augenjcheinlic)
und dramatiich wirkſam herausgearbeitet. Die Aufführung bot durd die
Leijtungen der Herren Nittner, Reinhardt, Fiſcher und Nifjen ſchlechtweg
Pollkommenes; die Regie — Emil Leifing — ging, im dritten Akt befonders
— über dad Vollkommene noch Hinaus, wenn man fo fagen dürfte und
es möglih wäre. — Mit der von den Herren dv. Wolzogen und Dlden
gemeinjam gearbeiteten Komödie „Ein Gaſtſpiel“ Hat das Deutiche
Theater eine volllommene Niederlage erlitten. Kaum die drei Anjtandss
aufführungen famen zu Stande, Das Stüd ijt garnicht jo ſchlecht, wie es
von allen Seiten gemacht wurde. ch könnte manches Lobenswerthe daran
aufzeigen. Zu einer „Rettung“ aber ift ed mir doc wiederum nicht ge—
baltvoll und interefjant genug. Alſo laſſen wir es ruhig jchlafen. —
Diejelde Bühne hat danfenswerther Weije auch Wilbrandts3 „Meijter von
Palmyra“ wieder in den Spielplan aufgenommen. Das ijt ein philo=
fophijches Drama voll tiefften Gedantengehaltes, dem nur leider die künſt—
leriſche Formfülle fehlt. Sch hätte wohl Luft, die Frage anzujchneiden,
mas der Gedanke, die dee mit einem Kunſtwerk zu thun hat. Sehr viel
— mirde ic antworten und ausführlich zu begründen juchen, mit allem
Nahdrud, um jo mehr, ald man das heute an manchen Stellen gern be—
jtreiten möchte. Zu diefen Stellen gehört auch der umfangreiche Band,
den Richard M. Meyer über „die deutiche Literatur des neunzehnten Jahre
hunderts“ joeben veröffentlicht hat. (Berlag von Georg Bondi, Berlin.) —
Die „Freie Bühne“ hat und zur Erinnerung an ihre Begründung vor
zehn Jahren mit einem neuen Dichter beſchenkt. E. v. Keyſerling ijt fein
Stürmer und Dränger, aber ein dramatischer Poet von Feinheit und Tiefe.
In jeinem „Srühlingsopfer“ bringt er ein ganz neued Milieu auf die
Bühne: die Welt eines littauifchflavischen Bauerndorfes. Er zeigt dieje
Welt nicht nur in ihren Weußerlichkeiten, jondern mehr in ihrer geiftigen
Struktur, in ihrer Atmojphäre. Diefe Atmoiphäre, die hier herrichende
Seelenſtimmung ijt bedingt durch ein heidniich aufgefaßtes und verarbeitetes
fatholiiches Chriſtenthum. Aus diefem Milieu heraus erleidet ihr Schickſal
Orti, eine arme, gedrücte, verfümmerte Mädchenblüthe. Sie möchte doch
auch ihren Antheil am Lebensglüd haben. Diejed Lebensglück bedeutet hier
aber für diefe Mädchen des Dorfes die Liebe oder auch die Liebelei mit
den forichen jtrammen „Jungen“ im Dorf. Auch Orti aljo möchte ihren
„ungen“ haben und dann im Liebesglücd ganz vergehen. „Vergehen“, in
572 Thealer⸗Korreſpondenz.
der Liebe ſich ſelbſt verlieren, ſich opfern, das iſt ja überhaupt das Weſen der
weiblichen Liebe. Die arme, verlachte und verkümmerte Orti darf keinem Manne
ihr Liebesopfer bringen, weil es keiner haben will. So, in Opferſtimmung aus
Liebesgram, in Sehnſucht nad Tod und Verklärung, alſo eigentlich aus Liebes—
jehnjucht, bejchließt fie, jich der Kungjrau Maria zu opfern, der düjtern, furcht—
baren Mutter, die in einer jagenhaften Kapelle tief im Walde verehrt wird.
Verſchmäht die Erde fie, vielleiht nimmt fie der Himmel gütig an. Kurz alfo:
die geichlechtlihe Sphäre wandelt fi) in eine religiöje, oder vielmehr
wandelt jich nicht, jondern jchlägt mit einem Ruck um. Der myſtiſche
Zufammenhang zwiſchen dem Seruellen und Religiöfen ijt ja allgemein be-
fannt. Es ijt das eine der merkwürdigiten Antithejen, die in der menſch—
lihen Seele zu finden find. Dieſer Umschlag wird für Orti nun wahrhaft
ein salto mortale, ein Todesſprung der Seele, der ihr dad Leben Eoitet.
Das alfo it das Problem. Und hat man das Problem jo begriffen,
dann ijt es Har, daß Orti durchaus ein dramatiiher Charakter iſt, im
tiefiten Sinne des Worted „dramatiſch“. — Das hat man leider verfannt
und man hat gemeint, dieſes Bühnenwerk ſei aar fein Drama, fondern
unpafjender Weife auf die Bühne gebradte Lyrik. Es ijt wahr: das
Ganze ift in einen gewiſſen Lyrismus getaucht. Aber das ijt doc
natürlid. Wer den Volkscharakter jener Gegenden aud nur ein bischen
fennt — in Berlin fennt man ihn aber naturgemäß nicht — der weiß,
daß die Seelenregungen ſich dort Iyriich äußern, im Lied. „Dainos“
heißen dieje Littauifchen Volkslieder. Man wende nun aber nicht ein, daß
dann die lyriſche Grundjtimmung naturaliftiich, weil der Wirklichkeit ent-
iprechend, begründet jein mag, aber der dramatijchen Stimmung und
Spannung doc ſchade. Im Gegentheil: ich bin der Ueberzeugung, daß
die dramatiihe Spannung und Stimmung der Seele, aus der heraus ein
Drama gedichtet wird, dem Mufikalifchen viel näher jteht als dem
Epiihen. Ich empfinde das jede Mal beim Anhören einer Symphonie
3. B., durch die ich jtet3 in eine dramatilchtragiihe Stimmung verjeßt
werde. Auch hiſtoriſch ijt ja das Drama, das griechiſche wenigitens,
aus der Muſik herausgewachſen. Das äußere Geſchehniß, das Epiſche
im Drama iſt nur das Sekundäre, an dem die dramatiiche
Stimmung fi gewifjermaßen objeftivirt. Der Werth einer Tragödie,
ihr spezifisches Charakteriftifum liegt nicht im Mindejten in den
Geſchehniſſen auf der Bühne, jondern in einer bejtimmten Stimmung und
Schwingung der Seele. So fommt es denn auch — beiläufig bemerkt —
daß Maeterlind echt tragifche und dramatifche Stimmungen und Wirkungen
erzielt.
Man hat dem Dichter des Frühlingsopferd vorgeworfen, daß er nicht
originell fei, daß er nur nachempfinde. Orti ſei aus Hannele entitanden,
meinten die Einen. Sa, — aber Drti ijt ein liebesreife8 Mädchen. Die
Vermlichkeit der Lebenslage und die Sehnſucht zum Himmel theilt fie wohl
Theater-Korrefpondenz. 973
mit Dannele, aber nicht das jeruelle Liebedempfinden. Orti ift ein
Charakter, mit einem individuellen Seelenproblem vom Dichter audgejtattet,
einem Problem, aus dem ihr Scidjal wächſt. Andere haben gejagt: Orti
erinnert an Halbes Mädchengeitalt in der „Jugend“. Aa, — aber
Klärchen iſt nicht? als eine holde, naive Sinnlichkeit. Für Orti ift gerade
das Umſchlagen des Seruellen ind Religiöſe ausfchlaggebend. Man
könnte wohl jagen: Orti ijt eine Syntheje von Hannele und Klärchen.
Darin aber läge dann fein Vorwurf mehr. Eine Syntheje ift immer
etwas Neues und Lebensfähiges auf höherer Stufe. Am Uebrigen ijt es
ganz ausgeſchloſſen, daß Keyierling etwa als ſcharfer Dialektifer feinen
Eharalter verjtandesgemäß konftruirt hat. Dagegen ſpricht die einheitliche
Grundftimmung, die dur das Ganze geht. Und diefe Stimmung jener
heidnifchschriftlichen Dorfwelt Littauend ift ganz neu. Die Eigenart der
Gelammtjtimmung und die Fähigkeit, ihr Ausdrud zu geben, bedingt aber
im tiefiten Grunde die Originalität eines Dichter. So habe ich mid) denn
ſchließlich zum Wertheidiger diejes Keyjerlingichen Erſtlingswerkes aufge—
worfen. Doch meine Leſer wiſſen ed wohl längſt, daß ich mein Kritiker—
amt ſo auffaſſe, wie etwa Cicero ſeinen Juriſtenberuf: mehr Vertheidiger
als Ankläger. — Was die Darſtellung betrifft, ſo will ich lobend hervor—
heben an erſter Stelle Marie Meyer vom Leſſing-Theater, die eine alte
Frau in ihrer Miſchung von Heidin und Chriſtin ſehr eindringlich gab.
Al Orti wurde Gertrud Eyjoldt, die am Schiller-Theater ein bischen im
Berborgenen wirkt, als Künftlerin eigentlich erjt entdedt. Sie fand mit
Recht viel Anerkennung.
Berlin-Steglig, 24. November. Mar Lorenz.
Politiſche Korrefpondenz.
Die Ablehnung des Arbeitöwilligengejeßed. Sozialpolitijches,
Weltmactpolitif und Sozialdemokratie.
Wie von vornherein zu erwarten war, hat die zweite Leſung des
„Entwurfs eined® Geſetzes zum Schuße des gewerbliden Arbeits—
verhältnifjes“ mit der vollfiändigen Verwerfung der Vorlage geendet.
Sie fand gemäß dem vor der Vertagung am 22. Juni gefaßten Bejchlufje
des Neichdtagd, don einer Kommilfionsberathung abzujehen, am 20. No—
vember jogleicd im Plenum jtatt und wurde in einer einzigen, etwas tumul⸗
tuariſchen und an Ueberrajchungen reichen Sigung zu einem jchnellen Ende
geführt. Zuerit wurde der Antrag des ?Freiheren v. Stumm auf Kom—
miſſionsberathung gegen die Stimmen der Konjervativen und eines Theils
der Nationalliberalen verworfen, dann die Vorlage jelbit, für die nur die
beiden fonjervativen Fraktionen eintraten, ohne weitere Debatten abgelehnt;
für ihre fchärfiten Bejtinnmungen (den Zuchthausparagraphen) erhob fi
auch von den Konſervativen nur ein Bruchtheil, nad) Zeitungsberichten nur
etwa ein Dußend Abgeordneter. Der Vermittelungdantrag Büfing und
Genoſſen wurde nur von den Antragitellern jelbjt, dem rechtem (nord:
deutjchen) Flügel der Nationalliberalen, unterftügt, da die große Mehrheit
des Hauſes fejt entichlofjen war, mit der Vorlage vollftändig reinen Tiſch
zu machen.
