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Full text of "Zeitschrift für pädagogische Psychologie u. Pathologie"

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Zeitschrift  für 
pädagogischie 
Psychologie  u 
Pathologie 


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Zeitschrift 


«II 

für 


Päddaodl$ci)c  P$y(l)oloalc 


und 


Fatbolodie. 


Herausgegeben 


von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hlrschlaff. 


III.  Jahrgang. 


BERLIN  S.W. 

Hermann  Walther,  Verlagsbuchhandlung  G.m.b.H. 

1901. 

Man  beachte  die  Rück$:eitel 


Zur  s^efl.  Beachtung:. 

l>ic  Zeitschrift  wird  im  nächste»  Jahre  den  Titel  führen: 

Zeitschrift 

Pädaaoai$cl)e  P$y(l)oloaie, 

PatMogle  und  t^yglene. 

Diese  Erweiterung  des  Titels  bedeutet  nicht  eine  prinzipielle 
Aendetimg  des  Prognunmes  der  Zeitschrift,  sondern  lediglich 
eine  Ausgestaltung  desselben  im  Sinne  der  im  1.  Jahrgange 
niedergelegten  Grund^tze. 

Wir  hoffen,  dass  die  Zeitschrift  auch  in  der  erweiterten 
Form  sich  der  gleichen  Sympathie  erfreuen  wird,  wie  bisher. 

VT.  *  • 

'  Die  Herausgeber. 


•  •    •  •  j  •»  •  •  • »  • 


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Inhalt  des  3.  Jahrganges 

1901. 


A.  Abhandlungen. 

Seile 

K. 

von  Hase:  Die  psych ologi.sche  BegTÜndunjj  der 

religiösen  Weltanschauung  im  19.  Jahrhundert 

1 

26 

H. 

Fischer:  Ueber  neuere  Methoden  zur  Einführung 

ins  Verständnis  geographischer  Karten    .  . 

27- 

-37 

J. 

Friedrich:  Die  Ideale  der  Kinder  

38 

-64 

F. 

von  Luschan:  l'^ eher  kindliche  X'orstelhinj^en  bei 

den  sogenannten  Naturvölkern  

89- 

-96 

A. 

Baginsky:  Ueber  Suggestion  bei  Kindern 

''7  - 

-103 

J.  Orth:  Kritik  der  AssociatioiiscinteiUin^en    .  . 

1U4- 

-119 

F. 

Stahl,  W.  Spohr,  O.  Feld:  Die  Kunst  im  Leben 

120- 

-140 

F.  Kein si es:  ( redäclitnisiiiilersucluni<;en  aiiScliüleni.  III. 

171 

183 

L. 

Hirschlaff:  Zur  Methodik  und  Kritik  der  Krgo- 

graphen- Messungen  

184- 

-1^8 

K. 

Löschhorn:  Einige  Worte  über  die  Beibehaltung 

der  sogenannten  Versetzungsprüfungen 

l')9  _ 

-203 

H. 

Zimmer:  Was  soll  das  Kind  lesen?  

204- 

-214 

A. 

Moll:   Ueber  eine  wenig  beaclitete  Gefalir  der 

Prügelstrafe  bei  Kindern  

215 

210 

H. 

Sachs:  Die  Entwickelung  der  ( lehirnplu siologie 

im  19.  Jahrhundert   

255- 

280 

F.  Kenisies:  Gedachtnisuntersuchunffen  an  Schülern.  IV.  281  — 

-291 

K. 

Löschhorn:  Ueber  die  Aufnahme  der  Schüler  in 

die  unterste  Klasse  höherer  Srhnlin 

292- 

295 

L. 

Hirse  Iii  äff:  Ueber  die  Furcht  der  Kinder     .  . 

296- 

■315 

K. 

Löschhorn:  Ueber  Zensurprädikate  .... 

335  - 

-342 

L. 

Maurer:    Zur    Psychologie   des  Rechtschreibe- 

nnterrichts  ,  

343^ 

-348 

F. 

Kemsies:  Arbeitstypen  bei  Schülern  

349- 

-362 

K. 

Steinitz:    Der   Verantwortlichkeitsgedanke  im 

363- 

-394 

C. 

Stumpf:  Eigenartige  sprachliche  Entwickelung 

419- 

447 

w. 

Münch:  Zum  Seelenleben  des  Schulkindes    .  . 

448- 

455 

A. 

Claus:  Psychologische  Betrachtungen  zur  Methodik 

des  Zeichenunterrichts   

456 

473 

B.  Sitzungsberichte. 


Verein  för  Kinderpsychologie  zu  Berlin. 

A.  Baginsky:  Uebcr  Suggestion  bei  Kindern    .    .    .  65  -68 

I'\  Kenisies:  Gedächtnisuntersnchungen  an  Schülern  141  —142 

L.  Hirschlaff:  Uebcr  die  F'urcht  bei  Kindern   .    .    .  142 — 143 

Jessen:  Die  Erziehung  zur  bildenden  Knnst  .  .  .  220 — 222 
Flatau:  Ueber  die  nasale  Auimerksainkeitssch wache 

bei  Kiiid^^rn   395 — 396 

\V.  Münch:  Zum  Seelenleben  des  Schnlkiudes  .  .  474 — 476 
C.  Stumpf:    Eigenartige  sprachliche  Butwickeiung 

eiues  Kindes   476—479 


Psychologische  üesell  sc  haften  zu  Berlin, 
Breslau  und  München. 

Sdtc 

Türck:  Die  Psychologie   des  Genies   in  Goethes 

Faust   68—69 

Vortragsplan  für  das  Sommersemester  1901  .  .  ,  144 
Vortragsplan  für  das  Wintersemester  1901/1902  .   .  3'>7 

Abraham:  Das  absolute  Tonbewusstsein   397—400 

Stern:  Theorie  der  ererbten  psy  chischen  Anlagen  .  .  400—401 
Jahresbericht  der  Psychologischen  Gesellschaft  zu 

Breslau   401—407 

O.  Hoffmann:  Die  Kunst  des  Versbaues  im  Dienste 

des  Gedächtnisses   403  -  404 

G,  Rosenfeld:  Die  psy  chischen  Wirkungen  des  Alkohols  404—405 
L.  W.  Stern:  Pechner  als  Philosoph  und  P»ychopbysiker  405—406 
Akademischer  Verem  für  Psychologie  zu  München  .  407—408 


C«  Berichte  und  Besprechungen. 

Sole 

L.  W.  Stern:   l'eber  Psychologie  der  individuellen 
Ditierenzeu   (Ideen  zu   einer  differentiellen 

Psych(jlogie)     .    -   70-72 

W.  Heinrich:  Die  moderne  Psychologie  in  Deutschland  73 — 75 

A.  Hennstein:  Die  heutige  Schulbankfrage   ....  75—76 

K,  (  ).  Beetz:  Einführung  in  die  moderne  Psychologie  76 — 83 

Pabst:  Blätter  für  Knabenhandarbeit   144—146 

R.  Gaupp:  Ursachen  und  Verhütung  der  Nervosität 

der  Frau   146—147 

Tli.  Ziehen:  Leitfaden  tkr  pliysiologischen  Psychologie 

iu  15  Vorlesungen                         ,   .   •   ,  147 


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G.  A.  Colozssa:  Psychologie  und  Pädagogik  des  Kinder-  ^''"'^ 

Spiels   148—149 

A.  Wreschner:  Eine  experimentdUe  Studie  über  die 

Association  in  einem  Falle  von  Idiotie    .   .  222 — 227 

H.  Kroell:  Der  Aufban  der  menschUchen  Seele   .   .  227-228 

Educatioual  Review   228—229 

W.  A.  Lay:  Methodik  des  iiaturgeschichtliclien  Unter- 

*  richts  und  Kritik  der  Refonnbestrebungen 

auf  Grund  der  neueren  Psychologie  .  .  .  316 — ^318 
Th.  Ziehen:  Ueber  die  Beziehungen  der  Psychologie 

zur  Psychiatrie   318—321 

K.  Li.  Löwe:  Wie  erziehe  und  belehre  ich  mein  Kind 

bis  zum  sechsten  Lebensjahr   321  -322 

R.  Penzig:  Ernste  Antworten  auf  Kinderfragen  .  .  322—323 
W.  Muncli:  Das  Recht  der  Persönlichkeit  in  Schulamt 

und  Schiilleben   409 

Jahrbuch  der  Krüppelfürsorge   410 

2^tschrift    für    Schulgesundheitspflege.    XIL  und 

XIII.  Jahr;:ang       411—416 

L.  Laquer:  Die   Hilfsschulen  für  scliwacli befähigte 

Kinder,  ihre  ärztliche  und  soziale  Bedeutung  417 — 418 
Loewe:  Wie  erziehen  und  belehren  wir  unsere  Kinder 

während  der  Schuljahre   481 — 48H 

C.  Schuyten:  Pedulogisch  Jaarboek   483 — 485 

J.  Heidsiek :  Das  Taubstummenbildungswesen  in  den 

Vereinigten  Staaten  Nordamerikas  ....  485 — 487 
H.  Hecke:  Die  neuere  Psychologie  in  ihren  Be> 

Ziehungen  zur  Pädagogik   488 

D.  Mitteilungen. 

Ein  Brief  des  Kaisers  über  Sclml reform   83 — 84 

Das  Kind  —  eine  Reformzeitschrift  für  die  Familien  84 — 85 

Die  Kunst  im  Leheti  des  Kindes   85—88 

Aeussarungen  zur  Reform  der  höheren  Lehranstalten  150 — 160 
Die  unerwachsene  Bevölkerung  Berlins  nach  der  Volk»» 

Zählung  1895    229—237 

Ein  Wort  über  die  Schulreform   237—240 

Aufruf  des  deutschen  \'ereins  für  Schulgesundheits- 
pflege ZU  Berlin   241 

Ueber  die  Zulassung  der  Oberrealschul-Abiturienten 

zum  Studiuni  der  Medizin   242 — 244 

Geisteskrankheit  unter  den  Lehrerinnen   324 

Individuelle  Erziehung   324—325 


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Ueber  die  VoiUäge  des  Vereins  für  Kindcrlorschuag 

iti  Jena   325—326 

Nene  Bestimmiing^en  über  die  zweite  Lehrerprüfung  327 — 328 

Deutscher  Schuhnämier-  und  Philolo{>-entag      ,    .    .  489  —  491 

Verein  für  lateinloses  höheres  Schulwesen   .   .   ,    ,  491  —  492 


Seite 


E.  Bibltotheca  pSdo-psychologica. 

Allgemeine  Psychologie   loi — 170 

PsvchL)lci<^'^ie  und  Psychopathologie  des  Kindes     .    .  245—254 

Hygiene  des  Kindes.  1   329—334 

Hygiene  des  Kindes.  IL   493—498 


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Zeitschrift 

Ar 

uiid 

Patl)olo9ie. 

herau^^eboi 

von 

Ferdinand  Kemsies. 


Jahrgang  IIL  Berlin,  Februar  1901.  Heft  i. 


Di«  p^chologische  Begründung  der  religiösen 
Weltanschauung  im  19.  Jahrhundert. 

Vortrag,  gehalten  in  der  psychologischen  Gesellschaft  zu  Breslau  am  7.  Mai  1900 

von 

Karl  von  Hist. 

In  cki  Reihe  von  Vortragen  über  die  Entwickeluiig  der 
Psychologie  und  ihrer  Nachbargebiete  im  19.  Jahrhundert 
haben  Sie  auch  einem  Theologen  das  Wort  verstattet.  Dainii 
ergab  sich  mir  das  Thema:  „Die  psychüh)gische  Begründung 
der  reügiüsen  Weltanschauung  im  19.  Jahrhundert."  Wemi 
ich  den.  allen  diesen  Vorträgen  genuinsauien  Zusatz  „im  19. 
Jahrhuiidf  rt  recht  verstehe,  so  liegt  darin  eine  doppelte  Auf- 
gabe; einmal  die,  einen  geschichtlichen  Ueberblick  über  die 
Religionsphiloso])hie  im  19.  Jahrhundert,  so  fern  sie  die  religiöse 
Weltansciiaimng  psychologisch  begründet,  zu  geben,  und  zum 
andern  die.  den  Standpunkt  zu  kennzeichnen,  aut  welchem  die 
Rciigiüiisphilosophie  beim  Abschluss  des  fahrluiiiderts  steht. 
So  wenig  nun  der  vorige  Vortrag  ..liebet  da--  Kunstempfinden** 
eine  Kunstgeschichte  des  19.  Jahrhundeits  mit  Nennung  aller 
bedeutenden  Namen  sein  konnte,  so  wenig  kann  ich  jm  engen 
Zenrnuin  einer  Stunde  die  Geschichte  der  Religionsphilosophie 
im  19.  Jahrhundert  auch  nur  skizzieren;  aber  gerade  in  diesem 
Kreise  darf  ich  mich  auf  Andeutungen  beschränken.  Nur  aus 
den  letzten  Jahrzehnten  werde  ich  einige  literarische  Werke  ein- 
geiiender  besprechen,  wahrend  ich  bei  der  !■  uUe  des  Stoffs 
andere  zu  Wort  koinuieu  lassen  niuj.S),  ohne  sie  jedesmal  zu 
bezeichnen.  Was  aber  den  gegenwärtigen  Standpunkt  religions- 
psychologischer Betrachumg  anlangt,  so  werde  ich  nur  an  eu> 
ZeitKhritt  tui  pädagogische  Ptyclioiogie  und  Pathologie.  ] 


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2 


zelnerh  mir  besonders  wichtig  erscheinenden  l'roblcnun  die 
Methüde,  ihre  wissenschaftliche  Berechtigung  und  ihr  Ergebnis 
darzulegen  versuchen. 

Geistige  Strömungen  kelircn  sich  nicht  an  den  Kalender 
und  nicht  an  die  Jahreszahl,  aber  jedes  Jahrhundert  hat  doch 
seine  besondere  Signatur.  Können  wir  das  18.  Jahrhundert 
bezeichnen  als  beherrscht  vom  Geist  der  Auiklärung,  so  stehen 
wir  zwar  dem  19.  Jahrhundert  noch  zu  nahe,  um  ein  einheitliches 
Wort  für  dasselbe  zu  finden,  aber  wir  können  doch  sagen:  im 
ersten  Viertel  war  es  bestimmt  durch  das  Erwachen  des  histo- 
rischen Sinns;  im  zweiten  durch  den  Grundgedanken  der  Ile- 
gelschen  Philosophie,  der  logischen  Entwickelung  des  Begriffs; 
im  dritten  wurde  dieser  Gedanke  auch  in  den  Naturwissen^rhaf- 
len  als  Evolutionstheorie  angewendet  und  anerkannt ;  im  letz- 
ten Viertel  kam  die  Psy(  hologie  zu  Ehren.  In  Philosophie  und 
Theologie  trat  die  Metaphysik  mehr  und  mehr  in  den  liiiucr- 
grund;  auf  dem  Gebiet  der  religiösen  Weltanschauung  soll  nur 
innere  Erfahrung  den  Weg  zur  Wahrheit  zeigen. 

Der  das  18.  Jahrhundert  beherrschende  und  noch  ins  19. 
Jahrliuiulert  hineinreichende  (ieist  der  Aufklarung  hatte  zur 
Voraussetzung  die  Umgestaltung  des  astrononnschen  Welt- 
bildes. Die  Aufklärung  selbst  war  mehr  eine  Frage  der  Bildung 
als  der  Grundsatz  einer  bestimmten  Wissenschaft.  Auf  allen  Ge- 
bieten hatte  sie  sich  Geltimg  verschafft,  wenn  auch  die  Theo- 
logie lange  sich  al)lehnend  verhielt,  begreiflich,  weil  diese  ganze 
grosse  Geistesbew(  gung  im  Gegensatz  zum  kirchlichen  Her- 
kommen stand.  Ergebnis  der  Aufklärung  war  geistige  Befrei- 
ung, aber  freilich  zugleich  auch  für  die  Meisten  I'2rschütterung 
ihres  Glaubens,  für  Viele  Erschütterung  der  religiösen  Welt- 
anschauung überhaupt. 

Gerade  hundert  Jahre  sind  vergangen,  seit  Schleiennacher 
seine  „Reden  über  die  Religion  an  die  Gebildeten  unter  ihr«  n 
Verächtern"  veröffentlicht  hat.  Vergleicht  man  das  Nucau 
der  damals  herrschenden  Weltanschauung,  auch  abgesehen  von 
den  Schriften  der  englischen  Feidenker,  de  r  1 1  inzösischen  En- 
cyclopädistcn  und  aticli  der  Ultras  des  deutschen  Rationalismus, 
mit  dem  Niveau  der  religiösen  WehaiiM  liauung  unserer  Zeit, 
so  ergiebt  sich,  wiederum  abgesehen  von  der  Stärkung 
z.  B.  der  kirchlichen  Macht  des  Papstthums  und  der 
evangelischen  Kirche  mit  ihrer  Mission,  ihrer  Verfassung  und 


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Die  p^fdui»güA£  BegrÜHdimg  der  rdigiAtm  WaianMdmHung,  $ 

ihren  Liebeswerken,  auf  die  ich  als  kirchliche  und  konfessionelle 
Fragen  hier  nicht  eingehe,  der  bedeutsame  Fortschritt,  die  Ver- 
tiefung, die  festere  Begründung,  die  Eingliederung  der  religiö- 
sen Weltanschauung  in  den  Gesamtorganismus  unseres  Geistes- 
lebens. 

Das  Verdienst,  gegenüber  dem  flachen  Rationalismus 
wieder  der  religiösen  Weltanschauung  eine  wissenschaftliche 
Grundlage  gegeben  zu  haben,  gebührt  dem  Begründer  der  kri- 
tischen Philosophie,  Kant,  und  seine  Begründung  der  Religion 
ist  durchaus  psychologisch.  Nachdem  er  in  seiner  „Kritik  der 
reinen  Vernunft'*  die  Paralogismen  der  rationalen  Psycholugie 
und  Kosmologie,  sowie  der  spekulativen  Theologie  aufgedeckt 
hatte,  wies  er  die  Voraussetzung  aller  Moral  und  Religion, 
das  Vermögen  der  Freiheit,  die  Unsterblichkeit  der  Seele  und 
das  Dasein  Gottes  nach  als  Postulate  der  praktischen  Vernunft. 
Nur  darf  man  diese  Postulate  der  praktischen  Vernunft  nicht, 
wie  es  vielfach  geschieht,  abschwächend  verstehen  als  Neigimgs- 
bedürfnisse.  Nach  Kant  sind  sie  notwendige  Bedürfnisse  'un- 
serer Natur,  die  sich  nicht  auf  eine  zufällige  Neigung  oder  Lieb- 
haberei, sondern  auf  die  Verfassung  der  moralischen  Vernunft 
selbst  gründen  und  daher  wie  diese  allgemein  und  notwendig 
sind.  Für  die  spekulative  Vernunft  bleiben  Freiheit,  Unsterb- 
lichkeit, Gott  immer  nur  Grenzbegriffe,  unauflöslidie  Probleme; 
aber  diese  Grenzbegriffe  ergeben  sich  dem  Denken  mit  Not- 
wendigkeit, wenn  wir  auch  nur  ihre  uns  zugewandte  Seite  mit 
dem  Denken  erreichen  und  ihren  Inhalt,  ihr  Wesen  selbst  lücht 
ergründen.  Wir  haben  von  ihnen  keine  andere  als  eine  mora- 
lische Gewissheit;  aber  diese  Gewissheit  ist  keine  blosse  Mei« 
nung,  sondern  eine  Ueberzeugung,  ein  Glaube,  der  sich  auf  die 
praktische  Vernunft  gründet  und  in  seinem  Gebiet  die  gleiche 
Gewissheit  hat,  wie  die  empirische  Wissenschaft  in  dem  ihrigen. 
Diese  Begründung  der  religiösen  Weltanschauung  ist  um  so 
bedeutsamer,  als  Kant  kemeswegs  eine  religiöse  Natur  war; 
wo  er  tiefere  Blicke  in  das  religiöse  Gebiet  gethan  hat,  z.  B.  in 
seiner  Lehre  „Vom  radikalen  Bösen**,  hat  ihn  nicht  seine  reliöse 
Stimmung,  sondern  sein  scharfer  Verstand  dazu  geführt.  Wie 
fremd  ihm  das  innerste  Wesen  der  Religion  war,  zeigt  da,  wo 
er  über  das  Vergebliche  und  Thörichte  des  Gebets  spricht,  seine 
Bemerkung,  dass  auch  der  Fromme  von  dieser  Thorheit  ein 
Bewusstsein  habe,  denn  wenn  man  Einen  unvermuthet  beim 

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Kari  vm  ffase. 


Gebet  überrasche,  pflege  er  zu  erröten,  also  seiner  Handlung 
sich  zu  schämen.  Wie  wenig  nun  auch  Kants  „Religion  inner- 
halb der  Grenzen  der  blossen  Vernunft"  an  die  Fülle  und  Tiefe 
der  positiven  und  historischen  Religionen  heranreidit,  schon 
darum,  weil  ihm  der  historische  Sinn  fehlt«  so  ist  doch  das  seine 
Bedeutung,  dass  er  einerseits  gegenüber  dem  blossen  Autoritäts- 
glauben, andererseits  gegenüber  der  Subjektivität  und  Sentimen- 
talität seiner  Zeit,  die  religiöse  Weltanschauung  als  in  der  Ver- 
nunft selbst  notwendig  und  darum  unveräusserlich  begründet 
nachgewiesen  hat. 

Aber  weil  Kants  religiöse  Weltanschauung  nur  eine  Re- 
ligion timerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  war  und  sein 
wollte,  konnte  sie  den  tiefsten  Bedürfnissen  des  Herzens  nicht 
genügen.  Das  Gefühl  kam  in  Kants  religiöser  Weltan- 
schauung nicht  zu  seinem  Rechte.  Das  ist  der  Punkt,  an  dem 
philosophisch  Jacobi,  theologisch  Schleiermacher  ein- 
gesetzt hat ;  J  a  c  o  b  i ,  ohne  zu  einer  einheitlichen  Weltanschau- 
ung zu  kommen,  wie  er  selbst  sagt :  „mit  dem  Kopf  ein  Heide 
und  mit  dem  Herzen  ein  Christ,**  während  Schleiermiaoher 
mit  seltener  Begabung  scharfen  Verstandes  und  tiefen  Gemüts 
die  verschiedensten  religiösen  Entwickelungsstufen  an  sich 
durchlebend,  beides  war,  zugleidi  ein  Theolog  und  Philosoph. 
Aufgewachsen  im  Pietismus  der  Brüdergemeinde,  den  er  selbst 
als  den  mütterlichen  Schooss  seiner  Frömmigkeit  bezeichnete, 
dann  in  rationalistische  Zweifel  geraten,  ergriffen  von  Spino- 
zas einheitlichem  tiefreligiösen  Panthei^us,  berührt  von  der 
Romantik  und  geübt  in  platonischen  Dialogen  hat  er  durch 
seine  1799  erschienenen  „Reden  über  die  Religion**  Unzähligen 
damals  und  später,  wie  Klaus  Harms  in  Kiel  von  sich  sagt, 
den  Anstoss  zu  einer  ewigen  Bewegung  gegeben.  Sie  bUden 
einen  Wendepunkt  nicht  nur  in  der  Geschichte  der  Theologie, 
sondern  auch  in  der  allgemeinen  Auffassung  vom  Wesen  der 
Religion.  Darin  gleicht  Schleiermacher  Kant,  dass  auch 
er  unbefriedigt  war  wie  von  einer  bloss  dogmatisclien,  so  audi 
von  einer  flach  rationalistischen  Auffassung  der  Religion;  aber 
ihm  reichte  die  moralische  Gesinnung,  in  welche  Kant  das 
Wesen  des  Vemunftglaubens  gesetzt  hatte,  für  die  Tiefe  tmd 
den  Reichtum  der  Religion  nicht  aus.  Er  wies  nach,  dass  die 
Religion  nicht  bloss  in  einer  Summe  von  allerlei  Lehren  bestehe, 
noch  auch  blos  in  moralischer  Gesinnung,  sondern  dass  sie  Ihr 


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Die  p^fdudagiadu  Begrtmdamg  der  fdigiSsen  WütoHttkauMMg^ 


5 


eigenes  Gebiet  im  Gemüth  des  Menschen  habe,  dass  sie  eine 
Weltanschauung  sei,  ein  unmittelbares  Gefühl,  ein  Bewusstsehi 
des  Endlichen  im  Unendlichen,  des  Zeitlichen  im  Ewigen,  und 
dass  sie  wie  eine  heilige  Musik  das  ganze  Leben  des  Menschen 
begleiten  müsse.  Ihm  ist  Religion  das  Erleben  des  Unend- 
lichen. 

Beide  Schriften,  Kants  „Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  blossen  Vennmft**  und  Schleiermachers  „Reden über 
die  Retigion**  gehören  der  Jahreszahl  nach  noch  dem  i8.  Jahr- 
hundert an,  aber  ihre  Wirkung  hat  sich  tief  ins  19.  Jahrhundert 
erstreckt. 

Durchaus  psychologisch  bedingt  war  dann  die  religiöse 
Erweckung  im  zweiten  Zehnt  des  Jahrhunderts.  Die  Not  hatte 
unser  Volk  wieder  beten,  die  Freude  danken  gelehrt.  Man  er- 
kannte, dass  Gott  mehr  sei  als  ein  blosses  Postulat  der  prak- 
tischen Vernunft. 

Was  aber  für  Schleiermacher  nach  seiner  religiösen  Em- 
pfindung der  Gnmdzug  aller  Frömmigkeit  war,  das  em- 
pfand Hegel  als  ein  dem  Menschen  unwürdiges  Gefühl,  ihm 
erschien  Schleiermachers  scfalechthiniges  Abhängigkeitsge- 
fühl, das  doch  recht  verstanden  schlechthinige  Freiheit  in 
Gott  ist,  als  eine  |teligion  für  Hxmde.  Seine  Spekulation  ver- 
hess  die  psychologisdie  Grundlegung  der  religiösen  Weltbe- 
trachtimg  in  der  Meinung,  sie  dialektisch  begründen  zu  können. 
Er  hat  von  der  Religion  nicht  gering  gedacht;  er  nennt  sie  die 
Region,  in  der  alle  Rätsel  der  Welt  gelöst,  alle  Widersprüche 
des  tiefer  sinnenden  Gedankens  enthüllt  sind,  alle  Schmerzen 
des  Gefühls  verstummen,  die  Religion  der  ewigen  Wahrheit, 
der  ewigen  Ruhe.  In  dieser  Region  des  Geistes  strömen  die 
Lethefluten,  aus  denen  Psyche  trinkt,  wenn  sie  allen  Schmerz 
versenkt,  alle  Härten,  Dunkelheiten  der  Zeit  zu  einem  Traum- 
bild gestaltet  und  zum  Lichtglanz  des  Ewigen  verklärt.  Aber 
wie  hoch  er  die  Rdigion  preist,  sie  ist  ihm  doch  die  Wahrheit 
nur  in  der  Form  des  Gefühls  und  der  Vorstellung;  sie  weiss, 
dass  Gott  ist,  nicht,  wajs  er  ist;  es  gilt,  den  ihr  unmittelbar  und 
unentwickelt  gegebenen  Inhalt  göttlicher  Wahrheit  nach  seiner 
Wahrheit  denkend  zu  begreifen.  Ihm  ist  die  Religion  das 
Wissen  des  endlichen  Geistes  von  seinem  Wesen  als  absoluter 
Geist;  der  menischliche  Geist  erhebt  sich  zum  Geiste  Gottes 
und  der  Geist  Gottes  realisiert  sich  im  endlichen  Geist.  Vom 


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Standpunkt  der  Philosophie  au5  hat  er  nicht  nur  die  Rehgion. 
sondern  auch  das  Christenthum,  die  Trinität,  den  Gottmenschen 
und  alle  Dogmen  der  Kirche  gerechtfertigt,  freilich  dadurch, 
dass  er  in  ihnen  einen  Sinn  fand,  oder  in  sie  hineinlegte,  der 
ihnen  fremd  war,  oder  wie  er  meinte,  auf  der  niedem  Stufe  des 
Gefühls  und  der  dunkelen  Vorstellung  der  Religion  selbst  noch 
nicht  bewusst  sei. 

Hat  Hegel  in  der  Religion  die  Objektivität  des  Verhält- 
nisses zwischen  dem  endlichen  Menschengeist  und  dem  abso- 
luten Gottesgeist  und  damit  die  Realität  der  Religion  festge- 
halten, so  hat  Feuerbach  in  seinem  früher  vielgelesenen 
Buch  „Das  Wesen  des  Christentums**  das  Wesen  der  Religion 
zwar  mit  Schleiermadier  ganz  und  gar  ins  Gefühl  gesetzt, 
aber  behauptet,  dass  das  Gefühl  nicht  ein  Bestimmtwerden 
durch  das  Universum  im  Sinn  der  Schleiemtiacher'schen 
Reden  über  die  Religion,  noch  ein  Wecfaselverhältnts  im  Simie 
Hegels  sei,  sondern  dass  die  Religion  ein  bloss  subjektiver 
Vorgang  sei,  ein  Verhältnis  des  Geistes,  des  Herzens  zu  sich 
selbst;  alles,  was  darüber  hinausgehe,  sei  Einbildung,  alles 
Objektive  daran  Selbsttäuschung,  daher  er  von  seinem  materia- 
listischen Standpunkt  aus  die  Religion  als  Illusionismus  be- 
zeichnet. Alle  religiösen  Ideen  sind  nadi  ihm  nur  subjektive 
Phantasiegebilde,  Produkte  des  mit  Vernunft  entzweiten  Ge- 
müts. Dieses  kranke  Herz  ist  nach  Feuerbach  der  eigentliche 
Quell  der  Religion,  die  eine  pathologische  Erscheinung  ist. 
Wenn  nun  aber  auch  in  dieser  Behauptung  ein  Funke  Wahrheit 
ist,  so  verkennt  er  doch,  dass  die  Religion  Heilmittel  für  das 
kranke  Herz  ist,  und  behauptet  viehnehr,  dass  der  Glaube  den 
Menschen  entzweit,  ihn  unfrei,  befangen,  selbstisch  mache,  so 
dass  die  religiöse  Weltanschauung  nicht  bloss  eine  theoretisch 
unwalire,  sondern  auch  praktisch  verderbliche  Illusion  sei.  Mit 
Rcrht  nermt  Pfleiderer  in  seiner  „Religionsphilosophie  auf  ge- 
schichtlicher Grundlage"  das  Buch  Feuerbachs  eine  Warnungs- 
tafel, wohin  der  Weg  führt,  wenn  man  in  der  Religion  nur  die 
Gefühle,  die  subjektive  Erfahrung  und  Gewissheit  betone,  nicht 
aber  in  gleicher  Weise  auch  die  Realität  einer  übersinnlichen 
Geisteswelt. 

Von  ähnlichen  Voraussetzungen  wie  Feuerbach  geht  Fr. 
Albert  Lange  in  seiner  Geschichte  des  Materialismus" 
aus,  nur  dass  er  unter  dem  Einfluss  seiner  ganz  anders  gearteten 


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Die  ptyehehgüdu  Bggründtmg  der  rdigidsen  tyiähmsekmamg:  7 

persönlichen  Wertschätzung  der  Religion  zu  einem  anderen 
philosophischen  Ergebnis  kommt.  Weil  ihm  als  Neukantianer 
der  Satz  feststeht,  dass  eine  Erkenntnis  des  Dings  an  sich,  also 
der  Welt  jenseits  miserer  Sinneseindrücke,  nicht  möglidi  i^ 
machte  er  zwischen  dem,  was  durch  die  Naturwissenschaft  fest- 
steht, und  der  Ideenwelt  einen  tiefen,  unüberbrückbaren  Unter- 
schied. Aber  wenn  ihm  das  Eine  feststeht,  kann  doch  sein  Ge- 
müt, auf  das  Andere  nicht  verzichten.  Ihm  ist  die  Religion  be- 
rechtigt, nicht  wie  bei  Kant  als  ein  Postulat  der  praktischen 
Vernunft,  sondern  psychologisch  als  eine  Wohlthat  der  Phan- 
tasie. Unbefriedigt  durch  die  Welt  der  Sinne  flüchtet  er  in 
die  wahre  Heimath  unseres  Geistes.  Ob  sie  Realität  hat,  ist 
zweifelhaft,  ja  die  Wahrscheinlichkeit  nur  verschwindend  ge- 
ring; aber  cüe  Menschheit  kann  den  Glauben  nicht  entbehren; 
in  ihm  liegt  die  Kraft  für  alles  Grosse.  „Das  Gloria  in  excelsi» 
Deo**,  sagt  er,  „bleibt  eine  weltgeschichtliche  Macht  und  wird 
schallen  durch  die  Jahrhunderte,  so  lange  noch  der  Nerv  eines 
Menschen  über  dem  Sdiauer  des  Erhabenen  erzittern  kann." 
Aber  so  wohlthuend  die  Wärme  religiöser  Empfindung  bei 
Lange  berührt,  seiner  Religion  fehlt,  was  zum  Wesen  der  Re- 
ligion unentbehrlich  gehört,  die  Gewissheit.  Eine  bloss  ästhe- 
tische Begründung  der  Religion  reicht  nicht  aus  in  den  schwer- 
sten Kämpfen  des  Lebens. 

Ist  für  Albert  Lange  die  Religion  das  Ideal,  nach  dem  der 
Mensch  sich  sehnt,  ein  schönes  FabeUand,  von  dem  wir  doch 
nicht  wissen,  ob  es  irgendwo  zu  finden  ist,  so  ist  sie  für  Wil- 
helm Bender,  den  Bonner  Religionsphilosophen,  das  Ab- 
bild, oder  genauer  der  Reflex  des  auf  jeder  Kulturstufe  erwach- 
senden Lebensideals.  Ihm  ist  religionsbildender  Grundtrieb 
inuner  die  jeweilige  Vorstellung  vom  I^bensideal  des  Menschen, 
wie  es  sich  aus  dem  gesamten  Kulturleben  ergiebt,  wobei  er 
dieses  Lebensideal  als  ein  dturchaus  diesseitiges  ansieht.  Jede 
der  drei  von  ihm  angenonmienen  Stufen  ist  eudämonistisch  be- 
dingt, die  erste  individualistisch-sinnlich,  die  zweite  national, 
die  dritte  universell-sittlich.  Da  aber  auch  auf  dieser  unserer 
Kulturstufe,  welche  die  Erkenntnis  von  der  wesentlichen  Gleich- 
heit der  Gattung,  wie  der  gemeinsamen  kulturellen  Arbeit  durch 
den  Austausch  materieller  und  geistiger  Güter  hat,  viel  fehlt 
an  der  Erfüllung  dieser  sittlichen  Bedingungen,  so  bleibt  auch 
auf  dieser  Stufe  das  Bedürfnis  nach  Religion;  denn  wo  immer 


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8 


KaH  VOM  Haae, 


der  Mensch  an  die  Grenzen  seines  Wissens  und  Könnens  an- 
stösst  und  doch  seine  Lebensinteressen  nicht  preis  geben  will, 
da  entsteht  nach  Bender  als  Kompensation  die  religiöse  Welt- 
anschauung. 

Auf  den  Rausch  des  Hegelianismus  folgte  eine  tiefe  Er* 
nüchtening. 

Nach  dem  Positivismus,  der  für  die  Religion  kein  Verständ- 
nis hatte,  wandte  sich  das  Interesse  der  Philosophen  Vorzugs* 
weise  den  erkenntnis-theoretischen  Fragen  und  den  Problemen 
der  physiologischen  Psychologie  zu. 

Gegenüber  Feuerbach,  Lange,  Bender,  denen  die  religiöse 
Weltanschauung  mehr  oder  weniger  Illusionismus  ist,  stehra 
Andere,  welche  die  religiöse  Weltanschauung  gleichfalls  psy- 
chologisch begründen,  aber  so,  dass  ihr  objektive  .Wahrheit 
entspricht.  Fechner,  der  Phychplisiker,  hat  im  Jahre  1863 
ein  kleines  Buch  herausgegeben  unter  dem  Titel:  „Die  drei 
Motive  und  Gründe  des  Glaubens".  Er  unterscheidet  Motive, 
die  zum  Glauben  treiben,  und  Gründe,  die  zum  Glauben  be- 
rechtigten. Ausgehend  vom  Unterschied  zwischen  Glau* 
ben  und  Wissen  weisst  er  zunächst  nach,  wie,  abge- 
sehen von  dem  Reich  mathematischer  Wahrheit,  dessen, 
was  wir  gewiss  wissen,  sehr  wenig  ist.  Wir  haben  eine 
Empfindung  von  Rot,  Grün,  Gelb  in  der  Weit;  „ob  aber 
Andere  die  Orange,  die  vor  mir  liegt,"  sagt  Fechner.  ..ebenso 
gelb  sehen  als  ich,  kann  ich  streng  genommen  nicht  wissen, 
ich  glaube  es  nur  fast  so  fest,  als  ob  ich  es  wüsste."  In  das 
Meiste,  was  wi.sseii  heisst,  geht  der  Glanbe  doch  bedingungs- 
weise ein.  sofern  das  Wissen  dabei  sich  auf  die  Vorausset- 
zung vnti  etwas  Geglaubtem  stützt  Wer  kann  sagen,  es  sei 
durch  Krlahrung  oder  Mathematik  oder  Beides  zusammen  er- 
wiesen oder  erweisbar,  dass  das  Gravitationsgesetz  durch  alle 
Räume  und  durch  alle  Zeiten  gilt.'  weil  es  sich  aber  gültig 
gezeigt  hat,  so  weit  und  so  lang  wir  es  durch  das  Gebier  der 
Himmel  und  der  Zeiten  verfolgen  können,  so  begründet  dies 
einen  Glauben,  der  es  dem  strengsten  Wissen  an  Festigkeit 
gleich  thut,  und  darum  rechnen  wir  es  als  eine  Sache  unseres 
Wissens,  ja  als  eine  Sache  des  strengen,  des  exakten  Wissens. 
So  setzt  alles  imser  liistorisches  Wissen  den  Glauben  an  die 
Glaubwürdigkeit  der  Quellen,  unsere  ganze  Erfahrungswissen- 
schaft setzt  den  Glauben,  dass  Andere  richtig  gesehen,  un- 


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Die  ßtyekehfüek*  Begründumg  der  tOfgiimt  WeUam^mtititg.  9 

sere  ganze  Psychologie,  soweit  sie  nicht  bloss  die  eines  In- 
dividuums ist»  den  Glauben  an  anderer  Menschen  Seelen  vor- 
aus. Und  was  bliebe'  von  aller  unserer  Wissenschaft,  wenn 
aller  dieser  Glaube  fiele!  So  gewiss  nun  aber  der  religiöse 
Glaube  seine  eigenen  Motive  und  Gründe  hat,  die  allein 
ihm  seine  Welt-  und  Todüberwindeude  Kraft  geben,  so  irrig  wäre 
es  doch,  die  Wi$sensgründe  von  den  Bestinunungsgründen 
unseres  Glaubens  ganz  auszuschliessen.  Wie  in  unser  Wissen 
etwas  vom  Glauben  eingehti  so  kann  umgekehrt  das,  was  wir 
von  einer  Sache  wissen,  sehr  wichtigen  Anteil  an  unserem 
Glauben  haben.  Darum  mag  der  Mann  des  Wissens  den 
Glauben  und  der  Mann  des  Glaubens  das  Wissen  nicht  zu 
sehr  verachten.  Nur  die  Verbindung  von  Wissen  und  Glauben 
führt  in  der  Religion,  wie  in  der  Wissenschaft  zum  höchsten 
Ziele.  Fechner  zeigt  sodann  die  drei  Motive  und  Grunde  oder 
Prinzipien  des  Glaubens,  durch  die  wir  zum  Glauben  kmn- 
men.  Erstens  historisch:  wir  glauben,  was  uns  gesagt  wird,  was 
vor  uns  geglaubt  worden  ist,  und  was  um  uns  her  geglaubt 
wird.  Zwätens  praktisch:'twir  glauben,  was  ims  zu  glauben 
gefallt,  dient  und  frommt.  Drittens  theoretisch:  wir  glau- 
ben, wozu  wir  in  Erfahrung  und  Vernunft  Bestimmungsgriinde 
finden.  Im  Glauben  des  Einzelnen  waltet  dies  oder  jenes  Motiv 
vor.  Jedes  reicht  für  sich  hin,  den  Glauben  zu  begründen 
und  zu  halten,  doch  nur  insofern,  als  jedes  zum  Hauptge* 
Sichtspunkt  erhoben  werden  und  sich  die  anderen  dienstbar 
machen  kann.  Statt  einen  der  drei  Werksteine  zu  verwerfen, 
gilt  es  alle  drei  festzuhalten  als  Grundlagen  des  Glaubens 
für  das  Gewölbe  der  Religion.  Darum  bekennt  Fechner,  dass 
er,  obwohl  es  seinem  freien  Standpunkt  zu  widersprechen 
scheine,  doch  für  die  Orthodoxen  meist  mehr  Vorliebe  ge> 
habt  habe  als  für  die  Freireligiösen  und  Neukatholischen,  weil 
er  bei  Ersteren  am  häufigsten  die  Verbindung  jener  drei  Mo- 
tive gefunden  und  die  Bethätig^ung  der  Religion  bei  ihnen 
ihn  mit  stiller  Achtung  und  Freude  erfüllt  habe. 

Dem  deutschen  Psychophysiker  steht  in  der  Begründung 
der  religiösen  Weltanschauung  am  nächsten  der  englische 
Staatsmann,  erster  Lord  des  Schatzes,  James  Balfour.  In 
seinem  1895  erschienenen  Buch:  „Die  Grundlagen  des  Glau- 
bens", das  in  England  und  Deutschland  grosses  Aufsehen  er- 


10 


regt  hat,  giebt  Balfour  ganz  im  Sinne  des  Agnosticismus  zu- 
nächst die  Unmöglichkeit  der.  Erkenntnis  der  Dinge  zu,  da 
wir  nichts  zu  erkennen  vermögen  als  Erscheinungen  und  die 
Gesetze  des  Zusammenhangs,  geht  aber  dann  noch  einen  Schritt 
weiter  und  bestreitet  auf  diesem  Standpunkt  auch  die  Gewiss- 
heit richtiger  Erkenntnis  der  Erscheinungen.  Folgerichtig 
giebt  es  für  die  Agnostiker  nichts  Gewisses  als  sein  Ich.  Von 
diesem  Ich  führt  keine  Brücke  zur  äusseren  Welt.  Weil  aber 
dieser  vollendete  Skeptizimus  dem  Geiste  kein  Genüge  giebt» 
treibt  er  selbst  dazu,  eine  andere  Lösung  zu  suchen.  Nur 
Eins  hilft  dazu:  der  Glaube  an  eine  gewisse  Gleichförmig- 
keit innerhalb  der  Natur,  eine  Gleichförmigkeit,  die  uns  die 
Schlussfolgerung  erlaubt  von  uns  auf  die  Welt.  Wie  wir  geistig 
so  beanlagt  sind,  dass  alle  unsere  Vorstellungen  im  Denk- 
schema  von  Raum  und  Zeit  sich  bewegen,  so  giebt  es  keiner- 
lei Erkenntnis,  auch  nicht  auf  dem  Gebiet  des  Natürlichen 
und  sinnlich  Erfahrungmässigen,  zu  der  nicht  in  gewissem 
Sinne  Glaube  notwendig  ist.  Dementsprechend  ist  auch  der 
religiöse  Glaube  nur  die  allgemeine  Form  der  Erkenntnis, 
angewandt  auf  das  Unsichtbare.  Wenn  mm  gewisse  Ueber- 
zenguugen  fast  mit  Universalitat  und  Notwendigkeit  sich  fin- 
den,  ohne  welche  eine  Entwicklung  des  menschlichen  Ge- 
schlechts kaum  denkbar  ist,  und  wenn  sich  ergiebt,  dass  die 
TJeberzeiigungen,  welche  sich  auf  sittliche  und  religiöse  Wahr- 
heiten beziehen,  unvergleichlich  wichtiger  sich  erwiesen  haben 
als  die,  welche  Urteile  über  die  Welt  der  Erscheinungen  ent- 
halten, so  muss  auch  der  Naturalismus  nach  seinen  biologischen 
Prinzipien,  nach  dem  Grundsatz  von  Ausstossung  und  Aus- 
lese, die  Berechtigung  der  ethischen  und  religiösen  Ucber- 
zeuguiigeii  von  »meinem  Standpunkte  aus  anerkennen.  So  kommt 
Balfour  zu  dem  Ergebnis,  dass,  wie  irgend  eine  Art  der  Har- 
monie zwischen!  unserem  innern  Selbst  und  dem  Weltall,  von 
dem  wir  ein  Teil  sind,  bestehen  muss,  so  aucli  /.wischen  dem 
Weltall  und  jenen  anderen  Elementen,  in  denen  die  religiöse 
Weltanschauung  ihren  Grund  hat.  Eins  aber  erschwert  den 
Glauben,  das  ist  der  wechselnde  und  unvollkommene  Ausdruck 
des  Glaubens.  Der  Satz:  „Es  giebt  einen  Gott",  hat  einen 
ganz  anderen  Sinn  und  Inhalt  im  Munde  eines  Wilden,  der 
an  seine  Stammesgottheit  denkt,  und  im  System  eines  Phi- 
losophen, der  damit  etwa  das  Absolute  Hegels  meint.  Hängt 


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Die  psyckohgü^  Begründung  4er  rdigütten  WdUmsAemung. 


11 


das  Gewand  der  Sprache,  wie  Balfour  sich  anschaulich  aus- 
drückt, nur  lose  um  die  Schultern  des  Glaubens,  so  ist  an- 
zunehmen, dass  auch  der  Glaube  nicht  immer  mit  der  Wirk- 
lichkeit in  vollem  Einklang  steht,  und  dass  das  Axiom:  jeder 
Glaube  muss  entweder  wahr  oder  nicht  wahr  sein,  logisch 
zwar  unbestreitbar  richtig  ist,  aber  nur  zu  oft  die  Thatsache 
verglsst:  wir  erkennen  nur  stückweise  und  darum  nicht  richtig; 
wir  können  nur  unvollkommen  coordinieren,  was  wir  nur  tm- 
voUkommen  begreifen.  Der  Konflikt  aber  zwischen  Wissen- 
schaft und  Rdigion  beschäftigt  sich  meist  mit  Dingen,  die 
verhältnismässig  geringfügig  sind,  oder  mit  Interessen,  die 
weit  über  den  Bereich  der  Theologie,  und  noch  mehr  über 
den  des  Glaubens  und  der  praktischen  Frömmigkeit  hinaus 
liegen.  So  gewiss  dei*  logische  Schluss  aus  dem  Dasein  der 
Welt  auf  einen  Gott  als  ihren  Urheber  unzulässig  ist,  weil 
der  Induktionsbeweis  nur  innerhalb  der  Welt  zulässig  ist,  so 
gewiss  ist  der  Glaube  zulässig,  weil  er  erst  unserer  Auffassung 
der  Naturwelt  Einheit  und  Zusammenhang  giebt.  W^che 
Schwierigkeiten  auch  der  Theismus,  der  Glaube  an  einen  be- 
bendigen^  persönlichen  Gott,  zumal  auch  durch  die  Ptobleme 
des  Elends  und  der  Sünde,  in  seiner  Vorstellung  von  Gott 
und  über  sein  Verhältnis  zur  Weit  noch  birgt ,  er  ist  ein  Prin- 
zip, dass  die  WissenschSaft  zu  ihrer  eigenen  Vervollständigung 
nicht  entbehren  kann.  Auf  diesem  Standpunkt  einer  einheit- 
lichen Weltanschauung  lösen  sich  Widersprüche,  die  sonst  un- 
gelöst blid)en.  Was  bei  der  bloss  naturalistischen  Weltanschau- 
ung wie  ein  skeptischer  Reif  auf  unsere  Lebens-  und  Schön- 
heitsideale sich  legte,  schwindet  vor  dem  Sonnenschein  des 
Glaubens. 

Verwandt  dem  englischen  Staatsmann  in  seinen  Anschatt> 
ongen  ist  der  franzosische  Professor  der  protestantischen  Theo- 
logie zu  Paris  Auguste  Sabatier.  Ist  es  die  These  Bal- 
lours, dass  zu  jedeni  Erkennen  Glauben  gehört,  so  zeigt  Sa- 
batier in  seinem  1897  erschienenen  „Entwurf  einer  Religions- 
philosophie nach  Psychologie  und  Geschichte**,  dass  auch  zum 
Handeln  Glauben  gehört.  Die  religiöse  Frage  ist  doch  die 
tiefste  Lebensfrage;  mag  eine  Zeit  sich  von  ihr  abwenden, 
immer  kommt  die  Keuschheit  auf  sie  zurück.  So  gerade  jetzt 
in  Frankreich.  Auf  eine  Generation,  die  sich  gefiel  im  philo- 
sophischen Materialismus,  im  moralischen  Utilitarismus,  im 


L^oogle 


12 


Kttfi  «OK  Hme. 


kiizistlerischen  Naturalismus,  ist  dort  ein  Geschlecht  gefolgt, 
das  wieder  das  Geheimnis  der  Dinge  fast  quälend  heschäf tigt» 
das  sich  hingesogen  fühlt  zum  Ideal,  das  von  sozialer  Gleich* 
heit^  von  Selbstverleugnung!  Hingehung  an  die  Geringen,  Blen- 
den und  Bedrückten,  bis  zum  Heroismus  christlicher  Liebe 
träumt.  Eine  Wiedergeburt  des  Idealismus,  der  Rückkehr  zu 
den  allgemeinen  Ideen,  zum  Glauben  an  das  Unsichtbare,  ein 
Sinn  für  Symbolismus  ist  angebrochen,  ein  Verlangen  wieder 
eine  Religion  zu  finden  oder  zu  der  zurückzukehren,  welche 
die  Väter  verachtet  haben.  Die  Jugend  geht  wie  zwischen 
zwei  hohen  Mauern;  auf  der  einen  Seite  die  moderne  W'isscn- 
schaft  mit  ihrer  strengwissenschaftlichen  Methode,  auf  die  man 
nicht  verzichten  kann,  auf  der  andern  Seite  die  Dogmen  und 
Institutionen  der  Religion,  an  die  sie  glauben  möchte  und  doch 
nicht  recht  glauben  kann.  Soll  sie  sich  entscheiden  für  eine 
Wissenschaft,  die  gegen  die  Religion  ist,  oder  für  eine  Religion, 
die  gegen  die  Wissenschaft  ist?  Giebt  es  da  keinen  Ausweg? 
Zumal  der  Jugend,  deren  Lehrer  er  ist,  will  Sabatier  den  Weg 
zeigen,  der  zuar  schmal  und  schwierig  ist,  aber  durch  Felsen 
hinaufführt  auf  eine  Hohe,  von  der  man  einen  weiten  freien 
Blick  hat.  Sabatier  weist  zwar  die  Behauptung  zurück,  auf  dem 
Standpunkt  des  Evolutionismus  oder  gar  des  Materialismus 
zu  stehen,  aber  die  geistigen  Eigenschaften  des  Menschen  ent- 
wickeln sich  auch  nach  seiner  Darstellung  nur  allmälig  aus  dem 
Tierleben.  Er  geht  aus  von  der  Frage,  was  ist  der  Mensclv? 
Aeusserlich  unterscheidet  er  sich  wenip  von  den  höheren  Tier- 
arten, deren  Reihe  er  auf  unserem  Planeten  abgeschlossen 
zu  haben  scheint.  Seine  natürliche  Organisation  setzt  sich  zu- 
sammen aus  den  gleichen  Elementen  und  verhält  sich  nach 
den  gleichen  (lesetzen  wie  die  der  übrigen  Natur.  Nur  durch 
die  unvergleichliche  Entwicklung  der  Vrriiunft  unterscliculet 
und  löst  er  sich  allmälig  von  der  Tierwelt.  Nun  treten  1  r- 
scheinungen  und  Gesetze  von  neuer  Art  auf.  Das  geheinuus- 
volle  Leben  des  Geistes,  ausgehend  von  dem  naturhaften 
Leben,  entfaltet  sich  allniälig  wie  eine  göttliche  Blume,  die  tur 
uns  der  Welt  ihren  Sinn  und  ihre  Schönheit  verleiiit.  Das 
Gebiet  des  Wahren,  Schönen  und  (juten  eröffnet  sich  für  das 
Gewissen.  Die  Welt  der  Sittlichkeit  stellt  sich  dar  als  eine 
holitre  Ordnung,  welcher  der  Mensch  angehört.  Diese  sitt- 
lichen Gesetze,  die  im  Stande  sind,  die  natürlichen  zu  beherr- 


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Die  fisyckalogisckt  Begründung  der  religiösen  WdUoueiUMUHg,  13 


sehen  und  unter  höhere  Zwecke  zu  beugen,  sind  es,  die  in 
dem  nu  nschlichen  Tierwesen  die  Menschheit  verwirkhchen  und 
zu  Stande  bringen.  Der  Mensch  ist  Mensch  nur  in  soweit,  als 
er  ihnen  gehorcht,  und  diese  Uebergangssteilung,  die  er  ein- 
nimmt zwischen  zwei  Wehen,  und  die  Notwendigkeit  einer 
Entscheidung,  durc  h  die  er  sich  lossagen  muss  von  der  mütter- 
lichen Tierwelt,  ist  so  bedeutsam,  dass  wenn  er  sich  ni<  ht  über 
das  Tier  erhebt,  die  Verderbtheit  seines  Lebeii>  ihri  init  Not- 
wendigkeit unter  das  Tier  herabsinken  lässt.  So  hat  das  Leben 
von  seinem  Ursprung  her  eine  doppelte  Bewegung,  eine  von 
Aussen  nach  Innen  zum  Zentrum  des  Ich  und  eine  andre  vom 
Zentrum  nach  der  Peripherie;  die  eine  durch  die  sinnliche 
W  ihi iu  iimung.  die  andere  durch  den  Willen,  in  Jasen  beiden 
Gt  genströnunigen  vollzieht  sich  das  Geistesleben.  Aber  schon 
hier  wirtl  der  ursprüngliche  Widerspruch  ersichtlich,  in  wel- 
chem dieses  Leben  sich  bildet  und  dauernd  entwickelt;  die 
passive  und  die  aktive  Seite  des  Geisteslebens  stehen  nicht 
im  hai  nionischen  X'erhältnis;  die  sinnlic  hen  Eindriicke  er- 
drücken den  Willen,  die  Aktivität;  die  Eutf;iliuiig  des  ich,  sein 
Wunsch,  sich  auszudehnen  und  zu  wachsen,  sind  bedingt  durch 
das  Gewicht  der  Welt,  das  von  allen  Seiten  es  bedrückt.  Der 
Lt  bensstrom,  der  aus  dem  Innern  strömt,  bricht  sich,  wie  eine 
machtlose  Woge  an  dem  Fels  der  Aussenwelt.  Dieser  stete 
Anstoss,  dieser  Kampf  des  Ich  mit  der  Welt,  ist  der  erste 
Grund  und  der  Ursprung  des  Schmerzes.  So  zurückgeworfen 
auf  sich  selbst,  sammelt  sich  die  .Vkuvitat  im  Innersten,  das 
nun  heiss  wird,  wie  der  Mittelpunkt  eines  sich  drehenden  Rades. 
Bald  erglänzt  ein  Funke,  und  das  innere  Leben  des  Ich  wird 
Licht:  es  ist  das  Selbstbewusstsein.  Durch  den  Schmerz  und 
den  sich  iiiiiner  erneuernden  Misserfolg  auf  sich  zurückge- 
worfen von  Innen  nach  Aussen,  macht  das  Ich  sich  zum  Objekt 
seiner  eigenen  Reflexion,  es  verdoppelt  sich  und  lernt  sich 
kennen;  bald  beurteilt  es  .sich;  es  trennt  sich  von  dem  Organis- 
mus, mit  dem  es  frulier  eins  war;  es  kommt  in  W^iderspruch 
mii  selbst,  als  ob  in  ihui  wirklich  zwei  Seinsformen  wären: 
ein  ideales  und  ein  empirisches  Ich.  Daher  kommen  seine 
Qual,  seine  Kämpfe,  seine  (iewis-cnsbisse,  aber  auch  der  innere 
erneute  Aufschwung,  der  uucndlu  lu'  1  ortschritt  seines  Geistes- 
lebens. Hier  wird  die  göttliche  Auiga.be  des  Schmerzes  er- 
sichtlich.   Ohne  iiui  wurde  das  Geistesleben  sich  kaum  über 


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14 


Karl  von  Hase, 


das  physische  Leben  erheben.  Es  giebt  keine  Geburt  ohne 
Schmerzen;  auch  das  Gewissen  wird  unter  Thränen  geboren. 
—  Den  Gedanken  des  innem  Widerspruchs  weist  Sabatier  auf 
allen  Gebieten  des  Lebens  nach;  überall  tritt  dem  Menschen 
seine  Schranke  entgegen,  im  Glückbedürf  nis,  im  sittlichen  Han- 
deln, frei  im  Willen  und  doch  ein  Sklave  in  der  That.  Wie 
der  Apostel  Paulus,  so  fragt  auch  er :  „Wer  wird  mich  erlösen 
von  dieser  Qual,  von  diesem  Widerspruch  des  Lebens  ?**  Weder 
die  Wissenschaft  noch  eine  äussere  Verbesserung  der  Lebens- 
verhältnisse vermögen  es;  daher  der  pessimistische  Zug,  der 
durch  unsere  Zeit  geht.  Aus  diesem  Gefühl  der  Traurigkeit, 
atis  diesem  tiefen  Widerspriicli  des  inneren  Lebens,  entsteht 
nach  Sabatier  der  Glaube,  die  Religion.  Das  ist  der  Spal:  im 
Felsen,  aus  dem  die  belebende  Quelle  fliesst.  Nicht  als  ob 
die  Religion  dem  Problem  eine  theoretische  Lösung  brächte; 
der  Ausweg,  den  sie  öffnet,  ist  von  praktischer  Natur.  Sie 
rettet  uns  nicht  durch  neue  Kenntnisse,  sondern  durch  eine 
Rückkehr  zu  dem  Urgrund,  von  dem  unser  Wesen  abhängt, 
und  durch  eine  moralische  That  des  Vertrauens  auf  den  llr- 
sprung  und  das  Ziel  unseres  Lebens.  Und  diese  rettende  That 
ist  kein  Akt  der  Willkür,  er  vollzieht  sich  mit  Notwendigkeit. 
Es  ist  der  Erhaltungstrieb  des  Lebens,  nur  auf  c  inor  höiieren 
Stufe;  die  Erkenntnis,  dass  wir  so  wenig  als  alle  irdischen  Dinge 
unsere  Existenz  uns  selbst  verdanken,  zwingt  uns,  den  Ur- 
spnmg  und  das  Ende  unseres  Seins  in  einer  ersten  Ursache  zu 
suchen.  Religion  haben,  heisst  hiemach  zunächst  nur,  vertrau- 
ensvoll, einfach  und  demütig,  die  Thatsache  unserer  persön- 
lichen Unterordnung  und  Abhängigkeit  anerkennen,  heisst, 
sich  zurückführen  und  binden  an  diesen  ewigen  Cirund,  heisst, 
eins  sein  wollen  mit  der  Weltordnung  und  der  Harmonie  .ille.s 
Lebens.  Das  (iefühl  unserer  Abhängigkeit  in  seiner  ganzen 
Tiefe  ist  gleichbedeutend  mit  dem  der  geheimnisvollen  Üeg an- 
wart Gottes  in  uns.  Nur  in  der  Demut  des  Menschen  liegt 
seme  Erhebung.  Selbstbewusstsein  und  Welterfahrung,  die 
sich  im  Widerspruch  finden,  haben  die  Lösung  ihres  Wider- 
spruchs nur  in  Etwas,  was  höher  ist  als  beide,  das  Ich  und 
die  Welt,  und  von  dem  beide  abhangig  sind.  Dieses  \er- 
söhnende  Ikuusstscin  ist  der  Cottesglaubc.  Nie  hat  der 
Mensch,  um  seiner  Verzweiflung  zu  entgehen,  ein  anderes  Heil- 
mittel gehabt,  als  diesen  Glauben.   Der  Wilde  nümnt  dahm 


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Die  paya«i0gtsdu  BtgrÜ>td»mg  der  reUglikm  Wdtantdimtatg.  15 

seine  Zuflucht  nach  der  Stufe  seiner  Erkenntnis,  wenn  er  unter 
den  Schrecken  der  Natur  die  unbekannte  Macht  seiner  Gott- 
heit anruft,  ebenso  wie  der  Philosoph,  wenn  er  den  Ausgleich 
des  inneren  Widerspruchs  zwischen  sich  und  der  Welt,  zwischen 
der  reinen  und  der  praktischen  Vernunft,  sucht  im  Gottes- 
begriff. Er  erkennt  Gott  an  in  seinem  Denken  unter  der  Form 
des  logischen  Gesetzes,  in  seinem  Willen  unter  der  Form  des 
Sittengesetzes.  Er  kann  die  Einheit  seines  Wesens  nur  retten 
durch  den  Glauben  an  Gott  und  in  ihm.  Auf  den  Einwand,  dass 
diese  Erklärung  des  Glaubens  und  der  Religion  vielleicht  zu 
philosophisch  sei,  als  dass  sie  Anwendung  finden  könne  auch 
auf  die  vorgeschichtlichen  Zeiten  der  Menschheit,  die  doch 
aluch  nicht  ohne  Religion  waren,  zeigt  Sabatier,  dass  der  Aus- 
druck der  Empfindung  auf  den  verschiedenen  Bildungsstufen 
zwar  ein  himmelweit  verschiedener  sei,  aber  dass  die  religiöse 
Erfahrung,  die  den  Menschen  durchschauert,  für  den  Wilden 
im  Schrecken  des  Erdbebens  tmd  für  uns  angesichts  des  Rät- 
sels der  Welt  und  des  Todes  im  Grunde  die  gleiche  sei.  Pascal 
mit  all  seinem  Wissen  empfand  keine  geringere  Traurigkeit, 
wie  der  Mensch  der  Urzeit,  als  der  grosse  Denker  das  Wort 
schrieb:  „Das  ewige  Schweigen  der  unendlichen  Räume  er- 
schreckt mich".  Und  steht  der  Schüler  Kants,  der  verzweifelnd 
sich  beschränkt  in  den  unüberschreitbaren  Grenzen  der 
sinnlichen  Wahrnehmung,  oder  der  Schüler  Schopenhauers, 
der  zuletzt  ankommt  bei  dem  unlösbaren  und  tötlichen  Kon- 
flikt zwischen  Erkenntnis  und  Willen,  nicht  unter  einem  noch 
schmerzlicheren  Drucke  seiner  Ohnmacht?  Und  wenn  sie  auf- 
hören, ihrer  Vernunft  zu  folgen,  um;  sich  zu  entschliessen,  zu 
leben,  merken  sie  nicht,  wie  auch  wider  ihren  Willen  in  der 
Bitternis  ihres  Herzens  ein  Gefühf  aufsteigt,  tmd  als  Seufzer 
über  ihre  Lippen  kommt,  dasi  der  Anfang  eines  Gebetes  ist? 
Damm  ist  die  Religion  tmsterblich.  Diejenigen,  welche  ihr 
baldiges  Ende  verkünden,  verwechseln  die  Religion  mit  ihrer 
äusseren,  wechselnden  Form.  Wie  der  Mensch  zum  Menschen 
wird  erst  durch  die  Religion,  so  schreitet  er  fort  und  vollendet 
sich  nur  durch  sie.  So  ist  die  Religion  nach  Sabatier  ein  Akt 
des  Vertrauens,  des  Mutes,  nicht  irgend  einer  Beweisführung. 
Sie  ist  eine  Behauptung,  die  zur  Voraussetzung  nicht  wissen^ 
schaftliche  Beweise,  wohl  aber  einen:  moralischen  Willensakt 
hat.  Diesen  Akt»  man  muss  ihn  vollziehen  oder  man  muss 


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16 


i&frf  «UM  Hase, 


verzweifeln.  Das  Individuum  kann  sich  das  Leben  nehmen, 
die  Menschheit  will  leben,  und  ihr  Leben  ist  ein  Akt  ihres  mit 
jedem  Tage  erneuten  Lebens.  —  Vollzieht  sich  diese  Lösung 
durchaus  auf  dem  Gebiete  des  praktischen  Lebens,  so  schliesst 
sie  doch  auch  die  Möglichkeit  und  Hoffnung  einer  theore- 
tischen Lösung  nicht  aus.  Gerade  weil  das  Ich  der  reinen 
Vernunft  und  der  praktischen  Vernunft  das  gleiche  ist,  und 
weil  wir  an  die  Freiheit  unseres  Ichs,  der  Welt  und  iu  Gott 
glauben,  das  lässt  ims  hoffen,  dass  die  Wissenschaft  und  der 
Glaube  einst  in  ihrer  Einheit  sich  erkennen.  Wie  die  Mathe- 
matiker sagen,  dass  zwei  Parallele  im  Unendlichen  sich  be- 
gegnen, so  versöhnen  sich  in  c 'Ott  die  reine  und  die  praktische 
Vernunft,  Wissenschaft  und  Glaube. 

Noch  einen  Schritt  weiter  als  Sabatier  geht  HenriDrum* 
mond,  der  Schotte,  in  seinem  Buch:  „Das  Naturgesetz  in  der 
Geisteswelt",  das  in  England  innerhalb  weniger  Jahre  in  123000 
Exemplaren  verbreitet  war.  Er  selbst  erzählt  in  der  Vorrede, 
wie  er  zur  Abfassung  des  Buches  und  dessen  Grundgedanken 
gekommen  ist.  Als  Professor  las  er  an  Wochentagen  vor  Stu- 
denten, wahrend  er  des  Sonntags  vor  einer  Zuhörerschaft,  die 
sich  hauptsächlich  aus  dem  Arbeiterstand  zusammenfand,  sitt- 
liche und  religiöse  Fragen  besprach*  Manchem  seiner  Freunde 
schien  diese  doppelte  Thätigkeit  wie  ein  Rätsel,  wälircnd  sie 
ihm  selbst  nie  unvereinbar  schien.  Ihm  löste  sich  das 
Rätsel  einfach  dadurch,  dass  er  beide  Gedankenkreise  völlig 
auseinander  hielt,  so  dass  er  Naturwissenschaft  und  Religion 
gleichsam  in  verschiedenen  Kammern  seines  Geistes  von  ein- 
ander abschloss.  Allmälig  jedoch  geriet  die  Scheidewand  ins 
Wanken;  die  beiden  Wissenschaften  begannen  langsam  in  ein- 
ander überzufliessen.  zuletzt  vereinigten  sich  die  Wasser  und 
die  Scheidewand  ging  unter.  Das  Ergebnis  dieser  Vtiliiiidung 
war  für  Drummond  die  Erkenntnis  von  einem  Hinüberi eichen 
der  Naturgeselze  in  die  Geisteswelt,  .^n  einer  Reihe  von  Bei- 
spielen sucht  er  das  nachzuweisen,  so  an  der  Biogenesis,  an  der 
Entartung,  am  Wachstum,  am  Tod,  am  Absterben,  am  Emtluss 
der  Umgebung,  am  lialbparasitentum  und  Parasitentum.  und 
zeigt,  dass  allen  diesen  Vorgängen  in  der  Natur  Vorgänge 
ini  geistigen  und  geistlichen  Leben  des  Menschen  entsprechen, 
die  den  Beweis  liefern,  dass  beide  Gebiete,  das  der  Natur  und 
das  des  Geisteslebens,  unter  dem  einheitlichen  Gesetze  einer 


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Die  ptydiohgüdU  BegtÜMdtmg  derr^giSatH  WHtoiuetuuamg,  \J 


obcisieii  gemeinsaiucii  l  it^ache  stehen.  Dabei  führt  er  den 
Kachweis,  dass  Wahrheiten,  welche  die  Religion  auf  GiiukI  des 
Glaubens  aufgestellt  hat,  mul  die  von  der  W  issenschaft  nach  Jahr- 
tausenden erwiesen  werden  M  il;  nnmeriim  solche  Gedankenver- 
bindung und  Beweibluhi  uiil;  lur  Manchen  nicht  überzeugend 
sein,  wie  es  sich  in  der  Thal  mir  um  Analogien  handelt,  so 
ist  sie  doch  insofern  intcrossaui,  als  sie  beweist,  wie  gerade 
in  der  Gegenwart,  nachdem  der  Material isnuis  seine  Herr- 
schaft wissenschaftlich  verloren  liai,  Annalierungcn  zwischen 
den  verschiedenen  Gebieten  des  Geisteslebens  sich  \ulUiehcn, 
und  wie  die  Anerkennung  des  Gesetzes  der  Entwicklung  dabei 
kein  Hindernis  ist.  Wir  dürfen  es  getrost  sagen,  die  Grund- 
lagen des  Glaubens  sind  heut  zu  Tage  insofern  fester  als 
früher,  als  sie  eingegliedert  sind  in  den  Gesamtorganismus  un- 
seres Geisteslebens. 

Nur  kurz  weise  ich  noch  hin  auf  das  erst  im  vorigen  Jahre 
erschienene  Werk  des  Kieler  Botanikers  Rcinke:  „Die  Welt 
als  That".  Sein  Standpunkt  ist  der  naturwissenschaftlicher 
Induktion;  er  erkennt  die  hohen  Verdienste  Darwins  in  der 
Desccndenzlehre  vollauf  an,  aber  er  erklart,  in  der  Natur  und 
in  der  W'cll  ohne  Zweckbegriff  nicht  auszukonuncn.  Wo  aber 
ein  Zweck  ist,  ist  auch  eine  Absicht.  Wo  eine  Absicht  ist, 
ist  eine  Intelligenz.  Energieen  und  Intelligenzen  konstituieren 
nach  ihm  das  Wesen  der  Welt.  Sofern  die  Intelligenzen  in 
den  Energieen  wiiksam  werden,  nennt  er  sie  Dominanten. 
Ya-  unterscheidet  tierische  Intelligenz,  menschliche  Intelligenz 
und  kosmische  Intelligenz,  Letztere  entspricht  nach  ihm  dem, 
was  die  Religion  Gott  nennt.  Ist  auch  das  Resultat  kein  voll- 
befriedigendes,  so  ist  doch  bedeutsam,  wie  hier  auch  die  streng 
wissenschaftliche  Induktion  fortschreitend  vom  Mechani^nius 
zum  Organischen  erklärt,  der  kosmischen  Vernunft  in  ihrem 
System  nicht  entraten  zu  können. 

Wenden  wir  uns  bei  unserm  Rückblick,  der  nur  der  Reli- 
gionsphilosophie gilt,  ohne  nachzuweisen,  wie  die  philoso- 
phischen Systeme  je  und  je  auf  die  christliche  Theologie  ein- 
gewirkt haben,  zuiel/i  noch  der  zur  Zeil  na  deutschen  Protes- 
tantismus herrschenden  theologischen  Richtung,  der  sogenann- 
ten R  i  t  s  c  h  1  'sehen  Schule  zu,  so  finden  wir,  dass  auch  bei 
ihr,  wenn  nicht  die  Begründung  der  religiösen  Weltanschau- 
ung, so  doch  die  ^lethode  eine  durchaus  psychologische  ist, 

Zcitschriit  fflr  pidagogische  Psychologe  und  l'atholosie.  2 


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18 


ICati  vom  Sau, 


Schon  der  ii,rian<jer  Hofmann   hatte  die  Eudhiuiig  zur  alleini- 
gen Quelle  der  Dogmatik  gemacht.    Aus  der  Thatsachc  der 
Wiedergeburt  wollte  er  das  ganze  Christentum  ableiten.  Ritsehl 
wies  jede  Vermischung  des  Christentums  mit  der  Philosophie 
und  dem  natürlichen  Welterkennen  ja  grundsätzlich  ab,  um 
die  christliche  Wahrheit  lediglich  aus  der  Offenbarung  in 
Christo  abzuleiten.  An  die  Stelle  des  causalen  Welterkennens 
in  der  Naturwissenschaft  soll  in  der  Theologie  lediglich  die 
teleologische  Betrachtung  treten.    Aus  den  Zwecken  Gottes 
und  der  Menschen  soll  die  Wdt  erkannt  und  die  Selbstbeur- 
teilung des  Menschen  gesichert  werden.  Alle  christlichen  Glau- 
benssätze smd  aus  der  heiligen  Schrift  abzuleiten.  Aber  das 
Neue  Testament  gilt  ihm  nur  insoweit  normativ,  als  es  die 
alttestamentlichen  Gedanken  fortfuhrt.    So  wird  das  spezifisch 
Christliche  auf  das  allgemein  Religiöse  beschränkt.  Gottver« 
trauen,  Benifstreue,   Menschenliebe  bilden  das  christliche 
Lebensideal,  den  spezifischen  Inhalt  der  Gottesoffenbarung  in 
Christo.  Zutreffend  bezeichnet  Lipsius  den  RitschPschen  Stand« 
punkt  als  formalen  Positivismus,  materiellen  Rationalismus  und 
bemerkt,  dass  man  einen  durchaus  in  rationalistischem  Stile 
aufgefassten  Bau  nicht  mit  einem  supematuralistbchen  Portal 
verzieren  könne.  Aber  das  ist  nicht  zu  verkennen,  Ritscbl  hat 
die  Geistesrichtung  des  Jahrhunderts  in  der  religiösen  Weltbe- 
trachtung sehr  wohl  verstanden;  er  bat  seiner  Theologie  zwar 
den  Offenbanmgcharakter  gewahrt,  aber  in  ihr  durchaus  die 
psychologische  Methode  angewendet.  Alle  dogmatischen  Aus- 
sagen, insbesondere  die   Rechtfertigung  und  Versöhnung, 
lösen  sich  ihm  auf  in  subjektiv  psychologische  Vorgänge,  Wert- 
urteile und  Willensakte,  welche  in  der  christlichen  Gemeinde* 
aus  der  Thatsache  der  Offenbarung  in  Christo  abgeleitet 
werden.  Das  Wahrheitsmoment  der  Ritschl'schen  Theologie 
ist  das,  freilich  schon  vor  ihm  geltend  gemachte,  dass  alle  dog- 
matischen Aussagen  in  Uebereinstimmung  stehen  müssen  mit 
der  religiösen  Erfahrung. 

So  bleibt  nur  noch  übrig„  an  einzelnen  Hauptproblemen 
der  religiösen  Weltanschauung  die  psychologische  Begründung 
kurz  nachzuweisen.  Wohl  das  wichtigste  und  schwierigste  ist 
das  des  Gottesbegriffs  selbst  und  zwar  der  absoluten  Persön- 
lichkeit. Zunächst' scheint  dies  ja  Gegenstand  der  Dogmatik 
oder  Metaphysik,  aber  gerade  der  Begriff  der  absoluten  Per- 


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Du:  psychologische  Hegründung  (Ur  religiösen  WeUanschauung,  \^ 

sönlichkeit  lässt  sich  nur  auf  psychologischem  Wege  richtig 
fest-^tollen.  Wie  ich  in  diesem  Kreise  nlle  Rewei-e  für  das 
Da-fin  Gottes^  welche  von  Philosophen  gefunden  und  von 
Philosophen  verworfen  worden  sind,  als  bekannt  voraussetzen 
darf,  so  verzichte  ich  auch  auf  die  gerade  m  unserer  Zeit  er- 
örterte Frage,  ob  es  Religion  geben  könne  ohne  Gottesglauben, 
oder  ob  von  einer  Religion  des  Unbewussten  oder  des  Agnos- 
ticismus  zu  sprechen,  wie  der  englische  Biologe  Romanes  ge- 
sagt hat,  nicht  ebenso  nnvcrstandif^  ist,  als  wenn  man  von  dtr 
Liebe  eines  Dreiecks  oder  von  der  Vernunft  des  Aequators 
reden  wollte.  Nur  darauf  möc  hte  ich  mich  beschränken,  die 
Widersprüche  zu  beleuchten,  weiche  im  Glauben  an  einen  per- 
sönliclien  Gott,  also  im  Begriff  der  absoluten  Persönlichkeit, 
zu  liegen  lu  uien.  So  viel  ist  von  vornherein  klar,  dass  wir 
vom  Gottesbegriff,  sobald  wir  nicht  religiös  empfinden,  sondern 
spekulativ  denken,  alle  \'orstelhmG;^en,  ciie  nur  sinnbildlich!  r 
Art  sind,  lösen  müssen;  aber  ebenso  gewiss,  dass  wir  uns  hüten 
müssen  mit  der  sinnbildlichen  Vorstellung  nicht  ihr  Wahrheits- 
momont  zu  verlieren  und  den  Gottesbegriff  zu  entleeren,  so 
dass  von  ihm  zuletzt  nur  noch  Negationen  ausgesagt  werden 
oder  dass  von  ihm  das  Wort  Phiios  gilt :  „Von  Gott  kann  man 
nicht  reden,  nur  schweigen",  weil  jedes  Wort  eine  Verend- 
lichung  und  Beschränkung  des  Unendlichen  und  Unaussprech- 
lichen wäre.  Getrost  dürfen  wir  sagen:  Ciott  sieht,  Gott  hört» 
Gott  hält  unser  Leben  in  seiner  Hand,  und  doch  ist  gewiss, 
dass  er  kciue  Augen,  kein  Ohr  und  keine  Hand  hat,  wie  wir. 
Aber,  der  das  Auge  gemacht  hat,  nach  dessen  Schöpferplan 
—  und  wäre  <*s  innerhalb  Jahrtausenden  —  es  entstanden  ist, 
sollte  der  nicht  .^ehen!  und  der  das  Ohr  gemacht  hat,  sollte  der 
nicht  hören?  Der  die  Welt  regiert,  sollte  der  nicht  auch  unser 
Leben  in  seiner  Hand  halten?  Wir  dürfen  unsere  mensch- 
lichen Vorstellungen  nirht  auf  ihn  übertragen,  und  können  doch 
nicht  anders  als  mrii-.i  lilich  von  ilim  reden.  —  Aber  auch 
innerhalb  der  [)hilosüplHschen  Spekulation  erhebt  sich  die 
Frage:  dürfen  wir  Gott  Persönlichkeit  zuschreiben,  widerspricht 
der  Begriff  der  Absolutheit  nicht  dem  der  Persönlidikeit,  die 
wir  uns  immer  mit  einer  Schranke  verbunden  denken?  Ist 
der  Begriff  der  absoluten  Persönlichkeit  nicht  ein  innerer 
Widerspruch?  Es  kommt  hier  vor  allem  darauf  an.  den  Begriff 
der  Persönlichkeit  recht  zu  fassen.   Im  gewöhnlichen  Sprach- 


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20 


Karl  von  Hau. 


gcbraurh  versieht  man  darunter  etwas  Aeusserlichcs,  wie  man 
von  Einem,  den  man  niclit  näher  kennt,  wohl  sagt;  ,,Ich  kenne 
ihn  nur  \  oii  ]\MSon".  Anders  sclion,  wenn  man  von  Einern 
sagt,  dass  er  eine  kraftvolle  oder  tüchtige,  geistreiche  oder 
liebenswürdige  Persönlichkeit  sei,  womit  wir  seine  Individu- 
alität m(  inen.  Aber  im  Aeusseren,  im  Körperlichen  besteht 
die  Persönlichkeit  nicht.  Es  kann  Einem  ein  Arm  oder  ein 
Bein  aminitiert  werden,  und  er  bleibt  dieselbe  Person.  Auch 
die  Individualität  ist  nicht  das  Wesentliche  im  Begriff,  sie 
ist  nur  die  Eigenart  der  Persönlichkeit.  —  Was  macht  den 
Begriff  der  Person  aus?  Wie  entsteht  sie?  Gewöhnlich  nimmt 
man  an,  sie  entsteht  dadurch,  dass  der  Mensch  sich  unterschei- 
det von  anderen  endlichen  Dingen,  und  schlicsst  daraus,  also 
sei  Persönlichkeit  immer  durch  das  Bewusstsein  unserer 
Schranke,  unserer  Endlichkeit  bedingt.  Aber  wicht  durch  die 
Erfahrung  der  uns  umgebendem  Endlichkeit  entsteht  unser 
Ich,  sondern  au^5  der  Erkenntnis,  dass  wir,  unser  Geist,  unser 
Ich,  das  Gleiche  bleibt,  während  alles  Aeussere  um  uns, 
auch  unser  eigener  Körper  wechselt.  Genau  genommen  bleibt 
nicht  einmal  unser  Geist  immer  der  gleiche;  denn  so  wenig 
ein  Greis  körperlich  noch  dem  Kinde  gleicht  oder  körperliche 
Bestandteile  aus  der  Kindheit  an  sich  hat,  so  wenig  gleicht  der 
Geist  des  erfahrenen  Mannes  dem  des  kleinen  Kindes,  und 
doch  sagt  der  Greis :  ,,A]$  ich  ein  Kind  war."  So  ist  es  das 
Selbstbewusstsein,  die  Continoität  des  Geistes,  welche  den  Be^ 
griff  der  Persönlichkeit  atismacht  Man  hat  eingewendeti  ob 
es  nicht  unlogisch  sei,  bei  der  Verschiedenheit  des  göttlichen 
und  menkchlichen  Geistes  beide  mit  demselben  Ausdruck  zu 
bezeichnen.  Aber  der  Geist  besteht  nicht»  wie  Spencer  meint, 
in  einer  Reihe  von  Bewusstseinszuständen,  sondern  in  deren 
Einheit  und  das  gilt  für  beide.  £s  ist  ja  begreiflich,  dass 
Denker  von  dem  Ernst  und  der  Gewissenhaftigkeit  wie 
Biedermann  und  Pfleiderer  Bedenken  tragen,  den  Be^ 
griff  der  Persönlichkeit  auf  Gott  anzuwenden,  während  Pflei- 
derer doch  wenigstens  Selbstbewusstsein  und  Freiheit,  Den- 
ken und  Wollen  in  dem  absoluten  Geiste  Gottes  ^unbedingt 
anerkennt;  aber  die  Scheu,  dass  der  Begriff  der  Persönlichkeit 
in  beschränkter  Vorstellungsweise  aufgefasst  werde,  darf  uns 
doch  nicht  abhalten,  den  Begriff  in  seiner  spekulativen  Wahr- 
heit festzuhaken,  und  dies  um  so  mehr,  weil  aus  dem  Auf- 


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Die  psychologtsche  Begründung  der  religiösen  Weltanschauung.  2 1 


geben  desselben  zweifellos  in  noch  viel  weiterem  Maasse  eiii 
anderer  verhängnisvoller  Irrtum  sich  verbreiten  würde,  näm- 
lich der,  als  ob  ein  wirkliches  Verhältnis  zwischen  dem  unend- 
lichen Gottcsgeist  und  dem  endlichen  Menschengeist  über- 
haupt nicht  bestände,  während  wir  doch  das  Verhältnis  religiös 
uns  eben  nur  denken  können  als  ein  Verhältnis  von  Personi 
zu  Person.  Gewiss  auch  dem  Pantheismus  ist  eine  religiöse 
Stimmung  und  Weltanschauu ig  nicht  abzusprechen;  aber  Re- 
ligion, wirkliclic  Lebensgemeinschaft  des  Menschen  mit  Gott, 
ist  nur  dann  möglicli,  wenn  das  Verhältnis  ein  persönliches 
ist.  Mag  auch  dem  theistischen  Gottesbegriffe  auf  der  Stufe 
der  Vorstellung  noch  viel  Menschliches  anhaften,  die  Auf- 
gabe der  Spekulation  ist,  diese  Begriffe  und  Vorstellungen 
zu  prüfen  und  ihre  religiöse  Wahrheit  festzustellen.  Aber  die 
Frömmigkeit  hat  das  Kindcsrerht,  über  alle  Formen  und  Be- 
denklichkeiten sich  hinwegzusetzen  und  mit  Gott  zu  reden, 
wie  ein  Kind  mit  seinem  Vater  redet,  in  dem  Bewusstsein,  dass 
er  über  uns  ist  in  hoher  Ferne  und  doch  uns  nahe  in  ver- 
traulicher Nähe 

Das  zweite  i^roblem  der  religiösen  Weltbetrachtung  ist  dns 
der  Erlösung  So  lange  Menschen  denken,  haben  sie  nach- 
gesonnen über  die  F'rage :  warum  und  woher  das  Uebel  der 
Welt?  (irübelnd  fragt  das  Buch  Hiob,  warum  auch  der  Ge- 
rechte so  viel  leiden  muss.  Aber  so  wenig  die  Freunde  Hiobs 
ihn  trösten  konnten,  so  wenig  hat  er  selbst  die  rerlite  Ant- 
wort gefunden.  Seitdem  ist  die  Frage  nicht  zum  Schweigen 
gekommen.  Das  18.  Jahrhundert  war  geneigt,  bei  der  opti- 
mistischen Antwort  Leibnizens  sich  zu  beruhigen,  dass  diese 
Welt  die  beste  Welt  sei.  die  Gott  unter  den  mörjlirhen  wählen 
konnte,  das  Böse  nur  wie  der  Schatten  im  Bilti  ur;d  die  Disso- 
nanz in  der  Musik,  wodurch  die  Schönheit  nicht  gemindert, 
sondern  erhöht  und  die  Harmonie  des  Weitalls  nicht  gestört 
wird.  Erst  Kant  iiat,  gänzlich  imbeeinflusst  von  der  kirch- 
lichen Auffassung,  ja  im  Gegensatz  zu  ihr,  in  seiner  Abhand- 
lung: „Von  der  Riinvohnnng  des  bösen  Prinzips  neben  dem 
Guten  oder  über  das  radikale  Böse"  das  Problem,  wenn 
nicht  gelöst,  doch  wieder  tiefer  gefasst.  Weder  für  den  Opti- 
mismus, noch  für  den  Pessimismus  sich  entscheidend  trat  er 
zunächst  der  Ansicht  entgegen,  als  sei  das  Böse  mit  der  Sinn- 
lichkeit eins  oder  in  einem  Naturtrieb  gegründet.  Besteht 


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22 

ai)er  das  Böse  weder  in  dem  Sinnlichsein  nach  in  der  Vernunft, 
so  kann  es  nur  dann  bestehen,  d.iss  der  Mensch  seine  Vernunft 
der  Sinnlichkeit  unterordnet,  statt  urngekehrt,  und  dass  er  diese 
Unterordnung  zur  Maxime  gemacht  hat,  denn  nur  was  aus 
einer  Maxime  hervorgeht,  ist  gut  oder  böse.  Diese  Maxime, 
deren  zeitlicher  Ursprung  nicht  nachgewiesen  werden  kann, 
denn  wir  alle  fmden  sie  vom  Anfang  unseres  Bewusstseins 
si  hon  vor,  kann  ein  angeborener  Hang  genannt  werden,  durch 
den  der  Mensch  jedoch  nicht  entschuldigt  wird.  Da  der  Hang 
böse  ist,  muss  er  des  Menschen  eigene  That  sein;  da  er  vor 
unserem  Bewusstsein  liegt,  ist  er  eine  zeitliche,  nur  durch 
\'ernuij(t  zu  erkennende,  intelligible  That,  aus  der  doch  alle 
späteren  zeitlichen  empirischen  Thaten  folgen.  Was  die  Bibel 
als  eine  historische  Thatsache  erzählt,  der  Sündenfall,  ist  also 
nur  ein  vorzeitlicher  Vorgang  in  der  Vernunft,  der  in  jedem 
Menschen  sich  wiederholt,  und  der  mit  der  kirchlichen  Lehre 
vuii  der  ]nbi.unde,  die  Kant  in  den  schroffsten  Ausdrücken 
verwirfi,  nichts  gemein  hat.  Die  allgemeine  Geistesrirhiung 
freilich  konnte  Kant  mit  seiner,  den  Mcisteu  um  cibiandlich 
bleibenden  Lehre  vom  radikal  Bösen  nicht  ändern :  sie  blieb, 
so  lang  der  Rationalismus  herrschte,  oberflächlich.  Auch  die 
spekulative  Philosophie  brachte  in  dieser  Hinsicht  zwar  eine 
veränderte  Auffassung,  aber  kaum  eine  Vertiefung.  Hegels 
Grundanschauung,  nach  der  alles  Wirkliche  vernünftig  ist,  wie 
die  Logik  selbst,  konnte  die  Not  des  Lebens  und  die  Sünde  der 
Menschen  nicht  anders  ansehen  als  etwas  Notwendiges,  ab 
einen  Durchgangspunkt  im  Prozess  der  Entwicklung  des 
Geistes.  Er  hat  die  Notwendigkeit  der  Sünde  für  die  geistige 
und  kulturelle  Entwicklung  der  Menschheit  ausgesprochen ;  das 
Paradies  ohne  den  Söndenfall  wäre  ein  Park  für  Tiere.  Auch 
Sckleiermacher  sah  in  der  vor  jeder  That  des  Einzelnen  vor- 
handenen Sündhaftigkeit  als  Unfähigkeit  zum  Guten  nur 
die  notwendige  Folge  einer  unvollständigen  Mitteilung  des 
Gottesbewusstseins  an  die  Menschheit,  die  doch  durch  das 
Gewissen  eines  Jeden  als  Gesamtthat,  und  darum  auch  als 
Gesamtschuld  des  menschlichen  Geschlechts  empfunden  wird* 
Unbefriedigt  von  dieser  abschwächenden  Auffassung  vom 
Wesen  der  Sünde,  wies  Julius  Müller,  der  Hallenser  Theo- 
loge, in  seinem  Buch:  „Die  christliche  Lehre  von  der  Sünde'*- 
nach,  dass  die  Sünde  als  Sündhaftigkeit  mit  uns  geboren 


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Lhe  ^ychoiogxsctu  BigrütuUmg  der  rtUgüSuH  WelUmschauung. 


"wird;  aber  da  ihm  die  Erbsündeniehre  nach  ihrer  herkömm- 
lichen Erklärung  durch  natürliche  Fortpflanzung  unannehm- 
bar schien,  weil  Sünde  nur  durch  eigene  Schuld  begründet 
werden  kann,  sah  er  sich  genötigt,  noch  über  Kant  hinauszu- 
gehen und  nach  dem  Vorgange  des  Un^cncs  in  gnostisch- 
phantastischer  Weise  einen  unerklärlichen  bundrnfall  der  ein 
seinen  Seele  in  ihrem  vorzeitlichen  Sein  anzunehmen.  —  Für 
den  Monismus  Eduard  v.  Hartmanns,  nach  dem  die 
Welt  entstanden  ist  aus  einem  unglücklichen  Zufall,  muss  be- 
reif lieber  Weise  auch  die  Summe  des  Elends  in  der  Welt 
grösser  sein  als  die  Summe  des  Glücks,  während  vc>n  Sünde 
im  Grunde  überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann.  —  In  unserer 
Zeit  hat  Ernest  Naville,  der  Genfer  Philosoph,  in  seinem 
vor  lausenden  von  Zuhörern  gehaltenen  X'orträgen  ,,Siir  le 
Probleme  du  mal",  mit  dieser  Frage  eingehend  sich  beschäf- 
tigt. Er  kommt  zu  dem  Schluss :  nur  einen  ersten  Ursprung 
kann  die  Sünde  haben,  die  Freiheit  des  Menschen.  In  der 
Willensfreiheit  liegt  die  Möglichkeit  der  Sünde.  Weil  aber 
jeder  Anteil  hat  an  der  Sünde,  durch  fremde,  wie  durch 
eigene  Schuld,  hat  jeder  auch  Anteil  an  der  Not  der  Welt. 
Von  diesem  Bann  und  diesem  Fluch  frei  werden,  ist  mehr 
«der  mmder  klar  bewusst  und  empfunden  der  Inhalt  aller 
Religion.  —  \'erschieden  und  darum  irreführend  ist  in  den  letz- 
ten Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  vielfach  das  Wort  Erlösung 
im  christlichen  und  im  buddhistischen  Sinne  gebraucht  worden. 
Dem  Buddhisten  ist  sie  Befreiung  von  der  Qual  des  Lebens 
in  immer  neuen  Gestalten,  die  beseligende  Gewissheit :  nie 
werde  ich  wieder  neugeboren  werden ;  dem  Christen  ist  sie 
Vergebung  der  Sünde,  die  ihn  nun  die  Leiden  dieser  Zeit  nicht 
mehr  als  Leiden  empfinden  lässt,  so  dass  er  Tod  und  Hölle 
nicht  mehr  fürchtet.  —  Aber  auch  innerhalb  der  christlichen 
Dogmatik  hat  gerade  die  Lehre  von  der  Rechtfertigung  und 
Versöhnung  die  Richtung  der  Zeit  auf  psychologische  Begrün- 
dung besonders  stark  erfahren.  Zwar  hat  auch  die  orthodoxe 
Dogmatik  das  subjektive  Moment  des  Glaubens  im  evange- 
lischen Sinne  nicht  verkannt,  aber  sie  hat  den  objektiven  Vor- 
gang in  Gott,  den  forensischen  Akt  der  Rechtfertigung  des 
Sünders,  zumeist  betont.  Die  neuere  Theologie  lässt  den 
Christus  „für  uns"  zurücktreten  hinter  dem  „Christus  in  uns". 
Ihr  Kecht  ist  die  psychologische  Begründung,  ihre  Gefahr, 


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24 


dass  sie  den  objektiven  Vorgang  in  Gott  unterschätzt  oder 
leugnet. 

Ihren  Abschluss  findet  die  religiöse  Weltbetrachtung  mit 
dem  Ausblicke  in  die  ICwigkeit.  Auch  die  Entstehung  des 
Ewigkciisglaubciis  hat  psychologische  Motive.  Wer  einmal 
zu  sich  selbst  gesprochen  hat,,  Ich",  wer  sich  als  eigenartige 
selbsibcwusste  Persönlichkeit  begriffen  hat,  der  kann  sich 
ausser  in  geistiger  Umnachtung  nicht  wieder  verlieren.  Nichts 
ist  uns  gewisser  als  unser  Sein.  Sind  die  Beweise  für  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  auch  einzeln  nicht  von  zwingender  Kraft, 
so  führen  sie  doch  in  ihrer  Verbindung  und  in  ihrem  Zusam- 
menhang den  Geist  bis  auf  den  Punki,  dass  er  die  Welt,  das 
Leben,  sich  selbst  nicht  begreifen  würde  ohne  diese  Annahme, 
die  ihm  dadurch  zur  innern  Gewissheit  wird.  Immer  wieder 
kommt  dem  Menschen,  zumal  in  Zeiten  der  Trauer  um  einen  ge- 
liebten Toten,  der  Wunsch,  dass  er  doch  möchte  gleichsam 
einen  PH  k  liiun  hinter  den  Vorhang,  der  uns  das  Jenseits, 
die  Zukunft,  den  Zustand  nach  dem  Tode  verbirgt;  aber  kein 
Blick  reicht  hinüber,  und  was  in  den  verschiedenen  Religionen 
als  Offenbarung  gegeben  wird,  auch  das  ist  nur  ein  Bild 
und  Gleichnis.  Die  sinnlichen  Organe,  mit  denen  wir  hier 
die  ganze,  weite,  reiche  Erfahrungswelt  in  uns  aufnehmen, 
reicht  für  jene  Welt  nicht  aus.  Aber  mag  jeder  Versuch,  eine  be- 
stimmte Form  des  jenseitigen  Lebens  darzustellen,  phantas- 
tisch sein,  eins  ist  gewiss,  giebt  es  ein  Leben  nach  dem  Tode, 
dann  muss  die  Ernte  der  Saat  und  dem,  was  des  Lebens 
Arbeit  und  was  Gottes  Gnade  daraus  gemacht  hat,  entsprechen. 
Das  ist  eine  Konsequenz  wie  unseres  Denkens,  so  vor  allem 
unseres  sittlichen  Bcwusstseins.  Wie  das,  was  durch  Arbeit 
oder  Liebe  unser  geistiges  Eigentum  geworden  ist,  uns  hier 
nicht  genommen  werden  kann,  wie  es  Erfahrungen  und  Er- 
lebnisse, Kr imici  ungen  giebt,  ohne  die  wir  uns  unser  Leben 
nicht  mehr  denken  können,  weil  sie  unser  Leben  selbst,  in 
gewissem  Sinne  unsere  eigenste  Persönlichkeit  ausniacheu,  so 
wird  das  auch  lunuberwirken  über  den  Tod,  der  nichts  ist  als 
ein  körperlicher  Vorgang.  Dagegen  spricht  auch  nicht  der 
Umstand,  dass  etua  das  hohe  Grciscnaltcr  manchmal  wieder 
kindisch  wird,  üclci  doch  einbüsst  an  Cicistesschärfe  und  Geistes- 
besitz.  Die  Seele  ist  nicht  nur  ein  Produkt  des  Leibes.  Mit 
Recht  hat  Fechner  in  seiner  Psychophysik  gezeigt,  dass  die 


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•Die  psychologische  Btgründung  lUr  reUgidsen  iVeltanschauung. 


25 


physische  und  psychische  Thäligkeit  Parallerscheinungen  sind, 
deren  Einheit  in  der  psycholophysischen  Energie,  in  diesem 
Fall  im  Individuum,  besteht.  Was  sich  abnützt,  ist  nur  das 
sinnliche  Organ,  welches  der  Träger  des  Lebens  und  des 
Geistes  ist;  nicht  der  Inhalt  schwindet,  sondern  das  Gefäss 
wird  schadhaft  und  zerbricht  im  Tode.  Darin  liegt  schon  die 
Erwartung,*  dass  unser  Geist  nicht  nach  pantheistischer  An- 
sicht aufgehen  wird  in  der  Welt  oder  in  Gott  wie  der  Tropfen 
Wassers  im  Meer,  sondern  dass  er  seine  Individualität,  die 
sein  Wesen  ausmacht,  behalten  wird.  Max  Müller,  der 
Oxforder  Gelehrte  auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Re- 
ligionswissenschaft, schreibt:  „Ohne  den  Glauben  an  persön- 
liche Unsterblichkeit  ist  Religion  sicherlich  wie  ein  Strebe 
bogen,  der  nur  auf  einem  Pfeiler  ruht,  wie  eine  Brücke,  weiche 
in  einen  Abgrund  ausläuft".  Aber  das  ewige  Leben  nimmt 
seinen  Anfang  nicht  erst  mit  dem  Tode,  es  beginnt  schon  hier. 
Das  ist  nicht  eine  philosophische  Spekulation  neuerer  Zcit. 
Setzt  Christus  (Ev.  Job.  17,3)  das  ewige  Leben  in  die  Er- 
kenntnis Gottes  und  dess,  den  er  gesandt  hat,  so  ist  freilich 
zu  bedenken,  dass  der  Sinn  des  Wortes  „erkennen"  im  neuen. 
Testament  ein  tieferer  ist,  als  etwa  ein  blosses  Wissen  und 
eine  verstandesmässige  Erkenntnis.  Aber  schon  der  Begriff 
„ewiges  Leben"  sollte  zu  einer  anderen  Vorstellung  führen, 
als  die  gewöhnliche  ist,  die  das  ewige  Leben  unvermittelt  nach 
dem  Tode  beginnen  lässt.  Das  ist  klar  und  gewiss :  die  Zeit 
ist  nichts  als  ihr  Inhalt.  Wie  es  Minuten  giebt,  die  im  Schmeri 
oder  in  der  verzweifelnden  Erwartung  sich  endlos  dchnrn,  so 
giebt  es  Augenblicke,  die  einen  unendlich  reichen  Inhalt  Iiabcii, 
so  dass  wir  wohl  in  sinnvollem  Widerspruch  sagen:  „Es  war 
ein  ewiger  Augenblick",  darum  weil  Vergangenheit  und  Zu- 
kunft unserm  Bcwusstsein  entschw.md  und  wir  ganz  und  voll 
in  dem  gegenwärtigen  Augenblick  mit  seinem  reichen  Inhalt 
lebten.  Solche  zeitlose,  intensive  Lcbensausfüllung  und  Lebens- 
vollcndung  lässt  uns  etwas  ahnen  von  dem,  was  die  religiöse 
Weltbetrachtung  „ewiges  Leben"  nennt.  Wenn  Schlcicrmacher 
sagt:  „Mitten  in  der  Endlichkeit  einswerden  mit  dem  Unend- 
lichen und  ewig  sein  in  jedem  Augenblick,  das  ist  die  Unsterb- 
lichkeit der  Religion",  so  hat  er  damit  in  der  That  gezeip^t, 
worin  das  ewige  Leben,  wenn  nicht  besteht,  doch  hier 
seinen  Anfang  nimmt>  wenn  ihm  auch  der  rechte,  volle,  ge- 


26 


KM  vom  Mkm. 


irosie,  hoffnungsfreudige  Ausblick  in  die  Zukunft  fehlt.  Auf 
diesem  Begriff  und  dieser  Voraussetzung  ewigen  Lebens  ruht 
auch  die  von  Richard  Rothe  vertretene  Ansicht,  dass  die 
Menschcnseelc  nicht  ohne  weiteres  unsterblich  sei,  sondern 
nur  die,  welche  hier  ein  höheres,  geistiges  Leben  begonnen 
habe,  und  die  Gott  deshalb  zu  einem  neuen  Leben  erwecke. 
Gewiss  ist  nur  das  Eine,  dass  ewiges  Leben  nur  in  dem  Ewigen^ 
nur  ni  Gott  uns  verbürget  ist. 

Meine  Herren  I  Konnte  mein  Vortrag  auch  nur  andeutend 
sein,  so  hoffe  ich  doch,  er  hat  gezeigt,  wie  gross  die  Bedeutung 
ist,  welche  die  rbvchologie  im  19.  Jahrhundert  für  die  Religions^ 
Wissenschaft  gehabt  hat.  Das  aber  will  ich  zum  Schluss  nicht  zu- 
rückhalten: wie  wichtig  auch  die  psychologische  Bcgtuadung 
der  religiösen  Weltanschauung  i^t,  die  christliche  Theologie 
hat  ihre  eigenen  Fundamente  und  Gesetze;  wurde  sie  sich  nur 
auf  die  Psychologie  stützen,  so  käme  sie  in  Gefahr,  die  Re- 
ligion in  bloss  subjektive  Vorgange  aufzulö-en.   Was  die  Re- 
ligionswissenschaft der  Psychologie  verdankt,  wird  darum  nicht 
geringer.  ; 


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Ueber 

neuere  Methoden  zur  Einffihruns:  ins  VerstAndnls 

geographischer  Karten. 

Vortrag  von  H.  Fischer 
Im  VereiD  fOr  Kfnderpq^ologie  zu  Bolin 
ftin  16^  November  1900. 

Jede  methodologische  Unterrichtsfrage  muss  ihren  {»ycho- 
logisch  en  l^ntergrund  haben.  Das  mag  meinen  Vortrag  an  die- 
ser Stelle  rechtfertigen.  Zur  Frage  selbst  möge  man  bedenken, 
dass  es  sich  um  Erörterungen  auf  einem  Gebiet  handelt,  ID 
der  die  Methodenlehre  noch  in  ihren  Anfängen  steckt.  Der 
Psychologe  wird  das  aus  der  Jugend  der  modernen  experimen« 
teilen  Psychologie  leicht  begreifen;  aber  auch  den  Geographen 
kann  dies  bei  der  grossen  Verworrenheit,  die  in  allen  metho« 
dischen  Fragen  auf  dem  Gebiete  der  Schulgeographie  heut» 
noch  herrscht,  nicht  entgehen.  Dazu  kommt  die  Jugend  der 
modernen  geographischen  Karte.  Sie  geht  in  ihren  Anfängen 
kaum  über  den  Beginn  des  19.  Jahrh.  hinaus.  Damals  kamen 
einige  Momente  zusammen,  die  aus  der  alten  Territorienkarte»  * 
wie  sie  das  lä.  Jahrh.  uns  zeigt,  hinausführten.  £s  waren  das 
einmal  die  barometrische  Höhenmessung,  die  eine  bequeme 
Methode  die  dritte  Dimension  in  ihren  Verhältnissen  zu  erken- 
nen darbot,  ferner  die  kartographischen  Fortschritte,  die  mit 
der  Erfindung  der  Lehmannschen  Schraffe  und  der  Ducar- 
laschen  Isohypse  verknüpft  sind  und  die  Darstellung  der  dritten 
Dimension  auf  eine  mathematisch  korrekte  Weise  auf  den  Kar- 
ten ermöglichten,  und  drittens,  das  mit  dem  Zusanmienbruch 
der  politischen  Verhältnisse  des  18.  Jahrh.  durch  den  napoleo- 
nischen Ansturm  verknüpfte  Aufkommen  der  „reinen*'  d.  h. 
nur  physikalischen  Geographie.  Im  Laufe  des  19.  Jahrh.  hat 
sich  dann  die  Kartograpliie  mit  wachsendem  Interesse  dieser 
neuerworbenen  Fähigkeit,  die  dritte  Dimension,  oder  sagen  wir 
einfach,  die  Gebirgslandschaften  in  ihrer  Eigenart  —  zur  An- 
schauung zu  bringen  noch  immer  mehr  verstärkt.  Von  Seiten 
der  Wissenschaft  haben  diejenigen  Fragen,  die  mit  Verände- 
rungen, sei  es  organischer,  sei  es  physikalischer  Natur,  infolge 
verschiedener  Höhenlagen  zusammenhängen,  vielfach  im  Vor* 


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28 


H,  J^itdur. 


dergrunde  des  Interesses  gestanden.  Fast  ebensoviel  verdankt 
die  Karlographie  aber  dem  Liebhabertuni,  das  sicli  mit  wachsen* 
der  Begier  dem  Gebirge  zugewandt  hat ;  ist  doch  dem  heutigen 
Grossstadtmenschen  ausser  der  Grossstadl  selbst  und  etwa  noch 
der  Küste  nur  eigentlich  das  Gebirge,  das  er  jährlich  raifsucht, 
eine  geläufige  Vorstellung.  Zwischen  den  Oasen,  Grossstadt 
und  (kbirgc,  dehnt  sich  das  iibrigc  Land,  das  grosse  Land,  das 
die  Menschheit  eigentlich  gebiert  und  nährt,  als  unbekannte 
Wüste  aus.  So  kann  es  uns  nicht  Wunder  nehmen,  dass  in 
Versuchen,  Kindern  das  Verständnis  der  modernen  Karten  — 
denn  das  ist  die  heutige  Schulkarte  auch  —  zu  vermitteln.  Ver- 
suche sie  in  das  Verständnis  der  dritten  Dimension,  wie  sie 
auf  den  Karten  zur  Anschauung  kommt,  einzuführen,  schon 
sehr  früh  beginnen  und  fast  allein  herrschen.  Die  einfachste 
Fomi  wäre  ja  die,  dass  man  Karte  und  Wirklichkeit  unmittelbar 
vergHche.  Aber  das  verbietet  sich  infolge  der  Beschaffenheit 
grösserer  Teile  unseres  Vaterlandes  viellach  schon  von  selbst. 
Als  Surrogat  für  das  Gebirge  hat  man  dann  wohl  sein  verklei- 
nertes Abbild,  das  Relief  eingeschoben.  Ks  ist  eine  besondere 
Teilfrage,  welche  Stellung  im  L^nterrichte  dieses  nicht  zu  im- 
terschätzendc  Hilfsmittf  l  f  iii/uuehmen  hat;  ich  möchte  darauf 
hier  aber  nicht  emgch«  ii.  Nur  dies:  die  natürlichste  Form 
das  Kmd  in  die  Kenntnis  der  Erdoberfläche  einzuführen  ist» 
die  auf  dem  Wege  der  praktisch  erworbenen  Ileimatskunde 
(Pestalozzi,  Tobler,  Henpig,  Finger) ;  aber  diese  Form  erweist 
sich  vielfach  unter  den  heutigen  Schuherhältnissen  als  unaus- 
führbar. Die  naturähnlichstc  Darstcllungsform  kleiner  Stücke 
der  Erdoberfläche  ist  das  Relief;  aber  seiner  Benutzung  gleich 
am  Anfange  jedes  geographischen  Unterrichts  stellen  sich  eben- 
falls schulgeographisch-technische  Schwierigkeiten  gegenüber. 
Wie  hat  man  sich  da  nun  zu  helfen  versucht?  Prof.  Rieh.  Leh- 
mann, der  Verfasser  der  Vorlesungen  über  „Hülfsmittel  und 
Methode  des  geographischen  Unterrichtes"  und  einer  der  Füh- 
rer moderner  ^ cl.u'gcographischer  liestiebungen,  hatuns  üngst 
in  einigen  Blättern  seines  ,, Schulatlasses  für  die  unteren  Klassen 
höherer  Lehranstalten",  die  er  direkt  ,,zur  Einführung  in  das 
Kartenverständnib"  überschreii)t,  eine  Art  Idealkursus  gegeben, 
wie  er  sich  die  Sache  denkt.  V.x  geht  den  Fingerschen  Weg 
vom  Haus  zur  nächsten  Umgebung,  zur  Ortschaft,  zur  Land- 
schaft, zur  weiten  Welt,  nur  dass  es  sich  natürlich  nicht  um  ein 


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Neuere  Methoden  zur  htnJuJirung  tns  yersldnänis  geograpk.  KarUn.  29 


spezielles  Schulhaus  und  ebenso  eim  ]iP7i(  Aiisg-angsstadt 
und  Landschaft  handeln  kann,  und  giebt  eine  Reihe  von  sich 
entsprechenden  kartographischen  und  bildHclien  Darstellun- 
gen, die  mit  dem  Schulhaus  beginnen  und  mit  der  Idcaldar- 
stcllung  eines  Hochgebirges  und  einer  KüstcnsTfücnd  enden. 
Die  Absicht  ist  also,  durch  den  vertrauteren  i^iiidruck  eines 
Bildes  das  Kind  zum  Begreifen  einer  Kartendarstellung  zu  füh- 
ren. Hiergegen  lässt  sich  nun  mancherlei  Wesentliches  ein- 
wenden. Vor  allen  Dingen  sind  Ideallandschaften  zu  verwer- 
fen; sie  führen  allemal  zu  Zerrbildern  und  gehören  ebenso 
wenig  in  einen  Atlas,  wie  komponierte  Phantasietierc  in  ein 
Zoologielehrbuch.  Auch  Dr.  Haack  hat  sich  schon  ähnlich  ge- 
äussert (Geog.  Anz.  I  S.  6).  Ferner  kommt  für  die  Lehmann- 
schen  Darstellungen  speziell  der  grosse  Kehler  hinzu,  dass  trotz 
eines  ausdrücklichen  Hinweiies  auf  das  perspektivische  Ver- 
halten von  Bildern  (Atlas  S.  4  A  i)  besonders  die  späteren, 
grössere  Landschaften  darstellenden  Bilder  durchaus  falscli  in 
der  Perspektive  sind.  Fast  völlig  entsprechen  sich  auf  Karte 
und  Bild  hier  Süden  und  Norden,  dort  V^order-  und  Hinter- 
grund, sodass  man  nach  dem  beigegebenen  Massstab  im  Vor- 
dergrunde kilometerhohe  Bäume  und  dergl.  vorfindet.  Ich  ver- 
mute die  Entstehung  dieser  Darstclliingsform,  die  gewiss  ganz 
zu  verwerfen  ist,  so,  dass  man  sich  an  Stelle  der  Wirklichkeit 
ein  Relief  gedacht  hat  und  dieses  durch  Drehung  um  eine 
querlaufcndc  Horizontalachse  allmählich  zu  dem  Ansehen  einer 
von  oben  betrachteten  Karte  hat  kommen  lassen,  wie  dies  z.  B. 
die  wunderliche  auch  sonst  ganz  verfehlte  Darstellung  der  West- 
alpen im  Harmfjchcn  Schulatlas  IL  Aufl.  Bl.  i  zeigt.  Es  bleibt 
also  die  I'>wägung  übrig,  wenn  man  solche  unperspektivischen 
gewissermassen  als  Relief  gedachten  Bilder  ablehnt,  ob  man 
zur  Einführung  in  das  Karlenverständnis  natürliche  Ansichten 
neben  die  entsprechenden  Kartenausschnitle  zweckmässiger- 
weise setzt  und  diese  dem  Anfänger  vorlegt.  Diese  Frage  ist 
sehr  oft  mit  ja  beantwortet  worden,  eine  der  hübschesten  Aus- 
führungen haben  wir  in  dem  leider  scheinbar  verwaisten  Schul- 
allas  für  die  mittlere  Klassen  von  Lüddekc*).  Aber  hier,  wie  m 
ähnlichen  Darstellungen  anderer  Atlanten  zeigt  der  Vergleich 

*)  Wahrend  des  Druckes  dieses  Artikels  kündigt  Dr.  Haack  im  QcQgr. 
Anzeiger  II.  S.  5  ff.  eine  von  ihm  iicuhcarbcitc(c  3.  Auflage  des  AtlasSCS  an, 
die  wahrscheinlich  schon  früher  als  diese  Zeilen  erschienen  sein  wird. 


oiy  ii^uo  uy  Google 


-90 


ff,  fisektr. 


ron  Bild  und  Karte  eine  so  tiefgehende  Verschiedenheit  beider, 
dass  man  cigriitlich  nicht  daran  denken  kann,  das  Bild  wirk- 
lich zur  Eiiifulirung  in  das  Kartcn\ crstandnis  zu  benutzen  und 
man  sich  vielmehr  daniii  begnügen  sollte,  in  ihm  das  zu  sehn, 
was  es  gewiss  ist:  ein  höchst  wirksamer  Erklärer  und  Verdeut- 
licher kartographischer  od(  r  iiulI  bcbbcr  laudbchatiiichcr  Ein- 
zelheiten, wonach  ci^  aku  hauptsächlich  eine  Rolle  bei  der  Ver- 
tiefung und  Erweiterung  des  Kartenverständnisses  zu  spielen 
hätte.  Zeigen  sich  nach  alled  m  die  Wege  durch  den  Ueber- 
gang  über  das  Bild  das  erste  Kartenverständnis  zu  vermitteln 
als  nicht  so  brauchbar,  wie  man  meist  meint,  so  ist  es  wohl 
auch  der,  an  den  gelegentlich  gedacht  worden  ist,  die  Aehnlich- 
keit  der  Ballonphotographie  mit  der  Karte  für  das  Verständnis 
dieser  bei  Kindern  austunutzen.  Die  FreoMlartigkdt  solcher 
Photographieen  auch  für  den  Erwachsenen  schliesst  die  Brauch- 
barkeit dieser  Bilder  von  vom  herein  aus.  Sollte  die  Idee  auf 
Lehmann  „Hülfsmittel  etc.'*  S.  282  zurückgehen? 

Aber  ist  denn  bei  der  Einführung  in  das  Kartenverständ- 
nis  der  Umweg  über  .das  Bild  überhaupt  nötig?  ich  meine 
nicht.  Die  Karte  soll  in  ihren  Grundzügen  ihrem  Wesen  nach 
selbstverständlich  sein,  und  sie  bt  es  auch  thatsächltch.  Sie 
ist  ja  nicht  Selbstzweck  sondern  Mittel  zum  Zweck,  nämlich  zum 
Zweck  irgendwelche  räumlichen  Verhältnisse  der  Erdoberfläche 
besser  zu  begreifen,  weil  in  übersichtlicher  Form  veranschau- 
licht. Ihre  Selbstverständlichkeit  innerhalb  gewisser  Grenzen 
wird  daher  auch  allgemein  angenommen  und  mit  recht;  denn 
sonst  wären  längst  die  doch  meist  für  geographisch  nicht  ge- 
schulte Augen  bestimmten  Eisenbahnfahrtspläne,  Stadtpläne» 
Turistenkarten  u.  dergl.  m.  verschwunden.  Hat  doch  uns  die 
neuste  Zeit  in  der  Radfahreriearte  wieder  eine  neue  Kartenform 
gebracht,  die  für  den  neuen  Zweck,  Entfernungen,  Steigungs- 
verhältnisse und  Beschaffenh'^it  der  Landstrassen  leicht  abzu- 
lesen, gerade  wieder  das  richtige  Mittel  ist.  Der  untrüglichste 
Weg  aber,  zu  beweisen,  dass  die  Karte  in  ihren  Grundlagen 
selbstverständlich  ist,  bot  mir  die  Beobachtung  meiner  eigenen 
Kinder,  besonders  metner  fünfjährigen  Tochter.  Ich  Hess  sie 
ihr  bdcannte  Wege,  nachdem  sie  sie  öfter  zurückgelegt  hatte, 
beschreiben,  und  erlebte  sehr  bald  das  von  mir  vorausgesetzte, 
dass  sie  ihren  Zeigefinger  und  die  Tischplatte  zur  Erläuterung 
der  von  ihr  gemachten  Ortsveränderungen  benutzte  und  also 


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Neuere  Methoden  aur  Einführung  ins  Verständnis  geograph.  harten, 


eine  Karte  in  ihren  ersten  Anfängen  sich  schuf.  Und  mein 
dreieinhalbjährigcr  Sohn  richtet  sich  fast  jeden  Tag  für  seine 
Pferdebahnen  eine  Bellc-Allianccstr.  und  Tempelhof erchaussee 
ein,  wobei  er  auch  die  Steigung,  also  die  so  heHebte  dritte  Di- 
mension, meist  nicht  ausser  acht  lässt.  Bekannt  ist  es  ja  auch, 
dass  wir  bei  unkuhivierten  X'ölkem  Kartenskizzen  als  Orien 
tierungsmittel  finden.  Die  psyciiologische  Erklärung  wird  mir 
dadurch  gegeben,  dass  auf  dor  Karte  die  Menschen  die  Orts- 
bewegungen, die  sie  im  Grossen  mit  ihrem  ganzen  Körper 
machen,  im  Kiemen  mit  dem  Finger  oder  den  dem  Finger 
nachwandelnden  Augen  in  abgreifbarer  und  übersehbarer 
Weise  nachmachen  können.  Somit  ist  eine  Einführung  in  das 
Kartenversiandiiis  gewissermassen  überhaupt  nicht  erst  nötig, 
es  kommt  vielmehr  darauf  an,  die  gegebenen  Elemente  zu  ord- 
nen, die  nötigen  Fälligkeiten  zu  entwickeln  und  so  allmählich 
das  Verständnis  auch  schwierigt  rer  Darstellungsformcn  zu  er- 
möglichen, wobei  man  dann  freilich  daran  denken  mag,  dass 
ein  wirkliches  Verständnis  der  Darsteiiungsform  eines  Obirges 
nicht  möglich  ist  ohne  ein  Verständnis  für  die  Bildungsge- 
schichte  des  Gebirges  selbst.  Da  diese  nun  zu  erwerben  aber 
erst  einem  ziemlich  reifen  Lel^cnsaltcr  besrhieden  ist,  so  möge 
man  sich  überlegen,  ob  es  zweckmässig  ist.  die  Jugend  mit 
Versuchen  ihr  ein  unverständliches  Ding  zum  Verständnis  zu 
bringen,  zweckmässigerweise  quälen  soll.  Man  beschränke  sich 
vielmehr  auf  die  allereinfachsten  Anschauimgcn  und  Begriffe. 

Vorstehende  Darlegung  war  in  etwas  veränderter  Form 
Inhalt  des  Vortrags.  In  der  Diskussion  sprach  mir  Herr  Dr. 
Kemsies  den  Wunsch  aus,  diesem  „analytischen  Teil"  einen 
„synthetischen"  folgen  zu  lassen.  Die  wenigen  Andeutungen 
des  ergiebigen  Themas,  zu  dc:":en  die  vorgerückte  Zeit  mir 
noch  Raum  gab,  führe  ich  jetzt  in  etwas  umfangreicherer  Form 
aus.  Will  man  anstelle  des  oben  abgelehnten  etwas  passenderes 
TM  setzen  versuchen,  so  ist  man  heute  in  einer  üblen  Lage.  Es 
liegt  das  an  dem  Mangel  an  geographischen  Fachlehrern  über- 
haupt. Versteht  man  nähmlich  unter  einem  Fachlehrer  einen 
Mann,  der  seine  Sache  von  Grund  aus  übersieht,  also  auf  der 
einen  Seite  genügend  ernstli.ifi  betriebene  wissenschaftliche  Stu- 
dien hinter  sich  hat  und  andererseits  in  einer  langjährigen, 
einigermassen  gleichmässigrn  und  genügend  umfangreichen 
Lehrerfahrung  in  seinem  Fache  steht,  die  er  ausserdem  an  we- 


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32 


nigstens  einigen  ähnlich  gearteten  Genossen  hat  abschleifen 
können,  kurz  das  geographische  Pendant  eines  Mathematikers, 
Sprachenlehrers  oder  Naturwissenschaftlers,  so  ist  mir  ein  geo- 
graphischer Fachlehrer  persönlich  nicht  bekannt  (vcrgl.  über 
diese  Verhältnisse:  Hermann  Wagner  „Die  Lage  des  geogr, 
Unterrichts  etc."  1900).  Ich  persönlich  möchte  wohl  einmal 
ein  geogr.  Fachlehrer  werden,  habe  aber  bei  einer  jetzt  bald 
Ijjahngcii  Leiirtliatigkcit  nur  »mmer  deuiliclicr  die  Grösse  des 
Unterschiedes  kennen  und  empfinden  lernen  müssen,  die  uns, 
sozusagen,  Fachicliierkandida  a  in  der  Beherrschung  unseres 
Gebietes  von  den  Fachlehrern  anderer  Gegenstände  trennt. 

Nur  dieses  vorausgesandt,  karui  ich  mich  zur  Darbietung 
einiger  persönlicher  Versuche  Kinder  in  das  Kartenverständ- 
nis  eiiizuführen,  entschliessen.  Reifere  Erfahrung  und  stärkerer 
au.:  der  Praxis  entsprungener  Ideenaustausch  wurden  wolü 
selbst  \uu  diesem  wenigen  noch  manches  anders  gestalten, 
iiis  ich  CS  so,  viel  zu  persönlich,  als  dass  es  wesentlich  normativ 
sein  konnte,  geben  kann.  Ich  möchte  aber  doch  bemerken,  dass 
ich  die  betreffende,  auch  nach  Lehmanns  „Methoden"  er- 
schienene l,iuti;Liur  zKinlich  ausgiebig  verfolgt  habe,  nuine 
bezügliche  SchulLrfahruiig  aber  aui  dem  Eiiifulirurigsunter- 
richt  bei  4  Gemeindeschulklasscn  (3.  Schuljahrj  iruiidestens  6 
höheren  Töchterschulklassen  (7.  Klasse,  also  auch  3.  Schuljahr) 
und  einer  Gynmasialsexta  beruht. 

Nach  Fingers  V^orbild  gehe  ich  sofort  uhiie  weitschweifige 
Erklärung  an  die  Sache  selbst.  Dass  die  Kinder  auf  der  Erde 
sich  befinden  und  dass  diese  unübersehbar  gross  ist,  bind  Be 
wusstseinsthatsachen,  die  die  i\inder  mitbringen,  die  nur  ge- 
klärt zu  werden  brauchen.  Um  sich  auf  dieser  grossen  Lide 
zurechtzufinden,  brauchen  wir  nun  die  Mimmelsrichtungcn.  Das 
leuchtet  den  Kindern  von  selbst  nicht  ein,  sie  finden  sich  ja  ohne 
diese  in  ihrem  kleinen  Gebiet  zurecht,  z.  B.  von  Hause  nacli  der 
Schule.  Sie  müssen  es  einem  nun  schon  glauben,  dass  man 
sie  braucht.  Ich  sehe  darin  keinen  Schaden.  Das  X'orhanden- 
sein  von  für  die  Menschen  nötigen  Dingen,  bei  denen  es  den 
Grund  noch  nicht  einzusehen  vermag,  warum  sie  nötig  sind,  ist 
für  das  Kind  eins  der  gemeinsten  Vorkommnisse.  Hier  liegt 
nun  die  Sache  gar  so,  dass  die  Kinder  schon  nach  wenigen 
Wochen  Vorteile  aus  der  erworbenen  Kenntnis  ziehen  können, 
die  ihnen  dann  besser  die  Zweckmässigkeit  der  Benutzung  von 


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Muere  Methoden  mtr  Emföhrung  ins  Verständnis  gw^yvJJk.  Karten»  33 

Himmelsrichtungen  beweisen,  als  alle  wettläufigen  Auseinan- 
dersetzungen ;  kommt  dann  nach  erworbener  Kenntnis  und  Fer- 
tigkeit im  Gebrauche  für  eine  dem  Erzählen  gewidmete  Viertel- 
stunde die  Geschichte  von  einem  Mann  im  grossen  Walde  oder 
im  Nebel  dazu,  so  ist  die  Angelegenheit  aufs  beste  im  Zuge. 
Die  Anweisungen,  wie  an  Ort  und  Stelle  die  Himmelsrichtungen 
gefunden  werden,  sind  fiberall  angegeben,  sie  laufen  alle  auf 
Schattenrichtung  (N)  oder  Sonnenmittagsstand  (S)  hinaus.  Un- 
brauchbar für  die  Schule  ist  natürlich  der  Polarstem. 

Gar  zu  viele  Umstände  braucht  man  meiner  Meinung  mit 
dem  ersten  Feststellen  nicht  zu  machen,  zuviel  Hantieren  des 
Lehrers  führt  den  jüngeren  Knaben  mit  seiner  noch  mangel- 
haften Konzentrationsfähigkeit  leicht  von  der  nidit  selten  un- 
ansehnlichen Hauptsache  zur  Betrachtung  von  Nebendingen 
ab.  Wichtiger  ist  es,  wenn  es  gelingt  öfter  und  immer  wieder 
Knaben  zum  Feststellen  der  ungefähren  Lage  der  Himmels- 
gegenden an  anderen  Oertern,  z.  B.  bei  sich  zu  Hause  zu 
machen.  Man  hat  das  Wertvollste  erreicht,  wenn  Knaben  mit 
Mitteilungen  kommen,  wie  die :  „Unsere  Schlafstube  liegt  nach 
Westen,  denn  gestern  Abend  schien  die  Sonne  gerade  hinein." 
Nachdem  man  die  Himmelsrichtungen  in  der  Schulstube  fest* 
gelegt,  die  Wände  oder  Ecken  nach  ihnen  benannt  hat,  bringt 
man  die  Zwischenrichtungen;  weiter  gehe  man  aber  noch  nicht; 
sie  reichen  aus,  die  Nebenrichtungen  würden  durch  ihre  Fülle 
verwirren,  später  findet  sich  ihr  Gebrauch  leicht  ein.  Nun 
aber  übe  man  diese  Richtungen  auch  wirklich  ein.  Das  scheint 
im  allgemeinen  für  nicht  nötig,  vennutlich  weil  zu  leicht,  ge- 
halten zu  werden*  Es  ist  es  aber  keineswegs.  Liegen  z.  B.  die 
Wände  der  Schulstube  parallel  den  Hauptrichtungen,  so  wer- 
den diese  von  den  Kindern  wohl  leicht  und  richtig  gezeigt,  nicht 
aber  die  Zwischenrichtungen.  Es  herrscht  durchaus  das  Be- 
streben convergent  in  die  Ecken  zu  zeigen  (bei  anderer  Lage 
ist  es  natürlich  umgekehrt).  Die  Kinder  hier  zum  richtigen  Zei- 
gen zu  veranlassen,  gelingt  nicht  ohne  Mühe,  gemeinsames  pa- 
ralleles Wandern,  so  weit  es  der  Klassenraum  gestattet,  möchte 
am  ehesten  helfen.  Ein  fernerer  Uebungsgegenstand  liegt  in  den 
Beziehungen  der  Richtungen  zueinander.  Uns  ist  die  Ver- 
stellung recht  geläufig,  dass  beim  Blick  nach  Norden,  Süden 
hmter  uns,  Westen  links,  Osten  rechts  von  uns  liegt.  Bei  jeder 
anderen  Lage  hört  diese  bequeme  Orientierung  sofort  auf.  Und 

ZdlMihrift  fBr  pidafofbche  P^cbologie  noil  Mliolailc.  3 


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34 


H.  Füeker, 


doch  ist  mit  wenigen  Wochen  fortgesetzter  Uebung  und  Erhal- 
tung der  Fertigkeit  im  weiteren  Geographteunterricht  es  ebenso- 
leicht  zu  erreichen,  dass  wir  sofort  wissen,  NO  liegt  links  von 
uns,  wenn  wir  nach  SO  blicken,  SW  rechts  von  uns.  Wie  nütz- 
lich diese  Fertigkeit  ist,  mag  sich  wohl  auch  noch  später  zei- 
gen, beweist  sich  mir  aber  auch  an  der  ungeschickten  Hand- 
habung, von  Karten  und  Plänen  der  man  gewöhnlich  begegnet. 
Die  einfachste  Form,  die  Karte  immer  mit  den  wirklichen  Him- 
melsrichtungen übereinstimmend  zu  tragen,  die  auch  die  weit- 
aus nutzbringenste  beim  Wandern  wäre,  wird  den  meisten  un- 
möglich, weil  sie  Norden  oben  haben  müssen.  Auch 
den  Lehrern  scheint  es  oft  recht  schwer  zu  werden,  sich  mit 
Süden  oben  ]>€quem  zu  orientieren,  was  doch  für  sie  bei  der 
Lage  der  Schüleratlanten  die  gegebene  Lage  ist,  wenn  sie 
schnell  im  einzelnen  aushelfen  wollen.  Also  Einzel-  und 
Klassenübungen,  je  mehr  und  mannigfaltiger ,  um  so  besser! 
,AN'i  nn  ich  nach  Nordosten  blicke  liegt  links  von  mir 
SW.  u.  s.  w.",  wagerechtes .  seitliches  Ausstrecken  der 
Arme  ist  hierbei  sehr  zu  empfehlen.  „Ich  komme  von  Westen 
und  gehe  nach  Osten  u.s.w.,  dies  letztere  besonders,  um  den 
sonst  fast  unausrottbaren  falschen  Angaben  wie  der  Fluss 
fliesst  von  Westen  nach  Norden"  vorzubeugen.  Gleich  hier  aber 
mit  Nachdruck  hervorheben,  dass  diese  Uebungen  sich  zwar 
durch  Woche  hinziehen  und  immer  einmal  wiederholt  werden 
müssen,  aber  nie  einen  grösseren  Teil  der  Stunden  einnehmen 
dürfen,  da/.u  sind  sie  zu  eintfjnig.  Dasselbe  gilt  von  allen  fol- 
gf-n  len.  Was  sonst  in  diesen  Stunden  \orzunehmen  ist,  kann 
hier  nicht  ausgeführt  werden,  docli  wird  ein  kundiger  Lehrer, 
der  anschauliche  P^eimatskunde  mit  dem  Ausblick  auf  spätere 
geographische  \^erwendung  zu  treiben  hat,  schwerlich  in  Ver- 
legenheit konmien. 

E.«;  folgt  nun  der  Uebergang  auf  die  Karte.  Diese  ist  für 
den  Lehn  I  die  Wandkarte,  für  die  Schüler  ihre  Tischplatte. 
Die  Metliode  der  l  ei^ertragung  ist.  wie  oft  mit  Varianten  im 
einzelnen  vorgeschlagen  und  betrieben,  im  allgemeinen  wohl 
am  besten  die,  dass  man  die  horizontal  gelegte  Wandtafel  so 
dreht,  dass  beim  späteren  Aufhängen  Norden  obeii  ist,  und 
dann  von  einer  mittleren  Stelle  der  Tafel  aus  die  4  Hauptrich- 
tungen mit  Kreidestrichen  zieht.  Wenn  man  einen  Knaben  auf 
die  Tafel  stellt,  ist  das  sehr  gut.  Ich  empfehle  seine  Fussspu- 


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Neuere  Methoden  mr  EbtfBRrwig  vu  VcrtUmdmU  geogrußk.  Kartm.  35 


Ten  mit  Kreide  anzugeben  und  bei  dem  einen  Fusseindruck  etwa 
noch  den  Eindruck  eines  Riesters  zu  markieren.  Solche  klei- 
nen Scherzchen  sind  aus  den  verschiedensten  pädagogischen 
Gründen  nützlich.  Das  Tafelbild  würde  also  etwa  wie  Fig.  i 
aussehen.  Genau  dasselbe»  was  an  der  Tafel  im  grossen  ge- 
macht worden,  machen  nun  die  Kinder  mit  ihren  Fingerspitzen 
im  kleinen  nach.  Dass  ,,oben  Norden»  links  Westen**»  und  spa- 
ter »»unten  rechts  Süd-Osten**  muss  ihnen  in  Fleisch  und  Blut 
übergehen.  Daneben  ist  für  Erhaltung  des  Zusammenhangs  der 
Welthimmelsrichtungen  mit  den  Kartenhimmelsrichtungen  im- 
mer vrieder  zu  sorgen.  »»Da  geht  es  in  der  Welt  nach  Nord- 
westen, da  geht  es  auf  der  Karte  nach  Nortwesten**  und  ähnlich 


lauten  die  anzustellenden  Utbungcn.  Nun  folgt  wohl  auch  eui- 
mal  die  Herstellung  einer  Windrose,  aber  mit  den  einfachsten 
Mitteln,  meinem  \'ürschhig  nach  mit  Hilfe  von  Kniffen  nach 
Art  der  Kniffe  die  die  Kinder  für  einen  Papier- Vogel  oder  ein 
Scgelschiffchen  zu  machen  pflegen.  Es  sind  immer  genug  Kin- 
der da,  die  diese  Kunst  ausreichend  besitzen.  Nachher  vervoll- 
ständigen Blcistiftstrichc,  die  Namen  der  Himmclsrichtung^en 
in  Abkiirzungen  und  der  eigene  Name,  der  die  Lage  des  Blattes 
und  damit  Norden  [iL->timmt.  Das  ganze  wird  kontroüert,  ein- 
gesammelt und  zur  nächsten  Stunde  ein  zweites  Exemplar  von 
derselben  Beschaffenheit  aufgegeben.  Kunstwerke  der  iLltern, 
die  womöglich  mit  Zirktjl  und  Lineal  hergestellt  sind,  finden 
hierbei  keine  Gegenliebe.  Die  kindliche  Windrose  sieht  also 
wie  i  lg.  2  zeigt,  aus.  Die  punktierten  Linien  bedeuten  Kniffe. 

Wichtiger  als  die  Windrose,  deren  Wert  hauptsächlich 
dann  liegt,  dass  sie  Gelegenheit  zu  einer  ersten  häuslichen  Ar- 
beit giebt,  ist  das  Einüben  der  Kartenhimmelsrichtungen  in  be- 


36 


Ntcher, 


liebiger  Anordnung.  Hierzu  zeichne  ich  die  Tafel  voller  Pfeile 
(Fig.  3),  und  lasse  dann  einen  Knaben  mit  dem  Schwamm  eine 
Sorte  Pfeile  z.  B.  ..die  nach  NO  hcrauswisthen;  die  Klasse 
nimmt  an  dem  Gelingen  der  Saclie  meist  regen  Anteil.  Nach- 


Fig.  2. 


I'ig.  3. 

dem  das  eiingf^  Male  gemacht  ist,  kommen  andere  Ucbungen. 
Ich  zeichne  eine  in  sich  zurücklaufende  Zickzacklinie  (Fig  4) 
und  lasse  nun  meist  im  Chor  die  Knaben  die  Richtungen  nennen, 
die  sie  einschlagen  müssen,  also:  ,,t.  Westen,  2.  Südwesten, 
3.  Norden  u.  s.  w."  Das  ist  leicht,  schwere  r  wird  es  schon,  wenn 
es  heisst,  immer  die  hinten  liegende  Richtung  zu  nennen  also: 
„I.  Osten,  2.  Nordosten,  3.  Süden  u.  s.  w."  Mülic  machte  es, 
wird  aber  geleistet  und  ist  sehr  dienlich,  wenn  allemal  die  links 
oder  rechts  liegende  genannt  werden  muss,  also:  (für  links) 
„I.  Süden,  2.  Südosten,  3.  Westen  u.  s.  w  '*  Bei  späteren  Wie- 
derholungen kann  man  wohl  auch  einmal  „links  vorn"  oder 
„rechts  hinten"  nehmen,  also  (für  rechts  hinten)  „i,  Nordosten, 
2,  Norden«  3.  Südosten  u.  s.  w."  Das  ist  schon  ziemlich  schwer. 


Neuere  Methoden  zur  Etnßihrung  ins  Verständnis  geograph.  Karten.  37 


macht  aber  auch  sehr  gewandt.  In  andern  ähnlichen,  alhnählich 
sich  entwickehiden  Uebungen  werden  Linien  als  Grenzen,  z.  B, 
Seilen  eines  benachbarten  Platzes,  Zaun  eines  Gartens  ebenso 
gut  wie  Ufer  eines  Sees,  Rain  eines  Ackers,  Grenze  eines  Lan- 
des aufgefasst.  Worauf  es  ankommt  ist  solche  V  urstellungen 
2u  sichern,  wie  die,  dass  eine  Westgrenze  stets  von  Norden 
nach  Süden,  oder  nordsüdlich  verlaufen  muss.  An  Zeichnungen 


0  o 


i 

to 

s 

1 

wie  Fig.  5,  werden  dann  Uebungen,  wie  „das  ist  eine  Nord- 
westgrenze,  sie  verläuft  Südwest-Nordost*'  vorgenommen. 

Durch  solche  und  ähnliche  Uebungen  glaube  ich  die  erste 
„Einleitung  und  Verständnis  der  Karten"  ,,einleiien"  zu  sollen. 
Ich  betrachte  sie  als  Uebungen,  die  auf  geographischem  Ge- 
biet etwa  dem  Kopfrechnen  oder  Dekluüercn  zu  vergleichen 
wären.  Sie  sollen  bestimmte  grundlegende  Fertigkeiten  ent- 
wickeln, müssen  mit  einer  gewissen  Konsequenz  durchgeführt 
aber  beileibe  nicht  zu  sehr  ausgeführt  werdi-n.  Sie  inuner  wie- 
der einmal  aufzunehmen,  wenn  auch  nur  für  weiüge  Minuten, 
erweist  sich  als  dienlich. 


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Die  Ideale  der  Kinder* 


Von 

Job.  Friedrich. 

Ex{.iiii)la  tr.iiuint!  Dies  ist  ein  alter  Erzichungsgrundsatz, 
den  sowohl  die  einfache  Mutter  aus  dem  V'^olke  als  auch  der 
wissenschaftlich  durchgebildete  praktische  Pädagüge  zur  Ge- 
nüge kennt.  Die  Macht  des  Beispiels  ist  eine  allseitig  aner- 
kannte Grösse;  und  es  würde  viel  zu  weit  führen,  auch  nur  einea 
kleinen  Teil  jener  Sentenzen  hier  anzuführen,  welche  die  Wir- 
kung sowohl  des  guten  als  auch  des  bösen  Beispiels  auf  die 
Jugend  vor  Augen  führen. 

Das  Beispiel  der  verschiedenen  Erziehungsfcikioreii,  dns 
von  diesen  teils  bcvvusst,  teils  unbowusst  dem  Zöglinge  grgcl'cn 
wird,  ist  besonders  zu  Anfang  der  moralischen  Erziehung  wich- 
tig. Schreitet  die  intellektuelle  Entwirkluiig  tU  s  Kindes  vor- 
wärts, <lass  sich  sein  Denken  schärft  und  sein  lufahrungs- 
krcis  \  cr^rossert,  so  treten  ihm  eine  Menge  Persönlichkeiten 
entgegen,  die  ihm  in  guter  und  böser  Hinsicht  Beispiele  geben 
können.  Schon  ziemlich  frühzeitig  erhebt  sich  das  Kind  auf 
diesen  Standpunkt  und  \v;ililt  sich  sein  Ideal,  dem  nachzu- 
streben, es  sich  mehr  ode  r  weniger  angelegen  sein  lässt.  Nicht 
nur  die  Biographiecn  bedeutender  Manner,  sondern  auch  die 
eigene  Erinnerung  belehren  inis,  dass  jeder,  wenn  auch  mit  \  er- 
schiedener  Schärfe  und  Deutlichkeit,  eine  Ideal))('rs()nliclikeit 
hatte,  der  er  nahe  zu  kommen  trachtete,  sei  es  nun  in  intellek- 
tueller oder  moraUscher  Sclbstvervollkommnuiig. 

Es  muss  deshalb  für  Kinderpsychologie  und  Pädagogik, 
für  Etluker  und  Erzieher  von  grosser  Wichtigkeit  sein,  die 
Ideale  der  Kinder  kennen  zu  lernen.  Einesteils  wird 
dadurch  ein  Einblit  k  in  die  Entwicklung  des  Kindes  gegeben, 
andernteils  wird  man  erfahren,  in  welcher  Weise  Erziehung 
und  Unterricht  auf  eine  gute  Ernte  hoffen  lassen. 

Bis  jetzt  ist  nur  eine  einzige  derartige  Untersuchung  an- 
gestellt worden.  Die  Jowa  Society  for  Child-Study  liess  213 
Kinder  der  6  oberen  Klassen  die  Frage  beantworten:  „Wer 
möchtest  du  sein?  Warum?**  Leider  wurde  das  £rgebnis  — 


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Die  Jdtak  der  KMer. 


39 


wie  es  scheint  —  nicht  recht  ausgebeutet,  denn  die  Mitteilungen 
über  dasselbe  sind  ziemlich  dürftig.  Ganz  unabhängig  von 
dieser  Untersuchung  —  ich  lernte  sie  erst  während  der  Aus- 
führung der  toieinigen  kennen  —  veranstaltete  ich  eine  Um- 
frage nach  den  Idealen  der  Kinder.  Die  Frage  lautete: 
^»Welche  Persönlichkeit  ist  dein  Vorbild,  und 
warum  ist  sie  es?**  Es  war  eine  selbstverständ- 
liche Forderung,  dass  diese  Frage,  um  Unklarheiten  bei 
den  Kindern  zu  vermeiden,  von  Seiten  der  betr.  Klassenlehrer 
und  -Lehrerinnen  kurz  erläutert  wurde.  Jedes  Kind  schrieb 
auf  einen  Zettel  seinen  eigenen  Namen  tmd  darunter  die  Be- 
antwortung der  gestellten  Frage. 

Die  Untersuchung'  sollte  aiuii  etwaige  Eiiitiüsse  des 
Alters,  des  G  e  s  c  h  1  e  c  iu  e  s  und  der  Konfession  er- 
kennen lassen.  Folgende  Tabelle  wird  nun  die  Verteilung 
der  Kinder  nach  Klassen  angeben: 


Tabelle  1. 


Klasse 

! 

Zahl  der 
Kinder 

Geschlecht 

Konfession 

Alter 
(Durchschnitt) 

VI. 

54 

Knaben 

katholisch 

11' t  Jahre 

VI 

52 

Mädclu-n 

katholisch 

desgl. 

VI.  1 

31 

Miidchcn 

protestantisch 

desgl. 

vn. 
vn. 

vn. 

VII. 
VII. 

42 
20 
41 
48 

Knaben 

Knaben 

Knaben 

Mädchen 

Mädchen 

katholisch 
protestantisch 
katholisch 
katholisch 
protestantisch 

I2'/t  Jahre 
desgl. 
desgl. 
desgl. 
desgl. 

In  der  Darstellung  der  Ergebnisse  werden  wir  uns  an  die 
beiden  Fragen  halten  müssen,  und  jede  nach  den  oben  ange- 


*)  Diese  Zeilschrift;  II.  Jahrgang,  Heft  2,  Seite  135,  136. 

**)  Denen  ich  hiermit  fQr  ihre  hfcundlicfae  Mitarbeit  botem  danke. 


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40 


Joh.  Friedtick, 


o 


Ganze  Summa  '  14 

(aus  I  u.  II)  j 

Summa  Ii 

VII  a 
Vllb 
VII  a 
7a 
7b 

Summa  I 

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Klasse*}  i 

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A. 

i    Pi::  - jJiijn  ans 
1  dem  UtngAnee 

1  , 

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1  B. 
Persönlichkeiten 
am  der  Lektüre 

43  31 

lO 

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1  C. 

Heilige 

00 

i 

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D. 

Pmoni-n  aus 

1  dem 

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1  aifrn  i  csiAnicni 

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Personen  aus 
dem  \ 
ncneii  icswiieni. 

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der  fränkischen 
vKSOiicnie 

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Die  Ideale  der  Kinder, 


41 


gebenen  Gesichtspunkten  durchzugehen  haben,  um  auf  diese 
Weise  nicht  nur  eineu  Beitrag  zur  Individualpsychologie,  son- 
dern auch  zur  allgemeinen  Kinderpsychologie  zu  erhalten. 

Ordnen  wir  nun  die  erhaltenen  Gruppen  nach  ihrem 
Grössenverhältnisse  und  drücken  zugleich  diese  in  Prozenten 
aus,  so^ergiebt  sich  folgende  Reihe: 


Tabelle  3. 


Gruppe: 

H. 

i 

C. 

E. 

D. 

K. 

B. 

0. 

A. 

L. 

M. 

N. 

F. 

0. 

Zahl 

16 

14 

43 

31 

33 

8 

45 

27 

76 

7 

7 

6 

29 

2 

4,2 

1 

12.9!  9,3 
1  1 

9,9 

2,4 

13,5 

8,1 

22,8 

2,1 

1,8 

8,7^ 

0,6 

Es  fällt  sofort  ins  Auge,  dass  die  Geschichte  über  ^/s 
der  vorbildliclien  Persönlichkeiten  lieferte  ;  naCh  ihr  kommt  erst 
der  Religionsunterricht.  Es  zeigt  sich  hierin  aufs  deut- 
liclibte  die  hohe  Bedeutung  des  Gesrhichtsunterricbts  als  eines 
wirklichen  G  e  s  i  n  n  u  n  g  s  u  n  t  e  r  r  i  c  h  t  e  s.  Es  ist  deshalb  nur 
zu  bedauern,  dass  er  im  Stundenplan  mit  einer  Wochenstunde 
abgefunden  wird;  für  die  moralische  Bilduns:  der  Jugend  wäre 
eine  intensivere  Vertiefung  des  gesrbirluli<  hon  Stoffes  nach 
seiner  sittlichen  Beziehung  hin  sehr  erwünscht.  Durch  den 
dogmatischen  Religionsunterricht,  der  im  Anschlüsse  an  den 
Katechismus  erteilt  wird,  und  vielfach  nur  in  einem  Auswendig- 
lernen schwieriger  Definitionen  besteht,  wird,  wie  unsere 
Statistik  zeigt,  wenig  für  die  sittliche  Begeisterung  des 
Menschen  geleistet.  Dagegen  bieten  die  Bibel  (ahes  und  neues 
Testament)  und  die  Religionsgeschichte  dem  Kinde  viele  Per- 
sönlichkeiten, die  als  Vorbild  dienen  können  und  auch  dienen; 
es  wird  sich  deshalb  die  Frage,  ob  der  Katecbisniusunterricht 
nicht  hinter  die  Biblische  Geschichte  zu  treten  habe,  nicht  so 
ohne  weiteres  als  Krt/erei  abthun  lassen.  Wir  meinen  immerhin, 
dass  auch  in  den  Religionsunterricht  die  Kinderpsychologie  ein 
Wörtchen  darein  reden  dürfe. 

Auffallend  ist,  dass  die  Umgebung  des  Kindes  diesem  so 
wenig  Ideale,  denen  es  nacheifern  könnte,  liefert  (nur  4,20/0). 
Ks  mag  dies  wohl  daran  liegen,  dass  die  Kinder  im  allgemeinen 


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42 


Jfoh,  Friedrich, 


scharfe  Beobachter  sind  und  meist  mehr  die  Fehler  als  die 
guten  Seiten  der  mit  ihnen  in  Berührung  kommenden  Persön- 
lichkeiten sehen.  Eltern  und  Lehrer  sollten  aus  dieser  That- 
Sache  viel  lernen! 

Um  die  Einwirkung  von  Geschlecht,  Alter  und  Konfession 
erkennen  zu  können,  müssen  wir  Tabelle  4  betrachten. 


Tabelle  4. 


1 

A. 

B. 

C 

D. 

E. 

F. 

G. 

H. 

I. 

K. 

L. 

M. 

N. 

0. 

1. 

1.  Knaben 

I 

.Zahl' 
'  % 

0 
0 

10 
B 

3 

0,0 

IS 

4,5 

18 

5,4 

3 

ü,'> 

7 

47 
14,1 

;u 
10;.' 

f> 

(. 

i,s 

6 

7 

2,i 

1 

v/,3 

2.  Mädchen 

IUI  1 

14 

17 

r>.i 

40 
12 

1») 

15 
4,5 

3 
00 

2,7 

11 

3,3 

6 

2 

0,0 

l 

0,3 

0 
0 

1 

II. 

! 

1 

6.  Klassen 

.Zahl 
'  % 

!  12 

1 

6 

11 

3,3 

23 

0." 

9 

5 

1,5 

10 

10 
3 

14 

0 

0 

4 

1,2 

0 

a 

7.  Klassen 

.Zahl 

,0,6 

21 
6,3 

32 
9.6 

8 

24 
7,2 

1 

0.3 

6 

1.8 

43 
12,9 

3Ö 
10,6 

15 
4,S 

8 

3 
0.9 

7 
2,1 

2 

III. 

1 

Katholisch 

^Zahl 

*  ; 

11 

3,5 

lö 

5,4 

1  34 
10,2 

21 
6,3 

19 

5 

1,5 

15 
4,5 

47 
14,1 

39 
11,7 

11 
3,3 

5 

1^ 

<> 

1,8 

4 

2 

Protestant 

.Zahl 
'  •/.  j 

3 
0,0 

1 

9 
3,7 

1 

9 
2,7 

10 

'\ 

14 

4 

■'1 

1 

0,3 

1 

0.3 

29 
8,7 

6 

1^ 
5,4 

3 
0,9 

1 

0,3 

3 

0,9 

Bezüglich  des  Geschlechtes  machen  sich  weniger  Un- 
terschiede bemerkbar  in  den  Gruppen  D,  E,  F,  G  und  O;  dage- 
gen überwiegt  der  Anteil  der  Mädchen  an  den  Gruppen  A,  B,. 
C  und  K  den  der  Knaben  um  ein  Bedeutendes,  Während  z.  B. 
letztere  in  ihrer  Umgebung  gar  keine  vorbildliche  Persönlich- 
keit entdeckten^  nehmen  erstere  4,2^/0  (also  die  ganze  Gruppe) 


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Die  U««ie  der  Kinder, 


für  sich  in  Anspruch.  Besonders  auffallend  ist  die  Grösse  der 
Gruppe  C  (Heilige)  bei  den  Mädchen;  dies  hat  seinen  Grund 
unstreitig  darin,  dass  das  weibliche  Geschlecht  religiöser  ver- 
anlagt ist,  und  demgenias^  bei  selbst  gleichen  Erziehungsfak- 
luren  bei  ihm  die  Betonung  des  Religiösen  schärfer  hervor- 
tritt als  bei  den  robusteren  Knaben.  Das  zartere  weibliche  Em- 
pfinden mit  seinen  ms  Sentimentale  hinübergreifenden  Aeusse- 
rungen  dt-s  Seelenlebens  fühlt  sich  naturgemäss  mehr  hingezo- 
gen zu  den  auf  \>rinnerlichung  gehenden  Bestrebungen  der 
Heiligen.  Während  (>s  im  männlichen  Charakter  liegt,  sich 
selbst  inmier  kraftvoller  zu  entfalten,  findet  die  Eigenart  des 
Weibes  schon  frühzeitig  ihre  Befriedigung  im  Hingeben  an 
andere,  an  den  Mitmenschen,  in  Ausübung  der  Nächstenliebe, 
und  im  Hingeben  an  Gott,  in  der  Religion.  Hingegen  finden 
die  Mädchen  weniger  Gefallen  an  den  kraftvollen  Gestalten 
der  Geschichte  (8,70/0  und  3,3"o),  wahrend  gerade  diese  den 
Knaben  in  erhöhtem  Masse  vorbildlich  erscheinen  (14,10/0  und 
10,20/0).  Dass  die  Miidclien  auch  in  den  Gruppen  L,  M  und  N 
den  Knaben  nachstehen,  bedarf  wohl  kaum  euier  Begründung. 

Der  Unterschied  zwisrlien  dem  Anteil  der  VI. 
Klassen  und  jenem  der  VII.  K  1  a  s  s  e  n  an  den  verschiedenen 
Gruppen  ist  durchwegs  kein  so  grosser,  dass  er  einer  verglei- 
chenden Untersuchung  bedart.  Weim  in  den  geschichtlichen 
Partien  die  VH.  Klassen  stärker  beteiligt  sind  als  die  VI. 
Klassen,  so  hat  dies  seinen  Grund  unstreitig  darin,  dass  die 
letzteren  das  ganze  Gebiet  der  deutschen  Geschichte  über- 
blicken, ihnen  also  mehr  vorbildliche  Persönlichkeiten  daraus 
bekannt  sind,  als  es  ersteren  nach  Lage  der  Sache  möglich  ist. 
Mit  der  fortschreitenden  geistigen  Entwicklung  erweitert  sich 
eben  auch  der  geistige  Horizont;  dazu  thut  dann  noch  der 
Lehrplan  sein  übriges. 

Nicht  uninteressant  ist  das  Verhältnis  zwischen  Katho- 
liken und  Protestanten.  Mit  Ausnahme  der  Gruppe  K 
überwiegt  der  prozentuale  Anteil  der  Katholiken  jenen  der  Pro- 
testanten meist  um  ein  Bedeutendes.  Die  einzige  Ausnahme 
hat  ihren  Grund  —  wie  wir  später  sehen  werden  —  in  der  mar- 
kanten Gestalt  Luthers,  welcher  von  Protestanten  vielfach  ge- 
nannt wurde.  Dass  die  Katholiken  z.  B.  die  Heiligen  bevor- 
zugten, liegt  in  der  Heiligenverehrung  der  katholischen  Kirche 
begründet,  denn  diese  stellt  ja  mit  Vorbedacht  die  Heiligen  als 


uiyiii^ed  by  Google 


44 


yoh,  Briedrüh. 


nachahmenswerte  Vorbilder  in  religiösem  und  sittlichem  Wan- 
del auf.  Auch  der  grosse  Anteil  der  Katholiken  an  Gruppe  G 
lässt  sich  auf  diese  Weise  leicht  erklären.  — 

Nach  diesen  mehr  allgemeinen  Erörterungen  wollen  wir 
nun  die  einzelnen  Gruppen  einer  genaueren  Betrachtung  unter- 
ziehen. 

(iru})pe  A:  Personen  aus  der  Umgehimg  des  Kindes, 
bezw.  solche,  welche  ihm  persönlich  bekannt  suid. 


Tabelle  5. 


Kluse 

Der 
Vater 

1 

Die 
Mutter 

Die 
Eltern 

Die 
Tante 

Der 
Schul- 
rat 

Der 
Pfarrer 

Die 
Lehre- 
rin 

Der 
Bi- 
sdiof 

Der 
Onkel 

Kame- 
raden 

Via 
6a 

f 

6b 

1 

2 

1 

1 

1 

3 

1 

1 

1 

Vlla 

Vllb 

Vlla 

7a 

7b 

1 

1 

Sa. 

'  \ 

3  1 

'  i 

'  1 

1 

1 

3  i 

'  1 

1 

1 

Es  ist  höchst  auffallend,  dass  an  dieser  Gruppe  nur  Mäd- 
chen beteiligt  sind  und  Ijcsonders  eine  Klasse  stark  vertreten 
ist.  Dass  die  Mädchen  sich  Vorbilder  aus  dem  anderen  Ge- 
schlechlc  wählen,  tritt  uns  nicht  bloss  nicr  entgegen,  sondern 
wird  uns  in  anderen  Gruppen  noch  vielfach  in  die  Augen  sprin- 
gen. Demgegenüber  greifen  die  Knaben  sehr  wenig  Ideale 
weiblichen  Geschlechtes  heraus. 

Gruppe  B:  Personen  nu^  der  Lrktiirc.  (Hierher  wurden 
auch  jene  Persönlichkeiten  gerechnet,  tiie  dem  Kinde  durch  Er- 
zählung aus  dem  Munde  des  Lehrers  bekannt  wurden). 

Ans  dieser  Zusammenstellung  ersieht  man,  dass  die  Lektüre 
entweder  ungleichmässig  und  unsysteniati'^'-h  gej)flegt  und  ge- 
fördert wurde,  oder  dass  die  Lektüre  nicht  jene  Gestalten  auf- 
wies, welche  die  Kinder  zur  Nachahmung  reizten.  Die  Er- 
zählung von  dem  durch  seine  Elternli  lu  -ich  auszeichnenden 
Rittmeister  Kurzhagen  steht  im  Lesebuche^  das  die  Schüler  in 


Üigiiiztiü  by  <-3ÜOgIe 


Dü  IdeaU  der  Kinder.  45 


Tabelle  6. 


[ 

1 

Klasse; 

1 

Iii 

r-  Ü 

-f 

er, 

« 
1 

|| 

a  .i 

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1 

1 

— 

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1 

— 

— 

— 

— 

* 

1 

— 

1 

1 

I 

3 

Vllb 

1 

1 

1 

Vlla 

1 

1 

1 

l 

7a 

: 

: 

7* 

7b 

1 

1 

1  H 

2 

1 

1 

1 

1 

11 

1 

1 

1 

1 

1 

2 

1 

1 

Händen  haben;  dass  die  sanfteren  Mädchen  sich  ihn  wähhen, 
liegt  Wühl  auf  der  Hand.  Natürlich  fehlt  auch  nicht  eine  Figur 
aus  den  zur  Zeit  von  den  Jungen  verschlungenen  Romanen 
Karl  Mays;  ja,  wir  werden  si)äter  sogar  noch  sehen,  dass  dieser 
Schriftsteller,  der  seine  Geschichten  alle  in  der  Ich-form  schreibt, 
als  ein  V'orbild  genannt  wird. 
Gruppe  C;  Heilige. 


Tabelle  7. 


KUnse 

Mar- 
gareta 

Agnes 

Aloy- 
sius 

An- 
tonius 

1 

Blan- 
dina 

Chlo- 
tilde 

Elisa- 
bcdi 

Magda- 
lena 

Piiilo- 
mcna 

Via 

6a 
6b 

Vlla 
VII  b 
Vlla 
7a 
7b 

1 

6 

4 

1 

15 

1 

8 

1 

3 

1 

1 

1 

Sa.  1 

6 

20 

1 

8 

1 

3 

1 

l 

1 

*)  Darunter  dn  Israelitisches  Midchen. 


üigiiizeü  by  Google 


46 


» 

fok,  iriedrich. 


Neben  dem  Einfluss  des  Geschlechtes  und  der  Religion 
macht  sich  in  dieser  Gruppe  unstreitig  der  Klassenhabitus  be^ 
meilcbar.  Die  Knaben  wälüten  keine  einzige  Heilige,  dagegen 
19  Mädchen  (5,7  0/0)  den  hl.  Aloysius;  dies  ist  daraus  zu  erklären« 
dass  (dieser  Heilige  von  der  katholischen  Kirche  als  ein  Vor- 
bild der  Jugend  aufgestellt  ist  und  verehrt  wird.  Mehrmals 
wurde  auch  der  Namenspatron  gewählt,  was  ebenfalls  seine 
Erklärung  in  den  Institutionen  der  katholischen  Kirche  findet. 

Gruppe  D:  Persönlichkeiten  aus  dem  alten  Testamente. 


Tabelle  8. 


Klasse  * 

Abraham 

Adam 

König 
Ahab 

> 
es 

Q 

Prophet 
Elisa 

1 

0 

Joseph 

König  ' 
1  Hiskia 

1 

Macha-  | 

lüische 

Mutter 

Tobias 

1 
1 

Via 
6a 
6b 

3 

_____ 

"  ■ 



l 

1 

1 

3 

1 

9 

2 

Vlla 

Vllb 

1 

Vlla 

-- 

_ 

-- 

7a 

1 

2 

2 

1 

l 

6b| 

- 

Sa. 

3 

1 

1 

1  ^ 

1  1 

1  1 

7, 

1  " 

2 

l 

1  2 

Tabelle 

9. 

r 

Klasse 

I 

Stephanus 

Martha 

Vater  des 
verlorenen 
Sohnes 

Der  ver-  ' 
lorene  Sohn 

Anna  j 

Evangelist 
Johannes 

(/) 
0 

Maria 
(Mutter  Jesulj 

Paulus 

Petnis 

Philippus 

Via 

1 

2 

2 

6a 

2 

6b 

1 

-.. 

Vlla 

2 

VII  b 

1 

8 

Vlla 

2 

7a 



6 

7b 

1 

2 

1 

Sa. 

1 

1 

1 

l 

2| 

2| 

8| 

12 1 

2 

1 

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Die  UtmU  der  Kinder. 


47 


Dass  die  durch  ihre  Geduld  und  Gottergebung  hervor- 
ragenden Persönlichkeiten  eines  Job  und  eines  Joseph  die 
Kinder  anziehen,  ist  leicht  zu  begreifen.  Wie  aber  Adam,  der 
erste  Mensch,  zu  einem  Ideale  gestempelt  werden  kann,  ist  nicht 
gut  einzusehen.  Auch  die  Begründung  seitens  des  betr.  Knaben : 
„Weil  ihn  Gott  nach  seinem  Ebenbilde  erschuf**  macht  die 
Sache  nicht  plausibler.  Vielleicht  wäre  es  gelungen  ,  den  Kna- 
ben zur  Klarlegung  seines  Gedankenganges  zu  bringen;  da 
aber  die  Untersuchung  einige  Tage  vor  der  Schulentlassung 
stattfand,  so  war  es  meinerseits  nicht  möglich,  dies  Versäumnis 
gut  zu  machen. 

Gruppe  E:  Personen  aus  dem  neuen  Testamente. 

Die  kraftvolle  Figur  des  Apostel  Paulus  ist  12  mal 
als  Vorbild  genannt  worden  (3,6  0/0),  und  zwar  nur  von  Schü- 
lern der  siebenten  Klassen;  dies  findet  seine  Erklärung  im  Lehr- 
plane. Auffallen  mag,  dass  der  Vater  des  verlorenen  Sohnes 
auch  einmal  angegeben  wurde.  Der  betr.  Knabe  begründet 
aber  seine  Ansicht  sehr  gut  mit  folgenden  Sätzen :  „Mein  Vor- 
bild ist  der  Vater  des  verlorenen  Sohnes,  weil  er  an  seinem 
<So1me  recht  gehandelt  hat  tmd  ihn  wieder  aufnahm.  Als  dieser 
draussen  sein  Gut  mit  Hurerei  verschlungen  hatte,  kam  er 
wieder  zu  seinem  Vater.  Dieser  aber  nahm  ihn  gerne  auf, 
denn  er  dachte,  er  sei  von  den  wilden  Tieren  gefressen  worden.** 

Gruppe  F:  Gott  (Christus). 


Tabelle  10. 


Klasse  | 

Christus 

Via 

3 

6a 

2 

6b 

Vlla 

Vlib 

Vlla 

7a 

7b 

1 

Sa. 

6 

Es  wäre  vielleicht  Christus  etwas  häuligcr  als  Vorbild  auf- 
geführt worden,  wenn  nicht  in  Klass«  VII  b  von  selten  des 


uiyiii^ed  by  Google 


48 


Joh.  irieJtüh. 


betr.  Hrn.  Lehrers  den  Schülern  geraten  worden  wäre,  die 
Person  des  Heilandes  nicht  zu  nennen.  Es  geschah  dies  in  der 
Absicht,  etwas  Abwechslung  zu  bringen.  Ob  diese  Beein- 
flussung sich  als  wirksam  erwiesen  hat,  kann  ich  nachträglich 
nicht  erkennen  ;  aber  selbst  zugegeben,  der  Gcsiclilskrcis  der 
Schüler  wäre  dadurch  verengt  worden,  so  könnte  dies  doch 
keinen  Grund  abgeben,  die  Antworten  der  [ganzen  Klasse  zu 
verwerfen  und  sie  bei  der  ganzen  Arbeit  unueachtet  zu  lassen. 
Gruppe  G;  Personen  aus  der  fränkischen  Geschichte. 


Tabelle  Ii. 


Klasse 

Herzog 
Oozbert 

FQrstiiischof 
Julius  Edikr 

von 
Mespelbrunn 

Via 

1 

I 

6a 

8 

6b 

Vlla 

3 

Vilb 

Vlla 

2 

7a 

7b 

1 

Sa. 

1  1 

15 

Da  der  Fürstbischof  Julius  Echter  von  Mespelbrunn 
als  katholischer  Fürst  und  Bischof  gegen  die  l'rotestanten  vor- 
ging, so  wurde  er  —  mit  einer  einzigen  Ausnahme  —  nur  von 
katholischen  Schülern  als  Vorbild  bezeichnet.  Ein  protestan- 
tisches Mädchen  benannte  ihn  deshalb,  „weil  er  ein  grosser 
Wohlthäter  war." 

Gruppe  H:  Personen  aus  der  deutschen  Geschichte. 

Diese  Gruppe  spiegelt  so  recht  den  Lehrplan  wieder,  in- 
dem jene  markanten  Persönlichkeiten,  welche  in  das  Lehrpro* 
gramm  der  einsehsen  Klassoi  fallen,  auch  in  diesen  als  Ideale 
angegeben  wurden.  So  werden  in  der  VI.  Klasse  behandelt 
Barbarossa,  Friedrich  der  Schöne»  Rudolf  v.  Habsburg,  in  der 
VII.  Klasse  Bismarck,  Andreas  Hofer,  Luise,  Maria  Theresia» 
Max  I.,  Wilhelm  I.  Trotzdem  Hermann  und  Karl  der  Grosse 


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Die  IM*  der  XMer,  49 


Tabelle  12. 


KUsse 

■=2 

'S  £ 

Bismarck 

Friedrich  der 
Schöne 
von  Oesterreich 

sc 

•0:3 

E  2 

Kaiser 
1    Heinrich  1. 

1 

fc 
r 

M 
'S 

km 

T3 
C 
< 

M 

o 

■o 

Könipin  Luise 
von  F'reussen 

1 

Kaiserin 
Maria  Theresia 

Kaiser  Max  I. 

Rudolf  von 
Habsburg 

Kaiser 
Wilhelm  I. 

Via 

1 

3 

l 

5 

1 

9 

1 

2 

6a 

1 

5 

OD 

4 

1 

1 
1 

j 

- 

Vtla 

l 

1 

1 

7 

2 

Vltb 

4 

l 

3 

VUa 

2 

4 

1 

7a 

1 

"l 

7b  1 

i 

1 

I 

I 

1 

i  ö 

1 

1 

4 

i 

Sa.  i 

9 

3 

1 

3 

1  8, 

1 

i 

1 

l- 

1  ö 

* 

Tabelle 

13. 

KUsse 

König 
Ludwig  1. 

König 
Ludwig  II. 

KaiscrLudwigl 
der  Bayer 

Kurfürst 
Max  Joseph 

Kurfürst 
Max  der  Oute 

König 
Max  IL 

Herzc^ 

m 

5 

Otto  von  II 

(/] 

Prinzregent 
Luitpold 

Via 

2 

1 

6a 

6b 
Vlla 

1 

1 

2 

I 

4 

3 

2 

1 

1 

2 
2 

2 

VII  b 

Vlla 

2 

2 

1 

4 

3 

4 

7a 
7b 

3 

! 

Sa. 

5 

1 

5  j 

3 

1 

7 

2 

5 

5 

9 

4 

schon  in  der  V.  Klasse  besprochen  wurden,  so  ist  doch  die 
Wirkung  dieser  Persönhchkeitcn  noch  l  und  2  Jahre  später  zu 
bemerken;  besonders  letzterer  ist  mit  29  Antworten  (d.  i.  8,70/0) 
bedacht,  ein  Beweis  von  der  ethischen  Anziehungskraft  dieser 
Heldenfigur.  Während  die  Knaben  durchweg  Männer  sich  als 
Vorbilder  wählten,  erkoren  19  Mädchen  (8,7  O/o)  sich  gleichfalls 
solche,  und  nur  9  Mädchen  (2,7  0/0)  dachten  an  Frauen  als 
.  Ideale.  Es  mag  dies  wohl  darin  seinen  Grund  haben,  dass  die 

Zeitsdirift  für  pädagogische  Psycliologic  und  Pathologie.  4 


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50 


Joh.  Friedrich. 


Mädchen  im  riosrhicht^untcri ichte  zu  wenig  ideale  Frauenge- 
ätaJlen  vorgcfuliri  l:>ek()ninu'n. 

Gruppe  1;  IV-rsoiu-n  aus  der  liayerischcn  Geschichte. 

Von  den  gewählten  45  Persönlichkeiten  der  Grupi)e  I  ent- 
fallen 3s  auf  die  siebenten  Klassen;  der  kurz  \orher  behan- 
delte Lehrstoff  steht  denniach  noch  im  X'ordergrunde  des  In- 
teresses und  m  ( iefühlsnähe.  Otto  von  W'ittelsbach  wurde  in 
der  6.  Klasse  besprochen;  dass  er  in  den  siebenten  Klassen 
trotzdem  noch  6  fron  9)  Stimmen  erhielt,  zei^t,  wie  stark  sich 
seine  durch  Mut  und  ra])fcrkcit  auszeichnende  Persönlichkeit 
dem  Gedächtnis  der  Kinder  einprägte. 

Gruppe  K :  Persönlichkeiten  aus  der  Religionsgeschichte* 


Tabelle  14. 


Klasse 

Papst 
Leo  Xill. 

Kaiser 
Konstantin  I. 

1 

'  Luther 

Bonifatius 

Franben- 

apostel 

Kiiisn 

Via 

1 

6a 

3 

1 

3 

6b 

6 

Vlla 

1 

2 

VII  b 

5 

Vlla 
7a 
7b 

Sa. 

3 

»7 

3 

5 

Es  könnte  vielleicht  der  Einwand  erliol)en  werden,  die 
sämtlichen  Persönlichkeiten  der  Grupjie  K  seien  ganz  gut  in 
anderen  Gruppen  unterzubringen  gewesen,  z.  B.  Kilian  in 
Gruppe  G,  Bonifatius  und  Luther  in  Gruppe  II.  u.  s.  w.  Dem  sei 
entgegen  gehalten,  dass  die  in  Gruppe  K  vereinigten  Vorbilder 
durchweg-  aus  anderen  Gründen  gewählt  wurden,  wie  die  Per- 
sonen der  übrigen  Gruppen:  es  trat  hier,  wie  wir  später  sehen 
werden,  das  religiöse  Moment  scharf  in  den  Vordergrund. 
So  wurden  I'ajist  Leo  XIII.,  Bonifatius  und  Kilian  nur  von 
Kathohken  erkoren,  während  Luther  ausschliesslich  von  Pro- 
testanten als  Ideal  aufgestellt  ward.  Beides  ist  leicht  erklär- 


ZMr  Ideaie  der  Kinder. 


51 


lieh.  Den  Protestanten  ist  eben  Luther  als  Gründer  ihrer  Kon- 
fession eine  ungleich  s>Tnpathischere  Persönlichkeit  als  er  es 
den  Katholiken  sein  kann.  Da  die  Verdienste  Luthers  in  lite- 
rarischer Hinsicht  in  der  Volksschule  nicht  gewürdigt  werden 
können,  so  tritt  eben  allein  die  religiöse  Wertschätzung  ein. 
Gruppe  L:  Künstler,  Dichter»  Schriftsteller. 


Tabelle  15. 


Klasw 

Kart  May 

Theodor 
Kömer 

Erz- 
giesscr 
Miller 

Mozart 

Schwan- 
thaler 

SchiUer 

Rjchaid 
Wiener 

Via 

6a 

: 

6b 
Vlla 
VII  b 
Vlla 
7a 
7b 

1 

1 

1 

I 

1 

1 

1 

Sa. 

1 

2 

•  1 

1 

i 

1 

Wer  aus  der  geringen  Zahl  der  in  dieser  Gruppe  vereinig- 
ten Persönlichkeiten  der  Volksschule  einen  Vorwurf  machen 
wollte,  der  kennt  die  thatsächlichen  Verhältnisse  nicht  oder 
zu  wenig.  Die  künstle risclie  Erziehung  der  Jugend  wird  allent- 
halben —  auch  in  den  Mittelschulen  —  viel  zu  wenig  beachtet. 
Aber  es  ist  erfreulich,  dass  besonders  aus  den  Kreisen  der 
Volksschullehrer  heraus  der  Ruf  nach  künstlerischer  Erziehung 
der  Jugend  zuerst  und  mit  grösstem  Nachdruck  erhoben  wurde. 
(Siehe  die  sogen.  Hamburger  Bewegung  in  Sachen  der  Jugend- 
schriften 1) 

Gruppe  M:  Erfinder  und  Entdecker. 

Für  diese  Gruppe  ist  durchweg  der  Lehr  plan  massge- 
bend. £s  ist  auffäiUg,  dass  die  Persönlichkeiten  derselben  nicht 
hmge  vor  der  Enquete  behandelt  wurden^  und  dass  es  öfters 
schwache  Schüler  waren,  welche  obige  Persönlichkeiten  er- 
wählten. Die  intellektuelle  Armut  verengte  den  Gesichtskreis 
und  so  könnte  man  vielleicht  von  ,,Veriegenheitsidealen" 
sprechen.  \ 

4* 


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52  y«**  FHtiHek» 


Tabelle  16. 


Klasse 

Kolum- 
bus 

Franklin 

Ffiun- 
noicr 

Bolbold 
Scbvm 

fdder 

Via 

Aa 
vH 

3 

— 

— 

I 

— 

6b 

VII  a 
Vllb  i 
VII  a  j 

7a 

7b 

1 

1 

1 

Sa. 

3 

1 

1 

1 

1 

Gruppe  N:  Feldherren. 


Tabelle  17. 


Klasse 

Zryni 

■ 

Blücher 

Gottfried 

von 
Bouillon 

TiUly 

Via 
6a 

6b 
VII  a 
Vllb 
Vlla 
7a 
7b 

1 

2 

1 

3 

Sa. 

1 

1  2 

1 

3 

Nur  Knaben  wählten  Feldherren.  Der  Kraft-  und  Macht- 
wille,  der  sich  unwillkürlifh  mit  dem  Begriffe  eines  Kriegs- 
mannes verbindet,  schreckt  naturgemäss  das  zartere  Mäd- 
chen ab. 

Gruppe  O:  Andere  Persönlichkeiten. 

Cronje  und  Crüger,  die  beiden  Helden  der  Buren,  sind 
den  Kindern  durch  die  Zeitungslektüre  bekannt  gewesen ;  man 
hätte  sie  also  auch  in  Gruppe  B  unterbringen  können.  Die 


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Dk  Ueale  4tr  JCbubr, 


53 


Sympathie,  die  den  um  ihr  Vaterland  kämpfenden  Buren  all- 
gemein entgegengebracht  wurde,  teilte  sich  auch  der  Jugend 
mit.  Dass  ein  Mädchen  den  Feldherrn  Cronje  wählte  —  ganz 
emgegengesetzt  den  Resultaten  der  Gruppe  N  —  hat  seinen 
Grund  in  der  Eigenart  des  betreffenden  Mädchens.  Die  Leh- 
rerin schildert  «es  als  eine  lebhafte  Schülerin,  welche  gern 
und  gut  ttnnt  und  überhaupt  mehr  männliche  Eigenschaft  zeigt 
als  weibliche. 

Tabelle  18. 


KlasM 

Cnmje 

Biul  Crfigar 

Via 

6a 

6b 

Vlla 

Vllb 

Vlla 

1 

7a 

1 

7b 

Sa. 

1 

I 

Nach  der  Zahl  der  S  t  i  tn  m  e  n  ,  welche  sich  auf  die  ein- 
zelnen Persönliclikeiten  vereinigten,  ergibt  sich  folgende  An- 
ordnung : 

a)  Je  I  Stimme  erhielten:  Cronje.  Crüger,  Zryni,  Gottfr.  v.  Bouil- 
lon, Franklin,  Fraunhufer,  Schwarz,  Senefelder,  May, 
Miller,  Mozart,  Schwanthaler,  Schiller,  Wagner,  Konstan- 
tin I.,  Bonifatius,  Heinrich  I.,  Maria  Theresia,  Kaiser 
Max  I.,  Gozbert,  Stephan us,  Martha,  der  Vater  des  ver- 
lorenen Sohnes,  der  verlorene  Sohn,  Philippus,  Adam, 
Ahab,  Eleanzar,  Elisa,  die  machabäische  Mutter,  die  hl. 
Margarete,  der  hl.  Antonius,  die  hl.  Mathilde,  der  hl.  Mar- 
tin, die  hl.  Magdalene,  die  hl.  Philomena,  K.  Weissgerber, 
Old  Shatterhand,  Baas,  Hedwig  (Teils  Gattin),  Hof- 
reither, Lanke,  Rosa  v,  Tannenburg,  Schimmelmann,  die 
Stiefmutter  (ohne  Namen),  Sixtus  V.,  Tom,  Trudehen, 
Vater,  Eltern,  Tante,  Onkel,  Schulrat,  Pfarrer,  Bischof, 
Kameradin;  in  Sa.  57  Personen; 


54 


jfoh,  Friedrich. 


Tabelle 


Klasse 

1 

15 

^ 
OD 

a 

CO 

^ 

:\'.  Gastfreundschaft  1 

— 

er: 

> 

■  1 

o 

> 

VII.  Gehorsam  1 

Q 

i 

> 

O 

X 

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X 

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t. . 

X 

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X 

s 

X 

■  XIV.  Tapferkeit,  Mut  1 

XL 
'S 

X 

XVI.  Gross  an  Körper  1 

f) 

s< 

Via 

1 

5 

13 

1 

11 

1 

3 

3 

2 

2 

4 

1 

1 

4 

1 

1 

6a 

— - 

— 

11 

10 

— 

1 

8 

5 

5 

— 

8 

— 



3 

6b  1 

1 

5 

1 

1 

2 

h 

1 

1 

4 

- 

3 

Vlla 

L>ü 

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2 

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1 

1 

4 

_ 

Vllb 

1 

•> 

— 

3 

— 

10 

— 

— 

Vlla 

— 

1 

11 



1 

o 



1 

— 

^ — 

— 

— 

9 

-- 

4 

7a 

— 

1 

- 

3 

- 

— 

19 

8 

— 

- 

1 

— 



— 

1 

12 

— 

4 

 1 

— 

2 

~ 

8 

1 

— 



2 

Summa 

1 

77 

1 

3S 

4 

20 

27 

36 

6 

12 

5 

32 

1 

1 

12 

0,3 

2,4!  23.1 

,■ 

1 

0,3 

11,4 

1,2 

1.8 

6,0 

8,1 

10,8 

.,8 

3,6 

1,5 

9,6 

0,3' 

0,3 

3.6 

1.  6. Klassen; 

--. — 

a)  Zahl 

1 

5 

25 

1 

26 

2 

5 

13 

7 

15 

4 

10 

2 

8 

1 

1 
a 

6 

b)  "/o 

0.3 

1,5 

7.5 

0,3 

7,8 

0,6 

1,5 

3,9 

2,1 

4,5 

1,2 

3,0 

0,6 

2,4 

0,3 

0,3 

1,8 

II.  T.Klassen: 

a)  Zahl 

— 

3 

52 

12 

2 

1 

7 

20 

21 

2 

2 

3 

24 

— 

6 

b) 

— 

0,9 

15.6 

3,6 

0,6 

0.3 

2.1 

6,0 

6,3 

0,6 

0,6 

0,9 

7.2 

— 

1,8 

Knaben: 

a)  Zahl 

1 

6 

53 

1 

16 

3 

3 

8 

3 

7 

5 

2 

3 

27 

1 

1 

7 

0,3 

1,8 

15,9 

0,3 

4,8 

0,9 

0,9 

2,4 

0,9 

2,1  1,5 

0,6 

0,9 

8,7 

0,3 

0,3 

2.1 

Midcbn: 

a)  Zahl 

_ 

2 

24 

1 

22 

1 

3 

2 

4 

29 

1 

10 

2 

5 

5 

b)  ^'/o 



0,6 

7,2 

6,6 

0,3 

0,9 

3,6 

7.2  8,7 

0,3 

3,0 

0,6 

1.5 

KaÜioOken: 

a)  Zahl 

1 

7 

55 

1 

28 

3 

6 

14 

27 

17 

5 

10 

3 

18 

1 

1 

7 

b)»/. 

0,3 

2,1 

16,5 

0,3 

8,4 

0^ 

M 

8,1 

5,1 

1,5 

3,0 

0,9 

5,4!  0,3 

0,3 

AofeGsImten: 

• 

a)Zibl 

1 

22 

10 

1 

1 

6 

19 

1 

2 

2 

14 

0,3 

6,6 

3,0 

0,3 

0,3 

1,8 

5,7 

0,3 

0,6 

0,6 

4,2 

z\ 

■ 

. 

■  « 

-  ifl 

»fr 

r 

•)  Unter  »nationaler  Thätigkeit"  ist  die  Förderung  desVolkswohles  (im  weite- 
sten Sinne)  seitens  der  genannten  K^enten  und  Fürsten  zu  verstehen.  Der  gewählte 
Ausdruck  maf  vielleicht  nicht  so  ganz  exakt  und  eindeutig  sein,  aber  er  oezeich- 
net  die  von  den  Kindern  in  diesem  Betreff  anscfebenen  urfinde  wohl  am  besten. 


Digitized  by  Google 


Die  JdeaLi  dir  Kinder. 


55 


19. 


SS 

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1  • 

1  ^ 

1  L> 

X 
X 

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w 

X 

XXIII.  Wahrhaftigkeit  j 

j   XXIV.  Musikalisch  j 

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X 

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X 

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X 

1 

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1  XXVI II.  Sparsamkeit  | 

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X 
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XXXII.  Relorni.itor  1 

XXX in.  Liebevoll 

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Suiuma**j 

1 

54 

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1 

1 

1 

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48 

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5 

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1 

4 

1 

1 

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1  47 

1 

4 

13 

5 

10 

1 

2 

1 

1 

1 

2 

1 

1 

hr 

1 

1 

1 

344 

0,3 

1.2 

3,9 

1,5 

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0,6 

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0,3 



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1 

0,3 

2 
0,6 

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J 

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40,8 
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3 

12 

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10 

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1 

1 

20S 

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3,6 

0,9 

3,0 

0,3 

0,3 

0,3 

0,6 

0,3 

0,3 

2,1 

0  T 

0,3 

0,3 

59,2 
(mnd  Oinu 

t 

3 

3 

4 

5 

1 

2 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

—  1 

171 

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0,9 

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1,5 

0,3 

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0,:i 

0,3 

0,3 

0,3  0,3 

0,3 

—  1 

50% 

1 

1 

10 

1 

5 

1 

7 

4 

1 

1 

1 

173 

0,3 

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1,5 

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— 

0,3 

— 

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1,2 

0,3 

0,3 

0,3 

30% 

1 

3 

i 

11 

2 

3 

1 
1 

2 

1 

1 

1 

1 

1 

7 



i 

I 

236 

0,3 

0,9 

3,3 

0,6 

0,9 

0,6 

0.3 

0,3 

0,3 

0,3 

0,3 

0,3 

2,1 

68% 

I 

2 

3 

7 

1 

- 

I 

4 

1 

1 

1 

106 

0.3 

0,6 

0,9 

2.1 
■u; 

0,3 

'1 

"^1 

0,3 

1 

1.2 

0,J 

0,3 

\ 

0,3 

1 

**)  fch  gab  die  Tugenden  so  an,  vie  die  Schölerantvoden  lauteten* 

Namen,  Annrdniinji;  und  tinteihinp  genügen  selbstverständlich  einer  wissen- 
schaftlichen tthik  nicht.   Die  Tabelle  verfolgt  ja  auch  einen  anderen  Zweck. 


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56 


b)  je  2  Stimmen:  Blücher,  Körner,  Max  d.  Gute,  die  M.  Anna, 

Eyatngelist  Johannes,  der  hl.  Joseph  (Nährvater  Christi), 
Petrns,  Hiskia,  tobias,  Klinke,  Teil;  m  Sa.  ii  Personen; 

c)  je  3  Stimmen:  tilly,  Kolumbus,  LeoXIIL,  der  hl.  Kilian, 

tlidwig^  d.  Bayer,  Friedrich  d.  Schöne,  Andr.  Hpfer, 
Abraham,  David,  die  hl.  Elisabeth,  die  Mutter,  die  Leh- 
rerin; in  Sa.  12  Personen; 

d)  je  4  Stimmen;  Prinzregent  Luitpold,  Rudolf  v.  Habsburg; 

in  Sa.  2  Personen; 

c)  je  5  Stimmen:  Ludwig  I.,  Ludwig  IL,  Max  IL,  Herzog  Maxi- 
milian; in  Sa.  4  Personen; 

fj  je  6  Stimmen:  Bismarck,  Hermann,  Wilhelm L,  Christus,  die 
hl.  Agnes;  in  Sa  5  Personen; 

g)  je  7  Stimmen:  Kurfürst  Max  Joseph,  Job;  in  Sa.  2  Personen; 

h)  je  8  Stimmen:  Königin  Luise,  Maria  (Mutter  Jesu),  die  hl. 

Blandina;  in  Sa.  3 Personen; 

i)  je  9  Stimmen:  Otto  v.  Wittelsbach,  Barbarossa,  der  ägyp- 

tische Joseph;  in  Sa.  3  Personen; 

k)  II  Stimmen:  Kurzhagen;  i  Person; 

1)  12  Stimmen:  der  Iii.  Paulus;  1  Person; 

m)  15  Stimmen:  Julius  Echter;  i  Person; 

n)  17  Stimmen:  Luther;  i  Person; 

o)  29  Stimmen:  Karl  der  Grosse;  i  Person. 

II. 

Die  vorbildlichen  Eigenschaften  dieser  Persönlichkeiten. 

Die  Kenntnis  der  vorbildlichen  Persönlichkeiten  allein 
kann  weder  den  Psychologen  noch  den  Ethiker  imd  Päda- 
gogen befriedigen.  Da  ein  und  dieselbe  Person  verschiedenen 
Individuen  aus  verschiedenen  (rründen  Ideal  sein  kann,  und 
in  gleicher  Weise  dieselbe  Eigenschaft  an  verschiedenen  Per- 
sonen vorbildlich  wirken  kann,  so  muss  es  äusserst  instruktiv 
sein,  diese  Eigenschaften,  vermöge  deren  eine  Person  eben 
zum  Ideal  wird,  zu  wissen. 

Ordnen  wir  nun  die  genannten  Tugenden  nach  der  Zahl 
der  auf  sie  gefallenen  Stunmen,  so  erhalten  wir  folgende  Reihe:* 


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57 


1  .tlit 

1 

III 

■  ■  ■* 

2 

V 

3 

X 

4 

XIV 

5 

IX. 

VIII. 

7 

XX. 

)  XII 

(  XVII 

9 

XXII 

10 

II. 

1 1 

XXXI 

12 

1  VII 

\  X!. 

13 

\^  XIII. 

/  XXI. 

U 

) 

1  XXXII. 

)  XIX. 

Tabelle  70, 


ZOA 


77 
38 
36 
32 
27 
20 
13 

ie12 

10 

8 
7 

I  je  6 
I  je  5 
je  4 


) 


23,1 
11,4 
10,8 
9,6 

8,1 
6,0 

3,0 

}je  3,6 

3,0 
2,4 
2,1 

)je  1,8 
}je  1,5 
jje  1,2 


No. 


15 

16 


Onii)|ie 


XXIV. 
XXVIII. 

I. 

IV. 

XV. 

XVI. 
XVtll. 
XXItl. 
XXV. 
XXVI. 
XXVII. 
XXIX. 
XXX. 
XXXIII. 
XXXIV. 
XXXV. 


le  2 


}je  Ofi 


je  1 


je  0,3 


Ueber  *^/r^  aller  Stimmen  fielen  auf  das,  was  ich  ,,nationale 
Thätigkeit"  genannt  habe.  Wir  sehen  also  auch  hier  den  tiefen 
ethischen  Einfluss  des  Geschichtsunterrichtes,  der  sein  Haupt- 
gewicht nicht  mehr  auf  Namen,  Zahlen  und  Memorieren  legi, 
sondern  —  wenigstens  in  der  Volksschule  —  die  geschichtlichen 
Persönlichkeiten  in  ihrem  Wirken  und  Handeln  in  anschau- 
licher Lebendigkeit  den  Schülern  vorführt,  so  dass  in  Wahr- 
heit Goethes  Wort  in  Erfüllung  geht :  „Das  Beste,  das  wir  von 
der  Geschichte  haben,  ist  die  Begeisterung,  die  sie  in  uns 
weckt."  An  zweiter  und  dritter  Stelle  erscheinen  zwei  Tugen- 
den, welche  den  Kindern  in  dem  Religionsunterrichte  ins  Herz 
gepflanzt  wurden:  „Frömmigkeit  (Heiligkeit)*'  und  „Glaubens- 
festigkeit" ;  aber  beide  zusammen  erreichen  nicht  die  Zahl  der 
Gruppe  HL  „Tapferkeit  und  Mut",  zwei  Eigenschaften,  die 
Lektüre  und  Geschichte  oft  lobend  hervorheben  und  die  ohne: 
dies  jedem  Menschen  sympathisch  sind,  rangieren  an  fünfter 
Stelle.  Nach  ihnen  kommt  mit  noch  6  o/o  die  „Keuschheit  (Un- 


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58 


jfoh.  Inedncßi. 


schuld)** ;  dass  diese  so  verhältnismässig  wenig  genannt  wurde, 
ist  vielleicht  auf  das  noch  nicht  vollständige  Erfassen  ihres 
Wertes  und  ihrer  Bedeutung  seitens  der  Kinder  zurückzuiiihren. 


Tabelle  2l. 


Klasse 

Omppe 

Zahl 

Differenz 
in  «/• 

VI. 
VII. 

III. 

25 
52 

7,5 
15,6 

+  8,1 

— . 

VI. 
VII. 

V. 

26 
.  12 

7,8 
3,6 

+  4,2 

VI. 
VII. 

IX. 

7 
20 

2,1 
6,0 

+3,9 

VI. 
VIL 

XIL 

10 

2 

3,0 
0,6 

+  2,4 

VL 
VII. 

XIV. 

8 
24 

2,4 
72 

+  4.8 

VI. 
VII. 

XX. 

1 

12 

0,3 
3,6 

+  3,3 

VI. 
VII. 

XXII. 

0 
10 

0 
3,0 

+  3,0 

VL 
VIL 

XXXI. 

0 
7 

0 
2,1 

+  2,1 

VI. 
VIL 

X. 

15 
21 

4,5 
6,3 

+  2,1 

Von  No.  6  ab  werden  die  erhaltenen  Zahlen  und  Prozente 
so  klein,  dass  man  fast  von  einer  Zersplitterung  sprerhen 
könnte.  Aber  immerhin  wiire  es  ungerechtfertigt,  die  angege- 
benen Tugenden  als  Zufallsmeinungen  hinzustellen;  die  Indivi- 
dualitäten der  Kinder  sind  schon  eben^^o  mannigfaltig  wie  die 
der  Erwachsenen  und  ihre  Beobachtung  und  Auffassung  ethi- 
scher Verhältnisse  nicht  minder  scharf. 


Die  Ideale  der  Kinder, 


59 


Die  hauptsächlichsten  I^ntcrschiede,  welche  durch  das 
Alter  bedingt  sind,  und  in  den  Differenzen  zwischen  den 
Summen  der  sechsten  und  siebenten  Klassen  zum  Ausdruck 
kommt»  sind  bei  folgenden  Tugenden  zu  finden. 


Tabelle  22. 


Ge- 
schlecht: 

Gruppe 

Zahl 

0/« 

Differenz 
in  % 

K. 
M. 

III. 

53 
24 

159 
7,2 

4-  R7 

K 
M. 

V. 

16 
22 

84 
6,6 

+  1,8 

M. 

IX. 

24 

OQ 
7,2 

+  8,1 

K. 
M. 

X. 

7 
29 

2,1 

+  6,6 

K. 
M. 

XH. 

2 
10 

0,6 
3,0 

+  2,4 

IC 
M. 

XIV. 

27 
5 

8,7 
1,5 

+  7,2 

K. 
M. 

XX. 

3 
10 

0,9 
3,0 

+  2,7 

K. 
M. 

XXXi. 

0 
7 

0 
3,1 

+  2,1 

Der  grösste  Unterschied  zu  Gunsten  der  siebenten  Klassen 
macht  sich  geltend  bei  Gruppe  III;  es  steht  dies  völlig  in  Pa- 
rallele mit  dem  im  i.  Teile  der  Arbeit  erhaltenen  Resultate. 
Hier  wie  dort  ist  es  die  Geschichte,  welche  dir  alteren  Kinder 
mehr  fesselt.  Auch  in  Gruppe  XIV.  („Tapferkeit,  Mut")  wei- 
chen die  jüngeren  Kinder  den  älteren  um  4,8  0/0  zurück;  die 
körperliche  Entwickelung  mag  den  Hauptgrund  abgeben  für 
diese  Erscheinung.  Ueberlegcn  um  4,2  0/0  sind  die  sechsten 


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60 


Klassen  den  siebenten  in  Grappe  V  („Fxdmmigkeit,  Heilig* 
keif);  ob  wohl  hier  die  Ursache  zu  finden  ist  in  dem  Um- 
stände, dass  ältere  Kinder  schon  mehr  im  Getriebe  des  Lebeiis 
stehen  als  jüngere? 

Auch  der  Einfluss  des  Geschlechtes  macht  sich  gel- 
tend» wie  uns  aus  Tabelle  22  zu  ersehen  ist. 


Tabelle  23. 


Kon- 

Oruppe 

Zahl 

Diffomz 
in  % 

K. 
P. 

II. 

7 
1 

2,1 
0,3 

-f  1.8 

K. 
P. 

Iii. 

55 
22 

165 
6,6 

+9.9 

K. 
P. 

V. 

28 
10 

8,4 
3,0 

+  5^4 

K. 
P. 

VIIL 

14 
6 

4,2 
1,8 

+  2,4 

K. 
P. 

IX. 

27 
0 

8,1 
0 

+  8,1 

K. 
P. 

XII. 

10 

2 

3,0 
0,6 

+  2,4 

K. 
P. 

XVII. 

3 
7 

0,9 
2,1 

+  1,2 

K. 
P. 

XXXII. 

0 
4 

0 
1,2 

+  l|2 

Die  Knaben  sind  um  Z,7  0/0  bezw.  7,2  0/1»  mehr  beteiligt 
in  den  Gruppen  II  (»»nationale  Thätigkeit)  und  XIV.  (,|Tapfer- 
keit,  Mut'*),  Die  Mädchen  be^'onugen  hingegen  religiöse  und 
sympathetische  Tugenden,  wie  Unschuld,  Keuschheit,  Glau- 
bensfestigkeit, Treue,  Fleiss,  Elternliebe,  Demut  u.  a.  Diese 
Differenzen  zwischen  den  Geschlechtem  sind  so  allseitig  be- 


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61 


kannt,  dass  es  nicht  nötig  sein  wird,  die  psychologischen  und 
physiologischen  iUrsachen  hierfür  zu  wiederholen. 

Auffallender  Weise  treten  auch  bei  den  Konfessionen 
Unterschiede  zu  Tage.  Da  die  Deutung  hier  besonders  schwie- 
lig ist,  und  man  leicht  zu  schiefen  Auslassungen  kommen  konnte^ 
so  seien  die  diesbezüglichen  Daten  einfach  wiedergegeben, 
ohne  dass  besondere  Schlüsse  hieraus  gezogen  würden. 

Weiter  oben  wurde  schon  einmal  betont,  dass  emunddie- 
selbe  Persönlichkeit  aus  verschiedenen  Gründen  als  Idealge- 
stalt  betrachtet  werden  kann.  Zur  lUustrierung  dieser  That- 
Sache  wollen  wir  die  Person  Karls  des  Grossen  herausgreifen. 
Derselbe  wurde  von  29  Kindern  als  vorbildliche  Persönlichkeit 
genannt.  Die  Gründe  hierfür  sind  folgende : 

1.  Er  sorgte  für  des  Volkes  Wohl,  indem  er  Schulen  er- 
baute, Kirchen  errichtete  und  die  Dreifelderwirtschaft  ein> 
führte. 

2.  Dieser  Fürst  that  vieles  für  sein  Volk,  für  Schulen,  Han- 
del und  Verkehr» 

3.  Dieser  Kaiser  machte  sich  den  Vorsatz,  seine  Macht  und 
sein  Land  zu  vergrössern.  Nach  Ablauf  des  Schuljahres  will 
ich  auch  darnach  trachten,  meinen  Beruf  zu  vergrössern. 

4.  Schon  als  Jüngling  gab  sich  Karl  die  Mühe,  das  Reiten 
und  FechSten  zu  erlernen.  Er  sah  auf  die  Erziehung  seiner 
Kinder;  die  Söhne  mussten  reiten  und  mit  auf  die  Jagd  gehen. 

5.  Karl  war  nicht  nur  ein  mäc^iger  Beschützer  der  Kirche, 
sondern  auch  ein  weiser  Herrscher  und  bekehrte  mehrere  Völ- 
ker zum  Christentum. 

6.  £r  war  so  einfach  und  sparsam. 

7.  £r  war  ein  Beschützer  der  Kirche  und  ein  weiser 
Herrsdier. 

8.  Er  war  ein  Gründer  der  Schulen  und  Kirchen. 

9.  Wegen  semer  Frönunigkeit  und  Tapferkeit. 

10.  Weil  er  ein  tüchtiger  Regent  war. 

11.  Weil  er  viele  Klöster  und  Bistümer  errichtete. 

12.  Er  war  ein  tapferer  Fürst. 

13.  Weil  er  fromm,  tapfer  und  macht  ig  war. 

14.  Weil  er  gross  und  stark  war  und  die  Ordnung  im  Lande 
aufrecht  erhielt. 

15.  Er  war  ein  tüchtiger  Fürst. 

16.  Weil  er  das  deutsche  Reich  ausdehnte. 


62 


yoh.  trUdrich. 


17.  lir  war  ein  tapferer  Fürst. 

18.  Weil  er  eine  grosse  Gestalt  hatte. 

19.  Er  Hess  seine  Kinder  in  allen  Sachen  unterrichten  und 
gründete  Schulen. 

20.  Weil  er  für  das  Christentum  eiferte  und  dem  hl.  Vater 
beistand. 

21.  Weil  er  ein  frommer«  fleissiger,  tüchtiger^  sparsamer 
und  guter  Regent  war. 

22.  Er  war  ein  braver  König  und  hatte  ein  grosses  Reich. 

23.  Weil  er  so  edel,  schlicht,  tapfer,  fromm  und  ein  echter 
Deutscher  war. 

24.  Er  hat  sich  ein  grosses  Reich  erworben. 

25.  Weil  er  fromm,  edel,  tapfer  und  klug  war. 

26.  Weil  er  ein  braver,  tapferer  und  sittsamer  Mensch 

war. 

27.  Er  hat  das  Christentum  beschützt. 

28.  Weil  er  einfach  und  tapfer  war  und  damals  das  grösste 
Reich  hatte. 

29.  Weil  er  sehr  sparsam  und  kühn  war. 

Das  Vorbild,  welches  sich  jemand  wählt,  steht  in  inniger 
Beziehung  zu  seinem  eigenen  Charakter.  Ein  Musiker  wird 
sich  einen  Musiker,  ein  Staatsmann  einen  Staatsmann,  ein  Ge- 
duldiger einen  Geduldigen,  ein  Jähzorniger,  der  sich  bessern 
will,  einen  Sanftmütigen  wählen  u.  s.  f.  Auch  die  Kinder  ver- 
fahren so.  Die  Beobachtungen,  die  der  Lehrer  über  den  Cha- 
rakter eines  Kindes  im  Laufe  der  Schulzeit  machte,  werden 
harmonieren  mit  den  Schlüssen,  welche  aus  dem  Vorbild  eines 
Kindes  auf  seinen  eigenen  geistigen  Habitus  gemacht  werden 
können.  Zu  diesem  Zwecke  ging  ich  mit  den  Lehrern  die  Ant- 
worten der  Schüler  durch,  und  wir  fanden  so  eine  Zahl  sehr 
markanter  Fälle,  von  denen  mehrere  mitgeteilt  seien. 

1.  Ein  Schüler  wählte  sich  Karl  den  Grossen  aus  dem 
Grunde,  weil  er  eine  grosse  Gestalt  hatte.  Dieser  Schüler  ist 
aber  selbst  der  Grösste  in  der  Klasse.  Sein  eigenes  Charakter* 
istikum  übertrug  er  also  auch  auf  sein  VorbUd. 

2.  Ein  Knabe  schrieb:  „Mein  Vorbild  ist  Christus,  weil  er 
so  geduldig  war."  Diesem  Knaben  geht  es  nun  zuhause  recht 
schlecht;  er  muss  viel  arbeiten  und  erhält  dazu  oft  Schläge. 
Auf  diese  Weise  muss  er  sich  selbst  in  der  Geduld  üben. 


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Die  Ideale  der  Kinder, 


63 


3.  Zwei  Knaben  wählten  sich  den  Fürstbischof  Julius  Ech- 
ter von  Mcspelbrunn,  weil  er  die  Protestanten  aus  dem  Lande 
vertrieb.  Beide  stammen  aus  sehr  streng-katholischen  Faroi* 
lien;  der  Bruder  des  einen  ist  katholischer  Geistlicher,  der  an- 
dere ist  Ministrant. 

4.  Derselbe  Fürstbischof  wurde  von  einem  dritten  Knaben 
genannt,  weil  er  das  Juliusspi'nl  errichtet  hat.  Es  stellte  sich 
heraus,  dass  die  Schwester  des  Knaben  einmal  in  diesem  Spi- 
tale  verpflegt  wurde. 

5.  Ein  als  gewaltthätiger  und  wilder  Bursche  geschilderter 
Junge  schrieb :  „Mein  Vorbild  ist  Hermann  der  Cherusker,  weil 
er  so  gut  die  Kriege  zu  führen  wusste." 

6.  Ein  Mädchen,  das  für  nicht  so  bescheiden  gilt,  wählte 
sich  die  Mutter  Gottes,  wegen  ihrer  Demut  und  Bescheidenheit. 

7.  Zwei  Mädchen  wählten  sich  David;  das  eine  deshalb, 
weil  er  sich  nicht  fürchtete  und  den  Goliath  erschlug,  Idas 
andere,  weil  er  so  reumütig  war.  Ersteres  stammt  aus  einer 
etwas  rohen  Familie  und  ist  selbst  roh  angelegt,  letzteres  wurde 
in  einer  Diakonissenanstalt  erzogen  und  ist  fromm  und  religiös. 

8.  Ein  sehr  armes  Mädchen  schrieb:  ,,Mein  Vorbild  ist 
Tobias,  \\v\\  c;i  gegen  die  Aimen  barmherzig  war  und  die 
Toten  begiub." 

9.  Unter  den  Kindern,  welche  Kurzhagen  seiner  Ehern- 
hebe wegen  aufstellten,  sind  ein  Knabe,  dessen  Mutter  ihn  ver- 
liess,  und  der  sich  mm  bei  Pfltgeeilern  befindet,  und  ein  Mäd- 
chen,  dessen  beide  KUern  tot  sind. 

10.  Einem  gemütvollen  Mädchen  gefiel  besonders  eine 
Stiefmutter  (Gruppe  B),  welche  gegen  ihre  Stiefkinder  recht 
gut  war.  Die  Eltern  des  Mädchens  leben  noch ;  aber  in  seinem 
Hause  wohnte  eine  Stiefmutter,  welche  ihren  Stiefknaben 
schlecht  behandelte. 

11.  Ein  praktisch  veranlagter  Knabe,  der  als  kleiner  Aus- 
läufer in  einem  Geschäfte  sich  einige  Pfennige  zu  verdienen 
weiss,  wählte  sich  den  Erzgiesser  Miller;  denn  die  Erzgiesserei 
sei  ein  gutes  Geschä;ft>  bei  dem  sich  viel  Geld  erwerben  lasse. 

Unsere  Untersucuhng  zeigt  durchgehend  die  Macht  des 
Beispiels.  In  dieser  Hinsicht  brachte  sie  scheinbar  also  nichts 
neues.  Denn  im  allgemeinen  war  man  ^ich  in  der  Pädagogik 
der  Bedeutung  des  Beispiels  völlig  klar,  und  es  gab  Erziehungs- 


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ytk.  Medrtek. 


lelunen,  welche  mit  zwei  oder  mehr  Seiten  voU  Sinnsprüchen  aus 
Bibel,  Dichtungen  und  pädagogischen  Werken  den  angehenden 
Lehrern  'die  Wichtigkeit  des  Beispiels  vor  Augen  führten. 
Durch  die  eingehende  Darstellung  der  Resultate  vorliegender 
Untersuchung  wird  nun  im  eimeinen  gezeigt,  wie  Persönlich- 
keiten auf  das  Kind  wirken,  welche  Tugenden  anziehen  und 
in  weicton  Masse  bei  diesem  Vorgänge  Alter,  Geschlecht,  Kon- 
fession und  individuelle  Eigenschaften  beteiligt  sind. 

Man  könnte  in  pädagogischen  Kreisen  vielleicht  versucht 
zu  sein,  zu  fragen:  Welche  besondere  pädagogische  I^hre 
ist  aus  dieser  Üntersuchung  zu  ziehen?  Dem  mag  entgegen 
gehalten  werden,  was  Ziehen  s&gt;  nämlich,  dass  die  eiqieri* 
mentelle  Psychologie  keine  Maschine  sei,  bei  der  maii  auf  der 
'  einen  Seite  einen  psychologischen  Versuch  hineinwirft  und  auf 
der  anderen  Seite  ein  pädagogisches  Rezept  erhält.  Dochlasisen 
sich  immerhin  folgende  Behauptungen  und  Forderungen  durch 
unsere  Untersuchung  stützen : 

1.  Der  Geschichtsunterricht  ist  ein  Gesinnungsunterricht; 
nach  diesem  Gesichtspunkte  ist  er  zu  retürrnieren  und  zu  er- 
teilen. 

2.  In  der  Religionslehre  hat  das  Gemütbildcndc  hinter  das 
Verslandesmässige  zu  treten. 

3.  Die  Lektüre  der  Kinder  ist  sorgfältig  zu  prüfen  und  zu 
überwachen. 

4.  Die  Umg-ebung  des  Kindes  soll  sich  beüeissigen,  stets 
ein  gutes  Beispiel  zu  geben. 

5.  Es  verdient  eine  eingehende  Ueberlegung  die  Furage, 
ob  sich  in  den  oberen  Schulst u Jen  der  Unterrichtsstoff  nicht 
der  Eigenart  der  .Geschlechter  anzupassen  habe. 

Für  die  erziehliche  Wirksamkeit  des  Lehrers  wäre  es  ge- 
wiss recht  vorteilhaft,  die  Ideale  der  Kinder  seiner  Klasse  zu 
kennen,  namentlich  in  den  oberen  Jahrgängen  konnte  es  seiner 
Thätigkeit  nur  erspriesslich  sein. 

In  diesem  Sinne  diene  vorliegende  Untersuchung  zur  An- 
regung. 

\  i 


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Verein  für  Klnderpsychelo^le  zu  Berlin. 

VII.  Sitzung  vom  17.  Desember  1900. 

Beginn;  bi*  Uhr.    Vorsitzender:  Herr  Stumpf.  Schri{ttührcr: 

iierr  11  i  r    c  h  1  a  t  i. 

Nach  einigen  einleitenden  Worten  des  Vorsitzenden  hält  Herr  A.  B  a  - 
«insky  den  angekündigten  Vortrag  ,,Uehisr  Suggestion  bei  Kindern". 

Diskussion:  Herr  Leuchter:  Stehen  Erfahrungen  fest,  von  wel- 
chem Alter  ab  eine  Autosuggestion  angenommen  werden  kann,  und  von  wel- 
chem Alter  ab  man  auf  Kinder  suggestiv  einzuwirken  vermag!  Muss  di« 
Suggestion  durch  Worte  geschehen? 

Herr  A.  Baginsky  glaubt,  dass  mit  Sicherheit  nicht  viel  jüngere 
Kinder  als  von  drei  Jahren  auf  diese  Weise  beeinflusst  werden  können.  Viel- 
leicht aber  Hesse  es  sich  auch  schon  bei  jüngeren  Kindern  nachweisen,  da 

ja  schon  Kinder  im  ersten  Lebensjahre  psj'chisch  zu  beeinflussen  seien,  wie 
z.  B.  die  GcwöIinunR  scchsmonatliclier  Kinder  an  Sauberkeit  u.  dergl.  beweist. 

Herr  Leuchter:  lit  es  als  Suggestivwirkung  auszulassen,  wenn 
der  schreiende  Säugling  sich  beruhigt,  trotzdem  er  statt  der  Milehflasch« 
den  leeren  Pfropfen  bekommt!  Dann  wäre  jedenfalls  eine  suggestive  Ein- 
wirkung schon  sehr  viel  frilher  möi^ich,  als  in  drei  Jahren. 

Herr  Stumpf  würde  diese  Erscheinung  als  Suggestivwirkung  be- 
acichnen.  Doch  liesse  sidi  der  Begriff  der  Suggestion  schwer  fixieren. 

Her  H  e  u  b  n  e  r:  Die  erste  Rubrik  der  im  Vortrag  aufgeführten  Falle 

gehört  in  das  grosse  Gebiet  der  Hysterie.  Ein  geistreicher  Neurologe  der  Neu- 

2eit  hat  gesagft:  hysterisclie Erscheinungen  sind  solche  Erscheinungen,  die  durch 
Vorstellungen  bedingt  sind.  Atirh  für  den  Begriff  der  Suggestion  sind  Vor- 
stellungen erforderlich.  Aber  es  giebt  bewu^sle  und  unbcwusste  Vorstel- 
lungen. Das  krankhafte  Symptom  kann  auch  durch  unbewusste  Vorstel- 
lungen entstehen.  Daher  gestaltet  sich  die  ätiologische  Erforscbunf  der 
Hysterie  der  Erwachsenen  und  Kinder  besonders  schwierig.  Redner  ver- 
weist auf  die  neueren  Arbeiten  von  Möbius  u.  a.  über  dieses  Gebiet.  Aus 
seiner  cipenen  Erfahrung  teilt  er  zwei  besonders  instruktive  Fälle  mit.  Der 
erste  betritlt  ein  Kind,  das  mit  der  Diagnose  „Rückenniarkscrweitcrung" 
in  die  Klinik  eingclietert  worden  war.  Es  zeigte  eine  schlaffe  Lähmung 
beider  Bdne  und  auch  sonst  genau  die  Ersdieinungen,  die  man  bei  dieser 
schweren  organischen  Affektion  zu  finden  pfiegt.  Erst  bei  der  elektrischen 
Untersuchung  stellte  sich  das  Irrige  der  Diagnose  heraus,  indem  der  Knabe 
atls  dem  Bette  sprang  und  davonlief.  Der  Knabe  war  9—10  Jahre  alt.  Formeln 
man  nun  nachr  der  Ur«ache  dieser  rätselhaften  Erscheinung,  so  stellt  sich 
folgendes  heraus:  Der  Knabe  war  gestürzt  und  hatte  Geschichten  gehurt, 
wie  ein  anderes  Kind  nach  einem  solchen  Sturz  unglücklich  geworden  war; 

Zettschrift  für  pädagogische  Psycliologie  und  Pathologie.  5 


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iniolgcdcssen  wurde  bei  ihm  mit  jedem  Tage  der  Gang  schlechter,  bis  zur 
vollständigen  Lähmung  der  Beine.  Die  erst  bewusste  Vorstellung  sank  danu 
ins  Unbewusste.  Der  zweite  Fall  betraf  einen  russischen  Knaben,  der  be> 
harrlich  jede  Nahrungsaubiahme  verweigerte,  also  an  einer  sogenannten  hyste- 
rischen Anorexie  litt.  Als  Ursache  stellte  sich  heraus,  dass  der  Knabe,  der 
mit  einem  reichlichen  Fettpolster  versehen  war,  deswegen  von  seinen  Kame- 
raden gehänselt  und  gehöhnt  worden  war.  Da?  ist  freilich  nur  der  aus- 
losende Punkt,  es  muss  vor  allem  eine  PradispOMiion  da  sein. 

Herr  Th.  Fla  tau:  Es  handelt  sich  vor  allem  darum,  den  Begriff 
der  Suggestion  zu  präzisieren;  denn  es  besteht  die  CSefahr  einer  unzulässigen 
Verallgemeinerung  dieses  Begriffes.  Der  Begriff  der  Suggestion  ist  aas- 
gegangen  von  der  Hypnose;  erst  Spater  wurde  er  auch  auf  Phänomene  aus- 
gedehnt, die  atisscrhalb  der  Hypnose  Ingen.  Sieht  man  ab  von  den  hyp- 
noiden  Zuständen,  die  ohne  Einwirkung'  cinc?^  anderen  entstehen,  so  kann 
man  sagen,  die  Hypnose  ist  eine  Einstellung  einer  Person  unter  solche  Ver- 
hiltmsBc,  dass  die  Suggcstibilität  der  Person  erhöht  wird.  Nun  ist  es  freilich 
sehr  schwer,  die  psychischen  Zustande  zu  analysieren,  die  bei  Erscheinungen 
auftreten,  wie  sie  vom  Vortragenden  geschildert  worden  sind;  denn  es  fehlt 
uns  die  Kenntnis  des  Individuums  vor  der  Krankheit.  Zudem  sind  die 
Erscheinungen  der  Suggestion  ebenso  wie  diejenigen  der  Hysterie  äusserst 
vielgestaltig  und  unklar.  Sofern  die  Suggestion  bei  der  Erziehung  in  Betracht 
kommt,  handelt  es  sich  dabei  utn  die  künstliche  Erregung  von  Lust-  oder 
Unlustgefählen,  die  an  bestimmte  Vorstellungen  angdcnupft  werden.  So  ist 
die  Beruhigung  der  Säuglinge  zu  verstehen,  wenn  sie  den  leeren  Pfropfen  in 
den  Mund  bekommen.  Im  übrigen  wäre  es  wünschenswert,  den  Begriff 
der  Siiggestimi  noch  schärfer  zu  fassen,  so  da'^s  die  täglichen  Vorgänge  des 
Lebens  und  der  Er/ichung  nicht  ohne  weiteres  daruiitir  vw  reihen  smd. 

Herr  Münch  daukt  dem  Vortragenden  im  Namen  der  Pädagogen 
für  die  lehrreichen  Ausführungen*  Nur  zu  häufig  sind  die  Lehrer  geneigt, 
Simulation  anzunehmen,  wo  in  Wirklichkeit  krankhafte  Erscheinungen  vor- 
liegen; ebenso  wie  die  Militärärzte  auch.  Es  gielu  ja  auch  Lehrer,  die  viel 
vom  Unteroffizier  an  sich  h  ilcn  und  jedes  Unwohlsein  der  Kinder  zunächst 
für  Simulation  halten.  Die  Seele  <le<  Kindes  ist  doch  viel  geheimnisvoller, 
als  es  den  .^n^chrin  hat:  daher  heilst  es.  Vorsicht  üben  bei  der  Beurteilung 
der  Kinder.  Liest  njan  die  Darstellung  der  Kinderfehler,  wie  sie  von  Strümpell 
und  Koetzle  und  von  Stolz  (Charakterfehler  der  Kmder)  gegeben  worden  sind, 
so  erscheint  uns  die  Sache  zunächst  sehr  schrecklich,  aber  in  Wahrheit  ist 
es  nicht  so  schlimm.  \'ielo  dieser  Kinderfehler  sind  für  uns  nicht  so  sehr 
Gegenstände  des  Tadels  und  des  Absehens  als  vielmehr  Probfeme,  die  uns 
die  .-Xuigaben  der  I'.r^iehung  interessanter  vuid  bcfriedieender  ^e^italtcn.  Deno 
nichts  ist  so  fesselnd,  als  die  Umbildsamkeit  jugendlicher  Menschen  zu  be- 
obachten. Das  Abnorme  ist  geradezu  ein  Stück  der  Poesie  der  Jugend  für 
die  Pädagogen.  Zum  Schlüsse  streift  Redner  mit  einigen  Worten  die  Schul- 
arztfrage und  weist  an  der  Hand  des  vom  Vortragenden  gegebenen  Beispiele? 
darauf  hin,  wie  nfitzlich  und  notwendig  eine  Belehrung  der  Lehrer  durch 
die  Aerzte  sei 

Herr    Kenisies:     Am    incre^'-antesten    und    zugleich    der  Er- 
klärung  am   schwierigsten   zugängUcli   sind   die   psychosenen  Störungen 


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der  Kinder,  wie  sie  von  Spitzner,  dem  Bearbeiter  der  zweiten  Auf- 
lage des  Strümpeirschcn  Buches,  besonders  eingehend  dargestellt  worden 
sind.  Es  handelt  sich  um  Störungen,  die  durch  Vorölcllungen  bedingt  sind. 
Beispiel:  Ein  Knabe,  der  seine  Lektion  kann,  bleibt  plötzlich  stecken  und  ver- 
wirrt sich.  Wir  wenden  eine  suggestive  Behandlung  an,  indem  wir  hier  nicht 
Lust  und  Unlustgefühle  erwecken,  wie  Herr  Flatau  meint,  sondern  Iruherc 
Bewusstseinszustande  hervorzurufen  suchen.  Es  sind  dies  psychische 
Störungen,  hervorpcnifen  und  beseitigt  durch  p>\ elii>clie  .\k(c. 

Herr  T  Ii  Flatau  U  ut  diese  Einwirkung  für  leicht  verständlich,  da 
hier  eine  Siurung  ausgeschaltet  wird. 

Herr  Stumpf  erörtert  den  Begrif!  der  Suggestion.  Eine  blosse 
Erweckung  von  Vorstellungen  ist  noch  keine  Sufl^^tion.  Vielmehr  muss 
man  unterscheiden  zwischen  Vorstellungen  einerseits  und  den  Glauben  an 
das  Vorgestellte  andererseits;  auf  den  letzteren  Sachverhalt  komme  es  bei  der 
Suggestion  an.  Hierdurch  kann  man  auch  Affekte  und  VVillensakte  sugge- 
rieren. Schwierig  ist  <'.ic  Erklanmg,  wie  die  Entstehung  des  Glaubens  etc. 
durcii  Suggestion  un'-^-'  '  ieden  werden  kann  von  den  auf  noiinak-  Weise  ent- 
standenen Ueberzeuguagcn.  Im  allgemeinen  wird  daran  tcstzuiialtcn  sein, 
dass  es  sich  um  eine  Entstehung  auf  „nicht-sachliche"  Weise  handelt  Redner 
erinnert  z.  B,  an  die  Täuschungen,  die  in  der  Hypnose  möglich  sind.  Dagegen 
liegt  keine  Suggestion  vor,  wenn  man  einem  Knaben  gütlich  zuredet,  der 
deprimiert  ist,  und  ihn  dadurch  von  seiner  Verwirrung  abbringt.  Die  Erweite- 
rung des  Begriffe«;  der  Suggestion,  wie  sie  von  Schmidkunz.  Tardc  u.  a.  vor- 
genommen worden  ist,  hält  Stumpf  für  fehlerhaft  und  missbrauchlich.  Eine 
scharfe  Abgrenzung  gegen  andere  Begriffe  ist  unbedingt  erforderlich;  die 
Hervorhebung  der  nicht  sachlich  motivierten  Entstehung  der  betreffenden 
Erscheinungen  sollte  nur  eine  Andeutung  in  dieser  Beziehung  sein. 

Herr  Münch:  Der  Begriff  der  Suggestion  wird  ausserhalb  Deutsch- 

l.-inds  viel  weiter  gc'asst,  als  b  i  im-.  Das  ist  ein  grosser  Ucbclstand.  der 
sich  übrigen?  auch  bei  anderen  liegriffen  bemerkbar  macht.  Bei  vielen 
Schriftstellern  wird  a!s  .Sim^esi lon  jede  EiTipHnnrnii},^  einer  Vursicliung, 
Stimmung  etc.  von  einer  Person  in  die  andere  angesehen.  Hier  ist  eine 
schärfere  Bestimmung  erforderlich. 

Herr  A.  B  a  g  i  n  &  k  y  betont  in  seinem  Schlussworte,  auch  er  sei 
gegen  die  Ausdehnung  des  Bcgrififes  der  Suggestion  auf  die  Erziehung.  Bei 
dem  Vorgange  der  Suggestion  geschehe  etwas  besonderes:  eine  Einschrän- 
kung yon  Associationsvorsteltungen,  so  dass  eine  Vorstellung  die  beherr- 
schende wird  und  die  anderen  ausgeschaltet  werden.  Diese  Einschränkung  auf 
einen  bestimmten  Punkt  und  das  daraus  folgende  Niederhalten  aller  übrigen 
Vorstelhmgcn  sei  das  Wesentlielie  l)ei  dem  Vorganpe  der  Suggestion.  Aller- 
dings dürfe  man  dieses  Prinzip  nicht  ausdehnen  aui  alle  Vorkommnisse  im 
Leben  und  in  der  Erziehung.  Bei  ersterer  will  der  Lehrer  z.  B.  zumeist  gerade 
umgekehrt  Associationen  erwecken  und  verknüpfen.  Vielfach  wirkt  übrigens 
das  Milieu  so  wunderbar,  wie  z.  B.  in  Lourdes.  da^s  alle  anderen  Vorstellungen 
dadurch  ausgeschaltet  werden.  Suggestive  Einwirkungen  auf  ganze  \^^lker- 
schaften  und  Völkerschichten  sind  wohl  möglich;  es  handelt  sich  dabei  um 
voreingenommene  Begriffe,  die  die  Leute  derartig  gefangen  nehmen,  dass 

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kein«  anderen  Vorstellungen  dagegen  aufkommen  können.  So  erklaren  sich 

die  unbewusst  geleisteten  Falscheide  in  manchen  als  causes  ceUbres  behan<* 
delten  Prozesse,  die  oft  viel  Uns^lück  anrichten.  — 
Schluss  der  Disktissioti  Uhr. 

Es  folgt  der  zweite  Punkt  der  Tagesordnung;  Die  Berichterstattung 
des  Vorsitzenden  über  das  abgelaufene  Vereinsjahr. 

Der  Vorsitzende  giebt  einen  Rückblick  über  die  Entwickelung  des 

Vereins  in  seinem  ersten  Lebensjahr,  insbesondere  über  die  Vortragsthemata, 
und  teilt  mit,  dass  die  Sitzungsberichte  zusammengeheftet  nebst  einem  Mit- 
gliederverzeichnis  an  die  MigHeder  versandt  werden  sollen.  Die  Vorträge 
aber  sollen,  naclidem  sie  gedruckt  sein  werden,  in  einem  Sammelbande  ver- 
einigt den  Mitgliedern  zu  dem  Preise  von  1  Mark  zugänglich  gemacht  werden» 
während  sie  an  Nichtmitglieder  zu  einem  höheren  Preise  verkauft  werden. 
Schluss  der  Sitzung:  9  Uhr  40  Min. 