Wir glauben nicht, daß die Neichstagsmehrheit den Antrag Büjing
für fachlich völlig verfehlt und unannehmbar gehalten hat. Denn er war
nicht viel mehr als eine etwas jchärfere Formulierung des geltenden Rechts,
wie e8 im $ 153 der Gewerbeordnung fejtgelegt ift; er hätte das Koali—
tionsrecht der Arbeiter unangetajtet gelafjen, im Großen und Ganzen nur
wirkliche und juriſtiſch Har begrenzte Ausfchreitungen getroffen, das Straf:
minimum durch Zulafjung einer Gelditrafe erniedrigt und überdies das
Verbot des Inverbindungtretend politiicher Vereine bejeitigt. Wir jtimmen
ihm feineswegs in allen Einzelheiten zu; er geht und mehrfach zu weit, und
Politifhe Korrefpondenz. 575
namentlic) erjcheint ung feine Formulirung der Fälle, in denen das Poſtenſtehen
als jtrafbare Drohung aufzufafjen ift, nicht gerade glücdlich; aber wir glauben
doch, daß der Örundgedanfe dieſes Antrags wieder aufleben wird, wenn wir über
fur; oder lang zur Verleihung der Recht3fähigfeit an die Berufsvereine, zu
einem bejjeren Bereinsgeje und Damit überhaupt zur Erweiterung und
Sicherung des Koalitionsrechte® kommen. Dann wird fich auch darüber
reden laſſen, auf welche Weiſe durch genauere Formulirung des $ 153 der
Gefahr eined Mißbrauchs des erweiterten SKoalitionsrechted, der ja un—
zweifelhaft vorhandenen Möglichkeit terroriftiicher Einſchüchterung und
Vergewaltigung anders gelinnnter Arbeiter durch ihre Kameraden auf der
einen Seite, jowie ähnlichen Verfehlungen der Unternehmer und ſachlich
nicht haltbaren juriftifchen Interpretationen auf der anderen Seite wirkſam
zu begegnen jei.*) Eine einjeitige Verſchärfung der Strafbejtimmungen aber,
durch die dem Arbeiter die Ausübung des ohnehin ſchon durch die Ver-
einögejege, die Nechtiprehung und die polizeiliche Verwaltungspraxis ſtark
eingeengten Stoalitionsrechte® noch mehr erjchwert worden wäre, hat der
Neihdtag mit Fug und Recht abgelehnt; er hatte feine Luſt, um die
Worte ded Abgeordneten Lieber zu brauchen, das Pferd am Schwanze
aufzuzäumen.
Durch die rückſichtsloſe Verwerfung der ganzen Vorlage bat die
Mehrheit des Neichdtages mit aller Entjchiedenheit bekundet, daß jie unbe-
dingt an dem Gedanken einer energiihen Weiterführung der Sozialreform
auf dem Boden vollfommenjter Gleihberehtigung von Unter—
nehmern und Arbeitern fejthält, wie fie in den kaiſerlichen Erlajjen vom
4. Februar 1890 proflamiert worden iſt; Gejeßentwürfe, die praftiich ouf
eine Verkümmerung diejer Gleihberechtigung hinauslaufen würden, haben
im Neichdtag auf feine Zuftimmung zu rechnen. Das haben wir bereits
vor einem halben Jahre an diefer Stelle betont, als die einmüthige Ver—
urtheilung des Unternehmerabjolutismug in den Reichstagsdebatten vom
4. und 5. Mai die volljtändige Iſolirung des Freiherrn dv. Stumm und
jeiner Richtung deutlich gezeigt hatte; und wir haben daran damals die
Hoffnung geknüpft, dab die verbündeten Regierungen in richtiger Er—
fenntniß der politiihe Situation von der Einbringung der angekündigten
Vorlage überhaupt abjehen und ji) und dem Reichstag die Nothwendigfeit
ihrer Ablehnung eriparen würden.
Diefer Wunſch ift nicht in Erfüllung gegangen. Die Regierung hat
eine Niederlage erlitten, die weit jchwerer wiegt als die Ablehnung der
Ranalvorlage; der Reichstag hat jeine Verwerfung des Entwurfs überdies
*) Die einfahe Streihung des 8 158 eriheint uns im Intereſſe der
Arbeiter felbjt nicht angängig; wir würden dann zu einer umfajjenden
Anwendung der bärteren Beltimmungen des Strafgeſetzbuchs über
Nöthigung und Drohung kommen, während man es jet gewöhnlich
bei den milderen Strafen des $ 158 bewenden läßt.
576 Politiſche Korrefpondenz.
in wejentlich jchärjere Formen gekleidet als das preußiiche Abgeordneten:
haus, und trogdem bleibt der Negierung nichts weiter übrig, als fi) mit
würdevoller Nefignation in das Unvermeidliche zu fügen. Wir bedauern
die jchroffe Form der Ablehnung, wir bedauern vor Allem im Intereſſe
des Anſehens der Regierung, daß ſie ed überhaupt foweit fommen lieh.
Es wäre mit Nüdjicht auf das neue Flottengejeß und die geſammte politifche
Lage beſſer und klüger gewejen, wenn jie ſich zur freiwilligen Zurüdziehung
der Vorlage entichloffen hätte, al3 fie ihre völlige Ausſichtsloſigkeit erfannt
hatte. Thatjächlich hat auch in der Regierung eine Zeitlang die Abficht be:
jtanden, die Vorlage ftillihweigend fallen zu lafjen; allerdings, wenn wir
recht berichtet find, nicht durch formelle Zurüdziehung, jondern auf dem Wege
des Schlufjes der Seſſion und einer neuen Eröffnung des Reichsſtages. Damit
wären aber neben der Arbeitöwilligen-Borlage auch verjchiedene andere
noch im Stadium der Kommiſſionsberathungen befindliche Gejeße be-
jeitigt worden, darunter auch die jozialreforımerische Novelle zur Gewerbe:
ordnung, jodaß man den Verziht auf Diejen Weg zur Erledigung der
Borlage weiter nicht bedauern kann.
Das wichtigſte Ergebniß der ganzen Kampagne, dad wir mit Genug-
thuung begrüßen, iſt die offenkundige Yeititelung der jozialpolitifchen
Wandlung, die fih in den Anſchauungen des weitaus größten Theila
der gebildeten und bejißenden Klafjen vollzugen Hat. Wir haben dieje
Wandlung bier ſchon mehrfach fignalifirt und auch ihre Gründe bereits
eingehend erörtert. Die nahezu einmüthige Verurtheilung der „Zucht:
hausvorlage* hat bewiefen, daß der Umjchwung der Anfichten noch tief:
gehender ijt, ald wir zu hoffen gewagt hatten. Im Zentrum und bei
den Linksliberalen hat fich feinen Augenblid ein Schwanfen gezeigt. Selbit
der rechte (norddeutjche) Flügel der Nationalliberalen Hat über feine un:
bedingte Ablehnung der Borlage niemald einen Zweifel gelajjen: die Be-
jftimmungen des Antrags Büfing find von denen der Negierungsvorlage
fundamental verjchieden. Der linke (ſüddeutſche) Flügel hat ſogar von
vornherein die Führung im Kampfe gegen die Vorlage gehabt, und feiner
entichiedenen Haltung, dem tiefen moralischen Eindrud, den das Auftreten
Bafjermanns und der großen Unternehmer v. Heyl und Nöfide auf das
gebildete Bürgertum ausgeübt Hat, ijt die unbedingte Abweilung des Ent-
wurfs mit in erjter Linie zu danken.
Was bier jchon nach der eriten Leſung Eonftatirt wurde, fan nad)
der endgiltigen Entjcheidung nur nochmal8 wiederholt werden. Die jozial-
politiihe Wandlung. die fi) in der öffentlihen Stimmung vollzieht, Hat
ihre jchwerjte Probe glücklich bejtanden; jene Periode jozialpolitifcher
Reaktion, die ald Nachwirkung des Sozialijtengefeged auf die hoffnungs-
freudige Zeit des Anfangs der neunziger Juhre folgte und die Umſturz—
vorlage, das Vereindgejep und die Arbeitswilligenvorlage gezeitigt hat, kann
nunmehr als glüdlih überwunden gelten.
Politifhe Korrefpondenz. 577
In diefem Sinne, als Abſchluß einer unerfreulihen Epifode der
deutſchen Politik, faßt auch ein großer Theil der Preſſe die Ablehnung
der Vorlage auf. Interefjant und erfreulich ijt ed, wie leicht fich die Kreuz—
zeitung“ mit dem Scheitern des Geſetzes abfindet; fie empfiehlt jetzt an
feiner Stelle, al3 einen anderen Weg zum jozialen Frieden — die Vers
allgemeinerung jener Lohnvereinbarungen, wie fie jih im Buchdrucker—
gewerbe die Organifationen der Unternehmer und Arbeiter in der Tarif:
gemeinschaft geichaffen haben. Man wird danach hoffen dürfen, daß Die
„Kreuzzeitung“ auc der Erweiterung des Koalitionsredyte® und der ges
jeglichen Anerkennung der Berufsvereine zuftimmt, da ſtarke Arbeiter-
organijationen die unumgänglic; nothwendigen Vorbedingungen für ders
artige Inftitutionen find.
Wie jehr dem Reichstag neben der Zurückweiſung ungerecdhtjertigter
Repreſſivmaßregeln aud) die pofitive Fortjührung der Sozialreform
angelegen ift, hat er gleich in jeiner erjten Sigung anı 14. November be=
wiejen; bei den Verhandlungen über zwei Petitionen um Erlaß eines
Reichswohnungsgeſetzes ftimmte er mit großer Mehrheit einer
Nefjolution des Abgeordneten Schrader zu, die den Reichskanzler auf:
fordert, eine Kommiſſion einzujeßen, die unter der Theilnahme von Reichs—
tagsmitgliedern eine Unterfuhung der beitehenden Wohnungsverhältnifje
vornehmen und Borjchläge zur Bejeitigung der ermittelten Mängel
machen joll.
Wir wünſchen dringend, daß dieſe Rejolution nicht einfach in den
Papierkorb ded Bundesrathg wandert. Die Wohnungsfrage ijt ein ums
faſſendes und jehr jchwierige8 Problem, deſſen Yöfung, joweit ſie auf
dem Wege der Gejeßgebung und Verwaltung überhaupt möglich ijt, von
der gemeinjamen Wirkjamfeit des Reichs, der Einzeljtaaten und der
ftädtiichen Kommunen abhängt; die Wohnungsfrage berührt die ver—
fchiedenften Gebiete, für Deren gejeßlihe Regelung theild das Reich
(Sanitätöpolizei, Miethrecht, Hypothefenbanfen zc.), theil3 die Einzeljtaaten
(Baus und Straßenpolizei, Steuerverfaflung) kompetent find, während die
Mitwirkung der Gemeinden, denen überdied gegenwärtig die ort3jtatutarijche
Regelung zahlreicher Einzelfragen zujteht, ſelbſtverſtändlich ebenfalls nicht
zu umgehen ijt. Jedenfalls iſt auch für die gejeßgeberijche Thätigfeit des
Reichs in der Wohnungdfrage ein weites Feld vorhanden; e3 iſt deßhalb
durchaus zu begrüßen, daß der Neichdtag einen hoffentlich wirkfjamen Ans
ftoß zur legislatorischen Behandlung der Frage gegeben und ji) nicht ein=
fach auf den ablehnenden Standpunkt gejtellt hat, die Wohnungsfrage gehe
dad Reich nicht3 an, fie jei lediglich Sache der Einzeljtaaten. *)
*) Hier fei auch erwähnt, daß ſich im vorigen Jahre in Frankfurt a. M.
ein Verein „Reichswohnungsgeſetz“ unter dem Borfig des Dr. von
Mangoldt gebildet hat, der eine rührige propagandiftiiche Thätigfeit für
eine energifche und umfaffende Wohnungsreform entfaltet.
Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 37
578 Bolitifhe Korreſpondenz.
Höchſt erfreulich ift es auch, daß die Reichstagskommiſſion bei der
Berathung der Novelle zur Gewerbeordnung zu verjchiedenen Ver—
bejjerungen der urjprünglichen Vorlage gefommen ift, von denen die ein-
ftimmig angenommene gejeßlihe Einführung des Neunuhrladenſchluſſes
die wichtigjte ift, die hoffentlich aucd; vom Plenum acceptirt werden wird;
wir find der Anjicht, daß man auch vor der jofortigen Einführung des
Achtuhrſchluſſes nicht hätte zurüdzufchreden brauchen, da die Unſitte über:
trieben langer Ladenzeit in feiner Weiſe fonjervirt werden jollte. Der
Widerjtand der Regierung in dieſer Frage ift jchwer verjtändlih; ihr
Vorſchlag, der nur auf Einführung einer mindeftens zehnjtündigen Ruhe—
zeit ohne obligatoriichen Ladenſchluß ging, mußte von vornherein als nicht
hinreichend bezeichnet werden, zumal es fich bei den Angeftellten im Handels—
gewerbe großentheil3 um Mädchen in jugendlihem Alter handelt. In
Berlin 3. B. wiirde fich die zehnftündige Ruhezeit jchon wegen der großen
Entfernungen zwiſchen Wohnung und Geſchäft in zahlreihen Füllen auf
8 Stunden und weniger reduziren; rechnet man dann noch Die Zeit für
das Abendbrot, Frühftüd. Aus- und Ankleiden ab, jo bleiben 6 bis 7
Stunden effektiver Ruhezeit übrig, die nicht einmal zur Befriedigung des
phyſiſchen Schlajbedürfnifjes genügen.
Aber auch für die Regelung der großitädtiichen Wohnungsfrage iſt der
Kampf gegen den durd) keinerlei vernünftige Gründe erheijchten jpäten Laden—
ihluß eine dringende Nothmwendigkeit. Wie will man zu der fanitär und
wirthichaftlich gebotenen weiträumigen Bebauung der Städte, zur Förderung
des Wohnens in den Vororten fommen, wenn man nicht energijch gegen
die Ausdehnung der Ladenzeit vorgeht? In der Londoner Eity ſchließen
fajt alle Gejchäfte zwijchen 6 und 7 Uhr, in Berlin zwiſchen 8 und 11 Uhr,
theilweife auch noch jpäter. In Berlin erleben wir jet das fonderbare
Schaufpiel, daß ein Theil der Fabriken in die VBororte verlegt wird, während
die Arbeiter meijt in der Stadt wohnen bleiben müfjen, da ihre in Berliner
Ladengejchäften thätigen Töchter jeßt viel zu fpät nach Haufe fommen, als
daß jie nah dem Vorort überjiedeln könnten. — Was im Wrbeiter-Ber-
ſicherungsweſen geglüdt ift, ein vollftändiges, lückenlos in einander greifendes
Syitem zu jchaffen, muß auch auf dem Boden des Arbeiterſchutzes verjucht
werden; alle die einzelnen Maßregeln in der Indujftrie, im Handel, im
Handwerk, im Wohnungswejen etc., müſſen zu einem einheitlichen Ganzen
ausgebaut werden,
Noch wichtiger find die auf Errichtung von Arbeit3fammern, auf
eine gemeinjame Organijation von Arbeitern und Unternehmern in der Groß-
industrie und auf Schaffung eined Reichsarbeitsamtes abzielenden Be—
jtrebungen, die ja auch nicht mehr leere Utopien find, die jich vielmehr be-
reit3 zu Anträgen des Zentrums, der Nationalliberalen und der Linfs-
liberalen verdichtet haben und in die Wege formeller legislatorijcher Be-
handlung geleitet jind. Kurz, wohin wir auch bliden, auf allen Gebieten
Politifche Korreipondenz. 579
der Sozialpolitif jehen wir im Reichötag, der jet im Gegenjaß zur Bismard-
ſchen Zeit in allen wichtigen fozialpolitifchen Fragen die Führung hat, ernites
Wollen und eifriged Streben; und ed wird nur von den verbündeten Re—
gierungen abhängen, wie jchnell und in welder Form die Wünſche des
Reichstags ſich in Gelege verwandeln.
* *
*
Wir haben im vorigen Heft der „Preußiſchen Jahrbücher“ im Anſchluß
an den hannoverſchen Parteitag den vollſtändigen Wandel der theoretiſchen
Örundanjchauungen der Sozialdemokratie näher beleudhtet. Die Erörterung
der muthmaßlichen praftiihen Konjequenzen dieſes Umſchwungs wurde
dabei aus Äußeren Gründen vertagt ; fie jol heute nachgeholt werden, da
uns die vorjtehenden Betrachtungen über die jozialpolitiichen Wandlungen
im Bürgertum ſowie das Auftauchen neuer Flottenpläne von jelbjt wieder
auf das Thema Hinleiten, das ficherlich eins der wichtigſten Probleme unjerer
inneren Politik darftellt.
Der Umſchwung der jozialdemokratiihen Anſchauungen kann nicht
allein aus der fortichreitenden nationalöfonomiichen Erkenntniß, auch nicht
allein aus dem Anſchluß anderer nichtproletarischer Schichten an die Partei
erflärt werden; von weit größerer Bedeutung dürfte der Umſtand gewejen jein,
daß die wachſende Gewerkjchaftsbewegung und die jtaatlihen Zwangsorganie
jationen (Krantenfafjen, Gewerbegerichte zc.) allmählich einen ganz neuen Typus
des ſozialdemokratiſchen Arbeiterd gefchaffen haben, der durch die praftifche
Berwaltungsthätigfeit auf pofitive Ziele hingeleitet und den phantajtijch-
revolutionären Träumen entfremdet worden ift. Dadurch iſt erjt der re
volutionäre Boden gelodert und zur Aufnahme der Bernjteinichen Ideen fähig
geworden. Da nun die Gewerkſchaftsbewegung (und neben ihr das Genoſſen—
ſchaftsweſen) unzweifelhaft immer weiter fortjchreiten wird, da wir außerdem
feinen Schritt auf dem Wege der Gozialreform vorwärt3 thun Fönnen,
ohne gleichzeitig die Arbeiter zur Verwaltung ihrer Angelegenheiten ftärfer
heranzuziehen, fo können wir mit Sicherheit auf ein bejtändiges Wadjen
der realpolitiihen Einficht, auf eine immer jchnellere Ueberwindung des
revolutionären Utopismus rechnen. Der Entwidelungsprozeß, in dem ſich
die Sozialdemokratie befindet, vollzieht ſich mit innerer Nothwendigkeit,
wenn er auch durch ungeſchickte Maßregeln der Regierung gehemmt, durch
geichicte bejchleunigt werden kann.
Wa3 bedeutet nun dieſe Entwidelung für die Sozialdemokratie ald
politifhe Partei? Das ijt die Hauptfrage, die ich natürlich nur hypo—
thetijch beantworten läßt, bei der wir und darauf bejchränfen müfjen, die
einzelnen Entwidelungsmöglichkeiten kurz zu jkizziren.
Zunächſt ändert ſich allmählich, wie ohne Weiteres Elar ift, die Stellung
der Sozialdemokratie zu den übrigen Parteien ; jie haben ſchon jegt auf:
gehört, für fie „eine einzige realtionäre Mafje“ zu jein, ebenjo wie in den
„bürgerlichen“ Barteien die Scheu vor einem zeitweiligen Zujammengehen
37*
580 Politiſche Korreipondenz.
mit der Sozialdemokratie mehr und mehr zurüdtritt. Die Orenzmauer,
die fie von den anderen Parteien trennt, erniedrigt jih nad) und nad).
Das ift für die Sozialdemokratie Anfangs ein Vorteil, da ihr jo leichter
Angehörige anderer Parteien zuftrömen und fie eine Reihe von Wahl:
erfolgen erlangen fann. Ein bleibender Gewinn wird für fie aber kaum
daraus entjpringen, da mit der Abſchwächung der Parteigegenſätze an
Stelle der großen prinzipiellen Differenzen die fonfreten Spezialjragen für
die jeweilige Haltung des Wählers enticheidend werden. Das empfinden
auch die radikalen Elemente, namentlich der alte Liebknecht, durchaus
richtig; daher ihre heftige, aber gänzlich ausficht3lofe Oppofition gegen
die „Verwäſſerung“ der Bartei, die an Mafje gewinne, aber an innerer Feſtig—
teit verliere.
Die Stärke der Sozialdemokratie beruhte früher darauf, daß fie ledigs
[ich oder ganz überwiegend Indujtriearbeiter umfaßteund von einer einheitlichen
revolutionären dee getragen wurde, die fie mit einer ungeheuren Be-
geijterung und Siegeszuverſicht erfüllte. Die heutige Sozialdemokratie
vereinigt neben den Sndujtriearbeitern große Schichten der übrigen ftädti-
ſchen Bevölkerung, Theile des norddeutichen Landproletariats, ſüddeutſche
Kleinbauern, nenerdings fogar oſtpreußiſche Rittergutöbefiger und ſchwäbiſche
Paſtoren, furz die heterogeniten Elemente. Je mehr nun die dee der
revolutionären fozialiftiihen Umgejtaltung der ganzen Gejellichaft verblaßt,
um fo mehr wird der politiihe Radikalismus zum alleinigen Ritt der
ganzen Partei.
Damit wird die Sozialdemokratie auch in ihrer inneren Struftur den
übrigen Parteien immer ähnlicher, die ja auch die verjchiedenjten jozialen
Klaſſen in fich vereinigen und durch das Band gemeinjamer politijcher
Keen zufammenzuhalten fuchen. Mit wie geringem Erfolge, ijt befannt:
gelingt es doc ſelbſt dem Zentrum, das noch über den ſtarken konfeſ—
fionellen Neifen verfügt, nicht immer, die divergirenden wirthichaftlichen
Intereſſen im fich auszugleichen; find doch alle übrigen Parteien in zahl«
reihen Fragen gejpalten und unter der Einwirkung der verjchiedenen wirth—
fchaftlihen und jozialen Strömungen eigentlich in bejtändiger Umbildung
begriffen. Auch der Sozialdemokratie wird e3 nicht gelingen, heterogene
wirthichaftliche Intereſſen dauernd unter einer politiihen Fahne zu ver:
einigen.