"St 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  25.  Oktober  1900.  Vorsitzender:  Proiessor  Dessoir, 
Schriftführer:  H.  Giering.  —  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Turck 
(aus  Jena):  IMe  Psychologie  des  Genies  in  Goethes  Paust 

Tfirck  geht  aus  von  Goethes  eigenen  Definitionen  vom  Wesen  des 
Genies.  Das  eine  Mal  setzt  Goethe  das  Genie  gleidi  der  oProduktioiiakrafl". 
das  andere  Mal  gleich  der  „Wahrheitsliebe".  Türck  zeigt,  wie  die  eine 
Definition  mit  der  anderen  zusammenhängt:  Nur  der  besitzt  Produktions- 
kraft und  vermag:  schöpferisch  thätig  zu  sein,  der  infolge  seiner  Wahrheits- 
liebe .,die  wahre  Beschaffenheit  der  Dinge"  erkennt.  Wer  die  Dinge  nicht 
sieht,  wie  sie  wirklich  sind,  der  bewegt  sich  in  lauter  Einbildungen  und  jagt 
„Idolen,  Trugbildern  und  Gespenstern"  nach;  er  erkennt  nicht  die  springenden 
Punkte  und  weiss  nicht,  wo  dteHdiel  aninsetitti  sind,  um  schöpferisdi  wirksam 
zu  sein.  Für  Goethe  ist  aber  auch  Gott  identisch  mit  der  höchsten  Produktion;- 
kraft,  und  daher  ist  anch  das  Genie  als  schöpferisches  Wesen  ein  .\usnuss  der 
Produktionskraft  Gottes.  So  hoch  aber  aucli  das  Genie  in  «einer  sclujpferischen 
BetUätigung  steigen  mag,  immer  bleibt  auch  sein  bestes  Thun  nur  ein  Hinweis, 
ein  Qeictmis»  ein  Symbol  der  höchsten  Schöpferkraft  Gottes,  und  darum 
erklärt  Goethe  (Eckermann  2.  Mai  1624):  „Ich  habe  all  mein  Wirken  und 
Leisten  immer  nur  symbolisch  angesehen".  Dem  entsprechen  auch  die 
Worte  des  cliorus  mystictis  nin  Schluss  des  zweiten  Teiles:  „Alles  Ver- 
gängliche ist  nur  ein  Gleichnis".  Die  Idee  des  Ewigen  hebt  also  den 
genialen  Menschen  immer  wieder  über  die  endlichen  Grössen  hinweg  und 
setzt  ihn  so  in  den  Stand,  immer  wieder  von  neuem  beginnen  au  können  und 
nie  in  seiner  lebendigen  Thäligkeit  zu  erschlaffen.  Zahlreich  sind  die  Stellen, 
in  denen  dieser  Ewigkeitsdrang  und  diese  Schöpfersehnsuclii  des  Helden  im 
Faustgedicht  betont  wird.  Die  Wette  des  HHerm"  mit  Mephistopheles,  wie 


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SUsuHgsberkkie, 


69 


auch  die  Fausts  mit  dem  Teufet,  haben  gletcbfalts  zu  ihrem  Inhalt  nichts 
anderes  als  die  Betonung  der  Zugehörigkeit  Fausts,  des  produktiven  Genies, 

zum  „Herrn",  zu  der  ewigen  Produktionskraft.  Der  Herr  spricht  die  be- 
stimmte Erwartung  aus,  dass  es  Mephistophclcs  tiiclit  gelingen  werde,  „diesen 
Geist  von  seiner  Urquelle  abzuzith'n"'.  Fanst  druckt  in  meiner  Wette  dasselbe, 
nur  in  anderer,  negativer  Form  aus,  indem  er  erklart,  der  Teufel  werde  ihn 
nie  dazu  vermögen,  an  der  eigenen,  unvollkommenen  Person  oder  an  den 
vergänglichen  Gütern  und  Genössen  dieser  Welt  unbedingtes  Gefallen  zu 
finden,  denn  dann  würde  sich  der  Zusammenhang  mit  der  ewigen  Produktions- 
kraft  Gottes  ve  rlieren,  FaMst  würde  am  Stoffe  kleben  und,  statt  ein  im  eminenten 
Sinne  Tliatiger  zu  sein,  ein  Ruhender  werden;  er  würde  steh  ..benihigt  aul 
ein  Faulbett  legen  ".  Statt  in  beständigem  Schöpferdrang  über  jeden  Augen- 
blick, auch  über  den  schönsten  und  kostbarsten  immer  wieder  hinaus  zu 
streben,  einem  ewigen  Ziele  zu,  wurde  er  den  Augenblick  verweilen  heissen 
und  damit,  aus  dem  Fluss  des  lebendigen  Werdens  herausgerissen,  ein  Fer- 
tiger, Starrer  und  Toter  sein,  also  das  Prinzip  des  St.^rrcn.  Toten  und  Leeren, 
dessen  Vertreter  Mephistophelcs  ist,  als  Herrn  ancrkeiinen. 

Faust  bleibt  in  der  That  ein  ganzes  langes  Leben  hindurch  bis  kurz 
vor  seinem  Tode  das  imduktive,  eminent  thätige  Genie,  das  das  Bdse  nur 
als  Mittel  zum  Zweck  benutzt.  Im  Liebesgenuss  im  Verkehr  mit  Gretchen,  im 
Schönheitsgenuss  in  der  Verbindung  mit  Helena,  im  Thatengenuss  in  der 
Schöpfung  der  Lebensbedingungen  für  ein  ganzes  Volk,  immer  ist  l'avist  der 
„Werdende*",  wahrhaft  Aktive,  der  bei  der  innigsten  Antcilnalimc  doch 
innnerlich  niemals  mit  hincmgezogen  wird  in  die  Endlichkeit  und  Vergäng- 
lichkeit der  Erscheinungen;  denn  seinen  Liebes-,  SchÖnhcits-  und  Thaten- 
genuss nimmt  Faust  nur  als  ein  G 1  e  i  c  h  n  i  s ,  ein  5  y  m  b  o  1  einer  höchstes 
unendlichen  Liebe,  Schönheit  und  Schöpferkraft  So  bleibt  er,  der  „immer 
strebend  sich  bemüht",  im  bestandigen  Produzieren,  und  so  kann  der  ewige 
Teil  in  ihm,  der  mit  der  ewipren  Produktions^kraft  Gottes  zusammenhängt,  ge- 
rettet werden,  trotzdem  er  ganz  zuletzt  im  Slerlien  von  der  teuflischen  Sorge 
geblendet,  von  philisterhafter  Furcht  und  lioifnung  crfasst,  seine  Wette  ver- 
liert und  in  dem  „letzten,  schlechten,  leeren  Augenblick"  die  höchste  Be- 
friedigung zu  finden  meint.  Weiter  ausgeführt  sind  diese  Ideen,  zur  Er- 
klärung des  Faustgedichts  in  der  dritten  und  noch  ausfuhrlicher  in  der  vierten 
Auflage  von  Hermann  Türcks  Buch-  „Der  ^retiiak  Mensch"  und  189f), 

ferner  in  seinem  Artikel  .Die  Bedeutung  der  Magie  und  Sorge  in  Goethes 
, Faust'"  im  Goethe-jahrbuch  1''00,  sowie  in  seinem  Aufsatz  »,Zwei  der 
grössten  Menschenfeinde'  und  ihre  Rolle  in  Goethes  »Faust'*  in  Bühne  tmd 
Welt,  Band  HI,  Heft  1  und  2  vom  1.  und  15.  Oktober  1900.  Neu  ist  jedoch 
in  dem  in  der  Psychologischen  Gesellschaft  gehaltenen  Vortrag  Türck's.  dass 
er  von  Goethes  eigenen  Definitionen  über  das  Genie  ausgeht  und  damit  die 
Erklärung  des  Faust  verbindet. 


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Berichte  und  Besprechungen. 


L.  W.  Stern.  U  e  b  e  r  P  y  c  h  o  1  o  g  i  e  der  individuellen 
D  ii  i  e  r  e  n  z  e  n  (Ideen  zu  einer  „diüerentiellcn  Psychologie").  Schriften  der 
Gesellschaft  für  psychologische  Forschung.  Heft  12  (III.  Sammlung).  Leipzig. 
Verbg  von  loh.  Ambr.  Barth,  1900.  —  VIII.  u.  146  Seiten.  Preis  4.50  Mk. 

Wenn  auch  in  vorliegendem  Buche  sich  manches  Bekannte  findet,  das 
nur  in  formeller  Hinsicht  ein  Neues  ist,  so  wird  es  doch  zu  Jenen  Werken 
7u  rechnen  sein,  welche  neue  Wege  zeigen,  neue  Aufgaben  stellen,  und  neue 
Problenie  dtn  Im  «rachern  vorführen.  Es  will  eine  Psychologie  der  individuellen 
Differenzen  anbahnen  und  somit  „das  gewaltige  Problem  der  Individualität" 
zur  Losung  stellen.  Dass  diese  Aufgabe  „doppelte  Besonnenheit  und  Kritik" 
erfordert  und  dabei  „grösste  Langsamkeit  im  Vorwärtsschreiten  geboten" 
SS,  bedarf  kaum  noch  eines  Hinweises. 

Das  Buch  gliedert  sich  in  drei  Abschnitte: 

I.  Wesen.  Aufgaben  und  Methoden  der  dtfferentiellen  Psychologie 
(S.  1—40).  —  II.  Ueber  einige  Gebiete  seelischer  DlfTerenziierung  und  ihre 
experimentelle  Bearbeitung:  (S.40— 13"2,i.  —  III.  BibIiograi)hie  (133—146). 

Uns  interessiert  hier  besonders  der  I.  Abschnitt,  da  er  die  grund- 
legenden Gedanken  der  neuen  Wbsenschaft  giebt 

Der  allgemeinen  oder  generellen  Psychologie,  welche  sich  mit  der 
„schablDiiisiertcn  Menschenseele"  befasst.  reiht  sich  als  Ergänzung  an  „eine 
differentielle  Psyeliologic".  Die  Aufgaben  derselben  bilden  eine  Trias:  ,,sic 
betreffen  1.  die  Differenzen  selbst.  2.  ihre  Bedinginigeii  und  ihre  Aeusse- 
rungen".  Oder  in  Fragen:  1.  Worin  bestehen  die  Dift'ercnzen?  (DifTerenzen- 
lehre),  2.  wodurch  sind  die  Differenaen  bedingtl  (differentielle  Psychophysik), 
8.  worin  äussern  sich  die  Differenzent  (Symptomenlehre  oder  Diagnostik). 
Das  „theoretisch'ste"  aber  auch  das  „wissenschaftlich  wertvollste"  Problem 
ist  das  erste  dieser  Dreiheit.  Die  sopen.  praktische  Menschenkenntnis  ist 
nichts  weniger  als  eine  wissenschaftlifhc  Lehre  von  den  psychischen 
Differenzen.  Von  der  psychischen  Diticrcnzenkhre  verlangen  wir  vieiraehr 
folgendes:  „Auffindung  und  Beschreibung  der  wirklich  vorhandenen 
seelischen  Verschiedenheiten;  Nachweis  derselben  als  besondere  Erscheinungs- 
fonnen  jener  allgemeinen  psychischen  Elemente,  Gesetze,  Funktionen  und 
Dispositionen,  die  nn«;  die  generelle  Psychologie  kennen  lehrt;  Einordnung  dei 
psychi-M-lun  Be-^cmtlerli-jilen  in  Typen;  Untcrsucluing.  wie  aus  dein  Zu- 
sanimentrcfTen  gewisser  einfacher  Typenformen  komplexere  Typen  entstehen; 
schliesslich  Einblick  in  das  Wesen  der  Individualität,  indem  man  sie  als 
Kreuzungspunkte  verschiedener  Typen  betrachtet''  Bei  der  Bearbeitung  dieser 
Probleme  ist  stets  zu  beachten,  dass  die  Verbindung  mit  <Ut  allgemeinen 
Psychologie  gewahrt  werde.  ..Die  laienhafte  Anschauung,  dass  das  Indivi- 
duum X.  gewisse  ..Eigenschaften"  hat,  die  Y.  nicht  besitzt,  ist  aufzugeben.'* 
Die  diiTerentieile  Psychologie  hat  vielmehr  nur  das  als  „Eigenschaft"  eines 


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Berichte  und  Besprechungen. 


71 


Tilcnschen  zu  acccpticren,  ,,wa'!  sich  als  behuiKicrc  Dascinsiorni,  al$  „Varietät" 
«incr  generellen  psychischen  Eigenschatt  ausweisen  kann." 

Ordnang  in  das  flicfsende  Durcheinander  der  seelischen  Differenzen 
Iringt  der  sehr  wichtige  Hilfsbegriff:  der  Typus.  Nur  der  psychologische 
Typus  ist  hier  ins  Aoge  xtt  fassen.  „Diese  Typen  sind  nun  nicht  streng 
gegen  einander  abgegrenzte  K!a<:scn,  sondern  bezeichnen  in  dem  Kontinnnm 
■der  Variationsmoglichkeiten  nur  die  Wellen^ipfel."  Der  Inbegritt  mehrerer 
<lerselben  seelischen  Funktion  zugehöriger  Typen  sei  als  Typik  bezeichnet. 
Ein  Individuum  kann  nicht  unter  einen  Typus  restlos  eingereiht  werden. 
„In  jedem  Einzelwesen  findet  sich  eine  Mehrheit,  ja  eine  Anzahl  von  Typen 
vereinigt'*  Von  der  Aufstellung  und  Beschreibung  der  Typen  ist  fortzu- 
schreiten zu  einer  Untersuchung  der  Typenbeziehungen.  Stehen  die  Typen 
leJiKlich  nebeneinander,  so  bilden  sie  einen  Typenkomplex;  sind  sie  aber 
durcheinander  bedingt,  so  stellen  sie  einen  komplexen  Tj'pus  dar. 

Das  Problem  der  Individnalit.it  i-;t  die  bocbste  aber  auch  schwierigste 
Aufgabe  der  Differential  -  Psychologie.  In  seiner  Eigenart  ist  das 
einzelne  Individuum  nicht  zu  erschöpfen,  sondern  nur  zu  charak» 
terisieren.  Es  geht  auch  nicht  in  Gesetzmässigkeiten  und  Typen  restlos 
auf;  es  bleibt  vielmehr  iinmer  ein  in  fachwissenschaftlichen  Begriffen  unaus- 
<lrückbarer,  imkla^sifizierbarer,  inkommensurabler  Wesenskern.  „In  diesem 
Sinne  ist  das  Individuum  ein  GrcnzbcKriii.  den»  die  theoretische  Forsclnmg 
zwar  üustrcben,  den  sie  aber  nie  erreichen  kann;  es  ist,  so  könnte  man  sagen, 
die  Asymptote  der  Wissenschaft,,.  Wetm  auch  bei  der  Detailarbeit  die 
Metaphysik  lieiseite  zu  lassen  ist,  so  muss  trotzdem  die  Differentialpsychologie, 
wenn  sie  ins  Weite  dringen  und  in  die  Tiefe  blicken  will,  sich  mit  meta- 
physischen Ideengängen  vertrauter  machen. 

Da  die  bislang  üblichen  Begriffe  ,, normal"  und  „abnormal"  zu  vielen 
Misfdcutungen  Anla><;  geben,  so  sind  an  ihre  Stelle  die  feineren  „typisch" 

und  ,, atypisch"  7x\  se  tzen. 

Die  AI  e  t  Ii  ü  d  e  n  der  jrenerellen  Psychülo;j:ie  sind  auch  die  Methoden 
der  Ditferentialpsychologic.  Es  koninU  demnach  eine  Sechszahl  in  Betracht: 
1.  die  Selbstbeobachtung,  2.  die  Beobachtung  anderer,  3.  Verwertung  von 
Oeschichte  und  Poesie,  4.  Kutturstudium,  5.  die  Massenprüfung  oder  Enquete 
und  6.  das  Experiment. 

ad.  1.  Die  Selbstbeobachtung  lehrt  uns  höchstens  unsere  eigene  Psyche 
kennen,  aber  sie  kann  nie  und  nimmer  zu  einer  differentiellon  Psychologie 
führen.  Sie  ist  vielmehr  ein  ,.nie  zu  vernachlässigender  Prüfstein  für  den 
Wert  diiferentiell-psycholo^ischer  HrL;ebtiisse". 

ad.  2.  „Die  Beobachtung  anderer  ist  die  natürlichste,  und  ich  möchte 
sagen,  selbstverstSndlidiste  Methode  der  Differentialpsychologie."  Doch  ist 
es  mit  der  grobkörnigen  Beobachtung  nicht  gethan;  „Schulung  nicht  nur  in 
intuitiver  Menschenkenntnis,  sondern  in  theoretisch-psychologischem  Denken, 
Beobachten  und  Deuten"  ist  unbedingt  nötig.  Sow  ohl  das  normale  Individuum 
als  auch  der  abnorme  Mensch  können  der  Beobachtung  wertvollen  Stoff 
liefern. 

ad.  3.  Die  Geschichte  liefert  durch  Schilderung  hervorragender  Indt- 
s'tdualitäten,  wie  sie  in  Geschichtswerken,  Biographieen  und  Autobiogra" 


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72 


Berichte  und  BesßireAuitgeru 


phieeii.  Memoiren  und  iagcbüchcrn  niedergelegt  sind,  der  Differentialpsycho- 
logie reichen  Stoff.  „Aber  die  Gefahren  einer  derartigen  Heldenpsychologic 
sind  nicht  zu  verkennen,  denn  der  Seelenforscher  ist  gezwungen,  durch  die 

Brille  des  Hisloiikers  und  i oirensclireibers  zu  blicken,  die  Ja>  Bild  oft 
färbt  ut;d  vcr7errt.'„  In  noch  h-  liereiu  J^Iasse  ist  grosse  Vorsicht  am  Platze 
gegenüber  dem  fingierten  Iniiividuum"  der  diclitcrisciien  Schöpfungen.  „Aus 
dichterischen  Fhantastegcbilden  wissenschaftliche  Schlüsse  ziehen,  hiessc  ge- 
malte Kühe  melken  wollen!*'  Die  dichterischen  Fiktionen  „sind  brauchbar, 
ja  unersetzlich  nicht  als  Argumente,  wohl  aber  als  Paradigmata." 

ad.  5.  Die  Massenprüfung  hat,  sofern  sie  auf  einer  schriftlichen  Um- 
frage an  mögliehst  viele  (und  oft  p«;ycho!ogisch  ungebildete)  Personen  fusst. 
wenig  Wert.  Erst  die  Inanspruchnahme  der  Mitarbeit  anderer  geschulter 
Fachmanner  macht  die  Resultate  von  Enqueten  brauchbarer. 

ad.  6.    Die  wertvollste  Methode  der  Differentialpsychologie  ist  ohne 
Zweifel  das  Experiment,  das  ja  auch  in  der  yeiu  r«.  Ikn  Psychologie  schon 
eine  reiche  Ausbeute  geboten  Imt.    Das  schon  in  iKr  alli:cmeinen  Psychologie 
experimentell   gewonnene   Material   wäre  tininal  in  erster  Linie  auf  sem«* 
etwaige  diiierentielle  Ausbeute  zu  durcinnustern.    Ferner  sollten  künftige 
Forscher  auf  jenem  Gebiete  alle  sich  ergebenden  Individualitätsunterschiede 
sorgfaltig  sammeln.  Den  „mental  tests"  (Seelenprüfungen)  wie  sie  in  Amerika 
und  Frankreich  (hier  von  Binet  und  Henri)  eingeführt  wurden,  ist  wenig  Wert 
bcii-ume^sen.  Stern  nennt  sie  nicht  nur  „experimentelle  Scheinprüfungen"  son- 
dern sogar  ,,das  Bertillonsche  Folizcisysiem  in  p>.vchologischcm  Gewände." 
Auch  die  „lests",  welche  von  Cattell,  Münsterberg,  Jastrow  und  Kräpeiin 
vorgeschlagen  wurden,  sind  nidit  einwurfsfrei,  wenn  sie  auch  manches  Wert- 
volte und  Anregende  liefern.    Gewarnt  muss  werden  vor  der  vorzeitigen 
praktischen  Verwertung  der  Ergebnisse  solcher  Methoden.    , .Arbeiten  wir 
ra.<itlos,  aber  ha«^t!o«i  die  theoretischen  Probleme  ans.  der  praktische  Erfolg 
wird  dann,  wenn  seine  Zeit  gekommen  i!>t.  als  ausgereifte  Frucht  vom  Haunio 
fallen:  Der  Diagno&is  und  Prognosis  geht  die  Gnosis  voran."    „Nach  allem 
Gesagten  hat  also  heute  die  methodologische  Forderung  für  das  differentielle 
Experiment  nicht  zu  lauten:  kurze  und  gedrängte  Früfungsserien,  welche  die 
Gesamteigenart  des  Individuums  charakterisieren,  sondern:   exakte  Spezial- 
untersuchungen, di<*  prceij?net  sind.  Aiifschluss  zu  geben  ülicr  die  Variations- 
weisen  und  die  typischen  Erscheinungsformen  bestimmter  Einzelgebiete." 

Im  %  Abschnitte  des  Buches  werden  an  der  Hand  folgender  Fragen: 
1.  „Welches  sind  die  hauptsächlichsten  Richtungen  der  indhnduellen 
Differenziicrung  seelischer  Funktionen,  2.  wie  lässt  sich  das  Experiment  für 
ihre  Untersuchungen  nutzbar  machen?",  nachstehende  Gebiete  durchgegangen, 
wobei  es  an  kritischen  Bemerkungen  und  neuen  Aufgaben  nicht  fehlt: 
Sinnesempfindlichkeit,  Anschauungstypen,  Gedächtnis,  Associationen,  Auf- 
fossnngstypen,  Aufmerksamkeit,  Kombinationsfähigkeit,  Urteilen,  Reaktions- 
tpyen,  Geffihle,  das  psychische  Tempo»  p^chische  EnergetBc. 

Der  8.  Abschnitt  bringt  eine  ssrstematiseh  geordnete  Bibliographie  voi> 
190  Nummern.  — 

Zum  Schlüsse  unserer  Besprechung  möchten  wir  dem  Buche  recht  viele 
Leser  und  der  differentiellen  Psychologie  noch  mehr  Arbeiter  wünschen, 
Würaburg.  Friedrich. 


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Berichte  und  ßcsprechungm. 


n 


Heinrich  W.  Die  moderne  p  h  y  s  i  o  1  u  ij;  i  s  c  h  c  Psycho- 
logie in  Deutschland.  Eine  historisch-kniischc  Uuiersuchung  mit 
besonderer  Berückstchtigting  des  Problems  der  Aufmerksamkeit.  2.,  teil- 
weist  umgearbeitete  und  vergrösserte  Ausgabe.  Zürich,  E.  Speidel,  1689,  8*, 
249  ScKten. 

Im  Vorwort  zur  ersten  Ausgabe  hat  der  Verfasser  kurz  sein  Programm 
niedergelegt.  Er  will  nicht  den  vielen  subjektiven  >rcinungcn  aiKkrcr  eine 
neue  hinzuiugcn;  er  will  vielmehr  jene  an  einem  objckiivciv  Massstabe  messen, 
und  als  solcher  schien  ihm  allein  das  Gesetz  des  psychophysichen  Paralldis- 
mus  tauglich.  Theoretisch  hätten  es  alle  modernen  Psychologen  anerkannt; 
vne  weit  sie  ihm  praktisch  tieu  geblieben  seien,  das  eben  solle  die  Kritik 
zeigen.  Welche  von  den  verschiedenen  Spielarten  dieses  Gesetzes  sich  der 
Verfa?^<^er  zu  eigen  gemacht  hat,  das  erfahren  wir  allerdings  erst  im  Ver- 
laufe der  Untersuchungen. 

Eine  etwas  allzu  weit  ausgreiiende  üiniemmg  gicbt  uns  in  kurzem  Ab- 
riss  die  Geschichte  der  Psychologie  vom  Untergange  der  griechischen  Philo- 
Sophie  bis  zu  G.  Th.  Fechner.  Audi  hier  stdit  dem  Verfasser  das  Problem  der 
Aufmerksamkeit  im  Mittelpunkte  des  Interesses.  Doch  bleiben  Bonnet  und 
Platncr  ganz  unerwähnt,  ebenso  Volkmann,  während  Drobisch  und  Waitz 
mehr  als  lünt  Seiten  gewidmet  sind. 

Mit  der  Besprechung  Fechners  betreten  wir  das  eigentliche  Gebiet  der 
Untersuchung.  Eine  eingehende  Darstellung  des  Weber-Fechnerschen  Ge- 
setzes und  der  von  Fechner  in  die  experimentdle  Psychologie  eingeführten 
Methoden  sagt  uns  kaum  etwas  Neues.  Dagegen  hätten  Fechners  Unter* 
snchungcn  über  die  Rolle  der  Aufmerksamkeit  beim  Wettstreite  der  Sehfelder 
nicht  mit  Stillschweigen  übergangen  werden  dürfen. 

Seine  gebührende  Wiurdigung  iindct  Helmho'ltz.  Dem  Urteile 
Heinrichs  über  G.  E.  Müllers  Aufmerksamkeitslebre,  sie  sei  „in  ihrer  Aus- 
führung veraltet  und  daher  unhaltbar",  können  wir  jedoch  nicht  beistimmen. 
Die  Umarbeitung  dieser  Theorie  durch  A.  Pilzecker  erhält  das  Prädikat 
„zu  schematisch". 

Der  breiteste  Raum  ist.  wie  zu  erwarten.  W.  Wundt  eingeräumt;  seine 
Lehre  findet  wenig  Gnade  vor  Heinrichs  .\ugen.  Seine  Stellung  zum 
psychophysischen  Parallelismus  ist  schwankend  und  undeutlich,  tr  geht  an 
die  Untersuchung  der  psychischen  Phänomene  mit  dem  philosophischen  Vor- 
urteil, dass  die  Triebanlage  das  primäre  jedes  psychischen  Lebens  seL 
Sehr  gering  schlägt  Heinrich  die  Bedeutung  der  experimentellen  Methoden 
der  Zeitmessung  an.  Mit  Recht  bekämpft  er  die  Deutung,  die  Wundt  den 
Messungen  7U?aninicngeset?tcr  Reaktionen  gegeben  hat  und  scbliesst  sich 
Munsterbergs  Urteil  über  solche  Zahlenwut  an;  doch  hält  er  diese  Periode 
auch  in  der  Wnndtsehen  Schule  für  fiberwunden.  Zum  Schlüsse  wird  Wundta 
Aufmerksamkeits^Theorie  gewogen  und  zu  leicht  befunden. 

Unter  den  Schülern  Wundt.^;  wird  N.  Lange  an  erster  Stelle  genannt, 
von  dem  wir  eine  einheitliche  Theorie  der  Aufmerksamkeit  besitzen.  Ent- 
gegen der  .\^^icllt  Langes  und  einer  Reihe  Schüler  Wundts,  wie  Pace,  Eckenei, 
Marbe,  Lehmann  stellt  sich  der  Verfasser,  auf  eigene  Untersuchungen  gestutzt, 
mit  Munsterberg  auf  den  Standptmkt,  dass  die  Schwankungen  der  Aufmerk- 
samkeit peripher,  nicht  central  erregt  seien.  Gegenüber  Wundts  Theorie  der 


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74 


BerkMt  wtd  BttpnchuHgen. 


Aufmerksamkeit  bildet  die  Langes  wegen  der  grösseren  Beräckstchtigang  der 
Assoziation  einen  Fortschritt;  doch  sind  Langes  Ansichten  über  die  £nt< 
stehung  der  Muskelcmpfindungcn  mit  den  Forderungen  der  physiologischen 

Psychulogie  ebenso  unvereinbar  wie  die  Wundts. 

Recht  schlecht  fahrt  Kulpe,  dessen  Lehre  wis^ciischaUhcli  ohne  Be- 
deutung sei  und  origineller  Gesichtspunkte  entbehre.  Sein  Versuch,  sich  im 
Gegensatz  TO  Wandt  rein  deskriptiv  su  verhalten»  werde  häufig  durch  die  von 
jenem  überkommene  rationalistische  Betrachtungsweise  durchbrochen,  so  auch 
in  seiner  Behandlung  der  Aufmerksamkeit. 

Als  crfolprrcichen  Bekämpier  Wundts  und  seiner  Schule  nennt  uns  der 
Verfasser  Münsterberg,  der,  mit  Wundts  bester  Waffe,  dem  Experiment,  aus- 
gerüstet, jenem  zu  Leibe  gehe.  Er  habe  es  gewagt,  aus  den  psychophysischcn 
Gesetzen  diejenigen  Konsequenzen  zu  ziehen,  die  Wund!  zu  ziehen  nicht  wagte. 
Doch  auch  er  cnlK'eht  nicht  schwerem  \'orwurf:  In  der  Kritik  liege  seine 
grösste  Stärke,  die  Erklärungen  für  die  Resultate  seiner  cis^enen  ^*ersuchc 
seien  überall  lückenhaft  und  oberflächlich.  Der  Versuch,  mit  liih'e  der 
Assoziationsgesetze  das  psychophysische  Geschehen  zu  erklaren,  sei  ge- 
scheitert. Heftig  bekämpft  Heinrich  Münsterbergs  Aufmerksamkeits-Theorie 
und  bespricht  hier  zugleich  diejenige  von  Ribot,  auf  die  sich  Munsterberg 
stützt.  Danach  soll  die  Aufmerksamkeit  im  wesentlichen  ein  Komplex  von 
Muskelempfindungen  sein.  Unbegreiniclierwci^e  wird  der  gnnz  ähnlichen 
Lehre  E.  Machs  tnit  keinem  Worte  ).:edaclit.  Wenn  es  endlich  von  der 
Psychologie  der  Zckschatzung  heisst,  sie  sei  durch  Münsterbergs  Arbeit  er- 
klärt» so  möchten  wir  dies  sanguinische  Urteil  durchaus  nicht  unterschreiben. 

Dass  Th.  Ziehen  nicht  auf  Heinrichs  Zustimmung  rechnen  kann, 
leuchtet  ein,  wenn  man  sich  an  Ziehens  Behauptung  erinnert,  dass  es 
psyrhische  Vorgänge  ohne  materielle  Grundlage  gebe.  Höchstens,  meint  der 
Verfasser,  dürfen  wir  die  Existenz  von  psychischen  Vorgangen  behaupten, 
für  die  wir  kein  physiologisches  Korrelat  kennen.  Er  verwirft  Ziehens 
Anschauungen  über  Erinnerungszellen  tmd  Erinnerungen  ebenso  wie  dessen 
prinzipielle  Unterscheidung  zwischen  innerer  und  äusserer  Assoziation,  wo* 
durch  er  auch  7\\  IT.  Ilöidin^j  in  Gegensatz  tritt.  Von  den  vier  Assoziations« 
f^e-^etzen  Ziehens  verwirft  Heinrich  alle  au«;ser  dem  ersten  und  folglich  auch 
die  au;  jenen  aufgebaute  Aufmerksamkeitslehre.  Ziehen  hat  überdies  die 
sinnliche  Aufmerksamkeit  ganzlich  vernachlässigt 

Durchaus  gerühmt  wird  allein  Rd.  Avenarius,  dessen  erkenntnis- 
theoretische  Untersuchungen  auch  für  die  Psychologie  von  hervorragender 
Bedeutung  geworden  seien.  Zwar  gebe  er  nicht  und  wolle  auch  gar  nicht 
geben  eine  Theorie  der  Air'ri'erk^amkeit.  doch  fände  sich  bei  ihm  die  des- 
kriptierte  Bestimmung  fast  aller  ihrer  einzelnen  Bestandteile.  Besonders  wird 
die  Ausschaltung  des  Bewusstseins  bei  Avenarius  gerühmt;  wie  nahe  sich 
dieses  hier  mit  E.  Mach  berührt,  scheint  dem  Verfasser  entgangen  zu  sein. 

An  letzter  Stelle  finden  wir  eine,  erst  in  der  zweiten  Auflage  eingefügte 
Besprechung  Exners.  Dessen  phy<;iolngi';che  r,rundannahmcn  häh  Heinrich 
zum  Verständnis  der  nervösen  ErscheinunRen  iur  ausreichend:  nur  an  dem 
Begriffe  der  Hemmung,  unter  dem  Exner  zu  heierogene  Erscheinungen  zu- 
sammengefasst  hat,  könnte  man  Anstoss  nehmen.  Eine  Erklärung  der 
psychischen  Erscheinungen  hat  er  nicht  nachgewiesen,  und  er  durchbricht  die 


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Berichte  und  Besprechungen. 


75 


Geschlossenheit  der  physischen  Vorgänge,  indem  er  den  Wiilcnsimpuls  neben 
den  physiologischen  Erscheinungen  als  besonderen  Faktor  stellt;  daraa  leidet 
auch  seine  Ertdänitig  der  Aufmerksamkeit 

Zum  Schlüsse  fasst  Heinrich  seine  kritischen  Bemerkungen  noch  einmal 
kurz  zusammen  und  giebt  seinen  eigenen  prinzipiellen  Standpunkt,  wie  er  ihn 
im  wesentlichen  schon  in  seiner,  1899  erschienenen  und  an  dieser  Stelle  be- 
sprochenen Schrift:  Zur  Prinzipienfrage  der  Psycho1o(?je,  niedergelegt  htt. 
Von  den  2  W'egcu,  Uic  (i':^  Methode  der  Psyclioh^gie  zu  Gebote  stunden, 
verwirft  er  den  von  Cornelius  gewühlten,  der  sich  ganz  aut  die  Anaiyse  des 
Selbsterlehten  beschränkt;  ihm  scheint  nur  der  andere  gangbar:  die  Unter- 
suchung des  Mitmenschen.  Der  Mitmensch  sei  uns  eben  so  objektiv  ge* 
geben,  wie  der  Naturwissenschaft  ihre  Objekte,  seine  Aeusserungen  machten 
tins  sein  psychisches  Leben  verständlich.  Uns  scheint  dieser  Weg,  von  dem 
auch  Ilcinricli  voraussieht,  dass  er  als  allzu  physiologisch  werde  getadelt 

werden,  alles  eher  als  Psychologie  zu  sein. 

Beriin.  O.  Pfungst. 


Alexander  Bennstein.  Die  heutige  Schulbanki'rage.  3.  Aufl. 
1900.  Berlin,  Buchhandl.  der  deutschen  Lehrerzeitung  (A.  Zilessen). 

Die  3.  Auflage  des  Bennsteinsdien  Werkes  ist  durch  die  Aufnahme  der 
in  den  letzten  2  Jahren  bekannt  gewordenen  neuen  Systeme,  durch  Einschaltung 
neuer  Abschnitte  und  Ergänzungen,  sowie  durch  neue  Abbildungen  vermehrt 
und  an  vielen  Stellen  verbessert  worden.  Sie  bihlet  jetzt  eine  möglichst 
vollständige  und  recht  übersichtliche  Darstellung  der  verschiedenen  Systeme. 
Vorangeschickt  werden  die  an  eine  brauchbare  Schulbank  zu  stellenden  An- 
forderungen in  hygienischer,  pädagogischer  und  technischer  Beziehung.  In 
einer  Schlussabhandlung:  „Ist  die  Schulbankfrage  nunmehr  getost?"  nimmt 
der  Autor  sodann  selbst  Stelluiig  und  giebt  schliesslich  ein  Schema,  wie  man 
sich  zweckmässig  über  den  Wert  einer  Schulbank  unter  Berücksichtigung  aller 
Gesichtspunkte  ein  richtiges  Urteil  bildet. 

Im  einzelnen  möchten  wir  bemerken,  das  die  lobenswerte  Absicht 
des  Verfassers  klar  und  übersichtlich  zu  sein,  teilweise  zu  allzu  kurzer 
Darstellung  geführt  hat.  So  vermissten  wir  hauptsächlich  bei  den  an  eine 
Schulbank  zu  stellenden  Anforderungen  eine  Begründung  derselben.  Wir 
widersprechen  deshalb  diesen  Aenderungen  nicht  —  sie  sind  ja  auch  allgemein, 
anerk.-tnnt  — ,  das  Werk  verliert  dadurch  aber  an  Wert  für  einen  Anfänger, 
der  sich  noch  nicht  mit  der  Frage  bcsoh.tftiKt  hat.  Andcrer^^eits  hat  B.  bei 
<ier  Besprechung  der  einzelnen  Sy.steme  bezw.  Systemgruppen  es  vorzüglich 
verstanden,  das  für  die  Beurteilung  Wesentliche  hervorzuheben,  sodass  dem 
Leser  ermöglicht  wird,  auch  über  ein  ihm  bisher  unbekanntes  System  sich 
schnell  und  sicher  ein  Urteil  zu  bilden. 

Die  l'Vage:  „Ist  die  Schulbank  frage  nunmehr  gelöst?"  kann  auch  B. 
nicht  bejahen.  Für  ieden  unbefangenen  I-e«cr  muss  ja  schon  allein  der 
Umstand,  dass  vorher  gegen  2'X>  Systeme  cliarakterisiert  wurden,  den  Gedanken 
nahelegen,  keines  derselben   genüge   allen   Anforderungen,   da  sonst  die 


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76 


Beriekte  und  Baprtchungtn* 


übrigen  mehr  oder  weniger  überflüssig  seien.    B.  glaubt  insbesondere 

nicht  —  und  mir  müssen  ihm  darin  beistimmen  — ,  dass  die  Schiilbankl'rage  ani 
ilem  VV'cgc  der  grusstmoglichen  Verstellbarkeil  d<  r  liunk  gelost  werden  wird. 
Ans  den  verschiedensten  Gründen  kommt  er  zu  dein  Sohluss,  dass  die  Ri  tiig- 
Bank  bisher  die  praktisch  verwendbarste  sei.  Is.icli  unserem  Geschmack  be- 
tont er  die  ökonomischen  Gründe  dabei  allzusehr,  wenn  wir  auch  seinen 
Ausführungen  im  wesentlichen  Recht  geben  müssen.  Wir  finden  es  aber 
durchaus  berechtigt,  wenn  die  Miinncr  der  Wissenschaft  hauptsächlich  die 
hygienischen  und  piidagogischen  Forderungen  urgicrcn  und  sagen,  dass  für 
den  Nachwuchs  unseres  Volkes  das  Beste  gerade  nur  gut  prnui'  ^oi.  D:i« 
Kcchnen  und  das  Ab&lreiclicn  von  unseren  Forderungen  werden  uil  üehurdcn 
und  die  Stadtviter  auch  ohne  uns  vornehmen. 

Ueber  das  zum  Schluss  angegebene  Schema  für  Bewertung  einet» 
Systems  können  wir  kurz,  hinweggehen.  Für  Pedanten,  die  gewöhnt  sind, 
aHe";  nach  einem  Schema  zrihlcnmä??!?  au^T-urechnen,  scheint  es  uns  «ehr  gut 
;insi^c(Iarht  :^ti  sein.  Männer.  Jic  das  F"ur  und  Wider  mit  ufiencni  Kopl  nach 
allen  Richtungen  zu  erwägen  pilegen,  werden  es  raeist  entbehren  können. 

Fas»en  wir  unsere  Meinung  über  die  Abhandlung  zusammen,  so  können 
wir  dem  Verfasser  nur  danken  für  die  klare  Zusammenstellung  der  in  Betracht 
kommenden  Fragen.  Für  viele  —  wir  denken  dabei  beispielsweise  an  die  in 
n.'ichstcr  Zeit  zur  Ansteif untj  kon' inenden  Schularzte,  von  denen  vielleicht 
mancher  seit  der  üniversiialszeil  die  Frage  ruhen  Hess  —  wird  die  Schrift 
ein  willkommenes  Mittel  zur  schnellen  Orientierung  sein. 

Berlin.  Dollhardt. 


K.  O.  Beetz,  Einführung;  in  die  racclenic  P.'-ych(iloj:jie 
T,  Teil:  Allfi^enieine  Grundlegung.  (Ans:  Der  Bücherschatz  des, 
Lehrers,  Heraiisn^enrebcn  von  K.  O.  Beetz,  Bd.  II).  Osterwieck- 
Harz,  A.  W.  Zickteldt,  1900.    424  S.  und  4  Taf. 

Der  Verlasser.  Schuldirektor  in  Gotha,  hat  sich  die  dankenswerte 
Aufgabe  gestellt,  in  dem  „Biicherschatz  des  Lebens'  ein  ,,\K'issen8chaftliches 
Samnwlwwk  nur  inteUektnaUeD  nnd  mattrieUen  Hebung  das  Lehrentandea« 
zn  schaJIbn.  Zn  dlMtm  Zwadc«  haben  aich  hervomgende  Spezialgelehite 
und  ünlversitäteprofessoren  —  genannt  werden  im  Prospekte  Herr  Schulrat 
Polack  und  Hr  Kant/^r  Saueracker  —  unter  seine  Leitung  gestellt,  um  in 
rascher  Folge  das  Gebiet  der  Somatoiogie  und  Psychologie,  der  Logik  und 
Ethik,  der  Beligion,  Oeachichte  und  Mathematik,  der  Bieneiancht^  HtLhner- 
pllege  und  ntionellen  Landwirtechaft  so  bearbeiten;  ein  ITntenieihiiien,  das 
naeh  der  Versicherung  dee  Verlegen  t^en  Stwnpel  der  Gediegenheit  in  Jeder 
Ee7:iehung  an  d^r  Stirn  trägt".  Der  erste  Band  dieses  „BücherBchatzes"'^ 
enthält  eiue  Arbeit  von  Amuld  Brass :  „Bas  Kind  gesund  und  krank*^.  Der 
zweite  Band  enthält  die  vorliegende  „Einftlhning  in  die  moderne  Psychologie**^ 
TOB  dem  Heranegeber  aelbit;  ein  zweiter,  spezieller  Teil  eoU  die  Fortaetnuij; 
dieaea  Werkea  bilden. 


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Beritkte  und  Betpredumgm, 


77 


Entsprechend  den  vielseitigen  Interessen  der  modernen  Lehrer,  die 
sich  Ton  der  Psych' bis  zur  Hiihut^rpflege  und  omgekelirt  erstrecken, 
ist  auch  das  Beetz'scko  Werk,  v.m  VKinherein  änssersfc  vielseitig  angelegt. 
Es  behandelt  nicht  nur  die  mudorue  Psychologie  in  ihren  allgemeinea 
<}randlagen,  wie  otftii  durch  den  Titel  verlaitet  werden  konnte,  »nronehmen, 
•ondem  soglrteh  die  Gfeacbioiite  der  Fiydiologie,  die  Fhttoeophle  und  tbre 
Oeachichto,  die  Erkenntnistheorie,  JCetephjsik.  Schalhygiene,  Anatomie  and 
Neurologie  im  Abriss;  und  zwar  zu  gleicher  Zeit  historisch  —  kritisch  und 
produktiv  —  orlf^inell.  Wie  Müuäterberg  in  Amerika  sich  veranlasst  sah, 
die  T^hrerwelt  vor  einer  allzu  betriebsamen  Beschäftigung  mit  der  Psy- 
chologie zu  warnen,  so  wird  auch  uns  ein  wenig  bange,  wenn  wir  denken, 
daae  die  Lehrerwelt  Deatsehlanda  in  der  yom  Verfneaer  InengnriMten  Weiae 
an  dem  Stndinm  und  den  Foreohnngen  dar  Psychologie  sich  heteiUgen 
könnte.  Wehe  der  Psychologie,  die  auf  diese  Weise  der  eben  entronnenen 
Spekulation  unrettbar  wieder  verfallen  müsste;  \ind  wehe  der  Lehrerschaft, 
die  der  verwirrenden  Menge  der  Einzelantersuchnnrren  hilflos  und  ratlos 
gegenüberstände,  uhuu  die  Möglichkeit,  den  lur  sie  allein  wertvollen  Kern 
«HS  der  Uniiehl  der  naigebenden  Hüllai  hereneggichllen!  Die  modsnie 
Fkycholegto  mnss  nach  2  Biohtangen  hin  betrechtet  werden:  elnmel  ist  ^ 
eine  ^esiel^izfplin,  der  sich  die  exakte  Erforschung  der  seelischen  Er* 
scheinnngen  zum  Ziele  gesetzt  K  it  und  zu  diesem  Zwecke,  wie  jede  natur- 
wissenschaftliche Spezialdiszi})lin  eigene  Methoden  und  eigene  Forscher  be- 
nötigt; sodann  aber  liefert  sie  die  allgemeine  psychologische  Grundlage,  auf 
dw  Jede  WeltenfTaseong,  Jede  Wiaeeoschaft  nnd  jedee  praktische  Handeln 
benÜMn  aolL  In  dleaem  letateren  Stnne  ist  sie  relstiT  nnsbhingig  von  den 
modernen,  mit  ICass  irnd  Zahl  operierenden  Methoden  nnd  ihren  EigebnJaaen; 
gewissenhafte  Selbst-  und  Fremdbeobachtung  haben  von  Jeher  genügt,  dieaer 
Anfg^he  gerecht  zu  werden,  wenn  anch  dank  der  modernen  PorschTing 
euiige  neue  und  präcisere  Einsichten  psychologischer  Art  gewi  nni'n 
worden  sind.  lüt  daher  unseres  i:^rachteus  ein  Fehler,  eine  „Einlüiuuug 
-ta  dis  B^foihblogle^  mit  einer  sold&en  FBlle  von nenen und nsoestea  Eiuel> 
nntecsnehnngen  sn  belasten,  wie  es  dar  Verfaaaer  gethan  hat.  Welchen 
Wert  soll  es  haben,  fUr  denjenigen,  dem  mit  viSlsr  Hllhe  die  elementarsten 
Omrifllrigen  der  Psycholog'ie  beigebracht  werden  sollen,  /nglriph  flir  Experi- 
mente von  öötr  Martius.  Axel  Oehrn,  Bettmann,  A^rhaffeuburg,  Amberg  u.  a. 
darzustellen,  die  auf  ganz  spezieile  Untersuchungsobjekte  gerichtet  sind? 
Nicht  einmal  die  eigentliche  Sohnlpeychologie,  z.  B.  die  experimentelle 
Festaetanmg  der  sweckaiisslgeo  Anfainanderfolgs  der  Lahifleher,  der  Zahl 
der  Schulstunden,  der  Art  des  Tnmunterrichtes  eto.  dflrfle  der  Allgemeinheit 
der  Yolksschnllehrer  zum  selbat&ndig^n  Studium  anzuraten  sein,  da  sie  zu 
Tiele  Voraussetzungen  inbezng  auf  wisseuschfifthvhe  Vorbildung  erfordert. 

Wenn  wir  nach  diesen  prinzipiellen  Eruüerungen  auf  das  Detail  der 
Arbeit  näher  eingehen,  so  können  wir  einige  allgemeine  Bemerkungen  nicht 
imtsrdrttcksn.  ZnnSchst  eine  derartige  Flflchtigkeit  nnd  Oberflichliehtelt 
der  SchieCbweiae,  wie  in  dem  Torilegenden  Werke,  lat  nna  bisher  in  wlaaen- 
schaftlichen  Büchern  noch  nicht  begegnet.  Einige  Beispiele  für  diese  Be- 
hauptung? S.  84  soll  es  heissen  statt:  Nutzen  der  experimentellen  Methode 
—  Schaden  derselben;  S.  93  statt:  Minuten  —  Sekonden;  S.  110  statt: 


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78 


BcriikU  und  Bts^rcchungcn. 


Psychoplivsik  -  l'hysiologie:  S.  142  statt  wis^enschaüiich  —  unwissen- 
schaftlicli;  S.  234  statt  dialyßiert  —  analysiert;  S.  302  statt  epidemia  (!)  — 
epithymia;  S.  271  stAtt  fiecht«  —  Links;  S.  300  statt  metapliysiscb  — 
empirisch;  Br  322  Btatt  Zeller  —  Spencer;  S.  195  statt  negativ  —  ▼egetaüv; 
S.  252  statt  Mejnert  —  Flechsig  n.  e.  1  Auch  Yemnatalttingen  wie  ,4nfi- 
nement"  (S.  26  und  320);  „anaJisieren"  (S.  62);  »parallisiereu"  (S.  84);  „Telo- 
patliie"  (S.  164);  „Oxidutieir'  S. '"»1:  „Neuropla"  (S.  247);  „Rama  communi- 
cantes"  (S.  2r»4't  et«-,  hiittcn  mit  geringer  Mülie  verTni<'tlen  werden  können. 
Bine  zweite  Bemerkung  bezieht  tich  auf  die  C^uelien,  aus  deucn  Beetz  seine 
psychologischen  Kenntaisae  eehdpft  Unter  diesen  figarieran  an  erster  Stelle 
W.  Heinrich,  Alhrecht  Ran  nnd  Fr.  Harms»  8  Namen,  die  wohl  kein  Fach* 
mann  zu  den  bekanntesten  und  zuverlässigsten  zahlen  möchte.  Gleichwohl 
zitiert  Beetz  ans  den  Werken  die^^cr  Autoren  nicht  nur  lange  Abschnitte, 
sondern  er  iührt  sogar  die  Theorieen  anderer,  uiiht  weniger  bekannter 
Autoren,  wie  Wandt«  Mtinsterberg,  KtÜpe  u.  a.  nicht  nach  ihren  Original- 
arbeiten,  sondern  nach  d»a  (^tatttk  Jener  an.  Wo  «  aber  sieh  dain  ver- 
steht«  Originalarbetten  an  zitieren,  schreibt  [w  entweder  die  ^tel  der  Anf- 
eätze  der  betrotlendcn  Zeitschrift  ohne  Auswahl  hintereinander  ab,  gleichviel, 
ob  es  in  den  Kähmen  der  Sache  passt  oder  nicht,  wie  z.  B.  bei  Kraepelin's 
PsvcKolopisf'hen  Arbeiten,  die  er  ftlr  ein  ,.Sammelwerk"  hält;  oder  aber  er 
zitiert  —  wie  z.  B.  bei  der  Aufiilirung  von  Stumpf —  Universität«  -  Vor- 
lesungen aus  dem  Jahre  1687,  wie  z.  B.  auf  S.  153,  loB,  192,  304,  322  etc 
Wären  Überhaupt  Vorlesungen  zur  Publikation  durch  die  Zuhörer  bestimmt, 
so  durfte  man  dodi  gerade  hier  die  neueste  F<nm  Terlsngen. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  zu  einer  sachlichen  Ucberslcht  das  Werkes. 
In  der  ersten  Abteilung  versucht  Beetz  die  „geschichtliche  Grundlage  der 
Ps3'clu>logie"  zn   schildern   fS.   R  — 123«.     In    Wahrheit  freilich    i.>t  von 
Psychologie  nicht  viel  die  llede,  sondern  vielmehr  von  einem  kurzen  Abrisa 
der  Geschichte  der  Philosophie,  de?  zudem  sehr  oberflfichlich  gehalten  ist. 
Meist  begnügt  sich  B.^  bei  jedem  Autor  irgend  eine  SteUungnahme,  meist 
zn  erkenntnistheoreti scheu  und  metaphysischen  Problemen  herauszugreifen 
und  dagegen  in  ziemlich  unkritischer  Weise  zu  polemitieren,  ohne  dass  dio 
p5>ychologiFehen  Leistungen  und  Fortschritte  ir^^eudwie  nfthere  Beleuchtung 
finden.    Aut  diese  Weise  gelingt  es  dem  Verfasser,  Augnstin,  Desourtes, 
Spinoza,  Leibniz,  Kant  mit  je  2—10  Zeilen  abzufertigen.    Dass  dabei  auck 
mangelhafte  Aoffassangen  unterlanfen,  vorsteht  sich  von  selbst;  so  wird 
z.  B.  bei  den  Sophisten  (S.  15)  daa  alte  Ifi&rehen  aufgewärmt,  dass  sie: 
„unter  Verabscheuung  aller  Arisc  hannng  den  »Wortrealismns**,  das  seicht« 
Paisonnement  auf  das  ;!}  Schild  erhoben.    SpitzfmJi^'keit,  Wortgefeelit  und 
t^iilteiivteehfrei  feierten  ihre  hi»ch8te  Triumphe".    Sollte  «las  nicht  auch  ein 
wonig  uacii  der  „Abrichtung"  schmecken,  die  B.  der  heutigen  Semiuar- 
bildung  zum  Vorwurf  macht?  Etwas  besser  ist  dfe  moderne  Psychologie 
b^andelt.  Neben  d«r  Herbart'schen  Lehre,  die  eine  eingehende  Darstellnng 
gefunden,  ist  auch  F.  £.  Beneke  nicht  unerwülmt  gehlieben.  Als  Vertreter 
der  .,Psvc!in]ng-e  ohne  Seele"  werden  Feuerbach,   Ulrici  und  Lotze  b^ 
sprochen.    Einen  breiten  Kaum  nimmt  das  Kapitel  von  der  spezifisf  hen 
Sinnesenergie  {S.  45— öö)  ein.    B.  polemisiert  hier  in  höchst  unkritischer 
Weise  gegen  den  „pseudowissenschaftlichen  Subjektivismus"  Joh.  Mlillers, 


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Bcrkki*  und  Besprechungm. 


79 


dessen  Änfffi«.?nng  er  in  (otalem  MissveTStändnis  für  absoluten  Idealismas 
hält.  M:m  <U'nkt':  ein  Joh.  Müller  als  Vertreter  des  absoluten  IdealismtLS, 
als  „unvernünftiger'^  Metaphysiker !  Aach  Lotze  wird  in  diesem  Streite  in 
Grand  itnd  Boden  diskutiert,  niclit  ohne  Beiliilfe  von  Heinricli  und  Bau. 
Der  wahre  Realisrnns  beetdit  nftmlich  nach  B.  In  der  Auffaesnng,  dass  ,da» 
Psychische  in  der  Verlängerungslinie  des  Physischen  liegt;"  „der  Ton  als 
eolfher  besteht  obiektiv":  „flie  objektive  Qualität  hat  sich  erst  Ihr  ent- 
ejtrechendps  Orprau  gebildet;"  u.  a.  a.  8t.  (S.  336):  ,.T7m  das  „T^'^g  au 
sich"  scheren  wir  uns  nicht  —  oder  genauer  gesagt,  wir  halten  es  lür  einen 
Widerspruch  in  sich;  es  existiert  nicht**.  Diese«  einfache  Verfahren,  die 
TVelt  nnd  alle  ihre  BKtsd  m  erU&ren,  sieht  eidi  durch  daa  ganze  Bach 
hindurch. 

£b  fol^  die  Darstellung  der  Psychophysik  Fechncrs  und  der  Lehre 
des  Herrn  von  He^nthoHz,  nalürlieb  stets  gen:ü!-sen  an  der  Kritik  Heinrich's 
und  üau's.    Pas  [nächste  Kapitel  Vringt  eine  bieit   angelegte  Schilderung 
(S.  62— S2)  der  "W'undt 'sehen  Psychologie,  die  im  ganzen  nicht  schlecht 
geraten  ist  Die  Schale  TVnndt^s  (8.  63^104)  wird  in  eine  physiologische 
Biehtnng  —  Mttneterberg,  Ziehen,  —  eine  inychologisehe  Biohtang  ^  Gofes 
Martina,  Kraepelin  and  seine  Sclifller,  —  und  eine  vermittelnde  Eichtang, 
—  y  T,Fir>"^e.  Knlpe.  Adolf  llorwitz  —  gegliedert;  eine  Einteilung;,   die  an 
Willkürliclikeit  niclits  zn  wünschen  übrig  lüt^'-t.    L)ieser  Abschnitt  ist  nach 
vielen  Dichtungen  zu  tadeln.   Statt  die  Ansicht  der  Autoren  über  i)8ycho- 
logische  Grnndiragen  zn  dtekntieran,  werden  einzelne,  ganz  netben^ehtlehe 
Detailfragen,  wie  z.  B.  die  l'rage  der  moaknlaren  Eeaktioa,  heraaagegriffen 
und  die  Polemik  dtt  Autoren  über  solche  Punkte  näher  ausgeführt.  Die 
Schilderung  der  Versuche  aus  dem  Laboratorium  Kraepelin's  leidet  an  dem 
gleichen  Fehler:  unwichtige  Einzelheiten  werden  liervorp^ehoben,  die  Haupt- 
fragen vei  nachiut-bigt  oder  kurzer  Hand  mit  einigen  Worten  diktatorisch 
erledigt.    Dass  dabei  der  Ausdruck  „Apperception",  dessen  Vieldeutigkeit 
schon  80  viel  Unheil  in  der  Psychologie  angerichtet  bat,  wie  etwas  allen 
Lehrern  Bekanntes  und  Gelünfiges  öfters  gebraucht  wird,  soll  nur  nebenbei 
erwähnt  werden.   Die  empirische  Psyd&ologie  der  Gegenwart,  als  deren 
Vertreter  Brentano,  Stumpf  und  Uphues  genannt  werden,  wird  im  Gegen- 
sätze zur  Wnndi'schen  Schule  auf  2   Seiten  abgehandelt,  wiihrend  der 
Evolutionspsychoiogie   (Romanes,  Häckel)   wiederum   ein  umfangreiches 
Kapitel  gewidmet  ist.  Die  Stellangnahme  B*8  zum  psychogenetischen  Prinzip 
Ysihinger^s  Ist  hier  wie  an  anderen  Stdlen  so  unklar  gehalten,  dass  man 
nicht  weiss,  ob  er  für  oder  gegen  dieselbe  eingenommen  isti   Meist  maclit 
es  den  Eindruck,  als  stände  er  auf  Seiten  der  Evolutionspsychologen,  die 
die  psychische  Entwicklung  der  Individuen  auf  die  palaeopsychif^chen  Er- 
lebnisse unserer  augebücheu  Vorfahren  zturückdatiereu ;  nur  bei  der  später 
folgenden  Besprechung  der  Vaihinger'schen  Formel  scheint  er  gegen  V. 
Stellung  nehm«i  zu  wollen.  S.  116 — 121  ist  der  Besprechung  der  ,,m76tl8diea 
UntentrOmung«!  in  der  Psychologie'*  gewidmet.  Die  „Sphinx"  und  die 
^JUvtoshlflten'S  Du  Prel,  Ferdinand  Maack,  Paul  Schröder  und  Rudolf  Müller 
werden  ernstbMft  besprochen  nnd  dem  wissenschaftlichea   Ausbau  ihrer 
Lehren  eine  gute  Zukunft  prophezeit.    Es  giebt  wenii^'c  Stelh'U  des  Bnclies. 
in  dem  die  völlige  Kritiklosigkeit  und  der  Mangel  au  wu>äenscbaitiicn~ 


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60 


Berichte  und  Besprechungen. 


philosophisclier  Bildung  des  Verfassers  ao  krase  zu  Tage  treten  wi«  hier. 
F.  Iluck  wird  «ta  ein  »Psjchophjäiker  ▼on  Ruf«  «mpfolilsa;  P.  Schröder, 
«In  Karpfascher  «u  Leipxlg,  wird  dMigleielien  gertthmt  und  seine  Sclirift 
über  den  » Leben amagnctismas'  zur  Lektüre  empfohlen;  nur  bei  R.  Müller, 
der  alle  wissenschaftliche  Forschung  ad  absurdum  ijefiihrt  hat,  dämmert 
ihm  die  Erkenutnis  auf,  os  kt'innte  sich  am  Kti'le  ilorh  um  eine  Selbst- 
täuschung handeln.  Daäs  ein  solcher  Uusinn  in  eiueoi  Bache  gedruckt 
wird,  das  fttr  YolksBclmnelirar  besUmmt  Ist,  isb  vm  so  bedaaerlielier,  eis  die 
Seudke  des  Spiritismns  mitnnter  In  dieami  Kreisen  besonders  verlMreltet  zn 
sein  scheintw 

Der  zweite  Abschnitt  des  Werkes  S.  124— r>Oi  ist  betitelt:  „Begriff- 
liche Grundle;^ung'*.  Hier  wird  zuaächät  die  Fragü  nach  Form  und  Inhalt 
der  Psychologie  aufgeworfen.  Inhalt  der  Psychologie  ist  «das  Werden  und 
Sein  der  Innmen  Erlebnisse.«  Was  nnter  Form  der  Fsjdiologie  sn  ver> 
4lelien  Ist,  wird  nur  denjenigen  elnleaehtend  sein,  die  den  Mtssbrsuch  dieser 
Schlagworte  in  vielen  Kreisen  kennen.  Der  docrmatische  Materialismus  wird 
abgelohnt,  nnter  Hinweis  auf  dio  Thataache  der  Willenserschoinungen.  Die 
Selbstbeobachtung  gilt  mit  Recht  alü  die  Uauptquelle  der  psychologischen 
Erfonehnng,  obwohl  der  Kampf  gegen  diese  Methode  eine  etwas  elngehendera 
DusteUong  Tecdlsnt  hätte.  Unter  den  sonstigen  Methoden  wird  noch  die 
Hypnose  und  Saggestion  nnfgaftthrt;  doch  sdhelnt  der  Verfasser  Uber  diesen 
Gegenstand  sich  nur  ans  den  Werken  von  Wundt,  Lehmann,  Dessoir, 
Rudolf  Müller  und  Jodl  orientiert  zu  haben;  eine  Zusammenstellung,  tlie  für 
die  (^ueiienforschang  des  Verfassers  typisch  zu  sein  soheint.  Das  Kapitel 
von  der  Bsdentung  der  Psychologie  sohllesst  mit  den  Worten:  »Ist  es  ihr 
(sc.  der  Psychologie)  doch  bereits  gehingeo,  das  Problem  der  WUlenslreiheit 
in  einer  direkten  Weise  sn  lösen,  und  schon  weiss  sie  die  letzte  und  höchste 
Fracke  dt^r  Staubgebomen,  die  Unsterblichkeit,  wenigstens  indirekt,  nichts- 
de&towt'iiiL'^er  aber  wissenschaftlich,  positiv  zu  beantworten".  Ana  dieser 
Behauptung  geht  zur  Genüge  hervor,  dass  Verfasser  allen  anderen  staob- 
gebomen  Psychologen  nm  mehrere  Nasenitngen  voraos  ist.  üm  die  LSsong 
dieser  ProUeme  beneidet  Beferent  den  Verfasser. 

Die  dritte  and  ktsts  Abteilung  des  Werkes  enthält  die  „psychophy- 
sische  Grundle^ing  der  Psychologie".  Ein  erstes  Kapitel  "behandelt  den 
Leib;  und  zwar  das  Bewegniigssystem,  —  Knochen,  Bänder,  Muskeln,  — 
das  Emährungssystem  —  Darm,  Chylusgefässe,  Blut  — ,  die  Atmung,  das 
Nervensystem  Im  aUgemsinen  nnd  das  Nerrensystem  im  besonderai  — 
Auge,  Ohr,  die  niederen  Sinne,  die  Leitmigsbehnen,  die  nervösen  Gentnal- 
orgsne,  Gehirn,  Hückenmark,  Nacnhim  und  Sympathicns.  Diese  g^nzlidi 
laienhafte  Darstellung  eines  so  schwierigen  und  umfangreichen  Gebietes 
erscheint  uns  in  einem  jisychologischen  Werke  völlig  überlliissig.  Hätte 
sich  der  Verf.  noch  auf  die  Sinnesiorgane  und  das  centrale  Nervensystem 
beechrfinkt,  so  hAtte  msn  das  noch  annehmen  können.  Was  soll  aber  die 
Abhandlung  der  Knochen-  nnd  Bftnderleihre  in  12  Zeilen,  die  Abhandlnng 
des  Muskelsystems  in  1  Seite?  Eigene  Anschauungen  zudem  müssen  auch 
hier  oft  die  Stelle  der  fehlendr-i  Kenntnisse  ersetzen.  So  behauptet  %,  B. 
Verf.,  im  Gegensätze  zu  allen  medi/.mischen  Lcliren  S.  201:  ,,Hypochon- 
dfisdie  nnd  hysterische  Menschen  leiden  an  organiächen  Störungen  und 


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Berichte  und  Besprechungen^ 


81 


sind  infolgedessen  „nervös  -  oder  psychisch  krank.'*  In  dem  Labyrinth  ver- 
mutet er  ein  „Coordmatiooäcentrum  der  Bewegungen"  \  gemeint  ibt  nattLrlick 
ein  Sflgiilatloiisorgan.  S.  239  behMi|itet  er,  jedes  einMlneFeaerbtlndfll  ebtes 
Kenren  eei  ebi  Aduenqrlinder,  vrilhniid  dl»  Aenrte  nur  der  einzdnen  Pxi- 
mitivfaser  diesen  Namen  vindideren.  Ans  der  Erenzong  der  NervenbahiMik 
„erklärt  e«'  sich  (S.  241),  dass  nervöse  Schmerzen  des  linken  Fugses  h&nfig 
von  rechtsseitigen  Kopfschmerzen  begleitet  stnd^;  eine  Eeobachtong,  die 
gewiss  auf  der  Höhe  der  schulmeisterlichen  Medizin  eteht.  Aui'  S.  244  wird 
die  Bebaaptong  aufgestellt,  dass  „die  WJndongen  (ee.  deeOeliims)  mit  dem 
Atter  ea  Zahl  undSchftrfe  zunehmen^,  was  wlOirend  deeEtnanUebeiie  bisher 
noch  nicht  konstatiert  werden  konnte.  Die  Zirbeldrttee  wurde  nach  6. 
lange  als  Sitz  der  Seele  aufgefasst,  „weil  ihre  Verletzung  sofort  den  Tod 
herbeiführt";  auch  diese  Einsicht  ist  neu  und  falsch.  Sehr  kühn  int  die 
Voretellnnp  (S.  250),  dass  luarkhaltige  Kervenfaaem  „in  grosser  Zahl  über 
die  Oberfläche  des  Glehims  ziehen^^  Die  folgende  Beschreibung  des  Bücken- 
markes  dflifto  nnUer  sein  (&  252):  ^J[Hm  Rttokenmark  ist  eine  Stole  Ton 
NeryfmmsBse,  die  im  WirbeSksnal  enfstoigt  nnd  sich  sack  noek  hinter  dem 
Nechhim  oder  verlängertem  Rflckenmarke  ale  schwacher  Strang  fortsetzt". 
Von  Bedeutung  für  die  Neurologie  erscheint  die  bisher  völlig  unbekannte 
Einsicht  (S.  253):  „Der  äympaüücus  kommt  allerdings  ans  dem  verlängerten 
Marke,  ist  also  ursprünglich  ein  Himnerv'*.  Ein  altes,  längst  widerl^^ 
M&rchen  hfttte  sieh  der  Yeti,  freilich  sparen  können.  Er  ssgt  S.  252: 
„Sckliesslleh  sei  >oek  die  Tkstseehe  vermerkt,  dass  das  Oeklm  der  Frsn 
do^Jenigen  des  Mannes  sowohl  an  Gewicht  als  an  Feinheit  der  Stmktnr 
nicht  nnweeentlich  nachsteht.  Dieser  Unterschied  ist  bereits  in  der  Anlage 
gegeben  und  lässt  sich  in  keiner  Weise  ausgleichen.  T>*^r  .^FranenemancipAtion" 
sind  mithin  von  der  Natnr  selbst  unbedingte  Schüinken  gesteckt". 

Das  zweite  Kapicei  dieses  lehrreichen  Abschnittes  bespricht  „die 
psychophyaisehan  Ersdisinnngen".  Die  von  Dr.  Brsas  dem  Verf.  frennd- 
Üdist  znr  alleinigen  VerfOgong  gestellte  Illustration  znr  VeranschanUchong 
dseBeflezTOfgangee  (S.  259)  ist  nur  soweit  neu,  als  sie  falsch  ist;  wenigstens 
war  es  bisher  unbekannt,  dass  in  der  Hirnrinde  neben  den  Nervenzellen 
die  die  Bewegungen  auslösen,  andere  Nervenzellen  «existieren,  die  die  Wiliens- 
akte  vollziehen.  Sollte  hier  nicht  ein  kühner  Anaiogieschlusä  zu  dem  Ver- 
hältnis der  Notare  und  Gerichtsvollzieher  vorliegen?  —  Auf  S.  263  werden 
wir  belehrt,  dass  „das  verlängerte  Mark  der  Ifittelpnnkt  aller  Reflex- 
bewegnngen  ist";  während  wir  bisher  geglaubt  hatten,  dass  es  die  Centren 
der  automatischen  Bewegungen  enthalte  Eine  sehlltaenswsarle Beobachtung 
wird  S.  269  mitgeteilt:  „Uebrigens  kann  jtMl.«r  normale  Mensch  an  sich 
erfaübren,  wie  sehr  die  Intelligenz  vom  Gehirne  abhängt  i>a  es  beispiels- 
weise nach  reichlichen  und  guten  Mahlzeiten  verhältnismässig  blutleer  und 
abgskilhlt  ist,  sinkt  die  Klarheit  des  Bewnsstseins^  Die  Polemik  B.*s  gegen 
die  Ldkallsstionstheorle  Mnnk's  erscheint  gegenstandslos,  da  B.  vor  das  be- 
streUel^  was  Münk  nie  bcüisaptet  hatte,  nämlich  daas  die  Grenzen  der  einzelnen 
Centren  bei  allen  Tierklassen  und  zu  allen  Zeiten  unverrückbar  die  gleichen 
wären.  Etwas  schleierhaft  ist  die  Erklärnnor  der  Entstehung  der  Apper- 
ception  (S.  278).  Der  Standpunkt,  daas  in  der  (iehimrinde  nur  Bewegungen 
und  Empündungen  lokalisiert  sein  könnten,  während  die  höheren  psychischen 
ZcHidbrift  ffir  |)i4a£ogische  Psychulogie  und  Pathologie.  6 


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82 


Be*ichte  und  Bes prech u nffen . 


Vorgänge  materiell  durch  das  System  der  As&ociationsfMerii  bewirkt  werden, 
iBt  uns  dwohMiB  sympatlusch;  indenan  Utte  M  ein» «iagalwBdierea B«w«lft- 
fUmBcr  b«diurft  Die  nmliuigrelelieii  Oitete  betr.  die  Avffunmg«»  Stompl'» 

über  das  Urteil  und  die  unbewnssten  SMleiiTcngÜDge  sind  uneingwoltrillkt 
zu  loben;  die  Kritik  B.'s  wäre  dairpfrt^n  sehr  wohl  entbehrlich  gewesen. 
Um  zu  beweii^n,  daas  das  Rückenmark  auch  eine  Art  Bewusstsein  besitzen 
müsse,  dJent  folgende  köstliche  Argamentation  (S.  319):  ,,Da88  die  seusorische 
Bewegung  in  der  GangUenxeUe  des  Bflckemmarkes  tunbiegt,  kann  ana  der 
Kechimft  nleht  exUifart  werden.  Ei  miifla  ea  jener  Ecke  efewM  Sn^Jektlvce 
eingesdialtet  sein,  das  sich  einerseits  als  Empfindung  äussert,  die  von  Innen 
kommt,  andererseits  als  Trie'>,  in  dem  dir  'Direktive  oder  Abwehr  nach 
aussen  liegt  M'igen  diese  beiden  subjektiven  Werte  iiuch  noch  so  minimal 
und  dunkel  sein,  sie  müssen  vorausgesetzt  werden,  tun  den  Umschlag  des 
oeBtrtpetalen  Vorganges  in  einem  eentiifngalen  m  erUlien.  J«bm  BtirM 
ftber  iit  bereite  Bewuesteeln».  Dan  wir,  wie  anf  S.  345  behuiptal  wird, 
in  dw  „BeharmnK"  niar  «inen  anderen  Ausdruck  für  Erhaltung  der  KrafI 
oder  für  Energ-ieSquivalenz  haben,  dürfte  jef!pTi  Physiker  ^vimder  nehmOl* 
Bei  der  i'rage  der  Vererbung  besinnt  sich  der  Verl.  gegenüber  den  un- 
kritischen Behauptungen  Vaihinger's,  dass  die  pädagogischen  Beobachtungen 
doelL  WDbl  nldit  ni  der  auf  etaier  faliehen  YonllgemeiiMraiig  «ad  ober- 
fliohliehen  Analogie  fnasenden  Lehre  Toa  der  PtjehogeoJe  paeeen  wollen, 
obwohl  er  an  einer  früheren  Stelle  (S.  114)  «rklMxt  hatte,  daas  Raum,  Zeit^ 
Kausalität  „als  psjchogenetlsches  Erzeugnis  jener  langen  EntwieklmigsreUie 
forterbend  von  Vater  auf  Sohn  übertragen"  seien. 

Das  letzte  Kapitel  des  Werkes  endlich  behandelt  den  Zusammenhang 
swtoohen  Leib  und  Seele.  B.  bekimpft  bier  die  monlaliiMbe  AnffiMenng 
dieeee  Verhiltninee,  wie  sie  Im  Materlaliamne  nnd  BpIritaaMsmne  anm  Ana- 
drucke gelangt,  ebenso  wie  die  dualistische  AafCaaBong,  an  deren  AeuBserungen 
der  Tdeftlifrmn«  Creulinx,  Mfllebranfhe,  Spinoza,  Tje!bnf7)  nnd  der  peycho- 
physiöche  Parallelismus  gezählt  werden.  Schon  aus  dieser  wunderlichen 
Einteilung  geht  hervor,  wie  unklar  sich  der  Verfasaer  über  die  verschiedenen, 
von  ihm  «ehr  lebhaft  kritfaderten  Weltenaobannngea  Jet  SptrltnaUBmoa 
nad  IdeaUamns  z.  B.  adulnt  ihm  tonte  mdme  dtoae  an  sein,  wenlgabeoa 
tritt  dieser  Eindruck  an  verschiedenen  Stellen  seines  Werkm  hervor.  Ja, 
er  deliniert  sogar  den  Spiritualismus  folp^endermaasen  (S.  380):  „Der  Spiri- 
tualismus behauptet,  eine  Materie  und  2iiotwendigkeit  ausser  una  existiert 
gar  nicht*.  Der  Unterschied  zwiachen  ericenntnis-theore tischen  nnd  mete- 
phyatelieii  l^blemea  wdieiBt  dem  Yerf.  eflbnbar  nooib  nfdit  an^ieguigen 
zu  8ein.  Das  Terklltaia  des  MateriaUsmua  zum  SpiritnaliBmus  wird  dnrbh 
folgendes  Bild  veranschaulicht  (S.  383):  „Obgleich  beide  Weltanechanongen 
von  den  denkbar  grossten  Gegensätzen  ausgehen,  so  nähern  sie  sich  doch 
stetig  nach  der  Mitte  hin  und  treffen  in  den  entgegengeseteten  Enden 
wieder  saeammea'*.  Diaeer  iwetiiwnatiBchen  Elastizität  gegenüber  versagt 
die  AafllHSuigAraft  des  B«f.  SetaMo  elgenea  Staodpaiikt  In  dtaaer  Rage 
nennt  B.  Bealismns.  Er  verateilt  darunter  etamal  die  An£taflsnng,  daaa 
„Nerven prozPSFP  in  Bewussteeinarostände  umschlagen",  eine  Anschauung,  die 
Eef,  sonnt  nur  noi  h  bei  Schlegel  angetroffen  hat;  sodann  aber  die  Behauptung, 
dass  neben  der  phjsiachen  Cansalität  eine  innere  freiheit  bestünde,  die 


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BerichU  und  BtipndatngeH, 


83 


ihxmn  Aafldruck  in  den  Fhänomeuen  de«:»  Willens;  fäade  und  die  Brücke 
swlkelMii  der  AnsBen-  and  Innenwelt  darstelle.  Dieser  Standpunkt  ist  zwar 
aklit  nep,  äbtr  widi  ▼<«  -yoniherefat  nicht »  aoBakilttaloa,  wieviele  gamigt  «ind, 
■nzanehmen;  indaam  kitte  «a  aodb  hier  einer  klarerem  und  eiztgekendaren 

Beweialegung  bedorft.  So  wie  B.  daa  FrdbleB  daistaUl^  ist  es  nickt 
geeigTiet,  alt«  fest^ wurzelte  T'^eberzeu -rangen  omzostossen.  Begnügt  er 
sich  do^h  miMBt,  die  „exakten"  Porscher  zur  Beecheidenkeit  zu  malmen  und 
ihnen  die  Verkeixrtkeit  ikrer  Anackauungen  „zn  Gemiite  zu  iüiiren".  Da- 
naben  laufen  Tag»  Aadeatungea  Ton  Bewatoem,  indeon  er  behauptet,  die 
BtuBie  faagiflfrtanpla&Yollaiif  diaAnnenwalt,  oder  die  kinaWacha  Qaatheorlo 
aal  ^iün.  Gebiet  auf  dorn  Tä£bäk  alkriii  dar  HjUeriallst,  sondern  der  modem» 
Mensch  schlechtweg  überzeugt  ist,  dass  sich  ihm  die  Natur  in  ihrem 
innersten  Wesen  entblösae  und  in  unmittelbarer  Anschaulichkeit  die  natur- 
notwendige  Folge  zwischen  Lrsache  und  Wirkung  vor  Augen  führe*'. 
84^de  das  ganze  Werk  dee  Verf.  auch  nur  annähernd  auf  der  Höhe  dw 
ScJilwmIttaa,  wo  auf  die  Bedeutung  dea  WiUena  fttr  die  FKdagogik  in  aehr 
nachdrtddlahar  and  veiatindiger  Waiaa  hingewieaen  wird,  to  würde  Bei 
keinen  Anstand  nehmen,  die  Arbeit  zu  loben  und  zum  Studium  zn  empfehlen. 
So  aber  ist  die  Anfpi'abp  zrwar,  dip  B  sich  gestellt  hat,  ©ine  durchaus  nütz- 
liche und  dankenswert«,  die  Ausftihrung  aber  in  jeder  Richtung  schwächlich, 
Üuchtig  and  verfehlt.  Hoffentlich  ündet  sich  auch  in  Deutechland  bald, 
ifia  In  iki^and  vad  ^-^W  Snlly  und  Jamaa,  «In  Pliyohologa  von  J^aab, 
d«r  di0  Uttha  nickt  aehaat^  daa  p^ehologlaoli«  Wiaaen  dar  Gaganwart  den.- 
jenigeo  zn  vermitteln^  die  daaaan  nur  AnattbnxigihTeeBenifea  am  dringendatm 
bedürfen. 

Berlin.  L.  HiraehUfl 


Mitteilungen. 


Bin  Brief  des  Kaisers  ü  b  e  r  S  c  h  u  1  r  e  f  o  r  in , 
den  der  Monardh  ala  Crins  am  2.  April  1885  aoia  PMikteiii  an  dan  Amtar  lakter 
Harfewig  in  DUaddciii,  YerlMaar  daa  Bochaa  „Worftn  wir  leiden"  ge- 
schrieben hatten  gdiJigt  jetzt  an  die  Oeffentlichkeit.  In  dem  Briefe  heisst  es: 
„Was  Sie  dort  aussprechen,  das  onterachreibe  ich  Alles  Wort  für  Wort  Ich 
habe  ja  prlücklioherweise  21/.2  -Tfthre  lang  mich  selbst  überzeugen  künueii  was 
da  an  unserer  Jugend  f^etr*  \  ('lt  wird!  Wie  viele  Dinge,  welche  Sie  anführen, 
habe  icii  im  Stüien  bei  mir  bedacht.  Nur  um  einige  Sachen  zu  erwähnen» 
von  21  Pkimanani,  die  maero  XIaaaa  alUte,  trugen  19  Brillen,  S  davon 
naaatan  jedoch  noch  einen  Kneifer  yor  die  Brille  stecken,  wenn  sie  bia  cur 
Mal  Mban  wollten! 

Homer,  dpr  hrrrürhp  Mann,  für  den  ich  sehr  geschwärmt,  Horaz, 
Demosthenes,  dessen  Kf  ien  ja  jeden  begeistern  müssen,  wie  wurden  die  s-^e- 
lesen?  Etwa  mit  Enthusiasmus  für  den  Kampf  oder  die  Waü'en  oder  itjatur- 
beachreibongen?  Bewahral  Unter  dam  Seatannaaeer  daa  grammatfkaliaelwn, 


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84 


Mitteilungen. 


fa:  atisierten  Philologen  wurde  jedes  Sätzchen  geteilt,  gevieiteilt.  bis  das 
Skelett  mit  Behagen  gefunden,  und  der  allgemeinan  Bewimderniig  gezeigt 
ward,  In  wie  viel  vendiledener  Weiae  oder  kiU  odw  sonit  to  ein  Ding  vor 
oder  nadigeelellt  warl  Ee  war  zom.  weinen  I 

Die  Isteinischen  und  griechischen  Aufsätze  (ein  rasender  Unsinn),  was 
haben  die  für  Mühe  gekostet!  Und  was  für  ein  Zeug  kam  da  zum  Vorscheinl 
Ich  glaube,  Horaz  hiitte  vor  Schreck  den  Ueist  aufgegeben! 

Fort  mit  dem  Brabt!  Deu  Krieg  auls  Menaer  gegen  solche«  Lehren! 
]>iea  STttem  bewirkt,  dase  nnsere  Jngmid  die  Syntax,  dto  Grammatik  der 
alten  Sprachen  besaer  koint,  ala  die  „oUen  Griechen**  selber,  dais  de  die 
sämtlichen  Feldherren,  Schladiten  and  flehladitenanfete  11  nicken  der  punischen 
und  mithridatischen  Kriege  auswendig  weiss,  aber  sehr  im  Dunkeln  sich 
befindet  über  die  Sclilachteu  des  7  jährigen  Kriegeö,  geschweige  der  „viel 
zu  modernen'*  aus  „Oö"  und  „70    die  sie  noch  nicht  ganz  „gehabt  haben"  !  1 1 

Wae  nun  den  "EAtjjw  betrifft,  eo  bin  Ich  anch  der  ganz  bestimmten 
Anaichtk  daaa  die  Kaehmittagastnndexi  frei  sein  mflsaten,  ein  für  alle  Mal. 
I>er  TaznnntBrrldit  mflaate  den  Jungens  Spass  machen.  Kleine  ffindemis- 
bahnen  zum  Wettrennen  und  recht  natürliche  Kletterhindemisse  würden 
vnn  Wert  Dann  wftrde  es  sich  sehr  empfehlen,  in  allen  ^tridten  ,  wo 

Militär  li^t,  alle  Woche  zwei-  oder  dreimal  durch  einen  ünteroiiizier  nach- 
mittags die  gesamte  ältere  Jugend  mit  Stöcken  exerzieren  und  drillen  zu 
lasaeii;  anstatt  der  albernen  sc^nanntan  Elasseaspaxiergänge  (mit  elegantem 
Stöckdien,  sdiwarxem  Bock  und  CSigarre)  üebongsmarsdk  mit  ^  bisdien 
Felddlenet,  wenn  er  auch  In  S^del  und  handfsete  Flrllgel  anasrtet,  so 
machen. 

Unsere  PriiiKiner  -  wir  waren  leider  auch  so  —  sind  viel  zu  bla-sieit, 
als  dass  sie  sich  eleu  Kock  ausziehen  and  sich  keilen  könnten  1  Wa»  konnte 
man  auch  anders  von  solchen  Lentcken  erwarten.  Bsker  guerre  k  ontranee 
gegen  dieses  S^ateml  Und  ick  bin  gern  bereit,  Urnen  in  Ibrsn  Be- 
strebungen bekllflieh  an  sein!  ich  freue  mieh,  einen  »Deatack«  redendm 
gefunden  lu  beben,  der  auch  fest  zafaset 


Das  Kind  —  eine  Reformzeitscbrift  für  die  Familien. 

Prospekt. 

Die  Erziehung  der  Kinder  von  der  Geburt  bis  zur  Wahl  des  Berufes 
ist  imter  den  modernen  Lebensverhältnissen  und  Lebensbedingungen  eine 
schwere  und  verantwortungsvolle  Aufgabe  für  jede  Familie  und  jeden  mit- 
wirkenden Eraieker  nicht  nnr  am  wirteekaftlidien  Gründen,  sondem  vor 
allem  ans  pidagogischen,  medixlnisckea,  aestbetisoken  nnd  etMsehem  Ge- 
sichtspunkten. Maogelt  es  doch  heute  noch  eingestandenermassen  den 
meist-en  Elt^^rn  an  einer  hinreichenden  Vorbildung  selbst  für  die  elemen- 
tjirnt(?n  Forderangen  in  dieser  Richtung.  TTeberliefening  und  instinkt- 
massiges Verfahren  müssen  oft  die  Stelle  der  fehlenden  Kenntnisse  and 
Fertigkeiten  bei  dmr  Behandlung  der  Eindw  ersetsen  ~  com  Sehadan  dar 


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Müteüungen, 


95 


Kinder!  Wieviel  Sorgen,  schlaflose  Nächte,  Vorwürfe,  könnten  den  Eltern 
«np«rt  werden,  wieviel  Leid.  Reue  tuid  Verluste  den  Kindern,  tun  wie  viel 
wwtvdlM  Mtttortal  kOnnte  da«  geistig«  und  wbtwIiAfäiclw  Kapital  des 
Volke«  verznehrt  werden  —  durch  eine  voUtCTnin  euere  Behandlong  der 
Kinderl 

Wie  Koll  das  Kind  fj;e^«nndhpiHich  ernährt,  gekleidet  und  tiber- 
wacht Wie  lauge  soll  es  arbeiten,  spielen  und  sich  er- 
holen? Aul  weichem  Wege  entwickeln  wir  seine  Korperkräfte,  seine 
SinaeBorgane  und  seine  geistigen FEKigkaltea?  Wto  gewinnen  wir 
EiafiaM  »nf  a«iB«ai  Okarakter  nad  die  epfttara  Lebeosfttkmag?  Wie 
•etaen  wir  es  in  Verbindung  mit  dem  bildenden  und  beglflckenden  Qe!tt 
von  Kunst  und  Dichtung,  wie  gewöhnen  wir  es  an  die  stillen  Freuden  der 
Natur?  Welche  Lehranstalt  soll  es  besuchen?  Wie  soll  sich  das  Eltern- 
haus zu  den  Anforderungen  der  Schule  verhalten?  Wie  bertlcksichtigt 
man  die  iadivfdaellen  Anlagen  der  Knaben  und  Mädchen?  Anf 
wekskea  Beraf  beretteBi  wir  ale  vor? 

Eine  richtige  Antwort  auf  diese  und  viele  MhaHfihe  Fragen  wird  von 
den  Eltern  nur  in  wenigen  Fällen  gefunden ;  sie  könnte  jedoch  für  alle  in 
Betracht  kommendeii  Gebiete  gegeben  werden  dnrcb  ein  harmoniflches  Zu- 
sammenwirken von  Sacliverstindigeu  —  Aeizteu,  Lehrern,  Künstlern  und 
Vertretern  praktischer  Berul'sarten. 

Eiae  Zeltsdbrift  mU  aieh  aaa  die  Aufgabe  atalka,  fttr  e&mtliche  Teile 
der  hifcnaUehen  Enlelning,  für  Hygiene,  üatanlekt  nad  Sdinl-Sialeliiiiig, 
Spiel  und  TTatorhaltung  der  Kinder  aller  Lebensalter  in  gesunden  und 
kranken  Tagen,  ftlr  ihre  kiinptleriflche  Bildung,  sowie  für  die  Bomfswahl 
der  ins  Leben  tretenden  Jugend  den  Eltern  fachmännische  Weisungen  an 
die  Hand  zu  geben  und  in  durchaus  volkstümlicher  Weise  über  die  ein- 
achllgigen  Verhältnisse  nnd  modernen  Bestrebungen  auf  diesem  Gebiete 
fortlaufenden  Bericht  an  eraMtaa.  Ble  luxflfc  damit  den  Tielfudi  geäussstteu 
Wünschen  des  Publikums  an  dienen. 

Um  Zuschriften  bitten 
T)r  F  Kemsies,  Dr.  L.  Hirschlaff^  W.  Spohr, 

Berlin  NW.,  Paulstr.  33.  Berlin  W.,  Lützowstr.  8&  b.  Frledrichahagea  b.  Berlin. 


„Die  Kunst  im  Leben  des  Kindes**.  Ausstellung  im  Hause 
der  Berliner  Secession.  März  1901.  Berlin-Charlottenbturgj 
Kantstrasse  12. 

Das  Komitee  flberreicht  folgende  Mitleflimg:  Immer  lauter  und  dring- 
Hcher  wird  das  sdutsdchtige  Verlangen,  unser  Dasein  aus  den  wirren  Kämpfen 
der  modernen  Welt  in  eine  Sphäre  der  Freiheit,  Schönheit  und  Heiterkeit 
emporzuheben.  Wir  fühlen,  dass  das  deutsche  Leben  der  Gegenwart  mit  uner- 
träglicher Einseitigkeit  vom  Verstandesmässigen,  Logischen.  Exakten,  von 
materiellen  Erwägungen  und  Interessen  beherrscht  ist,  und  dass  es  ernster 
Arbeit  kn  Dienste  des  Aetthetischen,  Kflnstlerischen  bedarf»  um  unsere  Kultur 
einer  bannonisciien  Gestsltung  niher  zu  Iflhren. 


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a6  tmäkmgm. 

Der  Schwerpunkt  unterer  BUduag  Ikgt  im  Wiesen.  Neigt  die  deutsche 
Eigeaan  schon  an  sich  mehr  zum  spckuUitiTen  Denken  als  zum  stnnlicfaen 

Anschaueu,  das  die  Voraussetzung  alles  Kunstichaffens  und  Kunetgeniessens 
ist,  so  hat  uns  das  abgelaufene  Jahrhundert,  dessf-n  Ruhm  in  den  beispiellosen 
Thaten  der  Wissenachaft  und  der  Tecliink  beruht,  auf  djesem  Wege  noch 
bestärkt.  Gebieterisch  tritt  heute  an  uns  die  Forderung  heran,  das  Gleich- 
gewicht wiederherzustdien  und  dem  künstlerischen  Empfinden  den  Ranm  im 
Leben  anzuweisen»  der  ihm  gebührt. 

Bei  der  Jugend  müssen  wir  beginnen;  denn  die  Jugend  ist  die  Zukunft 
Unser  Schulunterricht  scheint  heute  fast  ausschliesslich  nur  e  i  n  Ziel  zu 
kennen:  den  Verstand  zu  schärfen  und  Kenntnisse  zu  vermitteln.  Die  Er- 
ziehung der  Sinue  und  die  Püege  der  Phantasie  werden  vernachlässigt  Man 
übersieht  die  eminente  Bedeutung  dieser  Faktoren  für  das  Leben.  Man  ver- 
glast, daa  Ihre  Berncksichtigtuig  die  unabweisbare  Voraussetzung  für  eine  all- 
seitige und  befriedigende  AnsbUdung  der  geiatigen  Kräfte  des  heranwachsen- 
den Menschen  ist 

Nur  selten  und  schüchtern  wagt  sich  noch  die  Behauptung  hervor,  dass 
die  Kunst  ein  zwar  schöner,  aber  doch  nicht  unbedingt  notwendiger  und 
darum  leuten  Endes  vielleicht  gar  entbehrlicher  Luxus  des  Lebens  sei.  Wir 
wissen  heute  —  und  gerade  die  Wbsensdiaft  hat  uns  diese  Kenntnis  verschafft 
— »  dass  das  Bedürfnis  nach  Ktmst  zu  den  Urtrieben  des  Mensdien  gehört 
Die  Welt  ist  uns  nicht  allein  ein  Produkt  von  Kräften  und  Gesetzen:  wir 
enipfindrn  in  MnsfTn  schönsten  und  reinsten  Stunden  den  Kosmrts,  in  dem  wir 
alini  ij.  a.ls  ein  gewaltiges,  geschlossenes  Ganzes,  als  eine  unbcgrciiiicliL,  l)e- 
wundcrnswerte  Schupiung  der  Natur,  in  den  Werken  der  menschlichen 
Kunst  aber  glauben  wir  den  Abglanz  der  schd^eriscben  Kraft  der  Natur 
zu  erkennen,  und  wir  gemessen  im  Anschauen  dieser  Werke  das  be^udeendeb 
aihnnngsvolle  Gefühl  eines  Zusammenhangs  zwischen  uns  und  dem  Welt- 
ganzen.  Es  hat  nie  und  nirgend  Menschen  gegeben,  die  nicht,  mehr  oder 
weniger  bewusst,  ein  tiefes  Bedürfnis  nach  dem  Gciuhl  dieses  Zusammenhangs 
empfunden  hätten.  Es  wäre  eine  schwere  Unterlassungssünde  der  Padagugil^ 
wenn  sie  an  dieser  Thataache  vorbeigehen  wurde. 

Am  schltounsten  steht  es  in  unserer  Sdiide,  wie  in  unserm  Leben,  um 
die  b  i  1  de n de  Kunst  Eine  Erziehung  des  Auges,  eine  Schulung  des  Sehens, 
die  einen  Genuss  der  Werke  der  Maler,  der  Bildhauer,  der  Architekten  er- 
möglicht, fehlt  der  deutschen  Jugend.  Wahrend  Dichtung  und  Musik  sich 
wenigstens  im  Litteratur-  und  Gesangsunterricht  ein  bescheidenes  Plätzchen 
erobert  haben,  Ist  die  bildende  Kunst  daa  Stiefkind  des  herrschenden  Unter- 
richtssystems. 

Es  hat  gewiss  in  jüngster  Zeit  an  Versuchen  nicht  gefehlt,  dem  Ver- 
langen des  Auges,  dem  Durst  nach  sinnlicher  .\nscbauung,  der  im  Kinde 
vielleicht  noch  brennender  ist  als  !m  Erwachsenen,  entgegeiiztikommen. 
Man  beginnt  die  Schuler  mehr  als  bisher  mit  der  Natur  vertraut  zu  raachen, 
imd  man  hat  den  Anschauungaunienrieht  eingeführt,  der  das  früher  allein- 
hecTSchende  Wort  ergänzen  soll.  Aber  diese  Versuche  müssen  Stückwerk 
^i^i^,  wenn  ihnen  nicht  eine  künstlerische  Erziehung  zu  Hilfe  kommt 

Es  wird  vor  allem  nötig  sein,  den  bestehenden  Zeichenunter- 
richt zu  reformieren.   Sein  Ziel  muss  es  sein,  das  Kind  sehen  zu  lehren. 


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87 

in  ilH„  ein-  Fähigkeit  aus.rü,ilden.  die  Gcgcnstiütde  seiner  Umgebung  später 
auch  seiner  Phantasie,  nach  ihr<rn  Formen.  Linien  tinri  Fnrhen  festzuhalten. 
in  jedem  Rinde  lebt  ein  instinktives  Verlanj?en  zu  dieser  Beschäftigting  der 
Wuittch,  das»  WM  es  sieht»  sich  ntcfat  durch  das  Wort,  sondern  auch  durch 
das  BUd  «1  verdeutlicheii.  Es  hudelt  sich  för  den  Lehrer  hier  darum,  einen 
vorhandenen  Trieb  n  pBeRen,  das  Adge  ffir  die  Erseheimingen  der  Welt,  die 
da^  Kind  wahrnimmt,  durch  eine  Anidtmig  zum  intensivereti  Sehen  sti 
scliarten.  also  den  mechanischen  Zeichennriterricht,  der  bisher  meist  beliebt 
war.  durch  einen  kiinstJerischen  zn  ersetzen 

Daneben  aber  muss  das  Kind  unbedingt  auch  der  Kunst  seihst 
sugefvhrt  werden.  Reformen  der  Zdehenunterrichumethode,  die  von  ver- 
schiedenen Seiten  Torsesehlasen  werden,  1c«anen  ohne  diesen  weiteren 
Schritt  nicht  zum  Ziele  fuhren.  Lernt  dss  Kind  dort,  die  Dinge  der  Natur 
.^o  scharf  zu  sehen,  wie  es  vermag,  so  lernt  es  hier,  wie  die  Künstler,  die 
bevorzuRten  Menschen  mit  besonders  ghlcklichen.  über  da«;  pcwöhnliche  Mass 
entwickelten  Augen  die  Natur  zu  sehen  und  aufzufassen.  Es  krnt  das  ge- 
steigerte Sehen  des  Künstlers  kennen,  und  nimmt  durch  stets  erneuten 
Hinweb  mfihdos  die  Art  des  tefinstlerisehen  Sehens  in  sich  auf:  wie  der 
Künstler  die  entscheidenden  Züge  der  Wirklichkeit  atwwiUt  wie  et.  kraft 
seiner  Veranlagung,  die  Fülle  der  natürlichen  Erscheinungen  vereinbcht  und 
darum  au«=druck^%roner  wiedercicht  wie  er  Linien.  Formen  und  Farben  nach 
den  in  ihm  lebenden  Gesetzen  der  Harmonie  zusammenstellt.  Der  Zeichen- 
unterricht und  die  Einführung  in  den  Genuss  der  Werke  bildender  Kunst 
werden  sich  dadurch  ergänzen.  Wird  das  Kind  durch  die  Anleitung  zur 
Beobachtimg  der  Natnr  fähiger  gemacht  an  der  Kunst  Freude  an  em- 
pfinden, weil  es  so  vorgehen  lernt,  wie  der  Künstler  vorgeht,  so  wird  es  auf 
der  anderen  Seite  durch  die  Kunst  für  die  Schönheiten  der  Natur  empfäng- 
licher wrrripn,  weil  p«:  hier  dtr  WpI»  mit  drn  feineren,  da»  Wesentliche  herauB> 
hebenden  Augen  des  Kunstlers  sehen  lernt. 

Von  frühester  Jugend  an  müssten  diese  Gedanken  bei  der  Erziehung 
des  Kindes  mitwirken.  Es  mfisstc  bei  allem,  was  man  dem  Auge  der  Kleinen 
darbietet,  soweit  irgend  mSgüch.  darauf  Bedacht  genommen  werden,  dass  es 
nur  Dln^e  sind,  die  künstlerischen  Anforderungen  genügen  können.  Denn 
so  sehr  las  Auge  durch  da«  Kanstlerische  gebildet  werden  kann,  so  sehr  karyi 
CS  durch  Unkünstlerisches  verbildet  und  auf  falsche  Bahnen  geleitet  werden. 
Vor  allem  richtet  sich  naturgemäss  der  Blick  auf  das.  was  unmittelbar  für  das 
Kind  bestimmt  ist.  Die  Bilderb  ü  c  h  e  r  müssen  von  dem  Fluche  des 
Unkunstlerischen  erlost  werden,  der  heute  auf  ihnen  lastet  Die  Aus- 
stattung der  Kinderzimmer  muss,  wo  die  materiellen  Verhältnisse 
es  gestatten,  sorgfältiger  beobachtet  werden.  Und  in  der  Schule  muss 
dem  Kindt'  die  Möcrlichkeit  gewährt  werden,  sich  der  Ktmst  ru  nähern. 

Zahlreiche  Aufgaben  ergeben  sich  hier  für  die  Zukunft,  und  ein 
stattliches  Programm  wird  man  entrollen  müssen,  wollte  man  alle  Punkte 
aufzahlen,  die  hier  in  Betracht  kämen.  Vor  aüem  hat  mm  in  jüngster 
Zeit  sein  Augenmerk  auf  eine  Forderung  gerichtet  die  lautet:  Kfinst- 
lerischer  Bilderschmuck  in  der  Schule!  Im  Auslande,  be- 
sonders in  England  und  in  Frankreich,  wo  man  allen  jenen  Problemen  seit 
langem  eifrig  nachgeht  hat  man  mit  praktischer  Beherztheit  diesen  Punkt 


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88 


Mittaitmgat. 


herausgegriffen.  Und  auch  die  einzige  deutsche  Stadt,  wo  die  hier  ange- 
deuteten Fragen  von  Seiten  der  Kunstfreunde  wie  der  Lehrerschaft  er- 
wogen worden  sind:  Hamburg,  hat  diesen  Weg  eingeschlagen. 

Die  Anachaaungabilder  unserer  Schulen  —  darüber  verlohnt  es  kaum 
zu  sprechen  —  genügen  den  Anforderun^jeu,  die  hier  gestellt  werden  müssen, 
hei  weitem  nicht.  Künstlerische-  Hilder,  die  dem  Gegenständlichen  wie 
der  Pehrindhmgsart  nach  geeignet  sind,  aui  das  Empfinden  des  Kindes  zu 
wjrken,  soiien  in  die  Schule,  zum  Schmuck  der  Wände  in  den  meist  so 
kahlen  und  wenig  einladenden  Räumen,  und  als  Material  für  die  Erzieher,  um 
die  Zöglinge  dem  Kunstempfinden  naher  zu  fuhren.  Denn  dies  soll  gelehrt 
werden,  nicht  Kunstgeschichte:  kein  neues  Fach,  kein  neuer  Lehrgegenstand 
soll  in  die  Schule,  keine  neue  Last,  sondern  eine  Lust. 

Die  Folgen,  die  eine  solche  Einführung  in  die  Kunst  für  die  lieran- 
warVisende  Generation  haben  würde,  la-.M  n  sich  heute  kaum  übersehen.  Sic 
gehen  weit  über  die  unmittelbare  Wirkung:  Erziehimg  zum  Kunstgenuss  und 
rar  erhöhten  Naturfreude,  hinaus.  Die  gesamte  Ausbildo^  des  Zöglings 
wird  davon  Vorteil  haben,  »eine  ganze  Anschauung  wird  dadurch  beeinflusst 
werden,  die  Erweckung  des  künstlerischen  Geschmacks,  die  als  letztes  Ziel 
dabei  vor  Augen  schwebt,  wird  auf  sein  späteres  Leben  wirken  und  ihm  in 
jedem  Berufe,  namentlich  wenn  er  ein  Handwerk  irgend  welcher  Art  er- 
greift, zu  Gute  kommen.  Doch  auch  die  ethische  Wirkung  einer  solchen 
künstlerischen  Anleitung  soll  man  nicht  vergesse«.  Gerade  die  erzogenen  und 
geleiteten  ^nne  nnd  der  beste  Schutzwall  gegen  ihren  Missbranch,  gegen  das. 
was  wir  gemeinhin  tadelnd  als  „Sinnlichkeit"  bezeichnen,  weil  uns  das  Gefühl 
dafür  abhanden  gekommen  ist.  das^s  es  auch  eine  zum  Hohen  und  Edlen 
führende,  ein  sittliche  Sinnlichkeit  giebt. 

Wir  möchten  diese  Bestrebungen  aufnehnaen  und  die  Anregung  dazu 
bieten,  dass  sie  weitere  Kreise  ziehen.  Eine  Atisstellung  „D  ie  Kunst  im 
Leben  des  Kindes",  die  im  Mirz  dieses  Jahres  im  Gebäude  der  Ber- 
liner Secession  stattfinden  soll,  wird  in  drei  Abteihingen  —  .Künst- 
lerischer W  a  n  d  s  c  h  in  u  f  k  für  Schule  und  Haus".  ..Bilder- 
buche  r".  und  ,.D  a  s  Kind  als  Künstler"  —  vorführen,  was  auf  den 
genannten  Gebieten  an  brauchbarem  Material  für  Deutschland  und  in  erster 
linie  für  Berlin  —  denn  bei  diesem  Bemühen  wird  man  stets  am  besten  «die 
heimatliche  Besonderheit  in  Betracht  ziehen  —  bereits  vorliegt.  Sie  wird 
ferner  in  einzelnen  Proben  aufzeigen,  wie  man  im  Auslande  seit  Jahren  im 
Dienste  dieser  Gedanken  thätig  war.  Und  sie  will  schliesslich  und  vor  allem 
auf  Lehrer  imd  Eltern,  auf  Behörden  und  Freunde  der  Kunst  und  des  Er- 
ziehuugswescns  und,  nicht  zuletzt,  auf  die  Künstler  anregend  wirken. 

Wir  sind  uns  woM  bewusst,  dass  mit  der  Veranstaltung  einer  solchen 
Attsstdlung  nur  ein  erster  Schritt  in  einem  weiten  und  vielfach  noch  uner- 
forschten Lande  gethan  wird.  Aber  dieser  erste  Schritt  muss  einmal  ge- 
macht werden.  — 


Scbriftleitung:  F.  Kcmsici,  Berlin  NW.,  P.iulstr.  33. 
Vertag  von  Herminn  Walther,  Berlin  SW.,  Wllhclmstr  47. 
Dmck  von  •Typographia",  KnaiUuiid  SebaiaMbiaco-DracIteici,  BeriinSW.,  Friedridutt'.  M. 


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Zeitschrift 

(Br 

PädadOflUcte  Psychologie 

und 

PatModie* 

herausg^eben 
von 

Ferdinand  Kemsies. 


Jahrgang  III.  Berlin,  April  1901.  Heft  J« 


lieber  kindliche  Vorstellungen  bei  den  äogeiu 

Naturvölkern. 

Vortrag  im  Verein  für  KinderpsydioiQgie  am  IS.  Juni  1900. 

Von 

F.  von  Luschan. 

Aus  unserer  allgemeinen  Erfahrung  von  dem  Parallelismus 
ontO'  und  phylogenetischer  Reihen  hat  sich  bei  den  meisten 
Gebildeten  die  Vorstellung  entwickelt,  dass  die  sogenannten 
Naturvölker  nicht  nur  im  allgemeinen  ein  frühes  Stadium  der 
Geschichte  der  Menschheit  vertreten,  sondern  dass  auch  ihre 
Psyche  mit  der  unserer  Kinder  übereinstimme. 

Dieser  Vorstellung  verdanke  ich  wohl  auch  die  ehrenvolle 
Aufforderung,  hier  in  Ihrem  Kreise  über  ein  Thema  meines 
Wissensgebietes  2u  sprechen.  Wenn  ich  dieser  Aufforderung 
heute  entspreche,  so  kann  ich  dies  nicht  ohne  die  schwersten 
Bedenken  thtm,  und  ich  will  vorweg  gestehen,  dass  gerade  die 
Psychologie  dasjenige  Gebiet  ist,  auf  dem  die  Völkerkunde 
noch  am  allerweitesten  zurück  ist,  und  auf  dem  sie  mit  einer 
grossen  Menge  von  allgemein  verbreiteten  Irrtümern  und  völ- 
lig verfehlten  Vorstellungen  zu  kämpfen  hat.  Es  liegt  das  natur- 
gemäss  in  der  besonders  schwierigen  Beschaffenheit  zuverläs- 
sigen Materials.  Speere  und  Dolche  zu  sammeln,  ist  ja  mein 
wesenllicli  schwieriger  als  das  Fangen  von  Käfeni  und  Schmet- 
terlingen, aber  da^  richtige  Erfassen  eines  psychologischen  Vor- 
ganges erfordert  sehr  viel  mehr  Zeit  und  Sprachkenntnisse, 
alij  der  grossen  Mehrzahl  der  Reisenden  gegeben  ist.  In  der 
That  finden  wir  die  meisten  .Angaben  über  religiöse  Vorstel- 

Zeitsdirift  für  pjUUgogitcbe  Psychologie  nnd  Pathologie.  1 


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90 


F.  von  Luschan. 


lungen«  über  Rechtsbegriffe  und  über  psychologische  Fragen 
gerade  immer  in  den  Berichten  von  flüchtigen  Reisenden,  von 
denen  wir  wissen^  dass  sie  kaum  ein  Wort  der  Landessprache 
kennen  und  wir  sehen  andererseits,  dass  gerade  die  wirkUch 
gewissenhaften  und  sorgfähigen  Beobachter  selbst  nach  jahre- 
langem Aufenthah  unter  den  Eingeborenen  sich  nur  sehr  re- 
serviert über  ihr  geistiges  Leben  äussern.  Viele  moderne 
Autoren,  deren  ganze  Geschicklichkeit  darin  besteht,  aus  zwölf 
Büchern  ein  dreizehntes  zu  machen,  sind  sich  der  Minderwertig- 
keit einzelner  ihrer  Quellen  nicht  genügend  bewusst  gewesen, 
und  so  sind  jetzt  viele  Vorstcllvrgen  zur  „Psychologie  der  Natur* 
Völker"  allgemein  verbreitet,  die  einer  näheren  Prüfung  nicht 
standhalten. 

Wenn  R.  Martin  seine  Freunde  von  der  Malayischen  Halb- 
insel „sorgenlos  und  zeitlos*'  nennt,  und  wenn  ein  anderer  die 
Peru-Indianer  als  eitel  bezeichnet,  weil  sie  fünf  bis  sechs  Stun- 
den täglich  auf  ihre  Toilette  verwenden,  so  wird  man  ihnen 
sicher  beipflichten  müssen.  Wenn  aber  zum  Beispiel  Max  Fried- 
mann  behauptet,  dass  Causa Vtätsf ragen  den  „Wilden"  ganz 
fremd  seien,  so  fordert  das  den  Widerspruch  jedes  kundigen 
Ethnographen  heraus.  Wir  wissen,  dass  gerade  der  primitive 
Mensch  einen  viel  grösseren  Teil  seiner  Zeit  über  warum,  wes- 
halb, wieso,  wozu,  nachdenkt  als  wir,  und  wir  können  uns  sehr 
gut  vorstellen,  dass  die  Trugschlüsse,  zu  denen  er  dabei  so  oft 
gelangt,  nicht  notwendig  auf  einer  besonderen  Schwäche  des 
Denkvermögens  beruhen  müssen,  sondern  viel  eher  auf  Mangel 
an  Bildung  zurückzuführen  sind.  Post  hoc  ergo  propter  hoc 
stammt  aber  aus  der  Antike  und  würde  also  unbelenklidi  zum 
Beweis  dafür  herangezogen  w^:rden  können,  dass  auch  einCul- 
turvolk  in  Causalitätsfragen  nicht  immer  zuverlässig  entscheidet. 

Bei  dem  gegenwärtigen  Zustande  unserer  Kenntnisse  sind 
allgemeine  Angaben  über  psychologische  Vorstellungen  fast 
immer  bedenklich,  und  ich  ziehe  es  daher  vor,  Ihnen  heute  einige 
zuverlässig  beobachtete  Thatsachen  mitzuteilen,  die  vielleicht 
ein  gewisses  Interesse  auch  für  Ihr  Studiengebiet  haben. 

Zuvor  möchte  ich  aber  nodi  darauf  hinweisen,  dass  es  nicht 
angeht,  so  ohne  weiteres  von  „Wilden"  oder  auch  von  „Natur- 
vöÜcem**  zu  sprechen.  Alle  Bemühungen,  irgend  welche  Kri- 
terien zwischen  Culturvölkem  und  „Wilden"  zu  finden,  müssen 
als  völlig  gescheitert  betrachtet  werden.   Jeder  neue  Autor 


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IMer  kmdUAM  VorttdlimgtH  M  den  »gm.  NaturvMem. 


91 


stellt  da  neue  Grenzen  auf  und  entdeckt  neue  Zwischenstufen. 
■So  hat  man  versucht  aktive  und  passive  Rassen  zu  unterscheiden, 
dann  hat  Carus  izwischen  seine  Tag-  und  Nachtmenschen  noch 
die  „Dämmerungsmenschen"  eingeschoben,  und  so  die  Mon- 
golen zwischen  die  Europäer  und  die  Neger  gestellt. 

Genau  ebenso  naiv  und  haltlos  sind  die  Scheidungen  nach 
der  Farbe  nach  der  „Schönheit^,  nach  Reinlichkdt*),  nach 
der  Moral,  nach  der  Schamhaftigkeit,  nach  dem  Mehr  oder 
Minder  an  Bekleidung"),  nach  dem  Besitz  oder  dem  Pehlen 
der  Schrift  *X  nach  dem  Vorkommen  von  Menschenopfern*)  und 
nach  allerhand  anderen  Kriterien  solcher  Art. 

Je  besser  wir  jetzt  diese  Wilden"  oder  diese  „Naturvölker" 
kennen  lernen,  umsomchr  sehen  wir  ein,  dass  es  nirgends  eine 
(  »renzc  giebt,  die  sie  scharf  und  sicher  von  den  Kulturvölkern" 
scheidet.  Selbst  der  verhältnissmässig  geringere  Verkehr  mit 
der  Ausscnvvelt,  der  uns  im  allgemeinen  noch  als  das  sicherste 
Kriterium  eines  primitiven  Volkcb  erscheint,  ist  immer  nur  eine 
relative,  niemals  eine  absolute  Eigenschaft. 

Was  den  Wilden"  am  häufigsten  vorgeworfen  und  immer 
wieder  von  neuem  als  kindliche  Eigens*  Im  tt  angerechnet  wird, 
ist  ihre  ».Schwäche  im  abstrakten  Denken."  Wie  eine  solche 
Ansicht  entstehen  kann,  mörlite  ich  an  einem  Einzelfalle  schil- 
dern, der  mir  jüngst  erzählt  wurde: 

Ein  Sammler,  ich  sage  nicht,  dass  es  ein  Landsmann  von 
uns  war,  hat  einen  Korb  ergriffen  und  wünscht  den  einheimi- 
schen Namen  zu  erfahren.  Er  fragt,  da  er  die  Landessprache 


')  Die  dunkle  Hautfarbe  ist  im  wesentlichen  als  Schutzmittel  gegen 
Sonnenbrand  zu  betrachten  und  iiat  mit  der  ethnischen  Dignität  nicht  das 
Oeriii£iBte  zu  sdiafleti. 

^  Viele  Banttt  niniceit  sich  nach  jeder  Matzett  sotigaitig  die  ZIhne  mit 
dner  scharfen  Bfliste.  Wie  viele  deutsche  und  russische  Bauern  haben  niemals 
von  einer  Zahnbürste  auch  nur  gehört!  Die  Mehrznbl  der  „Wilden"  pflegt 
täglich  zu  baden,  während  es  viele  Furopicr  giebt,  die  sich  niemals  waschen. 

Die  alten  Griechen  (cfr.  Herodot  I.  10,  ihurydides  i.  6.  5  u.  s.  w.) 
iraren  stolz  auf  ihren  nackten  Körper  und  wussten,  dass  bei  den  Barbareo 
eine  Schande  sei,  nadct  gesdien  zu  werden. 

Man  vergleiche  die  enorme  Ueberzahl  der  Analphal)eten  Qber  die 
Schreibkundigen  z.  B.  in  Russland  und  im  Q^gensatze  dazu  das  grossartige  Ge- 
dächtnis der  meisten  polynesischen  Stämme. 

5)  Vor  der  Schlacht  bei  Salamis  haben  die  Griechen  drei  gefangene 
Perser,  Ndtcn  des  Xerxes,  dem  Dionysos  geopfertlü 


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92 


nicht  genügend  erlernt  hat,  in  seiner  eigenen  Muttersprache 
wie  das  Ding  heisse.  Sein  Boy  antwortet :  „Das  ist  aus  Stroh". 
Darauf  sagt  ein  Einheimischer:  ,,Nein,  das  ist  aus  Binsen." 
Einer  von  den  beiden  scheint  also  gelogen  zu  haben  und  jeder 
erhält  25  Hiebe;  (dann  wird  ein  zweiter  Ei,nheimischer  herange- 
schleppt, der  erklärt,  der  Korb  sei  geflochten  und  erhält  da- 
raufhin auch  seine  25  Hiebe.  Dann  erklärt  ein  anderer:  Das 
Ding  sei  ein  Korb.  Ein  vierter  erklärt  es  gehöre  für  Mehl,  ein 
fünfter,  der  Korb  gehöre  seinem  Bruder,  ein  sechster,  er  wisse 
nicht  wem  der  Korb  gehöre,  der  siebente,  er  verstünde  nicht 
was  der  weisse  Mann  wolle.  Das  Ergebniss  dieser  „wissen« 
schaftlichen  Untersuchung"  sind  zunächst  also  200  Stockhiebe. 
Dann  notiert  der  Weisse  in  sein  Tagebuch:  „Das  sind  keine 
Menschen,  das  sind  Thiere."  Der  Schwarze  sagt :  „Der  Mann 
ist  nicht  ganz  gescheut,  dem  müssen  wir  aus  dem  Wege  gehn/* 
Der  Stubenethnograph  aber  schreibt:  Der  Neger  ist  durch 
die  Schwäche  im  abstrakten  Denken  ausgezeichnet. 

Aber  auch  sehr  angesehene  Reisende  sind  in  diesen  Fehler 
verfallen.  Schon  Spix  und  Martins  klagen,  dass  es  bei  dem 
Mangel  an  Uebung  des  Geistes  der  Indianer  sehr  schwierig  sei, 
über  seine  Sprache  genügende  Auskunft  zu  erhalten.  ^Kaum 
hat  nnan  angefangen  ihn  auszufragen,  wird  er  ungeduldig,  klagt 
über  Kopfweh  und  zeigt,  dass  er  diese  Anstrengung  nicht  auszu- 
halten  vermSge.*^ 

Auch  Avd-Lallemand  erzählt  sehr  breit  und  ausführlich,  in 
welcher  Art  er  seine  Sprachstudien  bei  einem  Botokuden  an> 
stellen  wollte,  und  schliesst,  nachdem  er  den  völligen  Misserfolg 
seiner  Bemühung  berichtet,  wörtlich,  er  hätte  sich  mit  tiefer 
Wehmut  davon  überzeugt,  dass  es  auch  zweihändige  Affen  gebe. 
Wenn  wir  heute  diesen  Bericht  des  einst  sehr  angesehenen  und 
viel  gelesenen  Reisenden  genau  zergliedern,  kommen  wir  aller- 
•  dings  zu  einem  etwas  anderen  Schlüsse:  Der  Botokude  war 
bescheiden,  liebenswürdig  und  diensteifrig,  der  Europäer  hoch- 
mütig, thöricht  und  ungeschickt. 

Ich  selbst  bin  persönlich  einmal  Zeuge  davon  gewesen 
wie  ein  „Gelehrter**  von  einem  Kurden  erfahren  wollte,  wie  die 
Abn'sche  Phrase,  „das  Taschenmesser  meines  Bruders  ist 
schöner  als  der  Apfel  meines  Vaters,**  auf  kurdisch  laute.  Mein 
personlicher  Eindruck  war  der,  dass  es  sich  auch  in  diesem 
Falle  nicht  um  eine  Denkschwäche  des  „Wilden**,  sondern  um 


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IMer  Amdlicke  VorsUllungcn  bei  den  sogen.  NaturvöUtem. 


93 


di«  absolute  Ungeschicklichkeit  und  Thorheit  des  Reisenden 
handelte. 

Wirklich  lehrreich  für  den  Zweck  unserer  Betrachtung 
scheint  mir  das  Z  ä  h  1  e  n  m  sein;  hier  handelt  es  sich  um  wahre 
Abstraction,  um  Abstraction  von  der  Natur  der  zu  zählenden 
Dinge.  Ein  kluges  kleines  Mädchen,  das  Fritz  Schultze,  Dres- 
den, beobachtete,  war  über  zwei  Jahre  alt  als  es  anfing,  die  Zahl 
2  zu  begreifen  und  von  sich  aus  zu  urteilen,  dass  man  von  zwei 
Aepfeln  und  von  zwei  Puppen  sprechen  könne.  £s  dauerte 
dann  4 — 5  Monate,  bis  es  die  Zahl  3  begriff  und  mit  2V2  Jahren 
weniger  zehn  Tagen  hatte  es  die  Vier  noch  nicht  in  ihrer 
Gewah. 

Es  ist  mir  leider  nicht  bekannt  in  wie  weit  derartige  Be- 
obachtungen an  anderen  europäischen  Kindern  angestellt  wur* 
den.  Jedenfalls  würden  sie  mir  sehr  wichtig  und  interessant 

scheinen. 

Von  den  sogenannten  Naturvölkern  aber  besitzen  wir  an- 
scheinend sehr  ausgedehnte  Beobachtungen  über  ihre  Fähig* 
keit  zu  tählod.  Leider  wbd  dabei  Wort  und  Begriff  sehr  oft 
verwechselt.  Besonders  häufig  geschieht  das  bei  den  Stämmen» 
die  angeblich  nur  bis  zwei  zählen  können.  Solche  sind  in  Afrika 
die  Buschmänner,  in  Südamerika  die  Bakairi  und  manche  an- 
dere Waldstämme,  in  der  Südsee  die  meisten  Eingeborenen 
von  NeU'Holland.  So  zählen  die  Leute  von  Cap  York: 

1 .  netat 

2.  naes 

3.  naes  netat 

4.  naes  naes 

5.  naes  naes  netat,  u.  s.  w. 

Deshalb  kann  man  aber  natürlich  nicht  sagen,  dass  sie 
nur  bis  zwei  zählen  können,  sowenig  als  man  uns  sagen  darf, 
wir  zählten  nur  bis  10  oder  bis  12,  weil  wir  dann  wieder  von 
vorne  anfingen.  Diese  Völker  haben  eben  ein  Dualsystem,  wir 
haben  ein  Decimal-System,  genau  so  wie  andere  Völker  wieder- 
um ein  Quinar-System  haben  und  einfach  zählen:  i,  2,  3,  4, 
Hand,  Hand  i,  Hand  2,  Hand  3,  Hand  4, 2  Hand.  Am  Orinoko 
heisst  II :  eins  am  Fuss,  15 :  ganzer  Fuss,  16:  eins  am  anderen 
Fusse,  20:  ein  Mann,  21 :  ein  Finger  an  den  Händen  eines  an- 
deren Mannes.  So  entstehen  Wortungdieuer^  die  auch  das  Den- 


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F.  von  LuuhaH, 


ken  in  Zahlen  sicher  sehr  erschweren,  aber  doch  das  Zählen 

an  sich  nicht  iinmöghch  machen. 

Uebrigcns  scheinen  auch  wir  P.uropäer  ähnhch  im  zählen: 
Die  häufig  wiederkehrende  Angabe,  fünf,  quincjne,  pente, 
käme  von  Sanskrit  pentscha  Hand,  ist  zwar  falsch,  aber 
acht,  octo,  heisst  nach  Geiger,  dass  zwei  von  zehn  eingebogen 
sind,  genau  wie  das  die  Basuto  ausdrücken,  wenn  sie  acht 
sagen  wollen.*)  Eben.so  schreiben  wir  die  römischen  Zahlzeichen, 
indem  wir  Finger  malen:  1,  II,  III,  IUI  oder  IV  und  V,  wobei 
V  nur  die  Abkürzung  für  die  ganze  fünffingrige  Hand  ist  und 
X  das  Zeichen  für  zwei  zusammengehaltene  Hände. 

Neben  diesem  Decimal-System  haben  sich  in  Westeuropa 
noch  Reste  eines  Zwanziger-Systems  erhalten,  so  sagt  man  in 
England  manchmal  threescore  und  fourscore  für  60  und  80, 
und  im  Französischen  wird  regelmässig  bei  60  die  Decimal- 
reihe  verlassen,  indem  man  für  70,  60  und  10  sagt,  für  80  vier- 
mal zwanzig  und  lur  90  quatre  vingt  dix. 

Dass  sich  auch  bei  den  mdogermanischen  Völkern  die  Fä- 
higkeit grössere  Zahlen  zu  denken,  erst  allmählich  entwickelt 
hat,  scheint  aus  der  Unähnljchkeit  der  Worte  für  hohe  Zahl- 
begriffe hervorzugehn.  Eins  und  unus,  drei  und  Ires,  sechs 
und  sex  stimmen  überein,  ebenso  noch  hundert  und  centnni,  aber 
nicht  mehr  tau.send  und  raille.  So  könnte  es  scheinen,  dass  äich  die 
Stammvölker  bereits  getrennt  hätten,  noch  bevor  sich  die  hö- 
heren Zahlen  cmvs  ickelt  hatten.  Thatsächlich  können  wir  die 
F2ntwicklung  ganz  hoher  Zahlen,  noch  heute  direkt  historisch 
verfolgen.  Homer  zählte  nur  bis  Tausend,  Zehntausend  waren 
damals  iMxa  xihm^^  also  zehn  Tausend,  genau  wie  noch  heule 
für  uns.  Das  Wort  ttvQioi  haben  die  Griechen  erst  nach  Homer 
gebildet,  ebenso  wie  das  Wort  MilHon  erst  seit  1494  Mirkommen 
soll  und  die  Römer  dafür  noch  decies  centena  nuUia  sagen 
mussslen.  Das  Wort  Milliarde  ist  erst  1830  aufgekommen  und 
das  Wort  Billion  ist  noch  heute  zweideutig  indem  man  in 
Deutschland  darunter  eine  Million  Millionen,  in  Frankreich  nur 
tausend  Millionen  zu  verstehen  pflegt.  Die  gleiche  Zweideutig- 
keit haftet  dann  natürlich  auch  den  späteren  Bildungen  Trillion, 
Quadrfllion  u.s.w.  an. 


*)  Wahndieinlicli  fraUoh  ist  octo  eine  Dualform  und  als  solche  gleich 
3  mal  4^ 


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Ueber  ttndiühe  VorsUllungen  bei  den  sogen.  Naturvölkern. 


95 


Damit  zu  vergleichen  wäre  auch  die  Höhe  der  Ziffern,  die 
von  Kindern  und  von  primitiven  Völkern  gebraucht  wird,  um 
den  Begriff  unzahlig  viel  auszudrücken.  Sie  wissen,  dass  die 
Römer  sexcenti — sechshundert,  sagten,  wenn  sie  zahllos"  mein- 
ten. In  ähnlicher  Weise  sprechen  wir  oft  von  „Tausend"  und 
nennen  den  Skolopender  Tausendfuss".  Dieses  selbe  Tier  aber 
nennen  die  Türken  Kirk-.Ayak  (Vierzigfuss).  Ebenso  bilden  sie 
Ortsnamen,  wie  Kirkagatsch,  Kirkgedschid,  Kirkkawak,  Kirk- 
kilisse,  Kirkkiöj  u.  s.  w.,  wo  es  sich  um  einen  Hain  mit  vielen 
Bäumen,  um  eine  Gegend  mit  vielen  Fürthen,  um  einen  Ort 
mit  vielen  Pappeln,  um  ein  Dorf  mit  vielen  Kirchen  oder  um 
einen  aus  vielen  kleinen  Dörfern  bestehenden  Bezirk  handelt. 
Ebenso  fleht  auch  ein  türkischer  Bettler  den  Segen  Aiiah's 
vienigtausendmal  auf  seinen  Wohltbäter  herab. 

Dies  vorausgeschickt,  wäre  nun  zu  fragen,  wie  weit  zählen 
überhaupt  die  sogenannten  Nattirvölker  ?  Die  Angaben,  die 
wir  darüber  erhalten,  weichen  weit  auseinander  und  sind  oft 
sehr  wenig  vertrauenerweckend.  Es  ist  möglich,  dass  thatsäch- 
lich  manche  primitive /Stämme  nicht  sehr  viel  weiter  zählen,  als 
kleine  Kinder  bei  uns,  aber  irgend  welche  ganz  positive  ein- 
wandfreie Angaben  darüber  liegen  bisher  noch  nicht  vor.  Lich- 
tenstein erzählt  von'  einem  Kaf  fernhäuptling,  der  sich  am  Abend 
seine  Herde  vorbei  treiben  lässt  und  genau  weiss,  dass  alle 
400  Rinder  einzeln  an  ihm  vorbeigezogen  sind,  ohne  dass  er 
bis  400  zählen  könnte,  ja  ohne  auch  nur  ein  Wort  oder  einen 
Begriff  für  diese  Zahl  zu  haben.  Heute  wissen  wir,  dass  dieser 
Häuptling  ganz  sicher  ein  Wort  für  400  gehabt  hat,  ob  er  aber 
seine  400  Rinder  einzeln  gezählt  hat,  ist  immer  noch  unsicher. 
Aus  eigener  Erfahrung  weiss  ich,  dass  ein  kurdischer  Hirte, 
der  sehr  gut  zählen  konnte,  seine  Heerde  niemals  zählte  und 
ihre  Stü  kzahl  nicht  kannte,  ja  er  wusste  nicht  einmal,  wie  viel 
Rinder  ihm  aus  den  einzelnen  Zelten  anvertraut  waren,  und 
konnte  mir  nur  nach  langem  Nachdenken  mitteilen,  dass  Hanife 
16  und  Hassan  3  Rinder  halte.  Er  wusste  nur,  dass  zu  jedem 
Zelte  eine  bestimmte  Gruppe  von  Tieren  gehörte.  Ich  möchte 
den  Mann  deshalb  nicht  für  schwachsinnig  halten. 

Ich  selbst  weiss  heute  nicht,  wieviel  Bücher  ich  besitze  und 
wieviel  Bilder  in  meinem  Arbeitszimmer  hängen.  Aber  ich 
nehme  es  sofort  wahr,  wenn  eines  meiner  Bücher  verstellt  oder 
eines  meiner  Bilder  verhängt  ist  —  soll  ich  deshalb  der 


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Schwäche  im  abstrakten  Denken  beschuldigt  werden?  Dann 
würde  es  sehr  viele  schwachsinnige  Menschen  unter  uns  geben 
und  dann,  aber  nur  dann  dürfen  wir  auch  den  Lichtenstein*schen 
Ama-Kosa-Häuptling  und  meinen  kurdischen  Hirten  für  un- 
fähig erklären,  abstrakt  zu  denken. 

Ich  will  zum  Schlüsse  zwei  Beispiele  anführen,  eines  aus 
der  Südsee  und  eines  aus  Afrika,  die  beide  auf  typisch  kind- 
liche Anschauungen  zurückgehen. 

Die  Maori  eroberten  einmal  einen  grossen  Munitionstrans- 
port der  Engländer.  Sobald  sie  die  Art  ihrer  Beute  erkannt 
hatten,  verlangten  sie  einen  Waffenstillstand  und  beruhigten 
sich  nicht  eher,  als  bis  sie  die  gesamte  Munition  wieder  in  die 
Hände  der  Engländer  gebracht  hatten.  Das  geschah  in  einem 
der  grössten  und  blutigsten  Kolonial-Kriege,  der  je  geführt 
wurde  Und  warum?  „Ja",  sagten  die  Maori,  als  man  sie  über 
den  Grund  ihres  Vorgehens  befragte,  „wenn  wir  euch  das  Pul- 
ver nicht  wiedergegeben  hätten,  dann  wäre  der  Krieg  ja  aus 
gewesen." 

Die  Konde  fühlten  sich  von  einigen  Europäern  der  Station 
Langenburg  am  Nyassa  gereizt;  besonders  war  ihnen  unan- 
genehm, dass  man  sie,  wahrscheinlich  um  sie  zum  Ankauf  von 
Stoffen  zu  veranlassen,  einmal  wegen  ihrer  Nacktheit  verhöhnt 
hatte.  Sie  beschlossen  sich  zu  rächen,  unternahmen  einen 
grossen  Kriegszug  und  überfielen  die  Station.  Alle  Europäer 
sollten  lebend  gefangen  und  entkleidet  und  ihr  Leben  lang 
nackt  wegen  ihrer  Nacktheit  verspottet  werden.  Es  war  des- 
halb nötig,  die  Europäer  nicht  zu  verwunden,  und  so  kam  es 
zu  dem  zugleich  heldenmütigsten  und  thörichtesten  Kampfe, 
der  je  gekämpft  wurde.  Bei  dem  Versuche,  die  gut  bewaffneten 
Europäer  lebend  einzufangen,  verloren  hunderte  von  tapfern 
Kriegern  ihr  Leben,  wehrlos  und  widerstandslos,  da  sie  von 
ihren  Waffen  keinen  Gebrauch  machen  wollten,  um  nur  ja  die 
Europäer  nicht  zu  verletzen. 


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lieber  Suggestion  bei  Kindern. 

Vorintg,  gdialtai  im  fioüiwr  Vcrain  ffir  Kindop^ytliologteaiii  7.  Dezember  1900. 

Vo« 

Adolf  Baginsky. 

Meine  Damen  und  Herren! 

Wenn  ich  es  unternehme,  vor  Ihnen  über  Suggestion  bei 
Kindern  zu  sprechen,  so  bitte  ich  Sie  von  vornherein,  an  meine 
Ausführungen  nicht  zu  hoch  gespannte  Erwartungen  knüpfen 
zu  wollen.  Es  kann  nicht  meine  Absicht  sein,  Ihnen  über  diesen 
schwierigen  Gegenstand  definitive  Aufschlüsse  zu  geben.  Ich 
möchte  nur  versuchen,  Ihnen  über  einige  merkwürdige  und 
interessante  Vorkommnisse  aus  meiner  Praxis  zu  berichten,  die 
geeignet  sein  dürften,  attf  diese  Fragen  einiges  Licht  zu  werfen. 
Ich  werde  im  Gegentheil  dankbar  sein,  von  Ihnen  Aufschlüsse 
über  das  tiefere  Wesen  solcher  Vorgänge  zu  erhalten. 

Wer  Gelegenheit  hat,  häufiger  am  Krankenbette  zu  weilen 
dem  geht  sehr  bald  die  Erkentniss  aüf ,  dass  zur  Ergänzung  der 
üblichen  körperlichen  Behandlung  der  Kranken  eine  seelen^ 
ärztliche  Auffassung  und  Thätigkeit  unbedingt  nothwendig  ist. 
Früher  freilich  war  man  der  Meinung,  das  kindliche  Seelen- 
leben sei  gleich  einem  Spiegel  klar  und  durchsichtig,  so  dass 
man  nur  abzulesen  brauche,  wie  die  Eindrücke  der  Aussenwelt 
in  ihm  sich  widerspiegeln.  Diese  Ansicht  ist  wesentlich  geän- 
dert worden  durch  die  pädagogischen  und  psychologischen  For- 
schungen der  neueren  Zeit.  Was  in  der  Seele  des  Erwachsenen 
liegt,  muss  schon  in  der  Seele  des  Kindes  angelegt  sein,  da  es 
sich  daraus  entwickelt.  Dalier  ist  die  Seele  des  Kindes  keines- 
wegs wie  ein  klarer  See,  der  unverändert  widergäbe,  was  die 
Aussenwelt  auf  ihn  einwirken  lässt.  Allerdiiig;^  sind  die  Ufer 
des  See's  anders  gestaltet  beim  Kinde  als  beim  Erwachsenen, 
hier  mehr  eben  und  gleichförmig,  dort  mehr  hügelig  und  ber- 
gig; aber  die  Wellenbewegung,  die  Vorgänge  selbst  sind  von 
derselben  Art  beim  Erwachsenen  wie  beim  Kinde.  Etwas  Be- 
sonderes, Neues  kann  also  nicht  hinzukommen;  die  ursprüng- 
lichen Anlagen  sind  in  ]>eiden  Fällen  die  gleichen.  .\us  dieser 
Auffassung  vermögen  wir  mancherlei  Verständniss  für  die  Seele 
des  Kindes  zu  schöpfen.  —  Insbesondere  haben  die  ])adagogi- 
schen  Studien  der  Neuzeit  zur  Erkenntniss  der  Fehler  des  Kin- 


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98 


Adolf  Daginsky. 


des  gcfülirt ;  und  es  ist  eine  umfangreiche  Literatur  darüber 
/.usaniniengetragen  worden.  Ich  erinnere  z.  B.  an  die  grosse 
Sammlung,  die  Strümpell  über  diesen  Gegenstand  veröffentlicht 
hat.  Wir  sehen  darin  fast  alle  Fehler,  die  auch  beim  Erwach- 
senen zum  Ausdruck  konunen,  angelegt  und  vorkonmiend ;  be- 
greiflicherweise handelt  es  sich  bei  diesen  Erscheinungen 
keineswegs  nur  um  harmlose  Vorgänge ;  vielmehr  treffen  wir 
bei  diesem  Siuclium  häufig  auf  VotTiange  ernsterer  Art,  die 
als  eigentliche  seelische  Anonutlien  auigefasst  werden  mü-scn. 
Triebe  und  Leidenscliaften,  bewusste  und  unbewusste  Abweich- 
ungen von  dem  sittlicli  Ivichiigen,  wie  sie  uns  bei  Erwachsenen 
grell  entgegentreten,  w  ir  finden  sie  schon  am  Kinde  in,  wohl  aiis- 
geprägter  Weise  vor.  So  kommen  denn  Erfahrungen  zum  Vor- 
schein, wie  sie  z.  B.  in  den  Mittheilungen  des  schwedischen 
Arztes  Abelin  in  Stockholm  in  einem  interessanten  Aufsatze 
über  idie  sogenannten  simulirten  Krankheiten  der  Kinder 
niedcH-gelegt  sind.  —  Nehmen  wir  einen  einzelnen  der  dort 
veröffentlichten  Fälle  heraus: 

Ein  dreizehnjähriger  Knabe«  der  angeblich  an  schweren 
und  schmerzhaften  KrampfanffiUen  litt»  die  mit  völligem  Starr- 
krampf, mit  Athemnoth,  Clairvoyance  und  anderen  schweren 
psychischen  Anomalien  einhergingen,  wird  vor  einer  grösse- 
ren Zuhörerschaft  demonstrirt  und  dabei  durch  ein  unver- 
muthetes  Kitzeln  als  Simulant  entlarvt. 

Wie  sollen  wir  beim  Kinde  einen  derartigen  Vorgang  erklär 
ren?  Bei  Strümpell  bt  es  vornehmlich  der  Begriff  der  Lüge, 
und  der  Lügenhaftigkeit,  der  zur  Erklärung  solcher  Vorkomm- 
nisse herangezogen  wird.  Strümpell  definirt  das  Lügen  der 
Kinder  als  eine  falsche  Darstellungsweise,  ein  Spielen  mit  dir 
Unwahrheit  oder  aber  als  Selbsttäuschung  auf  dem  Boden  eineü 
zügellosen  Phantasie.  In  anderen  Fällen  wiederum  soll  es  ent- 
schuldbaren Motiven  und  Gefühlen,  wie  Zuneigung,.  Abneigung 
etc.  entspringen.  Dem  dolus  würde  danach  keine  eigentliche 
oder,  zum  mindestens  keine  erhebliche  Rolle  zufallen.  Wenn 
ich  die  Erfahrungen  meiner  eigenen  Praxis  überschaue,  so  bin 
ich  dem  gegenüber  mehr  geneigt,  zu  glauben»  dass  bei  diesen 
Dingen  der  Begriff  der  Autosuggestion  im  Spiele  sei.  Es  han* 
delt  sich  darum,  dass  die  Kinder  sich  selbst  Vorspiegelungen 
machen  und  dieselben  in  die  That  überführen.  Um  dies  zu  er- 
läutern, will  ich  Ihnen  einige  Beispiele  aus  meiner  Praxis  an- 
führen. 


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Ueber  Suggestion  bei  Kindern. 


99 


In  einem  ersten  Falle  handelte  es  sich  um  ein  fünfjähriges 
Mädchen,  dass  an  nächtlichrn  Anfällen  \-on  Krstickung  Uli; 
es  wurde  ins  Krankenhaus  aufgenommen,  und  ohne  jede  an- 
dere Einwirkung,  lediglich  durch  den  Einfluss  des  Milieus  des 
Krankenhauses  in  wenigen  Tagen  geheilt. 

Ein  zweiter  Fall  betraf  ein  vierjähriges  Mädchen  mit  Ver- 
zerrung des  Mundes,  Speichelfluss  und  Versteifung  der 
Hände.  Die  Diagnose  des  Zustandes  schien  zweifelhaft;  abez: 
während  es  noch  in  der  Beobachtung  des  Krankenhauses  sich 
befand,  wurde  es  ohne  jedes  Zuthun  geheilt. 

Ein  dreijähriges  Kind,  das  an  Schmerzen  in  den  Gliedern 
litt  und  ins  Krankenhaus  eingeliefert  w,urde,  war  seit  24  Tagen 
unfihig  2U  geben.  Bei  der  Binlieferung  fanden  sich  starre 
Beugestellungen  beider  Beine  vor.  Das  Kind  wurde  mit  dem 
faradischen  elektrischen  Strome  nur  scheinbar  behandelt  und 
nach  wenigen  Stunden  geheilt.  Offenbar  handelt  es  sich  hier 
um  einen  suggestiven  Einfluss  des  elektrischen  Stromes. 

Ein  weiterer  Fall  betraf  ein  Ii  jähriges  Mädchen  mit  den- 
selben Erscheinungen  wie  der  vorige,  zu  denen  sich  aber  ausser- 
dem ein  bellender  Husten  gesellt  hatte:  Der  blosse  Versuch 
der  Anwendung  des  elektrischen  Pinsels  mit  ganz  schwachem 
Strome,  genügte,  um  sofort  eine  dauernde  Heilung  herbeizu- 
fiUtren. 

Imnficbsten  Fallehandeltessich  um  ein  zwölQahriges  Mäddien» 
das  mit  Krämpfen  eingeliefert  wurde,  die  mit  Bewusstseins^ 
Verlust  einhergingen.  Bei  der  Untersuchung  stellte  es  sich  her- 
aus, dass  das  Kind  in  hohem  Maasse  erblich  belastet  war.  Da 
das  Kind  in  seuiem  Benehmen  vielfach  Uebertreibungen  auf- 
wies, wurde  eine  suggestive  an  sich  wirkungslose  elektrische 
Behandlung  eingeleitet,  die  in  kurzer  Zeit  ohne  jedes  andere 
Hilfsmittel  zur  Heilung  führte. 

Der  sechste  Fall  betrifft  ein  8  jähriges  Mädchen,  das  seit 
4  Jahren  an  Zuckungen  in  Armen  und  Beinen  litt,  gleichzeitig 
mit  anscheinend  ausgeprägter  Nackenstarre,  die  sich  darin 
äusserte,  dass  das  Kind  den  Kopf  scharf  nach  hinten  Jegte.  Das 
Kind  hatte  auffallend  reiches  \md  schönes  Haupthaar.  Schon 
bei  der  ersten  Untersuchung  zeigte  das  Kind  ein  unverkenn- 
bares Behagen  und  Wohlbefinden;  die  Zuckungen  in  Armen 
und  Beinen  verschwanden,  nur  der  Kopf  wurde  in  der  anorma- 
len Stellung  nach  hinten  festgehalten.  Bei  diesem  Kinde  ge- 


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100 


Adolf  Jiagtttiky. 


niij^te  die  einfache  Drohung,  dass  das  reiche  Haar  entfernt 
werden  tnüsstc»  um  mit  den  anderen  auch  diese  Erschcmung 
zu  beseitigen. 

In  einem  letzten  F-^IIr  t  ndlich  handelte  es  sich  um  einen 
Knaben  von  lo  Jahren,  der  bei  augenscheinlich  hysterischem 
Wesen  mit  Lähmungen  der  Nackenmuskulatur  und  des 
linken  Beines  in  das  Krankenhaus  eingeliefert  wurde. 
Später  trat  noch  eine  Lähmung  des  linken  Armes  hinzu  Wir 
verabreichten  dem  Kinde  einen  Löffel  L^ngarwein  nm  der  Er- 
klärung, dass  es  unbedingt  helfen  würde :  dies  genügte  in  der 
That  zur  Heilung  des  Knaben,  der  nach  kurzer  Zeit  gesund 
entlassen  werden  konnte. 

Fragt  man  sich,  wie  solche  Zustände  zu  Stande  kommen, 
so  ist  es  klar,  dass  es  sich  hierbei  um  voreingenommene  Vor- 
stellungen der  Kinder  handelt,  die  sie  zur  Ausführung  bringen  ; 
sie  erliegen  dem  Eindruck  einer  sich  selbst  gemachten  Vor- 
spiegelung. Dabei  können  die  Erscheinungen  einmal  dadurch 
hervorgerufen  %vcrden,  dass  die  Funktionen  übertrieben  und 
gesteigert  werden,  durch  liahnunj,^,  wie  man  zu  sagen  pflegt; 
oder  aber  anderseits  durch  Hemmung,  wie  z.  B.  bei  Lähmungen 
zu  Tage  tritt.  Die  Vorstellung  des  Nichtkönnens  unter  gewissen 
Motiven  wird  dabei  übertragen  in  das  wirkliche  Nichtver- 
mögen.  Beeinflussung  der  kortikalen  Centren  der  Kinder  be- 
seitigt diese  übertriebenen  Bahnungen  und  Hemmungen  und 
führt  sie  zur  Norm  zurück.  Diese  Beeinflussung  kann  verschie- 
dener Art  sein:  durch  äussere  Einwirkungen,  Worte,  Drohun- 
gen, oder  larvirte  Einflüsse  u.  s.  f.  Dies  ist  das  Wesen  der  soge- 
nannten suggestiven  Behandlung  solcher  Zustände;  die  Erfahr 
rung  lehrt  hierbei,  dass  diese  Kinder  ausserordentlich  sug 
gestibel  sind.  ( 

Bei  einer  anderen  Gruppe  von  Krankheitsformen  liegen 
die  Verhältnisse  wesentlich  komplicirter.  Bei  der  bisher  ge- 
schilderten  Reihe  von  Kindern  handelte  ,es  sich  niemals  um 
physopathologische  Processe,  so  dass  bei  denselben,  falls  sie  su- 
fällig  gestorben  wären,  bei  der  Sektion  nicht  irgend  welche 
materiellen  Veränderungen  des  Nervensystems  würde  gefun- 
den worden  sein. 

Ganz  anderer  Art  ist  die  andere  Gruppe  von  Fällen.  Bei 
denselben  liegen  thatsächlich  krankhafte  Veränderungen  yor, 
oder  wenigstens  durchdringen  sich  physische  und  psychische 
Anomalien. 


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Ueber  Suggestion  bei  Kindern. 


101 


Der  eklatanteste  Fall  dieser  Art,  den  ich  in  meiner  Praxis 
gesellen  habe,  betraf  ein  Mädchen  von  7  Jahren,  das  angeblich 
erschreckt  worden  war.  Noch  am  selben  Tage  stellten  sich 
Zuckungen  fast  aller  Glieder  ein,  die  einen  Veitstanz  ähnlichen 
Eindruck  machten.  Wie  Sie  wissen,  handelt  es  sich  bei  dem 
sogenannten  Veitstanz,  der  Chorea,  um  Bewegungsstörungen 
in  den  Gliedmassen,  wodurch  die  Bewegungen  etwas  Unfreiwil- 
liges» unwUlkürUch  Ausfahrendes  erhalten  und  incoordinirt  weiv 
4en.  In  schweren  Fällen  treten  auch  Sprachstörungen  auf; 
die  Kinder  können  kaum  Nahrung  zu  sich  nehmen,  nichts  fassen 
4Kler  in  der  Hand  behalten,  und  in  einzelnen  recht  schweren  und 
hartnäckigen  Fällen  treten  an  den  vorher  bin-  und  hergeschleu> 
derten  Gliedern  allmählich  Lähmungserscheinungen  auf.  In 
unserem  Falle  hatte  das  Kind  die  Sprache  verloren,  Fassungs- 
vermögen  und  Theilnahme  für  die  Umgebung  eingebüsst ;  auch 
trat  eine  Lähmung  der  Nacken-  und  Rückenmuskulatur  ein. 
Das  Aufrechthalten  des  Kopfes,  ebenso  das  Aufsitzen  war  un- 
m<|glich.  Die  Diagnose  des  Zustandcs  war  unklar;  jede  medi- 
kamentöse Behandlung  blieb  ohne  Erfolg.  Untor  solchen  Ver- 
hältnissen ging  ich  daran  einen  suggestiven  Einfluss  zu  ver- 
suchen. Die  Weihnachtszeit  stand  vor  der  Thür,  und  mit  ihr  die 
Bescheerung  und  der  Besuch  der  Kaiserin  Friedrich,  die,  wie  Sie 
wissen,  die  hohe  Protektorin  unseres  Krankenhauses  ist.  Es 
wurde  dem  Kinde  eindringlich  gesagt,  die  Kaiserin  dürfe  doch 
ein  solches  Kind  nicht  sehen,  und  wenn  das  Kind  in  diesem  Zu- 
stande bliebe,  dann  könnte  es  auch  die  Weihnachtsbescheerung 
nicht  mitmachen.  Dies  stetig  und  eindringlich  wiederholt,  und 
die  damit  verknüpfte  Aufforderung  sich  aufrecht  zu  setzen, 
brachte  das  Kind  dazu,  zunächst  mittelst  Festhaltens  an  den 
Bettstangen  aufrecht  zu  sitzen.  Einmal  begonnen,  ging  die 
Besserung  rasch  von  Statten.  Zu  unser  aller  Erstaunen  kam 
das  Kind  an  dem  Weihnachtstage  aus  dem  Bett,  stand  auf  und 
liess  sich  bescheeren,  als  ob  es  nie  krank  gewesen  wäre.  Es 
wurde  im  Januar  geheilt  aus  der  Anstalt  entlassen.  —  Im  März 
desselben  Jahres  wurde  es  mit  einem  Recidiv  ins  Krankenhaus 
.zurückgebracht.  Gewitzigt  durch  die  Erfahrungen,  die  ich  mit 
dem  Kinde  gemacht  hatte,  Hess  ich  es  diesmal  nicht  ins  Bett 
bringen,  sondern  erklärte  ihm  energisch:  dass  ich  wüsste,  dass 
es  gehen  und  stehen  könne.  Nach  wenigen  Tagen  konnte  es 
wiederum  geheilt  entlassen  werden.  —  Idi  habe  später  das  Kind 


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102 


Adolf  Itaginsky. 


wiedergesehen,  neuerdings  mit  schweren  choreatischen  Erschei 
nungen.  Diesmal  handelte  es  sich  n'u  lu  um  eine  Viorsjjiegclung. 
sondern  die  Störung  hatte  einen  organischen  Charakter  ange- 
nommen, wie  das  glt-iclizeitige  Auftreten  einer  rheumatischen 
(jclcnk-  und  Herzerkrankung  bewies.  Gleichwohl  war  die  erste 
Attaque  des  Leidens  rein  suggestiv  beseitigt  worden. 

Bei  einem  zweiten  Falle,  der  ganz  ähnli(  he  Lähmungs- 
erscheinungen darbot,  wurde  eine  ähnliche  suggestive  Wirkung 
konstatirt :  die  Drohung,  dass  das  Kind  ins  Krankenhaus  müsse, 
genügte,  die  Erscheinungen  mr.  emem  Schlage  zu  beseitigen. 
Es  handelt  sich  in  diesen  It  alien  augenscheinlich  um  eine  Ver- 
quickung  physopathologischer  Vorgänge  mit  psychischen  Er- 
scheinungen, bri  denen  die  Heilung  durch  rein  psychische  Ein- 
flüsse zu  Stande  kunimt. 

Um  zum  Versländniss  solcher  Erscheinungen  vorzudrin- 
gen, muss  man  in  Erwägung  zi^'hen,  dass  das  Nervensystem 
des  Kindes  etwas  anders  reagirt,  als  das  des  Erwachsenen. 
Das  Gehirn  eines  jungen  Kindes  ist  noch  nicht  völlig  aus- 
gebildet, wie  dies  die  erst  allmählich  fortschreitende  Ent- 
wicklung der  markhaltigen  Fasern  beweist.  Es  findet  sich 
bei  den  Kindern  eint-  erheblich  gesteigerte  Erregbarkeit 
und  vor  allein  Refle.verregbarkeit ;  die  llemmungsfasern 
sind  noch  nicht  so  ausgebildet  wie  beim  Erwachsenen, 
ebenso  auch  die  Heniinuiigscentren.  Aus  dieser  anato- 
mischen Grundlage  erklärt  sich  im  Ganzen  ein  noch  wenig  ge- 
festigter und  gesicherter  Ablauf  der  gesammtcn  Seelenvor- 
gänge. So  ist  auch  erklärlich,  dass  noch  eine  geringere  Aus- 
bildung der  Associationsreihen  vorbanden  ist,  als  beim  Erwach- 
senen. Es  springen  Reize  von  der  einen  auf  die  ^andei«  Bahn 
über  und  bringen  skh  zur  Geltung,  während  sie  beim  Erwachr 
senen  niedergehalten  werden.  Endlich  ist  noch  eines  Faktors 
zu  gedenken»  der  die  Unvollkonunenheit  der  kindlichen  Psyche 
bedingt :  die  Erinnerungsbilder  sitzen  noch  nicht  so  fest  und 
sind  nicht  so  verankert  wie  beim  Erwachsenen,  daher  gehen  sie 
ineinander  über  und  bringen  Vorstellungen  hervor,  die  beim 
Erwachsenen  nicht  vorkommen. 

Auf  diese  Weise  kami  man  psychische  Vorgänge  der  ge- 
schilderten  Art  bei  den  Kindern  verstehen.  Die  gesteigerte 
Phantasiethätigkeit  bringt  eine  Vermischung  der  Vorstellungen 
hervor,  die  unausgebildete  Hemmung  bedingt  die  Uebertra- 
gung  desjenigen,  was  in  der  Phantasie  entstanden  ist,  in  die 


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Ueber  Suggestion  (xi  KtncUrn. 


103 


Wirklichkeit.  Das,  was  vielfach  als  tadelnswcrthc  Fehler  aus- 
.^rltgt  wird,  hat  liäufig  nur  in  dieser  psychischen  Unvollkom- 
raenheit  des  Kindes  seine  Ursache:  nicht  mit  voller  Klarheit 
und  mit  vollem  Bewusstsein  thun  Kinder  das  Fehlerhafte,  son,- 
dern  veranlasst  durch  ineinanderschwimmende  und  noch  nicht 
fixirte  Vorsiellungen.  - 

Die  Kenntniss  dieser  Thatsachen  erleichtert  das  Vcrständ- 
niss  für  die  im  Seelenleben  des  Kindes  uns  vielfach  als  abson- 
derlich und  befremdlich,  ja  als  gefahrdrohend  entgegen  treten- 
den Erscheinungen. 


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Kritik  der  Associatiouseinteilun^en. 

Voo 

Johannes  Orth. 

Auf  Veranlassung  des  Herrn  Privatdozenten  Dr.  Marbe 
beschäftigten  sich  vergangenen  Sommer  Herr  Mayer  und  der 
Verfasser  im  psychologischen  Institut  zu  Wurzburg  mit  einer 
experimentellen  Untersuchung  derjenigen  Associationen,  bei 
welchen  die  Versuchsperson  auf  ein  zugerufenes  Wort  mit  einem 
von  ihr  laut  gesprochenen  Wort  reagiert.  Die  bei  diesen  Unter- 
suchungen (welche  nächstens  in  der  Zeitschr.  f.  Psych,  u. 
Physiol.  der  Sinnesorg.  mitgeteilt  werden  sollen)  gewonnene 
Einsicht  in  die  Mängel  der  bislang  vorliegenden  Einteilungen 
der  Associationen  führte  zu  nachstehenden  Darlegungen. 

In  der  Psychologie  gehört  der  Begriff  der  Association  zu 
jenen,  welche  bei  den  einzelnen  Psychologen  in  verschiedener 
Bedeutung  gebraucht  werden.  Man  bezeichnet  damit  nämlich 
I.)  das  Auftreten  oder  den  Vorgang  der  Reproduktion,  2.)  einen 
Grund  für  diese,  3.)  das  Eintreten  einer  Verbindung  beliebiger 
Art  von  Bewusstseinsthatsachen  (Empfindungen,  Vorstellungen, 
Gefühle)  und  4.)  endlich  einen  Grund  für  das  Zustandekommen 
solcher  Verbindungen,  oder  mit  Liebmann^)  auf  zwei  Bedeu- 
tungsgruppen gebracht,  erstlich  das  „Zusammentreffen  der  ak- 
tuellen Vorstellungen  —  Bewusstseinsthatsachen  —  im 
Bewusstsein"  und  zweitens  „das  Aneinanderhaften  der  virtuellen 
Vorstellungen  —  Bewusstseinsthatsachen  — -)  im  latenten  Zu- 
stande." Wir  ^Stessen  also  im  Gebrauch  des  Begriffes  Asso- 
ciation in  der  neueren  Psychologie  gleich  lut  einen  doppelten 
Unterschied,  eimiial  zwischen  Reproduktion  und  deren  Beding- 
ung, d.LS  andere  Mal  zwischen  Vorstellungen  emersciis  und 
Bewusstseinsthatsachen  verschiedener  Art  andererseits.  Da 
endlich  bei  manchen  Schriftstellern  die  Bedeutung  des  Begriffes 
wechselt,  so  ist  Miss  Verständnissen  Thür  und  Thor  geöffnet. 
Wir  selbst  verstehen  unter  Association  das  Hervorrufen  von 
Bewusstseinsthatsachen  durch  andere. 


>)  Llebmaoo:  Zur  Amlytft  der  ViiUiciibfit  3.  Aufl.  1900.  S.  449. 
^  Dis  in  PfereoÜieK  stctoide  Wort  Ist  in  bddoi  Fllten  vom  VerfuBer 
dngesdiobai. 


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Kntik  der  AisocUUknseinUüungcn. 


105 


Natürlich  kann  die  Mehrdeutigkeit  des  Begriffes  nicht  ohne 
Binfluss  auf  die  Einteilung  der  mit  ihm  bezeichneten  psychi- 
schen That Sachen  bleiben.  Aristoteles  schon  stellte  4  Gesetze 
für  die  Association  auf,  nämlich  Aehnlichkeit,  Kontrast,  Gleich- 
zeitigkeit und  Succession,  die  nach  der  wenig  gestützten  Mei' 
nung  von  Maass^)  alle  darauf  hinweisen  sollen,  dass  \'orstel- 
lungen,  die  einmal  im  Bewusstsein  beisammen  waren,  sich  asso- 
ciiercn.  Inzwischen  hat  fast  jeder  bedeutendere  Philosoph,  son- 
derlich der  Berufspsycholog,  eine  neue  Einteilung  der  Asso- 
ciation gegeben,  zumeist  freilich  bis  in  die  jüngste  Zeit  nichts 
anderes  als  eine  Modifikation  der  aristotelischen  Regeln.  Da 
man  fast  durchweg  unter  Association  lediglich  Verknüpfung 
von  Vorstellungen  verstand,  hat  sich  hiebei  der  verhängnisvolle 
Irrtum  eingeschlichen,  als  Einteilungsgrund  die  logischen  Ver- 
hältnisse der  assocüerten  psychischen  Gebilde  zu  betrachten, 
und  gelangte  so  stets  zu  irgend  einem  logischen  Schema,  dem 
die  einzelnen  Associationen  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  asso- 
cüerten Vorstellungen  oft  nicht  ohne  Gewalt  eingeordnet  wer- 
den konnten. 

Dem  Bedürfnbse  nach  Vereinfachung  folgend,  reduzierte 
man  jene  4  Gruppen  von  Associationen  auf  zwei,  auf  Verbin- 
dung nach  Aehnlichkeit  und  raumzeitlicher  Berührung  oder 
Kontiguität,  indem  man  die  Associationen  nach  Kontrast  als 
Spezialfall  von  jener,  die  Aneinanderreihung  nach  Simultaneität 
und  Succession  als  Berührung  in  Raum  und  Zeit  auffasste.  Statt 
von  letzterer  sprach  man  auch  von  äusserer  Association  und 
stellte  ihr  die  innere  oder  die  nach  Aehnlichkeit  gegenüber. 
Dabei  jedoch  blieb  es  nicht;  sondern  man  vertrat  sogar  auch 
entschieden  nur  eine  Grundform  der  Association,  entweder 
die  nach  Aehnlichkeit  (J.  St.  Mill,  Bain)'^  oder  die  nach  Be- 
rührung (James  Mill,  W.  James,  H.  Lotze)*).  Unter  den  An- 
hängern der  letzteren  gibt  es  einige  Forscher,  die  auch  von 
der  Berührungsassociation  nur  einen  Teil  gelten  lassen  wollen; 


<)  Maass:  Veisuch  Aber  die  Einbildungskraft  Halle  und  Leipzig  1797. 
Seite  325  ff. 

^  l  eher  J.  St  MilU  &  Bains  Stellung  zur  Associationseinteilung 
verf^!  R  Wahle:  Bemerkungen  zur  Reschreihung  und  Einteilung  der  Ideeo- 
assodationen  i.  d.  Vicrteljahrsschrift  f.    iss.  f  'hilos.    IX.   S.  427  ff. 

»)  J.  Mill:  Analysis  etc.   I.   S.  III.  —  W.  James:  Prindples  of  Psych. 
1.  S.  $62  Anm.  —  H.  Lotze:  Grundzüge  d.  Psych.  4.  AufL  §  20  Sw  26. 
Zriischritt  für  pidagpgitdie  Psychologie  nnd  Pifliolo^.  2 


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106 


Johannes  Orlk. 


Munsterberg  ^)  naii  I  ch  bn^ipri  alle  Associationen  auf  den  Grund- 
prozess  der  Gleichzeitigkeit,  während  Ward-)  in  der  Successioii 
die  Grundform  aller  Asso<  iationsphänomerx'  sieht. 

Uns  interessirrrn  besonders  die  Aibeiten,  welche  ihre  Ein- 
teilung aus  experimentell  gewonnenem  Materiale  ableiten. 

Nachdem  Galton^)  die  Aufmerksamkeit  auf  den  zeitlichen 
Verlauf  der  Associationen  gelenkt  und  bahnbreciiende.  wenn 
auch  infolge  ihrrr  primitiven  VersuchsbfMÜngungen  längst  über- 
holte Untersut  luingen  — .  (er  selbst  war  zugleich  Experimentator 
und  Beobachter  und  bestimmte  die  Zeitdauer  der  Associationen 
sehr  ungenau)  —  veröffentlicht  hatte,  führte  Tr.nitscholdt  *)  un- 
ter Wundts  Leitung  die  psychometrische  Bestimmung  der  Asso- 
ciationen weiter  und  gab  dabei  zwecks  Vcrgleichbarkeit  der- 
selben eine  eingehende  Einteilung  von  ihnen. 

Nun  sollte  man  erwarten,  dieselbe  sei,  wie  sonst  in  der 
Wissenschaft  ül)lich,  aus  dem  Gegenstande  selbst  heraus  ge- 
schehen, sie  sei  also  psychologisch.  Allein  dem  ist  nicht  so ; 
denn  Trautscholdt  ordnet  alle  Associationen,  als  welche  er  die 
Reproduktion  eines  Erinnerungsbildes  durch  eine  beliebige 
apperzipiertc  Vorstellung  bezeichnet,  den  vorhin  schon  er- 
wähnten zwei  Grundformen,  nämlich  der  inneren  und  äusseren 
Association,  unter  und  teilt  so  nach  den  logischen  Beziehungen 
zwischen  den  einzelnen  Vorstellungsinhalten  ein  '').  Innerhalb 
der  äusseren,  auf  Uebung  und  Gewöhnung  gegründeten  Asso- 
ciation bringt  er  die  Einteilung  der  associativen  Verbindungs- 
prozesse nach  Simultaneität  und  Succession  mit  verschiedenen 
Unterabteilungen.  Die  innere  Association  urofasst  Vorstellungs- 
verknüpfungen nach  Ueber-  und  Unterordnung,  nach  Beziehung 
der  Coordination  und  nach  Abhängigkeitsbeziehungen.  Ausser 
seiner  Einteilung  vom  logischen  Standpunkte  —  und  gerade 
desw^egen  —  macht  er  den  weiteren  Fehler,  dass  er  von  der 
Erfahrung  seiner  Versuchspersonen  völlig  absieht  und  bei  Ein- 


')  H.  Münsferberg:  Beiträge  z.  exper.  Psychol.    r.   S.  ll'sff.  Die 
Assoc  «^ürcess.  Voistellg.  i.  d.  Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg. 

I.    S.  100  ff. 

*)  J.  Ward:  Encyclopaedia  Britannica,  9.  ed.,  art.  Fsychology.  S.  60  col.  2  f. 
^  Oalton:  Psychometric  experiments  i  Brain:  V.  II.  1879fflO. 

*)  Trautscholdt:  Experimentelle  Utitersucfaungeii  Aber  die  Association 
der  Voistellungen;  Philos.  Studien,  I.  Bd. 
•)  Siehe  Trautscholdts  Einteilung! 


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Kritik  der  AssonatifHieimteäungtn, 


107 


reihung  der  einzelnen  Associationen  in  sein  Schema  sehr  kon- 
struiert. Er  verhalt  sich  bei  seinen  Experimenten  wie  ein  Phy- 
siker;  seine  Zahlen  sind  ihm  die  Hauptsache,  und  auch  hier 
begeht  er  den  Irrtum,  viel  zu  viel  zu  messen. 

Da  auch  die  übrigen  zu  besprechenden  Einteilungen  der 
Associationen  entgegen  unsrer  Forderung  nach  psy<^hologischen 
Gesichts})unkten  für  dieselben  fast  durchweg  lugib<  h  sind,  so 
sei  hier  der  Unterschied  zwischen  beiden  Standpunkten  kurz 
erörtert.  Wohl  sind  auch  die  Inhalte  der  Logik  wie  die  Träger 
der  Inhalte  jeglicher  Wissenschaft  Gegenstand  der  Psychologie; 
denn  ohne  ein  erfahrendes  Subjekt  könnte  es  keine  Wissen- 
schaft, also  auch  keine  Logik  geben.  Aber  die  Weise,  wie 
Logik  und  Psycholoc^ie  den  gleichen  Gegenstand  betrachten, 
ist  grundverschieden.  Die  erstere  fragt  nach  der  Richtigkeit 
oder  Wahrheit  der  Bewusstseinsvorgange.  Sie  gibt  uns  also 
die  Regeln  an  die  Hand,  welchen  unser  Denken  entsprechen 
muss,  wenn  es  auf  das  Prädikat  ,.rirhng"  Anspruch  erheben 
will,  Sie  hat  es  demnach  nicht  mit  den  Bewusstseinsthatsachen 
an  sich  zu  thun;  das  Bewussfsein  i^^i  nur  der  Ort,  an  dem  die 
für  sie  in  Betracht  kommenden  Gebilde  sich  Imden.  Anders  die 
Psychologie  !  Diese  fragt  nicht  nach  dem  „richtig"  oder 
., falsch",  sondern  nach  der  Existenz  und  eigenartigen  Be- 
schaffenheit aller  Bewusstseinsthatsachen  überhaupt,  nach  ihrer 
Entstehung  und  ihrem  thatsächlichen  Verlaufe  im  einzelnen 
Individuum.  Sie  ist  eben  die  Wissenschaft  von  den  Bewusst- 
seinsthatsachen in  ihrer  Abhängigkeit  von  einem  erfahrenden 
Subjekte. 

Demnach  darf  sich  eine  Einteilung  der  Associationen  nicht 
vom  Boden  der  Erfahrung  entfernen  und  sich  ausschliesslich 
auf  die  Verknüpfungsmöglichkeiten  von  Vorstellungen  be- 
schränken, wie  dies  zur  Zeit  noch  vielfach  geschieht.  Femer 
kann  nur  der  thatsächliche  Ablauf  der  Bewusstseinsvorgänge 
Einteilungsgrund  für  dieselben  sein  und  nicht  logische  Mo- 
mente. 

Etwas  anders  als  Trautscholdt,  aber  auch  nach  logischen 
Verhältnissen,  teilt  Kraepelin^)  die  Associationen  ein,  nämlich: 


1)  Kraepelin:  üeber  die  Beeinflussung  einfacher  psychischer  Voig^nce 
durch  einige  Arzneimittel.  1892.  S.  39. 

r 


108  yokamies  Orth, 

* 

I.  Aeusserc  Association. 

1.  )  Association  nach  räumliclur  und  zeitlicher  Coexistenz. 

2.  )  Association  nach  sprachHcher  Reminiscenz. 
3j  Association  nach  Klangähnlichkeit, 

II.  Innere  Association. 

1.  )  Association  nach  Coordination  und  Subordination. 

2.  )  Association  nach  prädikativen  Beziehungen. 

Unter  sprachliclien  Rcminiscrnzeii  versteht  er  die  Traut- 
scholdt'sche  Wortassociation  (als  Association  successiver  Schall- 
eindriicke  der  Association  nat  Ii  Succcssion  uiuergeordnct).  Die 
prädikativen  Beziehungen  umfassen  die  nicht  seltnen  Fälle,  wo 
die  Reaktion  ein  Urteil,  eine  Kii/enschaft  oder  Thätigkeit  des 
durch  das  Reizwort  Bezeichneten  enthält. 

Eng  an  Kraepelin  schliesst  sich  Gust.  Aschaffenburg*)  in 
seiner  Einteilung  der  Associationen  an,  doch  führt  er  verschie- 
dene ]  >weitenmgen  ein,  wie  aus  seijnem  nachstehenden  Schema 
ersichtlich  ist. 

I.  Unmittelbare  Association. 

A.  Reizwort  dem  Sinne  nach  richtig  aufgefasst. 

a)  Innere  Association: 

1.  )  Association  nach  Coordination  und  Subordination. 

2.  )  Association  nach  prädikativer  Beziehung. 

3.  )  Kausalabhängige  Association. 

b)  Aeuss^re  Association. 

1.  )  Association  nach  räumlicher  und  zeitlicher  Coexistenz. 

2.  )  Identitäten. 

3.  )  Sprachliche  Reminiscenzen. 

B.  Reizwort  dem  Sinne  nach  nicht  aufgefasst. 

c)  Reizwort  nur  durch  den  Klang  wirkend. 

1.  )  Wortergänzungen. 

2.  )  Klang-  und  Reimassociationen. 

«t)  sinnvolle, 
ß  ohne  Sinn. 


1)  O.  Ascbaffenburg:  Experimentene  Shidien  Ober  Assoziation. 
Kraepelins  Psycho!.  Arbeiten»  I.  Bd.  1896. 


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Kritik  dtr  A4tociatioHseiMi*ilttng«H, 


109 


d)  Reizwort  nur  reaktionsauslösend  wirkend. 

1.  )  Wiederholung  des  Reizwortes. 

2.  )  Wiederholung  früherer  Reaktionen  ohne  Sinn. 

3.  )  Association  auf  vorher  vorgekommene  Worte. 

4.  )  Reaktionen  ohne  erkennbaren  Zusammenhang. 

II.  Mittelbare  Association. 

In  dieser  Einteilung,  die  an  Gründlichkeit  nichts  zu  wün- 
schen übrig  iässt,  fällt  uns  zunächst  die  Zweiteilung  nach  un- 
mittelbarer und  mittelbarer  Association  auf.  Der  Begriff  der 
mittelbaren  Association  ist  schwankend.  Scripture^j,  dessen 
unten  angegebene  Arbeit  die  Frage  nach  der  mittelbaren  Asso- 
ciation in  Fluss  brachte,  beschränkt  die  mittelbare  Einwirkung 
auf  den  Fall,  wo  ein  unbewusstes  Glied  die  Verbindung 
zwischen  zwei  Vorstellungen  vollzieht.  Alle  nun,  die  eine  Nach- 
prüfung dieser  Thatsache  vornahmen,  wie  Münsterberg, 2) 
Howe,^)  Smith,*)  kamen  zu  negativem  Resultate,  und  man  thut 
deshalb  gut,  bei  dem  Terminus  mittelbare  Asso(  iation"  an  eine 
Verbindung  zu  denken,  bei  weklier  das  die  Verknüpfung  stif- 
tende Mittelglied  zwar  im  Bewusstsein  vorhanden  ist,  aber  nur 
,, dunkel  apperzipiert"  wurde^).  In  diesem  Sinne  ist  der  Begriff 
auch  bei  .A.schaffenburg  zu  nehmen.  Mit  seiner  Hauptteilung 
der  Association  verfährt  er  psychologisch,  denn  als  Einteilungs- 
grund fungiert  der  Bewusstseinsgrad. 

Sonst  aber  erfolgt  die  Klassifikation  der  VorsteUungs* 
Verbindungen,  und  nur  um  diese  handelt  es  sich  für  ihn, 
unter  logischen  Gesichtspunkten;  unterscheidet  er  ja  nach 
Wundt  das  Prinzip  der  associati\en  l^ebung  für  die  äussere 
und  das  der  associativen  Verwandtschaft  für  die  innere  Asso- 
ciation. Aus  dieser  Unterscheidung  heraus  greift  er  auch 
Wahles  Kinteilung  an,  der  als  Grundformen  der  Association 
die  nach  Berührung  oder  Contingenz  und  die  nach  Aehnlichkeii; 

•)  Scripturc:  Ueber  den  associativen  Verlauf  der  Vorstellungen.  Pbilos. 
Studien.  VII. 

^  Mansterberg:  Beitrige  z.  cxpcr.  Psychologie,  Heft  IV,  1893. 
^  Howe:  American  Joarml  of  P^diolog.  Bd.  VI.  &  28^246^ 
«)  Smith:  Zw  Rag»  der  mittelbifeiiAflsoctttioii.  DisMrtition,  Leipzig  1894. 

s)  Wundt:  Sind  die  Mitglieder  dner  mittelbtzcn  AsBodation  bevtisst 

oder  unbcvfij«:?*'   phi!  Studien  X. 

')  Wahle:  Bemerkungen  zur  Beschreibung  und  Einteilung  der  Ideen- 
associationen.  Vieiteljahrsschrift  f.  w.  Philos.  1885. 


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110 


ychannes  Orth. 


betrachtet  und  erstercr  auch  jene  Fälle  zurechnet,  wo  tiic  sich 
associicrcnden  „Bewusstseinsthatsarhen"  im  Verhält- 
nis vom  Ganzen  zum  Teil  oder  umgekehrt  stehen,  und  wo  eine 
Relaiion  von  Ursache  und  Wirkung,  Zweck  und  Mittel  etc.  sich 
findet. 

Die  sich  bei  Aschaffenburg  ergebende  Schwi*  i  i^kcit,  eine 
scharfe  (»rcnze  zwischen  Subordination  als  Vorstute  zum  Sub- 
sumtioTisurteil  und  prädikativer  Beziehung  zu  ziehen,  zeigt  in 
hellem  Lichte  die  Schwäche  logischer  Gliederung  für  Hewusst- 
seinsvorgänge,  und  die  dort  vorgebrachten  Ausführungen 
Aschaffenburgs  könnten  in  jedem  Lehrbuch  der  Logik  stehen. 
Trotz  seiner  aufgewandten  Sorgfalt  kann  nicht  immer  zuge- 
geben werden,  dass  die  Einreibung  der  Associationen  gelungen 
sei,  und  mit  vollem  Rechte  bemerkt  in  dieser  Angelegenheit  der 
Verfasser,  man  müsse  gar  oft  die  Auffassung  der  Beobachter 
zu  Rate  ziehen.  Nur  ihut  er  das  bloss  m  zweifelhaften  Fällen 
und  zwar  erst  nach  Tagen  oder  gar  noch  längerer  Zeit,  wo  der 
Beobachter  aucli  nicht  mehr  genau  über  seine  damaligen  psychi- 
schen Vorgange  unterrichtet  sein  konnte. 

Was  endlich  die  Gliederung  nach  sinngemässer  Auffassung 
des  Reizwortes  oder  dessen  Nirhterfassung  betrifft,  so  geht  der 
Autor  ganz  w  ie  Trautscholdt  \ on  der  irrigen  \'orausset?ung  aus, 
dass  das  Zustandekommen  einer  .Association  in  erster  Linie 
von  dem  Bewusstwerden  des  Inhaltes  der  Reizwörlc  r  abhänge, 
und  auch  in  solchen  Fällen,  die  er  unter  B  zusammenfasst  (Reiz- 
wort dem  Sinne  nacti  nicht  aufgefasst),  meint  er  nur.  .,das>  du* 
Reaktion  keine  Anhaltspunkte  für  inhaltliche  Heziehung  zum 
Reizwort  erkennen  lasse,  niclu  aber,  dass  neben  der  gebildeten 
Reaktion  und  unabhängig  von  ihr  ni(  ht  doch  das  Reizwort  anf- 
gefassst  sein  kann.**  Deshalb  erklärt  er  auch  die  Reaktionen 
unter  d  als  fehlerhaft  ;  denn  es  sei  \ on  vornherein  zu  erwarten, 
.,dass  die  i  n  e  i  n  c  m  R  e  i  z  w  o  r  t  e  1  i  e  g  e  n  d  e  V'  o  r  s  t  e  1 1  u  n  g 
in  der  Reaktion  irgendwie  zur  Geltung  kommt." 

Münsterberg,*)  den  bei  seinen  Versuchen  die  Frage  nach 
den  nächstliegenden  Associationen  und  nach  den  individuellen 
Unterschieden  in  der  Beziehung  gewisser  logischer  Begriffs- 
Verhältnisse  leitete,  gruppiert  seine  Reizworte  nach  ihrer  gram- 
matischen Form.  £r  liess  von  12  Personen  auf  je  200  zugerufene 


1)  HQnsterberg:  Beitiige  z.  exp.  PlsychoL  Heft  IV.  1892. 


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ATrütfl  der  A*$odatiimatiHUäamgen. 


III 


Substamiva.  loo  Adjcktiva  und  loo  Vcrba  associn  rr  n  und  er- 
hielt so  4800  Associationen.  In  Zwischenräumen  \  on  mindestens 
3  Monaten  Hess  er  auf  dieselben  Reizworte  von  4  Personen 
noch  je  3  mal  reagieren,  bekam  also  wieder  4800,  im  ganzen 
demnach  9600  Associationen. 

£s  ergab  sich  als  Einteilung: 

I.  Reizwort  ein  Substantiv. 

a)  Reaktionswort  ein  Substantiv: 

1.  )  Ueberordimng, 

2.  )  Unterordnung, 

3.  )  Nebenordnung, 

4.  )  kausalabhängige  Associationen. 

b)  Reaktionswort  ein  Adjektivum. 

c)  Reaktionswort  ein  Verbum. 

1.  )  das  gegebene  Substantiv  war  als  Subjekt  gedacht 

(Blume— blühen). 

2.  )  Substantiv  stand  in  indirekter  Beziehung  (Koffer— 

reisen). 

11.  Reizwort  ein  Adjektivum.  Hiebei  werden  5  Gruppen  un- 
terschieden, z.  B. : 

a)  Das  zugerufene  .Adjektiv  wurde  als  Eigenschaft  eines 
Gegenstandes  oder  Zustandes  gedacht  (laut — stuuuui 
laut — rufen;  einig — Deutschland)  u.  s.  w. 

III.  Reizwort  ein  Verbum,  wobei  6  Fälle  in  Betracht  kommen, 
z.  B.: 

a)  Substantiv  als  Subjekt  gedacht  (quälen — Physiologie) 

u.  s.  w. 

VoiUg  unstatthaft  bei  Untersuchung  der  indi\ idiiellen  l^n- 
tcrschiede  ist  ein  Ausschalten  von  gewissen  Associationen,  und 
mit  Recht  wendet  sich  Aschaffenburg  in  dieser  Beziehung  gegen 
Münsterberg.  Dieser  scheidet  nämlich  von  den  auf  Substantive 
als  Reizworte  gebildeten  Associationen  3  Gruppen,  zusammen 
etwa  5«Vo,  aus:  i.)  was  den  Charakter  individueller  Zufälligkeit 
trug,  2.)  Verbindungen  mit  dem  Charakter  äusserlichcr  Schall- 
associationen  und  3.)  die  identischen  Vorstellungen.  Diese  un- 
gerechtfertigte Ablehnung  genannter  Gruppen  kann  doch  wohl 
nur  von  der  Voraussetzung  aus  erfolgt  sein,  dass  die  durchs 


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112 


ythtmitet  Orth, 


Reizwort  verursachte  Enipfindung  und  \\  ahruehmungs\ orstel- 
luug  eine  in  jenem  enthaltene  V'orsteUung  auslösen  müsse,  mit 
welcher  sich  eine  andere  associieren  könne,  und  das  freilich 
trifft  z.  B,  bei  Ceder-Leder  nicht  zu,  wenigstens  lässt  sich  Der- 
artiges nicht  nachweisen. 

Die  Einteilung  der  oben  erwähnten  substantivischen  Asso- 
ciationen nach  XJeber-,  Unter-,  Nebenordnung  und  kausaler  Ab- 
hängigkeit ist  wieder  auf  die  inhaltliche  Beziehung  der  Vor- 
stellungen gegründet,  also-  rein  logisch  und  mithin  zu  verwerfen. 
Wenn  Münsterberg  als  charakteristische  Typen  intellektueller 
Physiognomie  den  Ueber-,  Neben*,  Unterordner  gewinnt  und  je* 
dem  eine  gewisse  grammitakalische  Form  eigen  sein  lässt,  so- 
dass beispielsweise  der  Ueberordnung  die  Neigung  parallel 
geht,  zum  Substantiv  ein  Vei1>um  zu  associieren,  für  welches  das 
Substantiv  Subjekt  ist,  oder  zum  Verbum  das  Subjekt  zu  ergän- 
zen, so  macht  er  Schlüsse,  die  durch  sein  Material  durchaus  nicht 
genügend  gestützt  sind,  Abgesehen  davon,  dass  sie  uns  über  die 
psychischen  Vorgänge  überhaupt  keinerlei  Aufschluss  geben. 

Am  meisten  entspricht  unseren  Forderungen  Th.  Ziehen,^) 
der  entschiedene  Verdienste  um  eme  psychologische  Einteilung 
der  Associationen  hat,  obwohl  auch  hier  noch  gar  manches  zu 
wünschen  übrig  bleibt. 

Zunächst  unterscheidet  er  , .springende  Associationen",  z.  B. 
Rose — rot,  bezeichnet  Vj — Vo.  und  „Urteilsass()(  iationen",  z.  B. 
e  Rose  ist  rot;  bczeic  hnetVi  -"—"-^  V^,  ein  Vorgehen,  das  des- 
wegen als  ungeniigend  und  äusserlich  angesehen  werden  muss, 
weil  hier  ja  nur  die  sprachliche  Form,  nicht  aber  der  Ablauf 
der  Bewusstseinsthatsachen  in  Betracht  kommt.  Nach  unseren 
Erfahrungen  kann  recht  wohl  eine  Urteilsassociation  im  Zie- 
hen'schen  Sinne  vorliegen,  sich  aber  nur  als  springende  dem 
Versuchsleiter  in  der  sprachlichen  Reaktion  bemerkbar  machen. 

Weiter  stellt  er  Verbal-  und  Objektassociationen  einander 
gegenüber  xmd  versteht  unter  letzteren  die  inhaltliche  Ver- 
knüpfung von  Vorstellungen,  unter  ersteren  dagegen  dit  nur 
durch  den  Schall  vermittelten  ohne  nachweisliche  innere  De* 
Ziehungen.  Da  er  nicht  logisch,  sondern  psychologisch  einteilen 


Tb.  Ziehen:  Die  Ideenassociation  des  Kindes.  2  Abhandlungen. 
1898  und  1900.  lo  der  Ssmmlmig  von  Abhandlungen  ans  dem  Ocbicle  der 
|)ldaf .  Rqfchologie  und  Physiologie; 


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Kritik  der  AssociaHotudniniluttgen. 


113 


will,  so  geht  er  von  den  Sinnesgebieten,  aos,  welchen  eine  Em- 
pfmdung  angehört,  z.  B. 

s  =  sprachlicher  Natur, 
p  Empfindung, 
a  —  akustisch. 

Nach  seiner  Meinung  soll  die  durch  das  zugerufene  Reiz- 
wort bewirkte  E*  wieder  erkannt  werden,  und  so  die  Gehörvor- 
stellung V  a  im  Gefolge  haben.  Au  diese  soll  sich  die  Objekt- 
vorstcllung  V,  schliessen  und  an  sie  eine  andere  Objcktvor- 
steiiung  Vo  assoLiativ  sich  anreihen,  so  dass  er  zur  Bezeichnung 
einer  Obiektassociation  Vi  —  Vt  braucht,  dagegen  mit  Vi 
die  Verbalassociation  belegt,  z.  B.  „Schlacht — Macht"  oder 
„Bett  —  wird  niil  II  geschrieben.** 

Das  wäre  ja  ganz  schön,  wenn  die  Sache  sich  nur  wirkhch 
so  verhielte.  Ziehen  mac  ht  hier  den  Kapitalfehler,  zu  glauben, 
dass  für  die  Übjektabsociaiion  immer  erst  die  Bedeutung 
des  Reizwortes  (Vj)  zur  Auslösung  des  Reaktionswortes 
(V.>)  fiihre  und  bei  der  Verbalassociation  sie  Ii  stets  ein  Wie- 
dererkennen des  Klangbildes  zwischen  Reiz-  und  Re- 
aktionswort scluebc.  Dem  widerspricht  jedoch  die  von  uns  ge- 
wonnene Erfahrung. 

Schon  a  priori  muss  zugegeben  werden,  und  darauf  weisen 
auch  Ziehens  Ausführungen  in  seinem  Leitfaden^)  hin,  dass  bei 
der  Verbalassociation  nicht  notwendig  auf  E  \  sich  V  \  einstellen 
muss,  sondern  V  a  sich  unmittelbar  an  E  l  schliessen  kann. 

Ferner  wird  genau  zwischen  Indi\ idualvorstellungen,  d.  s. 
solchen,  die  zeitlich  und  räumlich  bestimmt  oder  unbestimmt, 
jedoch  gesetzmässig  eindeutig  einander  zugeordnet  sind,  und 
Allgemeinvorstellungen  unterschieden,  deren  „Individualkoeffi- 
zienten  unbestimmt  und  einander  nicht  gesetzmässig  eindeutig 
zugeordnet  sind."  Demnach  gibt  es  für  die  springende  und 
Urteilsassociation  4  Verknüpfungsgruppen: 

1.)  Reine  Individualassociation: 

i Vi  —  i Vs 
i  Vi  ^   iV». 


>)  Th.  Zi  ehen:  Leitfaden  der  physiolog.  Ptychologie;  S.  17.  5.  Aufl.  1900. 


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114 


yokmmn  Orik 


2.  )   Individual-Aligenieinassociaiion : 

iVi  — ocVt 
iVi  -^^^  o«Vi- 

3. )  Allgemein-lndividuaiassociation : 

coVi  —  iVi 
ooV»   iVi. 

4.  )  Reine  Allgemeinassociation : 

00  V I  '■•^-"'^  00  V 

Die  Individualvorstellungen  sind  bald  einfach,  d.  h.  einer 
Empfindungsqualität,  bald  zusammengesetzt,  d.  h.  mehreren 
Empfindungsqualitäten  entstammend.  Sofern  die  einfachen  Vor- 
stellungen zu  einer  zusammengesetzten  Individualvorstellung  zu> 
sammentreten,  nennt  Ziehen  jene  Partialvorstellungen,  diese 
aber  Totalvorstellungen,  und  es  ergeben  sich  für  die  Associa- 
tionen sodann  folgende  9  Gruppen. 

1.  )  Eine  einfache  iV  weckt  eine  einfache  iV. : 

aj  homoscnsorielle  Vorstellungsverknüpfung, 

z.  B.  grün  — g:clb. 
b)  heteroscnsurielle  Voröteilungs Verknüpfung, 
z.  B.  weiss — süss. 

2.  )  Totalisierende  Vorstellungsverknüpfung,  d.  h. 

eine  einfache  iV.  weckt  eine  zusammengesetzte 
iV.  und  zwar: 

a)  eine  zusammengesetzte  iV.,  deren  Partialvorstellung 
sie  selbst  bt,  z.  B.  grün — Wiese. 

b)  eine  zusammengesetzte  iV.,  deren  Partialvorstellung 
sie  selbst  nicht  ist,  z.  B.  grün — ^Zucker, 

3.  )  Partialisiercndc  V'ürstellungs\ crkiiüpfung,  d.  Ji. 

eine  zusammengesetzte  i  V'.  weckt  eine  einfache 
iV.  und  zwar: 

a)  eine  einfache  i  V.,  welche  zu  ihren  Partialvorstellun- 
gcn  gehört,  z.  B.  Wiese— grün. 

b)  eine  einfache  i  V.,  welche  nicht  zu  ihren  Partialvor- 
stellungen  gehört,  z.  B.  Zucker — schwarz. 


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Kritik  der  Associationsein  teilungen . 


115 


4.)  Eine  zusiunDH  ngeseizte  W.  weckt  eine  andere  zusam- 
mengesci/i  '  \\ .  und  zwar: 
a)  eine  zusammcngcst-tzte  iV.,  welche  in  ihr  als  (zusam- 

nicngestn/tf  )  Partialvorstellung  enthalten  ist,  2,  B. 

Wiese — Biunie. 
bj  eine  zusammengesetzte  iV..  in  welcher  sie  selbst  als 

(zusammengesetzte)  Partialvorstellung  enthalten  ist, 

z,  B.  Blume — Wiese, 
c)  eine  zusammengesetzte  i  \ welche  in  keinem  Partial- 

verhäitnis  zu  ihr  steht,  z.  B.  Wiese — Stadt. 

Für  die  Verknüpfung  der  Allgemeinxorstellungca  lassen 
sich  dieselben  Fälle  nachweisen,  desgleichen  für  die  Ver- 
knüpfung von  Individual-  und  Allgemein  Vorstellungen  und  um- 
gekehrt. 

Vorstehende  allerdings  nach  psychologischen  Gesichtspunk- 
ten erfolgte  Einteilung  krankt,  wie  sofort  in  die  Augen  springt, 
an  der  oben  erwalmien  Meinung,  dass  stets  eine  Vorstellung 
m  i  t  einer  \'  o  r  s  i  c  1 1  u  n  g  sich  associiere.  Um  über  diese  Ver- 
hältnisse Klarheit  zu  bekonunen,  muss  unmittelbar  nach  der 
Reaktion  die  Versuclispcrson  über  ihre  pers()nli(-hen  Krlebni^^c 
im  Ans(  hhiss  an  das  Reizwort  bis  zum  Aussprechen  des  Reak- 
tiunswones  eingehend  Aufschluss  geben.  Nun  hat  zwar  Ziehen 
die  von  ihm  \er\\c'ndeten  Kinder  befragt,  doch  beziehen  sich 
deren  Angaben  fast  ausschliesslich  auf  die  Bestimmung  einer 
Vorstellung  als  Individul-  oder  Allgemeiiivorstellung.  Nur  in 
z  w  e  i  f  e  1  h  ;!  f  t  (  11  Fällen  mussten  die  Schüler  auch  über  die 
etwaigen  bnmebmodalitäten  .A^ussagen  machen.  Wann  aber  ist 
ein  Fall  zweifelhaft?  Kann  uns  nicht  etwas  als  selbstverständ- 
lich erscheinen,  im  Kinde  sich  aber  trotzdem  anders  abspielen? 

Trotz  aller  Versicherungen  Ziehens,  dass  die  Angaben  der 
Kinder  \öllig  verlässig  seien,  müssen  diese  doch  stark  ange- 
zweifelt werden ;  denn  nach  unserer  Erfahrung  ist  es  schon  dem 
Erwachsenen,  wieviel  mehr  dann  aber  erst  dem  Kinde,  unmög- 
lich, seine  Bewusstseinsvorgänge  bei  Associationen  jedesmal 
völlig  erschöpfend  zu  beschreiben,  und  gerade  auf  die  subjek- 
tiven Bestimmungen  kommt  bei  einer  psychologischen  Eintei- 
lung alles  an.  Ein  Schüler  z.  B.  associierte:  „Löwe — Tiger". 
Bei  „Lowe"  dachte  er  zunächst  an  nichts  Bestimmtes^  bei  „Tiger** 
sofort  an  die  Beschreibung  einer  Tigerjagd,  welche  er  zuhause 


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116 


yokoHMes  Orth, 


gelesen,  erst  nachträglich  fiel  ihm  auch  das  Gedicht  „Der  Lö- 
wenritt"  ein  =  q<5  V  i  —  i  Va-  Nach  den  Schülerangaben  wäre 
aTizunehrnen,  (hiss  ihm  erst  die  WortvorsteHung  Tiger"  und 
hernach  im  Ansrhlusse  daran  die  Erinnerung  an  eine  Tiger- 
jagd auftauchte.  Dann  wäre  nicht  «^Vi  —  iVj.  sondern  c/^  Vj— 
o^Vo  zu  setzen.  Die  Erklärung,  beim  Hören  des  Wortes  „Löwe" 
iiiL  nic  hts  BestnnnitcN  gedac  ht  zu  haben,  Jässt  die  Frage  offen, 
ub  überhau])t  eine  V,  ausgehist  worden  sei,  und  man  könnte 
deshalb  mit  Fug  und  Recht  obige  Association  auch  als  Verbal- 
associatiou  bezeichnen,  also  E  *  =  V. 

Endlich  erscheint  uns  die  fast  regelmässig  auftretende  Be- 
merkung der  Schüler,  ,, dachte  an  .  .  .  —  z,  B.  Turm — hoch; 
dachte  an  den  hiesigen  Turm  —  durchaus  nicht  genügend,  sun- 
d(  rn  allen  möglichen  Deutungen  Raum  lassi  nd.  War  dieses 
„Denken"  unnnllelbar  an  das  Reizwort  geknüpft,  ging  es  dem 
Reaktioiiswort  parallel,  bestund  es  in  einer  optischen  Erinne- 
rung?>\orstellung  oder  war  etwas  nirht  naher  zu  Bestinnncndes 
im  Bcwusstsein  ?  All  diese  Momente  müssen  Berücksichiiguiig 
finden,  und  der  letzte  Punkt  veranlasste  uns  zur  Einführung 
eines  neuen  lerminus,  nandich  des  Begriffs  der  „üewusstseins- 
läge." 

Trotz  aller  Vorzüge  gegenüber  früheren  Versuchen  erweist 
sich  also  Ziehens  Einteilung  als  noch  mangelhaft. 

In  jüngster  Zeit  hat  auf  dem  gegenwärtig  viel  bebauten 
l'elde  der  Untersuchung  a^sociativer  Verknüpfung  Wreschner'-) 
gearbeitet.  In  vielen  Punkten  fordert  er  unseren  Widerspruch 
heraus,  und  seine  Arbeit  entfernt  sich  wieder  weiter  von  unse- 
rem Ideale  associativcr  Einicilung.  Er  will  den  Einfluss  der 
Idiotie  auf  die  Association  bestimmen.  Zwar  verzichtet  er  auf 
eine  eigene  F^inteüung,  sich  im  ganzen  an  die  von  Ziehen  hal 
tend,  und  damit  gelten  auch  die  an  dieser  gemachten  Aus- 
stellungen für  sie,  allein  seine  Ausführungen  bedürfen  noch  be- 
sonderer kritischer  Beleuchtung. 

Charakteristisch  bei  ihm  ist  die  Einheit  des  Reizes,  d.  h. 
seine  142  Reizwörter  verwendet  er  an  jedem  der  aufeinander 
folgenden  Versuchstagc  an  einer  Patientin ;  er  bedient  sich  also 


1)  Wreschner:  Eine  experimentelle  Studie  über  die  Association  in  einem 
Falle  von  Idiotie.  A\\g,  Zeitschrift  ffir  Psychiatrie  und  psychisch-gerichtliche 
Medizin  v.  Orasbey,  Krafft-Eblns  etc.  1900.  S.  241^339. 


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KriUk  der  Assottationseinleihtn^cn. 


117 


der  Wiederholungsmethode.  Er  glaubt,  so  das  V'erhältnis  der 
Fixation  von  Associationen  in  pathologischen  Fällen  zu  nor- 
malen bestimmen  zu  können,  macht  aber  keinerlei  Versuche, 
diese  bei  Normalsinnigen»  zu  ermitteln.  Als  Reizmaterial  braucht 
er  46  Eigenschaftswörter  in  10  Gruppen  nach  den  Arten  der 
smnesphysiologischen  Wahrnehmungen,  2.  B.  1.)  Licht  und 
Farbe,  2.)  Ausdehnung  und  Form,  3.)  Bewegung  etc.,  und  zwar 
an  8  Versuchstagen,  femer  48  Substanti\a  und  Interjektionen 
(Konkxeta)  in  8  Gruppen,  z.  B.  1.)  Teik  des  menschl.  Körpers, 
2.)  Gegenstände  aus  der  unmittelbaren  Umgebung  im  Zimmer 
etc.,  an  7  Tagen  und  endlich  nochmals  48  Substantiva  und  Inter- 
jektionen (Abstrakta)  wieder  in  8  Gruppen  und  an  7  Tagen, 
z.  B.  I  .)  Traurige  Vorstellungen,  2.)  freudige  etc.,  sodass  sich  im 
ganzen  8x464-2x7x48=1040  Versuche  ergaben. 

Zunächst  ist  die  Gruppierung  der  Reizwörter  nach  der  sin- 
nes-physiologischen  Wahrnehmung  zur  Ermittelung  des  Ver- 
haltens des  Schwachsinns  „zu  den  verschiedenen  Stufen  des 
menschlichen  Intellekts"  als  verunglückt  zu  betrachten.  Ausser 
der  Annahme,  dass  nur  Vorstellungen  sich  associieren, 
muss  auch  die  Voraussetzung  einer  Konstanz  der  Associationen 
zurückgewiesen  werden;  denn  nur  wer  diese  annimmt,  kann 
das  Verhalten  der  Idiotie  zu  den  Stufen  normalen  Intellekts  in 
obiger  Weise  festzustellen  versuchen.  Schon  Münsterberg^)  hat 
diese  Konstanz  verneint  und  nur  eine  Konstellation  von  Vor« 
Stellungen  als  für  die  jeweilige  Association  massgebend  bezeich- 
net. Diese  ist  aber  in  erster  Linie  abhängig  von  Erziehung, 
Lebenskreis,  Beruf,  kurz  vom  sozialen  Milieu  der  Versuchsper- 
son, und  darin  wurzelt  zum  guten  Teile  die  individuelle  Ver- 
schiedenheit der  Menschen.  Das  aber  übersieht  Wreschner 
völlig,  sonst  hätte  (&r,  um  seine  an  der  Idiotin  gewonnenen  Re- 
sultate mit  den  an  Normalsinnigen  gemachten  Erfahrungen 
vergleichen  zu  können»  doch  Gesunde  aus  dem  gesellschaftlichen 
Kreise  seiner  Patientm  auf  ihre  Associationen  unter  denselben 
Bedingungen  untersuchen  müssen.  Letzteres  geschah  nicht, 
drum  war  nicht  zu  vermeiden,  dass  manche  Fehl-  oder  gering- 
wertige Associationen  auf  Rechnung  des  Schwachsinns  gesetzt 
wurden,  während  die  mangelnde  Vertrautheit  der  Volkskreise 
mit  der  durchs  Reizwort  bezeichneten  Vorstellung  zur  Verant- 


*)  Mflnsterberg  a.a.O. 


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118 


Johannes  Orth. 


wortung  zu  ziehen  gewesen  wäre.  Darnach  ist  ebenfalls  seine 
Behauptung  m  werten  :  ..Die  Q)ualität  der  Reaktion  wird  um  so 
minderwertiger,  je  höher  die  des  Reizwortes  ist.** 

Auch  die  Einordnung  der  Asssociationen  leidet  unter  der 
Nichtkenntnis  der  seiner  Patientin  vertrauten  Vorstellungen,  die 
er  im  Reizwort  voraussetzt.  Drum  konstruiert  Wreschner  hier 
offenbar  gar  oft,  z.  B.  Löwe— Wild  —  der  Idiotin  lag  aber  doch 
gewiss  ,»wild'*  näher  — ,  konnte  er  ja  von  dem  einzigen  Mittel, 
dies  zu  verhüten,  Von  der  Erfahrung  der  Versuchsperson,  infolge 
ihrer  Idiotie  keinen  oder  doch  nur  äusserst  beschränkten  Ge- 
brauch machen  und  deren  Mitteilungen  bloss  mit  Vorbehah  ver- 
werten. 

Die  von  Ziehen  vorgeschlagene  Einteilung  endlich  erfuhr 
durch  Wreschner  eine  Verschlechterung.  Die  Verbalassociation 
zerfällt  ihm  in  Wortergänzung,  wenn  der  angehängte  Teil  den 
Sinn  des  Wortes  ändert,  in  Flexion,  wo  das  nicht  der  Fall  ist, 
und  in  Klangassociation.  Innerlialh  der  homosensoriellen  und 
totalisierenden  Objektasso(  iation  —  daneben  wird  noch  Thätig- 
keitsassociation  erwähnt  —  unterscheidet  er  Verknüpfung  nach 
Kontrast,  Aehnlichkeit,  prädikativer,  wesentlicher  und  unwe- 
sentlicher Bezieliung.  Daher  konmu  er  denn  trotz  Zielien  glück- 
lich da  wieder  an,  wogegen  dieser  sich  gewendet  hatte,  näm- 
lich bei  der  logischen  Eijiteihmg.  Seine  Gliederung  erweist 
sich  mithin  als  ein  Gemengsei,  aus  \ orgefundenen  psycholo- 
gischen und  lügischen  Gesichtspunkten  geboren,  und  damit  ist 
dieselbe  gerichtet. 

Aus  Vorstehendem  dürfte  zur  Genüge  erhellen,  wie  not 
eine  rein  psychologische,  von  den  gerügten  Mängeln  freie  Ein- 
teilung thut.  In  der  Absicht  nun,  die  Associationen  nach  ihren 
Eigentümlichkeiten  zu  gruppieren,  kamen  die  beiden  £xperi' 
mentierenden  (Herr  Mayer  und  Verfasser)  auf  Grund  eines  um- 
fangreichen Materials,  gewonnen  durch  Versuche,  bei  denen 
sich  die  Reagenten  selbst  während  des  associativen  Vorganges 
beobachteten,  zu  einer  neuen  Einteilung^}  derjenigen  Associa- 
tionen, bei  weichen  der  Beobachter  auf  ein  zugerufenes  Wort 
mit  einem  von  ihm  gesprochenen  Wort  reagiert. 


>)  Näheres  sidie  Mayer  &  Orth:  Zur  qualitativen  UnteisudiURg  der 
Association.  Zeitsdir.  t  Plsychol.  u.  Phydol.  der  Sinnesofg.  1901. 


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Kritik  der  AaociationseintcüungeH. 


119 


Diese  Associationen  zerfallen 
entweder: 

a)  in  solche  ohne  eingeschobene  Bewusstseinsvorgänge, 

b)  in  solche  mit  eingeschobenen  Bewusstsdnsvor- 
gängen,  die  sich  ihrerseits  wieder  nach  Zahl  und  Art 
der  eingeschobenen  Bewusstseinsvorgäuge  oder  nach 
deren  Gefühlsbetonung  gliedern  lassen; 

oder: 

a)  in  solche  ohne  begleitende  Bewusstseinsvorgängc, 

b)  in  solche,  bei  welchen  mit  dem  Reizworte  beglei- 
tende Bewusstseinsvorgänge  ablaufen, 

c)  in  solche,  bei  welchen  mit  dem  Reaktionsworte  be- 
gleitende Bewusstseinsvorgänge  ablaufen, 

d)  in  solche,  bei  welchen  mit  dem  Reiz-  und  mit  dem 
Reaktionsworte  begleitende  Bewusstseinsvorgänge 
ablaufen. 


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Die  Kunst  im  Leben  des  Kindes. 

Programm  der  Ausstellung  im  Hause  der  Berliner  Secession.*) 

Ostern  1901. 

I 

Künstlerischer  Wandschmuck  für  die  Schule  und  im  Hause. 

Vm 

Fritz  Stahl. 

Das  Bild,  das  an  der  W'and  der  Schulstube 
h'ängen  soll,  hat  sehr  verschiedenartige  Aufgaben  zu  er- 
füllen, Aufgaben,  die  man  in  irgend  einer  Reihenfolge  auf- 
zählen muss,  die  aber  ihrer  Bedeutung  nach  durchaus  gleich- 
wertig sind.  Es  soll  schmücken,  dazu  helfen,  das  kahle, 
charakterlose  Schulzimmer  in  einen  freundlichen  Raum  von 
bestimmtem  individuellen  Gepräge  zu  verwandeln,  und  da- 
durch das  Kind  gewöhnen,  einen  solchen  Schmuck 
durch  die  Kunst  als  einen  unentbehrlichen  Be- 
st an  dt  eilseinerUmgebungzu  betrachten.  £s  soll 
weiter  den  höheren  Zweck  jedes  Kunstwerkes  er- 
füllen, durch  die  Schönheit  und  Kraft  in  Linie 
und  Farbe,  die  sich  der  vertieften  Betrachtung  offenbaren, 
AugeundSeelezuerfreuen,  und  dadurch  die  ^Empfangs- 
fähigkeit  des  Kindes  für  Natur  und  Kunst,  seinen  Geschmack 
wecken  xmd  veredeln.  Es  soll  endlich  auch  durch  seinen 
Inhalt  wirken,  den  Kreis  der  Anschauung  erweitern  durch 
die  Darstellung  von  Dingen,  deren  Kenntnis  das  Leben  ihm 
vorenthält,  oder  vertiefen  durch  die  Darstellung  der  ihm  ver- 
trauten Dinge  in  künstlerischer  Form,  oder  seine  Phantasie 
wecken  durch  die  bildnerische  Vorführung  von  Stoffen,  die 
ihm  bekannt  sind,  oder  seinem  Verständnis  nahe  liegen,  \on 
den  Gestalten  und  Ereignissen  der  Bibel,  der  Sagen  und  der 
Märchen,  der  Gedichte  und  der  Lieder. 

Wir  können  in  unserer  Sammlung  fast  keine  Blätter  auf- 
zeigen, die  diesem  Ideal  vollständig  entsprechen.  Es  ist  in 
Deutschland  fast  noch  nichts  für  diesen  Zweck  ausdrücklich 

*)  Der  sugehörige  Katolog  ist  im  Verlage  Seemann,  Berlin,  erschienen. 


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Dte  Kunst  im  Leben  des  Ktnäes. 


121 


geschaffen  worden,  und  in  den  Blättern,  die  im  Ausland  c;e- 
schaff' n  sind,  bleibt  nicht  nur  in  den  Stoffen  und  in  der  Kmptüi' 
dung,  sondern  auch  in  der  Art  des  Ausdruckes  immer  etwas 
Fremdes,  so  dass  ihre  direkte  Verwendung,  wenn  überhaupt, 
nur  mit  grösster  Vorsicht  statttmden  kann.  Trotzdem  ist  sehr 
viel  unmittelbar  Brauchbares  da,  und  eine  Verlegenheit  um 
Blätter  wird  die  Emfuhrung  de?  Bildes  in  die  Schule  nicht 
aufzuhalten  brauchen.  Zugleich  wird  den  \'erlegern  und  Künst- 
lern sich  deutlich  herausstellen,  was  gebraucht  wird  ;  dass  die 
deutsche  Kunst  das  Bedürfnis  befriedigen  kann,  daran  ist  nicht 
2U  zweifeln. 

Die  Blätter  des  Auslandes  weisen  auf  die  Technik  hin,  die 
man  als  das  ideale  Ausdrucksmittel  für  den  Zweck  bezeichnen 
darf :  die  Lithographie  in  P'arben.  Sie  nimmt  diese  Stelle  ein, 
Meil  sie  eine  schöne  dekorative  Haltung  und  zugleich  doch 
auch  eine  feste  Zeichnung  ermöglicht,  und  dabei  das  Blatt  zu 
einem  niedrigen  Preise  liefern  kann. 

Die  Technik  steht  bei  uns,  wie  die  Blätter  der  Karlsruher 
Maler  zeigen,  durchaus  auf  der  Höhe;  schade  nur,  dass  diese 
Blätter  zum  grossen  Teile  zu  klein  sind,  um  durch  die  Schul- 
.  Stube  hin  wirken  zu  können.  Weshalb  die  ausländischen  Blätter 
zumeist  nur  als  Anregung  gelten  können,  ist  oben  schon  an- 
gedeutet worden.  Es  ist  zunächst  einmal  selbstverständlich 
durchaus  notwendig,  von  unserer  Landschaft  und  unserer 
Phantasiewelt  auszugehen,  und  dann  sind  sowohl  die  Fitzroy- 
blätter, die  aus  England  stammen,  wie  die  Blätter  der  Fran- 
zosen zu  ausgesprochen  auf  das  nur  Dekorative  zugeschnitten. 

Den  Bildern  von  Riviere,  die  künstlerisch  ausserordentlich 
schön  sind,  fehlt  gerade  durch  ihren  vornehmen  gedämpften 
Ton  für  unser  Gefühl  das  Heitere,  Festliche,  das  man  dem 
Wandschmucke  für  die  Räume,  in  denen  Kinder  leben,  wün- 
schen sollte.  Die  englischen  Blätter  fallen  leicht  ins  Plakat- 
artige und  haben  zudem  eine  Kühle  in  der  Empfindung,  nament- 
lich bei  religiösen  Stoffen,  die  bisweilen  geradezu  verletzt  und 
alles  andere  eher  ist,  als  kindlich. 

Stoffkreis  und  Ton,  wie  sie  dem  Schmuck  der  deutschen 
Schule  entsprechen,  werden  am  besten  durch  die  Arbeiten  der 
älteren  deutschen  Meister  gegeben,  die  ja  freilich  wieder  der 
Farbe  ermangeln  und  deshalb  die  Aufgabe  des  Schmuckes 
nicht  ganz  erfüllen.  In  erster  Linie  handelt  es  sich  dabei  um 

ZdtKlirift  f8r  pldagoKbel»  Ptydiolosle  niid  Pkdiotogtc.  3 


122 


FrU9  SMl. 


die  Vergrösseningen  aus  der  Bilderbibel  von  Schnorr  von 
Carolsfeld  und  aus  verschiedenen  Werken  von  Ludwig  Richter. 
Da  gehen  tiefe  Empfindung  und  poetische  Auffassung  mit  edler 
und  anmutiger  Form  Hand  in  Hand.  Diese  Blätter,  die  um 
wenige  Pfennige  zu  haben  sind,  sollten  in  keiner  deutschen 
Schule  und,  wie  man  gleich  hinzufügen  kann,  in  keinem  deut- 
schen Hause  fehlen.  Gerade  dass  sie  ihre  Stoffe  der  Bibel 
und  dem  Volkslied  entnehmen,  macht  sie  so  wertvoll  und  vor- 
bildlich. 

In  ähnlichem  Sinne  schaffen  unter  den  Lebenden  Hans 
Thoma  und  Wilhelm  Steinhausen,  die  auch  die  Farbe  heran- 
ziehen, und  deren  Blätter,  trotzdem  sie  in  den  billigen  Aus- 
gaben etwas  klein  für  den  Zweck  sind,  als  musterhaft  gelten 
dürfen. 

Die  Wirklichkeitskünstler  sind  zunächst  fast  gar  nicht  ver« 
treten.  Das  Beispiel  der  Karlsruher  zeigt  aber,  was  sie  werden 
leisten  können.  Es  ist  vielleicht  von  einer  Wichtigkeit,  die 
weit  über  den  Rahmen  unserer  Bewegung  hinausgeht,  dass 
die  deutsche  Kunst  wieder  einmal  vor  eine  ganz  bestimmte 
Aufgabe  gestellt  ist.  Namentlich,  weil  es  sich  nicht  nur  um 
die  Schule  handelt,  sondern  die  Kinder  sehr  bald  das  Bedürf- 
nis nach  guter  Kunst  auf  das  Haus  übertragen  werden. 

Noch  vor  einem  muss  von  vornherein  gewarnt  werden, 
vor  dem  Gedanken,  der  leider  bei  uns  nicht  ausgeschlossen 
erscheint,  dass  es  hier,  wo  es  sich  um  ,,\  olkstiimlichc"  Kunst 
handelt,  mit  oberflächlicher  Arbeit  gethan  sei.  So  lange  die 
Führer  der  Bewegung  Einfhiss  haben,  wird  jedenfalls  der, 
Grundsatz  gelten,  dass  nur  das  Beste  gut  genug  ist. 

Sachliche  Klarheit,  Sicherheit  und  Reiz  der  Zeichnung  sind 
unumgänglich.  Dass  sie  sich  mit  der  raffiniertesten  Schönheit 
der  Farbe  vertragen,  das  zeigen  die  japanisclien  Farbenholz- 
schnitte, die  als  ein  unerreichbares  Ideal  vor  uns  stehen.  Sie 
sind  dekorativ  und  zugleich  wissenschaftlich  exakt. 

Neben  den  Blättern,  die  eigens  für  den  Zweck  des  Schul- 
schmuckes gcbchaffen  werden,  wird  man,  auch  wenn  ihre  Zahl 
noch  so  gross  werden  sollte,  niemals  die  Reproduktionen  der 
grossen  Meisterwerke  der  Vergangenheit  und  der  Gegenwart 
entbehren  kunncn.  Wenn  sie  auch  nicht  im  eigentlichen  Sinne 
schniiicken,  wenigstens  die  pliotographischen  nicht,  so  erfüllen 
sie  die  wichtige  Aufgabe,  den  Smn  für  grosse  Kunst  zu  wecken 


Die  KuHst  im  Letttn  4ts  Kmdu. 


123 


und  das  Niveau  festzulegen.  Aus  diesem  Grunde,  und  weil 
sie  sofort  zur  Verfügung  stehen,  ist  den  Reproduktionen  ein 
grosser  Raum  in  imserer  Ausstellung  verstattet  worden.  Wir 
haben  dabei  auch  teurere  Blätter  berücksichtigt,  wie  die  far- 
bigen Ausgaben  der  Firma  Trowitzsch  &  Sohn,  der  Vereini- 
gung der  Kunstfreunde",  die  Photogravuren  der  Firma  Braun 
&  Co.,  der  „Photographischen  Gesellschaft"  und  der  , .Photo- 
graphischen  Union",  weil,  sobald  Staat  und  Stadt  die  An- 
regung aufnehmen,  auch  für  jede  Schule  die  paar  Htmdert 
Mark  verfügbar  sein  werden,  um  einige  davon  zu  erwerben. 
Die  Wandbilder  von  E.  A.  Seemann  zeigen  übrigens,  dass 
sich  auch  bei  billigen  Massenauflagen  durchaus  Musterhaftes 
bieten  lässt.  Die  kleinen  Reproduktionen  nach  Stichen  und 
Radierungen,  die  zu  dem  schönsten  Besitz  deutscher  Kunst 
gehören,  sind  hinzugefügt  worden,  weil  man  sie  wohl  in  Seh- 
höhe der  Kinder  anbringen  und  sie  so  der  intimen  Betrachtung, 
die  sie  verlangen,  zugänglich  machen  kann.  Die  ausgezeich- 
neten Blätter  der  Reichsdruckerei  und  des  Hauses  Obemetter 
geben  voll  den  Reiz  der  Originale. 

Zu  den  Forderungen,  die  erhoben  werden  müssen,  gehört 
auch,  dass  das  notwendige  Anschauungsmaterial  der  Schule 
einen  künstlerischen  Zug  bekommt,  mit  der  entsprechenden 
Sachlichkeit  ästhetischen  Reiz  vereint.  Dieser  Punkt  ist  des- 
halb besonders  wichtig,  weil,  ganz  abgesehen  von  unseren  Be- 
strebungen, derartige  Blätter  von  allen  Schulen  fortwährend 
gebraucht  werden,  ihre  Herstellung  aber  leider  ganz  in  den 
Händen  von  Handwerkern  liegt,  und  sie  deshalb  verderblich 
für  die  künstlerische  Erziehung  der  Jugend  wirken.  Wir  geben 
die  Blätter  von  C.  Koch,  auf  denen  in  höchst  reizvoller  Welse 
die  Blumen  unserer  Landschaft,  wie  sie  in  den  Jahreszeiten 
nebeneinander  vorkommen,  dargestellt  sind;  diese  feinsinnigen 
Studien  werden  sich  leicht  auch  in  dekorativ  wirksame  Bilder 
übertragen  lassen. 

Für  das  Kinderzimmer  kommen  im  ganzen  ähnliche  Dinge 
in  Betracht  wie  für  das  Schulzimmer.  In  Deutschland  ist  inso- 
fern zunächst  die  Auswahl  für  das  Haus  leichter,  als  sich  hier 
ohne  Bedenken  die  Blätter  verwenden  lassen,  die  für  die  Schule 
etwas  zu  klein  sind.  Einen  sehr  günstigen  Einfluss  werden 
die  Lehrer  ausüben  können,  wenn  sie  das  englische  Systenn 
annehmen,  den  Kindern  geeignete  Blätter  als  Fleissprämien 

3* 


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124 


J^rili  Stahl. 


ZU  geben.  Auf  diesem  Gebiete  wird  die  Ausstellung  vielleicht 
am  unmittelbarsten  wirken,  da  sie  den  Ehern,  die  schon  den 
Wunsch  nach  dergleichen  Schmuck  für  die  Kinderstube  em- 
pfunden, aber  im  besten  Glauben  nach  den  süsslichen  Oblaten 
gegriffen  haben,  die  unsere  Bazarc  anbieten,  den  rechten  Weg 
weist. 

Es  entsteht  nun  die  Frage,  in  welcher  Weise  die  verfolgten 
Zwecke  durch  eine  l' nterweisu?ii;  mit  dem  Wort  gcfcirdert  wer- 
den können.  Es  wird  das  im  einzelnen  wolil  miiner  von  der 
Individu  Uit ar  des  Lehrers  und  von  seinem  V'erhältnis  zu  den 
Scliuk.Tu  abhängen.  In  einem  Teil  der  Lclircrhchaü  l-a  das 
Verständnis  für  diese  Ideen  schon  so  weit  gtlördert,  dass  die 
Lehrer  begonnen  haben,  sich  selbstthätig  mit  der  nötigen  Unter- 
weisung für  ein  besseres  Verständnis  der  Kunst  vorzubereiten, 
das  ja  natürlich  die  notwendige  Grundlage  für  ein  Eingreifen 
ist.  Der  andere  Teil  wird  zu  gewinnen  sein.  Einige  allgemeine 
Gesichtspunkte  sollen  nun  vor  allen  Dingen  aufgestellt  werden. 

Jedenfalls  ist  nicht  die  Rede  davon,  dass  etwa  ein  neuer 
Lehrgegenstand  in  die  Schulen  eingeführt  werden  soll.  Im 
Gegenthcil,  es  muss  alles  vermieden  werden^  was  diese  Bilder 
als  Gegenstand  eines  Unterrichts,  als  Lehrmittel  im  gewöhn« 
liehen  Sinne  erscheinen  lässt.  Gerade  ein  Hauptpunkt  des 
Programms,  dass  eben  die  Bilder  als  ein  selbstverständlicher 
Bestandteil  des  Zimmers  erscheinen  sollen,  lässt  von  einer  sol- 
chen Behandlung  dringend  abraten.  Die  Bilder  sind  eben  da, 
werden  den  Kindern  vertraut  werden,  und  werden  wie  jedes 
Kunstwerk,  wenn  sie  oft  und  scharf  angesehen  werden,  auch 
von  selbst  zu  den  empfänglichen  Augen  und  der  empfäng- 
lichen Seele  des  Kindes  2U  sprechen  beginnen.  Die  erste  An* 
regung  des  Lehrers  wird  am  besten  dahin  gehen,  den  Kindern 
nahezulegen,  selbst  Fragen  über  die  Bilder  zu  stellen.  Das 
Kind  ist  jedem  Menschen  gegenüber  und  namentlich  dem 
I^hrer,  wenn  er  sein  Vertrauen  besitzt,  sehr  fragelustig.  Die 
Erfahrungen,  die  wir  in  den  volkstümlichen  Kunstausstellungen 
mit  Leuten  aus  dem  Volke  gemacht  haben,  die  ja  schliesslich 
der  bildenden  Kunst  auch  sehr  naiv  gegenüber  stehen,  haben 
gezeigt,  dass  es  einen  ganz  besonderen  Reiz  für  sie  hat,  nicht 
irgend  etwas  über  ein  Bild  zu  hören,  sondern  gerade  das,  was 
sie  wissen  möchten,  und  damit  ist  auch  immer  der  beste  Aus- 
gangspunkt gegeben,  und  vor  allen  Dingen  und  unter  allen 
Umständen  das  Interesse  gesichert. 


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Dk  Kmut  im  LAm  dts  KMes, 


125 


Will  der  Lehrer,  nachdem  den  Kindern  das  Bild  somit  all- 
gemein vertraut  ist,  ihm  eine  eingehendere  Aufmerksamkeit 
sichern,  so  wird  es  sich  empfehlen,  dafür  vielleicht  eine  Stunde 
zu  wählen,  in  der  Sprech-  oder  Schreibübungen  gemacht 
werden  sollen,  die  sich  ausgezeichnet  an  solche  Blätter,  wie  wir 
sie  denken,  anknüpfen  lassen.  Es  wird  zunächst  darauf  an- 
kommen, das  Kind  das  Bild  roh  beschreiben  zu  lassen,  einfach 
auf  das  Stoffliche  hin,  und  durch  Fragen  die  Sehschärfe  immer 
mehr  und  mehr  zu  vertiefen.  Dabei  wird  es  sich  von  selbst  er- 
geben, dass  auf  die  Natur  hingewiesen  werden  muss  und  auf 
ein  Vergleichen  mit  den  Beobachtungen  draussen.  Bilder,  die 
eine  Geschichte  erzählen,  oder  eine  Fabel  darstellen,  werden 
auch  Gelegenheit  geben,  über  den  Gesichtsausdruck  und  der- 
gleichen Beobachtungen  anstellen  zu  lassen. 

Die  schwierigste  Aufgabe  wird  darin  bestehen,  auf  die 
eigentlich  künstlerischen  Reize  aufmerksam  zu  machen. 

Wir  haben  die  Absicht,  im  Laufe  der  Ausstellung  unserer- 
seits Versuche  mit  Kindern  anzustellen,  um  den  Lehrern  zu 
zeigen,  wie  wir  uns  vom  Standpunkte  der  künstlerischdi  Be- 
trachtung aus  eine  solche  Unterhaltung  mit  den  Kindern  vor- 
stellen, und  sie  werden  vielleicht  daraus  mancherlei  Anregung 
für  sich  selbst  gewinnen.  Aus  eigener  Erfahrung  kann  ich 
jedenfalls  die  Behauptung  wagen,  dass  das  Mass  des  Verständ- 
nisses bei  den  Kindern  sehr  unterschätzt  wird.  —  Kinder  be- 
obachten sehr  scharf,  oder  haben  doch  wenigstens  die  Fähig- 
keit, sehr  scharf  zu  sehen,  wenn  sie  nach  einer  bestimmten 
Richtung  hin  angeregt  werden,  und  sie  werden  die  Bildbetrach- 
t\mg  als  eine  Abwechselung  gegenüber  Gegenstand  und  Art 
des  sonstigen  Unterrichtes  ohne  Zweifel  mit  Interesse  erfassen. 

Die  ästhetische  Betrachtung  wird  am  wenigsten  der  Unter- 
stützung durch  das  Wort  bedürfen,  sondern  es  wird  im  wesent- 
lichen darauf  ankommen,  den  Instinkt  zu  wecken.  Wird  das 
Auge  an  gute  Farbenharmonieen  gewöhnt  und  an  originelle 
Farbtöne,  so  wird  es  von  selbst  allem  HässHchen  und  Trivialen 
gegenüber  sich  ablehnend  verhalten.  Eine  ausführliche  Be- 
trachtung dieser  Qualitäten  des  Kunstwerkes  wird  nur  dann 
nötig  sein,  wenn  den  Kindern  die  Abweichung  von  der  Natur 
zum  Besten  künstlerischer  Wirkung  auffallen  sollte. 

In  jedem  Betracht  sehen  wir  den  wichtigsten  Erfolg  unserer 
Ausstellung  in  der  Anregung,  die  sie  giebt.  Diese  Zeilen  sollen 


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126 


dem  Zwecke  dienen,  die  Punkte  zu  zeigen,  auf  dtt  es  ankoinmt 
ttnd  die  wir  dem  Nachdenken  imd  (kr  Erörterung  aller  Be- 
teiligten empfehlen.  Wir  werden  die  Gelegenheit  bieten,  solche 
Diskusstonen  in  der  Ausstellung  selbst  zu  führen.  Vor  allem 
möchten  wir  gerne  die  Kinder  selbst  kommen  sehen,  denn  ihr 
Verhalten  wird  uns  am  besten  zeigen,  was  für  Kunst  sie 
brauchen. 


IL 

K&fistlerische  Bilderb&chtr. 

Vm 

Wilhelm  Spohr. 

Die  ersten  Anregungen  künstlerischer  Art  erhält  das  Kind 
durch  das  Bilderbuch.  Wir  sind  in  Deutschland  in  Bezug 
auf  diesen  Punkt  noch  wenig  gewissenhaft.  Hier  hätten  wir 
Mittel,  eine  richtige  Empfänglichkeit  für  die  Eindrücke  der 
Welt  im  Kinde  auszubilden,  ihm  die  Fähigkeit  zu  verschaffen, 
sich  zu  verschliessen  oder  zu  öffnen  am  rechten  Orte  und  zu 
rechter  Zeit,  durch  Schönheit  einzuwirken,  dass  neue  Schön- 
heit hervorgehe,  Gradheit,  Takt,  Selbstbewusstsein  in  ihm  zu 
erziehen.  Denn  so  wirkt  edle  Kunst,  alles  Schöne  und  Grosse 
im  Leben  auf  den  Menschen.  Und  das  Kind  ist  noch  williger, 
wir  haben  es  oft  in  der  Hand,  ihm  beglückende  Richtung  zu 
geben.  Wir  sollten  fortan  diese  Möglichkeit  ausnutzen,  wir 
sollten  sie  suchen.  Wir  werden  sie  leicht  finden.  Denn  Pfad> 
finder  sind  uns  in  anderen  Ländern  voraufgegangen,  und  auch 
in  Deutschland  wandeln  neuerdings  Künstler  bcwusst  die  Bah- 
nen  der  künstlerischen  Erziehung  der  Jugend.  Wir  vermögen 
eine  Auswahl  von  Bilderbüchern  alter  und  neuer  Kunstrich- 
ttmg  zu  treffen,  welche  das  Bedürfnis  nach  Farbe  und  Form 
befriedigen,  und  wo  es  nicht  vorhanden,  es  erziehen  können. 