Die Sozialdemokratie. hat in den legten Jahren in immer jtärferen
Maße bei ihrer Agitation — neben der Abwehr von Ausnahmemaßregeln
gegen die Arbeiter — die rein politischen GefichtSpunfte in den Vordergrund
gejtellt, den Kampf gegen den „Militarigmnd und Marinismus, die Welt:
macht- und Kolonialpolitif“ ſowie gegen alle neuen Steuern. Kommen die
verbündeten Regierungen — wie wir hoffen — endlid) einmal von den ausſichts—
lojen Plänen bloßer Repreffivmaßregeln zurüd, die die divergirenden Elemente
der Sozialdemokratie immer wieder fejt zufammenjchließen, jo kann es nur
Politifche Korrefponden;. 581
eine Frage relativ furzer Zeit fein, daß die rückſichtsloſe Propaganda des
politischen Radifalismus, die mehr und mehr das Lebendelement der heutigen
Sozialdemokratie wird, mit den wirthichaftlichen Interefjen der Arbeiter-
Hafje in Konflikt geräth.
Schon jegt zieht fi) durch die Sozialdemokratie der Gegenjaß der
politiihen und gewerkjchaftlichen Bewegung, der immer jchärfer hervortreten
muß, je mehr fich die gewerkichaftliche Bewegung von der geiftigen Unter—
ordnung unter die politiiche emanzipirt, je mehr fie ſich auf ihre eigenen
Füße jtellt und ihre Eigenart frei entfaltet. Die reine Gewerkſchaftsbe—
mwegung ſucht jtet3 alle Gewerbögenofjen ohne Rückſicht auf die Partei—
jtelung zu gemeinfamem Vorgehen zu vereinigen. Für fie ftehen pojitive
gejeglihe Maßregeln im Vordergrund, gleichviel von wem jie durchgeführt
werden; ſie jtrebt deshalb danach, ſich mit allen Parteien gut zu jtellen,
von denen jie eine Förderung erwarten fann. Finden die beruflichen
Intereſſen der Arbeiter bei den übrigen Parteien eine energijche Vertretung,
jo fann das nicht ohne Rüdwirkung auf ihre Stellung zur Sozialdemokratie
fein. Daher denn auch das injtinktive Mißtrauen, mit der die politijchen
Führer von jeher die Gewerkſchaftsbewegung betrachtet haben. Daher denn
auch jedenfall$ der joeben veröffentlichte jozialdemokrarijche Antrag, der auf
der einen Seite nit nur allen industriellen Arbeitern, jondern auch den
Sandarbeitern, Dienjtboten, Seeleuten, Beamten (!) ꝛc. ein jchranfenlojes
Streif- und Roalitionsreht verleihen, auf der andern Seite aber Unter
nehmer, die ſich zur Ausjperrung ihrer Arbeiter vereinigen, mit Gefängniß
bejtrafen will; ein Antrag, der an Stelle eined Ausnahmegeſetzes gegen
Arbeiter ein Ausnahmegeſetz gegen Unternehmer jegt, dem man jofort
ansieht, daß feinen Augenblid ernjthaft auf jeine Annahme gerechnet wird,
der nur dazu dienen joll, alle anderen Parteien durch die Exrtravaganz
jeiner Forderungen zu übertrumpfen, um ihre Ablehnung agitatoriich aus—
nugen zu fünnen. Eine radifale Partei kommt ja überhaupt jehr leicht
dazu, ihre Forderungen zum Zwed der Agitation gegen andere Parteien jo
extrem wie nur irgend denkbar und ohne jede Rückſicht auf die Möglichkeit
ihrer Verwirklichung zu formuliven; und dies Bejtreben trıtt naturgemäß
um jo jtärfer hervor, je freundlicher fi) die gegneriichen Parteien zu ge—
wijjen Forderungen jtellen.
Der politiihe Radikalismus, namentlih der Kampf gegen den
„Militarismus“, war für den Arbeiter etwas abjolut Selbjtverjtändliches,
jolange ihn die revolutionären Ideen volljtändig beherricdhten, jolange vr
im jtehenden Heer das jtärkite Bollwerk erblidte, daS den Klaſſenſtaat vor
dem revolutionären Umjturz jchügte. Je mehr der Revolutionarismus
verblaßt, um jo mehr verliert die prinzipielle Ablehnung des Militarismus
ihre Bajis, um jo mehr treten die ruhigen militärifchetechniihen Er—
wägungen über die bejte Form der Yandesvertheidigung in den Vorder—
grund, aus denen heraus denn auch Schippel auf dem Hannoverichen
582 Politiſche Korrefpondenz.
Parteitag zur Bekämpfung des Milizigitemd gefommen ijt. Und es it
ungemein charakteriftiich, daß es gerade Schippel ijt, der die Fahne des
Aufruhrs gegen dieje Lieblingdidee des demokratischen Radikalismus zuerit
erhoben hat; denn Schippel ift derjenige, der in feiner ganzen politijchen
Thätigkeit jtet3 mit bejonderem Nachdruck den Standpunkt des Induſtrie—
arbeiterd betont und jtet3 die „kleinbürgerlich-demokratiſche“ Richtung, den
leeren politiſchen Radikalismus, aufs Schärfjte befämpft hat.
Andererfeitd wird aber die Ablehnung aller militärischen Forderungen
für die Sozialdemokratie als agitatorifch-politiiche Partei immer wichtiger,
je mehr das freifinnige und demofratifche Bürgertum in feinen flügeren
Elementen von jeiner jchroff negirenden Haltung in militärischen Fragen
zurüdtommt. Da ein Theil des Kleinbürgerthums diefen Umſchwung nicht
mitmachen will, geht er zur Sozialdemokratie über, deren eigentliches Ziel
immer mehr die Bildung einer großen demokratischen Partei wird; die all:
mähliche Zerreibung der freifinnigen und der jüddeutichen Volkspartei iſt
die Folge diejer Entwidlung.
Wir jeben aljo, die theoretiiche Abkehr vom revolutionären Sozialismus
bedeutet in der praftiichen Politik die Möglichkeit eines Konflikte zwijchen
den beiden Grundprinzipien der Partei, zwiſchen dem Arbeiterinterejje und
dent politischen Radikalismus.
Der Gegenjaß der beiden Prinzipien ift vorläufig noch latent, da der
politische Radikalismus die Anſchauungen der überwiegenden Mehrheit der
Partei noch abjolut bejtimmt. Er wird fich aber bejtändig und vermutb:
fi ziemlich jchnell vertiefen, fobald die Regierung endgültig von ihrer
bisherigen Politik abfommt, jobald die übrigen Parteien fich die Ver—
tretung der beruflichen Interejjen der Arbeiter, die Kortführung der Sozial—
reform, eifrig angelegen jein lajjen.
Bon großem Einfluß auf die fernere Entwidlung der Sozialdemokratie
wird jedoch außerdem die Gejtaltung unjerer Handeld- und Kolonial:
politik jein, von der ja überhaupt Deutjchlands Zukunft abhängt,
deren glüdlicher Fortgang eine nothwendige Vorausſetzung für die Hebung
der breiten Maſſen des Volkes ijt.
E3 ijt in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ ſchon öfter betont worden),
daß die moderne Entiwidlung auf die Bildung großer geichlofiener Wirtb-
jchaftsgebiete Hindränge; Rußland mit feinen aſiatiſchen Beſitzungen, die
Vereinigten Staaten mit ihren neuen Kolonien, England mit jeinem folonialen
Weltreih, Frankreich mit feinem ftattlichen überſeeiſchen Bejige: alle juchen
fih mehr und mehr innerlich zu fonjolidiren und ſich nad) außen abzus
jperren. Will Deutichland nicht völlig ind Hintertreffen gerathen und zu
einer Macht zweiten Ranges herabfinten, jo muß es ebenfall3 feine wirtb-
ſchaftliche Baſis durch Erwerbung von Kolonien erweitern, die den Leber:
*) Bol. befonders „Deutſchland und der Weltmarlt (Bd. 91 S. 240.)
Politiſche Korrefponbenz. 583
ihuß jeiner Bevölkerung aufnehmen, die ihm die nöthigen Nahrungsmittel
und Rohſtoffe liefern können und ein ſicheres Abſatzgebiet für feine Induſtrie—
produfte darjtellen. Die Schaffung ded „größeren Deutſchland“ ift die Aufgabe
des zwanzigiten Jahrundert3 und eine eben ſolche Nothwendigfeit fiir unjer
rwirthichaftliches Gedeihen, wie es die Herjtellung des einigen Dentjchland
im neunzehnten Sahrhundert war; die Rolle, die in der Vergangenheit
damals das preußische Heer jpielte, fällt in der Zukunft der deutjchen
Flotte zu.
Die Nothivendigkeit kolonialen Befiged für ein großes induftrielles
Land geben aud, die einfichtigeren Sozialiften zu. Bernjtein betont, daß
folonialer Beſitz fi) ald Faktor der „Steigerung ded Reichthums der
Nationen bewährt habe“; und er fährt fort: „Un diefer Steigerung hatten
aber aud) die Arbeiter von dem Augenblick an ein nterefje, wo Koalitions—
recht, wirkſame Schutzgeſetze und politiſches Wahlrecht fie in den Stand
jegten, jich jteigenden Antheil an derjelben zu fichern.“
Die jozialdemofratijche Partei aber befämpft grundfäglich und mit aller
Schärfe unjere Kolonialpolitit und jede Vergrößerung unferer Kriegsflotte,
überwiegend aus politiihem Radikalismus, zum Theil jedoch auch noch aus
der im vorigen Heft beleuchteten phantajtiichen Idee heraus, daß der Export
durch die Untergrabung des inneren Marktes gejchaffen fei und daß e8 nur
der jozialijtifchen Regeneration der Gejellichaft bedürfe, um alle Schwierig:
feiten der modernen wirthichaftlihen Entwidlung zu befeitgen.
Ihr Widerjtand gegen die Vergrößerung der Flotte muß die* Partei
zunächſt in jcharfen Gegenja gegen die im Schiffbau und feinen aus—
gedehnten Hilfägewerben, (namentlich in der Metallindustrie) bejchäftigten
Arbeiter bringen; jchon bei der legten Wahl hat die Sozialdrmofratie Kiel
und Stettin verloren und nirgends geringere Fortichritte als im rheiniſch—
weſtfäliſchen Montanrevier gemacht. Biel wichtiger aber ift, daß die In—
dujtriearbeiter überhaupt nicht dauernd darüber im Unflaren bleiben können,
welche furchtbaren Gefahren für das ganze deutiche Wirthichaftäleben,
namentlich aber für die Induſtrie, eine Niederlage zur See und eine Blodade
in ſich birgt, welche abjolute wirthichaftliche Nothwendigkeit die Ver:
theidigung unjerer überjeeiichen Intereſſen und die Schaffung eined aus
gedehnten Kolonialbeſitzes iſt.