Es  handelt  sich  nicht  um  einen  Luxus.  Künstlerisch  füh- 
lende Menschen  empfinden  es  tief,  dass  hier  die  ganze 
Menschenerscheinung  in  Frage  kommt,  dass  mit  der  geordneten 
Erziehung  seiner  Sinne  das  Glück  des  Menschen  und  die  Wider- 
standsfähigkeit gegen  vieles  ihm  Schädliche  begründet  wird, 


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Die  Kunst  (m  Lebtn  de*  Knute*. 


127 


dass  der  Lebensgenuss  und  die  Vitalität  im  weiteren  Sinne 
erhöht  wird.  Es  würde  zu  weit  führen,  zu  schildern,  was  xcr- 
ehrte  Führer  des  Volkes  als  Ziel  des  Weges  der  künstlerischen 
Erziphnng  erschaut  haben.  Ein  V^ersuch  hat  jeden  beglückt. 
Zu  solclien  Versuchen  an  sich  selbst  und  am  Kinde  anzureizen, 
dem  schon  Verlangenden  Greifbares  zu  bieten,  dient  diese  Aus- 
stellung. Bilderbücher  werden  oft  geschenkt.  Den  Schenken- 
den das  Gewissen  zu  schärfen,  dass  sie  nicht  wahllos  zugreifen 
auf  dem  Markte  der  Biiderbücher,  lieber  ein  paar  Groschen 
mehr  ausgeben,  die  sie  anderswo  vielleicht  ohne  Bedenken  ver- 
sclikudern  —  dazu  möge  die  schöne  Sammlung  der  Bilder- 
bücher beitragen. 

Die  SammlunL'^  die  das  beste  Material  der  in  Betracht  kom- 
menden Länder  enthält,  ermöglicht  eine  Vergleichung  des 
Schaffens  der  verschiedenen  Länder  auf  diesem  Gebiete.  Es 
sind  vertreten  Deutschland,  England,  Frankreich,  Schweiz, 
Italien.  Nordamerika  und  Japan.  Eine  flüchtige  U eberschau 
belehn  uns  st  hon,  dass  England  das  klassische  Land  für  das 
spezifische  Bilderbuch  ist.  Noch  h(")her  muss  England  in  dieser 
Schätzung  steigen,  wenn  wir  bedenken,  dass  die  ausgestellten 
englischen  Bücher  noch  leicht  in  der  Anzahl  hätten  erhöht 
werden  können,  ohne  dass  man  das  Niveau  herabdrückte.  Da- 
bei ist  die  Zahl  der  hier  ausgestellten  englischen  Bücher  grösser 
als  die  der  deutschen.  Auch  Frankreich  bietet  hervorragende 
Erscheinungen,  und  seilest  das  allgemeine  Niveau  des  Bilder- 
büchermarktes S(  heint  nicht  so  tief  zu  stehen  wie  in  Deutsch- 
land. Japan  kenru  zwar  das  spezifische  Kinderbuch  nicht  oder 
erst  seit  kurzem,  aber  die  Erfahrung  und  das  wenige,  was 
unsere  Ausstellung  an  Wandschmuck,  Bilderbüchern  und 
Bilderbogen  darbietet,  lehrt  uns,  dass  in  diesem  Lande  der 
klassische,  alle  ansprechende  Stil  gefunden  wurde  und  dass 
Pflanzen,  Tieren  und  Menschen  in  ihrem  Ausdruck  und  den 
beiden  letztgenannten  besonders  in  ihren  Bewegungen  eine 
fabelhafte  Charakteristik  gegeben  worden  ist,  was  alles  in  der 
\'erbindung  mit  der  klugen  Farbenwahl  geeignet  sein  muss, 
den  Japanern  fort  und  fort  eine  künstlerische  Kultur  zu  sichern. 
Mögen  wir  Occidentalen  dies  nicht  mit  voller  Liebe  aufnehmen 
können,  bewundern  müssen  wir  es,  und  müssen  nach  der  Voll- 
kommenheit streben,  den  Japanern  vielleicht  gleiche  Bewunde- 
rung ablocken  zu  können. 


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128 


WakOm  Spokr, 


Weil  das  Kind  charakteristisch  sieht,  weil  es  Charakte- 
ristik in  den  Bildern  verlangt,  müssen  wir  bedacht  sein,  dies 
Vermögen  und  diesen  Wunsch  zu  erhalten  und  zu  retten,  und 
von  diesem  Gesichtspunkte  nahm  ich  Veranlassung,  der  Japaner 
besonders  zu  gedenken.  Wie  sieht  es  in  Bezug  auf  Cliarakteri- 
stik  bei  uns  auf  dem  Bilderbuchniarkt  aus?  Ucbel.  Und  die 
Kunstbediirftigen  haben  auch  kein  W-rständnis  für  Charakteri- 
stik; viele  Eltern  sehen  die  Charakteristik  anstrebende  Kunst 
der  Busch,- Meggendorfer,  Oberländer,  Kreidolf  mit  einer  ge- 
wissen prüde-ethischen  Befangenheit  an,  und  mit  dem  Worte 
„Karikatur"  wird  dies  ausgeschaltet.    Was  ist  aber  diese  Kunst 
anders  als  eine  hervorhebende,  mit  starken  Lichtern  arbeitende, 
Dchari  charakterisierende,  gut  sehende  und  gut  wiedergebende 
Kunst?  Das  Kind  sieht  gar  nicht  die  Uebertreibung  so  sehr  wie 
wir,  es  hat  sie  in  gewissem'Grade  nötig,  damit  es  erfasse,  was 
es  erfassen  soll.   Aus  diesem  Grunde  werden  verständige  Päda- 
gogen die  Zeiciuiuii:;  l>usch's  würdigen,  und  auch  seine  \'erse, 
die  die  gleiche  Charakteristik  erreichen.    Sie  werden  natürlich 
sorgsam  auswählen.    Und  sie  werden  mit  solcher  Kunst  dem 
Kinde  die  wunderbare  und  notwendige  Ueberlegenheit  des  Hu- 
mors schenken.  Aber  der  verständige  Erzieher  wird,  wie  zur  Form 
so  auch  zur  Farbe  mit  Bewusstsein  Stellung  nehmen.  Auch 
sie  muss  im  allgemeinen  charakteristisch  und  bekenntnisscharf 
sein,    Halbtüne,    Schattierungen,    allerhand    subtile    i  arben- 
mischungen  sind  für  das  klcnie  Kind  untauglich,  und  abgc- 
gesehen  davon,  dass  dies  ihm  wogen  der  mangelnden  Erfahrung 
der  Sinne  nichts  sagt,  es  hindert  das  Kind  an  dem  Erkennen 
dessen,  worauf  es  ankommt.   Darum  taugen  für  das  Bilderbuch 
einfache  Rej)r()dukti<)iien  von  Staffeleibildi  rn  und  sonstigen 
für  den  Druck  nicht  geschaffenen  Werken  in  den  seltensten 
Fällen,  höchstens  da,  wo  die  spezifische  Eigenart  eines  be- 
wusstcn  Koloristen  mit  den  zu  stellenden  Anforderungen  kor- 
respondiert. Diese  Erwägungen  lassen  erkennen,  dass  erst  der 
modernen  Kunst,  die  in  diesen  Dingen  nach  bewusster  Erkennt- 
nis strebt,  gelingen  kann  oder  konnte,  das  rechte  farbige  Kinder- 
hilderbuch  zu  s(  baffen.    In  England  schuf  sie  es,  in  Deutsch- 
land dürfen  wir  die  Eösung  erwarten,  nachdem  die  Künstler, 
die  Technik  und  das  1  ul^likum  hier  und  da  zu  erkennen  gegeben 
haben,  dass  sie  hier  ihre  Rolle  erkannten. 

Wir  müssen  uns  gegen  die  tausend  und  abertausend 


Die  Kunst  im  Lelxn  des  Kindei, 


129 


schlechten  Produkte  auf  dem  Bilderbiichermarkt  durch  die  ent- 
schlossene That  wenden.  Die  Künstler  durch  ihr  Schaffen,  die 
Kunstvermittler  durch  ihr  Eintreten  für  die  Sache,  das  Publi- 
.  kum,  die  Eltern  und  Erzieher  vor  allem  durch  den  Kauf  und 
die  Weiterempfehlung  von  nur  guten  Büchern.  Wer  es  noch 
nicht  weiss,  sei  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  schon  seit 
Jahren,  ausgehend  von  Hamburger  Lehrern,  in  Deutschland 
die  Jugendschriften-Prüfungsaiisschüsse  der  deutschen  Lehrer- 
schaft sich  mühen,  neben  guter  Jugendlektüre  dem  guten  Bilder- 
buch Achtung  zu  verschaffen.  Man  merke  auf  zu  Weihnachten; 
da  sind  Verzeichnisse  zu  haben,  die  nur  gute  Bücher  enthalten. 
Ich  habe  mich  diesem  Streben  angeschlossen  und  will  den  im 
vorigen  Jahre  unternommenen  Versuch,  Künstlerischem  grös- 
sere Verbreitung  zu  Weihnacliten  zu  verschaffen,  in  diesem 
Jahre  noch  kräftiger  wiedcrholeti.  Es  sei  um  der  Sache  willen 
gestattet,  dass  ich  die  Besucher  der  Ausstellung  auf  dieses 
Streben  aufmerksam  mache  und  sie  als  Mitarbeiter  aufrufe. 
Man  möge  sich  durch  Wort  oder  That  bemerkbar  machen. 

In  den  folgenden  Sätzen  möchte  ich  die  Anforderungen, 
die  an  ein  gutes  Bilderbuch  zu  stellen  sind,  kurz  zusammen- 
fassen : 

Nur  wirkliche  Kunst  ist  brauchbar;  spezifische  Kinder- 
kunst giebt  es  nicht;  zu  Kunst,  die  auf  einen  kindlichen  Ton 
gestimmt  ist,  muss  auch  der  Erwachsene  ein  geniessendes  Ver- 
hältnis gewinnen  können;  Kunst,  die  dem  Erwachsenen  als 
kindisch  und  läppisch  erscheint,  ist  keine  Kunst  und  auch  für 
das  Kind  zu  verwerfen;  erste  Frage  muss  bei  einem  Bilde 
sein,  ob  es  künstlerisch  ist;  ist  es  dieses,  so  ist  es  brauchbar, 
falls  nicht  der  Inhalt  oder  die  Darstellungswebe  dem  Begriffs- 
kreisc  des  Kindes  durchaus  fern  liegt;  wenn  auch  Bilder  mit 
deutlich  sexuellem  Bezug  nicht  brauchbar  sind,  so  darf  bei 
der  Auswahl  doch  nicht  Prüderie  im  Spiele  sein;  das  Nackte 
ist  nicht  ohne  weiteres  ausgeschlossen,  im  Gegenteil  wird  der 
Erzieher,  der  sich  auf  seine  weise  Hand  verlassen  kann,  in 
ihm  das  beste  Mittel  gewinnen,  die  geschlechtliche  Unbefangen- 
heit beim  Kinde  zu  erhalten;  äusserst  wichtig  für  den  Aus- 
wählenden ist  CS,  dass  er  darauf  sehe,  dass  die  Bilder  „kräftige 
Umrisse,  energische  Farben"  zeigen,  dass  sie  nicht  „charakter- 
los, weichlich,  süsslich,  kraftlos"  sind;  selten  werden  Bilder 
geeignet  sein,  welche  entweder  unbestimmte  Farbentöne  zeigen 


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130 


ITiBlgfm  ^r. 


oder  ungeordnet  vielerlei  Farben  neben  einander  vereinigen; 
entschiedenes  Blau.  Rot,  Grün,  wie  es  e:ute  Künstler  gegen- 
einander abgetönt  zu  geben  wissen,  in  grossen  Flächen  neben 
einander  gesetzt,  abgegrenzt  durch  energischen  Kontur,  sind 
am  meisten  erzieherisch;  neben  guter  Charakteristik  steht  voll- 
wertig die  S(  hunheit  gebende  Kunst,  das  heisst  mutige  Schön- 
heit, tiefe,  seelische,  fornioriginelle,  nicht  konventionelle  IMode- 
kuplt  r^i  hönheit,  welche  in  Grund  und  Boden  zu  verdammen 
ist.  in  allem  ist  natürlich  die  Altersstufe  des  Kindes  zu  be- 
rücksichtigen. Immer  wird  das  Bild  einen  Zweck  erfüllen,  wenn 
es  charakteristisch  ist,  oder  wenn  es  Grösse  und  Kraft  atmet, 
oder  durch  die  Gewalt  der  Farbe  reizt  und  bildet,  oder  wenn 
rs  zu  milder  Farbensymphonie  gestimmt  ist  —  welche  l)eiden 
AntOrderungen  die  Walter  Crane'schen  Bilderbücher  wechselnd 
erfüllen  —  oder  wenn  es  dui<  h  Schönheit  zu  Schönheit  er- 
ziehen \ermag,  und  wenn  es  den  Aufwärtstrieb  durch  ästhe- 
tische Mittel  anreizt. 

Die  Auswahl  wurde  in  der  Hauptsac  iie  durch  strenge  ästhe- 
tische Anforderungen  bestimmt.  Dot  h  ist  zu  sagen,  dass  dem 
engsten  subjektiven  Geschmack  nicht  Geltung  gelassen  wurde, 
namentlich  da,  wo  es  sich  wie  bei  dem  ,, Struwwelpeter"  um 
noch  umstrittene  Dinge  handelt.  Da  es  in  Deutschland  in  Bild 
und  Text  einwandfreie  Bücher  sehr  wenige  giel)t,  so  wurde 
zu  Gunsten  guter  Bilder  dem  Text  gegenüber  oft  ein  Auge 
zugedrückt.  Die  \erehrte  Frau  Ebner-]',scheni)ach  hat  z.  B. 
im  ..Hirze])rinzchen"  einen  unbedeutenden,  süs^lichen,  mora- 
lischen l  ext  geliefert .  Wcährend  die  Bilder  und  die  Blumen- 
einfassungen von  Rollt  i  t  Weise,  wenngleich  auch  ein  wenig 
süsslich,  das  Stilgefühl  beim  Kinde  wohl  zu  heben  \  ermögen ; 
auch  technisch  bedeutet  das  Buch  eine  Anstrengung  des  Ver- 
legers, die  wir  zu  ermutigen  immer  Anlass  nehmen  müssen. 
Einen  Hinweis  wegen  der  resoluten  Farbengel)ung  \  erdient 
das  Thumann'sche  Buch,  als  einzige  , »moderne"  Bü(  her  sind 
Ruprecht  II,  Fitzebutze  und  Kreidolf's  Blumenmiir(  hen  hervor- 
zuheben, die  einen  kühnen  Versuch  bedeuten,  aus  dem  kon- 
ventionellen Schlendrian  herauszukommen.  Das  muss  vnn 
Herzen  ermutigt  werden.  Welche  guten  älteren  Sachen  wir  be- 
sitzen, zeigen  die  au(  h  in  der  Drucktechnik  das  deutsche  Mittel- 
mass uberragenden  Bilder  \  on  Fröschl's  , .Goldene  Zeilen"  und 
„Kleinmichei's  „Ferienreise".   Als  einziges  Buch  mit  Bildern 


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Die  Kunst  im  Leben  des  Kimdes. 


131 


m  Autotypie  in  der  Sammlung  figuriert  Heck*s  „Lebende  Bilder 
aus  dem  Reiche  der  Tiere'*,  welches  wahrhaft  überraschende 
Aufnahmen  von  den  Tieren  des  Zoologischen  Gartens  in  guter 
Reproduktion  zeigt. 

Bin  besonderer  Hinweis  gelte  den  Crane'schen  Bilder- 
büchern in  der  englischen  Abteilung.  Er  bedeutet  die  höchste 
Vollendung.  Da  ist  in  Form  und  Farbe  alles  bedeutend;  phan- 
tasievolle dichterische  Schöpfungen  sind  diese  Bilder.  Und 
wenn  das  auch  spezifisch  englischen  Charakter  trägt,  so  würde 
ich  doch  die  Verbreitung  der  Bücher  in  Deutschland  wichtig 
finden.  Findet  sich  kein  neuer  Verleger,  der  jetzt  doch  besser 
vorbereiteten  Boden  finden  würde  ?  Denn  früher  wurden  schon 
einmal  deutsche  Ausgaben  gemacht,  so  von  ).  F.  Schreiber  in 
Esslingen  vor  sehr  langer  Zeit.  Unsere  Sammlung  enthalt 
die  deutsche  Ausgabe  von  „Beauty  and  the  Beast"  bei 
Schreiber.  Der  Verleger  war  mit  dem  Erfolge  sehr  unzufrieden 
und  machte  keine  weiteren  Versuche.  Das  war  freilich  vor 
20  bis  25  Jahren.  Ich  kann  mich  nicht  enthalten,  eines  echten 
Schwabenstreiches  Erwähnung  zu  thun.  Im  Buche  befindet 
steh  ein  Bild  mit  dem  Interieur  eines  Schlosses,  wo  man  auf 
einem  Wandgemälde  eine  Eva  mit  nacktem  Oberkörper  er- 
blickt. Die  „prüden  Engländer'*  nahmen  nicht  Anstoss  daran. 
Der  deutsche  Verleger,  der  das  Bild  als  Titelbild  wählte,  zog 
der  Eva  ein  Hemd  in  modernem  Schnitt  an.  Sonstiger  Ge- 
schmacklosigkeiten sei  nicht  gedacht.  Das  eine  genügt,  um 
den  Tiefstand  des  künstlerischen  Niveaus  in  Deutschland  zu 
kennzeichnen.  —  Randolph  Caldecott  ist  ein  grosser  und  liebens- 
würdiger BUderbuchkünstler.  Man  sehe,  um  sein  Zeichnen 
beurteilen  zu  können,  nur  seine  schleichenden  Katzen  I  Und 
dann  seine  überaus  lebenswarmen  farbigen  Bilderl  —  Die 
Greenaway,  obwohl  schon  veraltend,  steht  doch  noch  künst- 
lerisch über  fast  allem,  was  wir  hier  in  Deutschland  haben. 
—  Die  Sammlung  zeigt  noch  viele  Künstler,  die  ausserordent- 
lich bedeutend  sind,  ohne  dass  wir  in  Deutschland  auch  nur 
ihre  Namen  kennen. 

Frankreich  bietet  Beachtenswertes.  Job  z.  B.  hat  im  „Na- 
pol^n**  ein  Werk  geschaffen,  über  das  zu  viel  zu  sagen  wäre, 
um  überhaupt  davon  anzufangen.  Auch  der  Text  ist  kolossal, 
schlagend.  Monvel's  eines  Buch  ist  deutsch:  „Der  gute  Ton**; 
vorzüglich,  nur  der  parfümierte  Text  von  „Gertruds  Vetter** 


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132 


IVäketm  Spokr. 


ist  nicht  zu  empfehlen.  Der  Katzenkünsiler  Steinlen  ist  auch, 
vertreten. 

V^on  der  Schweiz  ist  mir  bestehendes  Bedeutendes  nicht 
bekannt  geworden. 

In  Italien  sieht  es  im  Kraistlerischen  wüst  aus.  Die  aus- 
gestellten fünf  Bücher  waren  das  Ikste,  was  unter  36  vor- 
liegenden Bänden  zu  finden  war.  Intcre.  ?,aiit  ist,  dass  das 
grosse  Werk  Amici's  ,.Cnore"  als  Jugendicktüre  gegeben  wird. 

Von  Amerika  gicbt  es  viel  Burleskes,  das  häufig  roh  ist 
und  uns  abstösst.  Man  begreift  nicht,  warum  das  gerade  etwas 
für  Kinder  sein  soll !  Die  Produktion,  welche  wir  darbieten,  hat 
mehr  Aehnlichkeit  mit  dem  Englischen. 

Auf  Japan  wurde  schon  hingewiesen.  Obwohl  das  Vor- 
gezeigte gar  nicht  als  höchste  Kunstäusserung  des  Landes 
gelten  kann,  zeigt  es  doch  die  charakteristischen  Vorzüge  der 
dortigen  künstlerischen  Kultur.  —  Reizend  sind  die  Kinder  in 
ihren  Spielen  auf  den  Bilderbogen. 


UI. 

Das  Kind  als  Künstler. 

Von 

Otto  Feld. 

Indem  das  Kind  als  Künstler  bezeichnet  wird,  soll  natürlich 
nicht  etwa  der  Anschein  erweckt  werden,  als  würden  die  vor- 
geführten Bethätigungen  kindlichen  Gestaltungstriebes  Kunst- 
werken gleich  gestellt«  Enthalten  auch  die  ersten  Daistellungs- 
versuchc  des  Kindes  wesentliche  Momente  jenes  künstlerischen 
Triebes,  dem  wir  die  reifenden  Werke  der  bildenden  Kunst 
verdanken,  so  steht,  von  anderem  abgesehen,  bei  dem  kind- 
lichen Künstler  Wollen  und  Können  doch  in  einem  zu  starken 
Missverhältnis,  als  dass  von  seinen  „Malereien**  als  von  Kunst- 
werken gesprochen  werden  könnte. 

Dem  Kinde  freilich  genügen  die  krausen  Linien,  mit  denen 
die  ungeübte  Hand  auf  das  Verlangen  nach  Darstellung 
reagiert,  zunächst  vollständig;  ihm  selbst  bedeuten  die  Zeichen 


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Die  Kunst  im  Leben  des  Kindes. 


133 


das,  was,  dem  Drängen  seiner  Phantasie  folgend,  sein  Dar- 
stellungstrieb zu  gestalten  %vünschte.  Beobachten  wir  doch, 
dass  schon  in  den  ersten  Anfängen  des  Zeichnens  das  Kind 
seine  Darstellungen  auf  seine  Weise  gegen  uns  zu  verteidigen 
sucht,  wenn  es  bemerkt,  dass  wir  die  Bedeutung  seiner  zeich- 
nerischen Symbole  nicht  verstehen  wollen  oder  nicht  verstehen 
können.  Seiner  lebhafteren  Phantasie  sind  jene  selbsterfun- 
denen  Andeutungen  eine  Darstellung.  Bald  aber  sehen  wir 
die  geübtere  Hand  geschärfterer  Beobachtungsgabe  dienst- 
fähiger. Sind  die  dargestellten  Formen  aucli  jetzt  natürlich 
noch  kindlich  unbeholfen,  sie  suchen  doch  das  Wesentliche 
hervorzuheben.  £s  wird  allmählich  auch  das  Bestreben  deut* 
lieh,  Individuelles  wiederzugeben;  charakteristisch  erscheinen- 
des  Detail  wird  angebracht,  die  Absicht  seiner  bewussten  Dar- 
stellung tritt  immer  klarer  zu  Tage,  bis,  häufig  genug,  das 
Miss  Verhältnis  zwischen  Wollen  und  Können  dem  kleinen 
Künstler  zum  Bewusstsein  gelangt  ist  oder  —  schlimmer  noch 
—  durch  den  Spott  der  „Erwachsenen"  zum  Bewusstsein  ge» 
bracht  wird,  und  ein  reicher  und  reiner  Quell  kindlicher  Freude 
versiegt,  ein  Schatz  von  Beobachtungsmaterial,  dem  Erzieher 
wie  der  Wissenschaft  gleich  wertvoll,  bleibt  ungehoben. 

Denn  v\  ie  diese  Zeichnungen  dem  sorgsam  beobachtenden 
Auge  des  Erziehers  wertvollen  Aufschluss  zu  geben  vermögen 
über  des  kleinen  Schöpfers  Eigenart,  bieten  sie  ein  reiches 
Studienmaterial  über  die  Besonderheit  kindlichen  Phantasie* 
lebens  und  kindlicher  Auffassungs-  und  Gestaltungskraft,  dem 
Psychologen  wie  dem  Pädagogen  gleich  willkommen.  Ueber 
die  krausen  Linien  fort  mag  es  der  Psychologie  gelingen,  wert- 
volle Einblicke  in  die  Tiefe  kindlichen  Seelenlebens  zu  thun, 
in  dessen  vergleichsweise  einfachen  Regungen  sie  Aufschlüsse 
erhoffen  darf  für  die  verwickeiteren  Aeusscrungen  reifen 
menschlichen  Geistes.  Der  wissenschaftlichen  Pädagogie  nun 
gar  wird  die  Gelegenheit  zu  einem  Blick  in  die  Kinderseele  er- 
wünscht sein.  Hat  sie  doch  längst  erkannt,  wie  nur  das  sorg- 
fältigste Studium  des  lebendigen  Objektes  Hoffnung  geben 
kann  und  gedeihliches  Vorwärtsschreiten. 

Vor  allem  aber  werden  diejenigen  aus  den  Bethätigungen 
kindlichen  Kunsttriebes  willkommene  Anregung  schöpfen, 
denen  das  schwere  und  verantwortungsvolle  Amt  anvertraut 
ist,  die  künstlerische  Erziehung  des  heranwachsenden  Ge- 


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134 


Oä»  Skid. 


schlechte?;  zu  leiten,  und  denen  deshalb  eint  nnmcr  zweck- 
nuissigcre  Ausgestakung  dieser  Abteilung  des  Erziehungs- 
plancs  ein  Gegenstand  ernster  Sorge  und  regen  Strebens  ge- 
worden ist. 

Die  grosse  Bedeutung  des  künstlerischen  Unterrichts  wird 
heute  kaum  noch  an  irgend  einer  Stelle  emstlich  bestritten 
werden.  Dass  neben  der  Ausbildung  des  Verstandes  die  Pflege 
sinnlichen  Anschauungsvermögens  nicht  femer  so  vernach- 
lässigt werden  darf,  wie  dies  durch  lange  Zeit  geschehen  ist, 
fordert  neben  der  Gerechtigkeit,  die  eine  harmonische  Aus- 

-  bildung  aller  Kräfte  des  menschlichen  Geistes  verlangen  mussi 
—  die  Zweckmässigkeit.  In  einer  Zeit,  in  der  ein  mächtiger 
Aufschwung  der  Naturwissenschaften,  ein  erbittert  gewordener 
wirtschaftlicher  Kampf,  die  Fähigkeit  „unmittelbaren  anschau- 
lichen Denkens**  viel  dringender  noch  als  frühere  Tage  for- 
dern, wird  es  eine  wichtige  Aufgabe  der  Erziehung  sein  müssen, 
auch  nach  dieser  Richtung  den  Zögling  für  den  Lebenskampf 
zu  rüsten.  Man  höre  die  Klagen  der  Universitätslehrer  über  die 
Unfähigkeit  ihrer  Schüler  im  Beobachten.  Virchow  hat  fest- 
gestellt, „dass  jede  Generation  Studierender  weniger  geschult 
ist,  ihre  Sinne  zu  gebrauchen,  dass  die  Fähigkeit  der  Beobach- 
timg, welche  dem  natürlichen  Menschen  innewohnt,  durch  die 
gegenwärtige  Art  des  Unterrichtes  geschwächt  wird*'.  Man 
erwäge,  was  es  bedeutet,  wenn  ein  Mann  von  so  vielseitiger 
Erfahrung,  wie  A.  Lichtwark,  sagt:  „Im  industriellen  Wett- 
kampl  der  Völker  wird  auf  die  Dauer  der  Nation  am  besten 
fahren,  über  deren  Produkte  zu  Hause  die  grösste  Anzahl  er- 
zogener Augen  richtet." 

Es  darf  an  dieser  Stelle  ein  längst  gehegter  Wunsch  aus- 
gesprochen werden,  dass  nämlich  von  berufener  Seite  eine 

.  wissenschaftliche  Behandlung  der  Frage  nach  dem  Froduktions- 
wert  der  Kunst  endlich  einmal  vorgenommen  werde.  Wer  mit 
diesem  Gegenstande  noch  nie  sich  beschäftigt  hat,  wird  er- 
staunen über  die  ungeheuren  Werte,  die  die  Kunst  und  das 
von  ihr  Leben  empfangende  Kunsthandwerk,  sowie  einige  In- 
dustrien, die  mehr  oder  weniger  unmittelbar  der  Kunst  ihr 
Dasein  verdanken,  alljährUch  erzeugen.  Vielleicht  werden 
Zahlen  hier  nicht  nur  beweisen,  sondern  auch  bewirken;  viel- 
leicht wird  dem  Nationalökonomen  gelingen,  was  Künstlern 
und  Kunstfreunden  bisher  nur  unvollkommen  gelungen  ist; 


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Die  KtmU  im  Leben  des  Kittdef 


135 


vielleicht  werden  praktische  Gründe  erfolgreicher  sein  als  ideale 
Forderungen«  und  massgebende  Stellen  werden  einsehen,  dass 
die  lange  schon  erwogenen  Reformen  des  künstlerisch^erzieh- 
licben  Unterrichts»  die  die  Voraussetzung  einer  gedeihlichen 
Entwickelung  künstlerischen  Sinnes  im  ganzen  Volke  sind, 
kräftiger  angefasst  werden  müssen,  als  es  bisher  geschehen. 

Wer  aber  in  unserer  praktischen  Zeit  noch  geneigt  ist, 
auch  andere  Forderungen,  als  mit  Zahlen  bewertbare,  gelten 
zu  lassen,  wird  sich  sagen  müssen,  dass  wir  kein  Recht  haben, 
über  der  Pflege  des  Verstandesmässigen  die  Ausbildung  künst* 
lerischer  Anschauungsfähigkeit  zu  vernachlässigen  und  sp  alle 
die,  denen  die  Gunst  zufälliger  Umstände  nicht  zu  Hilfe  kommt, 
jener  schönsten  und  reinsten  Freuden,  der  Freude  an  Natur, 
der  Freude  an  den  Werken  bildender  Kunst  zu  berauben  I  Denn 
der  Mensch,  dessen  Auge  nicht  erschlossen  ist  für  die  tausend- 
fältigen Reize  der  Erscheinungswelt,  ist  arm  und  beklagens- 
wert. Gleicht  er  doch  fast  dem  Blinden,  der  einen  reichge- 
schmückten Palast  bewohnt  und  nun  freudlos  umherirrt  unter 
den  Schätzen,  die  ihm  gehören,  und  die  er  doch  nicht  besitzt. 
Wie  kunstblind,  wie  naturblind  weite  Kreise  unseres  Volkes 
sind,  sieht  mit  Erschrecken  derjenige,  der  Gelegenheit  zu  sol- 
eben  Beobachtungen  hat.  Er  sieht  es  mit  doppeltem  Schmerz, 
wenn  er  dabei  bemerken  mu9s,  wie  stark  in  gewissen  Kreisen 
das  Verlangen  nach  solchen  Freuden  ist. 

Dass  die  Anschauungsfähigkeit  der  Kinder  der  Grossstadt 
verkümmern  muss  bei  dem  Mangel  an  Naturanschauung,  untegr 
dem  sie  leiden,  ist  nicht  zu  verwundem.  Eine  Umfrage  in 
den  öffentlichen  Schulen  Berlins  bei  Kindern  von  mehr  als 
6  Jahren  ergab,  dass  70  0/0  keinen  Sonnenaufgang  resp.  Sonnen» 
-Untergang  gesehen  hatten,  75  <Vo  keinen  lebenden  Hasen,  64  ^ 
kein  Eichhom,  53  0/0  keine  Schnecke,  87  <^/o  keine  Birke,  59 
kein  Aehrenfeld,  98  0/0  keinen  Flusse  82  (yo  hatten  nie  eine 
Lerche  gehört.  In  Boston  wurde  ermittelt,  dass  von  Kindern 
im  Alter  von  4 — ^8  Jahren  77  0/0  nie  eine  Krähe  gesehen  hatten, 
65  <yo  nie  eine  Ente,  57  <yo  keinen  Spatz,  50  0/0  keinen  Frosch, 
20  <Vb  keinen  Schmetterling,  66  0/0  keine  Brombeere,  61  0/0  kein 
Kartoffelfeld,  75  0/0  wussten  nicht,  welche  Jahreszeit  war,  und 
das  in  einer  Stadt  mit  zahlreichen  freien  Plätzen  und  Parks. 

Auch  in  solchen  erschreckenden  Zuständen  muss  und  wird 
ein  geeigneter  künstlerischer  Unterricht  Wandel  schaffen. 


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136 


Otto  Fetd. 


Ueber  die  Richtungen,  nach  denen  dieser  Unterricht  zu 
reformieren  ist,  liegt  ein  reiches  und  zum  Teil  höchst  beach- 
tenswertes Material  vor.  Der  Raum  verbietet  es,  hier  auf  diese 
ausserordentlich  schwierige  Frage  ausführlich  einzugehen.  Wer 
sich  für  dieselben  interessiert,  findet  Hindeutungen  auf  die 
einschlägige  Litteratiir  in  dem  beigefügten  \''erzeichnis. 

Eines  aber  steht  fest:  Soll  der  Zeichenunterricht  seinen 
Zweck  erfüllen,  so  muss  vor  allem  jene  „Methode"  ver- 
schwinden, die  Gemüt,  Phantasie  und  Fassungsvermögen  leer 
ausgehen  lässt.  Das  Streben  nach  „schönen"  Schülerausstel- 
lungen wird  unnachsichtlich  unterdrückt  werden  müssen.  Auf 
da'^  Fertigmachen"  kommt  es  nicht  an,  sondern  auf  das  Sehen- 
lernen, das  Richtigsehcnlcrncn,  darauf,  dass  die  Persönlich- 
keit nicht  einem  System  zum  Opfer  falle;  Uebung  des  Formen- 
gedachnisses  und  Uebung  der  Hand  zur  Wiedergabe  gewon- 
nener Eindrücke  oder  Phantasievorstellungen  wird  zweck- 
mässig angestrebt  werden  müssen.  Wie  der  neue  Zeichen- 
unterricht im  einzelnen  auch  gestattet  sein  wird,  unter  allen 
Umständen  wird  er  auf  die  Beobachtung  der  Natur  be- 
gründet sein  müssen.  — 

In  einer  Entwickelungsperiode,  in  der  das  Kind,  was  seine 
eigenen  unbceinflussten  Zeichnungen  beweisen,  die  stärkste  Ein- 
drucksfähigkeit für  die  Erscheinungen  der  sinnlichen  Welt  be- 
sitzt, darf  man  ihm  nicht  statt  des  Brotes  —  Natur,  den  Stein 
—  Schema  geben  wollen.  Mit  den  „schönen"  Vorlagen  muss 
das  Mathematische,  das  Ewig  Ii cgrifi liehe  aus  dem  Zeichen- 
saal verschwinden ;  hier  wenigstens  sollten  des  Kindes  Augen  ge- 
übt werden,  nicht  sein  Verstand,  sein  Können,  sein  Wissen. 
Es  muss  vor  allem  auch  gleichzeitig  mit  dem  Sinn  für  die  Form 
der  vorhandene  starke  Sinn  des  Kindes  für  die 
Farbe  gepflegt  werden. 

Alle  diese  Forderungen  ergeben  sich  von  selbst,  wenn  man 
einsieht,  dass  ein  zweckmässiger  Zeichenunterricht  anknüpfen 
muss  an  die  Erfahrungen,  die  über  die  natürliche  Begabung 
des  Kindes  für  Farbe  und  Form  gemacht  sind.  Nach  dieser 
Richtung  dürften  die  Aeusserungen  kindlichen  Darstellungs- 
triebes in  der  Abteilung  »Das  Kind  als  Künstler'*  als  Studien- 
material willkommen  sein. 

Es  wird  beobachtet  werden  können,  wie  dem  Kinde  Gegen- 
stände aus  seiner  Umgebung  die  erwünschtesten  Objekte  für 


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Die  Kunst  tm  Leben  des  Kmdk*. 


137 


seine  Darstellung  sind,  üebereinstimmende  Untersuchungen 
stellen  fest,  dass  Mensch  und  Tier  mit  besonderer  Vorliebe 
von  dem  Kinde  gezeichnet  werden,  das  Geometrische  und  Orna- 
mentale aber  fast  gänzlich  unbeachtet  bleibt.  Nach  einer  Be- 
obachtung  von  Lukens  enthielten  von  1232  Zeichnungen  von 
Kindern  unter  10  Jahren  75  <yo  Darstellungen  der  Menschen, 
2  <yi>  geometrische  Figuren  und  Ornamente. 

In  der  Art  der  kindlichen  Darstellung  wird  ein  ganz  be- 
stimmter Entwickelungsgang  verfolgt  werden  können,  stufen- 
weise fortschreitend  von  der  Wiedergabe  eines  subjektiven 
Bildes  durch  eine  Art  symbolischer  Darstellung  bis  zum  zeich- 
nerischen Ausdruck  eines  Beobachtungsrcsuluites.  Das  gilt  für 
Menschen-  wie  Tierdarste ilung.  Besonders  interessant  sind  die 
Zeichnungen  nach  Erzähltem.  Sie  bind  ,,L'iri  schlagender  Be- 
weis für  die  lebhafte  Art  und  Weise  der  Betrachtung,  die  das 
Kind  für  alles  Gegenstiindlu  lic  hat,  und  für  die  KraU  und 
Ueppigkeit  seiner  lebhaften  riianiasie"  und  auch  ein  Beweis 
für  die  Unbefangenheit  und  den  Mut.  mit  dem  das  Kind  nichts 
seinen  Darsiellungen  für  unerreichbar  hält.  Diese  beiden 
Kigenschaften  ihm  zu  bewahren,  muss  die  erste  und  wichtige 
.Aufgabe  sein.  Sie  werden  am  Kinde  zerstört,  sowie  wir  ihm 
eine  Methode  —  unsere  Methode  aufzwingen  wollen.  „Wir 
müssen  den  Weg  nach  den  Leistungen  des  Kindes  einrichten, 
nicht  nach  denen  der  Erwachsenen'*,  sagt  Cooke  in  seinen 
Anregungen  für  einen  iNeuen  Lehrgang.  Lassen  wir  das  Kind 
auf  den  unteren  Stufen  nur  ruhig  zeichnen,  was  es  zu  zeichnen 
verlangt,  Menschen,  Tiere,  Gcschichtsillustrationen,  Beobach- 
tetes und  Ciesehenes.  „Das  Kind  liebt  die  Freiheit.  Lasst  es 
naturlich  arbeiten,  weiches  Material  benutzen,  frei  und  schnell 
ausfuhren,  die  Ausführung  wiederholen,  so  wie  es  spielt.  Spiel, 
nicht  Geometrie  ist  der  lebendige,  freie,  schöpferische  Aus- 
druck seiner  eigenen  schöpf en.schen  Kraft  —  die  Grundlage 
aller  schönen  Künste."  — 

Indem  wir  dem  Kinde  auf  dieser  Stufe  möglichst  freien 
Raum  zur  Entwickelung  lassen,  werden  wir  uns  doch  fragen 
dürfen,  welche  seuier  natürlichen  Fähigkeiten  wir  etwa  zunächst 
in  zwangk>ser  Anregung  zu  fördern  hatten.  Wir  haben  die 
starke  Beobachtungsfähigkeit  und  den  BeobachtungswiUen  des 
Kindes  bemerkt. 

ZriiffhrWt  ftr  nUhwiitlirhr  PincMiMie  Md  PMMkwic.  4 


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188 


OUo  Feld, 


Der  Hammer,  den  das  Kind  zum  ersten  Mal  gebrauchen 
lernt,  die  Bürste,  die  es  selbst  handhaben  darf,  sind  neu  zu 
entdeckende  Reiche.  Mit  Auge  und  Hand  werden  sie  ein- 
gehend untersucht.  Ein  Gang  in  den  Garten  und  in  die  Tischler» 
Werkstatt,  besonders  aber  die  kleinen  häuslichen  Beschäftigun- 
gen, zu  denen  das  Kind  so  willig  ist,  weil  sie  ihm  Gelegenheit 
bieten,  sich  zu  bethäligen,  geben  reiches  Beobachtungsmaterial 
und  Anregung  für  den  Darstellungstrieb  des  Kindes.  Mit 
Freude  und  Dankbarkeit  wird  es  die  gebotene  Anregung  auf- 
nehmen, aus  der  Fülle  des  in  eigener  Thätigkeit  Beobachteten 
einiges  darstellen  zu  dürfen.  Auf  die  künstlerischen  Resultate 
aus  solchen  Darstellungsversuchen  kommt  es  dabei  natürlich 
gar  nicht  an.  (Wie  deutlich  übrigens  das  Wesentliche  erfasst 
und  wiedergegeben  wird,  lehren  die  betreffenden  Zeichnungen 
unserer  Abteilung).  Eines  wird  durch  diese  Hebungen  sicher 
erreicht.  Das  Kind,  das  selbst  eine  Bürste  gehandhibt,  trägt, 
durch  Auge  und  Hand  vermittelt,  ein  Erinnerungsbild  des 
Gegenstandes  mit  fort.  Indem  es  den  Gegenstand  zu  zeichnen 
versucht,  muss  es  sich  (natürlich  unbcwusst)  anstrengen,  dieses 
Erinnerungsbild  möglichst  kräftig  zu  gestalten.  Da  aber  jeder 
vernünftige  Gebrauch  unserer  geistigen  und  körperlichen 
Organe  diese  Organe  kräftigt,  wird  durch  solche  Arbeit  die 
bildnerische  Erinnerungskraft  des  Kindes  gestärkt  werden ; 
seine  Fähigkeit,  zu  beol)acht'jn,  ist  gesteigert,  sein  Wunsch, 
zweckmässig  zu  beobachten,  (unbewusst)  angeregt. 

Jeder,  der  einmal  aus  dem  Gedächtnis  zu  zeichnen  versucht 
hat,  weiss,  wie  viel  schärfer  man  einen  Gegenstand  beobachtet, 
dessen  Form  man  einmal  nach  dem  Erinnerungsbild  aufs  Papier 
zu  bringen  versucht  hat.  Dasselbe  trifft  natürlich  beim  Kinde 
zu.  Die  Bürste,  die  das  Kind  aus  dem  Gedächtnis  zu  zeichnen 
versucht  hat,  wird  bei  der  nächsten  Beobachtung  viel  schärfer 
ins  Auge  gefasst.  Der  Beobachtungswille  wird  angeregt  — 
die  Beobachtungsfähigkeit  gesteigert,  eine  gewisse  Uebung  der 
Hand,  dem  Willen  zu  folgen,  nebenbei  erreicht. 

Dass  so  ohne  cjuaholle  Methode  wichtige  Erfolge  erzieh 
werden,  ist  ohne  weiteres  klar.  Ein  weiteres  erziehliches  Mo- 
ment tritt  hinzu.  Durch  solche  künstlerische  Thätigkeit  findet 
das  Wort  „Bürste"  eine  wichtige  Ergänzung  durch  das  selbst- 
gefordertc  Bild.  Das  Wort  wird  lebendig.  Der  Begriff  findet 


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Dif  Ximsi  im  LOem  des  KMea, 


139 


in  der  sinnliclien  Vorstellung,  die  erzeugt  worden  ist,  eine  ge- 
sunde Grundlage. 

Solchen  von  den  Kindern  mit  Freuden  gern  angestellten 
Uebungen  entstammen  die  Zeichnungen  der  Abteilung  I,  A. 
a  unserer  Ausstellung.  Es  sind  Kinder  von  2V2— 8  Jahren, 
von  denen  die  Zeichnungen  gefertigt  sind.  Wir  sehen,  wie 
sehr  die  kleinen  Künstler  auf  das  Wesentliche  losgehen,  wie 
verhältnismässig  gut  die  Arbeiten  gelingen.  Die  meisten  der 
Zeichnungen  sind  im  Zeiträume  von  5  - -15  Minuten  entsianden. 
Die  Kinder  wissen  sofort,  wenn  sie  di*;  l.rlaiibiiis  zum  Zeichnen 
bekommen,  was  sie  zeichnen  sollen  und  smd  erfüllt  von  ihrer 
Aufgabe. 

Das  Pestalozzi-FröbcMlaus,  dem  wir  das  Material  ver- 
danken, hat  das  grosse  Verdienst,  diese  Uebungen  im  Volks- 
kuidergarten  und  in  zwei  Schul k lassen  bei  u^^  eingeführt  zu 
haben.  In  (Gruppen  von  10  -15  KiiKlern  wird  Gelegenheit  zum 
Erleben  und  freien  Schaffen  geboten.  Spaziergänge  im  Freien, 
Besuche  bei  Handwerkern,  Tier-  und  Pflanzcnpflege,  Hilfe- 
leistungen bei  hauswirtschaftlichen  Arbeiten  vermitteln  den 
Kindern  möglichst  in  familuTihaiii  r  Weise  einen  Reichtum  von 
Vorstellungen,  die  auf  klarer  Anschauung  und  eigener  Erfah 
Tung  beruhen.  Mit  und  durch  diese  Uebungen  wird  die  Em- 
pfindung für  die  Natur  und  ihr  Wesen,  für  den  Zusammenhang 
alles  Seienden,  für  Schönheit  und  Gemeinsamkeit  als  kostbare 
Gabe  fürs  Leben  geboten.  Denn  es  ist  vor  allem  das  Streben 
der  Leitung  des  Pestalozzi-Fröbel  Hauses,  in  naturgemässer  und 
individueller  Erziehung  die  (iemütsausl)ildung  der  Kinder  zu 
fördern.  Und  diese  Zeicheiiübungen  sind  durchaus  geeignet, 
nach  allen  diesen  Richtungen  mitzuwirken. 

Was  die  An."^talt  hier  giebt,  kann  natürlich  auch  die  Mutter, 
die  Erzieherin  leisten.  Geluirt  doch  zu  solchen  Uebungen  nichts 
als  ein  Blatt  Papier,  ein  Bleistift  und  —  freilich  auch  das  Ver- 
ständnis dafür,  dass  die  oft  geschmähten  ,, Schmierereien"  des 
Kindes  durchaus  niclu  so  zwecklos"  sind,  wie  sie  dem  un- 
kundigen Auge  erscluMiuMi  wollen.  Haben  sie  zunächst  den 
schönen  Zweck,  dem  Kinde  das  Glück  der  Bethätigung  künst- 
lerischen Gesialtungsbetriebes  zu  gewähren,  so  kann,  wie  wir 
sehen,  dieses  Zeichnen,  wenn  es  zur  rechten  Zeit  in  obigem 
Sinne  angeregt  wird,  ein  unschätzbares  Erziehungsmittel 
werden. 

4* 


1 


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140 


OtU>  Feld. 


So  dürfen  wir  hoffen,  dass  auch  den  nicht  berufstnässigen 
und  doch  berufenen  Erziehern  —  den  Eltern  —  die  Darbie- 
tungen unserer  Abteilung  Anregung  geben.  Die  »»sinnlose 
Zeichnerei"  dürfte  doch  vielleicht  manchem,  so  betrachtet»  unter 
einem  anderen  Gesichtspunkt  als  dem  des  komischen  er- 
scheinen. So  heiter  uns  auch  oft  diese  kindlichen  Schöpfungen 
stimmen  dürfen,  sind  sie  doch  echte  und  rechte  Aeusserungen 
der  befreienden  Naivität  des  Kindes»  jener  holdseligen  inneren 
Schönheit,  die  aus  Kindesaugen  uns  so  beglückend  entgegen- 
leuchtet; wir  dürfen  dem  Ernst  nachsinnen»  der  hinter  diesem 
heiteren  Spiel  verborgen  ist. 

Lernen  wir  von  den  Kindern  —  dann  wollen  wir  sie  be- 
lelirenl 


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Verein  Ifir  Kinderp^chologie  zu  Berlin. 


L  Sitzung  vom  4.  Januar  1901. 

Vorsitzender:   Herr  Stumpf. 
Schriutiihrer;   Herr  H  i  r  s  c  h  i  a  i  t. 

Um  8)4  Uhr  eröffnete  der  Vorsitzende  die  Sitzung  mit  einer  kltnen 
Ansprache.    E»  folgte  der  Vortrag  des  Herrn  Kcmsies: 

„Ueber  Gedächtnisuntersuchuiigen  an  Schutern".  IL  Teil. 

Der  Vortrag  wird  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlicht  werden. 

Diskussion. 

Herr  Möller:  Wenn  es  gilt,  die  Chancen  für  die  einzelnen  Arten  des 
Lernens  zu  untersuchen,  so  muss  man  vor  allem  die  Thatsache  berücksich- 
tigen, dass  die  Kinder  bis  znm  7.-<8.  Lebensjahre  wesentlich  akustisch  lernen 
und  daher  akustisch  weit  besser  vorgebildet  sind,  als  visuell.  Das  Kind 
lernt  ja  schon  vor  dem  Eintritt  in  die  Schule  Gebete  und  Lieder  und  legt 
so  in  seinem  Gehirne  akustische  Eindrücke  fest.  Auch  im  ersten  Schuljahre 
wird  wesentlich  ;iku«^tisch  gelernt,  sodass  das  akustische  Lernen  von  vorn- 
herein einen  Vorsprung  hat  gegenüber  der  visuellen  Lernmethode. 

Herr  Bärwald  «iderqMrteht  dem  Vorredner  darin,  dass  das  akustische 
Lernen  bei  der  Einübung  von  Vokabeln  geübt  werde.  Das  ist  durchaus 
nicht  der  Fall,  vielmehr  wird  dabei  zunächst  visuell  gelernt.  .Aus  seiner 
persönlichen  Erfahrung  bei  Gelegenheit  der  Sprachstudien  nach  Berlitz'scher 
Methode  möchte  Redner  übrigens  gleichfalls  die  Resultate  des  Vortragenden 
bestätigen.  Die  Frage  sei  nur:  wie  sind  die  geringen  Erfolge  der  kombinier- 
ten Methode  zu  erklären? 

Herr  Kemsies:  Gegen  Herrn  Möller  spricht  die  Erfahrung  beim 
Schuler  Schmits,  der  optisch  so  sehr  viel  besser  lernt  als  akustisch.  Das 
kombinierte  Verfahren  zeigt  ganz  gute  Resultate,  aber  keine  besseren  als 
das  akustische.  Das  liegt  wohl  darrjn  d:\«;s  ausser  dem  Sehen  und  Hören 
noch  das  Mitsprechen  und  verschiedenes  andere  dabei  in  Betracht  kommt. 

Herr  Möller  möchte  gegen  Herrn  Bärwald  seine  Behauptung  aui- 
recbt  erhalten,  dass  die  Kinder  bis  xa  8  Jahren  nur  akustisch  lernen,  da 
das  VokabeULemen  ja  erst  viel  qnter  eintrete. 

Herr  Stumpf  fragt  an,  warum  bei  den  Versuchen  nicht  lauter  sinnlose 
Wörter  gewählt  wurden,  sondern  ein  sinnloses  Wort  verbunden  mit  einem 
sinnvollen  Worte.  Dadurch  werde  die  Sache  komplizierter  gemacht.  Es 
lässt  sich  doch  denken,  dass  es  Menschen  gicbt,  die  Wortvorstellungen  in 
geringem  Masse.  Sachvorstellungen  dagegen  sehr  gut  behalten.  Es  dürfte 
doch  besser  sein,  diese  Komplikation  durch  die  Methode  auszuschliessen. 

Herr  Kemsies  wollte  die  Methode  möglichst  der  Praxis  annähern,  so- 
dass man  Folgerungen  für  die  Schule  daraus  ziehen  könnte.  Die  Forderung. 


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142 


Sttntngsierü^. 


zwei  sinnlose  Wörter  zu  verknüpfen,  übersteigt  überdies  meist  das  Ver> 

mögen  der  Schüler.  Auch  in  anderer  Beziehung  wäre  dies  Verfahren  wenig 
vorteilhaft,  weil  die  Worte,  die  von  den  Schülern  verstümmelt  oder  nur  teil- 
weise behalten  werden,  aus  den  Reproduktionen  nicht  wiedererkannt  werden 
könnten.  Ein  solches  Korrumpieren  der  Worte  tritt  auch  bei  normal  veran- 
lagten Schülern  sehr  häufig  ein. 

Herr  Stumpf:    Als  Methode  der  Kontrolle  des  Wiedergebens  ist 

wohl  immer  da^   Niederschreiben  angewendet? 

Herr  K  e  in  s  i  e  s:  Nach  jeder  DarbieturiK  wurde  aufReschricben,  was  be- 
halten war.  Das  ergiebt  allerdings  keine  rein  visuelle  Methode,  aber  auch 
wenn  die  Methode  nach  dieser  Richtung  hin  abgeändert  wird,  sind  die  Resultate 
die  gleichen. 

Herr  Stumpf:  Hat  nicht  die  Metbode  der  Reproduktion  einen  Ein* 

fluss  auf  das  fVhnltrn? 

Herr  K  e  m  i>  i  e  >  Das  ist  nicht  untersucht  worden.  Die  Untcr- 
suchimgcn  müssen  nacii  dieser  Richtung  noch  vervollkommnet  werden. 

Herr  Bärwatd:  Die  Lay'schen  Versuche  prüfen  die  Korrektheit  des 
Bebaltens»  sind  also  nicht  zu  vergleichen  mit  denen  des  Vortragenden. 
Das  Resultat  derselben  ist,  dass  die  Korrektheit  beim  visuellen  Gedächtnis 
»grösser  ist  als  beim  akustischen.  Das  ist  leicht  verständlich,  weil  die  Art 
der  Wahrnehmung  cme  korrektere  ist.  Das  widerspricilt  nicht  der  Schluss- 
folgerung  des  Vortragenden. 

Herr  K  e  m  s  i  e s:  Die  akustische  Methode  bat  mit  der  Reehtschreibong 
nicht»  SU  thtm,  sodass  die  SchlUMfolgenmg,  die  Lay  aus  seinen  Versuchen 
für  die  grössere  Güte  des  optischen  gegenüber  dem  akustischen  Gedächtnis 
zieht,  unberechtigt  ist.  Auch  die  Resultate  meiner  Versuche  weichen  von 
denen  Lay's  ab,  was  verschiedene  Gcünde  hat,  die  der  Redner  im  einzelnen 
kurz  skizziert 

Herr  Stumpf  dankt  dem  Vortragenden  und  wünscht  Gluck  für  die 
Fortführung  der  Untersuchungen. 

Schlttsa  der  Sitsung  9  Uhr  35  Min. 


IL  Sitzang  vom  1.  Februar  1901.   Beginn  8'/«  Uhr. 

Vorsitzender:  Herr  Stumpf. 
Schriftführer:  Herr  Kern  sie«. 
Herr  Hirschlaff  bilt  den  angekündigten  Vortrag: 

..Ueber  die  Furcht  der  Kinder". 

Diskussion. 

Herr  Stumpf  knüpft  an  die  Schlussworte  an  und  frag^  inwii^m  «ü» 
Unterricht  in  der  Psychologie  eraiehlich  auf  Kinder  im  Sinne  des  Vor- 
tragenden einwirken  könne;  um  den  Aberglauben  su  vermindern,  balle  er  es 


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143 


für  wichtiger»  zunächst  in  die  Beobachtung  und  Erklärung  der  ftusaeren 
Naturvorgänge  einzuführen. 

Herr  ö  1 1  e  r  schlics<?t  sich  dem  an  und  verlangt,  dass  man  in  der 
Physik  den  natürlichen  Zusammenhang  alles  Geschehens  hervorhebe,  ausser- 
dem eine  grosse  Summe  von  Kenntnissen  vermittle. 

Herr  F 1  a  t  a  u  sieht  keine  neuen  Thatsaciien,  die  daiiir  sprächen«  eine  neue 
Eniehungsmethode  anxuwenden.  Fnrcht  komme  bdcanntiich  oft  so  anstände, 
dass  ein  einzelnes  Erlebnis  sich  im  Individuum  festsetze  und  eine  gleichartige 
Reaktion  hervorrufe:  Lampenfieber  der  Künstler,  Bodentcheu  der  Pferde. 
Die  Furcht  sei  deshalb  mehr  und  mehr  aus  der  Erziehung  verbannt,  während 
sie  früher  prophylaktisch  gezüclitet  wurde 

Herr  H  i  r  s  c  h  1  a  i  f  erwidert,  dass  der  naturwissenschaiilichc  Unterricht 
änsaertt  wichtig  für  die  Bekämpfung  des  Aberglaubens  und  der  Furcht  sei, 
du»  er  aber  im  modernen  Schulsystem  genügend  ausgebildet  sei,  ohne  die  ge- 
wünschten Resultate  schon  herbeigeführt  zu  haben.  Er  halte  daher  eine 
Kenntnis  der  Grundzüpe  des  psychischen  Geschehens  in  unsenn  Falle  für 
clv  ri  <)  wertvoll  wie  z.  B.  die  Kenntnis  der  logischen  Gesetze  ftir  das  folge- 
richtige Denken. 

Herr  Stumpf  geht  auf  die  Frage  nach  der  Vererbbarkeit  der  Furcht 
ein  und  glaubt,  dass  der  Vortragende  sie  wohl  nur  auf  Grund  seiner  Definition 
der  Furcht  verneint  haben  könne.  Denn  es  scheinen  ursprüngliche  Dis- 
positionen vorzukommen,  so  dass  infolge  von  ersten  Eindrücken  sofcwt  Furcht 
ausgelöst  wird. 

Herr  Rauh  hält  nicht  eine  spezielle  Furcht,  wohl  aber  die  Furchtsam- 
keit für  vererl>l>ar.  Der  Vortragende  habe  in  der  Definition  das  intellektuelle 
Moment  zu  scharf  betont,  daher  schUge  er  sdiliesslich  als  Remeditmi  eine 
psychologische  Schulung  vor.  Die  Furcht  wurzele  jedoch  im  Willendeben. 
Durch  Nachdenken  über  die  Phänomene  der  Psyche  werde  der  Wille  schwächer 
und  apathischer,  statt  widerstandsfähiger.  Die  Praxis  der  höheren  Schule 
könne  sich  von  psychologischen  Belehrungen  nichts  versprechen. 

Herr  F 1  a  t  a  u  ist  der  Meinung,  dass  der  Vortragende  die  grosse  Be- 
deutung einzelner  Erscheinungen,  denen  das  intellektuelle  Moment  fehlt, 
infolge  seiner  Definition  der  Furcht  nicht  genügend  gewürdigt  habe.  Das 
Zusammenhhren  beispielsweise  rühre  aus  angeborenen  oder  erworbenen  Dis- 
positionen her. 

Herr  H  i  r  s  c  h  1  a  f  f  will  nur  jene  Form  der  Vererbungslehre  abgelehnt 
sehen,  die  die  Inhalte  der  kindlichen  Furcht  für  übertragbar  hält,  dagegen 
sei  die  körperliche  Grundlage  der  Furchtsamkeit  wahrscheinlich  vererbbar.  Das 
intellektudle  Moment  habe  er  deshalb  hervorgehoben,  weil  die  typische 
ausgebildete  Furcht  es  aufweist.  Was  die  Behandlungsmethode  angehe,  so 
erinnere  er  an  die  Erfahrungen  der  nervenärztlichen  Praxis,  in  der  die 
Psychohygiene  und  Psychotherapie  mit  Erfolg  gegen  Angstzustände  u.  dergi. 
angewendet  würden;  gerade  das  intellektuelle  Moment  spiele  hier  die  \laupt- 
rolle.  Herrn  Flatau  erwidere  er  noch,  dass  das  Zusammeniahren  in  das  Ge- 
biet des  Schreckens  und  nicht  der  Furcht  gehöre. 

ScUusa  der  Siuung  Uhr. 


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144 


SUtitHgaSeriekte. 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Vortragsplan  für  das  Sommerhalbjahr  1901. 

25.  April  1901.  Dr.  Otto  Abraham:  Ueber  das  absolute  Tonbevnsst- 
s«m.   Ein  Beitrag  tur  Tonpsychologie. 

9.  Mai  1901.  Dr.  Ferdinand  Kemsies  Die  Entwickelung  der  päda- 
gogischen Psychologie  im  19.  Jahrliundcrt. 

iJ3.  Mai  1901.  Dr.  Otto  Gramzow:  Die  Wandlungen  Nietzsches,  psy- 
chologisch betrachtet. 

6.  Juni  1901.  Frits  Mauthner:  Zur  Geschicbl«  der  Vernunft. 

90.  Juni  1901.  Dr.  Karl  Gumperts:  Die  Stellung  des  Hypnotisraus 
in  der  Religionsphiloscq>hie  der  alten  Inder. 

4.  Juli  1901.  Dr  P.ii!l  MoeUrr  Die  Bedeutung  der  Kombinations- 
thätiglceit  für  die  geistige  Entwickelung. 

Die  .Sitzungen  der  Psychologischen  Gesellschaft  werden  gewöhnlich 
an  zwei  Donnerstagen  jedes  Monats  im  Hörsaal  des  Botanischen  Instituts, 
Dorotheenstruse  5,  abgehalten  und  beginnen  um  7  Uhr.  Castweise  Teil- 
nahme ist  sweimal  im  Jahre  gestattet. 

Die  Tagesordnung  wird  regelmässig  in  der  Vossischen  Zeitung,  in 
der  Paedagogischen  Zeitung,  in  den  „Berliner  Anzeigen"  des  Herrn  Grosser 
und  am  schwarzen  Brett  drs  Psychologischen  Instituts  angezeigt.  Die 
einzelnen  Sitzungsberichte  werden  fortlaufend  in  der  Zeitschrift  für  päda- 
gogische Psychologie  und  Pathologie  abgedruckt  und  den  Mitgliedern  tur 
VerlOgung  gestellt.  Ausserdem  erhalten  die  Mitglieder  die  ,,Scfarifteo  der 
Gesellschaft  für  psychologische  Forschung." 

Alle  Anfragen  und  Mitteilungen  sind  zu  richten  an  den  derzeitigen 
Vorsitzenden,  Herrn  Prof.  Dr.  Dessoij-,  Berlin  W.,  Goltzstr.  31.  Ueber 
die  Bedingungen  der  Mitgliedschaft  erteilen  die  Satzungen  Auskunft. 
(Semesterbeitrag  4  M.) 


Berichte  und  Besprechungen. 


BIfitter  für   Knabenarbeit.    Organ  des  Deutschen 

Vereins  für  Knabenhandarbeit  etc.,  herausgegeben  von 
DircHtor  Dr.  Pabst  :  l  eipiig.  Verlag  von  Frankenstein 
und  Wagner.    Jahrgg  r.»iX) 

In  Bezug  auf  die  Stellung  des  Handfertigkeitsuntcrncht£>  im  Lehr-  und 
Eniehungsplan  äussert  sich  F.  Hucppe,  Professor  der  Hygiene  an  der 
UnivcrBität  Prag,  in  einigen  Leitsätzen  dahin,  dass  sowohl  aus  psycholo- 
gischen und  hygienischen  Gründen  als  mit  Rücksicht  auf  die  socialen  Be- 
dürfnisse dieser  Unterricht  ergänzend  und  vermittelnd  zu  den  übrigen  Lehr- 


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Berichte  und  licsprechungen. 


145 


fächern  himuireteii  müsse  Du-  modt-rne  Schuir  srhickt  sich  an,  die  Eur 
schalen,  die  ihr  noch  in  l'orm  <ler  übertriebenen  Wertschätzung  klassischer 
Studien  und  der  deduktiven  Behandlung  der  Unterriditsstoffe  ankleben, 
endlich  absustreifen;  man  verlangt  überall  lebendige  Anschauung  und  in- 
duktive Methoden.  Man  stellt  ferner  die  Bildung  des  Charakters  und  des 
Körpers  gleichwertig  neben  die  Bildung  des  Hcistes.  Daraus  ergeben  sich 
die  Forderungen,  <Liss  der  Handfertigkcitsunterrieht  als  Turnen  der  Hand 
am  Werkzeuge  zum  Turnunterricht  und  aU  L'cbuiig  des  Sehorgans  zum 
Anschauungs-,  man  könnte  hinzuHlgen  Mal-,  Zeichen-,  Geometrie-,  natur- 
kundlichen  Unterricht  ergäniend  hiniutrete,  überhaupt  als  bethätigender 
Unterricht  der  S  i  t  z  s  c  h  u  1  e  eingefügt  werde.  Ein  richtig  betriebener 
Handfertigkcitsunterrieht  ist,  weil  bei  demselben  die  Befriedigung  des  kind- 
lichen Thatigkeitstriebes  mit  Her  Erziehung  zur  Gcsrhirklichkeit,  Ordnung 
und  Selbstbeherrschung  Hand  in  Hand  geht,  em  wichtiges  Mittel  zur  Cha- 
rakterbildung. Er  wirkt  hygienisch,  indem  er  durch  seine  Eigenart  die 
geistige  UebcaMrdung  bdcämpfen  hilft.  — 

In  dem  Aufsatze  „Der  Handfertigkeitsunterricht  auf  der  Pariser  Welt- 
ausstellung 1900"  führt  uns  Pabst  in  die  Ausstellungsräume  der  Stadt  Paris, 
die  bei  der  Durchführung  des  seit  1882  in  Prankreich  obligatorischen  Hand- 
fertigkeitsunterrichts am  weitesten  vorgeschritten  sein  dürfte.  Der  Kinder- 
garten bringt  Papier-  und  Kartunarbeiten,  sowie  zierliche  und  geschmack- 
voll kolorierte  Thonformarbeiten.  Die  Volksschule  (Ecole  primaire)  be^ 
acfaiftigt  sich  mit  Ausschneiden  -und  Faltubungen  in  Karton  und  verschieden- 
farbigem Papier  im  AnschUiss  an  den  Zeichenunterricht  Darauf  folgen 
Werkstattarbeiten,  die  in  einem  Atelier  angefertigt  sind  1'1">  \*olksschulen 
haben  vollständige  ICinnchrungen  für  Hobelbank  und  Eisenarbeil.  \'oii 
Holzarbelten  sind  ausgestellt :  regelmässiges  Dreieck.  Viereck,  Sechseck. 
Achteck,  Verzierungen,  Holzverbindungen ;  die  Eisenarbetten  bestehen  aus 
Draht,  Stahlband  und  Blech.  In  den  6  Mittelschulen  von  Paris  (Ecole* 
municipalcs  sup^rieures)  giebc  es  technische  Kurse,  die  sich  mit  der  Her 
Stellung  physikalischer  und  chemischer  Apparate  beschäftigen,  Handels 
kurse,  die  Kartenskizzen  produzieren  u.  <;  w.  Ots  Lehrerseminar  <Frole 
normale  d'Auieuil)  hat  hervorragende  Leistungen  aufzuweisen,  die  jedoch 
sämtlich  einen  technischen  Cltarakter  tragen.  Neben  vortrefflichen  Holz- 
Verbindungen  und  Eisenfeilübungeo,  geschickt  ausgeführte  Dreharbeiten, 
prachtvolle  Eisentreiberden  und  vor  allem  ausgezeichnete  Modellierarbeiten. 
Vasen  und  andere  verzierte  Gegenstände,  wie  man  sie  bei  uns  wohl  in  Kunst- 
g-ewerbeschulen.  aber  nicht  in  Seminaren  sucht ;  daneben  auch  Modelle  von 
S'-h'j!hänken,  .St.iffeleien  und  .nnderen  (Geraten  Die  Meinung,  dass  die 
wissenschaftlichen  Leistungen  der  Seminare  durch  einen  so  intensiven  Hand 
fertigkeitsunterricht  geschädigt  würden,  wird  durch  die  anderweitigen  Re- 
sultate der  französischen  Seminare  gründlich  widerlegt.  Hervorzuheben  sind 
endlich  noch  die  künstlerischen  Zeichnungen  und  Handarbeiten  der  Pariser 
Kunstgcwcrbcschu!e  fEcole  d'application  des  beaux  nrts  ä  l'industrie). 

Von  der  Ausstellung  des  franzosischen  Unterrichtsministeriums  erwähnen 
wir  die  Handarbeiten  der  Gymnasien;  ausser  den  üblichen  Holzvci bindungen, 
Eisen-  und  Drechslerarbeiten  besonders  Drahtmodelle  geometrischer  Kitrper 
und  femer  Modelle  für  Projektionslehre  u.  a.  — 


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146 


BeridUe  und  Bies/reektmgim. 


Trotz  so  mannigfacher  Anerkennung  dieses  Unterrichtsiwciges  im  Aus> 
lande  sowohl  von  Seiten  der  Theoretiker  nl«?  Praktiker  als  auch  der  behörd- 
lichen Instanzen  will  der  Handfertigkeitsunterricht  Ix-i  uns  in  Deutschland 
nicht  heimisch  werden  und  hat  eine  Reihe  von  Widerstanden  tu  uberwmdeu. 
Der  Vorsitzende  und  unermüdliche  Vorkämpfer  des  Deutschen  Vereins  für 
Knabeohandarbdt  hat  sich  daher  neuerdings  veranlasst  gesehen,  einen  Frage- 
hogen  SU  versenden,  der  folgende  Punkte  enthält : 

1.  Welcher  Ansicht  über  den  Knabenhandarbeitsunterricht  begegnet  man 
nach  den  dort  jjemachtea  Erfahrungen  bei  den  verschiedenen  Gcwerbe- 
ttoibcnden,  sowie  bei  Ausübenden  und  Kennern  der  bildenden  Künste 
und  zwar 

a)  im  Handwerk?  b)  in  der  IndiMrie?  c)  im  Kunatgen^be?  d)  in 
kunstverständigen  Kreisen? 

2.  Erkennen  dieselben  an,  dass  der  Handarbeitsunterricht  ein  Mittel  ist«. 

bei  den  Knaben  eine  geschickte  Hand,  ein  geübtes  Auge,  praktiachisn 
Sinn  und  Interesse  für  werkihatige  Berufsarten  zu  erzielen? 

3.  Bevorzugen  sie  bei  der  Aufnalune  von  Lehrlingen  solche  Knaben,  die 
eine  Schülerwerkstatt  mit  Erfolg  besucht  haben,  oder  sind  sie  misstrau- 
iaeb,  das«  Tieltoieht  die  Knaben  mandwa  tedinftch  Paliebe  tieb  ange* 
eignet  hätten,  oder  sich  vielleicht  einbildeten,  sie  seien  schon  teilweise 
ausgebildet  ?  Im  Falle  letzteres  zuträfe :  ist  dann  diese  Anncfat  Vorurteil 
oder  gründet  sie  sich  auf  gemachte  Erfahrungen? 

4.  Würdigen  du-  (Gewerbetreibenden  den  Knabcnhandarbeitsunterrirht  als 
ein  Mittel,  das  kaufende  Publikum  zu  einem  besseren  Verständnis  für 

gute  Handarbeit  su  eriiehen  und  insbesondere  auch  dent  Wert  künst- 
Imscher  Handarbeit  su  erkennen? 

f).  Welcher  Betrieb  des  Knabenhandarbeitsunterrichts  --  in  selbständigen 

Schülerwerkstätten  wie  bisher,  oder  im  engeren  Ansthluss  an  Zeichnen, 
Raumlehre,  Anschauungsunterricht  u  s.  w.  —  dürfte  zur  !>reichung  der 
angedeuteten  günstigen  Wirkungen  desselben  geeignet  ersiiicincn? 

Sofern  sich  unsere  Leser  für  die  Sache  interessieren,  bitten  wir  Antworten 
an  Herrn  Direktor  Pabst  gelangen  zu  lassen!  — 


R.  Gaupp.  Ursachen  und  Verhütung  der  Nervosität 
der  Frau.   Vortrag.  24  S.  Breslau  1900. 

Eine  prasise  Definition  des  Begriffs  der  Nervosität  im  engeren  Sinn  giebt 

es  nicht.  Ein  ahnormer  Zustand  des  NervensyAems,  auf  dem  manche  Ner- 
vetileiden  erwachsen,  der  aber  selbst  noch  keine  eigcntliclie  Krankheit  dar 
stellt:  (it  steigerte  Reizbarkeit,  grössere  Erschöpf  barkeit  bei  kurperlichea 
und  geistigen  Leistungen ,  Mangel  an  Stetigkeit  und  Konsequenz 
im  Denken .  Fühlen  und  Wollen.  Die  Nervosität  des  Weibes  unter- 
scheidet sich  nicht  wesentlich  von  der  des  Mannes.  Der  Verfasser 
entwirft  ein  allgemeines  Bild  mehrerer  Typen  weiblicher  Nervosität. 
Als  wichtigste  Ursache  des  Leidens  betrachtet  er  die  ererbte  An- 
lage, die  sich  schon  in  der  Kindheit  oder  in  den  Entwicklungsjahren  bcmeri^» 


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Btriektt  und  Bup^ttkungen. 


147 


bv  macbt.  In  d«r  Regel  müssen  jedoch  kdrperlichef  Krankheiteii  oder  go- 
mfitUche  Sdiädigungen  als  auslösende  Faktoren  hinzutreten;  psychische  In* 
fektion  spielt  auch  eine  Rolle.  U ebcrarbeitung  und  Not  des  Lebens  sind 
nur  bei  der  weiblichen  Arbcitcrschait  als  Ursache  anzutreffen,  die  Frauen 
höherer  Stände  leiden  mehr  an  einem  Mangel  ernsterer  Thätigkeit  und  an 
AtoMMOnle.  Die  Neiwosität  der  Frau  läsat  sich  auch  nicht  verhüten,  da  die 
Anlage  dam  nicht  beseitigt  wertlen  kann,  doch  bssen  eine  gute  kdrpeilichi* 
und  geistige  Eniehung,  Gewölnung  an  ernste  Arbeit,  sweckmassige  Eniäh- 
nmg  ignd  Lebensweise  sie  nicht  sur  Entwicklung  und  Ausartung  gelangen. 


Th.  Ziehen.  Leitfaden  der  physiologischen  Psycho- 
logie in  15  Vorlesungen.  Mit  87  Abbildungen  im  Text 
5.  Auflage.  Jena  1900.   G.  Fischer. 

Zunächst  für  den  Psychiater  bestimmt»  hat  sich  der  Charakter  des  Leit- 
fadens seit  der  ersten  Auflage  (1890)  erheblich  geändert;  so  dass  er  in  seiner 

jetzigen  Foptn  auch  für  den  Naturwissenschaftler  und  den  psychologisch 
interessierten  Pädagogen  eine  geeignete  Einführunj^  in  die  physiologisck- 
psychoiogischen  Pipbleme  bietet.  Nicht  zum  mindesten  durch  die  lichtvoll« 
Darstellimg,  die  instruktive  Anordnung  und  Gruppierung  des  Stoffes»  did 
«shlreichen  Litteraturangaben.  Die  Kapitel  Qber  Entstehung  der  Sinnes- 
empfindungen  aus  den  Reisen  liringen  die  neuesten  Untersuchungen  und 
Theorieen  zur  Geltung.  In  Bezug  auf  das  Vorstellungsleben  vertritt  der  Ver- 
fasser mit  Consequcnz  den  Standpunkt  der  Assoziationspsychologic  und  vor- 
wirft die  Apperceptionslehrc,  namentlich  in  jen«-r  Fassung,  die  ihr  VVundt 
gegeben  hat.  Seine  Ausfuhrungen  besitzen  grosse  Ucbcrzeugungskraft,  da 
sie  wichtige  Einwände  tewie  entgegenstehende  historische  und  moderne 
Mdnungen  berü^ichtigen  und  su  Widerlegen  suchen,  klingen  jedoch  in  dem 
Kapitel  fiber  das  Wiedererkennen  und  die  Ideenassociation  allzu  dogmatisch; 
der  Leser  möge  sich  an  dieser  Stelle  erinnern,  .dass  e?  sich  meist  um  eine 
Uebersetzung  von  Bewussiseinsthatsachen  in  die  physiologische  Zeichen- 
sprache handelt. 

Folgendes  ist  der  Inhalt  der  15  Vorlesungen:  1.  Aufgabe  und  Inhahs- 
übersicht.  2.  Empfindung,  Assoziation,  Handlung.  3.  Reiz,  Empfindung. 
4.  Gssehnseks*!  Gemchs^  Bcrfibrungs«,  Temperatur-  und  Bewegungsempfin- 
dnnfen.  6.  Gdifineropfiadungen.  6.  Gesichtsempfindungen.  7.  Die  zeitlichen 

Eigenschaften  und  der  Gefühlston  der  Empfindungen.  8.  Empfindung,  Er- 
innerungsbild, Begriff.  9,  Der  f>fiihKton  der  Vorstellungen,  Affekte.  10.  Das 
Wiedererkennen  und  die  Idi  < n  i  so.  inion.  11.  Schnelligkeit  der  Ideen- 
assoziation,  Urteil  und  Schluss.  12.  Aufmerksamkeit,  willkürliches  Denken, 
das  Ich,  Gedächtnis.  18.  Krankhaftes  Empfinden  und  Denken,  Schlaf,  Hyp 
nose.  14.  Handlungen,  Ausdrucksbewegungen,  Sprache.  15.  Wille,  all* 
gemeine  Schlussfolgerungen.  — 


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148 


BeriM»  und  Bcfpre^ungat, 


£.  Rzesnitzek.  Zur  Frage  der  psychischen  Entwick- 
lung der  Kindersprach  e   Breslau  1899.  A  d  e  r  h  o  1 1.  0,90  Blaik. 

In  dieser  Inaug.-Dissenation  hat  di-r  Verfasser,  das  in  verschiedenen 
europäischen  Sprachen  vorliegende  Material  über  du-  Kntwirkelung  der 
Kir»dersprache  geordnet  zusammengestellt.  Die  Beobachtungen  von  Sigis- 
mund. Prcycr,  Compayr^,  SuUy,  SchuHze  werden  in  Verbindung  gebiacbt 
mit  den  sprachpsycbologischen  Erklärungen  von  M.  Malier,  W.  Humboldt, 
Lazarus  und  Stcinthal.  Der  Verfasser  betrachtet  seine  Schrift  als  Vorarbeit 
au  einer  Untersuchung  über  die  Emwickelung  der  Sprache  des  taubstonuiMn 
Kindes. 


G.  A.  Colozza,  Psychologie  und  Pädagopik  des 
Kinderspiels.  Mit  einer  Einleitung  von  N.  Forneil  i.  Aus 
liein  Italienischen  übersetzt,  sowie  durch  Zusätie  und 
Anmerkungen  ergänst  v.  Chr.  Ufer.  Altenburg.  O.  Bonde. 
1900.  272  S.  (Bd.  II  der  Internationalen  Pädagogischen 
Bibliothek.) 

Kaum  haben  wir  den  ersten  Hand  der  internationalen  pädagogischen 
Bibliothek  ,,Die  Entwickelung  der  Kindesseele  von  Gabriel  Compayr6"  in 
der  trefflichen  deutschen  Uebersetzung  von  Chr.  Ufer  kennen  gelernt,  so 
werden  wir  noch  in  demselben  Jahre  mit  einem  sweiten  nicht  minder  inter- 
essanten und  lehrreichen  Werke  überrascht.  Mit  der  Wahl  desselben  hat 
Ufer  entschieden  einen  glücklichen  Griff  gethan  und  kommt  gerade  damit 
zur  Zeit,  um  die  in  Deutschland  noch  auf  und  abwogenden  Meinungen 
über  die  Fröbelsache  zu  klären.  Man  lernt  hier  Fröbcl  in  einem  andern 
historischen  Zusammenhange  kennen,  als  wir  uns  gewöhnt  haben,  ihn  zu 
betrachten,  nicht  als  Jünger  Pestalonis,  der  ein  neues  ABC  der  Anscbau-  • 
uQg  und  Bethätigung  aufstellt,  sondern  alt  letstcs  Glied  einer  langen  Reibe 
von   Pndagngikern,   an   deren   S[)itzc   Plate  und   Aristoteles   sich  befinden. 

Wir  werfen  mit  Colozza-üfer  einen  Blick  in  die  Geschithte  des 
Spiels  imd  sehen,  wie  es  von  alters  her  in  der  Jugenderziehung  angewendet 
und  gewürdigt  wurde,  bei  Griechen  und  Rdmem.  Durch  die  asketischen 
Anschauungen  der  Kirchenväter  unterdrüdct,  kommt  es  etat  wieder  im  Zeit- 
alter der  Renaissance  su  Ehren.  Von  Italien  gdicn  die  neuen  Erziehungs^ 
ideen  aus  und  verbreiten  sich  allmählich  dLirrh  Frankreich.  F.ngland  und 
Deutschland.  Je  mehr  wir  uns  der  Neuheit  nähern,  desto  genauer  wird 
das  Spiel  vom  pädagogischen  Gesichtspunkt  aus  studiert,  sodass  man  sagen 
kann,  „Fröbel  war  mit  seiner  Theorie  des  Kinderspiels  nur  einer  von  den 
Männern,  dii  man  als  Repräsentanten  bezeichnet  und  sein  Gedankengebäude 
mehr  das  Erzeugnis  der  Zeit  als  des  einzelnen  Menschen".  Madame  Necker. 
B.isf-dow,  Nieineycr.  Guts  Muts,  Rosmini,  Kam,  Schiller,  Goethe  sind  die 
Vorläufer  Fröbcls. 

Die  Zettgenossen  FrSbeb  begannen  bereits  Untersuchungen  über  die 
psychischen  Bedingungen  und  Wirkungen  des  Spieto  ansustellen»  die  die 
Hauptgesichtspunkte  spaterer  Focscfaungen  in  nuce  enthalten.  Schiller  nahm 


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BtridUe  und  Bttptwcktmgstn. 


H9 


den  Gedanken  Kants,  dass  das  Spiel  derselben  Thäügkeit  wie  das  Schöne 
aMamine,  auf  und  machte  den  Spieltricb  /um  Errenger  df";  Schönen. 
Dieses  Spielen  tritt  dann  ein,  wenn  der  Mensch  das,  was  2ur  Leibesnahrung 
und  Noidurft  gehört,  besitzt.  Dieser  vermutete  Zusammenhang  zwischen 
Notdurit  und  Arbeit,  Reichtum  und  Spiel  gilt  heute  als  allgemeiner  Satt. 
Neoere  Foncber  haben  jedoch  gesägt,  dass  man  noch  verschiedene  andere 
Bedingungen  für  das  Spiel  annehmen  muss  Jedes  Spiel  verlangt  auch 
einen  gewissen  Grad  von  Intelligenz,  wie  durch  vergleichf-nflr  Beobachtung 
der  höheren  und  niederen  Tiere  festzustellen  ist.  Ein  fcrncirr  Beweggrund 
sind  Gefühlselemcntc,  die  besonders  in  Gemeinschaftsspielcn  sich  geltend 
machen.  Das  Spiel  wird  bald  dieser,  bald  jener  seelischer  Aeusserung  als 
Focm  angehören,  ohne  indessen  sich  mit  ihr  vollständig  tu  decken.  Nach* 
ahmimgstrieb,  vererbte  Tendensen,  aesthetische  Elemente,  die  Phantasie  in 
ihren  verschiedensten  Leistungen  verbinden  sich  hier  in  der  mannigfaltig- 
sten Weise. 

Das  Spiel  erscheint  daher  als  eine  einheitliche,  alles  durchdringende 
Lebensmacht,  ja  ais  der  eigentliche  Lebenszweck  des  Kindes.  Nach  Groos 
giebt  die  Natur  durch  die  Eiutichtnng  ehier  besonderen  Jugendzeit  bei 
Tiefen  und  Menschen  Gelegenheit  sur  Einübung  unfertiger  Anlagen.  Die 
Spide  sind  gewissennassen  nicht  Nachahmungen  und  Nachübungen  .  son 
dem  Vorahnungen  und  Vorübungen  für  das  Leben.  Diese  prophptische 
Bedeutung  der  Spiele  voll  erkannt  und  in  1er  Erziehung  der  ersten  Kind- 
heit umfassend  verwertet  zu  haben,  ist  das  grosse  Verdienst  Fröbcis. 

Die  Erörterung  über  das  Spiel  in  pädagogischer  Hinsicltt  geht  von 
dtaer  geschichtlichen  und  psychologischen  Basis  aus  und  wird  lu  einer 
Kjridk  des  bestehenden  Spielvetfshrens  in  den  Kindergärten,  die  aber  für 
deutsche  Verhältnisse  nicht  immer  zutreffend  ist,  im  Übrigen  auch  die  geisti- 
gen Fähigkeiten  der  meisten  Kinder  überschätzt.  —  s- 


Bulletin  de  l'Institut  psychique  international,  fonde  le  äOJuia 
1900.    Siege  social  provisoire:  19,  rue  de  i  Univcrsitc,  a  Paris. 

Das  vorliegende  Heft  berichtet  über  die  Gründung  ein'T  Sorietc 
internationale  de  l'Institut  psychique,  die  am  30.  Juni  v.  j.  m  Paris  voll- 
zogen wurde.  Dem  Gründungscomitd  gehören  an  aus  Frankreich:  d'Arsonval,. 
Btfgson,  Bemheim»  Flammarion»  Piene  Janet,  Li£beanlt,  Li^geots,  Marejr, 
Raymond,  Ribot,  Riebet,  Tarde  u.  a.;  aus  England:  Barret,  Ferrier,  Lloyd- 
Tuckey,  Bramwell,  Sidgwick,  Sully  u.  a. ;  aus  Amerika:  Baldwin,  James; 
.ms  anderen  Ländern:  Exner,  Floumoy,  Lombroso,  Metschnikoff,  Orhorowict^ 
^oiovovo,  van  Gebuchten  u.  a.  m.  Aus  Deutschland  ist  als  ettuigcr  Vertreter 
der  Psychologie  v.  Schrendc-Notzing  erwähnt.  Liest  man  die  Grundsätze, 
nach  denen  das  Progranun  des  su  gründenden  Institutes  auljgestdlt  werden 
soll,  wie  sie  von  Pierre  Janet,  Mascart  u.  a.  in  dem  vorliegenden  Hefte 
geschildert  werden,  so  bekommt  man  den  fatalen  Eindruck,  dass  neben  den 
Arbeiten  der  Psychologie  und  angrenzender  Disziplinen  wie  der  Psycho- 
(heraphie,  der  pädagogischen  tmd  forensischen  Psychologie  u.  s.  f.  in  erster 


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150 


Reihe  die  occulten  ,,Wissenschaften"  gepflegt  werden  sollen«  wie  der  animale 
Magnetismus,  die  Telepathie,  Hellsehen,  Mediumität  etc. ;  ein  Eindruck, 
der  noch  \  cr'  i  irkt  wird  durch  die  Namen  Aksakoff  und  Myers,  die  ebenfalls 
als  Mitglieder  des  Comit<5  de  Patronage  aufgeführt  werden.  Das  wäre 
nach  unserem  Dafürhalten  stark  bedauerlich.  So  wünschenswert  es  ist,  dass 
die  psychologischen  Arbeiten  jeder  Richtnng  nach  Kräften  unterstützt  würden 
durch  Einrichtung  von  Bibliotheken,  Laboratorien  etc.,  so  überflfissig  ist  «s, 
den  mystischen  Studien,  die  schon  von  selbst  in  den  Köpfen  \ieler  unwissen- 
«^rhnftlirher  und  kritikloser  Mens  hen  zu  überwuchern  streben,  noch  weitere 
Hih'skrafte  zuzuführen.  Es  wird  sich  /eigen,  ob  das  neue  Institut  den  An- 
forderungen der  absoluten  Vorurteilslosigkeit  und  exaktesten  Wissenschafi- 
lichkeit,  die  es  an  seine  Mitglieder  stellt,  gerecht  ni  werden  vermag.  Das 
Organ  des  Institutes  wird  unter  anderem  übrigens  auch  eine  vollständige 
Bibiiograpliie  aller  die  Psychologie  betreffenden  Arbeiten  bringen;  ein  Unter- 
nehmen» dessen  Durchführung  sehr  nutzlich  wäre 

L.  Uirschlaff,  Berlin. 


Mitteilungen. 


Aeusserungen  zur  Reform  der  höheren  Lehranstalten. 
Cultusminister  Dr.  Studt  im  Preussischen  Abgeordnetenhaus:  " 

Ich  will  dem  Hause  gleich  bei  Beginn  der  Beratung  über  die  Mass- 
nahmen berichten,  die  die  I^ntorriclitsverwaltung  zur  Dorchfühiung  des  aller- 
höchsten Erlasses  über  die  Reform  der  höheren  Srhul^'n  /u  ergreifen  gewillt 
ist.  Die  l  'ntcrric  lits-Verwaltung  steht  völlig  auf  dem  Hndcn  dieses  Er- 
lasses. Man  liai  vielfach  gemeint,  er  entspreche  nicht  memer  vollen  üeber- 
Beugung.  Ich  habe  den  Ertass  aber  gegengezeichnet,  und  ich  hätte  nidht  die 
Verantwortung  übernommen,  wenn  ich  nicht  völlig  einverstanden  mit  ihm 
gewesen  wäre,  wenn  ich  nicht  der  festen  Zuversicht  wäre,  dass  seine  Durch- 
führung unserer  Schule  und  unserem  gesamten  Vaterlande  zum  Heil  ge- 
reichen werde.  Es  ist  weiter  vielfach  geglaubt  worden,  es  sollen  nun  alle 
drei  Arten  neunklassiger  höherer  Lehranstalten  als  gleichwertig  angesclien 
werden  und  eine  Ergänzung  nur  in  so  weit  in  Frage  kommen,  als  das 
Universitätsstudium  es  erfordert.  Zugleich  ist  darauf  hingewiesen  worden, 
dass  der  humanistische  Charakter  des  Gymnasiums  gewahrt  werden  soll.  Bei 
dieser  Gelegenheit  möchte  ich  den  Irrtum  berichtigen,  als  ob  das  Vorrecht 
des  humanistischen  Gymnasiums  in  betreffs  des  I^niversitätsstudlums  von 
jeher  in  Prcussen  Rechten*»  gewesen  sei.  Das  Gymnasial  Abiturium  ist  erst 
am  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  eingeführt  worden.  Erst  nach  län- 
gerer Emwickelung  wurde  durch  das  Reglement  vom  4.  Juli  1834  das 
Reifezeugnis  vom  Gymnasium  für  die  Zulassimg  zum  Studitmt  verlangt.  Wenn 
nun  nach  dem  Erlass  auch  das  Reifezeugnis  vom  Realgymnasium  und  von 
der  Oberrcalschuie  zum  Universitätsstudium  berechtigen  soll,  so  werden 


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151 


^iainit  nur  die  bisherigen  Beschränkungen  aufgehoben«  indem  der  Erlass 
an  die  alten  pteussbchen  Traditionen  anknü[>ft    Die  Frage,  inwieweit  eine 

Ergänzung  der  auf  der  Schule  erlangten  allgfiiii-inen  Bildung  durch  Special- 
kenntnissc  für  die  einzelnen  Berufszweige  erfordt-rlich  ist,  ist  für  di«;  Theo 
logen  bereits  beantwortet,  bei  denen  die  Kenntnis  des  Lateinischen  und 
'  Oriediiscben  in  demselben  Umfange  wie  bkher  gefordert  werden  muss. 
Das  Gleiche  gilt  ffir  einselne  Fächer  der  philosophischen  Fakultät.  Für 
die  Erwerbung  der  Spezialkenntnisse  nach  Abschluss  des  Schulunterrichts 
Icommen  verschiedene  Möglichkeiten  in  Betracht,  zunächst  das  System  der 
bisherigen  Ergänziuigsprüfung,  sodann  die  Einrichtung  besonderer  Vorkurse 
auf  der  Universität,  schliesslich  der  Weg,  es  den  cuiztlneri  Studenten,  zu 
Überiassen,  wie  sie  sich  die  erforderlichen  Spezialkenntnisse  erwerben  wollen. 
Die  Einrichtung  von  akademischen  Vorkursen  ist  mit  grossen  Schwierig- 
keiten  verknüpft.  Es  wird  sich  auch  empfehlen,  die  Er^mungsprilfung,  wo 
sie  nicht  schlechterdings  unentbehrlich  ist,  einzuschränken.  Für  die  Theo 
logen  wird  sie  noch  beizubehalten  sein,  dagegen  werden  wir  fiir  die  philo- 
sophische Fakultät  den  dritten  Weg  tinschlagen  Der  \'()rwurf.  tlass  ich 
allzu  langsam  mit  der  Reform  vorginge,  ist  ganz  unberechtigt.  Die  Zeit, 
asitdera  der  altsrhüdiste  Crlass  an  midi  ergangen  ist,  reichte  nicht  aus,  die 
schwierige  Frage  weiter  vorwärts  xu  bringen.  Den  Eltern,  die  jetst  noch 
in  Ungewissheit  sind,  kann  ich  nur  raten,  sich  nach  denjenigen  Bestimmungen 
zu  richten,  die  bisher  schon  gelten,  soweit  nicht  neuerdings  zur  Ausführung 
des  allerhöchsten  Erlasses  anderweitige  Bestimmungen  innerhalb  meiner  Zu- 
ständigkeit erl.issen  worden  sind. 

Icli  komme  nun  zu  Nummer  2  des  Erlasse?  Es  handelt  sich  dabei 
um  eine  Verstärkung  des  Unterrichts  im  Lateinischen  an  den  Gymnasien. 
Es  sollen  nur  wenige  Stunden  hinzugefügt  werden,  aber  die  Verstärieung 
wird  sur  Erreichung  des  gesteckten  Zieles  genügen.  Auch  an  den  -Real- 
gymnasien  soll  eine  Vermehrung  des  Lateins  um  wenige  Stunden  Platz 
greifen. 

In  Nummer  3  des  Erlasses  werden  verschiedene  Aenderungen  im 

Unterricht  an  sich  empfohlen,  die  nicht  nur  in  Fachkreisen,  sondern  auch 
hf\  den  Eltern  allgemeine  Zustimmung  gefunden  haben.  Multum  non  multa 
heisst  hier  der  Grundsatz.  Den  Realgymnasien  soll  Gelegenheit  geboten 
werden,  neben  dem  Latein  besonders  die  modernen  Sprachen  zu  pflegen, 
den  Oberrealschiilen  die  modernen  Sprachen  und  die  Mathematik  und  allen 
Anstalten  Religion  und  Deutsch.  Dasselbe  gilt  von  dem  vierten  Punkte,  der 
Aufhebung  der  Zwischenprüfung  für  den  einjährigen  Dienst.  Auch  die  Reife- 
prüfung an  den  Nii  htvollanstnlten  soll  durchgreifend  geändert  werden.  Es 
soll  hier  eine  gewöhnliche  \'ersctzungsprüfung  l'lat/  greifen.  Nummer  h  des 
Erlasses  bezieht  sich  auf  die  Lehrplanc  der  Altonaer  und  Frankfurter  Re- 
formgymnasten.  Die  Versuche  damit  sollen  künftig  auf  breiterer  Grundlage 
fortgesetzt  werden. 

Das  sind  im  wesentlichen  die  Gesichtspunkte,  nach  welchen  die  Un- 
terrichtsverwaltung in  voller  Uebereinstimmung  mit  dem  genannten  Erlasse 

die  im  Jahre  1892  eingeleitete  Reform  der  höheren  Schulen  weiter  zu  führen 
gedenkt.  Wir  rechnen  dabei  auf  die  bewährte  Pflichttreue  und  Verständnis* 


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152 


M tfteüungefi. 


volle  Hingebung  Uer  Lehrerschaft,  und  ich  will  hoffen,  Ua^  es  uns  mit  ver- 
einten Kräften  gelingen  wird,  die  Reform  tum  Segen  des  Vaterlandes  durch- 
zuführen. 


Bei  den  Verhandlungen  der  Schulkonferenz,  über  die  jetzt 
der  umfassende  Bericht  erschienen  ist,  spielte  auch  die  Frage 
des  gemeinsamen  lateinloscn  Unterbaues  eine  sehr  wesent- 
liche Rolle. 

Der  vom  U  n  t  e  r  r  i  c  h  t  s  m  i  n  i  s  t  e  r  i  u  nt  daruln-i  autgcMeihc  Leit- 
satz lautete: 

„Es  ist,  wenn  überhaupt,  so  doch  jedenfalls  lor  Zeit  nicht  ratsam^ 
einen  gemeinsamen  Unterbau  für  die  drei  Arten  der  höheren  Lehranstalten 
durch  den  Hoginn  mit  dem  Französischen  und  Hinaufschiebung  des  Lateini- 
schen einzurichten.  Indessen  wird  einer  «weckenlsprechcnden  Weiterführung 
des  damit  in  Altona,  Frankfurt  a.  M.  und  anderen  Orten  gemachten  Ver- 
suchs, namentlich  in  Besug  auf  Realgymnasien,  nicht  entgegengetreten 
werdesL" 

Gegen  die  Worte  „namentlich  in  Bezug  auf  Realgymnasien*'  erhob  der 
kürzlich  verstorbene  Berliner  Realgymnasialdirektor  Dr.  Schwalbe  cnt- 
*  schiedenen  Einsprucii,  weil  die  Realgymnasien  keineswegs  reformbedürftiger 
seien  als  das  Gymnasium.  ' 

Wenn  schUeadich  die  Frage  sich  doch  für  den  Frankfurter  Verweh 
nemlich  günstig  ttdlte,  so  war  dies  die  Folge  eines  Eingrdfens  der  MiUtir* 
und  Finanzverwnitnng.   In  der  ,, Kreuz  Ztg."  heisst  es  darüber: 

Sowohl  der  (leneralinspekteurdesMilitär  Kr/iehungs- 
und  Bildungswesens  als  der  Kommandeur  des  Kadetten« 
korps  spr&chen  nicht  bk»  für  Zulassung,  sondern  für  allmähliche  Erweite- 
rung, ja  für  allgemeine  Einführung  der  Frankfurter  Lehrpline,  beule  mit 
Benifung  auf  das  Gutachten  des  Dirdctor  Ziehen,  das  den  Konfefcmnil' 
gliedern  zugänglirh  gemacht  worden  war,  wie  die  ^um  entgegengesetiten 
Resultat  gelangenden  des  Geh.  Rats  Kubier  und  des  Professors  Harnack.  Den 
Ausgang  nahtn  Frhr.  v.  F  u  n  c  k  von  der  Beobachtung,  dass  im  Kadetten- 
korps tuid  d>enso  in  den  Realgymnasien,  an  deren  Lehrplan  sich  ja  das 
Koips  anschliesst,  die  Ergebnisse  des  franaosischen  und  des  lateinischen  Un- 
terrichts gleicher  Weise  unbefriedigend  seien;  er  erwartet  die  notwendige 
Besserung  für  beide  Lehrfächer  von  dem  Beginne  mit  dem  l'ranzösischen. 
Dieselbe  Einrichtung  wünscht  er  dann  auch  auf  die  Gymnasien  übertragen, 
besonders  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Schüler,  welche  nur  xwei  Drittel  derCym- 
losialklassen  durdinuichen.  Frhr.  v.  Seckendorff  betonte,  wie  wün- 
schenswert es  sei,  dass  das  Kadettenkorps  nach  der  Einführung  des  Lehr- 
plans des  Rcformrealgyninasiunis  j'ii  h!  in  einer  von  wenigen  Anstalten  ge- 
teilten Sonderstellung  verbleibe,  und  fügte  Wünsche  be/üglirh  der  wissen- 
schaftlichen und  pädagogischen  Ausbildung  von  Lehrern  tur  die  modernen 
Framdsprachen  hinzu.  Geh.  O.-F.Rat  Germar  sprach  sodann  im  Auftrage 


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153 


de<  Finanzministers  speziell  über  das  dringende  Verlangen  von  Eltern  an 
klein«  rcn  Orten  oder  auf  dem  Lande,  ihre  Kinder  möglichst  lange  bei  sich 
zu  behalten,  ein  Bedürfnis,  das  sich  ungleich  besser  durch  die  Reformschul- 
«fSanbation  befriedigen  lane,  ebenao,  wie  das  Bedürftüs  kleinerer  Städte, 
neben  ikrem  Gymoasiiun  oder  RcalgymiMsiimi  Jaleinleee  Reahchulknne  at 
haben. 

Darauf  wurde  folgcndr  Resolution  angenomnien: 
Es  ist  zur  Zeit  nicht  ratsam,  einen  gemeinsamen  Unterbau  für  die 
drei  Arten  der  höheren  Lehranstalten  durch  Beginn  mit  dem  Französischen 
und  Hinaufrückung  des  Lateinischen  allgemein  einzunchten.  Indessen  wird 
einer  nredBentqirechenden  Weitexfülirung  det  damit  gemachten  Venocl» 
nicht  entgegenziitEeten  und  eine  allmähltclie  Erweiterung  desselben 
SU  fSrdern  sein. 

Den  letzten  Worten  entspricht  der  kai-^erliche  Erlass,  wonach  der 
Versuch  auf  breiterer  Grundlage  erprobt  werden  möge,  wo  die  Voraus- 
«etsnagen  für  diesen  Versuch  zutreffen. 


Ein  Schulmann  kritisiert  den  KeformetUwurf  im  „Berliner 

Tageblatt"  zif^mlich  abfallig: 

Nach  allem,  was  man  bisher  in  betreff  der  beabsichtigten  Aende- 
ningen  auf  dem  Gebiete  des  höheren  Schulwesens  gehört  hat,  soll  es  im 
weseadichen  —  beim  Alten  bleiben.  Den  beiden  realistischen  höheicn  ' 
Lehranstalten  wird  die  ehrenvolle  Anerkemiung  n^esprochen,  dtms  sie  gldcli' 
falls  ihren  Zöglingen  eine  allgemeine  Geistesbildung  gewähren;  die  Be- 
rechtigung 711  akademischen  Studien  aber  unterliegt  für  ihre  Zöglinge  nicht 
viel  gerin;^L-ren  Beschrankungen  als  bisher.  In  Bezug  auf  den  Bildungsgang 
des  Gy  mnasiums  sind  keine  Veränderungen  von  wesentlicher  Bedeutung  ein- 
getreten.  Es  ist  xwar  allgemein  der  Gnmdsats  aufgestdlt,  es  solle  jede  Schul- 
ymmg  ihren  eigentOmlichen  Charakter  bestimmter  lur  Gdtung  bringen. 
Für  das  Gymnasium  kommt  derselbe  jedoch  hauptsächlich  nur  soweit  rar 
Anwendung,  als  drr  Inteinische  l'ntcrricht  in  drrt  mittleren  und  o"l>eren 
Klassen  um  je  eine  Stunde  vermehrt  wird,  und  zwar  zu  Gunsten  des  gram- 
matischen Pensums.  Wer  die  Abneigung  kennt,  die  auf  Seiten  der  bchuicr 
jerade  gegen  diesen  Teil  des  Umerricbts  auf  den  beseichneten  Stufen  vor* 
herrscht,  srird  dieser  „Errungenschaft",  die  in  Kreisen  der  klassisdien  Philo- 
logen mit  Genugthuung  begrüsst  wird,  im  Sinne  der  gymnasialen  Jugend  nur 
sehr  geteilten  Beifall  zollen.  Dass  hierin  eine  stärkere  Betonung  der  eigen 
tümlichen  Bildungsaufgabe  des  Gymnasiums  7u  erkennen  sein  solle,  wird 
nur  der  begreifen,  welcher  weiss,  was  für  eine  Koilc  der  Begriff  der  for- 
malen Schulung  auf  dem  Gebiet  des '  höheren  Schulwesens  spielt.  Man 
weist  den  formalistischen  Ldirf&chem  Grammatik  und  Mathematik  die  Be- 
^lentung  su,  dass  sie  den  Sdililem  «ne  allgemeine  Geistesgymnasik  bieten, 
did  sie  au  Jeder  Art  von  geistiger  Arbeit  befähige.  Die  häufig  wiederkehrende 
Frfrihningsthatsache,  dass  junge  I.eute,  die  auf  der  Schule  gute  Gramma- 
tiker oder  Mathern;itikpr  w:?ren  nicht  imstande  smd,  ihre  juristische  Prüfung 
2u  bestehen,  und  uingckchit  d  i  scharfsiimige  Juristen  als  Schüler  wenig 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psycholugic  und  PdliatSftei  ^ 


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154 


AlUUütingcn. 


in  Grammatik  und  Mathematik  leisteten,  wird  völlig  ausser  Acht  gelassen. 
Ebenso  wenig  trägt  man  den  Ergebnissen  der  Psychologie  Rechnung,  denen 
zttfolge  die  auf  einem  Gebiete  erworbene  Fähigiceit  sich  nur  auf  verwandte 
Gebiete,  aber  nicht  auf  völlig  andersgeartete  überträgt,  so  dass  die  Beherr- 
schung grammatischer  und  mathematischer  Formen  keineswegs  auch  die 
Bewältigung  irgend  eines  Sachgebietes  verbürgt.  Man  bleibt  bei  der  einmal 
herkömnüichen  Behauptung,  der  Grammatik  und  Mathematik  wohne  ein 
fbrmalbildender  Charakter  bei>  und  verstärkt  deshalb  den  Unterricht  in  der 
lateinischen  Granunatik,  während  man  den  mathematischen  wenigstens  un* 
verkürst  in  seinem  tusberigen  Umfange  bestehen  lässt. 

Eine  bedeutsame  Aenderung  hat  das  Griechische  in  Bezug  auf 
das  ihm  gesteckte  Bildungsziel  erfahren.  Dasselbe  soll  nicht  blos  w^ie  bisher 
durch  Vorführung  klassischer  l.itteraturwerke  als  ästhetisches,  son- 
dern aucii  als  kulturgeschichtliches  BilUungs  mittel  Ver- 
wertung finden,  indem  den  Sdiölem  an  der  Hand  eines  zu  diesem  Zweck 
bearbeiteten  Lehrbuches  Proben  des  geistigen  Schaffens  Altgriechenlands 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  dargeboten  werden,  um  ihnen  so  die  grund- 
legende Bedeutung  der  griechischen  Kultur  für  die  unserige  nachzuweisen. 
Dieser  Gedanke  hat  bekanntlich  den  Professor  v.  Wilamowiti-Möllcndorf  zum 
Urheber.  Man  beabsichtigt  mit  einer  dahingehenden  Forderung  offenbar, 
dem  griediischen  Lektüreunterricht,  der  so  leicht  auf  übermässige  Betonung 
des  Formellen,  eine  vorwicgmd  sprachlichgrammatische  Texterklärung  ver- 
fällt, mehr  g  c  i  s  t  bildenden  Inhalt  zu  geben,  indem  man  einen  umfang- 
reichen, allen  niuglirhcn  Kulturgebieten  entlehnten  Lektürestoff  in  den  l  In- 
kreis der  Behandlung  zieht.  Nicht  recht  ersichtlich  ist  es  allerdings,  warum 
die  Untm^isung  auf  diesem  Gebiete  sich  an  griechische  Urtexte  anschliessen 
vXLi  die  sachttch«!  Mitteilungen,  die  bezwecken,  den  Sch&iem  die  Bedeutung 
der  Leistungen  des  Griechentums  für  die  Kulturarbeit  der  Gegenwart  klar 
SU  legen,  könnten  ohne  Nachteil  auch  in  Gestalt  eines  allgemeinen 
kulturgeschichtlichen  Unterrichts  in  deutscher  Sprache  er- 
folgen. Immerhin  ist  der  Gedanke  einer  derartigen  planmässigen  kultur- 
geschichtlichett  Würdigung  des  griechischen  Altertums  neu,  und  man  wird 
den  Erfolg  abwarten  müssen,  der  zeigen  wird,  ob  die  Lehrer  den  hiermit 
gestellten  hohen  Anforderungen  in  Bezug  auf  Beherrschung  des  kulturge- 
t-chichtlichen  Materials  gewachsen  sind,  und  ob  es  gelingt,  den  Schülern, 
deren  geschichtlicher  Sinn  meist  noch  wenig  entwickelt  ist,  die  Bedeutung 
der  auf  manchen  Gebieten  b^cheidenen  Anfänge  der  Kulturentwickelung 
für  den'  weiteren  Fortgang  und  endlich  die  höchsten  Leistungen  klar  su 
machen.  Wesendiche  Gebiete  der  griechischen  Kultur  wurden  auch  schon 
im  Rahmen  des  gegenix  rirtigen  nvmnasiallehrplans  berücksichtigt.  Man  denke 
an  die  quellenmüssige  Lektüre  philosophischer  Schriften  Piatos,  die  sich  nun- 
mehr, was  entschiedenen  Beifall  verdient,  auch  auf  dessen  Republik,  Buch  I, 
erstredeen  soll,  an  die  Beiehnmgen  aus  der  Poetik  des  Aristoteles,  die  sich 
an  die  Lektüre  griechischer  und  deutscher  Dramen  anschliessen,  die  umfang* 
reiche  Lektüre  griechischer  Dichter,  Redner  und  Schriftsteller.  Die  heutiu« 
tage  auf  höheren  Schulen  behandelte  Geometrie  ist  ja  im  Grunde  nur  eine 
in  etwas  andere  Form  gebrachte  Behandlung  der  Lehren  Euklids  auf  diesem 
Gebiete 


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MitUÜuHgm, 


i55 


Im  T''ebrigen  konnzeichnet  sich  die  jüngste  Schulreform  durch  ciiit-n 
Mangel  an  neuen,  f  r  u  r  Ii  t  b  a  r  e  n  Gedanken.  Es  sind  meist 
äusseriichc  Gesichtspunkte,  die  ihr  zu  Grunde  liegen,  vor  allem 
die  Bereclitigungsfrage..  Dan  auch  in  dieser  Benehui^  wenig  neues 
SU  Tage  gefördert  worden  ist,  habm  wir  schon  hervorgehoben.  Dagegen 
hat  man  Icetner  der  von  der  neueren  Pädagogik  erhobenen  Forderungen  Rech" 
nung  getragen,  die  dahin  gehen,  dass  der  Unterricht  grundsätzlich  in  den 
Dienst  der  Menschenbildung  treten  und  hiernach  Auswahl  und  Be- 
handlung des  Lehrstoffes  sich  richten  solle,  dass  der  heranwachsenden  Jugend 
die  Ansatie  zu  einer  höheren  Lebensauffassung  geboten  werden, 
daaa  der  Unterrichtsstoff  der  Jeweiligen  Altersstufe  kongenial  sein  müsse 
u.  s.  w.  Der  letztere  Grundsatz  insbesondere  bleibt  unberücksichtigt,  wenn 
man  den  Zöglingen  der  oberen  Klassen,  statt  ihnen  geistige  Nahrung  zu 
bieten,  zumutet,  wieder  in  ausgedehnterem  Masse  lateinische  Grammatik  zu 
treiben.  Es  fehlt  an  einer  Einrichtung,  der  die  Aufgabe  zufiele,  Fragen  wie 
die  der  Möglichkeit  einer  formalen  Geistesbildung  klarzustellen,  was  recht 
eigentlich  Sache  von  Fachpcofessuren  ftr  Pädagogik  und  Didaktik  sein 
würde.  Premsen  gehört  zu  dot  wenigen  Knlturstaat«»,  die  es  su  einer  der- 
artigen Einrichtung  noch  nicht  gebracht  haben.  Die  Pädagogik  bedarf  wie 
'Vdes  andere  Wissensgebiet  einer  dem  allgemeinen  Kulturfortschritt  ent- 
sprechenden Fortbildung.  Die  vor  einigen  Jahren  gegründeten  (jymnasial- 
senünare  verhaken  äich  in  dieser  Beziehung  konsuiniercud,  nicht  produ- 
zierend; sie  können  daher  eigene  Professuren  für  das  bezeichnete  Fach  ketnes» 
falls  ersetzen.  Ebenso  wenig  vermögen  die  ehrenamtlichen,  einseitig  auf 
praktische  Pädagogik  beschränkten  Honorarprofessuren,  die  an  zwei  preussi- 
sehen  Universitäten  seit  kunem  bestehen,  einen  Ersatz  für  die  mangelnden 
Fachprofes suren  zu  bieten. 