Welche Gefahr der ſozialdemokratiſchen Partei von dieſer Seite droht,
fühlt fie auch jelbjt ganz deutlich; ein Blid auf England, wo die dee des
Imperialismus in der Urbeiterfchaft immer fiegreicher vordringt, zeigt
ed ihr ja zur Genüge. Im legten Heft Nr. 7 der jozialdemofratijchen
„Neuen Zeit* räumt anch Kautsky“) die Erfolge der imperialijtiichen dee
offen ein; feine Ausführungen find interejjant genug, um fie in ihren
wichtigiten Stellen wiederzugeben:
*) In einem Artilel „der Krieg in Südafrika.“
584 Politifche Korreſpondenz.
„Aber neben dem Sozialismus ift aus dem Niedergang des Mancdheiter:
thums noch eine andere Macht erjtanden, der Imperialismus, der, ge
tragen von den Bedürfniffen der herrichenden Klaſſen, im englischen Volke
noch rajchere Fortichritte gemacht hat als der Sozialismus, und der heute
das vornehmjte Mittel ijt, des letzteren Fortichritte zu hemmen.
„Bu unferer jchmerzlichen Ueberrafchung zeigt uns die jegige Stimmung
in England, wie sehr der Imperialismus fi) auch der Arbeiter be
mächtigt hat.
„Nirgends iſt das Proletariat ftärfer, nirgends eher im Stande, eine
jelbjtändige Politif zu verfolgen und nirgends zeigt es ſich abhängiger von
der bürgerlihen Politik al3 in England!
Das Hat wohl feinen Grund nicht bloß in den Gewohnheiten, die es
noch aus der goldenen Zeit des mancdhejterlichen Aufſchwungs bewahrt hat,
jondern auch in materiellen Verhältnifien der neuejten Zeit. Mit den
Rapitalijten vereinigt fühlen fi aud die Arbeiter Englands
als eine bevorrechtete Klafje gegenüber der Bevöllerung der
eroberten Gebiete. Dieje Gebiete fcheinen ihnen erſchloſſen
niht bloß für den Unternehmungsgeift der Kapitalijten,
fondern aud für den der überjhüjjigen Proletarier, deren
Ubzug den heimiſchen Arbeitsmarkt entlajtet. ſie jcheinen
ihnen geihaffen nit bloß um die Reihen noch reicher zu
machen, jondern aub um den Armen eine Ausficht zu eröffnen
— reich feine befjere, al3 ein Lotterieloos — reich zu werden; endlid
erjcheint ihnen die Expan ſionspolitik als ein Mittel, die Induſtrie
zu beleben, durd) Erweiterung nicht bloß des äußeren Marktes,
fondern auch des inneren, danf den Kriegsrüſtungen und dank
der Menge derer, die mit dem NRaube, den jie in den über:
jeeifhen Beſitzungen zujammengerafft, heimfehren, die Schaaren der
Befigenden und deren Nachfrage nad) Waaren und Dieniten zu
vermehren.“
So Kar Kautsky die wirthichaftlichen Vortheile der engliichen Kolonial—
politit auseinanderfegt, jo wenig begreift er ihre abjolute Nothwendigteit;
er erflärt, fie fjei nur für die herrjchenden Klaſſen, nicht aber für das
Proletariat efne Lebensfrage. „Ihm jtehen im SHinarbeiten auf Den
Sozialismus mildere, menjchlichere und volllommnere Mittel zu Gebote,
jeine Intereſſen zu wahren und die Gejellichaft weiter zu entwideln, als
die kolonialen Raubzüge.“ Wie der Sozialismus den engliſchen Reichsthum
aufrecht erhalten und fortentwideln will, wenn er feine Bafis, die politijche °
und fommerzielle Weltherrichaft, aufgiebt, erfahren wir leider nit. Dafür
heißt es weiter:
„Se mehr der Jmperialismus das Mancheſterthum zurüddrängt
und je mehr er zur Grundlage des politifchen und fozialen Syitems wird,
dejto mehr hängt die Entwidlung der Gejellihaft vom Erfolg der Waffen
Politiſche Korrefponden;. 585
ab, dejto fraftvoller muß der Militarismus in die Höhe jchiehen, diejer
geichworene Feind der Demokratie, deito eher droht aber auch eine Nieder:
lage im Sriege zu einer öfonomijchen Katajtrophe zu führen. Man dente
an die Folgen eines Weltkrieges, der für England mit dem Verluſt feines
Kolonialreiches, namentlich Indiens, endete.
„Die dritiiche Demokratie zeigt uns heute ein Bild, das in vielen
Punkten vergleichbar iſt dem der athenijchen Demokratie vor dem pelo—
ponnejiihen Kriege. Hier wie dort eine große Macht der unteren Klaſſen
im Staate, aber hier wie dort troßdem eine Ariſtokratie an der Staats—
leitung, die durch ihre äußere Politif das Volk befriedigt. Dank feiner
Seemadht gelang e3 Athen, fait alle Inſeln und Küſten des ägätjchen
Meeres fich unterthan zu machen, und deren Tribute, jowie der dank jeiner
Uebermacht mächtig aufblühende Handel lieferten die Mittel, die Ariſtokratie
reich zu machen und doch gleichzeitig eine der damaligen Zeit entiprechende
demofratiihe Sozialpolitit zu treiben, der Mafje des Volkes zahlreiche
fleine Bortheile zu gewähren. Kaum ein anderes Zeitalter gewährt einen
jo glänzenden Anblid, wie das Berikleifhe. Aber der Grimm des Unter-
worfenen und Auögebeuteten auf der einen Seite, die Eiferſucht der von
der reihen Beute Ausgeichlofjenen auf der anderen wuchs ſchließlich jo jtarf,
daß er die Gegner Athens unter der Führung Spartad zu einem Kampfe
auf Leben und Tod gegen die mächtige Seejtadt führte, die im peloponne=
fiichen Kriege ihre jämmtlichen überjeeifhen Bejigungen verlor und zu
völliger Nichtigkeit herabjant.
„Ein jeder hijtorische Vergleich hinkt, jo auch diejer. Die Gejchichte
wiederholt jich nit. Bor Allem unterjcheidet ſich das Großbritannien
von heute dadurch von dem Athen des fünften Jahrhunderts vor unjerer
Zeitrechnung, daß es eine mächtige Großinduftrie und ein mächtiges
induftrielles Proletariat befißt, da8 dem Zuſammenbruch des jtaatlichen
und gejellichaftlihen Syſtems nit ruhig zujehen würde und das die
Kraft befigt, die Nation zu regeneriren und auf eine neue gejellichaftliche
Baſis zu jtellen.* (!)
Wir vermuthen, daß das engliiche Proletariat dauernd der Ueber—
zeugung jein wird, daß es vor Allem darauf ankommt, durch Entfaltung
der nöthigen militärischen Macht und durch Ausdehnung und innere Kon—
jolidirung de3 Greater Britain den Zujammenbrud zu verhindern, daß
ed dagegen zur „Jozialiftiichen Regenerirung der Gejellichaft“ nach dem
großen Banferott nur geringes Vertrauen haben wird. Und wir geben
und der jejten Hoffnung bin, daß auch die deutjche Arbeiterjchaft über
fur; oder lang die wirthichaftliche Nothwendigkeit des größeren Deutſch—
land einjehen wird. Wenn das gejchieht, wenn dag Arbeiterinterejje mit
dem politiichen Radikalismus in dieſer fundamentalen Frage in offenen
Konflitt geräth, muß ſich die Sozialdemokratie entiweder volljtändig innerlich
umgejtalten oder fich auflöjen — wie es der bürgerlichen Demokratie bei
586 Bolittyde Korrefpondenz.
der Gründung des einigen Deutjchland ergangen iſt. Denn das Eine lehrt
und jedes Blatt der Gejhichte, daß nur die Regierung und die Partei ſich
dauernd behauptet, die es verjteht, dad Gejammtinterefje des Gemeinweſens
nah außen zu wahren und zu fördern. D.
Deutihland, Trandvaal und der Bejuh de3 Kaiſers in
England. Die neue Flotten- Forderung.
Mit einer in der deutichen Geichichte unerhörten Einmüthigfeit der
Gejinnung nimmt unjer Volk in dem afrikaniſchen Kriege Partei für die
Buren und gegen die Engländer. Es iſt nicht nöthig zu bejchreiben, wie
man die Nachrichten vom Sriegsihauplag erwartet, als ob es fh um
unjer eigene Heer handelte und jeden Erfolg der Buren bejubelt, jede
Siegednadhricht der Engländer mißtrauiſch und ſpöttiſch verwirft. Wir
find durchdrungen davon, daß es auch unjere Sade ijt, um die heute
jenſeits des Aequators gefocdhten wird. Wenn die Engländer erjt die
Buren verjchlungen haben, find unſere eigenen Kolonien nur noch Enklaven
am englijhen Machtgebiet und der Traum, daß das deutiche Volk theils
haben werde an der Weltherrichait, it zu Ende — nicht bloß für Afrika;
allenthalben Hin wird das engliiche Selbitbemußtjein, der gejchwellte Ueber-
muth des Siegerd ſich geltend machen und die Rivalen unterdrüden.
Eben indem das deutſche Volk ſich mit wachſender Leidenschaft in
ſolche Empfindungen verjenkt, ijt der deutjche Kaifer nach England gereiit
und giebt den Engländern einen eindrudsvollen Beweis jeiner freunde
ihaftlihen Gejinnung. Unjere offiziöfen Blätter jagen, e8 handle ſich um
einen bloßen Familienbeſuch des Enkels bei jeiner Großmutter, der längit
verjprocden, nicht ohne Unhöflichkeit hätte wieder abgejagt werden können.
Die engliichen Zeitungen und die öffentlide Meinung in England wiſſen
ed bejjer. Mit lautejter und wirklih ganz ungeheuchelter Freude und
Begeiiterung ijt der Klaifer von ihnen aufgenoinmen worden. In den
überjchwenglichiten Worten wird er gefeiert und umſchmeichelt. Man weit
zu jchägen, was diefer Beſuch werth iſt. Er giebt England die Gewähr,
daß e3 in feinem Kampf gegen die Buren — falls diejer ſich nicht gar zu
fange binziehn jollte — nicht gejtört werden wird. Rußland oder Frankreich
mögen an irgend einer Stelle eine Bewegung machen, der England nicht
gleich widerjprechen fann. Das ijt nicht das Entjcheidende; das mag es
hinnehmen und ſpäter reguliven. Das einzige Mittel, England in Afrika
Halt zu gebieten, jo weit es nicht die Buren jelbft bejorgen, wäre das
tontinentale Bündniß zwiſchen Rußland, Deutichland und Frankreich. Dies
Bündniß iſt das Einzige, was die Engländer wirklid zu fürchten haben.