Das  leitende  Prinzip  unseres  höheren  Unterrichts  ist  und  bleibt: 
formale  Schulung,  die  leider  so  leicht  in  einen  blcissen,  alles  Interesse 
an  geistiger  Arbeit  ertötenden  Drill  ausartet.  Freilich  war  bei  der  Zu« 
sammensetzung  der  zur  Beratung  der  Schulreform  berufenen  Konferenz 
kaum  ein  anderes  Ergebnis  zu  erwarten.  Dieselbe  bestand,  soweit  sie  fach- 
männische Mitglieder  umfasste,  fast  durchweg  aus  Anhängern  der  herkömm- 
lichen formal-gelehrten  Bildungsweise,  denen  in  keiner  Weise  durch  Ver* 
treter  neuerer  pädagogischer  Riditungen,  die  das  erskhlidie  Moment  der 
Jugendbildung  mehr  betont  wissen  wollen,  das  Gleichgewicht  gehalten  wurde. 


Mit  der  Frage  der  Zulassung  von  Realschulabiturienten 
zum  Studium  der  Medizin  beschäftigte  sich  die  Berliner  Me- 
dizinische Gesellschaft. 

Auf  Grund  eines  Kommissionsberichtes  wurde  über  folgenden  Antrag 
verhandelt: 

..Die  Berliner  Medizinische  Gesellsdiaft  erklärt  es  für  notwendig, 
dass  das  Zeugnis  dcrReifc  von  einem  humanistischen  Gym- 
nasium auch  fernerhin  Vorbedingung  der  Zulassung  zu  den  ärztlichen 
Prüfungen  bleibe."  * 

5* 


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156 


Muuüungen. 


Als  Gründe  wurden  angeführt,  dass  die  Kenntnis  der  klassischen 
Sprachen  für  den  Arzt  dringend  notwendig  sei,  ferner  dass  durch  die  Zu- 
iMMUig  der  Reabchukibitiaieiitea  der  Zudnng  tum  MedinnstiuHura  noch 
stärker  sein  «nd  die  für  die  Ausbildung  der  Aente  vorhandenen  Universitäts- 
einrichtungen,  die  schon  jet«  vielfach  ungenügend  wären,  alsdann  gänzlich 
Tinmretchend  sein  würden.  Dadurch  würde  die  Ausbildung  der  Aerzte  Schaden 
erleiden.  Zu  diesem  Antrag  hatte  alsdann  der  Vorstand  der  Gesellschaft  noch 
folgendes  Amendement  hinzugefügt: 

».Die  Geselbdwft  s|»kht  zugleich  ihren  Wunsch  dahin  aus,  dass 
die  Zuhosung  der  Reabchulabitorienten  zu  den  medislDischen  Studien 
nur  unter  denselben  Bergungen  gewfthrt  werde,  wddie  fttr  Ju< 
r i s t e n  und  Theologen  vorgeschrieben  werden." 

Im  Laufe  der  Debatte  machte  sich  die  Auffassung  geltend,  dass  es 
ein  grosses  T^nrerht  sein  würde,  die  medizinische  Fakultät  hinsichtlich  der 
Vorbildung  der  bei  ihr  zuzulassenden  Studenten  anders  zu  behandeln  als  die 
Schwesterfakultäten  der  Rechts»  und  Gottesgelahrtheit.  Diese  Ausnahne» 
ttelhing  der  medizinischen  Fakultät  würde  nur  sur  Herabdruckung  der  sozialen 
Stdlung  des  Arztes  führen.  Gleiche  Vorbedingungen  zu  allen  Fakultäten 
müssten  gestellt  werden.  Wolle  man  alle  Arten  der  höheren  Schulen  hin- 
sichtlich der  Zulassung  ihrer  Abiturienten  zu  allen  Fakultäten  gkichwentg 
behandeln,  dann  müsse  man  auch  überall  danach  verfahren  und  ificht 
der  medizinischen  Fakultät  allein  zumuten,  sidi  mit  einem  Real« 
»chulreifczeugnis  zu  begnügen;  denn  dadurch  schaffe  man  ja  eben  wieder 
eine  l Ungleichheit  in  der  Bewertung  jener  höheren  Schulen.  Schliesslich 
wurden  beide  Anträge  angenommen.  In  einem  ähnlichen  Sinne  hat  sich 
auch,  wie  uns  aus  Halle  gemeldet  wird,  der  dortige  Verein  der  Aerzte 
ausgesprochen.  Dieser  Verein  hat  eine  Immediateingabe  an  den 
Kaiser  und  eine  Petition  an  den  Bundesrat  zu  richten  beschlossen, 
dahingehend,  dass  den  Abiturienten  der  Realgymnasien  nur  dann  das  Studium 
der  Medirin  zugänglich  ZU  machen  sei,  wenn  dies  auch  für  alle  übrigen 
Studien  erlaubt  werde.  (Berliner  Tagebl.) 


Der  Kultusminister  Dr.  Studt  hat  sich  in  einem  an  einen 
Verein  ,,Mädchengynina^iinn*'  üingst  erlassenen  Bescheide  über 
die  Errichtung  von  Gymnasiaikursen  für  Mädchen  folgender- 
massen  geäussert: 

..Die  F.ingabe  vom  5.  Oktr>hfr  v.  Js  betreffs  Errichtung  eines  neun- 
klassigen  humanistischen  Mädchcng>  ninasiums  in  N..  habe  ich  nach  allen 
Seiten  einer  erneuten  und  sorgfältigen  Prüfung  unterzogen.  Ich  erkenne  die 
selbstlose  Absicht  des  Vereins,  denjenigen  Mädchen,  welche  sich  akademnchen 


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Mttteüungen, 


157 


Studreii  V  i<!men  wollen,  die  Gelegenheit  zu  guter  und  gründlicher  X'orbildung 
zu  gefahren,  gern  an,  vermag  mich  aber  davon,  dass  der  geeignetste  Weg 
hicmi  die  Gründung  eines  humaiustisclieii  Vollgympasimn«  sei,  um  lo  weniger 
SU  ftbtneugra,  ab  gerade  jetit  in  Verfolg  des  AUerliBclMten  Erlasses  vom 
98.  November  v.  Js.  auf  dem  Gebiete  des  hfiheren  Schulwesens  Wandlungen 
sich  vorbereiten,  welche  die  Voraussetzungen,  von  denen  die  Eingabe  des 
Vereins  ausgeht,  in  wesentlichen  Punkten  als  hinfällig  erscheinen  lassen. 
Auch  beruht  es  auf  einer  Verkennung  des  Wesens  und  der  Bestimmung  der 
bestehenden  GymnasiaUnme  HIr  Mädchen»  wenn  der  Verein  ihnen  die  Auf« 
gäbe  ittweisen  will,  mit  ihren  Schfilerinnen  in  vier  oder  fünf  Jahren  den 
neunjährigen  Lehrgang  des  Gymnasiums  zu  durc^u ü'  n.  Ihre  Aufgalie  werden 
sie  viflnu-hr  darin  zu  erkennen  haben,  die  beiden  Bildungsgänge  in  orga- 
nischen Zusanunenhang  zu  setzen  und  auf  Grund  der  allgemeinen  Bildung, 
wie  die  höhere  Mädchenschule  sie  zu  gewähren  vermag,  in  einer  Leliriorm, 
die  dem  Verständnisse  erwachsener  Mädchen  entspricht,  ihre  Schülerinnen 
ztt  den  Zielen  des  Gymnasiums  zu  fähren»  nicht  in  der  Art  einer  Presse  für 
die  Reife|»tifttng,  sondern  in  geordnetem,  methodisch  fort* 
schreitendem  Lehrgange,  der  naturgemäss  auf  diejenigen  Gebiete 
sich  konzentrieren  wird,  welche  neu  an  die  Schülerinnen  herantreteiL 

Ich  vermng  daher  die  Genehmigung  iwr  F.röffnung  einer  Gymnasial- 
sexta und  cnur  Gymnasialtertia  für  Mädchen  in  N.  zu  Ostern  d.  J.  nicht 
zu  erteilen. 

Dabei  verkenne  ich  keineswegs,  dass  dem  höheren  Unterrichte  der 
Mädchen  im  Laufe  der  Jahre  neue  Aufgaben  erwachsen  sind,  und  dass  die 
gegenwärtige  Lehrordnung  der  höheren  Mädchenschuten,  lunächst  wenig- 

stens  die  der  höchstentwickelten  Anstalten,  einer  zcitgciniissen  Fortbildung 
fähig  und  bedürftig  ist.  Ich  bin  aber  überzeugt,  dass  die  höhere  Madchen- 
schule, die,  den  Bedürfnissen  folgend,  im  wesentlichen  ohne  behördlichen 
Zwang  und  ohne  Prüfungsdruck,  als  freie  Bildung  sieb  entwickelt  hat,  allge- 
mda  als  Einheitsschule  und  als  Grundlage  für  weitere  Bildungsgänge,  welcher 
Art  sie  auch  seien,  erhalten  bleiben  muss,  und  dass  es  ein  verhängnisvoller 
Irrtum  wäre,  sie  ihrem  eigentlichen  Berufe  zu  entfremden,  und  von  dem 
Bedürfnisse  und  den  Neigungen  einer  beschränkten  Minderzahl  die  Bildungs- 
einrichtungen für  die  grosse  Mehrheit  der  Mädchen  abhängig  machen  zu 
wollen," 


Mit  RuckMcht  auf  den  Mangel  an  Volksschullelnri  n  ist 
die  amtliche  Nachweisung  über  die  l  requenz  der  Seminare 
und  PräparandenanstaUen  der  Monarchie  von  Interesse. 

Im  Wintersemester  llMXt/i'.KJl  sind  die  staatlichen  Schul - 
lehrer-  und  Lehrerinnen-Seminare  von  11,477  Zöglingen  (77 
mehr,  als  im  Sommersemester  1900)  besucht  worden.  Nach  dem  Etat  sollte 
sich  die  Frequens  auf  11^  belaufen,  so  dass  die  Wirklichkeit  den 


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158 


Etat  um  141  übertraf.  Die  staatlichen  Präparandenan' 
stalten  waren  im  Wintersemester  1900/1901  von  S774  Zaglingen  (Iii  mehr, 
als  im  Sommersemester  1900)  besucht.  Narh  dem  Etat  sollte  sich  die  Fre- 
quenz auf  24&5  belaufen,  sodass  in  Wirklichkeit  319  Zöglinge  mehr 
vorhanden  waren,  als  im  Etat  vorgesehen.  Aus  diesen  Zahlen  ist  ersicht- 
lich, dass  der  Besuch  der  Seminare  und  Präparandenanstaltcn  sich  im 
Wintersemester  gesteigert  hat,  und  dass  demgemäss  auch  Aussicht  auf  allmäh- 
liche Beseitigung  des  Volksschullehrermangels,  der  sich  nach  den  Aeusse- 
rungen  des  Kultusministers  auf  löOO  Personen  belief,  vorhanden  ist. 


Bcseiti^^rung  des  Religionsunterrichtes 
aus  den  Schulen?  Pfarrer  Bauer  in  Gro.ss  - Mückwar 
nennt  in  der  „Christi.  Welt"  die  übliche  Pädag;ogik  eine 

„Peitsch-  und  Zuckerbrot  -  Methode  des  körjterlichen  und  geistigen 
Knufifens  von  hinten  und  der  Berechtigungen  von  vorne,  erffült  mit  eiiwm 
Sohranben-  und  Zangengeist,  der  selnoi  Stola  darein  aetzt,  Dinge  an*  den 
Sehfliem  henmaanfragen,  die  nie  in  Ihnen  waren,  nnd  efeh  deslialb  genötigt 
sieht,  die  Autworten  (der  Kinder)  schon,  in  die  Fragen  (der  Lehrer)  zu  ver* 
stecken  imd  sich  und  andern  etwas  vorzumachen"; 

..einen  Anscliannnfrsnnterricht,  der  alle  Anachaunngen  durch  Begriffe 
ersetzt  und  unter  Begrilieu  erstickt"; 

„einen  Natnrwissenschaitsnnterricht,  in  dem  die  Kiuder  gewaltsam 
Ton  der  Natur  entfernt  werden"; 

„einen  Deutschunterricht,  in  dem  ein  armes  Gedicht  so  lange  erklärt 
wird,  bis  poetische  AtiafttintiMg  und  künstlerische  Emptindong  zum  Teufel 
sind,  und  die  öde.  <:rrat)c  Schn1<]ual  aus  ihm  lieraoagrinst,  wie  ans  allem, 
was  die  Schule  bisher  angefaaet  hat.*' 

„Weim  ich  konservativ  oder  siumiuisch  wäre,  forderte  ich  in  der 
Schale  iwei  Stunden  wSchentUcdi  ScafaUsmna»  von  einem  Stwlsldeniokrateii 
zu  geben,  nur  mit  der  Verpfliehtnngt  die  approbierte^  pidagoglaeheMetiiod« 
anSttWenden.   Hau  würde  staunen,  wie  das  helfen  würde!'* 

Diese  Unterrichtsmethode  verekelt  die  l^eli^non.stun'len. 

.,in  deren  sokratischer  Luft  kein  Gelieimiiis  mehr  atmen  kann,  in 
denen  alles  höchste  und  tiefste  platt  gefragt  wird." 

„Man  zerbridit  sich  den  Kopf  darüber,  weshalb  Luther  so  unpopulär 
unter  uns  geworden  ist.  Weil  jedes  Wort  seines  Katechlamna  ....  vom 
Schulekel  trieft.  Unsere  Synoden  enolittpfen  sich  in  YorsehlSgen,  wie  dem 
Volke  die  Religion  zu  erhalten  sei.  Zu  erhalton  is;t  da  nichts  mehr; 
aber  wer  sie  sie  wieder  ins  Volk  bringen  will,  der  befreie  sie  einmal  vom 
Schulzwang  .  . 

„Aber"  so  bchiiesst  der  Mann,  „die  l''reuude  der  lieligiou  hleibeu 
dabei:  mehr  Religion  in  der  Schnlel  Je  mehr  der  Schulnnterrieht  ona  die 
Bflligion  ▼erdirbt,  deato  mehr  davon  mttasen  wir  haben  I  Die  Masse  mnss 
es  wieder  einbringen.'* 


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159 


Der  HeraiLsgeber  d«r  „GhiliUidieii  Welt^'  «Uirt,  er  aet  eiv 
ichroeken  derttber»  wte  tM  Zjmttmmnng  die  Loeiiiig  de«  FCMrren  Bener 
gefunden  hübe. 


Bibelkritik  und  R  e  Hg  i  o  nsiinterri  c  h  t.  Ueber 
dieses  Thema  sprach  auf  der  Hauptversammlung  des  Evange- 
lischen Vereins  der  Provinz  Sachsen  Professor  Dr.  Kautzsch- 
Halle  Dabei  begründete  er  nach  der  Päd.  Ztg.  folgende  Satze: 

1.  Die  von  Tag  zu  Tag  sich  vergrössemde  Kluft  zwischen  den  wirk- 
Hohen  —  nicht  bloss  angeblichen  •-  Tlesaltaten  der  Bibel  Wissenschaft  einer- 
seitB  und  dem  landläufigen  Betrieb  des  Religioufiuuterrichts  auf  allen  Stufen 
anderseits  begründet  einen  Notätaud,  der  driugeud  nach  Abhilfe  ruft. 

3.  Auf  «Uen  Stufen  dee  Beligionsuxkterrtehto  bto  nr  obeceten  hlnanf 
ist  die  BOgeneante  blbUadie  Kritik  niemalB  Sdbetewaek,  eondeni  immer  nur 
Mittel  zum  Zwecke,  sofern  einerseits  durch  sie  das  VerständolS  des  Schrift- 
inhalts  im  einzelnen,  andrerseits  daa  Verständnis  der  Offenbarungsgeschichte 
im  ganzen  gefördert  wird.  Nach  diesem  Grundsatz  ist  auch  zu  beuiesisen, 
in  welchem  Umfange  die  Ergebnisse  der  litteraturgeschiditlichen  Forschung 
mitztttellMi  aiud. 

3.  Die  Gtfahr  einer  Verwirrung  der  Gemtttor  oder  ger  eines  Aerger- 
nisses  schwindet  in  dem  Messe,  als  die  Unterweisung  von  einer  ohristileliMi 

Persönlichkeit  ausgeht,  welche  die  wahren  Glaubensinteressen  von  irgend 
^vplr}\en  kritischen  Ergebnissen  unberührt  weiss,  und  bei  der  kein  Zweifel 
lie^iehen  kami,  doss  es  ihr  nicht  um  das  Zerütöreu,  iioadem  um  das  Erbauen 
zu  thun  ist,  und  weiter  in  dem  Motise,  als  zwischen  Thatsachen  und  Hpyo- 
fhesen  untersdiieden  wird.  LetEterss  ergiebt  von  selbst  die  Notwendig- 
keit dsfis  der  ITntwweisende  des  Feld  bis  xu  dnem  gewissen  Grade  wirk- 
lich beherrscht. 

4.  Die  untere  Stufe,  also  in  der  Hauptsache  die  gesamte  Volksschule, 
kann  einer  direkten  Heranziehung  der  Kibelkritik  so  gut  wie  völlig  entraten, 
dagegen  nicht  einer  Verwertung  ihrer  Ergebnisse.  Letztere  erfuigt  a}  durch 
die  Attswslü  derjenigen  gesdilcbtllchen  Absdinltte,  die  »nf  Grund  der  sltsn 
Quellen  Uber  den  wirklichen  Gesdhicihtsverlsuf  bertehten«  b)  durch  die  voll- 
ständige Ausscheidung  dessen,  was  der  theologischen  Reflexion  und  Theorie 
der  späteren  Quelle  angehört,  c)  durch  eine  solche  Beleuchtung  de^  religiösen 
Inhalts,  die  so  viel  als  möglich  sowulü  inbetreü'  des  GottesbegriÜ's  wie  der 
Ethik  und  der  universeilen  Bestimmung  der  Keligion  die  Ergäuzungübedtirf- 
tigkeit  und  den  lediglich  vorbereitenden  Charakter  der  altteetunentUchen 
Offenberungsstnfe  erkennen  lehrt. 

5.  Auf  der  mittlem  Stufe,  d.  h.  etwa  in  den  mittlem  Gymnasial- 
klassen und  den  entsprechenden  Klassen  anderer  Ajistalten,  einschliesslich 
der  untern  Sominarklassen,  kann  bereits  eine  unumwundene  Darlegung  des 
Thatbestandes,  u.  a.  auch  eine  Unterweisung  über  das  Wesen  des  Mythus 
und  der  Sage,  stattiindeu,  natürlich  immer  mit  sorgfältiger  Berücksichtigung 
des  in  dem  «weiten  Lsitssti  ausgesprochenen  Ksnons  und  des  bei  den 
Schttlem  vorsnsgssetsten  Verständnisses. 


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160 


6.  Auf  dar  öbwwtwi  Gfaifo  (Obigymaslnm  ti.  a.  w.,  oben«  Wimiiiar 
fetettt  «ibh  m  dmt  ntiktlMi  MitteiloDg  4«  Thatbettaadae  die  Einfülinui^ 
in  diejenigen  allgemeinen  Geetchteptinkte,  ohne  deren  richtige  Erfassang 
«in  vollbewn^tes  Yerst&ndniB  und  Beurteilen  des  Thatbestandea  anii)ö<n^lich 
ist.  Zn  diesen  Geeichtspankten  gehören  vor  allem  drei  gpezifische  Chai  akte- 
ilstika  der  altteetamentUchen  litteratxxr,  uJüulich  ihre  so  gut  wie  ausschliebs- 
lich  leligiöee  Tendenz^  der  Hangel  des  Begrifik  llttarariflohen  fifgentoms 
und  der  igfSbatlMg  iiÜMilMnd«n  Bedeatoog  dar  Haggadah  und  das  lUdnach. 


Zur  Frage  des  erd-  und  völkerkundliclien  Unter- 
richts veröffentlichte  die  deutsche  Kolonialxeitung  nachstehende  Mit- 
teitang:  In  Antfillinuig  der  von  der  vorjilir^eii  Hanptversammlung  io 
Strasibarg  gefassten  Rcsoludm  —  betreffend  Verroehning  der  Lehratfihle 

für  Geographie  und  Völkerkunde  auf  den  Universitäten  und  den 
icchnischen  Hochschulen  sowie  Erweiterung  des  geographischen 
Unterrichts  in  den  vorbereitenden  höheren  Lehranstalten  —  und 
mit  Rücksicht  aul  den  von  der  Abteilung  Zoppot  auf  der  diesjährigen  Haupt- 
versammlung in  Koblenz  geäusserten  Wunsch,  dass  auch  in  den  niederen 
Schulen  unsere  kolonialen  und  maritimen  Bestrebungen  mehr  als  bisher 
berfidesiditigl  werden  mochten,  sind  seitens  des  Pkisidiums  der  Deulschctt 
Kolonialgesellachaft  entsprechende  Anträge  an  die  Unterrichtsverwaltungen 
der  deutscfien  Bundesstaaten  gerichtet  worden.    Das  Ergebnis  der  bis  jetzt 
eingegangeneu  Antworten  lässt  sich  kurz  dahin  zusammenfassen,  dass  von 
allen  Seiten  die  angeregten  Fragen  eingehende  Würdigung  cnahren  haben, 
die  beafigtichen  Erwägungen  aber  sum  Teil  noch  nicht  zum  Abschloss  ge- 
langt sind.    An  dar  Univeraitit  Berlin  aind  Indeaaen  bereio  awei  neue 
Lehrstühle  für  Völkerkunde  errichtet,  für  Kiel  steht  die  Begründung  einea 
solchen   unmittelbar  bevor,   und   auch   für   die  technisclien  Hoch- 
schulen in  Danzig,  Aachen  und  Hannover  sind  geographische  Professuren 
in  Aussicht  genommen.   Eine  Ausdehnung  des  Geographie  Unterrichts  auf  den 
Gymnasien  und  Realgymnasien  erscheint  in  einzelnen  Bundes- 
staaten entbehrlich,  weil  dort  die  Geographie  schon  jetzt  ausgiebig  gepflegt 
wird;  in  anderen  wird  davon  eine  Ueberbürdung  der  Anstalten  befürchtet. 
Becfiglith  der  niederen  Schulen  endlich  stimmen  sämtliche,  bis  jetzt 
eingegangenen  Antworten  darin   überein,  dass  der  Unterricht  in  der  Geographie 
schon  auf  die  deutschen  Kolonien  —  zum  Teil  mit  Vorliebe  —  erstreckt  wird. 


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• 


Bibiiotheca  pMO'-psycholo£;ica« 

Von  O.  Pfungst. 


I.  Allgenittlne  Psychologie. 

Aars,  Kr.  B.  R.    Analyse  de  i'idie  <)e  J*  mwmle.    CbrisUaai«,  J.  Dvbwad, 

1899,  8".  27  S. 

Aar«,  Kr.  B.  R.    Zar  iMgrehologtocIieii  Analyse  der  Welt  Proiektions- 

Philosophie.    Leipzig,  J.  A  Barth.  1900,  gr.  8*.  VII  und  295  S. 

Accinelli,  Fr.  Dell'  autosuggestione.  Uninne  med.  ital..  11>00,  IV,  8,  59. 
Accinelli.  Fr.  Del  tempcraniento.  Unione  med.  ital  ,  IHOO,  IV,  19,  146. 
Accinelii,  Fr.    Nevrosi  cd  intclligenza.    Unione  med  ital.,  lÖOO,  iV,  Hl,  244. 

Ach,  N.    Ueber  die  Beeinflussung  der  Auffassungaiahigkeit  durch  einige 

Arzneimittel.    Psycho!.  Arb.  hrg.  v.  Kraepelis,  III,  2. 

Achelis,  Th.  Die  Philosophie  in  ihrer  Erneuerung  durch  Sociologie  und 
Psychologie.    Zeitschrift  für  Sozial  Wissenschaft,  1899,  185 — 190. 

Adamkiewicz.  A.   Zur  Mechanik  des  Gediditnisses.  Zeitschr.  f.  klin.  Med., 

1900.  40,  5  und  6. 

Adamkiewicz,  A.    Wie  entsteht  und  wie  unterliegt  der  pathologische  Ge- 
danke?  Ein  Beilrag  zur  Physiologie  und  zur  Pathologie  des  Willens. 
Med.  Woche,  1900,  I,  29^-84. 
Alt,  F.  Ueber  iMychische  Taubheit.   Monatsschritt  f.  Ohrenhcilk.,  \m,  12, 
Ann^.  L',  Psychologiquc.  fi.  Jahrg..  hrg.  v.  A.  Binet,  H.  Beaunis  u.  Th.  RiboL 
Paris,  Schleicher  Frcrcs,  liKKi,  K«,  774  S. 

Baldwin,  J.  M.  Social  and  ethical  interpretations  in  mental  development: 
a  study  in  social  psychology.   N.  York,  Macmillan,  1899,  1?,  14  und 

574  S. 

Baldwin,  J.  M.  Das  soziale  u.  sittliche  Leben  erklärt  durch  die  seelische 
Entwicklung.  Nach  der  2.  engl.  AuH.  übers,  v.  R.  Rfidemann.  Leipzig, 
J.  A.  Barth.  inOO,  8',  406  S. 

Beebe,  Br    F.    The  Physical   Basis  ol  Mtnd.    Ctncinnati  Lancet-Clin., 

1.  Dec.  1900. 

Beetz,  K.  O.  Einführung  in  die  moderne  Psychologie.  T.  1.:  Allg.  Grund- 
legung.  Osterwieck-Harz,  A.  W.  Zickfeldt.  1900,  ST,  424  S.  m.  4  Tat 

Benigni,  E.   Elementi  di  psicologia  sperimentale  posittva.  Turin,  Roux  e 
Viarengo,  1900.  16*.  210  S. 

BenUey,  J.  M..  The  Memory  Image  and  its  (Qualitativ«  Fideltty.  Thesit. 
Worecflter,  1900^  8*,  48  S. 

Bergmann,  J.  Seele  u.  Leib.  Archiv  für  systematische  Philosophie,  5,  25—68, 

Bergson.  TT.  Le  rire.  Essai  stu*  la  signification  du  comique.  Paris, 
F.  .Mcan,  1900.  IS\  VIT  und  206  S. 

Berillon.  Dedoublemcnt  de  la  personnalitc  sous  rinfluence  dtt  morphimsme. 
Arch.  de  NeuroU  1900,  IX,  860. 

Bersano.  A.  Per  la  storia  della  teoria  sui  rapporti  fra  genio  e  pazria. 
Arch.  di  psichiatr.,  sc.  pen.  etc..  1900,  XXI,  4 — 5,  478. 

Bethc,  A.  Noch  einmal  die  psychischen  Qualitäten  der  Ameisen.  Arch. 
f.  d.  ges.  Physiol.,  1900,  79,  1  und  2. 

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Sdiriftleftung:  P.  Kern  sie  s,  Berlin  NW.,  Piulstr.  33. 
Verlas  von  Herminn  Walther,  Berlin  SW..  Wilbdmstr  47. 
OFBck  von  «T  y  p  o  g  r  a  p  h  U",  Kunst-  and  Scttmftidiinai-DniciBnti.  Berlia  SW.,  Friedridütr.  16. 


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Zeitschrift 

Dir 

Fä(ladOdHcl)e  P$y(l)oloaie 

und 

Patl)olOdie. 

Herausgegeben 

von 

Ferdinand  Keinsies  und  Leo  Hirschlaff. 


Jahrgang  III.  Berlin,  Juni  1901.  Heft  3. 


Qedächtnisuntersuchungen  an  Schülern. 

Von 

F.  K  e  m  s  i  e  s . 
III. 

Der  französische  Rechenkünstler  Inaudi  ist  imstande,  eine 
längere  Reihe  von  Zahlen  als  gehörte  Laute  im  Gedächmis 
aufzubewahren  und  mit  ihr  Rechenoperationen  vorzunehmen, 
wenn  sie  ihm  einmal  entweder  vorgesprochen  oder  geschrieben 
vorgezeigt  wird;  im  letzteren  Falle  pflegt  er  sie  leise  durchzu- 
lesen mit  deutlicher  Bewegung  der  Artikulationsorgane.  Wir 
Hessen  ihn  im  Psychologischen  Jnstitut  der  hiesigen  Univer- 
sität eine  Zahlenserie  von  18  Stellen  einmal  taktmassig 
laut  lesen,  und  fast  jedes  Mal  konnte  er  die  Zahlen 
sofort  richtig  wiedergeben;  selten  kamen  Umstellungen  vor. 
Wir  legten  dabei  eine  Versuchsanordnung  zu  Grunde,  die  J. 
Cohn*)  in  seinen  experimentellen  Untersuchung^  über  das 
Zusammenwirken  des  akustisch -motorischen  und  des  visuellen 
Gedächtnisses  beschreibt.  Die  Versuchsperson  sitzt  vor  einem 
Schirm,  in  welchem  ein  durch  Luftdruck  zu  öffnender  Moment* 
verschluss  angebracht  ist.  Den  Ball  hält  der  Versuchsleiter 
in  der  Hand  und  öffnet  den  Verschluss,  nachdem  er  ein  ver* 
abredetes  Zeichen  gegeben  hat.  Es  wird  nun  in  Sehweite  das 
Objekt  sichtbar:  Drei  Reihen  Ziffern  ä  6  in  ein  karriertes  Netz 
eingetragen  (Taf.  I).  Gelesen  wurde  in  10  Sekunden  schnell 

^)  Ztschr.  fiir  j^chologie  und  PIqrsiologio  der  Sinnesorgane.  Bd.  XV. 
Zdtackrift  für  pMnoglidie  Psyebologie  aiid  PailialOKie.  1 


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172 


JP.  Kemnts» 


hintereinander  nach  dem  Takte  eines  Metronoms,  das  180 
Schläge  in  der  Minute  machte,  80  dass  auf  jede  Ziffer  0,56  Sek. 
entfielen.  —  Inaudi  fasste  immer  drei  aufeinander  folgende 
Stellen  zusammen.  Er  las  sie  in  französischer  Sprache,  be- 
hielt auch  die  französischen  Laute  und  gab  das  Behaltene  in 
deutscher  Sprache  an.  Für  die  Reproduktion,  die  leicht  von 
statten  ging,  verbrauchte  er  ca.  10  Sekunden.  Diese  Leistung 
konnte  keine  der  unten  angeführten  Personen  auch  nur  im 
entferntesten  zu  Wege  bringen. 

Taf.  I. 


4 

1 

8 

0 

9 

5 

9 

3 

0 

l 

7 

4 

2 

1 

r  . 

8 

Wir  Hessen  ihn  darauf  3  Reihen  von  Buchstaben  (Kon- 
sonanten')  ä  4  einmal  in  derselben  Weise  durchlesen  und 
aus  dem  Gedächtnis  wiederholen,  auch  ihre  Stelltmg  im  Netz 
bezeichnen;  jeder  letzte  Buchstabe  einer  Reihe  wurde  beim 
Lesen  betont.  L  reproduzierte  nur  4  Buchstaben  von  12  und 
gab  an,  dass  er  sie  kls  optische  Zeichen  vor  sich  habe,  wahrend 
er  Z  ah  1  e  n  niemals  in  dieser  Form  behalten  habe ;  auch  setzte 
er  jene  öfters  an  eine  falsdie  Stelle,  vergl.  Taf.  II  u.  III.  Er 
machte  jedoch  schnelle  Fortschritte,  wie  ein  anderes  Beispiel, 
siehe  Taf.  IV  und  V,  zeigt. 


T«f.  n. 

gelesen  : 


Tai.  m. 

J.  behält: 


r 

h 

q 

f 

r 

1 

n 

z 

1 

b 

1 

b 

8 

d 

m 

e 

n 

Taf.  iV. 


Taf.  V. 
J.  behilt: 


q 

f 

C 

j 

8 

k 

g 

d 

t 

P 

m 

Ii 

q 

f 

c 

1-^ 

k 

h 

Tif  .  VL 

K  behält: 


r 

n 

f 

1 

m 

c 

Taf.  VIL 

K.  behilt 

q 

c 

j 

1 

m 

T*f.  VUL 

Sch.  behilt: 


r 

M 

f 

s 

n 

z 

Taf.  IX. 

Sch.  behUt: 

q 

8 

c 

j 

t 

m 

u 

P 

M.  behilt: 


f 

h  1  b 

Tal-.  XL 
M.  behilt: 


*)  Vergl.  J.  Cohn  L  c 


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173 


Wenn  man  diese  Gedächtnisleistungen  Inaudis  mit  denjeni- 
gen von  drei  anderen  Versuchspersonen  vergleicht,  so  kommen 
ihm  in  Bezug  auf  Quantität  des  Behaltenen  K,  u.  Sch.  (Tai. 
VI — IX)  gleich,  während  M.  (Taf.  X — XI)  ersichtlich  zurück- 
bleibt ;  in  Bezug  auf  Korrektheit  des  Behaltenen  übertrifft  er 
in  1  af .  V  sie  sämtiicli.  K.  erinnert  sich  in  Taf.  VI  u.  VII 
ausser  den  angegebenen  Buchstaben  noch  dreier  Oberlängen, 
die  er  durch  Striche  ]:)ezeichnet.  M.,  der  ausserordentlich 
akustisch  veranlagt  ist,  schreibt  die  Buchstaben,  deren  Stel- 
lung er  niciii  anzugeben  vermag  unter  das  Netz.  Sch.,  der 
ebenfalls  Akusiiker  ist,  macht  mehr  Umstellungen  als  I.  u.  K. 

Aus  dem  verschiedenen  Verhalten  Inaudis  —  ob  akustisch 
oder  visuell  —  beim  Einprägen  von  Zahlen-  lesp.  Buchstaben- 
serien nach  derselben  V^ersu<  hsanordnuug  <  rgiebt  sich  bei  ihm 
eine  beträchtliche  Differenz  tür  die  Quaniiiai  des  Bclialtenen. 
Das  führte  auf  den  (ledanken,  ob  nicht  jede  Person  bei  ver- 
schiedenen Objekten  mfolge  wechselnder  Beteiligung  der 
Sinnesgebicte  de^  Auges  und  Ohres,  wobei  zugleich  Begabung, 
Uebung  und  Interesse  zum  Ausdruc  k  kotiimen,  oder  auch  l)ei 
demselben  Objekt  nur  durch  Anwendung  möglichst  einseitiger 
Lernmelhoden  (akustisch  oder  visuell)  vers(  Inedene  Leistungen 
nn  Behalten  erzielen  werde.  Nach  einer  grosseren  Anzahl  von 
Versuchen  mit  den  ver.-.chiedensten  Personen,  Lernobjekten 
und  Lern  verfahren  gelangten  wir  zu  der  Ueberzeugimg,  dass 
es  \"ersuchs|)ersonen  giebt,  die  sich  ein  geeignetes  Lernobjekt 
je  nach  der  \oi  wiegenden  Beteiligung  des  einen  oder  anderen 
Sinnesgebietes  mit  wechselnder  Leichtigkeit,  Festigkeit  und 
Korrektheit  ein/u})rägen  vermögen. 

Um  nur  einiges  hier  anzuführen,  so  hallen  wir  Personen, 
die  laf.  II  oder  IV'  schon  nach  3  Darbietungen  fehlerfrei  her- 
sagen konnten,  die  dagegen  eine  ebenso  angelegte  Tafel  mit 
einfachen  geometrisrhen  Figuren,  spitzen  und  stumpfen  Winkeln 
nach  I3  und  iiiclii  W  iederholungen  nicht  aufzeichnen  konnten. 
Umgekehrt  gab  es  Personen,  die  zur  Erlernung  von  Taf.  11  stets 
9  Wiederholungen  brauchten  und  für  das  I  igurenschema  auch 
nicht  viel  mehr.  Jene  wurden  von  uns  als  akustisch,  diese  als 
visuell  betrachtet. 

V\iv  pädagogische  Zw  e(  ke  schien  es  nützlich,  Massenunter- 
suchungen in  Schulklasscn  mit  Wortrciiieii  als  Lernmaterial 
anzustellen.    Solciie   Versuche   fanden   statt   in   IV,   U  Iii 


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174 


W.  Kmties. 


und  U  II  einer  Oberrealschule,  als  Einprägungsstoff  wurden 
10  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  aiisgewählte  lateinische 
Vocabeln  mit  Bedeutungen  benutzt.  Aus  den  Resultaten,  die  im 
Jahrgang  1900,  Heft  1  und  2  dieser  Zeitschrift  veröffentlicht 
sind,  sei  hervorgehoben,  dass  das  Lernen  nach  dem  visuellen 
Verfahren  durchschnittlich  geringere  Leistungen  als  nach  dem 
akustischen,  bezw.  kombinierten  ergab ;  der  Unterschied  betrug 
ca.  10  f>,o  in  Bezug  auf  Qualität  und  Quantität  des  Behaltenen. 

Da  aber  eine  Schülerklasse  mehrere  Typen  aufweist  (vergl. 
'es  Verfassers  Untersuchungen  zur  Arbeitshygiene  der  Schule*) 
so  gestatten  jene  Resultat-Zahlen  allenfalls  Schlüsse  auf  die 
Methodik  der  Unterrichtsfächer,  weniger  jedoch  auf  die  Ge- 
dächtiiisciualitäten  unserer  Schüler;  hierfür  sind  Einzelunter- 
surhungcn  an  Schülern  erforderlich,  die  sich  auch  auf  exak- 
terer Basis  ausführen  lassen.  Einige  Beiträge  in  dieser  Rich- 
tung sollen  Uli  folgenden  nnigeteilt  werden. 

An  Stellr  der  10  lateinischen  \'okaüL'iri  wurden  10  zweisilbige 
sinnlose  Wörter  bcstrlirnd  aus  je  3  Konsoiiaiiien  und  2  Vo- 
kalen resp.  Diphthongen  xcrwindet  ;  jedes  ..Fremdwort"  erhich 
eine  zweisilbige  dcuL-^che  Bedeutung,  du'  keine  lauilirhe  Aehn- 
lichkeit  iiiit  ihm  besass.  Es  lag  nah(\  aucli  statt  der  Bedeutungen 
sinnlose  Wortgebilde  zu  wabh  n.  doch  erwiesen  sich  die  sinn- 
vollen deutschen  Wörter  wertvoller.  Da  sehr  häufig  die  sinn- 
losen Wörter  stark  \  crslüininelt  oder  modifiziert  wiedergegeben 
werden,  bo  sind  sie  schwer  wiederzuerkennen,  wenn  nicht 
daneben  ein  bekanntes  Wort  als  liidikaior  auftritt.  Die  Be- 
deutungen bilden  gewisserniass  n  das  Skelett,  das  leichter  und 
korrekter  behalten  wird  und  den  Frenidworiein  als  Stütze  dient. 


Beispiel  eines  Lemstückes. 


1.  lümsi 

2.  aipaf 

3.  edbor 

4.  emok 

0.  tOgMI 


achtbar 

Kutscher 

Ueblich 

Flaache 


i>,  vagul 

7.  kögri 

8.  f(S(lok 

9.  rafus 
10.  gdkol 


neulich 

sebalMA 

Nacht» 

Schmiede 

Bonnig 


Die  Darbietungsart  war  akustisch,  visuell  oder  kombiniert; 
bei  der  ersteren  wurden  die  Wörter  vom  Versuchsieiter  vorge- 


')  Reuther  und  Reichard.  BerUn  1698. 


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175 


sprechen,  bei  der  zweiten  in  grosser  Druck-  oder  Rundschrift 
gezeigt,  bei  der  dritten  gezeigt  und  gleichzeitig  vorgesprochen. 
Doch  wurde  die  Concentration  der  Aufmerksamkeit  mehr  als 
früher  in  die  Versuchsanordnung  einbezogen  und  ferner  die 
beiden  Sinnesgebiete  des  Auges  und  Ohres  strenger  isoliert, 
im  Gegensatze  zu  Cohns  Anordnung,  der  die  verschiedenen 
Sinneagebiete  des  Gedächtnisses  in  ihrem  Zusammen- 
wirken untersuchte  und  eine  Ablenkung  der  Aufmerkt- 
keit  anstrebte. 

Bei  der  akuaiisclicn  Art  Hessen  wir  die  Srhüler  in 
einem  vor  störenden  (Geräuschen  gesrbütztcii  Zinip.ier  mit 
geschlossenen  Augen  sitzen;  bei  der  \iMu-lleii  wurden  ihnen 
die  Wörter  im  Dunkelzininur  als  helle  rrans{)arentc  auf 
einer  geräuschlos  rotierenden  Scheibe  nach  einander  vorgeführt; 
jedes  Wort  wurde  erst  sichtbar,  wenn  es  die  Lichtquelle  er- 
reicht hatte,  \or  der  es  einige  Zeit  verweilte.  Das  Vorsprechen, 
der  Vocabeln  sowohl  als  die  Drehung  der  Scheibe  übernahm 
der  Versuchsleiter,  da  mechanische  Vorrichtungen,  wie  der 
Phonograph  für  den  ersten  oder  ein  Uhrwerk  für  den  zwei- 
ten Zweck  sich  nicht  als  hinreichend  geeignet  erwiesen;  der 
Phonograph  reproduziert  die  sinnlosen  Wörter  nicht  deutlich 
genug  und  ein  in  Gang  befindliches  Uhrwerk  bringt  leicht 
störende  Geräusche  hervor.  Dagegen  übte  sich  der  Versuchs- 
leiter in  kurzer  Zeit  gut  darauf  ein,  nach  der  Fünftelsekunden- 
uhr zu  sprechen,  resp.  die  Pappscheibe  ruckweise  zu  drehen, 
sodass  die  Darbietungszeit  in  engen  Grenzen  variierte,  und  die 
Oscillationen  keinen  Etnfluss  auf  das  Resultat  erkennen  Hessen. 

Die  beiden  Methoden  srhit  lu  n  (Iciii  X'crsuchslf  i  ici  acqui- 
valcnt  zu  sein:  Die  X'ocabeln  wurden  successiv  dai  geboten ; 
nach  jeder  r'errc-jnioii  einer  Wicabel  fand  eine  kleine  Ruhe- 
pause für  Auge  und  Ohr  statt.  .Nach  dcrselljcn  wurde  ent- 
weder das  .\uge  oder  das  Ohr  in  Anspruch  genommen. 
Das  visuelle  \  erfaliren  wnr  im  Vergleich  mit  dem  gewöhnlichen 
Lernen  durch  wiederholtes  Durchlesen  insofern  begünstigt,  als 
das  Transparent  die  Aufmerksamkeit  stark  auf  sich  7.0g.  ähn- 
iirh  das  acustischc  \'et  fahren  insofern,  als  i^ei  ge^.  lilossenen 
Augen  eine  starke  Concentration  vorhanden  war.  Den  Ton- 
hohenunterschieden  beim  Hören  entsjjreehen  die  verschiedenen 
Buchstabengestaiien  beim  Lesen.  Es  wurden  auch  einige  V  er- 


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176 


F»  Jümsies, 


suche  mit  farbigen  Transparenten  gemacht,  die  Resultate  wichen 
jedoch  nicht  nennenswert  von  den  andern  ab. 

Die  Darbietungszeit  hatte  bei  den  Massenversuchen  i  sec. 
pro  Silbe  betragen,  sie  wurde  jetzt  um  das  Zustandekommen 
von  Associationen  möglichst  auszuschliessen,  auf  0,5  sec.  ver> 
kürzt,  sodass  ein  Lernstück  in  20  sec.  einmal  vorgeführt  wurde ; 
doch  wurde  es,  wie  früher  5  Mal  hintereinander  dargeboten» 
demnach  100  sec.  dafür  angesetzt  (continuierliches  Ver- 
fahren). 

Die  Reproduktion  geschah  schriftlich.  Da  stets  einige  Se- 
kunden verstrichen»  bis  der  Schüler  am  Schreibtische  Platz 
genommen  hatte,  und  da  femer  die  Vocabelreihe  in  ihrer  gc 
gebenen  Folge,  d.  h.  die  ersten  zuerst  niedergeschrieben  wer- 
den s<^lten,  so  kamen  hier  nicht  die  primären  Gedächtnis- 
bilder, sondern  wiederholt  unbewusst  gewordene  zum  Vorschein. 
Die  behaltenen  Wörter  wurden  nach  9  Gesichtspunkten  ausge 
zählt:  I.  Summe  der  behaltenen  Wörter,  2.  Zahl  der  richtig 
mit  einander  verknüpften,  3.  der  falsch  verknüpften,  4.  der 
unverknüpften  Fremdwörter,  5.  der  unverknüpften  Bedeutungen, 
6.  der  synonymen  Bedeutungen,  7.  der  Umstellungen  gegen  die 
ursprüngliche  Reihenfolge.  8.  der  fehlerhaften  Reproduktionen, 
9.  der  nicht  wiederzuerkennenden  Wörter. 

In  einer  zweiten,  lehrreichen  V'crsuchsserie  wurde  das  Lern* 
stück  der  Versuchsperson  so  oft  \  orgeführt  und  von  dieser  nach 
jeder  Darbietung  reprcKluziert,  bis  sämtliche  Vokabeln  zum 
ersten  Male  in  erkennbarem  Zustande,  wenn  auch  nicht  korrekt 
wiedergegeben  waren,  die  Zahl  der  notwendigen  Wiederholun- 
gen notiert  (discontinuierliches  Verfahren).  Die 
Auswertung  geschah  wie  vorhin.  Die  erste  Methode  hat 
den  Nachteil,  dass  noch  einige  Zeit  nach  der  Repro- 
duktion Wörter,  resp.  Wortfragmente  im  Gedächtnis  der 
Versuchsperson  auftauchen  können,  die  bei  der  Auswertung 
nicht  mehr  Reachumg  finden.  Dagegen  leidet  die  zweite  Me- 
thode an  tlem  Uebelsiand.  dass  es  zuweilen  zvveifelliaft  ist.  ob 
ein  Wort  schon  als  erkennbar  angesehen  werden  kann  oder 
nicht.  Die  erwähnten  Nachteile  treten  indessen  in  praxi  weniger 
hervor,  als  in  der  Theorie:  die  Ergebnisse  beider  Bestuuniungs- 
methoden  stehen  in  i-linkl  inj;  nnt  i  inancler.  Das  continuierliche 
X'eriahren  erscheint  einheitliche!  und  markanter  als  das  dis- 
kontinuierliche, bei  dem  nach  jeder  Darbietung  die  Akte  de» 


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O;  > 

H  ^ 

>        00  — 

00      -o  CM 

>Ä 

CO 

CO 
cn 

behaltene 

Wörter 

richtig 

verknüpft 

falsch 

verknüpft 

unvcrkn. 
Fremdwörter 

unverkn.  Be- 
deutungen 

synonyme 
Bedeutung 

Umstellun- 
gen 

fehlerhafte 
Reprod. 

ungenannte 
Wörter 

1 

1 

palum  Freunde 
molbü  heiter 
sogud  fühlen 
teköm  gestern 
folud  Thräne 

zawid  Stühle 

lupar  adlig 

matul  reizen 

korbü  weilen 
pefat  Bücher 

19,2  sec. 

palum  Freunde 
molbü  heiter 
sogud  fühlen 
teköm  gestern 
polud  Thräne 

sawid  Stühle 

mopal  adlig 

reizen 

korbü  weilen 
pefat  Bücher 

20,2  sec. 

i  ^ 

palum  Freunde 
molbü  heiter 
sogud  fühlen 

teköm  gestern 
folud  Thräne 

adlig 

reizen 

sabid  Stühle 

korbü  weilen 
prfat  Bücher 

18,8  sec. 

palum  Freunde 
molbQ  heiter 
fühlen 
teköm  gestern 
Thräne 

zabid  Stühle 

adlig 

reizen 

korbü  weilen 
pefut  Bücher 

19  sec. 

M 

palum  Freunde 
morbü  heiter 

teken  gestern 
zabid  Stühle 

adlig 
reizen 
korbü  weilen 
pefat  Bücher 

2U  sec. 

palum  Freunde 
heiter 

reizend 

korbü  weilen 

pefat  Bücher 
20,4  sec. 

palum  Freude 
zorbQ  reizend 

i 
1 

pefat  Bücher 
22  sec. 

Ii 
Ii 

f  '  «M*     c«     <•$     ^     id       >d             od     OS  e 

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178 


F,  Kemäes. 


Tabelle 


I 

29.  4.  1S99 

Vi 

II 

5. 5. 1699 

m 

21.  B.  1899 

IV 
20.9. 1899 

W,  W,  Wa 

behaltene  "Wörter 
richtig  verknüpft 
i«l8ch  verknüpft 

unverkn  Fpcmdw. 

Unvprkn  i^cflf*iit 

5  12  14  20 

Z    lU  \i  £\) 

2 

1 

112 

12  18  20 
tu  ID  £\i 

2  2 

5  12  16  18  l'O 
2 

1 

■» 

9   13    14  20 

/L     1A     1A  'H\ 

•j 
1 

3  4 

synonyme  Bed. 
Umstellungen, 
lAlerliafte  Reprod. 
tuigcn.  Wörter 

12  13 

4  3  4 

1 

2   2  3 
2    2  1 
1  1 

12  13 
3    3    4   S  3 
1  1 

1 

2  3     2  1 

3  3     3  4 
1  4 

sec. 

durchschnittlich 

91  •> 

23  22,4  24,5 
23,3 

21,8 

22,4  21,8  24,2  22 
22.6 

X 

3.  &  1899 

•kastlich: 

XI 
29.  S.  1899 

XII 
13.  9.  1899 

behaltene  Wörter 
richtig  verkoOpft 
falsch  verknüpft 
unverkn.  Fremdw. 
ttuvtrkn.  Beöeut. 

lU  14  16  19  18  20 
6  14  16  18  18  20 

2 

2  1 

5  13  13  17  20 
2  10   8  12  20 
2  4 

1  2 

2  13  1 

10  15  16  18  20 
8  12  14  16  20 
2 

2 

12  3 

synonyme  Bed. 
Umstellungen 

fehlerhafte  Reprod. 
ungen.  Wörter 

1    1  1 
4    2    2    2  1 
1    2  1 

III  1 

6    3    3  7 
2    2  I 

1          2  1 
1  112 

12    3  2 

sec. 

durchschnittlich 

20,6 

21,8 

21,2  20,8  19  20,2  X9,8 
20,2 

NiedcrsrhrcibcTi>  und  des  Knisiiinens  sich  «  insc  hieben,  wodurch 
das  Gelernte  schneller  bcicstigt  wird;  dennoch  liefert  dieses 
die  interessanteren  Ergebnisse. 

In  Bezug  auf  die  Zeitlage  der  Versuche  ist  noch  zu  er- 
wähnen, dass  sie  stets  am  Nachmittage  zwischen  4  und  6  Uhr, 
meist  nach  Beendigung  der  Schularbeiten  stattfanden. 

Mehrere  Versuche  mit  akademisch  gebildeten  Personen  im 
Alter  von  25  bis  35  Jahren  nach  der  discontinuierlichen  akus- 
tischen und  nach  der  visuellen  Lemmethode  ergaben  ohne  vor- 


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GedäihinisunUrsuihungen  an  Schülern. 


179 


B 


V 

visuell: 

VI 

VII 

VUI 

komblaiert: 

IX 

21.  9.  1899 

*\  10.  1899 

n  n.99 

n.  12.99 

23.  10.  1894 

w,  w. 

w.  w,  w. 

w.^  1 

Wf»  J 

w,  w,  w. 

10      Ift  '»A 

12    18  20 

y  A     IC  on 

1         i  O  £\J 

12   16  20 

1 

2  1 

20 

Oft 

20 

A      1  ^  Oft 

4    12  20 

2  1 

1     1  3 

3     4  1 

3     3  2 
•>•»'> 

^             b  *rt 

2 

2 

2     5  f. 
!  3 

1 

24^  22  23,2 
23,1 

21,8  22,6  20,(> 
21,7 

20,4 

20,6 

20,0  19,8  2U,8 
20,4 

Akustisch; 


XIII 

xrv 

n 

XYI 

XVII 

XYIII 

III 

XI 

18.  9.  1899 

29  9.  1899 

Ö  '- 

Vi 

j  j  1 

0 

^  < 

ei" 

g  ,^ 

?^ 

W,  W,  W,  W,  W, 

W,  W,  W3  W4 

5^ 

«15 

fa  14  17  19  20 

12    12    18  20 

16 

16 

18 

16 

14 

10 

4  10  12  18  20 

8    12   18  20 

12 

14 

14 

12 

12 

14 

4 

0 

2 

4 

0 

2 

l     o     1  1 

1 

2 

1  1 

1 

4 

2 

1 

1 

I  1 

4 

1 

2    4        3  1 

4      3      5  3 

3 

5 

4 

4 

0 

3 

2  111 

1 

4 

2 

2 

23^5  21,2  20.819,0  21,4 

26,218,4  21,817,8 

100 

lOf 

11, ") 

KW 

115 

21,3 

21,0 

20 

20 

20  j 

J3 

20 

23 

angegangene  Uebung  annähernd  dassclbr  Resultat:  6 — 7  Dar- 
bietungen (nebst  Reproduktionen)  Ijis  zur  ersten  vollständigen 
(jedoch  nicht  immer  fehierfreienj  Wiedergabe. 

Beispiel  für  akustisches  Lernen:   (Tabelle  A.) 

Dr.  Scb.  33  Jahre  elf.  20.  4.  99  ebenda  6  Uhr.  Das  LenistOck 
wird  nach  der  7.  Wiederholung  (W^  volltliadig  und  fehlerfrei  auf* 
geschrieben* 

Personen  wie  diese,  die  visuell  und  akustisch  sich  wenig 
unterscheiden  und  nach  ihrer  eigenen  Aussage  ein  ^^leichtes"  Ge- 


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behultene  Wörter 
richtig  verknüpft 
falsch  verknüpft 
unverkn.  Fremdw. 
unverkn.  Bedeutung. 

synonyme  Wörter 

Umslellungen 
Ichlcrhalle  Reprod. 
ungen.  \N  ürter 

'S 

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ik. 
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T3 

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1 

behaltene  Wörter 
richtig  verknüpft 
falsch  verknüpft 
unverkn.  Fremdw. 
unverkn.  Bedeutung. 

synonyme  Üed. 

L'msteüungcn 
fehlerhcifle  Reprod- 
ungen.  Wörter 

See  durchschnittl. 

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182 


F.  JSümsiei. 


dächttiis  besitzen,  wollen  wir  bei  den  folgenden  Fallen  als 
Masstab  (Typus  A]  betrachten.  Sie  gebrauchen  also  ca.  6  Wie- 
derholungen zur  Aneignung  des  obigen  Lemstückes.  Wir  ver- 
gleichen mit  ihnen  verschiedene*  Untertertianer  und  Quartaner 
der  Oberrealschule«  deren  Gedächtnis  z.  T.  bessere,  z.  T. 
schlechtere  Beschaffenheit  zeigt.  Zunächst  einen  Schüler 
Schm.  aus  U  III  im  Aker  von  15  Jahren;  es  wur- 
den im  Laufe  von  Jahren  25  Versuche  mit  ihm  angestellt 
(vgl.  Tabelle  B),  von  denen  die  Mehrzahl  den  letzten 
3  Monaten  angdiörte.  Bei  dem  diskontinuierlichen  visu- 
ellen Lemverfahren  (nach  jeder  Darbietung  schriftliche  Re- 
produktion) bemerken  wir  lein  sprungweises  Vorwärtsschrei- 
ten. In  Versuch  II,  V  u.  VI  ergiebt  die  erste  Reproduktion 
über  die  Hälfte  der  Vocabeln  und  schon  nach  der  2.  Wieder- 
holung ist  fast  das  ganze  Lemstück  praesent,  sodass  eine  3. 
Wiederholung  nur  noch  eine  relativ  unbedeutende  Lücke  aus- 
zufüllen hat.  Dieses  Verhalten  wird  besonders  durch  Versuch 
V  illustriert,  wo  nach  W^  bereits  18  Wörter  richtig  mit  ein- 
ander verkimpi  t  vorhanden  sind.  In  den  anderen  Versuchen 
erzielt  er  dieselben  Leistungen  erst  nach  i  oder  2  Vorstufen. 
Der  durchschnittliche  Zuwachs  an  Wörtern  aus  den  ersten  Ver- 
suchsserien beträgt  5,5.  Bei  Dr.  Sch.  dagegen  nur  2,9.  Bei  dem 
continuierlichen  Verfahren,  das  erst  nach  fünfmaliger  Dar- 
bietung des  Stückes  eine  schriftliche  Wiedt^rgabe  forderte,  ynrd 
die  ganze  Lemaufgabe  von  Schm.  sofort  bewältigt  (VII,  VIII). 

Ganz  anders  fallen  die  acustischen  Versuche  aus.  Hier 
findet  ein  allmähliches  Fortschreiten  statt,  und  zur  Erler- 
nung (l'  T  10  ^'ocabeln  sind  4 — 6  Wiederholungen  in  disconti- 
nuierlicher  Darbietung  erforderlich;  die  durchschnittliche  Zu- 
nahme beläuft  sich  auf  4  Wörter.  In  6  Versuchen  nach  der 
continuierlichen  Methode  (XIV — ^XX)  gelingt  es  ihm  niemals, 
die  20  Wörter  zu  behalten,  das  Maximum  war  *Vi4'  dem 
Combi nierten  Verfahren  schliesslich  (IX)  sind  nur  wie  oben 
3  Wiederholungen  nötig. 

Akustisch  kommt  Schm.  demnach  dem  Typus  A  nahe. 
Wir  wollen  ihn  wegen  seiner  specifisch  visuellen  Fähigkeit 
als  Typus  B  bezeichnen  und  sein  Gedächtnis  zugleich  wegen 
der  geringen  Zahl  notwendiger  Wiederholungen  ein  „sehr 
leichtes"  nennen. 


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GtäächtttinuUtrsuckungm  an  Schülern. 


183 


Für  die  Kniwickelung  di<  :>cs  Ty  pus  kann  vielleicht  in  Be- 
Uacht  kuiumen,  dass  der  Knabe  seine  Spraclifertigkeit  erst 
sehr  spät  erlangt  und  daher  optische  Eindrücke  bevorzugt 
hat.  Seine  Leistungen  in  der  Schule  waren  stets  gering^. 
mit  einziger  Ausnahme  der  mathematischen  Fächer,  in  denen 
er  meist  genügte.  Ausserhalb  der  Schule  erwies  er  sich  als 
eine  ges(  hi»  kte  und  praktisch  veranlagte  Natur.  Seine  geringen 
1  Ol  tbchritte  bedingten  schUesslioh  seinen  Abgang  von  der  Lehr- 
anstalt. 

Den  Gegensatz  zu  diesem  Schüler  und  einen  eigenen  Typus 
C  bildet  nun  der  Uniertertianer  Selu,  mit  dem  zu  derselben 
Zeit  25  Versuche  stattfancli-n. 

Visuell  discuntinuierlich  uerden  durchschnittlich  8.2  Wie- 
derholungen bis  zur  Beherrschung  der  Vocabehi  gebraucht  oder 
2,4  Wörter  pro  Wiederholung  behalten,  arustisch  discontinuier- 
lich  dagegen  5,2c;  Wiederholungen  oder  3.8  Wörter  pro  Wieder- 
holung. Dort  ein  schrittweises  Vorgehen,  nur  gelegentlich 
Sprünge,  deren  Ergebnis  erst  befestigt  werden  muss ;  hier  ein 
etwas  lel)hafteres  Tempo,  etwa  wie  bei  Srhm.  Verglichen  mit 
Typus  .\  bleibt  Sehz  im  visuellen  Lernen  zurück,  im  acusti- 
schen  übertrifft  er  ihn  aber:  in  der  Schnelligkeit  der  Auffassung 
kommt  er  ihm  gleich,  besitzt  also  ein  „leichtes"  Gedächtnis. 

(ForteetsEong  foJgt.) 


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Zur 


Methodik  und  Kritik  der  Ergograplieii-Messttiigen. 

Von 

Leo  Hirschlaff. 

Im  Jahre  1890  beschrieb  Mosso')  einen  Apparat,  Ergograph 
genannt,  der  geeignet  sein  sollte,  den  Verlauf  der  Muskeler- 
müdung  am  lebenden  Menschen  auf  graphischem  Wege  zu 
'  studieren.  Insbesondere  behauptete  Mosso,  dass  die  mittelst  des 
Apparates  gewonnene  Curve,  das  sog.  Ergogramm,  bei  geeig- 
neten \"ersuchsbeding^ngen  Aufschluss  geben  könne  auch  über 
die  Ermüdung  nach  geistigen  Anstrengungen.  Seitdem  sind 
eine  Reihe  von  Arbeiten  erschienen,  die,  wie  z.  B.  die  Unter- 
suchungen von  Maggiora-),  Lombard*),  Kraepelin*),  Rf)ssii»), 
Zoth-  '  .  1  ix  y->l  Scheffer*«),  Desirde-')  u.  a.  m.^*)  den  Einfluss 
somatischer  Faktoren,  wie  B.  der  Nahrungsaufnahme 
und  des  Hungers,  der  Blutzufuhr,  der  Temperatiu-,  ver- 
schiedener Arzneimittel  u.  dergl.  festzustellen  siu  hton;  während 
Keller-'),  Kemsies^),  Binet  und  Henri"),  u.  a.  das  Ergogramm  in 
psychologischer  und  pädagogischer  Hinsicht  auszunutzen  unter- 
nahmen, indem  sie  den  Einfluss  der  geistigen  Thätigkeit,  z.  B. 
der  Schüler,  auf  den  Verlauf  der  Ergographen-Curve  studierten. 

AUe  diese  Untersuchungen  haben  relativ  wenig  Beifall  ge- 
funden, z.  T,  mit  Recht,  z.  T.  auch,  wie  wir  im  folgenden 
nachweisen  möchten,  mit  Unrecht.  Was  zunächst  die  rein 
physiologische  Bedeutung  des  Mosso'schen  Apparates  anbe- 
langt, so  wird  dieselbe  u.  E.  mit  Recht  von  den  Physio- 
logen strengerer  Observanz  gering  geschätzt.  Ein  Apparat, 
der,  wie  wir  unten  sehen  werden,  nicht  gestattet,  einen  einzel- 
nen Muskel  und  seine  Leistungen  isoliert  zu  studieren,  kann 
niemals  Anspruch  darauf  erheben,  zu  exact  physiologischen 
Untersuchungen  herangezogen  zu  werden.  Zudem  besteht  ein 
Bedürfnis  in  «dieser  Beziehung  nicht,  da  alle  in  Betracht  kommen- 
den Fragen  am  präparatorisch  isolierten  Tier-Muskel  einwands- 
freier  studiert  werden  können.  In  der  That  sind  daher  auch  neue 
Einsichten  physiologischer  Natur  durch  die  Ergographen-Unter- 


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Zur  Mttkodät  tmd  KHUk  4er  Mrg^gntpktnM^ftmgm,  185 

suchungen  bisher  nicht  zu  Tage  gefördert  worden,  während 
die  Muskel-Physiologie  mit  Hilfe  exacterer  Methoden  schon 
seit  langem  in  dem  Besitze  einer  grossen  Reihe  wertvoller  Er- 
kenntnisse sich  befindet. 

Ganz  anders  steht  es  um  die  psychologische  Bewertung  des 
Ergographen.  Freilich,  an  Exactheit  und  Eindeutigkeit  der 
Resultate  lässt  der  Mosso*sche  Apparat  selbstverständlich  auch 
auf  diesem  Gebiete  das  Gleiche  zu  wünschen  übrig.  Aber, 
um  es  kurz  zu  sagen :  es  giebt  keine  psychologische  Experimen- 
tal-Methode»  die  an  Exaktheit  auch  nur  annähernd  die  Zuver* 
lässigkeit  der  physikalischen  und  physiologischen  Unter- 
suchungsmethoden erreicht ;  ja,  es  kann  nicht  einmail;  eine  experi- 
mentell-psychologische Methode  von  dieser  Exaktheit  geben. 
Der  Grund  für  diese  Thatsache  ist  in  der  komplicierten  Be- 
schaffenheit des  lebenden  menschlichen  Organismus  und  zumal 
in  der  verwickelten  Struktur  der  menschlichen  Psyche  zu  fin- 
den. Es  ist  eben  generell  unmöglich,  irgend  eine  somatische 
oder  psychische  Erscheinung  im  lebenden  Organismus  so  zu 
isolieren,  dass  der  mannigfaltige,  jeder  exacten  Berechnung  spot- 
tende Einfluss  der  übrigen  Lebensbedingungen  aus  dem  Spiele 
bliebe.  Wer  aber  auf  Grund  dieser  Einsicht  die  experimentelle 
Psychologie  a  limine  ablehnen  wollte,  würde  trotzdem  sehr  thö- 
richt  handeln,  ebenso  thöricht  etwa,  wie  ein  Künstler,  der  seine 
Kunst  aufgiebt,  weil  er  zu  der  Ueberzeugung  gelang^  ist,  dass  er 
niemals  die  Vollendung  eines  Rafael  oder  Beethoven  erreichen 
könne.  Freilich,  etwas  schwieriger  und  umständlicher  wird  es 
wohl  immer  sein,  zu  psychologischen  Erkenntnissen  zu  ge- 
langen, a^ls  etwa  zu  physikalischen  oder  physiologischen  Er- 
gebnissen. Während  es  in  den  genannten  Wissenschaften  nur 
eines  einzigen  einwandsfreien  Experimentes  bedarf,  um  eine 
Thatsache  von  gesetzlicher  Bindung  festzulegen,  wird  es  auf 
dem  Gebiete  der  Psychologie  inuner  einer  grossen  Fülle  von 
Beobachtungen  und  Experimenten,  einer  möglichst  grossen  Viel- 
seitigkeit der  Methoden  und  einer  äusserst  vorsichtigen  Dis- 
kussion der  Resultate  bedürfen,  um  die  Aufstellung  einiger 
Thatsachen  und  Gesetze  zu  ermöglichen.  Daher  der  relative 
TIefotand  tmd  die  telative  Unsicherheit  der  bisherigen  psycho- 
logischen Forschung. 

Gehen  wir  von  diesem  allgemeineren  Gesichtspunkte  an 
die  Kritik  der  Ergographen-Messungen  zu  psychologisch-päda- 


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186 


Ixo  Hirschlag, 


gogischen  Zwecken  heran,  so  werden  wir  zwei  Gruppen  von  Eiiv 
wänden  zu  unterscheiden  haben,  je  nachdem  sich  dieselben 
auf  die  Technik  der  Anwendung  de-.  Eigographen  oder  auf  die 
mechanisclie  und  psychologische  Ausdeutung  des  Ergogram- 
mes  beziehen. 

Nach  Mosso's  ursprünglichen  Angaben  sollte  die  Isolierung 
eines  Muskels  einer  der  Hauptvorzüge  seines  Ergographcn  sein. 
Diese  Behauptung  ist  falsch,  da  sie  ohne  Berücksichtigung:  der 
anatomischen  Verhältnisse  der  Handmuskeln  aufgestellt  \<. 
Seit  den  klassischen  l  ntt  rsuchungen  Duchenne's'^)  vom  Jalire 
1855  wissen  wir,  dass  „die  willkürliche  Zusammenziehung  eines 
jeden  Muskels  —  mit  alleiniger.  Ausnahme  der  Ausdrucksbe* 
wegungen  des  Gesichts  —  immer  von  der  unwillkürlichen, 
oder  besser  instinktmässigen  Ccntraktion  eines  anderen  Muskels 
begleitet  wird/*  Dabei  handelt  es  sich  teils  um  eine  Combination 
ähnlich  wirkender  Muskeln,  teils  um  eine  Synergie  der  Anta» 
gonisten,  deren  gleichzeitige  Contraktion  die  feineren  Abstufun- 
gen in  der  Zusammenziehung  der  willkürlichen  Muskeln  er- 
möglicht. Ausserdem  steht  es  seit  Duchenne  fest,  wie  in  jedem 
Handbuche^)  der  Anatomie  nachzulesen  ist,  dass  die  Verhält- 
nisse der  Beugung  und  Streckung  der  Finger  nicht  so  ganz 
einfach  sind,  wie  Messe  und  mit  ihm  Kraepelin  u.  a.  zu 
glauben  scheinen,  dass  nämlich  die  Flexoren  die  Beuger,  die 
Extenseren  aber  die  Strecker  der  Phalangen  seien.  Vielmehr 
ist  die  von  Duchenne  festgestellte  und  seitdem  immer  wieder 
bestätigte  Sachlage  folgende :  zur  Beugung  der  Grundphalange 
der  Finger  dienen  die  beiden  Mm.  interossei  dorsales  et  volares 
in  gemeinsamer  Aktion,  unterstützt  von  den  Mm.  Itunbricales; 
die  Streckung  der  Grundphalange  besorgt  der  M.  extenser  digit. 
cemmun.  Die  Beugung  der  Mittelphalange  leistet  der  M.  flexor 
digitorum  sublimis;  ihre  Streckung  die  Mm.  interossei.  Die 
Endphalange  endlich  wird  von  dem  M.  flexor  digitorum  pro- 
fundus gebeugt,  von  dem  M.  extenser  digitorum  communis  und 
den  Mm.  interossei  gleichzeitig  gestreckt.  In  ausführlicher 
Weise  sind  diese  Verhältnisse  in  letzter  Zeit  noch  einmal  von 
H.  £.  Hering'^)  und  Robert  Müller^<^)  dargelegt  worden. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  diese  Aufklärung  der  Sachlage  die 
Brauchbarkeit  des  Ergographen  zu  Ermüdungsmessungen  illu- 
sorisch macht.  Wir  glauben,  nein.  Dass  der  Ergograph  nicht 
gestattet,  einen  einzigen  Muskel  isoliert  zu  ermüden,  ist,  wie 


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Zur  MeOiod&  und  KriUk  dar  Srg»gra^km-BUa$ungm»  X97 

bereits  oben  bemerkt,  zweifellos  ein  Uebelstand,  der  seine  An- 
wendung für  den  Physiologen,  dem  ganz  andere  und  viel  ge- 
nauere Methoden  zu  diesem  Zwecke  zur  Verfügung  stehen, 
ausschliesst.  Der  Psychologe  freilich,  der  auf  die  Untersuchung 
der  lebenden  Muskeln  innerhalb  der  normalen  Continuitäts- 
verhahnisse  angewiesen  ist,  muss  sich  hier,  wie  so  vielfach, 
einer  durch  die  Sachlage  gebotenen  Resignation  ergeben  und 
sehen,  wie  weit  er  mit  dieser  unvollkommenen  Methode,  natür- 
lich stets  in  Combination  mit  anderen  Methoden  und  Erwagunr 
gen,  kommt.  Die  Forderung  MüUer's  vollends,  dass  es  notwen- 
dig sei,  dass  jeder,  der  sich  mit  dem  Ergographen  beschäftigt, 
eine  genaue  anatomische  Kenntniss  der  Muskulatur  der  Hamd 
besitze,  halten  wir  für  zu  weitgehend.  Denn  im  Grunde  ge- 
nommen ist  es  für  die  ErgebnislSe  der  Ermüdungsmessungen 
äusserst  gleichgiltig,  wie  die  Muskeln  heissen,  die  zu  dem  Ex- 
perimente benutzt  worden  sind,  sofern  nur  immer  die  gleichen 
Muskeln  ermüdet  Mrerden. 

Ein  weiterer  Einwand,  der  in  dieses  Gebiet  gehört,  stützt 
sich  darauf,  dass  ausser  den  geniannten-  Muskeln  auch  noch 
eine  grosse  und  uncontrollierbare  Zahl  anderer  Muskeln  bei  den 
Bewegungen,  die  der  Ergograph  aufzeichnet,  mitwirken.  Dieser 
Einwand  scheint  ims  von  R.  Müller  in  etwas  übertriebener  Weise 
betont  worden  zu  sein.  Neben  dem  M.  fleacor  dig.  sublimis  sollen 
nach  diesem  Autor  der  M.  flexor  digitorum  profundus,  der  M. 
brachiaüs  internus,  die  Mm.  triceps  und  biceps,  ja  sogar  die 
Muskeln  des  Schultergürtels  und  die  Rotatoren  der  Wirbelsäule 
in  einer  jeder  Berechnung  entzogenen  Weise  zum  Zustande* 
kommen  des  Ergogrammes,  besonders  in  seinen  letzten  Teilen, 
beitragen.  Hiergegen  möchten  wir  geltend  machen,  dass  solche 
Mitbewegungen  der  Vorderarm-  und  der  höher  gelegenen  Mus- 
keln wohl  möglich  sind,  dass  sie  aber  durch  2  Umstände  in  ziem- 
lich vollständigem  Masse  ausgeschaltet  werden  können :  erstens 
durch  die  Art  der  Fixation  des  Vorderarmes  im  Apparat,  sodann 
aber  durch  die  Uebung  der  Versuchspersonen.  Dass  die  Fixation 
des  Vorderarmes,  wie  sie  von  Mosso  ursprünglich  angegeben 
wurde,  durchaus  unzulänglich  ist.  wird  jedem  klar  sein  müssen, 
der  solche  Versuche  eiinnal  an  sich  selbst  ausgeführt  hat.  Schon 
Kraepeliii  liat  sich  infolgedessen  veranlasst  gesehen,  einige 
zweckmässige  Modifikationen  in  dieser  Beziehung  anzubringen. 
Das  Gleiche  liabtu  Biiu  i  und  X'aschide-^)  versucht,  indem  sie 

ZdtsdiriH  für  pädagogische  Psychologie  und  Pathologie.  2 


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188 


Leo  tiirschktf. 


eine  aus  zwei  Gliedern  bestehende  Fingerhülse  construierten, 
deren  erstes  Glied  an  der  Unterlage  befestigt  wurde,  während 
das  vordere  zweite  sich  in  einer  Chamier*Vorrichtiing  gegen; 
das  erste  bewegte.  In  der  bisher  vollkommensten  Weise  aber 
bat  Kemsies  diese  Fehlerquelle  verringert,  indem  auf  seine 
Veranlassung  der  Fixationsapparat  des  Mosso'schen  £rgo- 
graphen  im  Berliner  psychologischen  Institut  eine  durch- 
greifende Umwandlimg  erfuhr.  Kemsies^)  sagt  darüber: 
„das  Fixierbrett,  welches  bei  Mosso  eine  schiefe  Ebene 
ist,  wurde  horizontal  gelegt  mit  einer  leichten  Neigung  nach 
vorn.  Unterarm  und  Hand  werden  m  I'ronation  darauf  befes- 
tigt, dadurch  ist  die  Tendenz  derselben,  nach  hinten  auszu- 
weichen und  die  Widerständ"  zurückzudrängen,  in  die  entge- 
gengesetzte \  erwandelt,  gegen  die  vorderen  vollkommen  un- 
verrückbaren Widerstände,  welche  durch  die  angeschraubten 
Hülsen  dargelK)ten  sind,  zu  drücken.  Die  Drelmngsachse  des 
Mittelfingers  hat  nunmehr  bei  den  KontraklioAcn  eine  iden- 
tische räumliche  Lage.  Ferner  wurden  die  Metallhülsen  für 
Zeige-  und  Goldfinger  u\  zwei  Halbrinnen  zerschnitten,  welche 
durch  je  2  verschiebbare  Ringe  zusammengehalten  werden  und 
für  jede  Fingerweite  verwendbar  sind.  Der  Mittelfinger  besitzt 
eine  gleiche  Hülse,  an  deren  Spitze  die  das  Gewicht  haltende 
Schnur  befestigt  ist,  die  Beugung  des  Mittelfingers  vollzieht 
sich  daher  nur  in  dem  Fingergrundgelcnk,  der  \usschnitt  des 
Fixierbrettes  ist  für  diesen  Finger  angemessen  erweitert." 
Durch  diese  Einrichtung,  rlie  eine  Verbesserung  der  von  Krae- 
pelin  angegebenen  MoUii  ikationcn  darstellt  und  die  R.  Müller 
gänzlich  unbekannt  geblichen  zu  sein  scheint,  gelingt  es,  in  viel 
höherem  Masse,  als  früher,  unzwcckmässige  Mitbewegungen 
der  übrigen  Muskulatur  auszuschalten.  Nebenbei  mag  bemerkt 
werden,  dass  auch  die  Fixation  des  Unterarmes,  die  sonst  ledig- 
lich durch  2 — 3  passend  angebrachte  Gurte  besorgt  wurde, 
bei  den  Experimenten  von  Kemsies  durch  einen  kräftigen 
Druck  des  Experimentators  auf  das  Handgelenk  der  Versuchs- 
person unterstützt  wurde.  Dazu  kommt  aber  noch  ein  zweiter 
Gesichtspunkt.  Jedermann  weiss,  dass  unzweckmässige  Miibe- 
wegungen  jeder  Art  durch  l^ebuug  unterdrückt  werden  können. 
Während  der  Anfanger  im  Klavierspiel  ni(  In  inu-.iandc  ist,  den 
vierten  Finger  isoliert  kräftig  zu  beugen  und  zu  strecken, 
bringt  der  Geübtere  dies  ohne  weiteres  zustande;  ebenso  wie 


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Zur  MUMik  umd  KriHk  Otr  Brgvgf^fkm'iUmmgm.  189 

der  Anfänger  im  Fechtunterrichte  seine  Hiebe  nicht  vne  er- 
forderlich aus  dem  Handgeleiike«  sondern  mit  dem  ganzen 
Arm,  womöglich  unter  Mitbeteiligung  der  ganzen  Rücken- 
und  Beinmuskulatur  schlägt.  In  dem  gleichen  Sinne  gelingt 
es  auch,  bei  Ergogiaphenmessungen  die  erforderlichen  Be- 
wegungen lediglich  mit  den  kurzen  Handmuskeln  auszuführen, 
sobald  eine  ausreichende  Uebung  der  Versuchsperson  voraus- 
gegangen ist  Kemsies  hat  für  seine  Untemuchungen.  auch 
diesem  Gesichtspunkte  ausdrücklich  Rechnung  getragen,  in- 
dem er  hervorhebt:  „Ausserdem  kamen  nur  solche  Schüler 
für  die  Messung  in  Betracht,  welche  nach  einer  Uebungszeit 
Reflexbewegungen  gut  zu  unterdrücken  vermoditen,  sodass 
eine  eindeutige  periodische  Kontraktion  des  Mittelfingers  er> 
folgte." 

Wir  kommen  zu  der  zweiten  Gruppe  von  Einwändoi,  die 
sich  auf  die  Ausdeutung  des  Ergogrammes  beziehen.  Es  sind 
im  wesentlichen  2  Fragen,  die  hier  zu  diskutieren  sind :  i)  wo 
ist  der  Sitz  der  Ermüdung,  deren  Abbild  das  Ergogramm  dar- 
stellt ?  2}  wekbe  Schlüsse  gestattet  das  Ergograimm  in  bezug  auf 
die  zu  prüfende  geistige  Arbeitsleistung,  oder,  allgemeiner  aus- 
gedrückt, in  bezug  auf  die  die  Ermüdung  verursachenden 
Faktoren? 

Die  erste  Frage,  die  den  Sitz  der  durch  den  Ergographen 
angezeigten  Ermüdung  betrifft,  lässt  drei  Möglichkeiten  der 
Beantwortung  zu :  die  Ermüdung  kann  in  den  Muskeln,  in  den 
Nerven  und  im  Centraiorgane  lokalisiert  sein.  Dass  die  Mus^- 
keln  Sitz  vcm  Ermüdungserscheinungen  sind,  ist  seit  Ed.  We- 
ber'^) und  J.  Ranke'^)  von  zahlreichen  Beobachtern  festgestellt. 
Wir  wissen  genau,  dass  im  thätigen  Muskel  gewisse  Ermüdungs- 
stoffe, darunter  in  erster  Reihe  die  freie  oder  die  in  sauren 
Salzen  gebundene  Phosphorsäure  und  die  COg,  sich  anhäufen^ 
während  die  Aufnahme  des  O  vermindert  ist.  Noch  in  neuester 
Zeit  sind  diese  Verhältnisse  eingehender  studiert  worden  von 
Ganicke*2)^  im  ermüdeten  Muskel  ausserdem  auch  den 
Wassergehalt  bis  zu  11  0/0  gesteigert,  den  Gehalt  an  festen 
Bestandteilen  aber  um  c.  1,5  verringert  fand,  während  der 
N-Gehalt  und  die  Quantität  der  calorischcn  Energie  unver- 
ändert blieben.  Es  ist  demnach  zweifellos,  dass  auch  im  Krgo- 
gramme  die  Muskelermüdung  eine  Rolle  spielt.  Was  die  Er- 
müdung der  Nerven  anbelangt,  so  galt  derselbe  früher  als  un- 

V 


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190 


Z09  mnehl^. 


eimüdbar.  Heutzutage  steht  dagegen  fest'^),  dass  eine  andau* 
emde,  übermässige  Erregung  des  Nerven  ohne  entsprechende 
Ruhepausen  zunächst  Ermüdung  des  Nerven  und  weiterhin  Er- 
schöpfung desselben  hervorruft.  Gleichwohl  ist  von  Weden^^*), 
Beinstein,  Bowditch  u.  a.  nachgewiesen  worden,  dass  der  Nerv 
im  Vergleich  zu  dem  Muskel  viel  langsamer  ermüdet.  Für  die 
Ergographenmessung  kommt  daher  die  Ermüdung  des  Nerven, 
wie  auch  R.  Müller  mit  Recht  hervorhebt,  kaum  in  Betracht; 
ebenso  wenig  wohl  auch  die  Ermüdung  der  Nervenendigungen, 
über  die  Genaueres  noch  nicht  bdcannt  ist.'^)  Es  bleibt  übrig, 
die  Ermüdung  der  Centraiorgane  zu  diskutieren.  Hierüber  sind 
erst  in  allemeuester  Zeit  sichere  Aufschlüsse  erlangt  worden.  So 
hat  Verwom**)  kürzlich  gezeigt,  dass  die  Erscheinungen  der 
Ermüdung  und  Erschöpfung  am  Rückenmark  des  Strychnia- 
lro6ches  deutlich  experimentell  nachlwteisbar  sind;  und  zwar 
setzen  sich  die  Erscheinungen  gerade  wie  beim  Muskel  aus 
2  Componenten  zusammen:  i)  aus  der  Wirkung  der  Zerfalls- 
prodidcte  des  Eiweissmoleküles^  2)  aus  dem  Mangel  an  neuem 
Material  (hauptsächlich  an  Sauerstc^f)*  Für  die  Hirnrinde  liegen 
neue  Untersuchungen  von  Pugnat^^)  und  Guerrini^^)  vor.  Beide 
Autoren  haben  an  Hunden,  die  in  einer  Rotatkm3vorrichtung 
gezwungen  waren,  ohne  Ruhepause  64 — 93  km  hintereinander 
bis  zur  völligen  Erschöpfung  zu  laufen,  und  dann  durch  Bul- 
busstich  getötet  wurden,  Nissl-Färbungen  der  Hirnrinde  vorge- 
nommen und  als  Folge  der  Ermüdung  der  motorischen  Him- 
rindenzellen  eine  mehr  minder  ausgeprägte  Chromatolyse  der 
Nissl'schen  Körperchen,  sowie  verschiedene  Veränderungen 
des  Zellkernes  und  Verlagerungen  des  Kernkörperchens  nach- 
gewiesen. Daraus  scheint  hervorzugehen,  dass  jedenfalls  auch 
das  Centrainervensystem  bei  der  Entstehung  des  Ergogrammes 
beteiligt  ist.  Weuig  tens  möchten  wir  die  Möglichkeit  einer 
solchen  BeteUigung  auch  innerhalb  der  kurzen  Zeit,  die  zur  Auf- 
nahme des  Ergogrammes  erforderlich  ist,  nicht  ohne  weiteres 
von  der  Hand  weisen,  wie  Müller  gegen  Mosso  es  zu  thun  ge- 
neigt ist. 

Es  erhebt  feich  nun  die  Frage,  inwiefern  durc^  diese  Ueber- 
legungen  die  psychologische  Bedeutung  des  Ergogranunes 
tangiert  wird.  Wir  meinen  wiederum :  nicht  im  geringsten.  Es  ist 
für  den  Psychologen  ztmächst  irrelevant,  wo  der  Sitz  der  durch 
den  Ergographen  aufgezeichneten  Ermüdung  zu  suchen  ist, 


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Zur  Methode  und  Kritik  der  Er gographtn- Messungen. 


191 


sofern  sich  nur  eine  causale  und  vor  allem  eine  zablenmässige 
Beziehimg  zwischen  dieser  Ermüdungskurve  und  der  vorausge- 
gangenen geistigen  Arbeit  nachweisen  lässt.  Ebenso  irrelevant 
ist  es  unter  der  gleichen  Voraussetzung,  ob  in  dem  Ergogramme 
der  etwaige  Anteil  der  centralen  und  der  peripheren  Ermüdung 
sich  abgrenzen  lässt,  wie  R.  Müller  es  verlangt.  Verfrüht  er- 
scheinen uns  jedenfalls  die  Versuche  von  Kraepelin,  Oseretz- 
kowski  und  Jotcyko'^'),  die  die  im  Ergogramm  verzeichneten 
Hubzahlen  auf  die  Zustände  des  psychophysischen  Central- 
organes,  die  Hubhöhen  dagegen  auf  die  Zustände  des  Muskels 
beziehen  zu  können  glaubten.  Zu  so  detaillierten  Schlüssen  be- 
rechtigen die  bisher  vorliegenden  Versuchsergebnisse  wohl  dorh 
noch  nicht»  solange  die  principiellen  Fragen,  die  zur  Kritik 
der  Ergographenmesstmgen  in  Betracht  kommen,  noch  so  wenig 
geklärt  sind. 

An  dieser  Stelle  muss  nunmehr  eines  Einwandes  gedacht 
werden,  der  hauptsächlich  von  französischen  Autoren  gegen  die 
mechanische  Ausdeutung  des  Ergogrammes  gerichtet  worden 
ist.  Binet,  Henri,  Vaschide  und  Joteyko  haben  die  übliche  Aus: 
rechnung  der  am  Ergographen  geleisteten  Arbeit  aus  dem  Pro- 
dukte von  Kraft  und  Weg  bemangelt.  Sie  heben  mit  Recht 
hervor,  dass  der  erste  Centimeter  der  beim  Heben  eines  Ge- 
wichtes geleisteten  Arbeit  mechanisch  durchaus  nicht  gleich- 
wertig ist  dem  zweiten  und  dritten  Centimeter  u.  s.  f.  Auf  dieser 
Erwägimg,  die  ja  auch  Fick  veranlasst  hat,  seinen  „Arbeits- 
Sammler**  zu  construieren,  beruht  der  Vorschlag  von  Binet  und 
Vaschide,  anstelle  des  gewöhnlichen  Gewichts-Ergographen 
einen  Feder-Ergographen  zu  benutzen,  wie  er  von  diesen  Auto- 
ren beschrieben  worden  ist.  Wir  halten  diesen  Vorschlag  durch- 
aus der  Beacbtimg  wert. 

Somit  kommen  wir  zu  dem  letzten  tuid  wichtigsten  Teil 
unserer  Erörterungen:  gestattet  das  Ergogramm  einen  zuver- 
lässigen Schluss  auf  die  Faktoren,  die  sein  Zustandekommen 
verursacht  haben?  Hierbei  sind  zwelfUnterf  ragen  zu  berücksich- 
tigen, von  denensichdieersteauf  die  zu  prüfende  Arbeit,  die  aiv 
dere  auf  die  etwa  vorhandenen  Nebenwirkungen  anderer  Fak- 
toren bezieht.  Was  den  ersten  Punkt  anbetrifft,  so  leugnet  Meu- 
mann^^),  dass  zwischen  der  geistigen  Ermüdung  und  der  Ver- 
minderung der  Muskelleistung  irgend  welche  Proportionalität 
bestehe.  Als  Beweis  für  diese  Behauptung,  die  er  in  seiner  be- 


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192 


Leo  Htnchlaß. 


kannten  und  schon  von  anderer  Seite  genügend  gewürdigten 
Manier  vorbringt,  die  zu  seinen  eigenen  Leistungen  in  einem 
peinlichen  Missverhältnisse  steht,  führt  dieser  Autor  an,  dass 
der  Ergograph  oft  noch  keine  Ermüdung  zeigte,  „wenn  der 
BIutdnu:k  bisweilen  bei  seinen  Versuchspersonen  nach  zwei- 
bis  dreistündiger  Arbeit  auf  ein  Minimum  sank,  so  dass  man 
förmlich  von  Herzschwäche  reden  konnte" ;  femer  beobachtete 
er,  „dass  nach  anstrengender  geistiger  Arbeit  die  Muskel- 
leistung am  Ergographen  bisweilen  grösser  war  als  vor  der 
Stunde**.  Dagegen  fand  Meumann,  dass  die  dynamometrische 
Messung,  vor  allem  aber  die  Veränderung  des  Blutdruckes, 
des  Pulses  und  der  Atnning  ein  viel  zuverlässigeres  Kenn- 
zeichen der  Ermüdung  darbieten.  Beginnen  wir  zunächst  mit 
der  Kritik  dieser  letzten  Behauptungen.  Nach  unserer  persön- 
lichen Erfahrung,  die  sowohl  an  luis  selbst»  sowie  an  einiei^  Reihe 
von  6 — 8  anderen  Versuchspersonen  gewonnen  wurde,  ist  das 
Dynamometer  zu  Ermüdungsmessungen  völlig  unbrauchbar.  Ne- 
ben rein  technischen  Erwägungen,  deren  Ausführung  hier  zu  viel 
Platz  beanspruchen  würde,  geht  dies  schon  aus  dem  Umstände 
hervor,  dass  die  normalen  Schwankungen  der  dynamome- 
trischen Angaben  nicht  selten  lo  kg  überschreiten,  während 
die  Ermüdungswerte  nach  geistiger  Arbeit  meist  unter  diesem 
Fehlerwerte  bleiben.  Noch  unbegreiflicher  aber  ist  uns  die 
Behauptung,  dass  „in  der  Veränderung  des  Blutdruckes,  des 
Pulses  und  des  Atems  der  Versuchsperson  das  zuverlässigste 
Kennzeichen  der  geistigen  Ermüdung"  gelegen  sein  soll.  Es 
giebt  keine  schwankenderen  und  labileren  Lebensäusserungen 
in  unserem  Organismus,  als  die  genannten  Veränderungen: 
jede  Bewegung,  jede  Veränderung  der  Körperhaltung  und 
-Lage»  jede  Schwankung  der  äusseren  und  der  Körper-Tem- 
peratur, jeder  Wechsel  der  Emährungsphase,  der  Aufmerk- 
samkeit, der  Stimmung,  jede  Erwartung  und  Spannung,  ja 
sogar  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  WillkUr  der  Versuchs- 
person und  unzählige  andere  Einflüsse  mehr,  sind  imstande, 
nicht  unerhebliche  Schwankungen  gerade  dieser  Verhältnisse 
hervorzubringen,  Schwankungen,  die  sich  wegen  ihrer  grossen 
Labilität  imd  ihres  steten  Ineinandergreifens  jeder  Be- 
rechnung imd  jeder  Controlle  entziehen  müssen.  Ausser- 
dem ist  der  Umfang  der  Sch'wankungen,  die  nach  einer 
geistigen  Anstrengung  etwa  constatiert  weiden  können, 
durchaus  nicht  grösser,  als  der  Umfang  der  vorher  auf- 


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2br  UetkoSik  t$mi  Xnttk  der  ErgographtnrMusumi^. 


193 


getühiien  normalen  und  in  jotlem  Augenblicke  des  Lebens 
wirksamen  V'ariauuriea.  Geradezu  lächerlich  e!s(  Iieint  es  aber, 
wenn  Meumatin  Isehauptet,  „nach  2 — 3  stündiij:*  r  geistiger  Ar- 
beit bei  seinen  \  (  rsuchspersonen  ein  solches  Minimum  des  Blut- 
druckes gefund(  11  zu  haben,  dass  man  förmlich  von  Herz- 
schwäche reden  konnte".  M.  E.  hätte  daher  Mcumann  mehr 
Veranlassung,  vor  seinen  eigenen  als  etwa  vor  den  Kemsies- 
Wagner 'sehen  Krmüdunt;Miu*ssungen  zu  „warnen".  Jedenfalls 
aber  sind  die  Schliisse,  die  Meumann  aus  dieser  Feststeilung 
auf  die  Unzuverlässigkeit  der  Ergographenniessungen  zieht, 
völlig  unzutreffend,  um  so  mehr,  als  die  Blutdruckmessung 
am  lebenden  Menschen  bisher  weder  mit  dem  v.  Basch  srlK  ii 
Sphygmomanometer,  noch  mit  dem  Gärtner'schen  Tonometer, 
noch  mit  den  von  Marey,  Messe  u.  a,  angegebenen  Apparaten 
exartr  Resultate  ergiebt. 

Um  die  Frage,  ob  zwischen  der  voraus  «gegangenen  Arbeits- 
leistung und  der  ereographischcn  Ermudungskurve  eine  con- 
stante  Rezidiuii;;  Ix  steht,  positiv  entscheiden  zu  können,  sind 
theoretischr  Ii.rwagungen  nach  unserer  Auffassung  weniger  ge- 
eignet als  di(  thatsächlichen  Experimente.  Nach  den  von  Mosso, 
Maggiora.  Lombard,  I  reves'^),  Keller.  Kraepelin,  Kemsies  u.  a. 
gelieferten  Exp>erimenten  kann  es  nun  gar  keinem  Zweifel 
mehr  unterliegen,  dass  durch  geistige  .^.rbeit  die  Ergogra- 
phen-Curve  beeinflusst  wird.  Ob  aber  diese  Beeinflussung  stets 
in  dem  gleichen  Sinne  erfolgt,  gleiche  Versuchsbedingun|gen 
naturlich  vorausgesetzt,  und  ob  vor  allem  diese  Zusammenhänge 
eine  zahlenmässige  Beziehung  aufweisen,  diese  Frage  muss> 
auch  heute  noch  mit  aller  Vorsicht  beantwortet  werden.  Wenn 
zunächst  hier  noch  der  Einfluss  anderer  etwa  mitwirkender 
Faktoren,  die  das  Ergogramm  beeinflussen  könnten  und  die 
unten  nähere  Besprechung  finden  werden,  ausser  Be- 
tracht bleiben  soll,  so  wurden  zur  genaueren  Entscheidung 
der  obigen  Frage,  wie  schon  Tümpel^')  vorgeschlagen 
hat,  Parallelversuche  notwendig  sein,  bei  denen  die  zu  prü- 
fende geistige  Arbeit  genau  gemessen  und  von  Zeit  zu  Zeit 
durch  £rgographen-Aufnahtnen  ^er  Stand  der  körperlichen 
Ermüdung  aufgezeichnet  werden  roüsste,  während  die  geistige 
Ermüdung  aus  der  Qualität  und  Quantität  der  fortlaufenden 
geistigen  Arbeit  erschlossen  werden  könnte.  Solche  Parallel- 
versuche, bei  denen  die  geistige  und  körperliche  Ermüdung 
gleichzeitig  festgestellt  würde,  dürften  am  ehesten  Aufschluss 


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194 


Leo  HÜrscht^t 


darübergeben,  ob  diese  beiden  Phaenomene  einander  parallel 
laufen  und  ob  eine  zahlenmässige  Beziehung  zwischen  beiden 
besteht.  Aus  den  bisherigen  Versuchen  kann  man  nur  die 
Wahrscheinlic  hkeit  einer  sol(  hen  Beziehung  folgern.  Als  Vor- 
aussetzung für  solche  Messungen  erscheint  uns  dabei,  dass  es 
gleichartige  Thätigkeiten  sind,  deren  Ermüdungswert  gegen 
einander  abgewogen  werden  soll.  Nicht  angängig  dagegen  ist  es, 
wie  es  z.  B.  Bum^s)  und  Kemsies  thun,  kcirperliche  und  geistige 
Arbeiten  ergographisch  zu  vergleichen  und  die  gewonnenen 
Curven  in  Uebereinstinmiung  zu  setzen.  Denn  wie  auch  immer 
die  theoretische  Erklärung  der  Mu-keiennüdung  infolge  geisti- 
ger Arbeit  ausfallen  möge,  so  viel  steht  fest,  da-ss  die  Muskel- 
ermüdung in  diesem  Kalle  eine  indirekte  und  darum  völlig  un- 
vergleichbar ist  mit  der  direkten  Muskelernmdung  mfolge 
körperlicher  Arbeit.  Denn  wenn  ich  t.  B.  durch  Hanteln  meine 
Arme  direkt  ermüde,  so  kann  die  na(  hher  gewonnene  Ergo- 
graphencurve  unmöglich  mit  dem  gleichen  Rechte  als  Index 
meiner  Gesainmi  leistungsfähigkeit  angesehen  werden,  wie  etwa 
nach  einer  rem  geistigen  Anstrengung.  Diese  Schwierigkeit 
ist  auch  von  Tümpel  in  einleuchtender  Weise  hervorgehoben 
worden.  Daher  möchten  w-ir  auch  die  vf)n  K(  insies  aus  seinen 
Ergographenme^'^un gen  gezogenen  Schlüsse,  so  vorsichtig  die- 
selben im  allgenieiüen  gehalten  sind,  doch  nur  für  diejenigen 
Messungen  anerkennen,  die  geistige  Anstrengungen  betreffen, 
nicht  aber  für  diejenigen  Resullate,  die  sich  auf  körperliche 
Arlu'Utii,  wie  Turnen,  Singen  und  Zeichnen,  be/ieln  n  Es  ist 
eine  besondere,  und  keineswe;js  !<  k  ine  Aufgabe,  die  Ergebnisse 
der  direkten  und  der  indirekten  Ermüdungsm»  ssungen.  wenn 
wir  so  sagen  dürfen,  mit  einander  zu  verf^Icichen.  ledenfalls 
dürfte  es  unerläjslich  sein,  zu  diesem  Zwecke  eine  Vielheit  von 
l -ntersurhungsmethoden  zur  Anwendung  zu  bringen,  da  aus 
einer  einzigen,  sei  es  körperlichen,  sei  es  geistigen  Unter- 
suchungsmethode, wie  auch  aus  allem  Vorstehenden  hervor- 
gehen dürfte,  niemals  bindende  Schlüsse  für  alle  Arten  der 
Arbeitsleistungen  gezogen  werden  können.  Die  \'rrhältms«c 
liegen  demnach  bei  weitem  verwickelter,  als  man  früher  anzu- 
nehmen geneigt  war,  da  es  keine  einzige  Untersuchungsmethode 
giebt,  die  uns  einen  sicheren  Index  für  den  Stand  der  momen- 
tanen Gesammtleisttmgsfähigkeit  an  die  Hand  geben  könnte; 
und  zwar  schon  aus  dem  einfachen  Grunde  nicht,  weil  diese 


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Zur  JdeÜtodik  und  Kritik  der  Ergograpken'Messutigen. 


195 


Gcsammtleistungsfähigkeit  überhaupt  keine  einfache  Grösse  ist, 
sondern  sich  zusammensetzt  aus  einer  Reihe  keineswegs  stets 
parallel  laufender  Faktoren.  Näher  auf  diese  Fragen  einzu- 
gehen, ist  hier  nicht  der  Ort. 

Es  bleibt  übrig,  noch  den  Einfluss  der  physiologischen  Ne- 
benbedingungen zu  erörtern,  die  das  Ergogramm  beeinflussen 
können.  In  dieser  Beziehung  möchten  wir  R.  Müller  Recht 
geben,  wenn  er  sagt,  dass  die  normalen  Schwankungen  der 
Ergographen-Curve  noch  nicht  genügend  erforscht  sind.  Zwar 
haben  Maggiora  und  P.  Lombard,  Broca  und  Richets»),  Patrizi^o), 
Manca^^),  Zenoni^-)  u.  a.  bereits  em  ziemlich  grosses  Mate- 
rial über  diese  Frage  zusammengetragen,  indem  sie  die 
Veränderungen  der  Ermüdungskurve  bei  verschieden  grosser 
Belastung,  bei  verschiedenem  Tempo  und  verschiedenen  Er- 
holungspausen, infolge  lokaler  Einwirkungen  auf  die  Muskula- 
tur und  im  Gefolge  von  Schlafen,  Wachen  und  Fasten,  endlich 
bei  verschiedener  Luftfeuchtigkeit,  Temperatur  und  Luftdruck 
eingehender  studierten.  Indessen  ist  hier  noch  eine  grosse 
Reihe  von  Untersuchungen  erforderlich,  um  über  alle  diese 
das  Ergogramm  beeinflussenden  Faktoren  völlige  Klarheit  zu 
verschaffen,  zumal  bei  den  meisten  der  bisher  vorliegenden  Ar- 
beiten die  oben  berührten  technischen  Schwierigkeiten  ausser 
Acht  gelassen  worden  sind.  Insbesondere  für  schulhygienische 
Untersuchungen  scheint  es  uns  erwünscht,  mehr  als  bisher  den 
concurrierenden  Einfluss  der  Kleidung,  der  Ernährung  und  der 
Schlafverhältnisse  einerseits,  sowie  andererseits  der  kosmisch- 
tellurischen  Verhälmisse,  der  Witterung  und  Temperatur, 
Tages-  und  Jahreszeiten  etc.  zu  berücksichtigen  imd  ev.  geson- 
dert zu  studieren. 

Wir  möchten  nach  alledem  glauben,  dass  es  wohl  möglich 
ist,  auf  Grund  von  Ergographen-Messungan  zu  eiragermassenr 
gesicherten  Ergebnissen  zu  gelangen,  falls  man  alle  oben  kurz 
berührten  'Schwierigkeiten  berücksichtigt.  Jedenfalls  dürfte  die 
Methode  in  der  Hand  kritischer  Experimentatoren  wohl  ge- 
eignet sein,  neben  anderen  Methoden  in  ergänzender  Weise 
zu  dem  Studram  des  psychologischen  Ermüdungsproblemes  her* 
angezogen  zu  werden.  Die  bisher  vorliegenden  Untersuchiiii£^ 
freilich  erscheinen  noch  wenig  geeignet,  als  Grundlage  Ärhul- 
hygienischer  Forderungen  zu  dienen. 


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196 


Leo  mnchlai. 


Litteratur. 

A.  M  osso:  L.'s  i  ms  dt  la  fatiguc  etudtees  dans  les  muscles  de  rhomme. 
Iniluence  de  la  latiguc  psychique  sur  la  force  des  muscles.  —  Arch. 
itd.  de  Biol.  XIII,  p.  12»-186.  1890.  —  Id.  Arch.  f.  Anat.  und 
Ffaysiol..  Fhysiol.  Abt,  1890,  p.  80—168.  —  Id.  Reale  Aocad.  dei  Lincd, 
Serie  IV,  vol.  V.  1888.  —  Id.  Die  Ermüdung.  Ueben.  v.  J.  Glinier, 
Leipzig  1892. 

«J  A.  M  a  g  g  i  o  r  a:  Arch.  ital.  de  Biol,  XIII.  p.  187—241.  1890.  —  Id.  Arch. 
f.  Anat.  und  Physiol..  Physiol.  Abt..  p.  191—243;  p.  342—343.  1890.  — 
Id.  De  TactioD  physiologique  du  massage.  Arch.  ital.  de  Biol.  XVI,  p. 
225  ff.  1801.  —  Id.  Influence  de  l'&ge  sur  quelques  ph^nomtoes  de  la 
fatigue.  Arch.  ital.  de  Biol.  XXIX,  p.  267—286;  1896.  —  Id.  Sopra 
rinflueiusa  dcll'  etä  su  di  alcuni  fenomeni  della  fatica.    Modcna  1897. 

»J  Warren  P  Lombard:  Arch.  ital.  de  Biol.  XIIL  p.  372 ff.  1890.  — 
Id.  The  effect  ot  Fatigue  on  Voluntary  Muscular  Contractions.  Americ. 
Journ.  ot  Psychol.  Iii,  p.  24 — 42.  1890.  —  Id,  Alteraiions  in  thc  strengih 
which  occur  duriog  fatiguing  voluntary  muscular  work.  Journ.  of  PhysioL 
XIV,  p.  07  ff.  1898.  —  Id.  Some  of  the  influences  which  affect  the  power 
of  voluntary  muscular  contractions.  Joum.  of  Physiol.  XIII»  p.  1  ff.  1892. 

*)  E.  Kraepeltn?  Neuere  Untersuchungen  über  die  psychischen  Wir- 
kungen des  Alkohols.  Münch.  Med.  Woch.-Schr.  i;S!'9,  No.  42.  —  Id. 
und  A.  Hoch:  Üebcr  die  Wirkung  der  Theebestandteile  auf  körperhchc 
und  geistige  Arbeit  Psydud.  Arb.  I,  p.  378—188.  —  Id.  und  A.  Oseretz- 
kowsky:  Ueber  die  Beeinflussung  der  Muskelleistung  durch  verschiedene 
Arbeitsbedingungen.  Psychol.  Arb.  III,  p.  587—690. 

*i  Keller:    Pädagoglsch-psychometrische  Studien    Biol.  Centralbl.  1894. 

•)  F,  Kcmsies:  Deutsche  med.  Woch.-Schr.  189<!  N"  —  Id.  Neue 
Bahnen,  hrsg.  v.  Scherer- Worms,  1697.  —  Id.  Arbeushygiene  der  Schule 
auf  Grund  von  Ertnüdungsmessungen.  Schiller-Ziehen'sche  Sammlung, 
Bd.  I,  Heft  6.  Berlin  ISOa  —  Id.  Deutsche  Med.  Woch.-Schr.  1896,  No.  3. 

f)  A.  B inet  et  V.  Henri:  La  latigue  tntellectuelle.   Paris  1806. 

•)  Duchenne:  De  relectcisation  localis^.  Paris  1855.  p.  185 ff.  —  Id. 
M^canisme  de  la  Physiognomie  humaine,  ou  analyse  electrophy^ioloj^ique 
de  l'expressiun  des  passions;  applicable  ä  la  pratique  des  arts  plasuques. 
1862.  —  Id-  Physiologie  der  Bewegungen,  übersetzt  v.  C.  Wcmicke. 
Cassel  188S.  p.  118  ff. 

*)  cf.  J.  Henle:  Handbuch  der  systematischen  Anatomie  des  Menschen. 

2.  Aufl.  Braunschweig  1871.  Bd.  I,  Abt.  8,  p.  248  ff. 
>•)  Robert  Müller:   Ueber  Mosso's  Ergogrraphen  mit  Rücksicht  auf  seine 
physiologischen  und  psychologischen  AnwcndungeiL   Philosoph.  Stud., 
XVII.  (IJ,  p.  1—29. 
i>)  cf.  L.  Landots:  Lehrbuch  der  Phyi>iologie  des  Mensche».  8.  Auff. 
Wien  und  Leipaig  1868.   p.  611  ff. 

£.  G  a  n  i  c  k  e:  (Des  muscles  de  la  grenouille  fattgu^  et  en  repoa.)  Rn^ 
Gazette  clintque  de  Botkin,  p.  2261—2266.  1900. 

Wedenski:  Telephonische  Untersuchungen  über  die  elektrischen  Er- 
scheinungen in  Muskel-  und  Nervenapparaten.  St.  Petersburg.  1Ö84.  Russ». 
— "  cf.  Centralbl.  I.  d.  niedicin.  Wissensch.  1884.  No.  5. 


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Zur  AIcihodtk  und  Kritik  der  Ergo^raphen-Mestungen, 


197 


»*)  Max  V'erworn:  I.nuudung,  Erschoptung  und  Erholung  der  nervösen 
Centra  des  Rückenmarks.  (Ein  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Lebensvor- 
gänge in  den  Neuronen.)  Arck  f.  FliysioL  (Suppl.-Bd.),  p.  152—176. 
1900. 

Ch.-Amedee  Pngnat:   Recherches  sur  les  modifications  histologiqttes 

des  cellules  ner\'euses  dans  la  fatigne.  Jonrn.  de  Physiol.  et  de  Psthol.  g€n. 

III.  (2),  p.  18:3—187.  1901. 
>«j  G  u  e  r  r  i  n  i :  Delle  minute  moditicationi  di  struttura  della  cellula  nervosa 

corticale  nella  fatidu  Riv.  di  Fatol,  nerv,  e  ment.  1900,  fasc.  1. 

E.  Menmann:  Entstehung  und  Ziele  der  experimentellen  Pädagogtk. 

Die  deutsche  Schule.  V.  (2)«  p.  «&~01;  (9>,  p.  130^158. 
Z.  Treves:   Ueber  die  Gesetze  der  willkürlichen  Muskelarbeit.  Pflug. 

Arch.  78»  (3,  4).  p.  16^—193.  1899.  —  Id.  Sur  les  tois  du  travail  muacttlatre. 

Arch.  ital.  de  Biol.  XXIX.  p.  157  fr.;    XXX.  p.  1  ff.  \m. 
Rossi:  Recherches  experimentalei»  sur  la  laugue  des  muscles  iiumam^ 

sotts  Faction  des  poiaons  nerveux.  Areh.  ital.  de  Biol.  XXIII,  p.  4IMI2. 

1S85.       Id.  Ricerche  tperimentali  soUa  fatica  dd  muscoli  umani  sotto 

l'azione  dei  vd«li  nervosi.  Riv.  sperim.  di  freniatr.  XX,  p.  442 — 480.  1894. 
Z  o  t  h :  2  ergographische  Versuchsreihen  über  die  Wirkung  orchittBChen 

Extraktes.    Pflüg.  Arch.  62,  p.  335  ff.  1896. 
**)  Frey:  Ueber  den  Einfluss  des  Alkohols  aut  die  Muskelermudung.  Mit- 

teilgn.  aus  Kliniken  und  med.  Inatit.  d.  Sch-weiz,  IV.  Reihe,  H.  1.  ISIM. 
**)  Scheffer:  Studien  über  den  Einfluss  des  Alkohols  auf  die  Muskel- 
arbeit. Arch.  f.  experim.  Pathol.  u.  Pharmak.  44»  p.  34. 
**j  E.  Destree:    Influcnce  d  Inlcool  sur  le  travatl  musculaire.  Journ. 

med.  de  Bruxcllcs,  44  und  47,  Nov.  1897.  Cf,  Mon.-Scbr.  f.  Fsychiatr.  IV, 

p.  98.  1898. 

H.  £.  Hering:  Beitrag  zur  experimentellen  Analyse  coordinierter  Be- 
wegungen. Ffläg.  Arch.  70«  p.  660--flS8.  1896. 

**>A.  Binet  et  N.  Vaschide:  Un  nouvel  ergographe,  dit  ergogiaphe  - 
i  ressort  Ann.  psychol.  IV«  p.  ^^t— 315.  1898.  —  Id.  La  naesure  de 
la  force  musculaire  chez  les  jeunes  gens.  Ann,  psychol.  IV,  p.  17,1 — 199. 
1898.  —  Id.  Critiqne  du  dvnatnometre  ordinaire.  Ann.  psychol.  IV, 
p.  246 — 252.  1898.  —  Id.  Examen  critique  de  l'ergographe  de  Mosso. 
Ann.  psychoL  IV,  p.  288—286.  1806.   U.  a.  m. 

^)  J.  Ranke:  Untersuchungen  über  die  diemischen  Bedingungen  der  Er« 
müdung  des  Muskels.  .A.rch.  f.  Anat  u.  Physiol.  p.  320.  1864. 
R.  Tü  m  p  e  l;  Ueber  die  Versuche,  geistige  Ermüdung  durch  mechanische 
Messungen  zu  untersuchen.  Ztschr.  f.  Pbilos.  und  Pädag.  V,  (1).  p.  31 — 38; 
(2),  p.  108—114.  1898. 

A.  B  um:  Ueber  periphere  und  centrale  Ennödung.  Wiener  Med.  Presse 
37,  1898.  No.  48.  8  S. 

A.  B  r  o  c  a  et  Ch.  R  i  c  h  e  t:  De  quelques  oooditions  du  travail  musculaire 
chez  I'homme.  Arch.  de  physiol.  norm,  et  pathol  Scr.  X,  p.  225  ff 
1898.  —  Id.  Experiences  ergographiques  pour  mesurer  la  puissancc 
maximum  d'un  musde  en  regime  regulier.  C.  R.  de  l'Acad.  des  Sc.  126, 
p.  356  ff.  1898.  —  Id.  De  Tlnfluence  de  la  frequence  des  mouvements  et 
du  poids  soulev^  sur  la  puissance  maximum  du  musde  en  regime  r^iiller. 


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198 


L»  mneklm$. 


C  R.  de  l'Acad.  des  Sc.  126,  p.  485  ff.  18Sa.  —  Id.  De  rinflaence  des 
ifitermtttences  de  repos  et  de  travail  sur  la  puissance  moyenne  dn  musde. 
C.  R.  de  l'Acad.  des  Sc.  m,  p.  656  ff.  1808. 

«B)  Patrizi:  Oscillatioiis  quotidiennes  du  travail  musculaire  en  rapport  avec 
la  temperaturc  du  corps.  Arch.  ital.  d  Biol.  XVII,  p.  134  ff  1892  — 
Id.  Action  de  ia  chaleur  et  du  poid  sur  la  fatigue  des  muscles  chcz 
Ihomme.  Arch.  ital.  de  Biol.  XIX,  p.  105  ff.  1893. 
Man  es:  Inffnenoe  de  jeune  sur  la  force  muscataire.  Ardi.  ital.  de 
Biol.  XXI«  p.  220  ff.  1894. 

**)  Zenoni:  Recherches  e.xpt'ri mentales  stir  le  travail  musculaire  dans  l'air 
comprimc-.   Arch.  ital.  de  Biol.  XXVII,  p.  46  ff.  1897. 

**)  J-  Joteyko:  I,a  inethode  graphique  appliquec  ä  l'etude  de  la  f:?tipruc. 
Rv.  scient.  p.  486  und  516.  1898.  —  Id.  L'efJort  nerveux  et  la  laüguc. 
Arch.  de  Biol  XVI,  p.  569  ff.  1898.  —  Id.  Revue  genMe  sur  la  fsiigoe 
musculaire.  Ann.  psychol.  V,  p.  1—64.  1899. 

**)  cf.  auch:  Benedicenti:  Ergographische  Untersttdningen  über  Kaffe^ 
Thce.  Mate,  Guarana  und  Coca.  Untersuchungen  zur  Naturlehre  des 
Menschen  von  Moleschott  XVI,  I.  —  Tavernari:  Ricerche  intomo  all' 
azione  di  alcuni  nervini  s«l  lavoro  dei  muscoli  affaticati.  Riv.  speritn.  di 
freniatr.  XXIII,  p.  102  ff.  1897.  —  G.  E.  Partridge:  Studies  in  the 
Psycbology  of  Alkohol.  Americ.  Jonm.  of  Pqrchol.  XI«  p.  818—876. 
1906i  —  Vaacrhsn  Harley:  The  value  of  sugar  and  the  effect  of 
Smoking  on  muscular  work.  Joum.  of  Physiol.  XVI.  1894.  —  Ugolino 
Mo-;<;ri:  Action  des  principcs  activc^  de  la  noix  de  Kola  aar  la  contraction 
musculaire.  Arch.  ital.  de  Biol.  XIX,  p.  941.  1P03. 
cL  A.  Rollett:  üeber  die  Veränderlichkeit  des  Zuckungsvcrlaufes  quer- 
gestreifter Muskeln  bei  fortgesetzter  periodischer  Erregung  und  bei  der 
Erholung  nach  derselben.  Pflug.  Ardi.  64,  p.  607—668.  1896, 

**)  cf.  C.  G.  S  a  n  t  e  s  s  o  n :  Einige  Betrachtungen  über  die  Ermüdbarkeit  der 
motorischen  Nervenendigungen  und  der  Muskelsubstans.  Skand.  Arch. 
f.  Fhysiol.  V»  p.  394-406.  1895. 


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Einige  Worte  über  die 
Beibehaltung  der  sogen.  Versetztingsprfifungen. 

Von 

Ktrl  Lftscbhorn. 

Die  Ansichten  über  den  Wert  und  die  Zwedcmässigkeit 
der  sogenannten  Veraetzungsprüfungen  gehen  weit  auseinander. 
Der  Berichterstatter  über  das  Thema  auf  der  zweiten  poimner- 
schen  Direktoren-Konferenz  (vergl.  Erler :  Verhandlungen  der 
Direktoren-Versammlungen  in  den  Provinzen  des  Königreichs 
Preussen  S.  i8)  erklärte,  dass  alle  Gymnasien  der  Provinz  den 
Nutzen  schriftlicher  und  mündlicher  Versetzungsprüfungen 
anerkannten»  und  die  siebente  preussische  Direktoren-Konferenz 
nahm  mit  grosser  Majorität  die  These  an,  dass  die  schriftlichen 
und  mündlichen  Versetzungsprüfungen  empfehlenswert,  doch 
ihre  Ergebnisse  nicht  ausschliesslich  massgebend  seien,  wo- 
gegen auf  der  ersten  schlesischen  Direktoren-Konferenz  (a.  a. 
O.  S.  225)  ebensoviel  Meinungen  für  als  wider  die  Einrichtung 
laut  wurden,  so  dass  man  daselbst  zu  gar  keinem  Ergebnis  in 
der  streitigen  Frage  gelangte.  So  bestimmt  denn  auch  die  In- 
struktion für  die  Direktoren  der  Provinz  Sachsen  vom  2.  Mai 
8  00  (vgl.  Wiese  II  S.  175)  dass  es  dem  jedesmaligen  Er- 
messen des  Direktors  ahheimgestellt  bleiben  müsse,  ob  er 
besondere  Versetzungsprüfungen  abhalten  lassen  wolle  oder 
nicht.  Im  allgemeinen  haben  wohl  die  pommerschen  und  preu- 
ssischen  Direktoren  das  Richtige  erkannt,  abgesehen  davon, 
dass  erstere  die  Einrichtung  für  den  Direktor  unentbehrlich 
halten,  (a.  a.  O.  S.  18)  und  letztere  laut  Angabe  bei  Erler, 
S.  40  meinen,  dass  die  Versetzungsprüfungen  dem  Lehrer  für 
sein  Urteil  eine  Art  Ergänzung  bieten  und  zur  Gewinnung! 
eines  endgültigen  Urteils  beitragen  sollen.  Zwar  kann  man  esf 
nur  billigen,  wenn  am  Schlüsse  des  Schuljahres,  wie  nach  der 
Erledigung  längerer  in  sich  abgeschlossener  Unterrichtsab- 
schnitte von  jeher  üblich  war,  ohne  irgend  welche  besondere 
äusserliche  Veranlassung  methodisch  und  mit  Besonnenheit 
Wiederholungen  angestellt  werden,  aber  das  massenhafte  Repe- 
tieren zur  Versetzungsprüfung,  wodurch  der  Schüler  meist  nur 


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200 


Löschkom. 


hin-  und  hergehetzt  und  dem  Mechanismus  leicht  Thür  und 
Thor  geöffnet  wird,  erscheint  im  hohen  Grade  verwerflich  und 
ist  von  manchem  bedeutenden  Schulmann,  wie  von  dem  1868 
verstorbenen    Provinzial-Schulrat    Heiland  (vgl.    darüber  W. 
Herbst.  Karl  Gustav  Heiland.   Ein  Lebensbild.   Halle,  Buch- 
handlung; fl(  ^  Waisenhauses.  1869,  S.  75)  oft  und  mit  Nachdruck 
namenthch  bei  Abiturientenpriifungen  gebrandmarkt.  Das  Ur- 
teil des  Lehrers  über  die  Kenntnisse  des  Srtmlers  und  seine 
Leistungsfähigkeit  kann  durch    ein   Versetzungs  Extemporale 
keineswegs  berichtigt  werden,  muss  v  ielmehr  schon  vor  Beginn 
der  allerdings  auf  jeden  Fall  beizubelialn  nden  Versetzungs- 
prüfung  unbedingt  trsistehen,  da  die  Verletzung  als  Ergebnis 
des  ganzen  in  einem  Jahre  verflossenen  Sehullebens  zu  betrach- 
ten ist.  Es  ist  daher  bei  der  Beurteilung  der  Reife  oder  Nicht- 
reife der  ganze  Mensch  bezüglich  seines  Betragens  und  seiner 
Forts(  hruu   ins  Auge  zu  fassen  und  manchmal  ein  Schüler, 
der  in  der  schriftlichen  oder  mündlichen  Prüfung  nicht  be- 
friedigt hat,  immer  noch  zu  versetzen,  wenn  seine  Klassen- 
leistungen in  den  Hauptfächern  während  des  zurückgelegten 
Schuljahres  wenigstens  im  ganzen  genügt  haben.  Die  Schüler 
wissen  an  jeder  Art  von  Schulen  genau,  was  Haupt-  und  NebeiK- 
fächer  sind,  doch  müssen  sie  auch  in  letzteren  wenigstens  Fleiss 
gezeigt  haben  und  immerhin  ein  bestimmtes  Mass  von  Kennt- 
nissen auch  in  ihnen  besitzen,  jedenfalls  ist  gänzliche  Unwissen- 
heit auch  in  irgend  einem  Nebenfache,  zumal  wenn  sie  mir  auf 
Unfleiss  beruht,  nicht  zu  dulden.  Die  rein  technischen  Fächer, 
also  Zeichnen,  Singen  und  Turnen  haben  für  die  Versetzung 
selbstverständlich  gar  keine  Bedeutung.  Der  Direktor  wird  na- 
türlich aus  einem  derartigen  Examen  nie  und  nimmer  ein  richti- 
ges Bild  von  dem  Stande  der  ganzen  Klasse  erhalten,  sondern 
dasselbe  nur  durch  häufiges  Hospitieren  in  den  Klassen,  also 
durch  eigene  Anschauung,  nebenbei  durch  Heftrevisionen  ge- 
winnen können.  Man  wird  daher  der  auf  den  Direktoren-Kon- 
ferenzen in  Pommern  (a.  a.  O.  S.  18)  und  Schlesien  (S.  225) 
vorgebrachten  Auffassung,  wonach  der  Direktor  durch  die 
Versetzungsprüfungen  einen  summarischen  Ueberblick  über  die 
Leistungen  der  Anstatt,  sowie  über  die  Zweckmässigkeit  der 
Methoden,  Lehrmittet  und  des  Unterrichtsplanes  erhalten  soll, 
nicht  ganz  beipflichten.  Sehr  häufig  tritt  femer  der  Fall  ein, 
dass  ein  Schüler,  den  man  nach  seinen  KlassetiOeistungen  für 


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Dk  BeMk^imnf  der  $9gm,  V*nelnmg^*üfimgtH. 


201 


reif  zu  halten  geneigt  ist«  insbesondere  in  der  mündlichen)  Ver- 
setzungsprüfung sich  viel  unwissender  zeigt,  als  man  nach  seinen 
bisherigen  Leistungen  oder  nach  dem  Residtate  des  schrift- 
lichen Examens  hätte  erwarten  sollen.  Vollends  unrichtig  aber 
ist  esj  wenn  auf  der  genannten  schlesischen  Konferenz  behaup- 
tet wurde,  die  Versetzungsprüfungen  waren  imstande,  dem 
Schüler  eine  Ueberzeugung  von  der  Gerechtigkeit  der  Ent- 
scheidung der  Lehrer  zu  geben.  Es  müsste  schlimm  um  eine 
Anstalt  stehen,  wenn  die  Schüler  von  der  Gerechtigkeit  des 
Lehrerkollegiums  erst  durch  die  Prüfung  überzeugt  werden 
müssten  und  nicht  schon  von  jeher  davon  überzeugt  gewesen 
wären.  Gerade  das  Gegenteil  würde  man  erreichen,  wenn  man! 
obigen  Gedanken  in  den  Schülern  zu  erwecken  suchte,  da  man» 
wie  gesagt,  der  Versetzungsprüfung alleindurchauskeine 
entscheidende  Bedeutung  für  das  Aufrücken  beilegen 
darf.  Sehr  wichtig  ist  dagegen  der  auf  den  Direktoren-Konferen< 
zen  nur  selten,  aber  von  Schmid,  Encykk>pädie,  IX,  S.  673  um 
so  mehr  betonte  Nutzen  der  Versetzungsprüfungen,  die  den 
guten  wie  den  schwächeren  Schüler  gleichmässig  veranlassen, 
zur  rechten  Zeit  die  gehörige  Geistesgegenwart  zu  zeigen.  Ge- 
prüft und  zwar  sowohl  schriftlich  als  mündlich  soll  in  ihnen  nur 
werden  in  den  für  jede  neun-  bzw.  sechsklassige  Anstalt  allge- 
mein als  solche  geltenden  Hauptfächern,  also  beim  Gymnasium 
und  Progynmasium  im  Lateinischen  und  Griechischen,  im  Real- 
gymnasium und  der  Realschule  im  Französischen  und  Eng- 
lischen, in  der  Ober-Realschule  in  Mathematik,  Physik  und 
den  beschreibenden  Naturwissenschaften,  in  allen  diesen  An- 
stalten ausserdem  in  der  Mathematik,  und  in  der  Ober-Real- 
schule noch  in  den  beiden  neueren  Sprachen.  Man  soll  sich 
jedoch  hiermit  nicht  begnügen,  sondern  auch  in  der  münd- 
lichen Prüfung  einige  umfangreichere  Fragen  aus  der  Ge- 
schichte und  Geographie,  aber  keine  aus  dem  Gebiete  des 
deutschen  Unterrichts  stellen.  Das  Deutsche  soweit  es  auf  höhe- 
ren Schulen  getrieben  wird,  eignet  sich  als  unsere  Muttersprache 
zu  Prüfungen  am  allerwenigsten,  auch  liat  man  bei  allen  Teilen' 
des  schriftliclicn  und  mündlichen  Examens  reichlich  Gelegen- 
heit, die  Fertigkeit  der  Schüler  im  deutschen  Ausdruck  zu 
erproben,  und  die  deutsche  C/ranimatik  lässt  sich  namentlich 
in  unteren  und  mittleren  Klassen  sehr  leicht  mit  der  Prüfung- 
in  den  iremdeii  Sprachen  durch  Vergleicliung  der  beiderseiti- 


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202 


Löschhom, 


gen  grammatischen  Regeln  verbinden.  Die  Versetzungsprüfung 
beschäftigt  sich  naturgemäss  am  eingehendsten  mit  denjenigen 
Schülern,  deren  Aufrücken  in  die  nächst  höhere  Klasse  noch 
zweifelhaft  ist,  während  die,  welche  vom  Fachlehrer  für  be- 
stimmt reif  oder  unreif  erklärt  sind,  zwar  nicht  ganz  übei^^angen 
werden  dürfen,  schon  um  nicht  vor  der  Versetzung  mdirekt 
eine  Entscheidung  auszusprechen,  aber  doch  nur  vorübergehend 
berücksichtigt  zu  werden  brauchen.  £s  wird  daher  praktisch  er* 
scheinen,  vor  Beginn  der  Prüfung  ein  nach  den  Klassenleistun- 
gen aufzustellendes  schriftliches  Verzeichnis  aller  Schüler  mit 
den  Bezeichnungen:  „reif,  zweifelhaft,  unreif"  für  alle  Fächer 
unter  Berücksichtigung  des  Klassen-  und  Lebensalters  bereit  zu 
halten  und  es  nach  Beendigung  des  Versetzungsexamens  durch 
die  nötig  gewordenen  Zusätze  zu  ergänzen,  worauf  die  Ver- 
setzungslisten  dem  Direktor  überreicht  werden.  So  ist  alles 
für  die  Versdtzungs- Konferenz,  die  ganz  kurz  vor  Schluss  des 
Schuljahres  stattfindet,  vorbereitet.  In  dieser  ist  natürlich 
zunächst  den  Lehrern  der  betreffenden  Klasse  eine  beratende 
Stimme  einzuräumen,  doch  wird  man  auch  die  lücht  direkt  be< 
teiligten  Lehrer  keineswegs  von  der  Beratung  ausschliessen, 
da  nicht  selten  jeder,  wenn  auch  nur  zufällig,  in  der  Lage  sein 
kann,  irgend  welche  für  die  Versetzung  wichtige  Bemerkungen 
über  einen  Schüler  zu  machen.  Nur  in  besonders  schwierigen 
Fällen  werden  auch  die  Lehrer  der  nächst  höheren  Klasse  zu 
befragen  sein,  während  unbedingt  berechtigt  zur  Abstimmung 
allein  der  Direktor  und  die  Klassenlehrer  sind.  Selbstverständ- 
lich können  schwächere  Leistungen,  sogar  in  einecn  oder  mehre- 
ren Hauptfächern,  durch  besonders  gute  in  einem  anderem 
Hauptfache  aufgewogen  werden,  wie  es  von  jeher  bei  den  alten 
oder  nieueren  Sprachen  einerseits  und  der  Mathematik  andrer, 
seits  geübt  :ist.  Ja  jetzt,  wo  die  neuesten  Lehrpläne  in  Kraft 
getreten  sind,  wird  man  noch  mehr  als  früher  angehalten,  beim 
Schüler  den  gamen  Menschen,  nicht  seine  einzelnen  Seiten  an- 
zusehen. Die  sich  bei  den  Versetzungen  ergebenden  Schwierig- 
keiten können  nach  Schmid,  Bncyklopädie  IX  S.  671  nur  durdt 
den  pädagogischen  Takt  der  Lehrer  gelöst  werden,  und 
man  wird  unbedingt  Schüler  versetzen  köimen,  obwohl  sie 
die  Reife  nicht  in  allen  Gegenstanden,  ja  selbst  nicht  in  mehreren 
Hauptfächern  Bitzen,  wenn  sie  anders  durch  ihren  Fleiss  und 
ihre  sittliche  Tüchtigkeit  die  unzweifelhafte  Gewähr  dafür 
bieten,  dass  sie  das  Versäumte  mit  Erfolg  nachholen  und  so 


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Die  Beibehaliung  der  sogen,  yenettungsprüßingm. 


203 


in  der  neuen  Klasse  mit  fortkommen  werden.  Ganz  ausseror- 
dentliche Schwierigkeiten  bereiten  endlich  die  Schüler  dem 
Lehrerkollegium,  die  zweimal  den  Kursus  durchgemacht  haben, 
aber  wegen  mangelnder  Fähigkeiten  oder  wegen  Unfleisses 
auch  nach  zweijährigem  Aufenthalte  in  der  Klasse  noch  nicht 
für  reif  zur  Versetzung  haben  erklärt  werden  können  und  sich 
dabei  noch  in  einem  vorgerückten  Lebensalter  befinden.  Hier 
muss  ganz  genau  erwogen  werden,  ob  die  Eltern  nunmehr 
aufzufordern  sind,  ihre  Söhne  von  der  Anstalt  vvegzunehincii 
oder  ob  man  noch  einen  letzten  Versuch  mit  solchen  Schülern, 
machen  darf,  indem  man  sie  bedingungsweise  versetzt,  aber 
nicht  als  blosse  Hospitanten  in  der  neuen  Klasse  betrachtet, 
sondern  aufmerksam  während  des  ersten  Vierteljahres  des 
neuen  Schuljahrs  beobachtet,  ob  sie  sich  in  den  neuen  Verhalt- 
Dissen  zusammennehmen  und  die  erheblichsten  Lücken  in  ihrem 
Wissen  und  Kitemen  auszufüllen  bemühen.  Ist  dies  der  Fall, 
so  wird  man  sie  ruhig  in  der  neuen  Klasse  lassen,  misslingt 
aber  dieser  letzte  Versuch,  so  müssen  die  Eltern  unnachsichtlich 
angehalten  werden,  sie  von  der  Schule  fortzunehmen  und  ge> 
gebenen  Falls  einem  praktischen  Berufe  zuzuführen.  Eine  Her- 
abdrückung  der  staatlichen  Forderungen  kann  man  darin  nicht 
erblicken,  muss  vielmehr  unbedingt  anerkennen,  dass  die  Schule 
nunmehr  alles  für  das  Wohl  des  betreffenden  Schülers  ge- 
than  hat. 


ZeUtdirifl  «r  pUifogiMlw  Pkydiotogle  fuA  PMhetogl«. 


3 


Was  soll  das  Kind  lesen? 


Von 

Hahs  Limmer. 

Lernen  bedingt  Uebung,  Gelemthaben  Anwendung:  das 
Kind,  das  ksen  lernen  soll,  muss  sich  häufig  drin  üben, 
das  Kind,  das  lesen  gelernt  hat,  will  seine  neuerworbene 
Kenntnis  auch  anwenden.  Interesse  und  Nachahmungstrieb  ver- 
langen es  so:  das  Interesse  erwächst  aus  der  Uebung  selbst, 
der  Nachahmungstrieb  wird  geweckt  durch  das  Beispiel  der 
Erwachsenen,  die  das  Kind  umgeben.  Wie  stark  auch  das 
Lesebedürfnis  der  Jugend  ist,  dafür  hat  A.  Rüde  gelegentlich 
einmal  ein  charakteristisches  Beispiel  gegeben  :  er  hat  berechnet, 
dass  in  den  Jahren  1885  bis  1887  allein  1381  Jugendschriften 
neu  erschienen  sind  Aber  streng  ist  zu  scheiden  zwischen  den 
Büchern,  die  dem  Kinde  in  der  S  c  h  u  1  e  vorgelegt  werden,  und 
den  Schriften,  die  es  zu  Hause  für  sich  liest.  Jene  sind  eigens 
präparierte,  stets  kontrollierbare  Lehrmittel  jn  der  Hand  des 
Lehrers,  diese  geiioren  mit  zu  den  ..verborgenen  Miterziehem", 
wie  Herbart  sie  nennt :  das  Kind  liest,  was  es  gerade  findet, 
immer  ohne  Wahl,  aber  liäufig  mit  Schaden,  wenn  ihm  gerade 
nichts  Gutes  zur  Hand  konmit.  Das  Buch,  dem  das  Kmd  zu  Hause 
sich  widmet,  ist  nicht  nur  eine  Macht,  es  ist  eine  Gross  macht, 
die  uns  je  nach  unserer  Politik  ihr  gegenüber  nützen,  aber 
auch  gewaltigen  Schaden  zufügen  kann :  wir  müssen  sie  unseren 
Zwecken  dienstbar  machen,  weim  sie  ihnen  nicht  zuwider- 
i  a  u  1  e  n  soll. 

Was  also  soll  das  Kind  lesen?  -  Das  ist  die  Frage.  Es 
handelt  sich,  wie  schon  angedeutet,  uni  die  Ii  au. s  liehe  Pri- 
vatlektüre  des  Kindes,  aber  dennoch  reden  wir  stets  von 
dem  Schulkind:  ,,Kind"  heisst  für  uns  hier  nur  das  Kind 
kurz  nach  dem  Eintritt  in  die  Schule  bis  ziun  Austritt  aus  der- 
selben, oder,  um  auch  die  Zöglinge  höherer  Lehranstalten  ein* 
zubegreifen,  das  Kind  etwa  vom  8.  oder  9.  bis  14.  oder  i  sJahreA) 

1)  Schüler  höherer  Lehranstalten  nehmen  etwa  vom  11.  Jahre  an  eine 
andere  Entwickclung  als  die  Zöglinge  der  Volksschulen:  es  treten  ihnen  die 
Schätze  der  antiken  Litteratur  gegenüber.  Von  der  Privat  lektüre  aber 
sind  diese  besser  anszusdülcsseii,  da  in  ihnen  zn  vid  M yUiologisdies  und 
Ktdturhistorisclies  TOtkommt,  zu  dessen  Erkliniog  der  Lehrer  notwendig  ist 


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IVW  M  das  XM  lesenf 


205 


Warum  die  untere  Grenze  gezogen  wird,  das  ist  leicht  zu  ver- 
stehen, ist  doch  das  Lesen  lernen  die  natürliche  Bedingung 
für  das  Lesen  können,  muss  doch  also  das  Kind  zunächst 
einmal  mindestens  sein  erstes  oder  zweites  Schuljahr  hinter 
sich  haben,  ehe  es  sich  häuslicher  Privatlektüre  zu  widmen 
vermag.  Etwa  mit  dem  14.  oder  15.  Jahrel  aber  entzieht  es 
sich  nicht  nur  der  Aufsicht  der  Schule,  indem  es  diese  verlässt, 
sondern  mehr  oder  weniger  auch  der  Aufsicht  des  Hauses,  der 
Eltern:  der  Knabe  kommt  in  die  Lehre,  das  Mädchen  tritt  in 
den  Dienst,  oder  beide  beginnen  doch  wenigstens  als  „Kon- 
firmierte", die  „Sie"  genannt  werden  müssen,  ihre  eigenen  Wege 
zu  gehen. 

So  bedingt  es  sich  aus  praktischen  Gründen,  warum  wir 
eigentlich  nur  in  der  Zeit  vom  8.  bis  1 5.  Jahre  tieferen  Einfluss 
auf  die  Lektüre  des  Kindes  besitzen,  und  warumi  wir  uns  hier 
auf  die  schulpflichtige  Jugend  —  Knaben  sowohl  wie  Mädchen, 
die  ja  im  schulpflichtigen  Alter  so  ziemlich  auf  demselben  Ni- 
veau gehalten  werden  —  zu  beschränken  haben.  Aber  wir 
werden  sehen,  wie  wir  indirekt  die  Lektüre  auch  der  reiferen, 
selbständigeren  Jugend,  ja  die  Lektüre  während  des  ganzen 
Lebens  unsere  Kinder  beeinflussen  können. 

Was  soll  das  Kind  lesen?  —  wir  müssen  leider  zunächst 
fragen :  was  soll  es  n  i  c  h  t  lesen  ?  Alljährlich  um  die  Weihnachts- 
zeit beginnt  in  unseren  Zeitungen  das  bekannte  anmutige  Spiel 
der  Empfehlung  zahlreicher  ,  Jugendschriften".  Nichts  wird  ge- 
tadelt, alles  gelobt,  und  jedes  der  „kritbierten"  Werk6  erhält 
ein  schmückendes  Beiwort,  wie  „lehrreich",  „vortrefflich  für 
die  Jugend  geeignet",  „Herz  und  Gemüt  bildend",  „die.  Vater- 
landsliebe weckend",  „von  echt  christlichem  Geiste  getragen". 
Diese  ganze  schier  unabsehbare  spezifische  „Jugendlitteratur" 
kann  hinwegg(  fc^t  werden  durch  ein  Wort  Theodor  Storms, 
der  da  sagt :  „Wenn  du  für  die  Jugend  schreiben  willst,  so  darfst 
du  nicht  für  die  Jugend  schreiben."  Der  Ausspruch  klingt  para- 
dox, enthält  aber  eine  tiefe  pädagogische  Weisheit.  Es  sind 
alles  Tendenzschriften,  die  er  trifft,  Schriften,  die  in 
poetischer  Form  —  sei  es  in  Prosa  oder  in  Versen  —  Belehrung 
und  Veredelung  des  Kindes  anbahnen  wollen  oder  anbahnen 
zu  wollen  vorgeben,  die  also  die  Dichtung  sozusagen  zum  Ve- 
hikel von  Bestrebungen  machen,  die  mit  ihrem  innersten,  eigen- 
sten Wesen  nicht  die  mindeste  Berührung  mehr  haben.  Die 

3* 


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206 


Htm  ZÜHmtr, 


Dichtung  hat  hier  also  keinen  künstlerischea  Zweck  mehr, 
und  da  dieser  der  einzige  ist,  den  sie  ihrer  Natur  nach  haben 
kann  und  darf,  überhaupt  keinen  Selbstzweck  mehr :  sie  ist  zur 
Dienerin  fremder  Mächte  geworden,  pädagogischer,  ethischer, 
kirchlicher  Mächte.  Dieser  Erniedrigung  der  Dichtkunst  ent- 
spricht auch  die  Frucht  derartiger  litterarischer  Produktion. 
Wie  gäbe  sich  wohl  ein  wirklicher  Dichter  dazu  her,  seine 
Muse  einzuzwängen  in  fremdes  Joch?  Nein,  es  sind  Stümper 
und  minderwertige  Skribenten,  die  solche  Tendenzjugend- 
schriften meist  dutzendweise  fabrizieren,  und  die  mit  ihren  völlig 
unkikistlerischen,  einer  mageren  Begabung  mühsam  abge- 
quälten y,Dichtungen"  der  künstlerischen  Erziehung  der 
Jugend,  die  doch  aus  pädagogischen  wie  aus  sozialpolitischen 
Gründen  so  sehr  notwendig  ist,  geradezu  einen  Riegel  vor- 
schieben. Die  Belehrung,  die  in  derartigen  Machwerken 
dargeboten  werden  kann,  —  ein  bischen  Geschichte  vielleicht 
oder  Geographie  ^  wird  dem  Kinde  in  der  Schule  von  be- 
rufenerer Seite  zu  teil,  gründlicher,  zusammenhängender,  syste^ 
matischer  und  vor  allem  in  besserer  Auswahl,  und  von  der  so- 
genannten Veredelung  darf  man  am  Ende  sogar  ehie  Schä- 
digung fürchten.  Denn  fast  alle  Tendenzschiiften  stellen  der 
Jugend  moralische  Typen  vor  Augen,  wie  es  sie  im  wirklichen 
Leben  überhaupt  nirgends  giebt,  engelretne  Musterknaben  und 
komplette  Taugenichtse :  aus  der  Lektüre  solch  verlogener  After- 
moral ergeben  sich  urteilslose  Dummköpfe  oder  Heuchler. 

So  ist  unser  Resultat  bis  jetzt  nur  ein  negatives :  keine  Ten- 
denzschriften, keinen  Missbrauch  der  Dichtung  im  Dienste 
moralischer  oder  religiöser  Mächte,  keine  aufdringlichen  Be- 
tefarungs-  und  Veredelungsversuche  durch  spezifische  Jugend- 
Schriften  1  Aber  darin  sind  wohl  alle  einig,  dass  die  Privatlektüre 
des  Kindes  unter  allen  Umständen  einen  erzieh- 
lichen Einfluss  auf  den  jugendlichen  Leser  ausüben  soll 
und  muss.  Wir  sind  genötigt,  auf  das  Gebiet  der  Philosophie, 
genauer,  der  Psychologie,  hinüberzutreten,  um  zu  positiven  Er- 
gebnissen weiterzuschreiten.  Glücklicherweise  handelt  es  sich 
zuvörderst  um  Dinge,  die  leicht  zu  begreifen  sind,  um  Fragen, 
deren  Lösung  nicht  zweifelhaft  sein  kann:  ein  Blick  auf  die 
Verhältnisse,  wie  sie  bei  den  Erwachsenen  liegen,  wird 
uns  aufklären.  Will  man  nämlich  die  letzteren  in  ihrer  Ge- 
samtheit, will  man  das  Volk  erziehen,  so  hat  man  von  drei 


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IVoj  JoU  äoi  Mmd  iestnf 


207 


Seiten  auf  sein  Innenleben  einzuwirken.  Man  wendet  sich  l.  an 
das  Unterhaltungsbedürfnis  und  sucht  mit  seiner  Hilfe 
die  Geschmacksbildong  zu  heben,  2.  an  den  natürlichen 
Wissenstrieb  und  erstrebt  mit  dessen  Befriedigung  eine 
weite  Verbreitung  nützlicher  Kenntnisse,  3.  an  die 
jedem  Menschen  innewohnenden  ethischen  und  religiö- 
sen Anlagen  und  dient  damit  der  Pflege  von  Sittlich- 
keit,  Religiosität  und  Vaterlandsliebe.  Die  eben  an 
geführte  Reihenfolge  (Geschmack,  Kenntnisse,  Sittlichkeit  etc.) 
ist  dabei  nicht  gleicchgültig.  £s  ist  —  vor  allem  auf  statistischem 
Wege  —  erwiesen,  dass  das  Volk  am  leichtesten  für  Unter- 
hakendes zu  erwärmen  ist.  Dem  Interesse  für  dieses  folgt  in 
zweiter  Linie  das  Verlangen  nach  Belehrung,  während  eine 
direkte  Einwirkung  auf  ethischem  und  religiösem  Gebiete  nur 
mit  grösster  Vorsicht  gewagt  werden  kann. 

Fragen  wir  uns  nun,  wie  man  diese  Ergebnisse  der  Wissen- 
scfaaft  auf  die  Jugendlektüre  anwenden  kann,  wie  man  sich 
zur  unterhaltenden,  belehrenden  und  um  einen  kurzem  Aus- 
druck zu  gebrauchen  —  zur  veredelnden  Jugendlitteratur  zu 
stellen  hat,  so  muss  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  gestehen, 
dass  hinsichtlich  der  belehrenden  und  der  veredelnden  Jugend- 
litteratur wenigstens  für  ihn  die  Sache  zur  Zeit  noch  durchaus 
nicht  spruchreif  ist.  Dass  freilich  das  Belehrende  streng  von 
dem  Unterhaltenden  zu  scheiden  ist^  dass  man  nicht  versuchen 
soll,  dem  Kinde  etwas  Unterhaltendes  direkt  nur  deshalb'  vor- 
zusetzen, um  ihm  in  dieser  Form  Belehrendes  unterzuschieben» 
das  gilt  auch  ihm  für  ausgemacht,  und  Einzelheiten}  sind 
auch  sonst  schon  geklärt,  z.  B.  dass  unter  den  belehrenden 
Schriften  die  Biographieen  einen  breiten  Raum  einnehmen 
müssen,  weil  sie  —  die  Schilderung  jedes  Lebend  hat  ja  doch 
einen  Stich  ins  Romanhafte  —  sich  von  allem  Belehrenden 
dem  Unterhaltenden  am  engsten  anschliessen,  darum  auch 
von  aUem  Belehrenden  am  liebsten  gelesen  werden  und 
überdies  pralctische  Beispiele  unausgesprochener  l.ehren 
vor  Augen  führen,  also  in  hohem  Grade  erzieherisch 
wirken.  Aber  die  wichtigste  aller  hier  in  Betracht 
kommenden  Fragen,  die  Frage:  sind  in  d«:  populärwissen- 
schaftlichen Littemtur  für  Erwachsene  genügend  viele  Schriften 
belehrenden  Inhalts  vorhanden,  die  anch  der  Fassungskraft 
des  Kindes  entsprechen,  d.  h.  genügt  für  die  Jugend  eine  Aus- 


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208 


Sims  Zmnur. 


wähl  aus  dem  \'oi  luuidenen  oder  müssen  durch  besondere 
Jugendschriftsteller  besondere  Jugendschrilti  n  belehrenden  In- 
halts geschaftcii  \srr(it'n?  —  diese  Frage  lasst  sich  eben  noch 
lange  nicht  bcaniwoiten.  Man  ,agt  zwar  allgemein,  für  die 
Naturwissenschaften  lägen  eine  Folge  \  on  deren  Authchwung 
im  19,  Jahrhundert  —  genug  für  die  Jugend  geeignete  populär- 
wissenschaftliche Darstellungen  in  der  Erwachsenen-Litteratur 
vor,  während  für  Geographie  und  Geschichte  ein  Eingreifen 
der  Jugendschriftsteller  erforderlich  wäre,  aber  etwas  Binden- 
des Uesse  sich  hierüber  nur  auf  Grund  einer  umfassenden  in- 
duktiven Untersuchung  ausmachen,  und  die  ist  bis  jetzt  noch 
nicht  geleistet,  kann  auch  nur  in  jahrelanger  Durchforschung 
der  einschlägigen  Erwachsenen-Litteratur  geleistet  werden. 

Noch  weniger  spruchreif  ist  zur  Zeit  die  Frage  der  ver- 
ede Inden  Jugendlitteratur.  Hier  wagt  der  Verfasser  dieses 
Aufsatzes  überhaupt  nur  eine  Bemerkung  mit  Sicherheit  aus- 
zusprechen, die  nämlich,  dass  man  dem  Kinde  moralische  Wert- 
urteile nicht  fix  und  fertig  vorlegen,  sondern  sein  eigenes  mora> 
lisches  Urteil  wecken  soll.  Wie  es  vom  wissenschaftlichen 
Denken  gilt,  dass  es  zwar  allgemein  als  Streben  nach  Erkennt- 
nis und  Wahrheit  aufgefasst  wird,  dass  aber  diese  Erkenntnis 
und  diese  Wahrheit  in  hundert  verschiedenen  Köpfen  hundert- 
fach verschieden  aussehen,  so  kann  es,  dasselbe  auf  das  mora- 
lische Gebiet  übertragen,  sehr  wohl  als  möglich  hingestellt 
werden,  dass  einmal  das  Kind  in  dem  fix  und  fertig  geprägten 
Urteil  des  Buches  ein  Urteil  findet,  das  dem  seiner  Eltern  ganz 
oder  teilwebe  zuwiderläuft.  Dann  gerät  es  in  emen  Widerspruch 
zwischen  zwei  Autoritäten,  es  kann  diesen  Widerspruch  nicht 
entscheiden,  es  tändelt  also  darüber  hinweg,  und  das  führt  zu 
moralischer  Oberflächlichkeit  im  allgemeinen.  Hier  vielleicht 
am  ehesten  würde  sich  dann  das  vielbestrittene  Wort  Herders 
bewähren:  „Ein  Buch  bat  oft  auf  eine  ganze  Lebenszeit  einen 
Menschen  gebildet  oder  verdorben."  Tritt  das  Buch  dagegen 
absichtlich  nicht  autoritativ  auf,  überlässt  es  die  Gewinnung 
des  moralischen  Urteils  dem  jugendlichen  Leser  selbst,  so  ist 
die  geschilderte  Gefahr  natürlich  vermieden.  Aber  das  ist  nur 
eine  Frage  aus  vielen  anderen,  die  als  Probleme  vor  uns  auf- 
schiessen,  wenn  wir  über  die  veredelnde  Jugendlitteratur  nach- 
denken, und  vor  allem  kann  auch  hier  der  wichtigste  Punkt 
gegenwärtig  wiederum  nicht  entschieden  werden:  genügt  eine 


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iVas  soU  das  Kmd  Uienf 


209 


Auswahl  aus  der  Erwachsenen- Litteratur,  oder  müssen  wir  be- 
sondere jugendschriftsteiier  aufrufen  zu  verantwortungsvoller 
Thätigkeit  ? 

Vielleicht  ist  es  praktisch  von  keiner  allzu  grossen;  Bedeu* 
tung,  dass  wir  hinsichtlich  Belehrung  und  Veredelung  noch 
so  wenig  sichere  Pfade  zu  gehen  vermögen :  Werke  aus  diesem 
Gebiete  stehen  dem  Leseb^ürfnis  der  Jugend,  wie  wir  gesehen 
haben,  ja  femer  und  werden  darum  auch  viel  seltener  begehrt 
als  unterhaltende  Schriften.  Was  aber  diese  betrifft,  90 
haben  wir  festen  Boden  unter  den  Füssen,  und  der  Fortgang 
unserer  Untersuchungen  wird  uns  auch  praktische  Resultate 
vermitteln. 

Wenn  wir  das  Kind  in  seinem  Verhältnis  zur  Lektüre  be* 
obachten,  so  fällt  uns  schon  bei  oberflächlicherer  Prüfung 
dreierlei  auf.  Ehe  das  Kind  noch  lesen  gelernt"  hat,  regt  sich 
in  ihm  bereits  eine  Art  litterarischen  Unterhaltungsbedürfnisses, 
indem  es  die  Mutter  beständig  quält,  ihm  Geschichtenl  zu  er- 
zählen. Sobald  es  dann  selbst  zu  lesen  vermag,  reisst  es  alles, 
was  ihm  an  Gedrucktem  irgend  in  die  Hände  fällt,  ohne  Wahl, 
ohne  Skru{>el  an  sich,  und  häufig  genug  erkennen  wir  an  ihm  die 
Auswüchse  der  ungezügelten  „Lesewut**.  Aber  drittens  lässt  es 
sich  ebenso  gern,  wie  es  sich  Lektüre  sucht,  von  uns  mit 
Lektüre  versorgen,  und  hier  ist  der  Punkt,  an  dem  wir  ein- 
setzen können,  um  die  Unterhaltungslektüre  der  Jugend  er- 
zieherisch zu  beeinflussen,  zum  Erziehungsmittel  zu  machen. 

Wir  lernen  aber  aus  der  eben  besprochenen  Beobachtung 
des  Kindes  in  seinem  Verhältnis  zur  Lektüre  noch  mehr.  Was  ist 
es  denn  für  Litteratur,  die  sich  das  Kind  zusammensucht,  um 
seinen  Lesehunger  zu  stillen?  Sind  es  etwa  spezifische  Jugend- 
Schriften?  Die  wird  es  freilu:h  auch  lesen,  sobald  es  sie  findet, 
aber  doch  —  ^ücklicherweiset  —  nur  zu  Weihnachtenr  oder 
zum  Geburtstag  einmal  erhalten,  sich  gelegentlich  von  einem 
Freunde  leihen  u.  s.  w.:  viel  näher  liegt  ihm  die  Zeitung  des 
Vaters,  das  Leihbibliotheksbuch  der  Mutter,  kurz,  die  £  r  w  ac  h  - 
8enen-<Litteratur,  und  jedenfalls  ist  es  unerhört,  zu  be- 
haupten, das  Kind  lege  ein  besonderes  Verlangen  nach 
spezifischen  Jugendschriften  an  den  Tag:  es  liest,  wenn  es 
nach  ihm  geht,  was  es  von  den  Eltern  und  überhaupt  von  den 
Erwachsenen  gelesen  sieht.  So  webt  es  uns  also  für  die  Unter- 
haltungslektüre durch  sein  eigenes  Verhalten  hin  auf  den  Satz, 


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210 


üfinw  Mtmmtr, 


ZU  dem  wir  schon  im  ersten  Teile  unserer  Untersuchung  von 
einer  anderen  Seite  aus  gelangten:  keine  besonderen 
uiiicrhahenden  Jugendschriften,  sondern  Auswahl  aus  der 
Erwachsen  en-Litteratur!  Konnten  wir  diese  Forde- 
rung für  die  belehrende  und  die  veredelnde  Litteratur  nicht  oder 
doch  nicht  mit  Sicherheit  aufstellen,  so  liegt  der  Fall  bei  der 
Unterhaltungslektüre  ganz  anders.  Welche  Fülle  von  Erzäh- 
lungen, Novellen,  Romanen,  Dramen,  Lustspielen,  Sdzien  u. 
s.  f.  in  der  deutschen  wie  in  der  ausländischen  Litteratur,  die 
im  Original  und  in  guten  Uebersetzungen  auch  dem  Kinde  dar- 
geboten werden  können!  Wie  verhältnismässig  leicht  ist  bei 
diesem  Reichtum  die  Auswahl  I  Wie  viele  Namen  fallen  uns 
gleich  bei  flüchtigem  Nachdenken  ein :  Defoe,  Swift,  Andersen, 
Kömer,  Schiller,  Bumett,  Eberhard,  Habberton,  Hauff,  Bren- 
tano u.  s.  f.l  Auch  die  berühmten  Grimmschen;  Märchen  sind 
ja  ursprunglich  für  die  Erwachsenen  und  sogar  für  gelehrte 
Zwecke  gesammelt  und  doch  ein  geradezu  klassisches  Kinder- 
buch geworden. 

Die  Frage,  ob  für  die  litterarische  Unterhaltung  der 
Jugend  ieine  Auswahl  aus  der  Erwachsenen-Litteratur  genügt, 
ist  also  ohne  weitere  Untersuchung  induktiver  Natur  zu  be- 
jahen, und  es  ist  nur  festzustellen:  Wer  soll  diese  Auswahl 
treffen?  und  Wie  soll  sie  getroffen  werden? 

Die  erste  dieser  Fragen  ist  unschwer  zu  beantworten.  Wir 
erinnern  uns  daran,  dass  das  Kind  die  Mutter  quälte,  ihm 
Geschichten  zu  erzählen  und  so  für  sein  litterarisches  Unter- 
haltungsbedürfnis zu  sorgen,  dass  es  die  von  den  Eltern  ge- 
lesenen Bücher  auch  seinerseits  zur  Hand  nahm,  sobald  es  sie 
fand,  und  sobald  es  damit  gegen  kein  ausdrückliches  Verbot 
verstiess.  Wer  ist  im  Hause  so  viel  um  das  Kind  wie  die  Eltern  ? 
Wer  hat  so  sehr  ein  Recht  und  die  Pflicht,  das  Kind  zu  beauf- 
sichtigen, wie  sie?  Wem  folgt  es,  wenn  es  überhaupt  folgsam 
ist,  so  gern  wie  den  Eltern?  Es  ist  kein  Zweifel,  dass  diese 
in  erster  Linie  berufen  sind,  die  für  ihr  Kind  —  und  gerade  für 
ihr  Kind,  das  doch  niemand  so  gut  kennt  wie  sie  —  geeig^te 
Unterhaltungslektüre  aus  der  Erwachsenen- Litteratur  auszu- 
wählen. Dass  sie  zu  diesem  Zwecke  selbst  manches  gelesen 
haben  müssen,  ist  klar:  die  Vorbcdinpimg  der  Kinderlektüre 
ist  die  Eltemlektüre,  und  darum  hat  auch  für  den  Volkspäda- 
gogen vor  der  Frage:  „Was  soll  das  Kind  lesen?"  im  letzten 


L.iyui<.LU  Oy  VjQOQle 


Was  sott  das  KM  leatnf 


211 


Grunde  die  andere  zu  stehen:  „Was  soll  das  Volk  lesen?*'  In 
Anbetracht  der  Thatsache  jedoch,  dass  die  Eltemlektüre 
äusserer  Umstände  wegen  nicht  immer  ausgedehnt  genug 
ist  und  sein  kann,  um  dem  Kinde  ausser  dem  ewig  klassischen 
Robinson,  den  Grimmschen  Märchen  und  einigen  anderen  be- 
rühmten Büchern  dieser  Art  ausreichend  vielen  sonstigen  Lese- 
Stoff  zuzuführen,  haben  es  eine  Reihe  Pädagogen  und  auch 
mehrere  Vereinigungen  von  Lehrern,  Volksfreunden  u.  s.  w. 
unternommen,  den  Eltern  bei  der  Auswahl  der  für  Kinder  ge- 
eigneten Unterhaltungslitteratur  behilflich  zu  sein,  indem  sie 
Listen  von  Büchern  aufstellten,  die  auf  ihre  Verwendbarkeit 
für  die  Jugend  von  ihnen  geprüft  wurden.  Jeder  Buchhändler 
wird  dem  Vater  oder  der  Mutter  ohne  weiteres  mehrere  solcher 
Veneicfanisse  namhaft  machen  können,  am  besten  aber  wendet 
man  sich  an  den  Hamburger  Jugendschriftenausschuss  (Vor- 
sitzender: Fritz  von  Borstel,  Hamburg,  Malzweg).  Aus  dessen 
Arbeit  ist  unter  anderem  auch  ein  Verzeichnis  hervorgegangen, 
das  aus  der  bekannten  billigen  Sammlung  „Meyers  Volks- 
bücher** alle  für  die  Jugend  passenden  Heftchen  —  eine  reiche 
Anzahl  —  heraushebt  und  übrigens  durch  die  Verlagsanstalt 
(Biblk>graphisches  Institut  in  Leipzig)  kostenfrei  zu  beziehen  ist. 

Trotz  solcher  Beihilfe  aber  ist  es  gewiss  nicht  nutzlos,  den 
Eltern  im  folgenden  direkte  Winke  über  das  Wie  der  von 
ihnen  selbst  zu  treffenden  Auswahl  zu  geben.  Dass  ein  Buch, 
soll  es  für  die  Jugend  geeignet  sein,  nichts  Anstössiges  ent' 
halten  darf,  braucht  nur  im  Vorübergehen  erwähnt  zu  werden, 
und  ebenso  muss  es  von  den  Eltern  vorausgesetzt  werden,  dass 
sie  Anstössiges  ohne  weiteres  herausfinden  und  von  ihren  Kin- 
dern fernhält«!  würden.  Eine  zweite  Regel  aber  ist  die :  Zwinge 
Deinem  Kinde  nicht  auf,  was  Dir  selbst  keinen  poetischen  Ge- 
nuss  bereitet!  Die  unterhaltende  Privatlektüre  des  Kindes  darf 
nicht  als  eine  Arbeit  empfunden  werden  wie  die  Lektüre  in 
der  Schule;  wofür  das  Kind  nach  Deiner  eigenen  Meinung 
kein  Interesse  zeigen  kann,  das  gieb  ihm  nicht  in  die  Hand, 
und  wofür  es,  sei  es  selbst  gegen  Dein  Erwarten,  thatsächlich 
kein  Interesse  zeigt,  das  lass  es  ruhig  wieder  bei  Seite  legen. 

Dass  die  Lektüre  des  Kindes  dessen  Fassungskraft  wie 
überhaupt  das  Niveau  seines  ganzen  psychischen  Zustande! 
nicht  übersteigen  darf,  braucht  eigcntlicfa  ebenfaUs  gar  nkbt 
besonders  hervorgehoben  zu  werden:  jedermann  weiss,  dass 


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212 


Hans  Zimmer. 


das  Kind  im  Vergleich  zum  Erwachsenen  eine  geringere  Er- 
kenntnisfähigkeit, ein  ru(  kständiges  GeÜihlslebcn,  einen  schwä- 
cheren Willen  besitzt.  V  on  diesi-m  Gesichtspunkte  aus  sagt  z.  B. 
Wolgast  sehr  richtig:  „Ein  Ftuillctun  für  die  Jugend  giebt  es 
nicht;  was  seine  Seele  ist,  Witz  und  Geist,  ist  dem  kindlichen 
Sinne  nicht  gemäss."  Aber  man  muss  anderseits  auch  nicht 
allzu  ängstlich  sein;  wo  bliebe  der  Fortsrliritt,  wenn  in  einem 
Buche  dem  Kinde  \on  vornherein  alles  xerständlich  wäre? 
Neben  dem  Klaren  muss  auch  minder  Klares  und  Unklares 
stehen,  Gedankenreihen,  die  für  das  Kind  Probleme  ent- 
halten, und  die  es  darum  anregen  zum  Nachdenken  und  zur 
Selbst  thätigkeit.  !  .    •  ♦ 

•«  Dasselbe  gilt  nun  auch  vom  ethisc  hen  und  aestheti- 
sehen  Wert  der  unterhaltenden  Jugendlektüre ;  auch  hier  lautet 
diei  Parole:  anregen!  Wir  haben  schon  erfohren,  warum 
diejenigen  Bächer  vom  Kinde  femgehalten  werden  müssen,  die 
ihm  moralische  Werturteile  fix  tmd  fertig  vorsetzen,  und  jetzt 
fügen  wir  dem  die  positive  Forderung  hinzu:  lass  Dein  Kind 
selbst  urteilen,  versuche  es  mit  ihm,  ob  es  nicht  selbst 
gegenüber  den  Handlungen,  von  denen  es  liest,  den  richtigen 
sittlichen  Standpunkt  einzunehmen  vermag)  Du  brauchst  dich 
nicht  zu  scheuen,  deinem  Kinde  ein  Buch  in  die  Hand  zu  geben, 
weil  darin  auch  Missethaten  geschildert  werden :  das  Schlechte 
wirkt,  wenn  es  nur  deutlich  und  nicht  als  Gegenstand  der  Be- 
gierde gezeichnet  ist,  abstossend  auf  die  Kinder  ein.  Romane, 
Novellen  und  überhaupt  alle  Arten  „Geschichten"  sollen  ein 
Abbild  des  thatsächlichen  Lebens  sein,  wenn  das  Kind  aus 
ihnen  wirklich  Lebensverhältnisse  beurteilen  lernen  soll,  wahr 
sein,  nicht  wahr  im  Sinne  realistischer  Detailmalerei,  sondern 
psychologisch  wahr,  innerlich  möglich.  Auch  Märchen,  Fabeln 
und  Sagen  können  das  sein,  und  danmi  sind  sie  durchaus  nicht 
dem  jugendlichen  Leser  grundsätzlich  vorzuenthalten.  Keine 
Gefahr,  dass  das  Kind  sie  für  ob  jekt  i  v  wahr  hält :  gerade  das 
Kind  weiss  besser  als  wir,  was  Phantasie  ist ;  denn  die  Thätigkeit 
der  Phantasie  ist  ihm  ja  vom  Spiele  her  doppelt  vertraut.  Der 
jugendliche  Leser  soll  aber  aus  seiner  Unterhaltungslektüre  vor 
allem  auch  andere  Verhältnisse  kennen  lernen,  als  in  denen 
er  selbst  lebt ;  gieb  darum  dem  Knaben  vornehmer  Eltern  ab- 
sichtlich häufig  Erzählungen  aus  niederen  Ständen  und  umge- 
kehrt —  das  Resultat  wird  eine  wahrhaft  humane  Bildung  sein. 


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fFas  toU  dtu  Kind  lesen  f 


213 


Wir  fassen  jetzt  den  Kern  der  eben  entwickelten  Gedanken 
noch  einmal  in  schärfere  Worte .  es  kommt  nicht  darauf  an, 
bestimmte,  fertige  moralische  Werturteile  durch  die  Unter- 
haltungslektüre in  das  Kind  zu  legen,  sondern  die  Fähigkeit, 
selbst  zu  luteilen,  nicht  darauf,  dass  das  Kind  in  der  Jugend 
möglichst  viele  g^te  Bücher  liest,  sondern  dass  in  ihm  für 
später  der  Sinn  für  g^te  Litteratur  geweckt  wird.  Und  das  ist 
das  Mittel,  um  noch  für  die  Zukunft  bestimmend  auf  seine  Lek- 
türe einzuwirken,  wenn  es  schon  längst  die  Schule  und  das 
Elternhaus  verkissen  hat.  Denn  ist  ihm  in  der  Zeit  vom  8.  oder 
9.  bis  zum  14.  oder  15.  Jahre  der  Sinn  für  gute  Litteratur 
geweckt  worden,  so  wird  der  junge  Mann  imd  das  junge  Mäd- 
chen  auch  ganz  von  selbst  nur  noch  nach  guter  Lektüre  gpreifen, 
wenn  sie  längst  nicht  mehr  unter  dem  direkten  Einfluss  der 
Eltern  stehen.  Genau  so  aber  verhält  es  sich  auch  mit  der  ästhe- 
tischen Seite  der  Frage:  wer  von  Jugend  auf  daran  gewöhnt 
worden  ist,  formvollendete  Vers-  imd  Prosadichtungen  zu  lesen, 
der  wird  in  gereifterem  Alter  keine  Indianergeschichten  imd 
Hintertreppenromane  begehren  —  die  Fähigkeit  und  damit 
das  Verlangen,  poetisch  zu  gemessen,  müssen  durch  die 
Jugendlektüre  gebildet  werden;  die  Anlage  zu  litterarischer 
Genussfähigkeit  ist  in  jedem  Kind<  vorhanden. 

Eng  zusammen  mit  dem  ästhetischen  Moment  hängt  die 
Frage  nach  der  Form  der  Darstellung,  aber  sie  lässt 
sich  mit  wenigen  Stichworten  erledigen:  reines  Deutsch,  mög- 
lichst wenig  Fremdwörter,  Anschaulichkeit  und  Klarheit  1  Die 
letztere  vor  allem  muss  verlangt  werden,  weil  sprachliche  Schu- 
lung zugleich  eine  Gedankenschule  ist :  wer  immer  nur  logisch 
gebaute,  klare  Sätze  liest,  der  wird  bald  auch  selber  logisch 
denken  und  reden  lernen. 

Wer  die  Forderungen  und  Ratschläge,  zu  denen  wir  durch 
unsere  Erwägungen  gelangt  sind,  genauer  überdenkt,  der  wird 
leicht  zu  der  Ueberzeugung  kommen,  dass  sie  für  keinen  Vater 
und  keine  Mutter  etwa  besonders  schwer  zu  befolgen  sind« 
Jeder  trägt  den  Massstab  dafür  sozusagen  in  der  eigenen  Brust, 
jeder  braucht  nur  unbefangen  auf  die  eigene  innere  Stimme 
zu  hören  —  die  wird  ihm  sagen:  das  ist  interessant,  das  ist 
unanstössig,  das  ist  Idar  geschrieben  u.$.f.  Wir  können  also 
hier  schliessen,  denn  unser  Thema  ist  erschöpft,  aber  wir  wollen 
doch  noch  eine  Warnung  nicht  unerhoben  lassen:  eine  Ge- 


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214 


Hans  Ximmer, 


fahr  nämlich  könnte  sich  leicht  aus  der  Ht  tol^uiig  eines  unserer 
Ratschläge  ergeben.  Was  deinem  Kmde  nicht  interessant 
ist,  das  lass  es  weglep:en,  sag^ttMi  wir  oben,  ahier  jetzt  fügen  wir 
warnend  hinzu  :  gieb  ihm  aucli  ki  ine  n  1 !  z  u  interessante  Lektüre 
in  die  Hand.  Alle  Lektüre  hat  immer  eine  gewisse  Tendenz  zur 
Ungeselligkeit ;  wer  liest,  der  mag  von  seiner  Umgebung  nicht 
gestört  sein,  wer  etwas  für  ihn  sehr  interessantes  liest,  wird 
sogar  leicht  recht  unwillig  werden,  wenn  andere  Menschen  mit 
anderen  (iedanken  dazwischenfahren.  Im  Interesse  der  Kr- 
ziehung  und  namentlich  der  elterlichen  Autorität  muss  das  beim 
Kinde  unbedingt  vermieden  werden ;  sobald  du  also  siehst, 
dass  sich  dein  Kind  in  ein  Buch  „verrennt",  so  musst  du  es  ihm 
genau  so  gut  entziehen,  wie  wenn  es  sich  mit  ihm  langweilt. 
Vor  allem  ist  dafür  zu  sorgen,  dass  zweierlei  unter  der  Privat- 
lektürc  des  Kindes  nicht  leidet :  die  Schularbeiten  und  die  körper- 
liche Ausarbeitung  auf  dem  Spielplatz,  im  Garten,  in  Wiese 
und  Wald. 


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Ueber  eine  wenig 
beaclitete  Gefahr  der  Prügelstrafe  bei  Kindern. 

Von 

Albert  Moll. 

Ueber  den  Wert  der  Prügelstrafe  im  allgemeinea  ist  im 
Laufe  der  letzten  Jahre  viel  geschrieben  mid  gToredet  worden. 
Es  wurde  von  einzehien  auf  die  Notwendigkeit  hingewiesen,  be- 
sonders  für  solche  Verbrechen,  die  eine  rohe  Gestnntmg  be* 
weisen,  die  Prügelstrafe  wieder  festzusetzen.  Es  würde  zu  wnt 
führen,  an  dieser  Stelle  hierauf  genauer  dmugehen.  Hier  will 
ich  nur  einige  besondere  Gefahren  erörtern,  die  die  Prügel- 
strafe in  der  Schule  leicht  im  Gefolge  hat. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unteriiegen,  dass  zur  Aufrechthal- 
tung der  Zucht  in  der  Schule  Strafen  notwendig  sind,  da  die 
Kinder  auch  sündige  Menschen  und  nicht  engelsreine  Wesen 
sind.  Die  Disziplin  wird  gerade  in  neuerer  Zeit  vielfach  unter- 
graben. Allerlei  Einflüsse,  die  ausserhalb  d^  Schule  stattfinden, 
tragen  hierzu  bei.  Idi  erinnere  an  die  öffentliche  Erörterung 
der  Ueberbürdungdfrage,  die  einigen  Schülern  als  bequeme 
Entschuldigung  erscheint,  wenn  sie  aus  Faulheit  das  Arbeiten 
unterlassen.  Von  den  Eltern  und  auch  sonst  im  Hause  hören 
die  Kinder  Aeusserungen,  die  die  Autorität  der  Schule  schä- 
digen :  sie  müssten  zu  viel  lernen,  hätten  zu  viel  häusliche  Auf- 
gaben zu  erledigen  u.  a.;  während  aber  angeblich  die  Zeit  zu 
den  Arbeiten  für  die  Schule  fehlt,  finden  Eltern  kein  Unrecht 
dabei,  dass  zwölfjährige  Mädchen  und  vierzehnjährige  oder  jün- 
gere Knaben  Tanzstunden  haben,  an  Kinderbällen  teUnehmen 
oder  sonstwie  in  unnützer  Weise  die  Zeit  hinbringen.  An  allen 
Defekten,  an  allen  Krankheiten  ist  nach  einer  oft  wiederholten 
Meinung  nur  die  Ueberbürdung  in  der  Schule  Schuld.  Mir  ist 
es  bdcannt  geworden,  dass  Schüler,  um  ihre  Ueberbürdung  zu 
beweisen,  in  der  Schule  absichtlich  zu  gähnen  anfingen  und 
andere  Ermüdungssymptome  absichtlich  zur  Schau  trugen. 

Jedenfalls  braucht  die  Schule  um  so  mehr  Mittel,  die  Dis- 
ziplin  aufrecht  zu  erhalten,  je  mehr  diese  durch  feindliche  Ein- 
flüsse ausserhalb  der  Schule  gelodtert  wird,  und  dass  die 
Strafen  als  Abschreckungsmittel  entbehrlich  sind,  wird  scfawer- 


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216 


Aldcrt  MM, 


lieh  behauptet  werden  können.  Sicher  ist  auch,  dass  körper- 
hche  Züchtigungen  oft  viel  wirkungsvoller  sind  als  Tadel.  Nach 
sitzen.  Strafarbeit  u.  s.  w.  Wenn  diese  milderen  Strafen  keinen 
Erfolg  herbeifiihren,  wird  man  jedenfalls  das  Recht  zur  Züch- 
tigung nicht  ohne  weiteres  bestreiten  dürfen.  Es  wird  allerdings 
behauptet,  dass  körperliche  Strafen  das  Ehrgefühl  untergraben. 
Ich  glaube  aber,  dass  diese  Gefahr  überschätzt  wird,  und  dass 
man  hier  mit  doktrinären  Einwanden  vorsichtiger  sein  sollte. 
Es  giebt  Schüler,  bei  denen  zur  Abschreckung  körperliche  Züch- 
tigung wünschenswert  ist.  Wenn  man  hier  die  Verletzung  des 
Ehrgefühls  befürchtet,  so  hat  man  nur  den  Ausweg,  diese 
Schüler  dauernd  aus  der  betreffenden  Schule  zu  entfernen.  Hei 
der  Dreistigkeit  einzelner  Schüler  gegen  ihre  Lehrer  sind  einige 
solort  erteilte  Ohrfeigen  vom  pädagogischen  Standpunkt  das 
beste  Mittel.  Sic  wirken  sicherer  als  ein  iknges  hochnotpein- 
Üches  Verfahren. 

Wie  so  oft  im  Leben  kollidieren  aber  auch  hier  nieiniache 
Interessen  miteinander,  und  es  kann  nicht  bezweifelt  werden, 
dass  bei  allen  Vorteilen,  die  für  die  Erziehung  aus  der  Prügel- 
strafe hervorgehen  mögen,  die  grössten  Bedenken  wenigstens 
gegen  die  Art  erhoben  werden  müssen,  wie  sie  gewöhnlich  aus- 
geführt wird.  Ich  will  nicht  von  den  Verletzungen  sprechen« 
die  thatsächlich  oder  leicht  durch  die  Prügelstrafe  herbeige- 
führt werden.  Durch  Ohrfeigen  sind  mehrfach  Trommelfell- 
zerreissungen  entstanden,  neuerdings  wurde  sogar  eine  Bauch- 
fellentzündung auf  Züchtigung  zurüdi^eführt. 

Ich  möchte  auf  eine  andere  Gefahr  hinweisen,  die  der 
Ptügelstrafe  innewohnt;  ich  meine  den  gefährlichen  Einfluss 
auf  das  Geschlechtsleben.  Dass  Schmerz  und  geschlechtliche 
Erregung  in  gewissen  Beziehungen  zueinander  stehen,  ist  be- 
kannt. Es  giebt  Leute,  bei  denen  ein  sinnlicher  Reiz  auftritt, 
sobald  sie  Schmerzen  bei  anderen  beobachten;  es  giebt  aber 
auch  Leute,  bei  denen  der  eigene  Schmerz  mit  einem  sinnlichen 
Genuss  verknüpft  ist,  so  paradox  dies  auch  erscheinen  mag. 
Die  Gefahr  der  Prügelstrafe  ist  in  dieser  Beziehung  eine  drei- 
fache. 

Betrachten  wir  die  erste.  Es  sind  Fälle  beobachtet  worden, 
wo  Lehrer  ,  resp.  Erzieher  lediglich  um  sich  sinnliche  Erregung 
zu  schaffen,  ihre  Zöglinge  schlugen.  Ich  selbst  hatte  vor  einiger 
Zeit  Veranlassung,  im  Auftrage  der  Staatsanwaltschaft  einen 


L.iyui<.LU  Oy  VjOOQle 


IHt  Gtjahr  der  Prügelstrafe  bei  Ktndem. 


217 


derartigen  Fall  vor  Gericht  zu  begutachten ;  es  konnte  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  der  Betreffende  seine  Stellung  als  Er- 
zieher dazu  benutzte,  sich  unter  dem  Vorwande  der  Bestrafung 
einen  sinnlichen  Reiz  durch  Prügeln  der  Zöglinge  zu  verschaffen. 
Allerlei  Vorwände  wurden  hierzu  genommen  I  Bald  wollte  er 
den  Mut  und  den  Charakter  der  Zöglinge  erproben,  bald  war 
es  eine  Verfehlung,  für  die  er  sie  schlug.  Ein  anderer  Mann 
mit  solcher  Neigung  bat  einmal  das  Prügeln  eines  Knaben  da- 
mit motiviert,  er  wolle  für  ein  grösseres  pädagogisches  Weiic! 
feststellen,  wieviel  Schläge  ein  Knabe  vertragen  könne.  Wenn 
bei  einem  Erzieher  eine  derartige  Anlage  besteht,  ist  zu  be- 
fürchten, dass  die  Strafe  in  ganz  ungerechter  Weise  angewendet 
wird  da  dann  nidit  die  Verfehlung  des  Zöglings,  sondern  der 
Wunsch  des  eigenen  sinnlichen  Genusses  das  Motiv  bildet.  Auch 
das  weibliche  Geschlecht  stellt  ein  nic  ht  geringes  Kontingent 
dieser  Fälle.  Besonders  ist  aus  England  wiederholt  berichtet 
worden,  dass  Erzieherinnen  imd  Pensionsinhaberinnen  aus  rein 
sinnlichen  Gründen  die  Prügelstrafe  gegenüber  ihren  weiblichen 
Zöglingen  anwendeten.  Annoncen,  die  man  von  Zeit  zu  Zeit 
findet,  wo  irgend  eine  Erzieherin  Zöglinge  zur  strengen  Er- 
ziehung sucht,  sind  in  dieser  Beziehimg  verdächtig.  Ueberhaupt 
ist  die  Neigung  zur  Grausamkeit  beim  weiblichen  Geschlecht 
mitunter  vorhanden.  Die  Geschichte  bietet  zahlreiche  Beispiele. 
Ich  erinnere  an  die  alte  Römerzeit,  wo  sich  nach  vielfachen 
Berichten  die  Römerfrauen  der  grausamsten  Strafen  gegen- 
über den  Sklavinnen  bedienten;  ich  erinnere  an  Ameri- 
kanerinnen,  die  in  qualvollster  Weise  junge  Negersklaven  züch- 
tigten; ich  erinnere  an  Katharina  von  Medici  und  an  Katha- 
rina IL  Dass  manche  Grausamkeit  dieser  Frauen  mit  dem  Ge- 
schlechtstrieb zusammenhängt,  ist  wahrscheinlich. 

Eine  zweite  Gefahr  Hegt  in  dem  Umstand,  dass  manche 
Schüler  in  dem  eigenen  Schmerz  ein  Mittel  zum  sinnlichen 
Genuss  erblicken.  Diese  Gefalir  scheint  besonders  bei  Schlägen 
auf  das  Sitzfleisch  vorzuliegen.  Hieraus  ergiebt  sich  erstens 
die  Möglichkeit,  dass  einzelne  Schüler  absichtlich  Unrecht  thun, 
um  sich  der  Prügelstrafe  auszusetzen,  zweitens  die  Gefahr,  dass 
eine  künstliche  sinnliche  Erregung  geschaffen  wird. 

Weit  bedenklicher  scheint  mir  eine  dritte  Gefahr,  nämlich 
die,  dass  durch  die  Prügelstrafe  das  Geschlechtsleben  bei  man- 
chen Schülern  vorzeitig  geweckt  wird.  Es  giebt  Fälle,  wo  die 


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218 


Aikeri  MM. 


Betreffenden  aus  irgend  einem  Grunde  körperlich  gezüchtigt 
werden  und  hierbei  die  erste  sinnliche  Erregung  empfinden.  Es 
sind  mir  Fälle  bekannt,  wo  dies  im  Alter  von  sielien  bis  acht  Jah- 
ren, ja  noch  früher,  geschah.  Welche  b(  i]klu  lu n  I  olgen  dieses 
frühzeitige  Erwecken  des  Geschlechtslebens  hat,  braucht  nicht 
erwähnt  zu  werden,  ja  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  eine  dau- 
ernde Erkrankung  im  Geschlechtsleben  stattfindet,  wenn  in 
dieser  immerhin  abnormen  Weise  die  ersten  geschlechtlichen 
Erregungen  hervorgerufen  werden.  Bekannt  ist  es,  dass  Jean 
Jacques  Rousseau,  wie  er  in  seinen  ..Bekenntnissen"  mitteilt, 
sein  perverses  Fühlen  auf  solche  Züchtigung  in  der  Kindheit 
zurückführte. 

Man  wird  aus  dem  X'orangehenden  erkennen,  wie  grosse 
Gefahren  die  Prügelstrafe  vom  medizinisi  hcn  Gesichtspunkt 
darbietet,  wenn  auch,  wie  ich  zu  Anfang  betonte,  ihre  Bedeutung* 
als  Erziehungsmillel  nicht  bestritten  werden  soll.  Bei  einer  sol- 
chen Kollision  wird  es  nicht  leicht  sein,  eine  allgemeine  Ent- 
scheidung zu  treffen.  W^ürde  eine  ärztliche  (icfahr  der  Prügel- 
Strafe  in  allen  Fällen  oder  in  einer  üi)erwiegenden  Zalil  von 
Fällen  bestehen,  so  würde  sie  als  Erziehungsnuttel  natürlich 
ganz  beseitigt  werden  müssen.  Da  man  aber  im  allgememeR 
nicht  voraussehen  kann,  wann  sie  solche  (jefahr  herbeiführt,  wird 
man  wenigstens  versuchen  müssen,  die  Strafe  so  /.u  gestalu  ii, 
dass  möglichst  wenig  ungünstige  Folgen  aus  ihr  liervorgehen. 
Soweit  meine  Beobachtungen  reichen,  scheinen  mir  gerade 
Schläge  auf  das  Sitzfleisch  die  allergrösste  Gefahr  zu  bieten. 
Vielleicht  könnte  eine  V^erminderung  derselben  schon  dadurch 
erreicht  werden,  dass  man  grundsätzli(  h  diese  Art  der  Züch- 
tigung verbietet.  Es  scheint,  dass  Schlage,  mit  einem  Rohr- 
stock auf  die  Hand  gegeben,  in  ärztlicher  Beziehung  am  wenig- 
sten bedenklich  sind,  obwohl  ich  nicht  glaulje,  dass  die  Möglich- 
keit der  sinnlichen  Erregung  hierbei  ganz  ausgeschlossen  ist. 
Auch  die  Gegenwart  all.  r  Zöglinge  bei  der  Züchtigung  eines 
Schülers  führt  Gefahren  herbei.  Sie  soll  ja  zur  ."Abschreckung 
geschehen,  und  ich  erinnere  an  den  Fall  des  Potsdamer  Waisen- 
hauses, der  in  neuerer  Zeit  spielte,  wo  gleichfalls  in  Gegenwart 
aller  Schüler  die  Züchtigung  vollzogen  wurde.  Hier  muss  be- 
tont werden,  dass  der  Schmerz  anderer  die  sinnliche  Erregung 
der  Zuschauer  zu  wecken  vermag.  Es  sei  deshalb  auf  dieses 
Bedenken  hingewiesen.  (Ebenso  will  ich  bei  dieser  Gelegenheit 


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Die  Gefahr  der  PfügeUtraft  hei  Kindern, 


219 


betonen,  dass  die  Leichtfertigkeit,  mit  der  Eltern  ilire  Kinder 
den  Todesqualen  der  Schlachttieie  beiwohnen  lassen,  auf  das 
Entschiedenste  bekämpft  werden  muss.  da  hierbei  gleichfalls  m 
manchen  Fällen  die  ersten  sinnlichen  Erregungen  stattfinden, 
ganz  abgesehen  von  dem  verrohenden  Einfluss,  den  solclie 
Szenen  auf  ein  Kindergemiit  ausüben  müssen.). 

Ferner  sei  darauf  hingewiesen,  dass  man  jüngeren  Lehrern 
und  solchen  mit  aufbrausendem  Temperament  das  Recht  zur 
I'rügelstrafe  möglichst  nehme  und  dass  man  es  nur  reiferen 
Männern  einräume.  Die  genannten  Gefahren  werden  daim 
wenigstens  wesentlich  \ermindcrt  werden. 

Endlich  berücksichtige  man,  dass  nicht  nur  eine  Üeber- 
bürdung  der  Schüler  zu  vermeiden  ist,  sondern  auch  eine  solche 
der  Lehrer.  Diese  haben  einen  ungemein  schweren  Beruf,  der 
ihnen  in  neuerer  Zeit  durch  mancherlei  Agitationen  noch  schwie- 
riger gemacht  wird.  Die  UeberfüUung  der  Schulen,  die  allzu 
grosse  Ausdehnung  der  Unterrichtszeit  führt  den  Lehrer  sehr 
leicht  dazu,  in  objektiv  ungerechter  Weise  bei  der  Anwendung 
der  Prügelstrafe  zu  \erfahren,  und  deshalb  predige  man  nicht 
nur  den  Lehrern  Geduld,  mit  der  sie  angeblich  die  Schüler  am 
besten  erziehen  könnten,  sondern  man  gewähre  ihnen  ( lelegm- 
heit,  Geduld  zu  üben.  Dies  wird  am  besten  dann  geschehen, 
wenn  man  auch  die  Lehrer  in  jeder  Weise  vor  einer  ri-ljerbür- 
dung  schützt.  Nicht  mit  l>losscm  Tadel,  nicht  mit  poltern<len 
und  planlosen  Agitationen  würde  man  Missständen  abhelfen, 
sondern  nur  damit,  dass  man  die  W'etre  prüft  und  einschlägt, 
die  zur  Beseitigung  derselben  führen  können. 


ZettsdirlR  für  pUicocbdie  Psydiolosie  md  P»tholQsie.  4 


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Verein  für  Kinderpeychologie  zu  Berlin. 

III.  Sitzung  vom  3.  Mai  1901. 

Vorsitzender:  Herr  Stumpf. 
Schriftführer:  Herr  Hir  schlaf  f. 

Um  8)4  Uhr  eröffnete  der  Vorsitzende  die  Sitzung  mit  einer  kurzen  An- 
sprache. Nach  einigen  geschäftlichen  Mitteilungen  folgte  der  Vortrag  des 
Herrn  Direktor  Dr.  Jessen: 

Die  Erziehung  zur  bildenden  Kunst. 

Der  Vortrag  wird  in  extendb  in  dieser  Zeitschrift  abgedruckt  werden. 

Diskussion: 

Herr  Münch  spricht  dem  Vurtragenden  den  Dank  besonders  von  selten 
der  Pacdagogen  für  seine  lehrreiclien  Darlcgtinpen  aus.    Vieles  sei  ihm  neu 
gewesen  und  vie!?--  habe  ein  lebhaftes  Echo  in  ihm  geweckt.    Dass  die 
Farbe  bisher  das  Stictkind  im  Schulunterrichte  gewesen  sei«  habe  er  auch 
schon  empfunden.   Indessen  Farbe  und  Linie  mussten  sich  ergänzen,  und 
so  das  Gefühlsmasstge  mit  dem  Begrifflichen  sich  vereinigen.    Was  die 
Hoffnung  betreffe,  dass  unsere  ersten  Künstler  für  das  vuin  Vortragenden 
geschilderte  Ideal  eintreten  würden,  um  das  künstlerische  Bildungsmaterial 
für  die  Jugend  zu  veredeln,  so  sei  es  doch  zweifelhaft,  ob  dies  der  Fall  sem 
werde.  Vielleicht  werde  es  hier  ebenso  gehen,  wie  auf  dem  Gebiete  der  Dicht- 
kunst, wo  zwar  nicht  gerade  die  ersten  Künstler,  wohl  aber  doch  Künstler^ 
naturen,  deren  Interesse  und  Begabung  speziell  auf  den  Unterricht  ge- 
richtet wären,  sich  der  betreffenden  Aufgaben  mit  Nutzen  tmterzogen  hätten. 
Jedenfalls  sei  es  notwendig  zu  konstatieren,  dass  zwischen  dem  Kunstunter- 
richte und  dem  Fachunterrichte  die  Beziehungen  noch  fehlen;    oder  viel- 
mehr, dass  die  bisher  allein  bestehenden  Beziehungen,,  die  mathematischen 
Zeichen,  bekämpft  werden  müssen.     Hier  liege  ein  grosses  und  offenes 
Arbeitsgebiet  vor,  auf  dem  noch  viele  Fäden  gesponnen  werden  könnten.  Be- 
sonders  gefreut  habe  er  sich  ,  dass  die  Geometrie  imd  die  Symmetrie  von 
dem  Vortragenden  bekämpft  worden  seien.   Das  ewige  Ornament  sei  ebenso 
schädlich,  wie  im  Sprachunterrichte  die  ewige  Grammatik.    .'\uch  in  Bezug 
auf  die  künstlerische  Ausgestaltung  der  Schultjobaude  stimme  er  d-'m  Vor- 
tragenden durchaus  bei;    leider  Irabe  Bcrlm  m  dieser  Beziehung  nicht  die 
führende  Rolle  übernommen.   Auch  in  Paris  sei  es  z.  B.  sdilecht  damit 
bestdl^  besonders  in  den  Hochschulen,  die  ja  auch  hier  möglichst  kümmer- 
lich ausgestattet  sind.   Es  wäre  sehr  wohl  möglich»  statt  der  Gips-Ornamente 
und  -Modelle  echtes  Material  für  den  Kunstunterricht  zu  bcschafTen.  Xeu 
war  der  Vorschlag,  das  Gedachtnis/cichncn  in  den  Unterricht  einzuführen. 
Zuerst  hat  dieses  wohl  Paul  jacombe  in  Frankreich  vor  2  Jahren  vorge- 
schlagen.   Dan  man  beim  Zeichen-Unterricht  zn  sehr  an  die  Schulaus- 
Stellungen  denkt,  sei  entschieden  ein  grosses  Unrecht   Die  Kunstgeschichte 
aus  der  Schule  gänzlich  zu  verbannen,  würde  ihn  schmerzen;  besonders  in 
Verbindimg  mit  der  Kulturgeschichte  sei  sie  sehr  schätzenswert  Freilich 


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ÜiltungsberuhU» 


221 


müä&e  sie  in  der  richtigen  Weise  gegeben  werden;  ebenso  wie  bei  der  Xaiur- 
geschichte  komine  es  auch  hier  daraui  au,  wie  sie  betrieben  wird.  Im 
übrigen  könne  die  ästhetische  Erziehtuig  des  Menschen  niemals  einen  Ersatz 
bilden  für  die  ethische  Erziehung;  so  altmodisch  dieser  Standpunkt  sei,  nehme 

er  doch  keinen  Anstand,  ihn  hier  ausdrücklich  zu  vertreten.  Trotzdem  er- 
kenne er  an,  dankenswerte  Anregungen  durch  den  Vortrag  empfangen  zu 
haben.  Nur  brauchten  die  Bo^tr«*hnn5^en  nicht  auf  das  Kind  beschränkt  zu 
werden;  auch  die  Vcrschicdcnlicii  der  iicdunnissc  der  Kinder  auf  den  ver- 
schiedenen Altersstufen  müsse  berücksichtigt  werden. 

Hvrr  A.  Baginsky:    Der  Vortragende  hat  die  Frage  bezüglich  des 
Farbensinnes  der  Kinder  aufgeworfen  und  das  Verhältnis  der  Altersstufen 
dazu  erwähnt    Nach  den  Erfahrungen  am  Krankenbette  müsse  er  be- 
haupten, dass  schon  vor  dem  dritten  I.ebensjahre  die  Kinder  die  Farben 
erkennen.    Man  müsse  nur  die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  auf  die  Farben 
lenken:    dann  erkenne  man,  dass  die  Kinder  schon  frühzeitig,  schon  im 
ersten  Lebensjahre,  zwischen  wei«;s  und  gelb,  z.  B.  zwischen  einer  goldenen 
und  silbernen  Taschenuhr  unterscheiden.    Was  sodann  die  Frage  des  Unter- 
richts betreffe,  so  habe  er  erst  kürzlich  Gelegenheit  gehabt,  in  Holland,  im 
Zoologischen  Garten  zu  Amsterdamt  hierüber  Erfahnmgen  zu  sammeln. 
Dort  sah  er  nämlich  zwei  Knaben  von  4  und  S  Jabrai,  beide  mit  kleinen 
Skizzenbüchem  versehen,  im  Garten  umhergehen.    Der  eine  von  ihnen 
zeichnete  einen  Bullen  im  Grase  liegend,  und  zwar  geradezu  in  meisterhafter 
VVei<ie.     Die  Verwandten  der  Knaben,  die  darüber  interpelliert  wurden.  l>e- 
hauptcten,  das  könnten  die  Kinder  dort  alle,  da  sie  von  Anfang  an  lernten, 
nach  der  Natur  zu  zeichnen.    Im  deutschen  Schutunterricht  vermissen  wir 
dies;  es  wäre  aber  äusserst  wünschenswert,  wenn  man  auch  bei  uns  all- 
mählich anfinge,  die  Kinder  zur  Natur  zu  führen.    EndUchr  ist  CS  i^nz  über« 
ra<,chcn(l.  was  die  Kinder  aus  sich  heran*?  zu  schaffen  vermötrcn,  wenn  man 
sie  sich  selbst  überlässt.    Z.  B.  in  der  Keknnv  Ii  >zcnz  von  Krankheiten  pro- 
duzieren die  Kinder  Ueberraschendes  an  Zeichnungen.   Die  Kaiserin  Friedrich 
selbst  war  einige  Male  erstaunt  über  solche  Zeichnungen,  wo  die  Kinder  im 
Krankenhause  mit  dem  Blaustift  Berge,  Thäler,  Tiere  aus  der  Erinnerung 
heraus  geschaffen  hatten.    Was  die  von  dem  Vortragenden  aufgestellten 
Thesen  anbelange,  so  müsse  man  jedenfalls  das  Naturell  der  Kinder  beobachten 
und  demgemäss  individualisieren.  Sympathisch  berührt  habe  ihn  vor  allem  die 
Forderung  des  Vortragenden,  die  Kinder  nach  echtem  Material,  nicht  nach 
Pappe  und  Gips,  zeichnen  zu  lassen. 

Herr  J  e  s  c  n  dankt  für  die  freundliche  Beurteilung  und  Ergänzung  des 
Gesagten.  Ob  die  Kiuisilcr  Stets  das  Richtige  für  die  Kinder  treffeu  werden, 
ist  in  der  That  zu  erwägen:  den  wahren  Kinderkünstler  haben  wir  freilich 
noch  nicht,  in  dem  Sinne  etwa,  wie  es  Ludwig  Richter  in  der  früheren  Zeit 
gewesen.  Die  Kunstgeschichte  soll  thatsachlich  nicht  gänzlich  ausgerottet, 
aber  doch  wesentlich  beschränkt  und  modifiziert  werden.  Im  übrigen  denkt 
niemand  daran,  eine  ästhetische  Erziehung  an  Stelle  der  ethischen  setzen 
7U  wollen.  Die  Kunst  i^t  nur  ein  Element,  das  mehr  als  früher  berücksichtigt 
werden  soll,  eine  Konkurrenz  um  ethischen  Momenten  ist  ausgeschlossen; 
eher  dürfte  das  Gegenteil  der  Fall  sein. 

4* 


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222 


Sitzungsbcrühle. 


Herr  Stumpf  weist  auf  die  unv^chcurc  Bedeutung-  Jcr  anperci^trn 
Fragen  auch  in  sozialem  Sinne  hin.  Auf  diesem  Gebiete  mussicn  die 
Theoretiker  von  den  Praktikern  lernen.  Der  Farbensinn  der  Kinder  sei 
schon  nach  kurzer  Zeit  voll  vorhanden,  nur  Aufmerksamkeit  und  Benennung 
seien  anders  als  beim  Erwachsenen.  Mit  dem  dritten  Jahre  ist  der  Mensch 
im  wesentlichen  fertig  in  Bt-ziip:  nnf  än«;?orp  Wnhrnchmunf^cn ;  nur  die  feinere 
Au5f!eutunp  schreitet  noch  fort.  Aufgabe  der  künstlerischen  b>7iehnng^  ist 
ts-,  mit  dem  Vollen  anzufangen,  nicht  mit  dem  Abstrakten;  an  das  Konkrete, 
Nächstliegende  mussten  die  Beziehungen  angdcnüpU  werden.  In  diesem 
Punkte  seien  die  modernen  Psydiologen  in  völliger  Uebereinstimmung  mit 
den  Kunstbcstrcbinigm.  Frappiert  habe  ihn  die  Wahrnehmung,  das  die 
alten  Griechen,  die  die  Bcdeutnncr  der  Mtfjik  und  der  Dichtkunst  für  die  Er- 
ziehung so  hoch  stellen  und  ausführliche  Vorschriften  zur  Ausbildung  der 
Jugend  in  dieser  Richtung  geben,  von  der  bildenden  Kunst  faist  schweigen. 
Waren  sie  uns  in  der  Kunst  selbst  voraus,  so  wollen  wir  bestrebt  sein, 
sie  wenigstens  in  der  Erziehung  zur  Kunst  zu  übertreffen. 

Schluss  der  Sitzung  10  Uhr. 


Berichte  und  Besprechungen. 


A.  W  r  e  s  c  h  n  c  r  ,  Dr.  p  h  i  1.  et  med.;  Eine  experimentelle 
StudicuberdieAssoziationincinc  in  Falle  von  Idiotie. 
(Aus  der  Psych  iatr.  Klinik  zu  Giesscn.)  Allg.  Ztschr. 
f.  Psychiatrie  u.  psy ch.>gerichtl.  Medizin.  Jahrg.  1900» 
Seite  241--<339. 

Im  Anschlüsse  an  seinen  Lehrer  R.  Sommer  (Lehrb.  d.  psycho-pathol. 
Untersuchungsmethoden»  1899  S.  341  ff.)  stellt  sich  Wreschner  in  vorbe- 
zeichneter Arbeit  die  Aufgabe,  „in  methodischer  Weise  das  Verhatten  des 

Schwachsinns  7it  den  verschiedenen  Stufen  des  menschlichen  Intellekts  zu 
verfolgen.''  Zur  Erreichung  seines  Zieles  lasst  er  eine  Patientin  auf  zuge- 
rufene Wörter  durch  ein  von  ihr  gesprochenes  Wort  reagieren  und  riickt 
bei  Betuteilung  der  so  erhaltenen  Assoziationen  zum  erstenmale  das  Mass 
der  hierbei  geleisteten  Geistesarbeit  in  den  Vordergrund  des  Interesses. 

Als  Reizmaterial  dienen  ihm  die  von  Sommer  (a.  a.  O.  S.  341  ff.)  zu- 
samrnrngcstellten,  fast  das  gesamte  psychische  Leben  umfassenden  Wolter, 
niimlich  4ö  Adjektiva.  die  sich  auf  die  mancherlei  Arten  der  sinnesphysio- 
logischen Wahrnehmung  beziehen  und  in  10  Gruppen  geordnet  sind  — 


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ßerkhU^  und  JHesprechungcn. 


223 


1.  Licht  tind  Farbe-.  2.  Ausdehnung  und  Form,  3.  Bewc(?ung,  4.  TaNt'inn, 

5.  Temperatur,  6.  Gehör,  7.  Geruch,  8.  Geschmack,  9.  Schmerz-  und  Gemein- 
geiühl,  10.  Aesthetische  Gefühle  — ,  temer  48  Substantiva  konkreten  Inhalts 
in  8  Gruppen  —  1.  TeOe  des  menschl.  Körpers,  2.  Gegenstände  aus  der 
unmittelbaren  Umgebung  im  Zimmer,  3.  Gegenstände  der  weiteren 
Umgebung  in  Haus  und  Stadt,  4.  Gegenstände  aus  dem  Gebiete 
von  Erde  und  Welt,  o.  PflanzHche  Objekte,  G.  Lcbendig^c  Wesen, 
7.  Glieder  der  Familie.  8.  Verschiedene  Gesellsehaftsschiehten  und  endlich 
wieder  4^  Substantiva  abstrakten  Inhahs  oder  inicrjcktioncn  m  8  Gruppen 

1.  Traurige  Vorstellungen,  2.  Freudige  Vorstellungen,  3.  Interjektionen  (Gc- 
,    fühlsausdrucke),  4.  Stimmungen  und  Gemütszustände,  5.  Gebiet  des  Willens, 

6.  Gebiet  des  Verstandes,  7.  Bezeichnungen  für  BewusstseinsEustände,  8.  So- 
ziale Beziehungen.  Die  .Anwendung  dieses  Wortmaterials  geschah  nn  bc7w. 
7  verschiedenen,  nu  i^t  nicht  unmittelbar  nebeneinander  liegenden  Tagen  nach 
der  sogen.  ,,VViederholungsmethode",  d.  h.  an  jedem  Tage  wurde  das 
gesamte  Reizmaterial  eines  der  3  Bogen  verwendet,  und  so  ergaben  sich 
8X46+2X7X48  =  1040  Versuche,  die  sich  durch  die  Einheitlichkeit  des 
Reizes  charakterisierten.  Gegenüber  Sommer,  der  seine  Reizworte  stets  in 
•IirstllKn  Folge  verwendete,  hielt  sieb  \N'r.  mit  Aufnahme  der  ersten  Ri-ihe 
nicht  an  die  Reihentolge  der  Wmtt  r.  um  'lo  ..den  FJntluss  der  Autcinander- 
iclge  von  mehreren  inhaltlich  verwandten  Kcizworun  und  einer  Festlegung 
der  Reihenfolge  bei  der  Patientin  auszuschliessen/^ 

Die  Zeitmessung  erfolgte  mittels  eines  Metronoms. 

Das  gewonnene  Material  wurde  nach  vier  Gesichtspunkten  bctraclitct, 
nämlich  nach  Qualität,  Dauer,  F.influss  der  Wiederholung  oder  Fixation 
und  nach  dem  Einflüsse  der  Uebung. 

Die  Ergebnisse  der  Untersuchung  lassen  sich  im  ganzen  iolgendcr- 
njassen  formulieren: 

1.  Die  Qualität  des  Reizwortes  hat  tiefgehenden  Einfluss  auf  die 
Assoziation. 

2.  Die  lautlichen  verhalten  sich  zu  den  inhaltlichen  As5oziati<)nen  l»ci 
den  nach  Sinnesgebicten  geordneten  Adiektiva  1:3.8.  bei  den  Konkrt^ia 
1  : 0.7  und  bei  <icn  Ahstrakta  allein  1  : 0.4  oder  1  : 0.2iT  bti  Einbeziehung 
der  Interjektionen.  Daraus  folgt  die  qualitative  Abnahme  der  Reaktionen 
bei  Zunahme  der  Qualität  des  Reizwortes. 

3.  Bezüglich  der  Qualität  der  Reaktionsworte  uberwogen  die  Adjektiva; 
es  verhielten  sich:    Adjekt. :  Subst. :  Verb.  =  ö:.:!. 

4.  Gewohnheit  und  Beruf  sind  von  bedeutendem  Einflüsse  auf  die  Wahl 
des  Reaktionswnrtcs.  le  geläufiger  das  Reizwort  ist,  desto  mehr  wird  eine 
femlicgende.  qualitativ  hochstehende  Reaktion  gesucht. 

5.  Jedes  Reizwort  hat  eine  subjektive  Qualität,  d.  h.  eine  gewisse  innere 
Beziehung  zum  R^^nten,  die  auf  die  Assoziation  nicht  ohne  Einfluss  ist. 

6.  Die  femliegende  .Assoziation  beansprucht  eine  längere  Dauer,  wenn 
es  sich  um  Reaktionen  auf  ein  und  dasselbe  Reizwort  oder  wenigstens  auf 
die  nrimüehe  Gruppe  von  Reizwörtern  handelt,  daficfjen  eine  uin  so  kür/ire 
auf  Grund  der  W rtraulhcit  mit  den  Reizwörtern  bei  qualitativ  verschiedenen 
Gruppen,  je  mehr  da>  Reizwort  infolge  seiner  subjektiven  Qualität  zu  fem- 
liegenden A.  führt. 


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224 


Btrichu  und  Aspreoktingm, 


7.  Neben  den  genannten  beiden  Faktoren  ist  auch  die  Ucbung  von  Ein- 
fluss  auf  die  Dauer  der  A. 

8.  Je  weniger  vertraut  das  Reizwort  war,  um  so  grösser  war  der  ver- 
kürzende Einflus»  der  Uebung. 

9.  Ein  weiterer  Einfloss  der  Uebung  bestand  in  einer  Verbesserung  der 
Qualität  der  A 

10.  Die  Fixation  einer  einmaligen  A.  zeigte  sich  nur  ausnahmsweise  in 

auftällifirer  Wci^e 

11.  Je  hoher  die  subjektive  Qualität  des  Reizwortes  stand,  desto  geringer 
erwies  sich  die  Fixation. 

12.  Diese  hängt  viel  mehr  von  den  zeitlichen  Zwischenräumen  ab  als  von 
der  Zahl  der  Wiederholungen. 

Wie  ersiclrtlich,  gewiss  eine  stattliche  Reihe  von  bemerkenswerten  Re- 
sultaten!   Leider  aber  müssen  diese  in  mehrfacher  Hinsicht  angefochten 

werden. 

Zunächst  erweisen  sich  die  Voraussetzungen  Wr.'s  zur  Qualitätsbe- 
stimroung  der  A.  als  falsch.  Er  nimmt  als  sicher  an,  dass  das  Reizwort  die 
in  ihm  fixierten  Vorstellungen  in  seiner  Versuchsper.son  auslöst;  denn  ohne 
diese  Annahme  wäre  die  Gruppierung  des  Reizmaterials  nach  sinnesphjsio- 
Jogischen  Gebieten  von  \T)rnlKrcin  wertlos.  Nun  haben  aber  neuere  Untcr- 
stichunpen,  7.  B.  von  Marbt.  ergeben,  dass  diese  Vorau«;set7ung  durchaii«;  irrig 
isl.  mithin  innss  attoh  die  Anordnung  der  Reizwörter  in  obiger  Weise  als 
verfehlt  bctrachici  werden.  Zwar  macht  schon  Sommer  (a.  a.  O.  S.  338) 
gegenüber  Ziehen  einen  ähnlichen  Einwand;  allein  er  wird  dadurch  nicht 
verhindert,  selbst  die  von  Wr.  beibehaltene  Gruppierung  zu  geben. 

Weiter  hat  Wr.  im  grossen  und  ganzen  zur  qualitativen  Wertung  seiner 

gewonnenen  A.  ausser  diesen  selbst  jijnr  kein  rnvcrlassiges  Ililfsniittel :  denn 
seine  Patientin  kann  er  kaum  /u  Rate  ziehen,  und  er  tbut  dies  auch  witnder- 
seltcn.  Wie  kann  er  dann  aber  auch  nur  mit  einiger  Sicherheit  inhaltliche  und 
äussere  A.,  ganz  abgesehen  von  den  feinen  Unterschieden,  die  er  diat* 
sächlich  macht,  bestimmen?  Wie  andernorts  schon  nachgewiesen,  kann  eine 
qualitative  Einordnung  nur  durch  allergenauestie  Selbstbeobachtung  der 
Vcrsuchsi)erson  während  des  Assoziationsvorganges  erfolgen.  Zwar  will 
Wr..  eine  Nt>neintcilung  der  .A...  als  r.  Zt.  aus^icbts-  und  daher  wertlos,  ver- 
meiden: soicni  er  aber  die  TcrminoloKic  Ziehens,  Aschaffenburgs  und  anderer 
acccptiert,  bringt  er  thatsächlich  doch  eine  neue  Einteilung  der  A.,  und 
diese  muss.  als  aus  heterogenen  Bestandteilen  aufgebaut,  Abweisung  finden. 
Einige  Beispiele  mögen  die  Anfechtbarkeit  der  qualitativen  Analyse  Wr. 
zeigen.  Schw  r  Tinte,  weiss  Sehnec.  grün-Gras  (S.  253)  sind  ihm  Objekt- 
,T>s.iziat!or<*n  (iewiss  liegt  du  sc  Restimmung  nahe,  wer  aber  kann  ver- 
btimen.  (la^-;  hier  wtrklieli  inhaltliche  Beziehungen  bestehen  und  nicht 
vieilciclit  bloss  A.  verbaler  Natur  (nach  Ziehen»  vorliegen?  Blau-Papier 
kann  auch  durch  einen  Sinneseindruck  vermittelt  sein;  denn  die  Versuchs- 
person hatte  vor  sich  eine  blaue  Mappe  liegen.  S.  276  wird  sauer^Milch  als 
totalisierende  Objektassoziation  und  S.  288  T.unge-Leber  als  homosensorielle 
A.  (möglicherweise  auch  Klangasso^iation»  erklärt.  Näher  aber  liegt  i" 
beiden  Fallen  der  Ciedanke  an  äussere  A.:  denn  ..saure  Milch"  ist  ebenso 
wie  „Lunge  und  Leber"  eine  dem  Volke  .sehr  geläufige  Vorstellung,  und 


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225 


zumal  „Lunge  und  Leber"  wird  in  Volkskreisen  ausschliesslich  im  Sinne  der 
A?chaffcnburg'schen  spracliliclicii  Reminiszenz  gebraucht:  denn  häufig  hört 
man  sagen,  jemand  huste,  dass  man  glaube.  Lunpc  und  Leber  gingen  mit 
heraus.   Hier  liegt  oitenbar  eine  uralte  Alliteration  vor. 

Diese  Beispiele,  die  sich  sehr  vermehren  Hessen,  sprechen  doch  für  die 
tinxttreichende  Begründung  der  unter  1  und  2  aufgeführten  Behaiq»ttmg«ft 
über  die  Qualität  der  A.  Bei  anderer  Betrachtung  wurden  sich  wohl  andere 
Resultate  ergeben.  Ebenso  müsste  Punkt  9  über  Verbesserung  der  Qualität 
einer  Rcvi'^ion  unterzogen  werden.  Wie  übrigens  eine  Qualitätsbe';'?en3ng 
vorliegen  soll,  wenn  die  Assoziation  Kopf-Schmerzen  am  letzten  Versuchs- 
tage eine  Aenderung  in  Kopf-Kopfweh  erfährt  (S.  289),  ist  nicht  einzusehen. 

In  den  A.  der  Idiotin  kommt  die  Qualität  der  Reizworter  schwerlich 
vem  Aosdmdce,  sondern  wohl  musschltesslich  der  Grad  der  Vertrautheit 
mit  den  einzelnen  Wörtern.  Man  kann  also  aus  den  vorliegenden  A.  auch 
nicht  ..auf  das  Verhalten  de^  Srhnarli'^inns  zu  den  verschiedenen  Stufen  des 
menschlichen  Intellekts"  Schlüssen,  umsoweniper.  als  Wr.  Versuche  mit 
NorniaUinnigen  zum  Vergleiche  nicht  anstellte  und  die  normalen  Versuchs- 
personen Sommers  a.  a.  O.  S.  346  f.  nicht  dem  Lebenskreise  der  Patientin, 
sondern  akademischen  Kreisen  angehörten  und  auch  nicht  mit  der  Wieder- 
holungsmethode, sondern  nur  an  demselben  Reizmaterial  untersucht  wurden. 

Ganz  eijjrentüinlich  berührt  es,  zu  sehen,  was  für  A.  Wr.  als  Klang-  und 
als  mittelbare  A.  aui'führt.  Nach  Sommers  Vorgang  a.  a.  O.  S.  ^87  rechnet 
er  zu  den  erstercn  auch  solche  Fälle,  wo  nur  einige  Laute  mehrerer  Wörter 
übereinstimmen.  Wie  man  aber  dazu  kommen  kann,  für  die  A.  Treppe-  ^ 
putzen.  Haus-hoch  (S.  292|,  Lunge-Leber  (S.  288),  die  Ktangähnlichkeit 
in  Anspruch  zu  nehmen,  und  Bürger- Wurzel  fS.  307)  direkt  als  Klang- 
assoziaticm  zu  bezeichnen,  erscheint  unergründlich. 

Glatt-weich  (Patientin  .sagt:  Papier  ist  weich.  S.  Jo-jI,  Spiegel-.schön  (Be- 
gründung: Spiegel  glänzt  schön,  S.  291),  Hass-heftig  (Mittelglied  hastig, 
S.  317),  Bauer-  die  Mauer  wird  gebaut  (Mittelglied  bauen.  S.  305)  werden  als 
mittelbare  A.  angegeben,  ein  Missbrauch  dieses  Begriffes,  der  geradezu  jede 
A.  als  mittelbar  zu  benennen  erlaubt. 

Endlich  hat  Verfasser  verhängnisvolle  Fehler  bei  Ermittelung  der  Wieder- 
holunjf^chancen  zwecks  Feststellung  etwaiger  Fixation  der  A.  bei  der 
Wiederholungsmethode  begangen.  Qualität  und  Dauer  sollen  fibcr  diese 
Frapre  Anfschhiss  geben.  „Dort  berechneten  wir  die  durchschnittliche  Aluahl 
der  verschiedenen  Reaktionen  aut  ein  Reizwort  und  bezogen  sie  der  Ver- 
gleichbarkeit wegen  stets  aut  100  Falle,  um  so  die  Chancen  zu  erhalten, 
welche  eine  jede  einmalige  A.,  hat,  unter  100  Wiederholungen  desselben 
R ei;' Wortes  wiederzukehren."  (S.  248.)  Demnach  dürfte  sich  beispielsweise 
die  Sache  so  gestalten: 

8  Reizwörter  an  8  Tagen  gebraucht  =  64  A. 

Darunter  sind  30  (in  Wirklichkeit  31)  verschiedene,  unter  I0(»  Nennungen 
der  Reizwörter  also 

30  .  100  15  .  100 

—  =  =  1500  :  32  =  47  verschiedene  A,, 

t>4  32 


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226 


Berichte  und  Besprechungen, 


mithin  V?  gltiche,  folglich  Wiederholungschancfn  53%  Was  aber  ergibt 
Mch  bei  \\  r  Ganze  27%  (S.  .?>lt.  Nach  langem  Suchen  fand  sich  auch 
hicTiur  der  Sclilussel.    Wr.  berechnete: 

Die  30  verschiedenen  A.  komn:  ii  auf  8  Reizwörter, 

100  verschiedene  A.  „         .,     1  „ 

8  .  lOU  8  .  10 

  =    =  80:3  =  27  V.. 

30  3 

Ein  Grund  für  diese  Berechnung  lässt  sich  nicht  ersehen,  aber  durch 
ergibt  ^\ch  das  S.  --A  angegebene  Resultat.  Eine  Nachprüfunp  ?;ämt- 
licher  Berechnungen  Wr.'s  über  die  Wiederholungschancen  nach  eben  ange- 
führtem Muster  lieferte  19  Uebereinstimmungen  und  nur  6  Abwetchnngen 
—  eine  Berechnung  wurde  als  überflüssig  unterlassen  (Aesthet  Gefuhiel. 
Diese  Zahlen  sprechen  doch  gewiss  dafür,  dass  die  Berechnungen  that- 
s:uhh"oh  in  dicker  merkwürdij^rn  Weise  angr<;tel!t  wurden.  Nach  vorliegender 
Au!\'.ilK-  mu---tc'  bestunmt  werden,  wie  oft  eine  A.  Au--icht  hnt  ..unter  ]<>0 
Wiederholungen  desselben  Reizwortes  wiederzukehren."  In  der  Losung  aber 
werden  die  Reaktionen,  nicht  die  Reizwörter,  auf  100  Fälle  bezogen»  mithin 
das  gerade  Gegenteil  vom  Beabsichtigten  vollführt.  Daneben  werden  auch 
noch  statt  der  gleichen  die  verschiedenen  A.  berücksichtigt.  Mithin  müssten 
unter  Vnrnussctzung  der  richtigen  Bestimmung  des  Prozentsatzes  27  */• 
nicht  als  Chancen  für  die  Wiederkehr,  sondern  für  die  Nichtwiederkehr  gelten, 
für  jene  also  73  7«,  was  nach  vorstdienden  Darlegungen  ja  auch  ntdit  richtig 
sein  kann.  Auf  die  2  Reizwörter  unter  „Aesthetische  Gefühle"  erfolgten  auf 
je  8  Nennungen  je  8  gleiche  Reaktionen,  ein  Ergebnis,  das  Wr.  mit  100  V« 
Chancen  der  Wici-iirkr-hr  angiebt.  Nach  seinem  Verfahren  wäre  aber  die 
(liesliczupliclu-  BereciiiiunK  geradezu  unmöglich,  da  ja  die  2  Reizwörter 
überhaupt  keine  verschiedenen  Reaktionen  ergaben. 

Die  zur  Entscheidung  der  Frage  nach  der  Fixation  gewonnenen  Zahlen 
sind  demnach  wertlos,  ja  sie  zwingen  zu  ganz  falschen  Folgerungen. 

Um  die  Dauer  der  A.  der  Lösung  der  aufgeworfenen  Frage  dienstbar 
7U  machen,  wurden  die  einzelnen  Gruppen  bei  der  Betrachtung  zeitlich 
halbiert,  die  durchschnittliche  Dauer  der  Wiederholungen  in  beiden  Hälften, 
beispielsweise  in  je  4  Tagen,  berechnet  und  Dvv.  II  von  Dw  I  subtrahiert 
War  die  positive  Differenz  ziemlich  beträchtlich,  so  musste  in  der  Regel 
auf  das  Vorhandensein  einer  Fixation  geschlossen  werden,  wofür  dann  auch 
die  WicderholunKSchanccn  zeugten.  Ein  richtiges  Bild  konnte  nur  durch 
Zusainmetihalten  beider  Ergebnis.se  entstehen,  und  darum  ist  es  doppelt  Ije- 
dauerlich,  dass  die  Berechnungen  crstcrcr  Art  prinzipiell  verfehlt  sind  und  die 
zweiter  Art  anscheinend  Rechenfehler  zeigen,  wenigstens  stimmt  gleich  das 
erste  betreffende  Resultat  nicht. 

Als  verunglückt  muss  zum  Sdilnsse  noch  der  Gedanke  bezeichnet  werden, 
in  einem  Falle  von  Idiotie  das  Problem  der  Fixation  infolge  der  Wieder» 
holungsmethode  lösen  zu  wollen.  (Gedächtnis!) 

Trotz  dieser  bedeutenden  Fehler,  welche  die  gefundenen  l£rgel)iiisse  «e- 
wahig  beeinträchtigen  oder  gar  in  Frage  stellen,  mus»  die  von  Wr.  in  den 
Vordergrund  gerückte  Frage  nadi  dem  Masse  von  geistiger  Arbeit  bei  den 


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BeritkU  und  Jiesprcckungen. 


227 


Assoziationen  und  nach  dem  Grade  etwaiger  Fixation  als  sehr  wertvoll 
anerkannt  werden.  Auch  lässt  sich  nicht  verhehlen,  dass  nach  der 
methodologiächen  Seite  die  Studie  einen  schönen  Schritt  vorwärts  bedeutet. 

Wfirzburg.  Job.  Orth. 


H.  K  r  o  c  1 1  :    Der  Auibau  der  menschliclien  Seele.    Eine  psychologische 
Skizze.   Leipzig,  W.  Engelmann.  1900.  8*.  398  S. 
Angeregt  durch  den  Kampf  der  Geister  auf  dem  Psychotogenkongrease 

vom  Jahre  189G  in  München  hat  der  Verfasser,  Sanitätsrat  in  Strassburg  i.  E., 
in  der  vorlicf^endcn  Ski/.zc-  sriiu-,  .uif  der  Büchner-Hacckel'schen  Welt- 
auffassuiiK  basierenden  AnscliauuiiKen  inbetrefF  der  menschliclien  Seele 
niedergclegL  Nach  einer  Reihe  kurzer,  aber  sehr  ubersichtlich  und  anschau- 
lich gehäkelter  anatomischer  und  physiologischer  Vorbemerkungen  bespricht 
der  Verfasser  zunächst  die  Reflexcentren  in  der  Hirnrinde  und  die  zeittiche 
Entwidcelung  der  Reilexe,  in  der  Annahme,  dass  alle  Lebensvorgänge,  auch 
alle  psychischen  ErschciriunRcn,  auf  Reflexe  zurückzuführen  sind.  Das 
folgende  Kapitel  behandelt  das  Wc«?en  und  den  Wert  der  Sinnesbilder,  wobei 
hervorgehoben  wird,  dass  die  Dinge  praeexistieren  und  dass  die  Sinnesorgane 
und  das  Gehirn  sich  unter  ihrem  Einflüsse  gebildet  haben.  Der  Ausbau  der 
Bewusstseinsneurone  und  die  übersichtliche  Darstellung  ihrer  Energie  bildet 
den  Inhalt  des  VIL  Kapitels.  Hier  wird  das  Wesen  des  Bewusstseins  er- 
läutert, das  nach  dem  Verfasser  ebenso  wie  das  Gedächtnis  an  bestimmte 
N<-Tirf>ne  sTeknüpft  ist  und  sich  allni.iliiich.  der  Markreife  der  Nervenfasern 
entspffciiend.  entwickelt.  D\>-  ( iedaclitnisljilder  «ind  nacli  ilmi  Spannkraite, 
die  in  den  Ganglien  der  liirnrmde  auigespeicheri  aiiid,   der  Wille  ist  das 

Produkt  der  Arbeit  des  Intellekts  und  des  Gefühls.  Denken,  Ffihlen  tmd 
Wollen  beruhen  demnach  auf  anatomisch  gesonderten  Neurongruppen.  Warum 
auch  nicht!  Sodann  wird  die  Entwickelung  der  Sprache  dargdegt  und  die 

Hirnrindencentren.  die  7\\  ihrem  Zu^standckomnicn  zusammenwirken  müssen, 
aufgeführt.  Nach  ernipren  I'emcrkuiiLjt  ii  ulxr  das  Unbewu-^stc  und  den  Traum, 
der  durch  Abwesenheit  des  „urteilenden  Bewusstseins'  entsteht,  folgt  die  Be- 
sprechung der  Entwidcelung  der  Dmkbarkeit,  t.  e.  der  Vorgänge  in  den 
Bewusstseinsneuronen.  Der  Abwechslung  halber  werden  die  verschiedenen 
Faktoren,  die  am  Zustandekommen  des  Intellekts  erforderlich  sind,  als  da 
sind:  Sinneswahrnchmung,  Gedächtnis-  und  Vorstellnn^^sthätiKkeit  nicht 
nebeneinander,  sondern  über  einander  in  den  verschiedenen  Schichten  der 
Hirnrinde  lokalisiert.  Die  Schwierigkeiten  der  Bcgrittsbildung  werden  sehr 
anschaulich  geschildert  und  auf  die  mannigfachen  Fehlerquellen  des  begriff" 
liehen  Denkens  so  eindringlich  hingewiesen,  dass  man  sich  versucht  fühlt, 
die  gewonnenen  Einsichten  zur  Prüfung  der  in  der  vorliegenden  Abhandlung 
aufgestellten  Behauptungen  anzuwenden.  Mit  einem  kühnen  Sprun^^e  schlie^'^en 
sich  an  diese  Darlecrnng:  ziemlich  unvermittelt  einige  Gedanken  iiber  lir- 
ziehnnj?  tuul  üiier  humanistische  und  realistische  Schulung  an.  Das  eliie 
Kapitel  behandelt  die  Vorgänge  in  den  Gefühlsncuronen.  Die  Entstdiung 
der  Lust-  und  Unlustgefuhle  wird  zurückgeführt  auf  den  Kraftekreislauf. 