Ein bloßes ruſſiſch-franzöſiſches Bündniß, auch wenn dieſes vielleicht die ge—
Politifhe Korrefpondenz. 587
nügende militäriiche Macht gegen England befigt, fürchten fie nicht und brauchen
fie nicht zu fürdten. Denn mit einem neutralen Deutſchland dazwiſchen
fommt e3 nicht zu Stande; dad würden ſich die Franzoſen niemald ge—
trauen: fie würden immer fürchten, von uns im Rüden angegriffen zu
werden. Darum it der pofitive fontinentale Dreibund die einzige Kom—
bination, die England (jolange ed mit den Vereinigten Staaten einig ijt)
zu fürdten hat, und das ijt der ungeheure Werth dieſes Kaijerbejuches,
daß er dieje Furcht verſcheucht. Es iſt ausgeſchloſſen, daß ein ſolches
Bündniß zu Stande kommt, jo lange der deutſche Kaifer ſolche Familien:
bejuche in England macht. Dieje private Handlung ift ein politifches Er—
eigniß erjten Ranges.
Es ift nicht das erjte Mal, daß die kaiſerliche Politik fi) derart in
den jchärfiten Gegenjab gegen die Volksſtimmung in Deutichland ſetzt.
Mit höchſt peinlihen Empfindungen hat man ſ. 3. die gegenfeitigen
Sreundichaftöbezeugungen zwijchen unjerem Kaiſer und dem Sultan beob-
achtet, während diejer falten Blutes jeine chriftlihen Unterthanen zu
Hunderttaufenden abſchlachten ließ. Mit Gewalt wurden damal3 die
Sympathietundgebungen für die Armenier in Deutfchland unterdrüdt. Bei
den heutigen Freundſchaftsbezeugungen für die Buren wäre das ganz un—
möglich; aus naheliegenden Gründen jind fie noch unendlich viel jtärfer,
und außerdem wäre ed handgreiflich ein Fehler, grade wie es bei den
Armeniern ein Fehler geweſen ijt.
Das iſt ja grade die Eigenthümlichkeit unferer Staatöverfaflung, daß
bei und auch für entgegengejegte Strömungen Raum ilt, und fie fünnen
beide im Recht und beide nüßlich jein.
Die öffentliche Meinung ift im vollen Recht mit ihrer Sympathie für
die Buren und ihrem Argwohn gegen die grenzenloje Herrſchſucht Englands,
Aber welche pofitive Politik jollte aus folcher Gejinnung wohl hervor-
gehen?
Will die öffentliche Meinung, indem fie gegen England donnert, Die
fontinentale Allianz? Will fie den Krieg? Wenn beides morgen proflas
mirt würde, ich glaube, jie wäre damit einverjtanden. Aber daß ein
Staatdmann jo leichthin diefen Weg einjchlagen fünnte oder möchte, iſt
faum anzunehmen. Das Bindnig mit Frankreich wäre vielleiht zu Stande
zu bringen, aber e& zu einer völlig ficheren Grundlage der Politik, jicher
auch gegen Rückſchläge, zu machen, das wäre doch noch feine ganz leichte
Aufgabe. Und melde Rolle würde Deutichland heute in einem großen
Seefriege fpielen, wo es nach den Liften über elf, in’Wirklichkeit aber nur
über ſechs, ſage ſechs, völlig brauchbare und leiſtungsfähige Linienjchiffe
verfügt? In einem Kriege des Kontinent? gegen England würde Deutſch—
fand nicht mehr als die Nüdendedung für die Anderen bedeuten: eine Rolle,
die und weder zufagen würde, noch vortheilhaft wäre.
Wenn aber feine fontinentale Allianz gegen England, dann kann es uns
588 Bolitiſche Korrepondenz.
auch keinen Nutzen bringen, damit zu drohen. Die Möglichkeit einer ſolchen
Allianz iſt heute vorhanden. Das braucht man nicht zu verhehlen, im
Gegentheil, es iſt gut, es mit aller Offenheit auszuſprechen, aber es
wäre verkehrt, damit zu drohen, ſolange man ſie nicht wirklich in das
Auge faßt.
Wir wollen eine Weltmacht- und Kolonialpolitik treiben im großen
Stil. Das ſteht feſt. Hier giebt es keinen Schritt zurück. Die ganze
Zukunft unſeres Volkes unter den großen Nationen hängt davon ab. Wir
können dieſe Politik aber machen ſowohl mit England als gegen England.
Mit England — bedeutet in Frieden; gegen England bedeutet — durch
Krieg. Mit England bedeutet, daß England uns freiwillig den genügenden
Spielraum neben ſich gewährt. Solange es das thut, brauchen wir ihm
nicht entgegenzutreten. Der Samoa-Vertrag zeigt, daß England wenigſtens
in dieſem Augenblick die Situation verſteht. Der Vertrag iſt keineswegs
beſonders günſtig für uns, er iſt nicht mehr als recht und billig; auch wir
haben durch Abtretungen von Land und Rechten ziemlich bedeutende Kon—
zeſſionen gemacht. Es iſt ein Vertrag zwiſchen zwei Mächten, die ſich
einander gleich ſchätzen. Bisher hat England das kaum gethan und brauchte
ed auch nicyt, denn was jind wir auf dem Meer? Uber eine Großmacht
wirft auch da, wo ihre Kanonen nicht unmittelbar hinreihen. Der Kaiſer—
lihe Bejuch war den Engländern mandes Linienſchiff werth. Wahrlich,
diefer Samoa-Bertrag war für England fein ſchlechtes Geſchäft.
Sollen wir aber nun die Buren zu Grunde gehen lafjen, um abzu=
warten, wie die Engländer nachher mit und umgehen werden ? Eine ge-
wichtige Frage. Aber find wir in der Lage, einen Krieg zu führen, um
die Buren zu retten? Wenn wir die Engländer bloß bedrohten, und
nicht bloß die öffentlide Meinung, jondern auch die Diplomatie jich un—
freundlich zu ihnen jtellte, jo würde das den Buren wenig helfen, die
politiihe Stellung Deutichlands aber in der Weltpolitik wejentlid ver—
ſchlechtern. Es bleibt und nichts übrig, ald unter Wahrung der jtriften
Neutralität die Buren ſich jelbjt und ihrer Tapferkeit zu überlafjen, und
wenn wir für uns jelber jogar aus der bejcheidenen Stimmung, in der ſich
zur Zeit die britiichen Staatdmänner befinden, gewifje Vortheile ziehen,
die zur Befejtigung unferer foloniolen Weltjtellung dienen, jo iſt das fein
Unrecht gegen die Buren, jondern wird in Zukunft einmal ihnen jelber zu
Gute fommen. Denn jelbit wenn fie jegt unterliegen jollten, jo find jie
damit noch keineswegs todt und abgethan. Das holländiiche Element in
Südafrita wird nod) lange jeine Lebenskraft bewahren und auch in zus
künftigen Welt-Konflikten noch einmal eine Rolle fpielen, die es wieder nad)
oben führen mag. Sit es heute Deutjchland, das aus dem Kriegsmuth der
Buren Gewinn zieht, jo wird einjt der Tag kommen, wo das jtarfe, jee=
mächtige Deutjchland den Afrifandern Hilft.
*
*
*
Bolitiihe Korrefpondenz. 989
In dem Vorſtehenden ift eigentlich bereit3 Alles enthalten, was über
und für die neue Flottenvorlage, um die fich in diefem Augenblid die innere
Politik Deutjchlands dreht, gejagt werden fann. Es iſt erflärt, weshalb die
neue Forderung mit jolcher Plöglichkeit aufgetreten ift, nachdem erjt vor
zwei Sahren ein Flotten-Serennat gejchaffen worden, das alle Theile be-
friedigte. Es iſt auch erklärt, weshalb plöglic in allen Theilen des Volks
das Verſtändniß für diejes nationale Bedürfniß jo Har und kräftig geworden
iſt. Schon heute unterliegt es gar feinem Zweifel mehr, daß die Forderung in
irgend einer annehmbaren Form vom Reichstag gut geheißen werden wird.
An der Wählerichaft der opponirenden Barteien, im Zentrum, im Freifinn,
bis in die Neihen der Sozialdemokratie hinein ijt eine jo ftarfe Stimmung
dafür, daß die Abgeordneten garnicht im Stande fein werden, mit irgend
welchen taftijchen Finefjen lange daran herumzuhantiren, und umgefehrt bei
den Konjervativen, wo die agrariiche Wählerfchaft in ihrer Mißſtimmung
vielleicht Schwierigkeiten machen könnte, da find die Führer, die Abgeord-
neten flug genug, um zu willen, daß fie in einer ſolchen Frage feine
DOppofition treiben dürfen. Man mag ja der Regierung bormwerfen, daß
fie ſich mit feierlihen Worten auf jechd Jahre gebunden Habe und nun
ihr Verſprechen nicht halte. Aber diefer Vorwurf ijt doch bloß ein for-
maler. Gewiß zeigt ſich eine Huge Politik darin, daß fie die fommenden
Dinge vorausfieht. Aber auch bei dem jcharfichtigiten Staatsmanne ijt
dieje VBorausficht immer nur eine relative und beſchränkte. Zuweilen ijt
die Schnelligkeit einer hiſtoriſchen Entwidelung jo rapide, daß fie jede
Vorausſicht überholt, und das ijt hier der Fall. Niemand fann wilien,
wohin jchon binnen einem Jahr diefer Burenkrieg die Weltgejchichte geführt
haben wird. Sei ed nun, daß England jiege oder daß es unterliege, in
beiden Fällen müſſen die Wirkungen unermeßlih fein. Nur wenn
es noch zu einem Kompromiß, ungefähr auf dem status quo ante
fommt, wird die Weltpolitit auf leidlich ebener Bahn, ohne uns
mittelbare große Erichütterungen weiter rollen können. Das verfteht heute
Jedermann und wirkt auf unjere ganze Bolitif zurüd. Die herzerquidende
Entichlojjenheit, mit der der Reichstag dem Grafen Poſadowsky die Zucht:
haus-Vorlage vor die Füße geworfen hat, hat ficherlid eine Quelle ihrer
Kraft gerade in der Flotten- Bewegung: das Zentrum iſt bereits innerlic)
entichlojjen, die Vorlage zu bewilligen und das gute Gewifien, hier der
patriotiſchen Pflicht voll zu genügen, bejlügelte jeinen Entjchluß, in der
Zuchthaus-Vorlage der Regierung nicht nur zu widerjprechen, jondern
fie durch die Art der Ablehnung geradezu zu mißhandeln. So bedauerlich
der Borgang dom Standpunkt des Autorität3-Prinzips iſt, jo muß die
Freude doch überwiegen, indem jich die Hoffnung daran fnüpft, daß die
Regierung ihn fic zur Yehre dienen lajjen und fich endlich von der unjeligen
Scharfmacher-Politik, die nun jchon jeit fünf Jahren Deutjchland in Ver—
wirrung jeßt, loslöjen werde.
590 Politische Korreſpondenz.
Eine befondere Luſt und Freude ift es heute nicht, in Preußen zu
leben. Maßregelungen, Abjegungen und Strafverfolgungen, wo man binhört.
Majejtätöbeleidigungd:Prozejie, grober Unfug, Disziplinar-Unterjuchungen,
die früher für unmöglich gegolten hätten. Bei jolchem Regiment im
Innern ijt es nicht leicht, die Menge zu der freudigen, opferwilligen
Stimmung binzureißen, derer man für große nationale Unternehmungen
bedarf. Aber wer jich frei machen will von den unangenehmen Eindrüden
der Gegenwart, der werfe einen Blid in die Vergangenheit und er wird
Troft finden. Siebzig Jahre iſt es her, da die hanjeatiichen Kauffahrer
vergeblich bei England, Holland, Dänemark, Schweden bettelten, ihnen Schuß
zu gewähren gegen die maurifchen Seeräuber, die vom Mittelmeer bis in die
Nordjee jtreiften. Der deutiche Bund, Preußen und Oeſterreich waren nicht
in der Lage, den deutichen Kaufmann zu ſchützen, auch wenn fie gerollt hätten.
Selbjt über Tribut-Zahlungen an die Barbaredfen-Deys verhandelten die
Hamburger, um frei über das Meer fahren zu dürfen. Fünfzig Jahre it
es her, daß darauf die erjten deutſchen Kriegsichiffe auf dem Meere er:
fchienen und Lord Palmerſton erklärte, er werde fie als Seeräuber be-
handeln, denn fie gehörten feiner anerkannten Maht — mit Recht: denn
wer war die „Deutiche Zentralgewalt“ in Frankfurt, die diefe Schiffe aus-
ſandte? Die Deutichen hatten eine Flotte, aber feinen Herrn dazu. Co
fam fie unter den Hammer. Yünfunddreißig Jahre ijt es her, feit das
Kleine Dänemark den beiden verbündeten deutichen Großmädten ein volles
halbes Jahr Widerjtand leisten konnte, weil es ein Panzerſchiff beſaß.
E3 ift doch anderd geworden in Deutichland. E3 fehlt noch viel, daß
wir nad außen und innen einen bdeutichen Staat haben, wie wir ihn
wiünjchen müſſen, aber wenn es Kaiſer Wilhelm II. gelingt, eine volls
werthige deutjche Kriegsflotte zu jchaffen, jo werden zukünftige Generationen
rücdblidend über alle die Eleinen Wergerlichkeiten, die und heute kränken und
drücen, jehr leicht binmweggehen. Dad darf man in den Kämpfen des
Tages feinen Augenblid vergeſſen. Die Scharjmacherei auf der einen, die
Verhetzung der Mafjen auf der anderen Seite mag ung heute verjtimmen.
Der idealijtiiche Grundzug des deutichen Weſens, der der freien geijtigen
Bewegung bedarf, ijt zweifellos in Gefahr. Von oben wird ein jteigender
Druck geübt, von unten ijt man an der Arbeit, den Idealismus
in Fanatismus oder Begehrlichkeit umzujegen. Da heißt e3, tapfer bleiben
in der Oppofition nad) allen Seiten, damit das alte hehre Ziel eines zu—
gleich mächtigen und freien Deutjchland, von dem uns BVerblendung und
Leidenſchaft immer wieder abtreiben, doch feinen Uugenblid und den Augen
verloren werde.
26. 11. 99. D.
Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu-
gegangen, verzeichnen wir:
Liebe, Georg. — Der Soldat in der deutschen Vergangenheit. Leipzig, Eugen Diederichs.
Lutz, Robert. — Kuhnle-Dreyfus, 31 $, Stuttgart, R. Lutz.
Mancke, Dr. W. — Der Verein Berliner Getreide- u, Produkten-Händler und seine
Glaubwürdigkeit. Oktav. 15 S. Berlin, Selbstverlag, W. Wilhelmstr. 43a.
Matthaei, Prof. Dr. Adalbert. — Deutsche Baukunst im Mittelalter. 155 S. Leipzig,
B. G. Teubner.
Meinecke, F. — Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. Zweiter
Band. Preis geheftet 12 Mark. Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nach-
folger, G. m. b. H.
Meyer, H. @G. — Eros und Psyche. 1108. M.4 geb. M. 8 bro. Berlin, Karl Siegismund
Mollwo, Ludwig. — Hans Karl von Winterfeld. Oktav. 26885. München u, Leipzig
R. Oldenbourg.
Moltkes Kriegsgeschichtliche Arbeiten. Kritische Aufsätze zur Geschichte der Feld-
züge von 1809, 1859, 1864, 1866 und 1870/71. Herausgegeben vom Gr. Generalstabe,
Abtheil. für Kriegsgeschichte, Oktav. 218 S. Berlin, E. 8. Mittler & Sohn.
Muser, Oskar. — Flugschriften der Deutschen Volkspartei Heft 4: Demokratie und
Sozialismus. Oktav. 44 Seiten 60 Pf. Frankfurt a.M., I. D. Sauerländer’s Verlag.
Pfungst, Arthur. — Laskaris. 8, Aufl. 2352 S. M. 240. Berlin, Ferd. Dümmler.
Phelps-Euchler, W. — Ein eigenartiges Leben im Dienste des Herrn. 4925. M. 4.
Wolfenbüttel, Julius Zwissler.
Pierantoni, Dr. A. — Die Fortschritte des Völkerrechts im XIX. Jahrhundert. 1328,
M. 3. Berlin, Franz Vahlen.
Priester, Dr. Oskar. — Die Deportation. Ein modernes Strafmittel. 1028. M. 2.
Berlin 1899, Verlag von Franz Vahlen.
Salzer, Dr. Ernst. — Ueber die Anfänge der Signorie in Oberitalien. Historische
Studien, Heft XIV. Oktav. 308 S. Berlin, E. Eberling.
Staub, H. — Der Begriff der Börsentermingeschäfte im $ 06 des Börsengesetzes. 78 5.
M. 1. Berlin, 1899. Verlag von Otto Liebmann.
Stier-Somlo, Fritz. — Aus der Tiefe. Gedichte. 45 S. M. 1. Berlin-Paris, Joh,
Sassenbach,
Tatarinof, Eugen. — Die Schlacht bei Dornach 14%, 64 S. Preis 15 Rappen. Basel,
Emil Birkhäuser.
Thörsch, Dr. Berthold. — Deutschnationale Politik. 88. Pf. Wien, Leopold Weiss,
Vierordt, Heinrich. — Neue Balladen. 2, Aufl. 1268. M.8. Heidelberg, Karl Winter.
Wischer, F. T. — Shakespeare-Vorträge I. M.9. Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buch-
handlung, Nachf.
Vorländer, Dr. Karl. — Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. 839 S, M. 3,25.
Halle a. S, Otto Hendel.
Wamer, Franz. — Der Polenring. Oktav. ®S. Berlin, H. Walther.
Wagmer, Wallot, Richter. — Parlaments- und Ständehäuser, Militärbauten. Hand-
buch IV, 7.2. U. Aufl. M, 12, Stuttgart, Arnold Bergstrüsser.
Walter, Dr. Friedrich. — Archiv und Bibliothek des Grossh. Hof- und National-
theaters in Mannheim 1779-1889. 2 Bände M. 10. Leipzig, Verlag v. S. Hirzel.
Welschinger, Henri. — La Mission seceröte de Mirabean à Berlin. Oktav. 52258. Paris,
E. Plon, Nourtit et Cie.
s7/
Wollny, Dr. F. — Zukunftsphantasien von ehedem und heute. Oktav. 29 S. — Das
dunkle Phönomengebiet der Magie. Oktav. 188. — Die Stubenweisen unserer Zeit.
Aus dem Russischen. Oktav. 21 S. Leipzig, Oswald Mutze.
Zöllner, Dr. Friedrich. — Einrichtung und Verfassung der Fruchtbringenden Gesell»
schaft vornehmlich unter dem Fürsten Ludwig zu Anhalt-Cöthen. Oktav. 135
Berlin, Verlag des Allg. Deutsch. Sprachvereins,. F. Berggeld.
Agostini, A. — Pietro Carnesechi. Oktav. 3853 8. L. 3. Florenz, Bernardo Seeber.
Arminius, Wilh. — Die beiden Reginen (erz. nach einer Koburger Chronik) 75 8,
Leipzig, Theod. Dieter.
Arnold, Dr. Robert F. — Geschichte der Deutschen Polenliteratur, Oktav. X, 2985,
M.8. Halle a. S. Max Niemeyer,
Baasch, Dr. Ernst. — Beiträge zur Geschichte des deutschen Seeschiffbaues und der
Schiffbaupolitik. Oktav. V, 3518. M. 10. Hamburg 189, Lucas Gräfe & Stillem,
Bamberg, Dr. Alb. ve. — Der Deutsch.-ev. Kirchenbund, Bericht des ev. Bundes am
25. Mai 1898 zu Gotha. 31 S. Berlin, Jul. Springer.
Blum, Hans. — Neu-Guinea und der Bismarckarchipel. Oktav, XII, 3255, M.5,
Berlin, Schoenfeldt & Co.
Bülow, Frieda Freiin von. -- Im Lande der Verheissung. 446 S, Dresden u. Leipzig,
Karl Reissner,
Berdrotw, Otto. — Rahel Varnhagen. Oktav. 4608. M. 7. Stuttgart, Greiner & Pfeiffer,
Bode, Br. W. — Meine Religion. Mein politischer Glaube. Zwei vertrauliche Reden
v. J. W. Goethe. 9 S. Berlin, E. S. Mittler & Sohn.
Chajes, Dr. HA. P. — Markus-Studien. 788, M.2 Berlin, ©. A. Schwetschke & Sohn.
Cohn, Dr. 8. - Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung, 209 S.
Berlin, I. Guttentag.
‚Cornelius, C. A. — Historische Arbeiten vornehmlich zur Reformzeit,. Oktav. IX
6283 S. M. 13. Leipzig, Duncker & Humblot.
Denkiwürdigkeiten und Erinnerungen des Generalfeldmarschalls Hermann v. Boyen.
2 Bde. 378 und 398 S. Stuttgart, Rob. Lutz.
Das deutsche Kaiserpaar im heiligen Lande im Herbst 18%. Oktav. 4225. M. 7.M.
Berlin SW., E. S. Mittler & Sohn.
Eberstadt, Rudolf. — Das franz, Gewerberecht und die Schaffung staatl. Gesetzgebung
und Verwaltung in Frankreich v. 18. Jahrh. bis 1581, Gust. Schmoller, 'Staats-
u. sozialwissenschaftl. Forschungen. 17. Bd., 2. Heft. Leipzig, Duncker & Humblot.
Einarssen, Indridi. — Schwert und Krummstab. Histor. Schauspiel. Uebertr. von
C. Küchler. Oktav. 146 S. Berlin, E. Ebering.
Everling, Otto, — Los von Rom? 2, Aufl. 598. 60 Pfg. München, S. F. Lehmann.
Fester, Richard. — Macchiavelli (Politiker und Nationalökonomen I). 204 S. M. 2.50,
Stuttgart, Fr. Frommann.
Flachs, Adolf. — Dragan Bratow. 819 S. Berlin, Johannes Räde,
Fleischer, Dr. Oskar. — Geisteshelden, Mozart, 33. Band. M. 240. Berlin, Ernst
Hofmann & Co.
Förster, F — Kritischer Wegweiser durch die deutsche historische Litteratur für
Studierende und Freunde der Geschichte. 64 S. Berlin, Johaunes Räde.
Gebhardt, Bruno. — Wilhelm von Humboldt als Staatsmann. 2. Bd. 4645. M. 10,
Stuttgart, J. G. Cotta.
Geering, Agnes. — Die Figur des Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung.
Abhandlungen herausgegeben von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Zürich.
IV, 1208. M. 240. Zürich, E. Speidel.
Geist, Dr. Hermann. — Wie führt Goethe sein titanisches Faustproblem, das Bild s.
eign. Lebenskampfes, vollkommen einheitl. durch? 2278. M.6. Weimar, Herm.
Böhlau Nachf,
Glasenapp, Gregor von. — Essays. Kosmopolitische Studien zur Poesie, Philosophie
und Naturgeschichte. Oktav. 481 S. Riga, Jonck & Poliewsky.
Das Goldene Buch des deutschen Volkes an der Jahrhundertwende, Leipzig, S. J. Weber.
Gossner. — Das neue Bürgerliche Gesetzbuch in seiner Bedeutung für die preussischen
evangelischen Landeskirchen. 35 S. 50 Pf. Berlin 1899, J. J. Heine's Verlag.
‚Guilland, Antoine. — L'Allemagne nouvelle et ses historiens (Niebuhr — Ranke —
Mommsen — Sybel — Treitschke). 1 vol. in-8°, ö fr. Paris, Felix Alaan &diteur.
Hanncke, Dr. BR. — Pommersche Geschichtsbilder. 'Oktav. 1838. M.450. 2. Aufl.
Stettin,iLeon Saunier.
Harnack, Dr. Otto. — Essais und Studien zur Literaturgeschichte. Oktav. VII.
888 S, Geh. M. 6, geb. M. 7. Braunschweig 1899. Friedrich Vieweg & Sohn.
Herrmann, Prof. Dr. W. — Römisch-katholisch und evangelische Sittlichkeit. 445 5
Marburg, N. G. Elwert’sche Verlagsbuchh.
Heyne, Moritz. — Altdeutsch-lateinische Spielmannsgedichte. 78 S. Göttingen
Franz Wunder.
Horn, Karl. — Der Kampf um Südafrika. %7 S. Wien 1899, Friedrich Schalk,
Hübner’s Geographisch-statistische Tabellen für 1898 herausgegeben von Dr. Fr.
von Juraschek. Frankfurt a. M., Heinrich Keller.
Huch Rudolf. — Mehr Goethe. 170 S. Leipzig und Berlin, Heinrich Meyer.
Jungbrunnen. 12 Bündchen, 12 M., einzeln je 125 M. 1. Der Bärenhäuter. — Die
sieben Schwaben. 2. Des weyland Nürnberger Handwerkmeisters Hans Sachsens
lustige Schwänke. 38. Liebe, Lied und Lenz. 25 deutsche Volkslieder. Berlin W,,
Fischer & Franke.
Kaemmel, Otto. — Kritische Studien zu Fürst Bismarks Gedanken und Erinnerungen.
107 8, Leipzig, Fr. Wilh. Grunow.
Kampfschulte, F. W. — Johann Calvin seine Kirche und sein Staat in Genf. Oktav.
2 Bd. M.8& Leipzig, Duncker & Humblot.
Keibel, Dr. R. — Die Schlacht von Hohenfiiedberg. Oktav. XIX. 482 S, mit 2 Karten.
Berlin, A. Bath,
Kiener, Dr. F. — Verfassungsgeschichte der Provence seit der Östgothenherrschaft bis
zur Errichtung der Konsulate (510—1200). Leipzig, Dyksche Buchhandlung.
Kleinpaul, Dr. Rudolf. — Wie heisst der Hund? Internationales Hundenamenbuch.
8S. M.1. Leipzig, Verlag von H. Schmidt & C. Günther.
Kulemann, W. — Die Gewerkschaftsbewegung. Oktav. XXIL 78058. M.10, Jena,
Gustav Fischer.
Kutzen, Prof. Dr. J. — Das deutsche Land. 902 S. 8. 10 M. Breslau, Ferd. Hirt.
Lettow-YVorbeck, Oscar v,„ Oberst a. D. — Der Krieg von 1806 u. 1807. Erster Band,
Jena u. Auerstedt. Zweite Aufiage. 449 S. 8. Berlin, E, S. Mittler u. Sohn,
Leuss, Hans. — Humancs Homo! Verse. (2838S.) M.3,50. Berlin, 1889. Joh. Sassenbach,
Lichtenwark, Alfred, — Palastfenster une Flügelthür. $, (XIL 181 S.) M. 8. Berlin.
Bruno u. Paul Cassirer.
Lindenberg, Paul. — Um die Erde in Wort und Bild. I. Bd, &. (48685.) M.6, geb
M.8, Berlin, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchh.
Lloyd, J. M. — Etidorhpa oder das Ende der Erde. 9. Zwei Bände, mit vielen
Illustrationen. M. 8. Leipzig, Wilhelm Friedrich.
Maync, Dr. R. — Der Discont. (132 S.) M. 8.50. Jena, Gustav Fischer.
Meinecke, Friedr. Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. 2 Bd,
600 8. 8. Stuttgart, J. G. Cetta,
Mengs, Georg. — Karen. Eine Sylter Geschichte. j182 S. M. 1.50. Halle a. S. Otto
Hendel.
Dem neuen Jahrhundert. — Musenalmanach Berliner Studenten f. d. J. 1900. 252 8.
Berlin, Herm. Walther.
Pfister, Albert. — Das deutsche Vaterland im 19. Jahrh. 738 S. M.8.—. Stuttgart,
Deutsche Verlags-Anstalt.
Beismann,-Grone, Dr. — Die deutschen Reichshäfen und das Zollbündniss mit den
Niederlanden. Flugschriften d. Alldeutschen Verbandes, Heft 12, 208, 40 Pf,
München, J. F. Lehmann,
Restiro, J. Empedocle.. — Il Socialismo di Stato. 410 S, Milano-Palermo, Remo
Sundron.
Roloff, Dr., Gust. — Die Kolonialpolitik Napoleons I. Hist. BibL, Bd. 10. 257 8.
München, R, Oldenbourg.
Romanes, @. J. — Gedanken über Religion. Uebers. v. Dr. E. Dennert, 8, (IV 1628,)
M. 2,60. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
Stein, Dr. Ludwig. — An der Wende des Jahrhunderts, &®. (VII 415 8.) M, 7.50,
Tübingen, J. C, B. Mohr (Siebeck). ”
Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 38
Vorbery, Dr. A. — Der Zweikampf in Frankreich. (68 S.) M. 150. Leipzig, C.L
Hirschfeld.
Wahle, Dr. R. — Kurze Erklärung der Ethik von Spinoza und Darstellung der Defini-
tiven Philosophie. 8, (2128) M. 8.— Wien. Wilh. Braumüiller.
Walcker, Dr. karl. — Öesterreichs evangelische Bewegung und sein Staatsinteresse.
(61 S) 60 Pf. Göttingen, Franz Wunder.
Weitbrecht, Carl. — Das Deutsche Drama. (267 S.) Berlin, 1900 „Harmonie“ Verlags-
gesellschaft für Literatur und Kunst.
le Se tar von. — Im Goldnetz. Sahauspiel in fünf Aufzügen. Leipzig,
sw utze.
Windelband, Wilh, — Platon. (Fromanns Klassiker der Philosophie IX). 10 8. M. 2
Stuttgart, Fr. Fromann.
Zenker. E.von, — Die Gesellschaft. I. Band, Oktav. 282S, M.6. Berlin, Georg Reimer,
Manujfripte werden erbeten unter der Adreſſe des Heraus»
geber3, Berlin- Charlottenburg, Snejebeditr. 30.
Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entjcheidung
über die Aufnahme eine Aufſatzes immer erjt auf Grund einer jachlichen
Prüfung erfolgt.
Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite des Papierd ges
ſchrieben, paginirt fein und einen breiten Rand haben.
NRezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbuchhandlung,
Dorotheenftr. 72/74, einzujchiden.
Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück,
Berlin - Charlottenburg, Knesebeckstr. 30,
Verlag von Georg Stilke, Berlin NW., Dorotheen-Strasse 72/74.
Druck von J.S.Preuss, Berlin SW., Kommandantenstr. 14.
Biliner Sauerbrunn!
1 — * Hervorragender Korkbrand.
» Repräsentant der
alkalischen (Natron)
Quellen
wirl bei gichtischen Ab-
Ingerungen. Magen-, Nieren- und Blasenleiden, — uch
bei Dinbetes von Aerzten aller Kulturländer vielfach ve x
ordnet. Bosonders als prophylaktisches Mittel zegan alle «
Verdauungs#system, die Nieren, Galle- und Biasenfunktionen 1
störenden Einflüsse zu empfehlen.
Wohlschmeckendes, ungenelimes | st Wein rei
»omischt zu riehmen
In Flaschen circa 12W gı rer ISO ar ı HT gr. enthaltend
beil Flasch. zu 70 PT.. zu 50 PrY.. zu 40 Pf.
„10 * su. - 38 „. . 8
„>60 e ; — — —
in nuseren Hauptniederlagen in B: rri
Johs: Gerold, )J. F. Heyl & Co. Dr. M. Lehmann,
W., Unt. d. Linden 24 W. Charlottenstr. 66 C., Heiligegeiststr. 43/44
und in allen Apotheken und Droge rien erhältlich. ,oors
Piaschen werden a 2%/, Pf. pro Stück zurlickgenommen.
ı Biliner Sanerbrunn
re = Bilin
(Biliner Verdauungszeltehen)
bewän - ügliches Mittel bei Sodhrennen, Magenkrampf, Blähsmcht
und en her Verdauu: Marxenkatäarrhen, wirken überraschend bei
Verdanunesstörungen im kindlichen Oreanismms
Marens- ld D
3
Depot
L’rOf
Brunnen-Direetion in Bilin (Böhmen).
\ |
Für J — Te
r Regulirung des St sels
Bei Feilleibigkeit, Be ‚hen Obs
"Bei | Hamorrhoidalleiden
„Als besonders geeignet zu empfe
u
Tr u Dr. LANCEREAUX,
nn de erklärte um 2) 2
‚ Gerade dieses Wasser eignet s chi
‚Fur die Behandlung chronischer Veı
‚Verdient eine Ausnahmestellung 5
„in der hydrologischen Therapeutik,
EIGENTÄUMERIN UND BRUNNENDIRBE
\PENTA“ ACTIEN-GESELSCHAEEE
ern. Drogistenen
er-Haundlern
Bellini
ed by
Google
Digitized by Google
A
Er
un ,
IT
Digtized by. Google
a Er