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228 


BerkhU  und  Bttpretktmgtn. 


welcher  von  der  Muskulatur  au?;gcht.  Die  tcleotoiri^che  Auffassung  der  Ge- 
fühle wird  hier,  wie  auch  prinzipiell  an  anderen  Stellen,  abgelehnt.  Die 
Idee  wird  definiert  als  „ein  zum  Angenehmen  verklärtes,  auf  eine  höhere  Stuic 
gestelltes  VorsteUungs-  oder  Gedankealnld".  Bei  der  Attseimmdersetzung 
der  Idee  des  Schönen,  ebenso  wie  bei  der  Schilderung  der  Etitstehang  des 
religiösen  Gefühles  haben  wir  Gelegenheit,  die  reichen  und  vielseitigen  Kennt- 
nisse des  Verfas<:ers  auf  th'esen  Gebieten  zu  bewundern.  Im  XII.  Kapitel 
werden  die  Vorgantre  in  <ien  Willensneuronen  näher  ausgeführt  und,  wie  m 
der  ganzen  Abhandlung«  ohne  jeden  Beweis  die  Behauptung  notiert:  die 
Willensneurone  sind  die  Gedächtntsneurone  ffir  das  Ichbewusstsein.  Das 
ethische  Wollen  beruht  nach  dem  Verfasser  auf  einer  durch  Lust-  und  Unlust- 
gef^le  hervorgerufenen,  vom  Ichbewusstsein  ausgehenden,  psychischen  Selbst* 
Steuerung,  die  hauptsächlich  durcli  s<^ziale  Hemmungen  nümählich  auf  eine 
höhere  Stufe  gestellt  wird.  Die  Freiheit  des  Willens  beruht  —  merkwürdig 
genug  für  den  materialistischen  Standpunkt  des  Verfassers  —  aui  der  Fähigkeit 
des  geordneten  Denkens.  Das  y<Mr1etzte  Kapitel  behandelt  die  Stdrucgen  im 
Aufbau  und  die  Vorgänge  beim  Abbau  der  Seele.  Hier  werden  u.  a.  die 
Probleme  der  Psychiatrie,  ebenso  wie  die  Rätsel  des  Hypnotismus  im  Hand- 
umdrehen gelöst.  Die  Tierseele  bildet  den  Gegenstand  des  Schlusskapitels. 
In  einein  Rückblicke  wird  die  rastlose  Bewegung  des  ..Kraftstoffes"  noch 
einmal  als  Urquell  alles  äusseren,  wie  seelischen  Geschehens  dekretiert. 

Zur  Kritik  der  Arbeit  seien  wenige  Worte  gestattet.  Auf  dem  Gebiete 
der  Naturwissenschaften,  ebenso  wie  auf  dem  Gebiete  der  Kultur-  und  Kunst- 
geschichte sind  die  gediegenen  Kenntnisse  des  Verfassers  durcliaus  anzuer- 
kennen. In  der  Psychologie  und  Philosophie  dagegen  verhält  er  sich  wie 
ein  Laie,  der  ohne  Kenntnis  der  einschlägigen  Forscbimtren  den  Problemen 
dieser  Geisteswissenschaften  durchaus  fremd  gegenübersteht  und  daher  geneigt 
ist,  über  die  Schwierigkeiten  derselben  mit  einigen  Schlagworten  zur  Tages- 
ordnung überzugehen.  Da  diese  Schlagworte  zudem  der  ebenfalls  gänzlich 
laienhaften  Bfichner-Haeckerschen  Afterphilosopbie  entnommen  sind,  so 
können  wir  ims  l^ei  aller  Anerkennung  der  Einzelkenntntsse  des  Verfassers 
auf  vielen  Gebieten,  sowie  der  fliessenden  Diktion  und  des  glänzenden  Stiles, 
von  dieser  Skizze  weder  einen  Vorteil  für  die  Wissenschaft  noch  eine  Be- 
lehrung für  den  fernerstchenden  oder  einen  Gcnuss  tur  den  eingeweihten  Leser 
versprechen. 

Berlin.  L.  Hirschlaif. 


Educational  R  <■  \  i  e  w  edited  by  Nichol.  Marray  Buth,  Professor  of 
Philosophy  and  Education  in  Columbia  University.  Rushway,  N.  J.  and 
New-York  1900. 

Die  Educational  Review  legt  glänzendes  Zeugnis  ab  für  den  Aufschwung» 

den  das  Erziehungswcsen  in  den  Vereinigten  Staaten  nimmt.    Sie  behandelt 

die  mannigfahigsti  ii  Fragen,  allgemeine  philosopliische  Auseinandersetzungen, 
besonders  mit  der  deutschen  philosophischen  Pädagogik  von  Herbart  und 
Froebel,  besondere  Fragen  der  Organisation  des  Unterrichtes  in  Amerika, 
Darlegungen  des  Standes  der  Erziehung  in  anderen  Landern,  in  erster  Linie 


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Ar&kte  und  Be^wwdkungm. 


229 


in  Dentsdlland,  aber  auch  in  Frankreich,  England  und  Italien,  methodische 
Fragen  jeder  Art.  Bücherbc-sprcchungcn  iind  Biblioprraphiecn. 

Die  Aufsat/e  sind  diirclr\vfg  gediegen  und  lehrreich.  Sie  zeigen,  wie  das 
amerikanische  Erziehungswesen  der  Ausdruck  einer  besonderen  sittlichen 
und  geistigen  Kultur  ist,  die  sich  in  Anlehnung  an  die  deutsche,  aber  doch 
selbstSndig  tmd  eigenartig  enwickelt  hat.  Diese  Fragen  werden  u.  a.  be> 
sprechen  in  den  Aufsätzen  von  J.  Welten  (A  syntbtsis  o(  Herbart  and  Froebel, 
Sept.  l^<'»rt).  Joseph  Lee  fMünsterberg  on  the  new  educationl.  Thomas 
Davidson  (Educatir)n  ;is  world-building.  Nov  If'OO»,  J.  W.  Howerth  (An  ethttic 
view  of  higher  education).  Von  den  Auisätzen,  die  das  deutsche  Schul- 
wesen behandeln,  sind  besonders  lesenswert  eiiwr  von  LiMlwig  l^reck  (Re- 
form of  secondary  education  in  Germany,  Sept.  1900  und  der  von  Eimer 
E.  Brown  (German  Higher  Schools,  Nov.  1900).  Die  Zeitschrift  ist  auch  für 
den  deutschen  Pädagogen  sehr  anregend,  es  geht  durch  sie  ein  frischer,  jugend- 
licher Zug,  der  wohltlniend  ah-^ticht  gegen  den  zu  weit  gehenden  Spezialismus 
und  die  Methodenkunstelei,  die  bei  uns  oft  zu  sehr  überwuchern. 

Myslowitz  0.*S.  •  Phil.  Aronstein. 


Mitteilungen. 


Die  unerwachsene  Bevölkerung  Berlins  nach  der 

Volkszählung  1895. 

Die  kürzlich  vom  Statistischen  Amte  der  Stadt  Berlin  ver- 
öffentlichten Ergebnisse  der  am  2.  Dezember  1895  in  Berlin 
veranstalteten  Volkszahlung  ergab  in  Bezug  auf  die  unerwach- 
sene (unter  15  Jahren)  Bevölkerung  folgende  Resultate: 

L 

1.  Die  tmerwadbsene  Bevölkerung  nach  dem  Geschlecht  und 
den  einzelnen  Lebensjahren  gesondert: 


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230 


JiiiUeäuHgm. 


Alter  von 
?-?  Jahren 

Mtiml.  Geschlecht 

1  Weibl.  Geschlecht  | 

Personen 

Anzahl 

in  ) 
gedrückt 

Anzahl 

in   Ol  * 

aus» 
gedrficict 

iTianni. 
Oeschl. 
mehr 

WCIUI. 

Geschl. 
mehr 

0—1 

1  D  r  QU 

U2/ 

O  l'. 

lo  /^o 

o  Vb 

1  Art 

1—2 

lO  tM£ 

71 1 

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1 A  AM 

•7»/ 

ei 
vi 

2—3 

Iii  Ali 

'  Ih 

IQ  OO« 

711 

all 

3—4 

15  /VU 

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1 0  ''o  / 

T  1  / 

107 

4-5 

10  8öO 

16  lo/ 

■7  1  / 

'  k 

5—6 

iL  II  /  1 

l.J  JÖV 

^  /5 

Ol 

6-7 

14  355 

14  641 

6'/, 

286 

7-8 

14  940 

6'/,o  1 

14832 

106 

8—9 

14  355 

14  573 

18 

0—10 

14  131 

13  987 

144 

10-11 

13  620 

1      14  098 

6V«  1 

478 

11—12 

13  302 

6 

13  604 

302 

12—13 

12920 

13304 

5"/io  : 

384 

13^14 

12  800 

13473 

6 

673 

14—15 

12826 

6«/, 

13  469 

643 

Summt 

221691 

225  187 

269 

3785 

Aus  dieser  AtifsteHung  ersieht  man : 

1.  dass  dai  weibliche  Gcbchlecht  zahlreicher  als  das  männ-i 
liehe  war,  es  überragte  nämlich  das  männliche  um  3496 
(3785 — 289)  Personen, 

2.  dassfastin  iedeni  Lebensjahredasweiblichct  lesclilechtüber- 
wiegt,  nur  111  dem  10.,  b.  und  6.  Lebensjahre  lUach  der  Anzahl 
abfallend  geordnet)  wurden  144,  108  und  37  Knaben 
mehr  gezählt  als  Mädchen, 

3.  dass  sieh  der  grössere  Ueberschuss  an  Mädchen  in  den 
höheren  Lebensiahren  konstatieren  Hess,  es  würden  sich 
/..  B.  die  Lebensjalire  nach  dem  Ueberschuss  abiaÜend 
folgendermassen  ordnen : 


Lebensjahre  . 

|14 

15  1  11 

!  13 

3     12U.5!  7 

4 

1    1  2 

1  1 

9 

Udxrschuss  . 

|673 

643  1  478 

384 

311  j  802  1  286 

187 

1  140  i  51 

1« 

2.  Die  1894  und  1895  geborenen  Kinder  nach  Geburtsmona« 
ten  und  Geschlecht. 


*)  Der  Prozentsatz  ist  hierbei  auf  die  Summe  der  Personen  des  minnlidieti 
{ftsp,  weiblichen)  Geschlechts  bezogen. 


UIQliI 


Mitteäungai. 


231 


Mannliches  üeschlcclu 

1    Weibliclics  üesdilccht 

E  1 

M    n  t 

1894 

1895 

^  '■D  cn 

^   X)  " 

;§  ü  « 

O  'S 

1894 

1895 

lanuar.  .  .  . 

IS21 

1464 

-57 

1421 

1517 

96 

Februar  .   .  . 

1297 

i27r> 

 Ol 

1  3'A2 

1394 

62 

Mnrz  «... 

1396 

14."0 

-ur.4 

1    1  ;iS.', 

l.'>:;9 

1'.4 

April  .... 

li^ 

1401 

UU4 

141U 

lÜo 

Mai  

1246 

1503 

257 

1378 

1521 

143 

Juni  .... 

1207 

1472 

266 

1315 

1444 

129 

Inll  

1491 

lol". 

124 

1435 

1575 

140 

August    .    .  . 

1434 

lo(>3 

1449 

1670 

■J2l 

September   .  . 

wws 

1717 

3:.4 

1426 

](.3'J 

22t> 

Oktober  .  .  . 

1431 

17ul 

SSO 

,  i3SÖ 

1791 

,  403 

Novenbcr 

1461 

1700 

239 

1406 

1676 

272 

Dezember    .  . 

1519 

46-) 

94, 

• 

51*») 

So*) 

■) 

1  • 

Aus  dieser  Tabelle  ersieht  man,  ciass  Kinder  beider  Ge- 
schlechter im  Jahre  1895  mehr  als  im  Jahre  1894  geboren  wur- 
den, nur  zwei  Monate  (Januar  und  Februar)  bilden  bei  den 
Knaben  eine  Ausnahme. 

Ordnet  man  die  Monate  nach  den  Geburten  abfallend,  so 
ergiebt  sich  die  Reihenfolge: 

Koaben: 
1894: 

Januar,  Dezember,  Juli»  November^  August,  Oktober,  Marz, 
September,  April,  Februar,  Mai,  Juni; 

1895: 

Oktober,  September,  November,  August,  Juli,  Mai,  Juni, 
Januar,  März,  April,  Februar,  (Dezember). 

Mädchen: 
1894: 

Dezember,  August,  Juli,  September,  Januar,  November,Ok* 
tober,  März,  Mai,  Februar,  Juni,  April. 


*)  Dies  sind  die  Anzahlen  der  Oeburten  nur  vom  1.  Dezember  189S. 
**)  Dies  sind  die  Anaüilen  der  Geburten  nur  vom  1.  Dezember  1894. 


232 


189«: 

Oktober,  November,  August,  September,  Juli,  März,  Mai, 
Januar,  Juni,  April,  Februar,  (Dezember). 

3.  Die  am  3.  bis  31.  Dezember  geborene  Bevölkerung 
unter  15  Jahren)  nach  Geburtsjähren  und  Geschlecht, 


Ocbcrai 
2.  —  31.  De- 
zember 

Männliches 
Oeidikdit 

Weibliches 
Geschlecht 

mehr 
minnlidie 

a!s 
weibliche 

mehr 
weibliche 

ils 

männiiche 

1473 

1452 

41 
«1 

1374 

1363 

11 

1892 

1298 

1314 

16 

1891 

1336 

1305 

3! 

1890 

1316 

1327 

11 

J899 

1282         1  1277 

5 

188b 

1191 

1196 

5 

1887 

1270 

1218 

52 

1886 

1134 

1174 

40 

1885 

1157 

1095 

62 

1884 

1100 

1151 

51 

1863 

1120 

1050 

70 

1882 

1079 

1110 

31 

1881 

1086 

1068 

18 

1880 

1055 

1123 

1  ~ 

68 

Aus  dieser  Aufstellung  ergiebt  sich  ein  sehr  überraschendes 
(und  originelles)  Resultat,  nämlich  dass  in  den  Jahren  mit  un* 
gerader  Jahreszahl  in  der  Zeit  voro^  2,  bis  31.  .Dezember  die 
männhchen  Geburten  zahlreicher  sind  als  die  weiblichen,  und 
demnach  entsprechend  in  den  Jahren  mit  gerader  Jahreszahl 
die  weiblichen  Geburten  vorherrschen,  nur  im  Jahre  18^4 
kamen  in  dieser  Zeit  (2. — 31.  Dezember)  mehr  Knaben  als 
Mädchen  zur  Welt. 

FeniLi  kann  man  aucli  ein  ständiges  Zunehmen  der  Ge- 
burten beiderlei  Geschlechts  mil  den  Jahren  bemerken, 

Tl. 

Die  unter  einjährigen  Kinder  ruich  der  Ernährungsweise. 
Die  Kinder  im  ersten  Lebensjahre  nach  der  Emährungsweiscp 
dem  Geschlecht  und  Geburtsmonaten : 


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Männl.  Geschlecht 

Weib!.  Geschlecht 

Ueberhaupt 

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Qdnulsiiioiute 

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^  « 

2.  —  31.  Dezember 

367 

45 

1473 

1 

3gO 

1 

51 

'  4* 

1  UZ  1 

1452 

1 

747 

96 

10* 
208J 

2925 

liniur  1895  .... 

43S 

32 

77  i 

1  4ti4 

30 

3* 
1021 

62 

3» 

2018 

i  eoruar  1895  .  .  . 

4(X) 

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Ü'><  1 

1275 

452 

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174'» 

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Mbz  1895  .... 

542 

31 

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877 

1450| 

529 

35 

3* 
976 

1539 

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66 

18r,2 

2989 

537 

39 

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1401^ 

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33 

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788 

1410 

1126 

1 

72 

2* 
1013 

2811 

Mai  IMd 

660 

49 

4* 
794 

1503 

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X) 

^  * 

81 V 

1521 

1323 

88 

5* 

1613 

3024 

luni  1895 

659 

40 

773 

1472 

t>60 

43 

3^ 
741 

1444 

1319 

83 

b* 
1514 

InU  1QOK 

778 

36 

3* 
801 

1615^ 

757 

41 

3* 
777 

1575 

, 

1535 

77 

6* 
157S 

3190 

August  1895  ... 

795 

uC 

2* 

80H 

1663j 

Bll 

43 

3* 

1670.1000 

103 

5* 

1624 

3333 

Sq)teBiber  1895  . . 

866 

48 

4* 
803 

1717 

1 

868 

51 

5* 
733 

1652 

1734 

99 

()* 

1536 

3369 

OUolMr  1895  .  .  . 

'»72 

54 

6* 

735 

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1072 

42 

4* 
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2044 

% 

10* 
1412 

3552 

November  u.  1.  De- 
mibar  1895  . . 

28 

3* 
57ü 

1794 

1 

117'» 

__ 

1 

4* 

562 

1 

1763 

i 

2375 

1 

50 

7* 

1132 

3557 

III. 

Blinde,  Taubstumme  und  Geisteskianke. 

Die  in  Bcrlm  und  die  ausst  rhalb  geborenen  Ciebrechlichen 
nath  dem  Geschlecht,  Ahers-Jahrfünften  (mit  Tieiiiiuug  der 
ersten  fünf  Geburtsjahre),  sowie  die  ausserhalb  geborenen  nach 
der  Zuzugszeil : 


Die  mit  *  bezeichneten  Zahlen  (Ernihningswdse  unbckaiuit)  tiad  in  den 
bcCreffcudni  HiuptaJilcn  mit  cothalicii. 


234 


ißttätungien. 


I.  Blinde. 


Zttzugszeit 

Männliches  Geschiedit 

der 
ausserhalb 
Geborenen 

189:^. 

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1S94 

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geborene  Bertin  er 

i  1894 
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O     ^  1892 

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1 
l 

1 

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1 
1 

überhaupt 
gd>orene  Berliner 

t  f  IS'.U 
o 

0  ^  lö92 

a    S  1891 
^    g  1890/86 

1  1       1885  81 

t*  unbek. 

~  J 

1 

i 

1 

M  ' 

bliches 

Geschlecht 

I0jl6 

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2 

I 

1 

I 

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2 

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1 

l 

a 

Überhaupt  |  2 

1- 

1 

1 

3 

|12| 

|13 

*  bedeutet:  dabei  1  bl.  und  gdsteskr. 


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MiUtäumgm* 


235 


2.  Taubstumme. 


Männliches  Geschlecht 

Qeburtszeit 

ausserhalb 

lKq4 

1893 

1892 

1891 

1890|86 

1885181 

überhaupt 

^» 

B 

Geborenen 

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10 

geborene  Berliner 

1 

1 

1 

1 

2 

2 

• 

21 

12 

9 

23! 

38 

39 

77 

1895 

— 

5 

3 

1 

3 

(> 

9 

1894 

— 

1 

1 

2 

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1 

4 

2 

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n  1893 

— 

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2 

1 

3 

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w  1892 

2 

1 

2 

1 

3 

S  1891 

— 

3 

3 

3 

^  1890/66 

— 

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9 

8 

10 

10 

20 

I88r)/8i 

— 

3 

3 

3 

!iTibek. 

überhaupt 

1 

3 

3 

20 

27  1 

62  1 

Weibliches 

Qesdilcdit 

geborene  Berliner 

3* 

6 

o 

15 

14 

17 

13 

41 

29 

70 

«; 

,  1695 

I 

2 

•> 

2 

3 

5 

1694 

- 

1 

1 

:  1 

1 

2 

O 

c  1893 

1 

3 

1 

3 

4 

c 

1892 

1 

3 

3 

I 

4 

£  ■' 

ö  1891 

1 

1 

3 

1 

4 

5 

g     1890; 86 

1 

5 

5 

7 

0 

13 

1885/81 

„ 

uabek. 

1  - 

flberhtupt 



:{ 

1 

6 

'> 

1 

20 

|20 

27 

24 

1  56 

47 

1  10  3 

*  bedeutet:  dibd  1  taubstumm  und  gosteskranic 
ZeHMfeitlt  flir  pidagDgisdK  Psychotogis  itod  PkHwIo^te.  5 


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236 


Mittahtmgwn, 


3.  Geisteskranke. 


Zuzugszdt 

der 
ausserhalb 
Geborenen 


Männliches  Geschlecht 


Oeburtszeit 


1894 


Si 


1893 


I    L     1891    I  1890/86 


c  ■  o. 


1=   I  o. 


1885/81 


J3 


1« 


lid)erliaopt 


c 

C3 


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O. 

1/1 


geborene  Berliner 
189:, 


B 

V 

o 

■§ 

O 

ri 


1894 
c  1893 
1  1892 

3 

IM 


1891 

1890/66 
1885/81 
unbek. 


überhaupt 


geborene  Berliner 

1995 
1894 
1893 
1892 
1891 
1890/66 
1885/81 


o 

o 

J3 


unbek. 
übeihaupt  j 


3') 


18*) 


1 
2 

1 1  - 


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1  I    3  I   3  j  1    I  19  1  22 


16 


18  !  42 


If)!  -  I  1 


37 


1 
1 
2 
1 


-  I  1 


17  I  19  {j  44  I  42  I  86 


Weibliches  Oeschlecht 


1') 


^1 


1  I  9 


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1 


14 


15 

14 

27 

25 

52 

1 

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1 

2 

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l 

1 

1 

2 

2 

3 

1 

4 

1 

1 

1. 

21 


16  II  34  j  31  I 


*)  bedettlet:  dabei  1  g^iiieskr.  und  tautet 
t)  bedenfet:  dabei  1  geiriakr.  und  bUnd. 


237 


IV. 

Die  mit  Freiheitsstrafen  Belegten  nach  Zahl  dieser  Be- 
strafungen, dem  Geschlecht  und  den  einselnen  GebrntsjabroL 


AAännliches  Ocschledit 

Zum 

Male  bestraft 

Bestrafte 

Straf  mündige 
über 

1. 

2. 

3. 

4, 

5. 

äberhaupt 

12  Jahre 
flberiutnpt 

1868 

5 

— 

5 

11842 

1882 

1  o 

1 

19 

12  /94 

1681 

40 

7 

2 

1 

50 

12  859 

1880 

82 

16 

9 

2 

1 

110 

12  891 

Überhaupt 

145 

1  ^ 

184 

50  386 

Weibliches  Geschlecht 

18B3 

12  19S 

1882 

3 

3 

1351'. 

1881 

3 

3 

13  417 

1880 

7 

2 

9 

14  543 

ttbstanqil 

13 

2 

15 

53671 

Berlin.  H.  du  Bois. 


Die  Schnhreform  hat  zu  einer  groescn  Zahl  von  Scdififten 
VefanUuMning  gegeben,  i»  4«n«a  TFabdattB*  in  mmmm  Mhenn  Sehnl» 

wesen  erörtert  und  Vorschläge  za  dercfi  Abhilfe  gemacht  werden.  Die 

hygienische  Seite  —  eine  der  bedeutsamsten  und  fnlfrrn^rhwcrstcn  —  i'Jt  nicht 
genog  p'ewürdiKt  worden.  Vom  mediiinischcn  Standpunkt  unterzieht  Dr. 
Th.  Benda*)  die  neae  Schulreform  einer  eingehenden  Betrachtung.  Die  Ab- 
schaffung des  EinjährigenexameiM»  das  in  maiicherlei  Hhnicht  h6diflt  oadi- 

*)  Im  Kletneo  Jovrad,  No.  flk 

5* 


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238 


MUUäungm. 


teiltg  auf  die  Entwickdung  des  jugendtichen  Organismus  einwirkte,  wird 
von  ihm  gebilligt;  ebenso  erschienen  ihm  die  Mtstnihmen.  welche  zu  einer 
zweckmässigeren  Stutidenvcrtc-ilung  und  Verlängerung  der  Pausen  führen, 

gerechticrtigt  und  notwendig. 

Dagegen  erhebt  er  seine  Stimme  gegen  die  geplante  Vermehrung  des 
Lehrstoffes. 

„Da  soll  das  Lateinische  wieder  um  drei  Stunden  wöchentlich  vermehrt, 
da  ?oM  mehr  Geschichte.  Geoj^raphie  und  Zeichnen  gclrieben  werden,  da  soll 
in  den  Naturwissenschaften  (Physik,  Chemie)  die  praktische  Seite  mehr  ge- 
übt werden,  da  soll  vor  allem  —  eine  bedeutende  Mehrbelastung  —  von 
Untersekunda  an  eine  neue  Sprache,  das  Englische,  —  obligatorisch  werden. 
Der  Wegfall  des  französischen  Unterrichts  von  dieser  Klasse  ab  ist  durchaus 
keine  Ausgleichung;  die  Mühe,  eine  bereits  erlernte  Sprache  weiter  zu  be- 
treiben, steht  tn  keinem  V'erhiiltnts  zu  der  Mühe,  eine  neue  Sprache  7U  er- 
lernen. .Auch  durch  die  geplante  Vermehrung  des  TurnunternclUa  wird  bei 
der  grossen  Arbeitslast  keine  Entspannung,  sondern  eine  weitere  Belastung 
herbelgefOhrt  werden,  da,  wie  durch  Ermfldungamessnngen  von  faehminnladier 
Seite  längst  festgestellt  ist  körperliche  Anstrengung  die  geistige  Ermüdung 
erhöht  und  nicht,  wie  man  früher  glaubte,  ihr  entgcicrcnarbeitet. 

Es  ist  ja  klar,  dass  alle  diese  neuen  Forderungen  durchaus  den  Be- 
dürfnissen des  modernen  Lebens  angepasst  sind.  Gewiss  wäre  es  wünschens- 
wert daas  eine  Wdtspra^e.  wie  das  Englische,  den' ihr  gebnhrenden  Platz  im 
Unterrichtsplan  einndime;  gewiss  sind  erhöhte  Kenntnisse  in  der  Ge- 
schichte und  besonders  der  Geographie  wichtig  für  den  modernen  Menschen: 
gewiss  wäre  es  ru  wiin-rln-n.  wenn  Physik  und  Chtmie  gründlicher  und 
praktischer  Retricben  wurden,  der  Wert  des  Zeichenunterncht"!  ist  allg^cmcin 
anerkannt  u.  &.  w.  Weshalb  eine  Vermehrung  des  lateinischen  Unterrichts 
eiatrelen  soll,  ist  für  den  Laien  unverständlich,  da  ein  neunjähriger  Unter- 
ridit  mit  wöchentlich  7  bis  6  Stunden  exklusive  der  häuslichen  Arbeiten 
für  jeden  Nichtphilnlogen  mehr  als  ausreichend  erscheint.  Wenn  nach 
einem  so  intensiven  Studium  noch  so  ungenügende  Resultate  erzielt  werden, 
dass  man  eine  Steigerung  für  nötig  hält,  so  muss  der  Fehler  wo  anders  liegen. 

Bei  dieser  Erhöhung  der  Anforderungen  ist  aber  ein  Faktor  unberüdc- 
•khtigt  geblieben,  der  doch  die  höchste  Beachtung  verdient  nnd  bei  allen  Er> 
wägungen  über  das  Büdnngsziel  der  Schule  in  erster  Reihe  stehen  sollte.  Es 
ist  die«:  die  Aufnahmefähigkeit  des  jugendlichen  Gehirns. 

Wie  der  Komponist  die  Leistungsfähigkeit  und  Eigenart  des  Instruments 
kennen  muss,  für  das  er  komponiert,  wie  vom  Künstler  und  Handwerker 
„Materialkenntnis"  verlangt  wird,  so  muss  der  Sdiulmann  vor  allem  die 
Leistungsfähigkeit  seines  Materials  kennen.  Und  diese  Leistungs- 
fähigkeit ist  durch  die  bisherigen  .Anforderungen  be- 
reits weit  über  das  Mass  des  Zulässigen  hinaus  in  An- 
spruch genommen  worde  n." 

Bcnda  streift  dabei  die  Ueberbürdungsfrage ;  sie  hat  3  Ge»ichtspunkte: 
geistige  Ueberb&rdung.  körperliche  Ueberbfirdung  und  Ueberiadung  des 
jugendlichen  Gemüts  mit  nervenschädigenden  Eindrücken  aller  Art  — 

,,Wcnn  man  nach  den  Ursachen  der  Ucberhürdung  fragt,  "^o  muss  r'hen 
die  Unterschauung  der  Leistungsfähigkeit  des  Materials  als  Hauptgrund 


L.iyui<.LU  Oy  VjOOQle 


MüteüuHgen, 


239 


bezeichnet  werden.  Thatsächlich  liegt  das  geistige  Niveau  der  grossen  Mehr- 
heit der  Schüler  viel  zu  tief  für  die  heutigen  Anforderungen.  Dnzti  kommt, 
dass  auf  die  individuelle  Veranlagung  keine  Rüeksicht  genommen  wird.  Wieviel 
Erwachsenen  ist  es  gegeben,  von  wenigen  hervorragenden  Geistern  abgesclien, 
sieb  fnr  verschiedene  Wissensgebiete  zu  interessieren,  geschweige  denn  darin 
etwas  an  leisten.  Von  dem  Sch&ler  der  höheren  Lehranstalten  aber  wird  ein 
gleichmässiges  Wissen  auf  den  verschiedensten  Gebieten  verlangt;  ein  jeder 
muss,  ob  er  dazu  befähigt  ist,  oder  nicht,  sich  an  den  Schönheiten  der  Ur- 
sprache erfreuen,  grammatische  Finessen  lebender  und  toter  Sprachen 
studieren,  mathematische  Probleme  lösen,  geschichtlich  und  philosophisch 
denken,  naturwissenschaftlich  beobachten  etc.;  er  soll  eine  ungeheure  Fülle 
von  Detailkenntnissen  aus  den  verschiedensten  Gebieten  in  sein  Gedächtnis 
aufnehmen. 

In  der  Wissen  sc  Ii  aft  zeigt  sich  heutzutage  allgemein  eine  Tendenz  zum 
Spezialisieren,  während  es  natürlich  wünschenswerter  wäre,  wenn  jeder 
Einzelne  die  ganze  \Vi.>;senschatl  umfassen  würde.  Es  ist  dies  jedoch 
praktisch  unmöglich,  weil  jedes  Wissensgebiet  eine  solche  Ausdclniung  an- 
genommen hat«  dass  der  Einzelne  es  beim  besten  Willen  nicht  n^ir  be- 
herrschen kann.  In  der  Schule  aber  soll  der  Schüler  eine  grosse  Anzahl 
von  Wissensgebieten  umfassen,  obgleich  auch  diese  andauernd  gewachsen  sind 
Tind  in  Zukunft  immer  weiter  wachsen  werden.  So  wird  man  früher  oder 
spater  an  der  Grenze  des  Möglichen  angelangt  sein.  Denn  es  ist  falsch  zu 
glauben,  dass  man  den  Geist  bis  ins  Unendliche  anspannen  kann,  weil  seine 
Ermüdungserscheinungen  nicht  so  deutlich  zu  Tage  treten,  als  die  des  Körpers. 
Wenn  der  ermüdete  Geist  immer  weiter  zur  Arbeit  gezwungen  wird,  kommt 
es  zu  einer  Uebermüdung,  und  eine  solche  fuhrt  schlieslich  zu  krank» 
haften  Zuständen  des  Nervensystems. 

Man  sollte  nicht  vergessen,  dass  schon  jetzt  sich  unter  den  Schülern 
der  höheren  Lehranstalten,  wie  statistisch  nachgewiesen,  bis  zu  öOVo  erblich 
Belastete,  also  in  der  Widerstandsfähigkeit  ihres  Nervensystems  Geschwächte, 
befinden.  Von  der  anderen  Hälfte  der  Schüler  wird  ein  gewisser  Teil  durdi 
die  Arbeitslast^  durch  die  fortwährenden  Erregungen,  wie  sie  die  Schulzeit 
besonders  für  die  wenig  Begabten  und  nicht  mit  dem  nötigen  Phlegma  Aus- 
gestatteten mit  sich  bringt,  ebenfalls  in  seiner  Nervenkraft  geschwächt. 
Diese«  Fiwas  nervös  sein"'  sollte  aber  krin  sv.  .'gs.  wie  es  hcut/ntagc  üblich 
ist,  leicht  genommen  werden.  Kann  auch  unter  günstigen  Umstanden  das  In- 
dividuum vor  schweren  Nerveostörungen  bewahrt  bleiben,  so  leidet  es  dodi 
meistens  lebenslang  an  neurasUienischen  Beschwerden,  die  wohl  geeignet 
sind,  das  Lebensglück  zu  zerstören;  was  aber  noch  viel  schlimmer  ist,  die 
Nachkommenschaft  des  Betreffenden  wird  bereits  erblich  belastet,  d.  h.  in  der 
Widerstandskraft  geschwächt,  geboren. 

So  sehen  wir  auf  der  einen  Seite  die  Anforderungen  stetig  wachsen,  auf 
der  anderen  Seite  die  Nervenkraft  stetig  abnehmen.  Wohin  soll  das  führent 
Im  friedlichen  Wettstreit  der  civilisierten  Nationen  wird  schliesslidi  diejenige 
Nation  den  Sieg  davontragen,  die  ihre  Kraft  und  Gesundheit  am  besten  be- 
wahrt hat  und  als  köstlichstes  Gut  ihrer  Nachkommenschaft  hinterlässt.  Bilden 
die  Schüler  der  höheren  Lehranstalten  auch  nur  einen  geringen  Bruchteil  des 
Volkes,  so  sollen  sie  doch  dereinst  dessen  Führer  sein;   ihre  geistige  und 


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240 


Mttttiiimgm. 


körperliche  IntaWthrit  ist  daher  inr  das  ganze  Volk  vun  Bciicutung,  Ist  Eng- 
land etwa  in  der  Kultur  zurück,  obgleich  seine  Kinder  so  viel  weniger  lernen 
und  so  vid  mehr  Zeit  für  Spiet  und  Sport  verwendeilt 

Dm  Hauptsiel  der  Schule  musste  die  Anregung  <ks  Wiaienattiebes  eehi, 
während  heutzutage  durch  das  übermässige  Einpfropfen  der  Wissensdrang 
oft  geradezu  erstickt  wird  und  der  Srhnlrr  froh  ist,  wenn  er  nach  dem 
Abiturientenexamen  die  verhasstcn  Bücher,  die  Werkzeuge  seiner  Plage  für 
immer  bei  Seite  werfen  kann.  Der  Wissensdtirstige  kann  ja  im  späteren  Leben 
SO  ttneoditdi  viel  an  positivem  Wissen  erwerben«  wahrend  bei  mangehMlem 
Inietasse  diese  so  mühsam  und  oft  mit  Daransetzung  der  Gesundheit  er* 
worbenen  Kenntnisse  bald  fast  gänzhch  vergessen  sind.  Die  Schule  müsste 
sich  als  Prinzip  setzen  ,,nil  nocere",  vor  allem  nicht  schaden.  Und  dieses 
Schadigen  tritt  bereits  viel  früher  ein,  als  man  nach  den  heutigen  Begriffen 
von  Udierbfirdung  ansttntbmen  pflegt. 

Der  Begriff  der  Ueberbürdung  wird  au  eng  gefasst.  Eine  soldie  ist 
bereits  vorhanden,  wo  dem  Schüler  der  Genuas  des  Lebens  verkümmert  wird« 
auf  da«;  die  Jugend  ein  mindestens  "^o  grosses  Anrecht  hat.  als  irgend  ein  anderes 
Leben&alter.  Heutzutage  wird  es  als  „Luxus"  angesehen,  wenn  die  Kinder 
freie  Zeit  haben,  die  sie  ja  doch  nur  zum  „Unfugmachen"  benutzen,  während 
doch  diese  freie  Zeit  für  ihre  normale  körperliche  und  geistige  Entwickduag 
so  unbedingt  nötig  ist. 

Gegenwärtig  liegen  die  Dinge  so.  dass  man  dem  Kinde  nicht  Zeit  gönnt, 
sich  auszuschlafen,  in  Ruhe  zu  essen,  ja  nicht  einmal  seines  Leibes  Notdurft 
zu  verrichten.  (Siehe  Schulanfang  um  7  Uhr.)  Non  scholae,  sed  vitae  discimus, 
lernt  jeder  Gymnasiast  Heutatrtage  aber  scheint  es  iast,  als  ob  die  Sduile 
Selbstzwecfc  und  nicht  eine  Vorbereitung  für  das  Leben  wäre,  das  doch 
neben  der  „allgemeinen  Bildung"  in  erster  Linie  einen  kräftigen,  widerstands- 
fähigen Kf<ri)(T  und  einen  frischen,  klaren  Kopf  verlangt. 

Eine  Herabnimderung  der  Forderungen  thut  vor  allem  not.  Eine  solche 
konnte  aber  leicht  dadurch  herbeigeführt  werden,  dass  nun  wirklich,  wie  in 
dem  Erlass  angeordnet  wird,  multum  statt  des  bisher  üblichen  multa  gekhft 
wird.  Eine  gründliche  Entlastung  der  oberen  Klassen,  die  deren  am  meisten 
bedürfen,  würde  jedoch  erst  dadurch  er/ielt  werden,  da"NS  man  dieselben 
in  eine  Zwischenstufe  zwischen  Schule  und  Universität  umwandelte,  und  zwar 
dergestalt,  dass  nach  Abschluss  der  allgemeinen  Vorbildung  mit  zwei  Sprachen, 
die  jeder  Art  von  hdhwer  Lehranstalt  geradnsara  wäre,  die  Vorbereitung  für 
das  erwählte  Fachstudium  anfinge." 

Im  weiteren  weist  Verfasser  noch  darauf  hin,  dass  eine  Verkleinerung 
der  Klassen,  welche  jetzt  durr-li  chnittlich  .tus  ."»O—r,!)  Schülern  bestehen, 
wesentliche  Vorteile  in  hygienischer  Be/.iehung  zur  Folge  haben  wurden. 

Auch  wäre  es  zweckmässig,  wie  schon  Eulenburg*)  bemerkte,  wenn  der 
Schule  ein  Redit  zustände,  körpertidi  oder  gdstig  Unfähige  vom  Unter^ 
rieht  gänzlich  aussnschliessen. 

Zum  Schlttss  fordert  Beoda  ^mehr  Licht  und  mehr  Freiheit"  für  unsere 
Jugend. 

Berlin.  H.  Koch. 

*}  Eulenburg,  Die  Scfauläberbfirdung  vom  nervenarsUichen  Standpunkt 
Ztschr.  f.  Pädag.  Psyeh.  u.  Pathologie  L  Heft  4. 


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MitUtiungttt, 


241 


Mitglieder  des  Deutschen  Vereins  fiir  Schulgesundheits- 
pfiege  haben  in  Berlin  folgenden  Aufruf  eriassen: 

Die  geddhlicbe  tmd  glfickliche  Entwickdttog  unseres  Volkes  ist  an  die 
gesunde  Gestaltung  unserer  Jugend  gelcnfipft.    Daram  haben  alle  auf  die 

Hebung  des  Volkswohles  gerichteten  Bestrebungen  bei  der  Jugend  den  Hebel 
anzusetzen.  Die  häusliche  Erziehung  der  Kinder  gesundhettsgcm^ss  m  ge- 
stalten, wird  vielfach  durch  die  sozialen  Verhältnisse  verhindert;  Einfluss 
auf  dieselbe  kann  nur  in  beschränktestem  Masse  geübt  werden.  Anders  dort, 
WO,  wie  in  der  Sehule,  tinter  der  Einwirkung  des  staaüidten  Zwanges,  Ge- 
meinde und  Staat  die  Kinderwelt  wenigstens  in  einem  bestimmten  Zeitmaise 
in  ihre.  Obhnt  ndimen.  Hier  kann  es  gelingen,  durch  zwedcmiisige  Ein- 
nchtiin(i<>n  tmd  «orcr<=amf  T  bcrwachung  Nachteilen  vorzubeugen  und  ent- 
standene Schaden  zu  beseitigen. 

Theoretisch  sind  die  Grundlagen  der  Schulgesundheitspflege  durch  die 
Mitarbeiterschaft  hervorragender  Kräfte  aus  allen  Beruiskrcisen,  insbesondere 
aus  denen  der  Aente  und  Lehrer,  festgestellL  Ihre  praktische  DurchHUirung 
steht  indes  noch  weit  aus.  Noch  sind  trotz  der  vidfaehsten  Bemühungen 
die  äusseren  Einrichtungen  der  Schulen  recht  sehr  verbesserungsbedürftig; 
Bauart,  Beleuchtung,  Heizung,  Lüftung,  Reinhaltung  der  Schulen,  Be- 
schaffung normaler  Subsellien  sind  noch  nicht  in  wünschenswerter  Weise 
gefördert;  aber  auch  die  Schulpläne  und  die  Ausgestaltung  des  Unterrichts 
harren  selbst  in  dem  Rahmen  der  gesetzlichen  Vorschriften  der  Verbesserung; 
vor  allem  harrt  die  so  wichtige  Frage  der  gelegen  Ueberbfirdung  unserer 
Schttlittgend  der  endgittigen  Losung.  Auch  die  ärztliche  Ueberwacbung  der 
Schule  ist  erst  eben  in  Angriff  genommen.  Haben  in  früherer  Zeit  nur 
einzelne  hervorragende  Männer  auf  allen  diesen  Gebieten  gearbeitet  und  ihre 
Stimme  erschallen  lassen,  so  wenden  jetzt  immer  weitere  Kreise  den  ver- 
bessernden Bestrebungen  ihr  Augenmerk  zu.  Was  uiis  liierbei  fehlt,  ist  die 
Centralisation  dieser  Bestrebungen,  um  durch  dieselbe  den  sich  ergebenden 
Forderungen  der  Schulgesnndheitspflege  nachdrücklidist  Geltung  zu  ver- 
schaffen und  dieselben  endgiltig  zur  Erffillung  zu  bringen. 

Einen  solchen  Centralpunkt  soll  für  Berlin  der  neu  zu  begründende 
Verein  für  Schulgcsundhcitspflege  schafiFen.  Ein  Erfolg  ist 
umso  mehr  zu  erhoffen,  als  dieser  Verein  trotz  der  Selbständigkeit,  die  die 
Eigenart  der  Berliner  Verhältnisse  verlangt,  nicht  isoliert  steht,  sondern 
innerhalb  des  Verbandes  des  „Allgemeinen  Deutschen  Vereins  für  Schul- 
gesundhdtspAege"  wirken  wird  und  auf  diese  Weise  ein  gemeinsames  Vor- 
gehen aller  Gleichgesinnten  in  ganz  Deutschland  gewihrleistet  ist 

Wir  ridlten  an  alle,  denen  das  Wohl  des  heranwachsenden  Geschlechts 
am  Herzen  lieget,  die  Interesse  an  der  gesundheitlichen  Reform  der  Schule 
nehmen,  die  Bitte,  sich  uns  anzuschliessen  und  jeder  in  seinem  Kreise  für 
die  gute  Sache  zu  wirken. 


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242 


Die  Mitteilung  der  „Nat.-Zig."  über  die  Zulassung  der 
O  b  c  r  r  eals  ch  ul  -  A  b  i  t  u  r  i  en  t  e  n  zum  Studium  der 
Medizin  war  von  einigen  Provinzblättem  in  Zweifel  gezogen 
worden. 

§  5  des  unter  dem  14.  Dezember  v.  J.  vom  Grafen  Posadowsl^  vorse« 
legten  Entwurfes,  eine  Bekanntmachang  über  die  Approbation  als  Atzt,  be- 
sagte nämlich ; 

„Der  Meldung  (um  Zulassung  zur  ärztlichen  Vorprüfung)  bind  in  Ur- 
schrift beizufügen:  1.  Das  Zeugnis  der  Reife  von  einem  deutschen 
humanistischen  Gymnasinm  oder  von  einem  deutschen  Realgymnasium,  bei  dem 
nach  Befinden  des  Bundesrates  für  das  Lateinische  durch  Stundenplan  und 

Unterrichlsbctrieb  die  Erreichung  des  Lehrzielcs  eines  deutschen  humanisti- 
»-chen  Gymnasiums  gesichert  ist.  Das  Reifezeugnis  eines  sonstigen  deutschen 
Kealgymnasinniä  uder  emer  deutschen  Oberrealschule  bedarf  der  Ergänzung 
durch  Abkgung  einer  besonderen  Reifeprüfung  im  Lateinischen  an  einer  der 
vorgedachten  Anstalten." 

Dagegen  lautet  der  diesem  er  t  [  rechende  f  6  der  vom  Bandesrat  be- 
schlossenen Bekanntmachung  folgetidcrmassen: 

,,Der  Meldung  ist  beizufügen  das  Zeugnis  der  Reife  von  einem  deutschen 
humanistischen  Gymnasium  uder  vun  emem  deutschen  Realgymnasium  ~ 

Das  Zeugnis  der  Reife  von  einem  humanistischen  Gymnasium  oder  Real- 
gymnasium ausserhalb  des  Deutschen  Reiches  darf  nur  ausnahmsweise  als 

genügend  erachtet  werden  (§  05). 

Diese  scheinbare  Streichung  der  Ergänzungprüfung  für  Oberrealschul-* 
Abiturienten  wird  nun  in  der  „Kreuzztg."  erklärt. 

Nach  den  Beschlüssen  des  Bundesrats  handdt  es  sich  lediglich  um  das 
Zeugnis  der  Reife  von  einem  humanistischen  Gymnasium  oder  von  einem 
deutschen  Realgymnasium.  Ein  solches  erwirbt  in  Preussen  auch  derjenige 
Oberrealschulabiturient,  der  sich  an  einem  nvmna';ium  oder  an  einem  Real- 
gymnasium der  vorgeschriebenen  Ergänzungspruiung  unterzogen  hat.  Diese 
erstreckt  sich  nach  der  preussischen  Prüfungsordnung  an  den  Realgymnasien 
nnr  auf  das  Lateinische;  wer  sie  hesteht,  hat  die  mit  den  Reifezeugnissen 
der  Realgymnasien  verbundenen  Berechtigungen  erwwben,  das  ihm  er- 
teilte Zeugnis  ist  ein  an  einem  Realgymnasium  erworbenes,  in  jeder  Be- 
zicb'jnp  vollwertiges  Reifezeugnis. 

Anders  läge  die  Sache,  wenn  in  dem  Beschlüsse  des  Bundesrats  auch 
der  Nachweis  der  Teilnahme  am  Unterrichte  eines  Gymnasiums  oder  eines 
Realgymnasiums  gefordert  wurde.  Davon  hat  aber  bisher  nidits  verlautet 

Uebrigens  ha^  wie  wir  mit  Bestimmtheit  versichmt  zu  können  gianbea, 
der  Bundesrat  in  seinen  Beschlüssen  ausdrücklich  mit  der  Möglichkeit  ge- 
rechnet, dass  ein  von  einer  Oberreal 'schule  erworbenes  Reifezeugnis  in  Ver- 
bindung mit  dem  Zeugnisse  über  das  Bestehen  einer  Ergänzungsprüfung  als 
dem  Reifezeugnis  eines  Realgymnasiums  gleichwertig  betrachtet  wird.  In  der 
von  ihn  beschlosseoen  Bekanntmachung  befindet  stdi  nimltdi  andi  eine 
BcMifflmtmg  des  Inhalts,  dass  denjenigen,  die  vor  Ablegung  der  Reifeprüfung 
an  einem  Gymnaaiam  oder  Realgymnasinra  das  Zeugnis  der  Reife  an  einer 


MüUüungen, 


243 


latcmlosen  Voüanstalt  erworben  haben,  die  unmutelbar  nach  dieser  ersten 
Prutung  bis  zur  Erwerbung  des  Reitezeugnisses  an  einer  lateintreibenden 
Vollanstalt  auf  das  Universitätsstiidium  verwandte  Zeit  gans  oder  xitm  Teil 
auf  die  für  die  Zulassung  zur  ärztlichen  Prüfung  verbindliche  fünfjährige 
Studienzeit  angerechnet  werden  kann. 

Wie  die  „Nat-Ztg."  hinzufügt,  bedeutet  diese  Aenderung  eine  Er- 
leichterung für  die  Obcrrealschul-Abiturienten.  Mit  der  Ergänzungsprüfung 
waren  die  Oberrealschul-Abiturienten  bisher  lediglich  auf  die  Gymnasien  ange- 
wiesen, so  dass  sie  also  im  Lateinischen  und  Griechischen  die  Reife  eines 
Gymnasial-Abitunenten  nachzuweisen  halten.  Jetzt  aber,  da  das  Reiiezeugnis 
der  Realgymnasien  ebenfalls  zum  Studium  der  Medizin  berechtigt,  genügt  es, 
wenn  die  Oberrealschul-Abiturienten  die  Ergänznngsprufung  für  Real« 
gymnasien,  also  nur  im  Lateinischen  ablegen. 


Gegenüber  einer  neuerdings  aufgetauchten  Ansicht,  dass  die  neuen  Lehr- 
pläne für  die  höheren  Schulen  noch  nicht  erschienen  seien,  und  die  Reform 

des  höheren  Schulwesens  zu  langsam  betrieben  werde,  machen  die  ..Berl.  Pol. 
Nachr."  darauf  aufmerksam,  dass  über  die  Einführung  der  neuen  Lehrpläne 
der  höheren  Schulen  bereits  unter  dem  3.  April  d.  J.  der  nachstehende  Erlass 
des  Kultusministers  ergangen  ist: 

„Im  Verfolg  des  Erlasses  vom  4.  IJezeinber  v,  J.  be«;tirnme  ich  hiermit, 
dass  die  dem  königlichen  Provinzial-Schulkolltgmin  im  Eniwuri  zugefertigten 
neuen  Lehrpläne  der  höheren  Schuten  mit  Beginn  des  bevorstehenden  Sommer- 
halbjahres in  Kraft  treten.  Das  Königliche  Provinzial-SchulkoUeginm  hat 
dteserhalb  ungesäumt  das  Erforderliche  zu  veranlassen. 

Soweit  durch  die  Einführung  der  neuen  Lehrpläne  Mehrkosten  ent- 
stehen, sind  diese  bei  den  Staatsanstalten  für  die  Dauer  der  laufenden  Etats- 
periode thunlichst  aus  Anstaltsmitteln  zu  bestreiten.  Es  wird  dies  voraus- 
sichtlich um  ?n  eher  anhängig  sein,  als  es  sich  im  allgemeinen  nur  i:m  Deckung 
weniger  L' nterrichtsstunden  handelt;  event.  wurden  andere  minder  dringende 
Ausgaben  einstweilen  zurückzustellen  sein.  Glaubt  das  Königliche  Provinzial- 
Schnlkollegittm  gjeidiwohl  Im  ehuelnen  Falle  der  Udierweismig  von  Mitteln 
aus  CentraUonds  nicht  entraten  zu  können,  so  ist  das  Bedürfnis  hierzu  für  die 
betreffende  Anstalt  unter  Beifügung  der  für  die  Etatsentwurfe  vorgeschriebenen 
Berechnung  des  Bedarfs  an  Lehrkräften  näher  darzuthun.  Das  Gleiche  gilt 
iür  die  unter  Staatsverwaltung  stehenden  nichtstaatlichen  Anstalten  sowie 
ferner  bezüglich  der  vom  Staate  und  von  anderen  gemeinschaftlich  zu  unter- 
haltenden Anstalten.  Reichen  bei  sonstigen  nichtstaatlichen  Anstalten  die 
Anstaltsmittel  zur  Bestreitung  des  Mehraufwands  nicht  aus,  so  sind  in  erster 
Linie  die  Unterhaltongspflichtigen  zur  Aufbringung  des  Fehlbetrages  anzu> 
halten.«  Die  Geirährung  von  Beihülfen  aus  Staatsfonds  würde  erst  dann  in 
Frage  kommen  können,  nachdem  seitens  des  zuständifren  Herrn  Regierungs- 
Präsidenten  die  bestimmte  Erklärung  abgegeben  worden  ist,  dass  die  be- 
treffende Gemeinde  zur  Uebernahme  neuer  Leistungen  für  den  vorliegenden 
Zweck  nicht  imstande  ist. 


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244 


MUUüuHgen. 


Etwaige  hiernach  zu  stellende  Anträge  wegen  Bewilligung  neuer  Zuschüsse 
aas  Centralfoods  sind  mir  mittels  Sammelberichts  —  getrennt  für  staatiiche 
und  nicht  staatliche  Anstalten  —  bis  zum  1.  August  d.  J.  stt  unterbreiten." 

Dem  Erlasse  sind  tabellarische  Zusammenstelltingen  der  neuen  Lehrpläne 
beigefügt 


Die  Provinztalschulkollegien  sind  vom  rnterrichtsminister  davor  hc- 
nachrichtigt  worden,  dass  sie  die  in  der  Rundverfügung  vom  13.  April  18i)9 
vorgesehene  Ermässigung  der  PHichtstundenzahl  auf  22  Stunden  wöchentlich 
forbm  auch  zu  Gunsten  derjenigen  Oberlehrer  mit  einem  Besoldungsdienstalter 
von  nur  18H  und  mehr  Jahren  eintreten  lassen  können 'welchen  die  feste  Zulage 
nicht  gezahlt  wird. 


Der  Kultusminister  hat  in  einer  Rundverfügung  an  die  königl.  Re- 
gierunpen die  Au'^hildung  der  Seminaristen  imd  der  Volksschullehrer  zur 
freiwilligen  Krankenptlege  im  Kriege  angeregt.  In  den  Provinzen  Ostpreussen 
und  Schleswig- Holstein  ist  aui  diesem  Gebiet  bereits  Erspries^liches  ge- 
leistet worden;  es  haben  sich  daselbst  die  Kreisverbände  der  Genossenschaft 
behufs  Ausbibldnng  der  Lehrer  zu  freiwilligen  Krankenpflegern  im  Kriege 
unter  Zustimmung  und  Begünstigung  seitens  der  Regierungen  mit  den  Volks- 
schullehreren  unmittelbar  und  auch  mit  den  Lehrerinnen  in  V^crbindung  setzen 
können.  Ein  gleiches  Zusammengehen  würde  sich  auch  für  die  übrigen 
Regierungsbezirice  empfehlen.  An  allen  Lehrerseminaren  der  Provit»  Ost- 
preussen ist  ein  jähriicher  Vorbereitungskursus  ffir  die  freiwillige  Kranken- 
pflege eingerichtet.  An  denjenigen  Seminaren,  an  welchen  bereits  «ne  Schluss- 
prufung  nach  vollendetem  Kursus  -\hprh-iUen  werden  konnte,  erwiesen  sich  die 

Erfolge  des  Unterrichts  als  recht  anerkennenswert. 
Jugend. 


Die  Einführung  einer  einheitlichen  Rechtsehreibung  für  das  Deutsche 
Reich  Ist  nach  Mitteilungen  eines  Mitgliedes  der  Kommission  für  Raeht- 

schreibiing,  des  Direktors  Duden  in  Hersfeld,  von  denen  dieser  Tage  auf 
der  rweiten  Hauptversammlung  des  Allgemeinen  deutschen  Vereins  für 
Schulgesundheitspflege  in  Wiesbaden,  Professor  Müller- Frankfurt  Kenntnis 
gab,  bald,  wahrscheinlich  sdion  binnen  Jahivilrist  su  erwarten«  Ausserdem 
ständen  die  Schweis  und  Oesterrdeh  den  deutschen  Absichten  freundlich 
gegenüber,  so  dass  auf  den  Anschlnss  audi  dieser  Länder  gerechnet  werden 
dürfe. 


uiyiiizcü  üy  LiOOQle 


Bibliotheca  pftdo-psychologica. 

Von  O.  Pfungst 


II.  Psycliolosie  und  PsycbofNitliolosI«  des  Kindes. 

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Albanel,  L.  et  Legros.   L'enfance  criminelle  i  Paris.    Paris,  Hasson,  1819. 

8«,  109  S. 

Altschul,  Th.  Hypnotisinus  und  Suggestion  im  Leben  und  in  der  Erziehung. 
Prag.  F.  Haeipfer,  1900,  8",  70  S. 

Ann,  P.   Df  fouteii  der  kinderen.  Opvoedknndige  nota's.  Gand,  A.  Hoste, 

1900.  8",  IV  und  171  S. 

Anton,  G.  Ueber  geistige  Ermüdung  der  Kinder  im  gesunden  und  kranken 
Zustande.   Halle,  C.  Marhold,  8",  26  S. 

Archambault,  F.     L'avenir  de  l'enfant  porteur  de  v^eUtions  adenoides. 

Gaz.  m^d.  du  Centre.  Tours.  1900.  V,  69—74. 

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Chad  Life,  London,  1890,  I.  120. 
Barnes.  E.   Children's  Ideals.    Pedag.  Sem..  1900,  VII,  3—12. 

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Expended.    New  England  Med.  Monthly.  Nov.  1900. 

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richtsertolg.    Ztschr.  t.  Schulges.  16^9,  II,  487 — 490. 

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zweiten  Serie  von  Taubstummen  (Dritter  Nachtrag  zu  „Hörvermögen 
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24o 


/iibliotheca  pädO'psychologüa, 


Bezold,  Fr.  ErgcbniÄäc  dtr  mucuoiicUcu  üchorpruiung  mit  der  contmuir- 
lichen  Tonreihe,  insbesondere  am  Taubstummenohr.    Münch,  med. 

Wüchenschr.,  lUW,  XIA  II,  1!)  und  20. 

Bczy,  r.  et  V.  Bibent  L'hysteric  infantile  et  juv.enile.  Paris,  Vigot  freres, 
1900,  18»  215  S. 

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Canetta,  G.  e  C.  Biaggi.    Gli  esercizi  acustici  lu-lla  cura  della  sorditi  e  de! 
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Psycholog..  6.  Jahrg .  1900.  74—143. 

Qark,  A.  C.   On  Eptleptic  Speech.    J.  of  MenUl  Sc,  190o,  XLVI,  242— 2.S4 

Cohn,  H.  Die  Breslauer  Taubstummenanstalt,  eine  Schule  mit  nur  einem 
kurzsichtigen  Kinde.  Sep.-Abdr.  aus:  Wocfaenschr.  f.  Therap.  tmd  Hyg* 

des  Auges,  III,  9. 

Comite  de  defense  des  enfants  traduits  en  justice  de  Paris.  Rapports  et 
Voeux.    (1890—1900).    Paris,  Marchal  et  BiUard,  1900,  8*.  XXIII 

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Coiupayre,  G.  Die  Lntwickiuiig  der  Kindesseele.  Aus  dem  Französ.  übers. 
V.  Chr.  Ufer.   Altenbnrg,  O.  Bonde,  1900,       460  S. 


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247 


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Coulter,  J.  H.  £ar  Diseases  in  Infan<^  and  Childhood.  J.  ot  the  Am. 
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Schriftleitunc:  h.  Kern  sie»,  Berlin  NW.,  f^iUttr.  33. 
VcrlagTon HermtanValtbcr, VcrlasibiicUuuMn., O. iii.b. H., BerlteSV., KomnUMtetteastr  K. 
Diack  von  .T  jr  p o g r  1  ph  1  a<,  Ktuut-  und  Setiii»idilncn*DnKlieid,  Berlia SW.,  PrMrIdnIr.  l« 


uiyiii^ed  by 


Zeitschrift 


für 


PädadOdiicbe  IP$ycl)olod!e 

und 

Herau^egeb«n 

von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hirschlaff. 


Jahr:gaiig  III.  Berlin,  August  1901.  lieft  4. 


Die  Entwiclciunj:  der  Geiiirnphysiologie  im 

XCC  Jahrhundert» 

Von 

Heinrich  Sachs. 

Vortrag,  gehalten  in  der  psychologischen  Gesellschaft  zu  Breslau 

am  II.  Dezember  1899. 

(Mit  3  AbUlduifm.) 

Meine  Herren! 

Gestatten  Sie  mir  das  ursprüngliche  Thema  des  für  den  heutigen 
Abend  bestimmten  Vortrages  etwas  einzuschränken.  Ein  Vortrag 
über  die  Entwicklung  der  Lehre  von  der  Physiologie  des  gesamten 
Centrainervensystems  in  dem  verflossenen  Jahrhundert  wäre  unge* 
fähr  dasselbe,  wie  ein  Vortrag  über  das  Centrainervensystem  über- 
haupt. Eine  soldie  Darstellung  würde  entweder  gar  zu  lange  Zeit 
in  Anspruch  nehmen,  oder  es  erforderlich  machen,  die  einzelnen 
Thatsachen  in  allzu  gedrängter  Kürze  wiederzugeben.  Abgesehen 
aber  von  dieser  Ueberfülte  des  Stoffes  hat  ein  grosser  Teil  des  aus' 
gedehnten  Gebietes  kein  psychologisches  Interesse. 

Ich  will  mich  auf  die  Darstellung  dessen  beschränken,  was  den 
Zwecken  dieser  Gesellschaft  allein  förderlich  erscheint,  nämlich  auf 
denjenigen  Teil  des  Centrainervensystems,  den  man  mit  einem  ge- 
wissen Recht  als  den  „Sitz  der  Seele"  bezeichnen  kann,  insofern 
für  uns  wahrnehmbare  seelische  Eigentümlichkeiten  an  das  Vor- 
handensein und  das  Funktionieren  dieses  Teils  gebunden  sind. 

Zrtt«chrifl  für  nSdaeot^sche  Psydioloeic  nnd  Pathologie.  ^ 


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256 


Bämrkk  Sachs. 


Im  Laufe  des  JahrhundcTts  schränkte  sich  der  als  psychisch  be- 
deutsam bcuachtete  Teil  des  Ccntralncrvensystems  nicht  unerheb- 
lich ein.  Während  im  .\inan^  noch  tlas  gesamte  Gehirn  als  wichtig 
für  die  seelischen  Funktionen  angesehen  wurde,  blieb  schliesslich 
als  „Seelcnorgan"  nur  ein  Bruchteil  des  Gehirns»  das  Grosshirn, 
übrig,  der  jüngste  Erwerb  in  der  aufsteigenden  Tierreihe,  ver- 
schwindend auf  den  untersten  Stufen  der  Wirbeltierwelt»  alle 
anderen  Gehimtetle  fiberragend  und  verdeckend  bei  dem  höchsten 
Wirbeltiere,  dem  Menschen. 

Im  (iehirn  hat  man  den  Sitz  der  Seele  schon  in  sehr  früher 
Zeit  gesucht.  Bereits  im  Jahre  580  a.  Chr.  n.  hat  Alkmäon  das  Bo- 
wusstsein  in  das  Gehirn  verlegt.  Freilich  bei  den  eigenartigen  Vor- 
Stellungen,  welche  man  sich  über  das  Wesen  der  Seele  machte,  kann 
es  nicht  Wunder  nehmen,  dass  über  den  eigentlichen  Sitz  derselben 
innerhalb  des  Gehirns  die  seltsamsten  Anschatiungen  laut  witrden. 

Diejenigen,  die  die  Seele  als  ein  rauiuloses  und  daher  ^unUi- 
förmi^es  W'esen  betrachteien,  sahen  als  ihren  geeignetsten  Wohn- 
ort den  imgefähren  Mittelpunkt  des  Gehirns,  die  Zirbeldrüse  an, 
von  wo  man  sie  in  die  verschiedenen  Teile  des  Gehirns  oder  auch 
des  übrigen  Körpers  Ausflüge  unternehmen  Hess. 

Eine  andere  Lehre  erkannte  der  Seele  eine  hift artige  Be- 
schaffenheit zu  und  liess  sie  dementsprechend  in  den  Hohlräumen, 
den  Ventrikeln  des  Gehirns  residieren,  deren  vollständige  Füllung 
mit  Flüssigkeit  man  noch  nicht  erkaiinl  h^iUe. 

Wenn  ich  hier  so  ganz  empirisch  und  laienhaft  von  einem 
..Sitz"  der  Seele  spre  che,  so  brauche  ich  Ihnen  nicht  auseinander- 
zusetzen, dass  die  psychischen  Erscheinungen  als  solche,  als  sub- 
jektive, einen  bestinunten  räumlichen  Sitz  nicht  haben.  Ueberall. 
wo  hier  von  räumlichen  Beziehimgen  der  Seele,  de.«;  lk  wusstseins, 
der  Empfindungen  etc.  die  Rede  ist.  ist  immer  nur  an  diejenigen 
nuchani.schen.  moleculären  \  organgc  zu  tlenkcn,  die  wir  jederzeit 
als  gleichzeitig  mit  Bewusstsein  auftretend  annehmen.  Indessen 
habe  ich  in  Ihrem  Kreise  nicht  n  Uig,  näher  auf  diese  liier  schon 
öfter  besprochene  Frage  einzugehen. 

Das  Jahrhundert  beginnt  —  wenn  wir  uns  nicht  sklavisch  an 
die  Jahreszahl  binden  —  mit  dem  ersten  Versuche,  eine  Lokali sation 
einzelner  Seelenvermögcn  vorzunehmen.  Es  war  im  Jahre  i/«/^ 
als  G  a  1 1  mit  seineu  Anschauungen  hervortrat  und  die  Lehre  vo.l 
der  Phrenologie  der  üeffentlichkeit  unterbreitete. 


^ed  by  CjOOQie 


Dk  Emiiaitklmtg  der  GMn^l^äthgm  im  XUL,  JahrkimderU  257 

Der  wesentliche  Inhalt  der  von  Galt  aufgeteilten  und  von 
seinen  Schälern  zum  Teil  weiter  ausgebauten  Lehre  ist  folgender: 

Die  gesamte  geistige  Thätigeit  zerfällt  in  esne  Anzahl  von 
Unterabteilungen,  einzelne  geistige  Vermögen  sehr  verschiedener 
Wertigkeit,  deren  Gall  27  aufstellte.  £s  handelt  sich  dabei  um 
einzelne  nach  bestimmten  Richtungen  gehende  Triebe  und  Be- 
strebungen, um  Charakterdgenschaften,  um  das  Auffassungsver- 
mögen der  verschiedenen  Sinne,  um  Denkvermögen.  Die  Unter- 
scheidungen, die  Gall  und  seine  Schüler  hier  machen,  muten  uns 
zum  Teil  recht  seltsam  an.  Neben  Eigenschaften,  die  wir  uns  als 
lokal  begrenzt  zum  mindesten  vorstellen  können,  wie  dem  Gesichts- 
sinn, dem  Farbensinn,  dem  Ortssinn,  dem  Ton^nn,  finden  wir 
andere,  denen  wir  von  vornherein  eine  bes<Midere  Lokalisation  ab- 
sprechen zu  müssen  glauben,  weil  sie  eine  eigenartige  Entwicklungs- 
richtung des  ganzen  geistigen  Lebens  darstellen,  wie  z.  B.  die 
Selbstachtung,  die  Vorsicht,  das  Wohlwollen,  oder  gar  das  Ge- 
wissen und  die  Idealitat. 

Das  Gehirn  zerlegte  G  a  1 1  in  eine  Reihe  von  Unterabteilungen, 
umschriebene,  von  einander  unterschiedene  Centren,  sogenannte 
„Organe*'.  Jedes  dieser  Organe  ist  der  Sitz  eines  der  angenom- 
menen Seelenvermögen.  Die  einzelnen  Organe  können  bei  ver- 
schiedenen Menschen  sehr  verschieden  gross  sein;  der  ver- 
schiedenen Grösse  eines  jeden  Organs  entspricht  die  verschieden 
starke  Entwicklung  des  dazu  gehörigen  „Smnes"  oder  Seelenver- 
mögens. 

Die  Form  des  Schädels  richtet  sich  nach  der  Form  des  Gehurns. 
Dort,  wo  eines  der  „Organe"  des  Gehirns,  also  jener  umschriebenen 
Centren,  starker  entwickelt  ist,  muss  es  demnach  zu  einer  um- 
schriebenen Starkeren  Hervorwölbung  des  Schädels  kommen. 
Mithin  ist  man  imstande,  aus  der  genaueren  Untersuchung  der 
Form  des  Schadeis  auf  die  mehr  oder  minder  starke  Entwicklung 
der  einzelnen  Gehirnorgane  und  damit  auf  die  Charaktereigen- 
schaften eines  jeden  Menschen  einen  Schluss  zu  ziehen. 

GaU  stellte  seine  Centren  nicht  willkürlich  oder  auf  Grund 
irg^end  welcher  Theorie  zusammen,  er  baute  vielmehr  seine  Lehre 
empirisch  auf.  Er  untersuchte  eine  grosse  Anzahl  von  Köpfen 
lebender  Mensclicn  und  von  Schädeln  Verstorbener,  deren  geistige 
Eigenschaften  er  iiacli  Möglichkeit  kennen  zu  lernen  sich  bestrebt 
hatte,  und  auf  Grund  seiner  zahlreichen  Beobachtungen  glaubte  er 
die  Bedeutung  jedes  einzelnen  Gehimteils  feststellen  zu  können» 


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258 


Heinrich  Sachs. 


Die  nebenstehende  Xachbildung  einer  phrcnologischen  Büste, 
welche  aus  den  Grundzüg-en  der  Phrenologie  von  X  o  e  P)  ent- 
noninu  n  ist,  mag  Ihnen  über  die  Art  der  einzcliu  n  ..Siniu  "'  uiul  ihr*» 
Verteiluiit::  auf  die  Gehirn-  bezw.  Schädelobertiucae  enie  genauere 
Vorstellung  geben. 

Eine  Abart  der  Phrcnolog:ie  versuchte  C  a  r  u  s')  im  Jahre 
1841  unter  dem  Namen  der  Cranioscopie  zu  begründen. 
C  a  r  u  s  ging  von  dem  Satze  aus,  dass  der  Schädel  nur 
eine  Fortsetzung  des  Rückgrats  sei  und  aus  drei  Schädelwirbehi 
bestehe,  die  mit  einander  zur  Schädelkapsel  verschmolzen  seien, 
jedem  dieser  Schädelwirbel  entspräche  ein  Teil  des  (ichirns  imd 
zwar  dem  vorderen  Schädelwirbel  das  Grosshirn,  dem  mittleren  die 
\'ierhugel  und  dem  liinteren  das  Kleinhirn.  In  die  Hemisphären 
des  Grosshirns  verlegte  Carus  das  Vorstellen  und  Erkennen  und 
die  Einbildung,  in  die  Vierhügel  das  „Gefühl  vom  Zustande  des 
eigenen  Bildungslebens  (Gemeingefühl)"  und  das  Gennit,  in  das 
Kleinhirn  endlich  das  Wollen  und  Begehren  und  die  Fortbildung 
der  Gattung.  Somit  entspräche  dem  Erkennen  das  Vorderhaupt, 
dem  l'uiilcn  das  Mittelhaupt  und  dem  Wollen  das  llinLci"liau[)t. 
Es  sei  mithin  nur  nötig,  diese  einzelnen  Abteilungen  des  Schädels 
genau  zu  messen,  um  zu  erkennen,  ob  bei  einem  Menschen  die 
Intelligenz,  das  Gemüt  oder  der  Wille  mächtiger  entwickelt  sei. 
Zu  dieser  Zusammensetzung  des  Schädels  aus  den  drei  Schädel- 
wirbeln  kommen  dann  noch  die  knöcherne  Umhüllung  der  beiden 
wichtigsten  Sinnesapparate,  die  Augenhöhle  und  das  Felsenbein  (der 
Sitz  des  inneren  Ohres)  hinzu,  deren  Entwicklung  ebenfalls  von 
Bedeutung  einerseits  für  die  Form  des  Schädels,  andererseits  für 
4ie  geistige  Individualität  des  Menschen  sei.  Der  ,^ugenmensch** 
sei  offener,  mutiger,  in  äusserliches  Leben  rascher  eingreifend, 
leichter  zu  unterrichten  und  sich  selbst  leichter  orientierend;  ihm 
komme  ausserdem  besondere  Anlage  zur  Zeichenkunst,  Architektur 
und  Plastik  zu.  Der  „Ohrenmensch"  sei  mehr  ins  Innere  gekehrt, 
im  guten  Sinne  nachdenkend,  zu  gottlichen  Dingen  mehr  gewendet, 
poetischer,  im  üblen  Sinne  furchtsam,  horchend,  faul,  verheim- 


R<  Noel,  Esq.  Gmndzüge  der  Phrenologie  oder  Anleitmig' 
cum  Studium  dieser  Wissenschaft,  dargestellt  in  5  Vorlesungen.  Dresden 
und  Leipzig.    Amoldi  1843. 

-)  Carl  Gustav  Carus.    Grundzüge  einer  neuen  und  wissenschaftlich 
begründeten  Cranioscopie  (Schädellehre).    Stuttgart  1841.  Bala. 


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Dit  Eniwüklung  der  Gehimphj>siologie  im  XJX,  Jahrhundert.  259 


liebend  und  talscher  Mystik  und  Scluvärnicrei  zugeneigt;  er  besitze 
eher  Anlassfe  zu  Sprachen  und  Musik. 

Ferner  nahm  C  a  r  u  s  an,  dass  es  einen  Unterschied  aufmache, 
ob  die  einzelnen  Teile  des  Schädels.  V'ordcrhaupt.  Mittelhau))l  und 
Hinterhaupt  mehr  in  die  Höhe  oder  in  die  Breite  ausgedehnt  seien. 


Fi(.l. 


Die  grössere  Höhenausdehnung  bedeute  eine  grössere  subjektive 
Energie  des  dem  Gehirnteile  zugehörigen  Seelenvermögens,  die 
grössere  Entfaltung  nach  den  Seiten  dagegen  eine  mehr  objektive 
Richtung  der  entsprechenden  geistigen  Fähigkeiten.  So  sei  die 
Stirn  des  Denkers,  des  tiefsinnigen  Philosophen  mehr  nach  beiden 
Seiten  gewölbt  und  breit,  die  Stirn  des  rein  gegenständlich  (also 
objektiv)  auffassenden  Künstlers  dagegen  mehr  in  der  mittleren 
Gegend  gewölbt  und  nicht  beträchtlich  breit. 


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260 


iümrüh  SaJis. 


Auf  Grund  derartiger  Antiahmcn  versuchte  dann  Carus.  die 
Lokalisation  einzelner  Sinnr  d  a  1 1  s  ,  die  er  als  nicht  unrichtig  an- 
erkennen zu  müssen  glaubte,  m  der  Richtung  seiner  Darstellung  zu 
erklären. 

Zur  Erläuterung  seiner  eigenen  Anschauungen  g^ebt  Carus 
unter  anderem  folgende  Beispiele.  Klein^'s  ^^>rderhaupt,  massiges 
Mittelhaupt  und  stark  entwickelte^  Hinterhaupt;  die  Individualität 
ist  sehr  von  Begierden  beherrscht  und  ausser  stände,  dieselben  zur 
besseren  Ueberlegung  zu  leiten  f  N'cgerschädel).  Fin  !>reites  Mittel- 
haupt, massiges  Vorderhaupt,  dürftiges  Hinlerhaupt:  vorherr- 
schend das  Bedürfnis  des  Essens  und  Trinkens,  aber  weder  In- 
telligenz noch  Willenskraft,  um  sich  durch  Thätigkeit  und  Arbeit 
die  Bedürfnisse  zu  verschaffen  (Verbrcchcrschädel). 

Vereinzelt  ziehen  sich  ähnliche  Anschauungen  noch  in  die 
neuere  Zeit  hinein.  So  hat  vor  einigen  Jahren  ein  französischer 
Autor  das  Grosshirn  als  Sitz  der  Intelligenz  und  das  Kleinhirn  als 
Sitz  des  Gemüts  aufgestellt.  Noch  in  allerneuester  Zeit  hat 
Möbius  den  Versuch  gemacht,  ein  eigenes  Rindenfeld  und  eine 
entsprechende  Vorvvölbung  des  Schädels  als  bedeutungsvoll  lür  die 
Anlage  zur  Mathematik  hinzustellen. 

Abgesehen  von  diesen  Spätlingen  haben  die  phrenolog^schen 
Ideen  noch  nicht  ein  halbes  Jahrhundert  geherrscht.  Sie  besitzen 
für  uns  nur  noch  historische  P.cdeutimg.  Zunächst  hat,  wie  schon 
erwähnt,  die  neuere  Wissenschaft  die  unterhalb  des  Grosshirns 
liegenden  Hirnteile,  also  insbesondere  die  Vierhügel  und  das  Klein- 
hirn ihrer  seelischen  Bedeutung  entkleidet.  Man  hat  im  Kleinhirn 
lediglich  ein  Organ  für  die  Erhaltung  des  Gleichgewichts  und 
sonstige  rein  der  zweckmässigen  Ausgestaltung  der  Bewegungen 
dienende  Funktionen  kennen  gelernt.  Die  Vierhügel  haben  wir, 
insbesondere  bei  den  Tieren,  als  Sitz  komplizierter  automatisch- 
reflektorischer Vorgänge  erkannt,  während  ihre  Bedeutung  beim 
Menschen  erheblich  in  den  Hintergrund  tritt  und  gegenüber  der 
Wucht  des  Grosshirneinflusses  verschwindet. 

Es  erübrigt  sich,  die  zahlreichen  Fehler  und  Schwächen  der 
kurz  vorgetragenen  phrenologischen  Systeme  klar  zu  legen  und  ein- 
gehender zu  besprechen.  Die  Hauptschwäche  der  Call  sehen 
Lehre  liegt  in  der  fehlerhaften  Auffassung  der  Eigentümlichkeiten 
des  Seelenlebens.  Die  Carus  sehen  Ideen  sind  rein  theoretisch 
ausgeklügelt.  Immerhin  aber  erscheint  es  doch  recht  bemerkens* 
wert,  dass  schon  mit  dem  Beginn  des  Jahrhunderts  die  Anschauung 


DU  Entwicklung  der  Gtkirnph ysioiogi«  im  XIX.  Jahrhundert.  261 

lebendig  wurde,  dass  nicht  nur  das  ganze  Gehirn  dem  ganzen 
Seelenleben  diene,  sondern  dass  einzelnen  Teilen  des  Gehirns  engere 
Beziehungen  zu  einzelnen  Teilen  der  geistigen  Thatigkeit  zukämen. 
Dass  die  Lehre  von  der  Lokalisation  in  einer  so  primitiven  Form 
erschien,  kann  gegenüber  dem  geringen  damaligen  Stande  wirk- 
licher Kenntnisse  nicht  Wunder  nehmen. 

Die  Call  sehe  Lehre  dürfte  mit  dem  Beginn  der  zweitem  Hälfte 
des  Jahrhunderts  als  vollkommen  beseitigt  anzusehen  sein.  Den 
ersten  schwersten  und  entscheidenden  Streich  dagegen  führte  be- 
reits im  Anfang  des  Jahrhunderts  der  französische  Physiologe 
F  l  o  u  r  e  n  s ,  der  erste,  der  experimentell  an  das  Tiergehirn  heran- 
ging und  mit  dem  Operationsmesser  dessen  Eigenschaften  zu  er- 
gründen suchte. 

F 1  o  u  r  e  n  s  nahm  Vögeln  einzelne  Teile  des  Gehirns  fort  und 
untersuchte,  wie  sie  sich  nach  glücklich  überstandener  Operation 
verhielten.  Er  unterschied  bei  seinem  Vorgehen  vier  grosse  Ab- 
teilungen des  Nervensystems  und  zwar  das  ausserhalb  der  Schädel- 
höhle im  Kückgratkanal  gelegene  Rückenmark  und  im  Gehirn 
selbst  das  Kleinhirn,  das  Mittelhirn  und  das  Grosshirn.  Seine  ersten 
Versuche  ergaben  ihm  folgendes  Resultat:  Einfache  Bewegungen 
werden  mit  Hilfe  des  Rückenmarks  ausgeführt,  vom  Kleinhirn 
werden  dieselben  zu  ganzen  Bewegungsreihen  geordnet,  das  Mittel- 
hirn hat  Beziehungen  zum  Auge^  das  Grosshim  endlich  ist  der  Sitz 
der  Intelligenz,  des  Wollens  und  Fühlens»  also  der  psychischen 
Eigentümlichkeiten. 

Diese  Resultate  bestehen  auch  heute  noch  zu  Recht.  Mit  ihnen 
war  die  Lehre  von  der  psychischen  Bedeutui^  aller  anderen  Him> 
teile  ausserhalb  des  Grosshirns  beseitigt. 

Flourens  ging  sodann  einen  Schritt  weiter.  Er  wollte 
durch  weitere  Versuche  feststellen,  inwieweit  sich  einzelne  Unter- 
abteilungen der  genannten  grossen  Abschnitte  von  einander  in 
ihrer  Funktion  unterschieden.  Er  trug  deshalb  das  Grosshim 
schichtweise  ab,  indem  er  bei  einer  Reihe  von  Tieren  von  vom, 
bei  einer  anderen  von  hinten,  bei  einer  dritten  von  oben  Himteile 
entfernte. 

Er  sah  bei  seinen  Vögeln  überall  das  nandiche  Resultat.  Je 
mehr  er  vom  Grosshirn  abtrug,  umsomehr  gingen  die  Tiere  in  den 
Aeusserungen  ihres  WoUens  und  Fühlens  zurück,  bis  diese  letzteren 
nach  völliger  Fortnahme  des  Grosshims  vollkommen  geschwunden 
waren.   Dabei  war  das  Resultat  genau  das  gleiche,  von  welcher 


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262 


lleinrüh  Saths. 


Si  ite  immer  F  1  o  ii  r  e  n  s  die  Fortnahme  von  Gchirntcilcn  begann. 
Wenn  er  nur  einen  verhältnismässig  kleinen,  aber  sonst  beliebigen 
Teil  des  Grosshirns  zurückliess,  so  beobachtete  er,  das^  seine  \  er- 
suchstiere allmählich  die  verloren  gegangenen  psycliischen  Fähig- 
keiten wieder  gewannen. 

Aus  diesen  Untersuchungen  zog  P  1  o  n  r  c  n  s  den  Schhiss, 
dass  alle  Teile  des  Grosshirns  einander  gleichwertig  seien, 
und  dass,  wenn  auch  nur  ein  kleiner  Bruchteil  des  Gehirns  zurück- 
blieb, die  meisten  Fähigkeiten  des  Geiiirns  sich  wieder  einstellteu. 

Damit  waren  die  Anschauungen  über  die  Physiologie  des 
Grosshirns,  welche  unter  den  Physiologen  in  der  ersten  Hälfte  des 
Jahrhunderts  geherrscht  haben,  bereits  im  Beginn  desselben  test- 
gelegt und,  wie  es  schien^  unwiderleglich  experimentell  begründet. 
Als  besonders  bedeutungsvoll  hob  sich  aus  den  F I  o  u  r  e  n  s  sehen 
Lehren  der  Satz  hervor,  dass  alle  Teile  des  Grosshirns  einander 
gleichwertig  seien  und  imstande  seien,  sich  gegenseitig  zu  ver- 
treten. 

In  gewissem  Sinne  bedeutet  die  Fiourens  sehe  Anschauung^ 
gegenüber  der  Ga  11  sehen  Lehre  einen  Ruckschritt.  Wie  wir 
sehen  werden,  stellte  sich  später  heraus,  dass  Fiourens,  indem 
er  die  LokaHsation  innerhalb  des  Grosshirns  leugnete,  Unrecht 
hatte,  dass  der  Grundgedanke  der  G  a  1 1  sehen  Lehre  dagegen,  die 
Verschieden  Wertigkeit  der  einzelnen  Teile  des  Gehirns,  wieder  zu 
seinem  Recht  gelangte.  Aber  es  musste  der  auf  einem  an  sich 
richtigen  Grunde  aufgestellte  fehlerhafte  Bau  zunächst  wieder  voll- 
ständig abgerissen  und  bis  in  die  Fundamente  zerstört  werden,  ehe 
an  ein  der  Wirklichkeit  mehr  entsprechendes  Gebäude  gedacht  wcrr- 
den  konnte.  Die  falsche  Flourenssche  Lehre  musste  mit  der 
falschen  Call  sehen  Lehre  auch  den  berechtigten  Grundgedanken 
derselben  vernichten. 

Somit  ist  in  den  Namen  Call  und  Fiourens  bereits  im  Be- 
ginn des  Jahrhunderts  der  Streit  gegeben,  der  dann  den  grossten 
Teil  desselben  ausgefüllt  hat,  der  Streit  über  die  Frage,  ob  das 
Grosshim  ein  einheitlich  konstruiertes,  in  allen  seinen  Teilen  gleich- 
wertiges Organ  sei,  oder  ob  den  einzelnen  Teilen  desselben  be- 
sondere Funktionen  zukämen. 

Die  weiteren  Phasen  dieses  Kampfes  heften  sich  an  die  Namen 
B r o c a  und  Trousseau,  Goltz  und  Münk.  Der  Streit  hat 
schliesslich  zum  Siege  der  lokaUsatorischen  Auffassung,  der  Lehre 
von  der  Verschiedenwertigkeit  der  einzelnen  Grosshimteile  geführt. 


^  kjui^uo  i.y  Google 


Dü  EnlwkUung  der  GchimphjfsioUtgie  im  XIX.  JahrhunderL 


263 


Die  F  1  o  u  r  c  n  s  sehe  Lehre  hat  Jahrzehnte  lang  die  Wissen- 
schaft vollständig  beherrscht.  Die  Reaktion  dagegen  kam  aus  der 
Medizin.  Der  französische  Kliniker  und  pathologische  Anatom 
B  r  o  c  a  war  es,  der  zuerst  mit  Glücic  einen  zweiten  Weg  verfolgte, 
den  Funktionen  des  Gehirns  näher  zu  kommen,  nämlich  den  Weg 
der  klinischen  Beobachtung  kranker  Menschen  und  der  darauf- 
folgenden pathotogischen  Untersuchung  des  aus  dem  Schädel 
herausgenommenen  Gebims.  ' 

Dass  die  rechte  Grosshirnhemisphäre  .der  linken  Körperhalftc 
entsprach  und  umgekehrt,  so  dass  Schädigungen  einer  Grosshirn- 
hemisphäre eine  Lähmung  der  entgegengesetzten  Körperhälfte  her- 
beifukrten,  wusste  man  schon  seit  längerer  Zeit. 

Im  Jahre  1861  erschien  die  bahnbrechende  Arbeit  B  r  o  c  a  s^) 
über  die  „Aphemie",  eine  eigenartige,  als  solche  schon  früher  be- 
kannte Störung  der  Sprache.  Die  von  dieser  Sprachstörung  be- 
troffenen Individuen  verstanden  alles,  was  man  zu  ihnen  sagte,  sie 
konnten  auch  alle  zum  Sprechen  nötigen  Muskeln  bewegen,  waren 
aber  trotzdem  nicht  in  der  Lage,  auch  nur  die  einfachsten  Worte 
hervorzubringen,  obwohl  sie  selbst  genau  wussten,  was  sie  sagen 
wollten.  Man  bezeichnet  diese  Krankheit  jetzt  als  motorische 
Allste.  B  r  o  c  a  fand  nun  bei  seinen  Sekttonen,  dass  in  all  diesen 
Fällen  ein  ganz  bestimmter  Teil  des  Gehirns  entweder  allein  er- 
krankt, oder  doch  mit  betroffen  war,  nämlich  das  hintere  Drittel  der 
unteren  Stirawindung  der  linken  Grosshirnhemisphäre,  eine  Hirn- 
partie, welche  man  dann  später  zu  Ehren  des  Entdeckers  der 
Aphasie  als  „Brocasche  Windung**  bezeichnet  hat  (Fig.  II.  4.). 

Mii  dieser  Verütientlichung  stellt  sich  Broca  in  den  direk- 
testen Gegensatz  zu  den  bisherigen  Untersuchungen  über  die 
Funktion  des  Gehirns  und  fand  naturgfemäss  in  Frankreich  sehr 
energischen  Widerspruch,  insbesondere  seitens  des  grossen 
Klinikers  T  r  f)  u  s  s  c  a  u.*)  Der  Genannte  mnsstc  allerdings  zu- 
gehen, dass  die  Angaben  Drocas  für  eine  grössere  Reihe  von 
Fällt  n  passtcn,  fand  aber  < m  andere  Reihe  von  Fällen  mit  Sprach- 
störungen, bei  denen  die  angegebene  Gegend  des  Gehirns  sich  hei 
der  Sektion  als  unversehrt  herausstellte,  und  erklärte  daraufhin  die 


')  B  r    r  a.    Sur  le  siege  du  langagc  artictjlc.  avcc  deux  obscrvations 
d'apheniie  -     Bulletins  de  la  sociele  anatomique  2e,  seric,  t.  IV,  1861. 

*)TrousscHu.     Medicini«( lu'   Klinik    des    Hötcl  -  Dieu:  Paris- 
Deutsch  von  L.  Culmann.    II.  Band.  Wurzburg.  Stahel. 


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264 


Heinrich  Sachs. 


Meinung  H  r  o  c  a  s  für  irrig.  Es  hat  sich  indessen  gezeigt,  dass 
Broca  Rerht  hatte,  und  dass  die  h'ähigkeit,  sich  in  Worten  zu 
äussern,  an  das  Intaktsein  der  nach  ihm  genannten  Windung  ge- 
bunden ist. 

Es  ist  ganz  lehrreich,  die  vorhandenen  Ausnahmen  von  der 
Regel  zu  betrachten,  welche  mit  dazu  betgetragen  haben, 
Trousseau  irre  zu  führen.  Es  .geht  aus  einer  solchen  Be- 
trachtung hervor,  wie  leicht  Beobachtungen  nicht  ganz  sorgfältiger  , 
Art  imstande  sind,  das  Urteil  zu  BLtschen.  Die  eine  Ausnahme  ist 
folgende:  Bei  jeder  stärkeren  Affektion  des  Gehirns,  bei  jedem 
grösseren  Blutaustritt  in  die  linke  Gehirnhälfte  (sogenanntem 
Schlaganfall)  ja,  wenn  es  sich  um  eine  sehr  schwere  Erkrankung 
handelt,  selbst  schon  bd  einer  Läsion  der  rechten  Gehirnhälfte 
kommt  es  ausser  zu  einer  Lähmung  der  gegenüberliegenden  KÖr- 
perhälfte  zu  den  Erscheinungen  der  motorischen  Aphasie;  die 
Broca  sehe  Stelle  scheint  gegen  alle  schädigenden  Einflüsse  be- 
sonders empfindlich  zu  sein.  Bleibt  der  Kranke  am  Leben,  so  nimmt 
der  nur  in  seiner  Funktion  behinderte,  aber  nicht  vernichtete  Teil 
des  Grosshirns  seine  Thätigkeit  wieder  auf,  und  es  findet  sich  in 
kurzer  Zeit  die  Sprache  wieder  ;  stirbt  der  Kranke  jedoch  in  der 
ersten  Zeit  der  Erkrankung,  so  stellt  sich  das  Faktinn  heraus,  dass 
jemand  bis  zu  seinem  Tode  an  motorischer  Aphasie  gelitten  liai, 
Lui(i  dennoch  bei  der  Sektion  die  B  r  o  c  a  sehe  Windung  sich  unver- 
sehrt zeigt.  Es  folgt  also  aus  diesen  Beobachtungen  nicht,  dass 
die  fragliche  Windung  mit  der  Spraciic  nichts  zu  thun  habe,  son- 
dern nur,  dass  bei  einem  sehr  heftiger.  Angriff  die  Funktion  des 
ganzen  Gehirns  und  damit  auch  diejenige  der  B  r  o  c  a  sehen 
Windung  leidet,  auch  wenn  keine  direkte  Zerstörung  dieser  Win- 
dung stattgefunden  hat.  und  dass  nur  die  Zeit  bis  zum  Tode  zu 
kurz  war,  um  die  Wiederherstellung  der  Funktion  zu  ermöglichen. 

Eine  zweite  Ausnahme  findet  man  bei  Linkshändern.  Während 
beim  Rechtshänder  die  Fähigkeit,  zu  sprechen,  ausnahmslos  an  die 
linke  Grosshimhemisphäre  gebunden  ist«  kommt  diese  Funktion 
bei  Linkshändern  der  rechten  Gehirnhälfte  zu.  Der  Linkshänder 
erkrankt  deshalb  an  motorischer  Aphasie,  wenn  seine  rechte 
untere  Stimwindung  zerstört  ist,  und  behält  die  Fähigkeit,  zu 
sprechen  oder  erlangt  sie  wieder,  wenn  die  eigentliche  Broca  sehe 
Windung  in  der  1  i  n  k  e  n  Hemisphäre  der  Vernichtung  anhetmge^ 
fallen  ist. 


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Dü  iunt-wicidimg  der  G ehim physioiogu  im  XIX.  Jahrhunderl. 


265 


Die  sonst  von  Trousscau  beigebrachten  zahlreichen  Fälle 
von  Aphasie  beziehen  sich  auf  andere  Arten  von  Spraciistörungcn. 

Mit  der  von  H  r  u  c  a  gefunilenen  Thaisache  war  die 
F  1  o  u  r  e  n  s  sehe  Lehre  als  falsch  erwiesen.  Es  war  jetzt  mit 
absoluter  Sicherheit  festt^estellt,  dass  eine  bestinunle  seelische 
Fähi^i^keit  an  die  normale  Fimktion  einer  bestimmten  umschriebenen 
Region  der  Grosshirnrinde  <;ebuntle;i  isl.  und  dass  diese  Fähigkeit 
von  keinem  anderen  Teile  des  Grosshirns  übernommen  werden 
kann.  Damit  war  der  Grundsatz  der  Lokalisation  der  einzelnen 
Funktionen  im  Grosshirn  erwiesen,  und  es  konnte  nur  eine  Frage 
der  Zeit  sein,  wann  es  geUngen  würde,  auch  für  die  übrigen  Teile 
des  Gehirns  in  analoger  Weise  die  zugehörigen  Funktionen  fest- 
zustellen. Es  ist  dann  auch  späterhin  auf  dem  Wege  der  klinischen 
Forschung  nach  dieser  Richtung  hin  viel  geschehen. 

Inzwischen  wurde  von  anderer  Seite  her  und  nach  einer  dritten 
Richtung  hin  der  Versuch  gemacht,  in  die  Funktionen  des  Gross- 
hirns einzudringen,  und  zwar  mit  grossem  Erfolge. 

Während  früher  alle  Versuche,  durch  auf  das  Grosshirn  un- 
mittelbar einwirkende  Reize  eine  Reaktion  desselben  herbeizu- 
führen, gescheitert  waren,  so  dass  die  schon  von  Aristoteles 
aufgestellte  Behauptung  von  der  Gefühllosigkeit  des  Gehirns  nicht 
bezweifelt  wurde,  gelang  es  im  Jahre  1870  Hitzig  und  F  r  i  t  s  c  h 
durch  elektrische  Reizung  des  Grosshirns  bestimmte  Bewegungen 
hervorzurufen.  Die  beiden  Forscher  legten  durch  Abtragung  des 
Schädeldaches  an  Tieren  und  zwar  an  Hunden  einzelne  Teile  des 
Grosshirns  frei,  reizten  die  einzelnen  Partieen  durch  aulgelegte 
Metallplättchen  mittelst  des  faradischen  Stroms  eines  Induktions- 
apparates und  fanden  so  ganz  lokal  umschriebene  Punkte,  von  denen 
aus  sie  bestimmte  Körperbewegungen  hervorzurufen  imstande 
waren.  Es  traten  je  nach  der  Lage  des  gereizten  Punktes  Be> 
wegungen  des  ganzen  Vorderbeins  oder  des  ganzen  Hinter- 
beins und  zwar  der  entgegengesetzten  Körperhälfte  ein. 
Analog  dem  Befunde  der  Kliniker  zeigte  sich  die  rechte 
Grosshlmhemisphäre  der  linken  Korperhälfte  zugehörig  und 
umgekehrt.  Die  Versuche  wurden  später  mannigfach  wiederholt. 
Englische  Physiologen  operierten  besonders  an  Affen,  unter 
anderem  sogar  an  dem  —  recht  kostspieligen  —  Orang  Utang,  dem 
menschenähnlichsten  Affen.  Endlich  sind  auch  an  Menschen  der- 
artige Versuche  gemacht  worden  und  zwar  zu  diagnostischen 
Zwecken,  wenn  es  sich  darum  handelte,  den  Sitz  einer  Geschwulst 


266 


Heinrich  >ai-ks. 


in  der  Gehirnntul<  .  dcrcii  La^r  im  Gehirn  man  ans  den  klinischen 
Bcobachtungc:!  hatte  bestimmen  können,  nnn  auch  bei  der  Opera- 
tion am  blos^i^clc'f^ten  Geliirn  genau  festzustellen.  Man  kann  näm- 
lich beim  Menschen  nicht  g-iU  ein  grösseres  Stück  der  Schadcl- 
kapsel  entfernen  ;  man  hat  nur  ein  kleines  Stückchen  der  Hirn- 
oberfläche vor  sich  und  kami  sich  deshalb  an  den  sonst  den  Wei^ 
zeigenden  Furchen  des  Gehirns  mcht  orientieren.  Da  giebt  dann 
die  Reizung  mit  dem  taradi sehen  Strom  mit  grosser  Genauigkeit 
die  Stelle  an»  an  welcher  man  sich  gerade  befindet. 

Im  Laufe  dieser  Versuche  hat  sich  eine  bemerkenswerte  That- 
Sache  herausgestellt.  Bei  niederen  Tieren  und  selbst  noch  bei  den 
niederen  Affen  gelang  es,  durch  faradische  Reizung  bestimmter 
Punkte  der  Grosshimrinde  Bewegungen  ganzer  Extremitäten« 
Beugung  und  Streckung  des  ganzen  Hinterbeins  oder  Vorderbeins 
hervorzurufen,  nicht  aber  einzelne  Qiedabschnitte  zu  bewegen. 
Beim  Orang-Utang  dagegen  und  noch  deutlicher  beim  Menschen 
konnte  man  Bewegungen  einzelner  Gliedabschnitte^  ja  sogar  solche 
einzelner  Finger  hervorrufen.  Es  hat  sich  also  eine  um  so  feinere 
Lokalisation  im  Grosshim  nachweisen  lassen,  je  höher  ein  Tier  in 
der  Stufenreihe  der  Entwickelung  steht. 

Der  nächste  Schritt  in  der  Bereicherung  unserer  Kenntnisse 
stammt  wieder  aus  der  Klinik.    Im  Jahre  1874  fügte  VV  e  r  n  ic  k e 
der  bis  dahin  allein  genauer  bekannten  B  r  o  c  a  sehen  Form  von 
Sprachstörung  drei  weitere  Aphasieformen  hinzu  und  suchte  für  die- 
selben  die  Lokalisation  im  Grosshim  zu  bestimmen.  Die  wichtigste 
dieser  neuen  Sprachstörungen  ist  die  sogenannte  sensorische 
Aphasie.    Die  davon  befallenen  Kranken  vermögen  spontan  zu 
sprechen^  sie  hören  auch  nachweislich  durchaus  gut,  sie  verstehen 
aber  trotzdem  nicht,  was  man  zu  ihnen  sagt,  als  wenn  man  in  einer 
fremden  Sprache  zu  ihnen  spräche,  und  sie  bringen  das,  was  sie 
selbst  sagen,  nicht  richtig  heraus,  sie  vertauschen  einzdne  Silben 
innerhalb  des  Wortes,  sie  setzen  Silben  zu  ganzen  falschen  Wörtern 
zusammen  und  kommen  im  äussersten  Falle  dahin,  dass  sie  ein  voll- 
kommenes Kauderwelsch  hervorbringen.    Dabei  bemerken  sie 
selbst  garnicht,  dass  sie  falsch  sprechen  und  können  im  einzelnen 
Falle  sehr  ungehalten  sein,  wenn  man  sie  nicht  versteht.  Man  be- 
zeichnet diese  Art  des  Falschsprechens  mit  dem  Namen  der 
Parai^sie.  Die  Unfähigkeit,  die  gehörten  Worte  richtig  zu  ver- 
stehen, hat  man  mit  dem  Namen  der  Worttaubheit  belegt.  Wort- 


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Di*:  EttCifuHung  (Lt  <j dhtm J>hysialogie  tm  XIX.  Jahrhundert.  "iJol 


tanbluit  und  Paraphasie  zusaniincn  sind  die  Kennzeichen  der  sen- 
sorischcn  Aphasie. 

W  c  r  n  i  c  k  e  land  mm.  (las>  in  dcrartig'en  Fällen  eine  bestimmte 
Stelle  des  Gehirns  lädiert  ist  und  zwar  der  hni<e  Schläielappen, 
£2renauer  che  Unke  obere  Schläfevvindung  in  ihrer  hinteren  Partie 
(Fig.  II.  5«). 


PiK.3. 


Somit  war  eine  zweite  Stelle  im  Gehirn  festgelegt,  deren  Ver- 
letzung ganz  bestimmte  klinische  Krankheitserscheinungen  hervor- 
treten Hess. 

Im  Laufe  der  weiteren  Untersuchung  fand  man  auf  diesem 
selben  Wege  der  klinischen  Forschung  und  nachfolgenden  Sektion 
des  Gehirns  für  eine  ganze  Reihe  weiterer  Stellen  der  Grosshirn- 
rinde  Beziehtmgen  zu  bestimmten  Funktionen  des  Körpers.  Die 


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268 


/Mttrkk  Sacks» 


Centren  für  die  Bewegungen  und  Empfindungen  der  einzelnen 
Glieder  Hegen  in  einem  breiten,  ungefähr  in  der  Mitte  des  Gehirns 
von  oben  hinten  nach  unten  vom  verlaufenden  Streifen  (den  Centrai- 
mnduttgen).  Hier  findet  man  zuoberst  das  Centrum  für  das  Bein, 
darunter  das  Centrum  für  den  Arm  und  noch  weiter  unten  dicht 
nach  oben  und  hinten  vor  der  B  r  o  c  a  sehen  Windung  das  Centruni 
für  die  Gesichtsbewegungen  der  entgegengesetzten  Körperhälfte 
(siehe  Fig.  II,  i— 3.)» 

Femer  hat  sich  —  vor  allem  aus  klinischen  Beobachtungen 
ergeben,  dass  im  Hinterhauptlappen  ein  Centrum  für  das  Sehen 
vorhanden  ist.  Dieses  Centram  liegt  also  am  weitesten  nach  hinten 
im  Gehim  im  Gegensatz  zu  den  Anschauungen  der  Phrenologen, 
welche  den  Gesichtssinn  unmittelbar  hinter  dem  Stimbein  suchten 
(Fig.  III,  7). 

Wenn  man  die  X^ge  der  einzelnen  Centren  zu  einander  be- 
trachtet, so  erkennt  man,  dass  dieselben  ungefähr  entgegengesetzt 
den  Organen  des  Körpers  liegen.  Im  Gehim  findet  man  das  Bein 
zuoberst,  das  Gesicht  zuunterst,  das  Auge  hinten ;  ferner  entspricht 
die  rechte  Hemisphäre  der  linken  Körperhälfte,  sodass  eine  voll- 
ständige Umdrehung  in  Bezug  auf  die  Lage  zwischen  Körper  und 
Gehirn  stattfindet. 

Während  so  auf  dein  (iebiete  der  klinischen  und  pathologisch- 
anaiomischen  Forschung  ein  immer  tieferes  Emdringen  in  die 
Mechanik  des  liirnbaus  ermöglicht  wurde,  kam  es  auch  zu  Fort- 
schritten auf  dem  Wege  der  zuerst  m  Angriff  genommenen  Methode 
von  F  1  o  u  r  e  n  s. 

Die  Versuche,  das  ganze  Grosshirn  eines  Tieres  oder  Stücke 
desselben  zu  entfernen,  knüpfen  sich  im  wesentlichen  an  die  Xanitn 
zweier  Forscher,  des  Strassburgers  Goltz  und  des  Berliner 
Münk,  l'.eide  gingen  aniänglich  in  sehr  verschiedenartiger  Weise 
gegen  das  Grosshun  vor  und  kamen  infolgedessen  zu  ganz  ent- 
gegengesetzten Resultaten. 

Goltz')  versuchte  zimächst  mit  gmber  mechanischer  Gewalt 
das  Gehim  zu  zerstören.  Er  bohrte  in  den  Schädel  seiner  Versuchs- 
tiere an  zwei  verschiedenen  Stellen  Löcher  und  lies";  einen  starken 
Wasserstrahl  hindurchströmen,  durch  welchen  naturgemäss  ein 
grösseres  Quantum  des  Gehirns  fortgespult  wurde.  Er  fand  die 
gleichen  Resultate  bei  seinen  Tieren,  an  welcher  Stelle  er  immer 


*)  Die  verschiedenen  Abhandlungen  in  P  f  1  ä  g  e  r's  Ardnv. 


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Die  Entwicklung  der  Gehim^ysiologie  im  XJX,  Jahrhundert, 


269 


die  Löcher  bohrte,  und  schloss  daraus,  analog  den  Eryfebnissen 
F 1  o  u  r  c  n  s",  dass  die  einzelnen  Teile  des  Grosshirns  einander 
gleichwertige  seien. 

M  u  n  k  )  dagegen  nahm  vorsichtig  Teile  der  Schädeldecke 
fort  und  entternie  mit  dem  Messer  ganz  umschriebene  Ilirnsiücke 
unter  möglichster  Schonung  der  Nachbarteile;  dabei  bekam  er, 
je  nach  der  Partie  lies  Gehirns,  welche  er  entfernte,  gänzhch  ver- 
schiedene Resultate. 

Goltz  hat  sich  schliesslich  der  Münk  sehen  Untersuchunj^s- 
methude  atischliessen  müssen ;  s(^bald  er  anfing  mit  dem  Messer 
vorzugehen,  änderten  sich  auch  seine  Ergebnisse,  sodass  er  schliess- 
lich zu  ähnlichen  Folgerungen  kommen  musste  wie  M  u  n  k.  Wenn 
er  auch  noch  bis  zum  heutigen  Tage  die  Annahme,  dass  die  einzelnen 
Territorien  an  der  Gehirnobcrflachc  ahnlich  wie  die  Bezirke  einer 
Landkarte  von  einander  getrennt  seien,  ablehnt,  so  musste  er  doch 
zugeben, dass  in  der  i  hat  den  einzelnen  grossen  Regionen  des  Ge- 
hirns verschiedene  }'"iniktionen  zukämen. 

Aus  der  grossen  Mehrzahl  der  Versuche  interessieren  uns  zu- 
nächst diejenigen,  welche  insbesondere  Goltz  und  sein  Schüler 
Schräder^)  anstellten,  und  welche  tlarauf  hinausgingen,  Tiere 
des  (Iro^shirns  möglichst  ganz  zu  berauben,  wennschon  diese  Ver- 
«luche  historiscli  dem  Versuche,  einzelne  Teile  des  Grosshirns  zu 
i  iiüernen.  folgen.  Sehr  a  d  e  r  arbrilcte  insliesomlerc  an  I-Voscheu. 
sowie  auch  an  Tauben  und  Falken.  Der  unendlichen  Mühe,  Geduld 
und  Geschicklichkeit  des  Strassburger  Professors  ist  es  aber  auch 
gelungen,  bei  einem  Hunde  das  Grosshirn  vollständig  zu  entfernen 

—  es  ging  sogar  noch  ein  Teil  des  Mittelhirns  mit  verloren  —  und 
diesen  Hund  i8  Monate  lang  am  Leben  zu  erhalten. 

Bei  diesem  Hunde  hat  sich  nun  folgendes  herausgestellt:  Der 
Hund  besass  alle  seine  Bewegungen.  Jede  etwas  kralligere  Be- 
rührung der  Haut  beantwortete  er  mit  einer  Bewegung  des  Kopfes, 
die  darauf  abzielte,  den  unangeneimicn  Gegenstand  von  dt  i  Ilaui  zu 
entfernen,  wennschon  diese  Bewegungen  nicht  die  Geschicklichkeit 
eines  normalen  Hundes  zeigten.    Der  Hund  war  ferner  nicht  blind 

—  wenigstens  wandte  er  bei  sehr  plötzlich  einwirkenden  und 
energischen  Lichtreizen  den  Kopf  zur  Seite;  endlich  reagierte  er 
auch  auf  sehr  unangenehme  und  laute  Scfaallreize»  war  also  nicht 

*}  Sitzungsberichte  der  Königlich  preussiscben  Akademie  der  Wissen- 
schaften. 

7)  Pflüger's  Archiv. 


270 


ttnnrith  Saeks, 


völlig  taul).  Dabei  ist  hervorzuhol)en.  dass  dieser  Tlund  nicht 
allein  des  Grosshims  beraubt  war,  sondern  dass  auch  ein  Teil  seines 
Mittelhirns  der  Zerstöriin|^  anhcinigetaüen  war,  sodass  die  An- 
nahme nicht  gänzlich  ausgeschlossen  erscheint,  dass  er  bei  guteni 
Erhakcnsein  des  letzlgenatnitcn  Gehirnteils  vielleicht  noch  besser 
srehört  und  ß:i-sehen  haben  w  ürde,  da  das  Mittelhiru  zum  Hör-  und 
Sehvermögen  bes(jndcre  Beziehiuigen  besitzt. 

Was  aber  diesen  Hund  von  einem  normalen  Hunde  unter- 
schied, war,  dass  ihm  vollkommen  das  Verneigen  fehlte.  Eindrucke 
die  zu  verschiedenen  Zeiten  eingewirkt  hatten,  mit  einander  in  Ver- 
bindung zu  bringen.  Er  hatte  nicht  nur  seine  Erfahrungen,  die  Er- 
imierung  an  alle  iruheren  Dinge,  völlig  verloren,  sondern  auch  die 
Fähigkeit:  neue  Erfahrungen  zu  sammeln.  So  wurde  der  Hund  an 
jedem  Tage  zu  hestiinniter  Zeit  aus  seinem  Käfig  herausgehoben, 
um  gefiitter*  ru  werden,  und  jedesmal  beantwortete  er  das  Heraus- 
nehmen nni  einem  formlichen  Wutanfali,  indem  er  sich  mit  allen 
Extremitäten  gegen  das  Herausheben  sträubte  und  um  sich  biss. 
Er  gelangte  ofTenbar  nicht  wieder  dazu,  das  Herausnehmen  aus 
dem  Käfig  mit  der  darauf  folgenden  Fütterung  in  Verbindung  zu 
bringen.  Zu  fressen  hatte  der  Hund  allmählich  wieder  gelernt, 
nachdem  er  lange  Zeit  hatte  gefüttert  werden  müssen:  er  frass 
später,  sobald  man  ihm  den  Kopf  in  den  Futternapf  gesteckt 
hatte,  frass  anfänglich  schnell  und  gierig,  allniählich  langsamer, 
bis  er  schliesslich,  nachdem  er  sich  den  Magen  vollkommen  gefällt 
hatte,  mit  Fressen  aufhörte. 

Aehnlich  wie  der  Goltz  sehe  Hund  verhielten  sich  die  von 
Schräder  ihres  Grosshirns  beraubten  Tauben.  Während  Münk 
bei  seinen  Versuchen  gefunden  hatte,  dass  Tauben,  denen  er  den 
Hinterhauptsteil  des  Grosshirns  entfernte,  völlig  blind  wurden  und 
auf  Lichtretze  nicht  reagierten,  und,  wenn  sie  auch  —  in  die  Höhe 
geworfen  —  zu  flattern  anfingen,  doch  an  jeden  Gegenstand  im 
Zimmer  anstiessen,  kam  Schräder  zu  ganz  andern  Resultaten. 
Nachdem  bei  seinen  operierten  Tauben  die  erste  Betäubung  von 
der  Operation  vorüber  gegangen  war,  gingen  und  flogfen  dieselben 
in  einer  Weise,  die  den  sicheren  Gebrauch  der  Augen  erkennen 
liess.  Sie  kletterten  über  ihnen  im  Wege  stehende  Gegenstände 
hinweg;  sie  flogen,  wenn  man  sie  auf  einen  etwas  erhöhten  Gegen- 
stand gesetzt  hatte,  auf  und  mit  absoluter  Sicherheit  durch  das 
Zimmer,  etwa  auf  einen  Usch  oder  die  Lehne  eines  Stuhles :  dabei 
zogen  sie  den  Tisch  dem  Stuhle  vor  Es  konnte  gar  keinem  Zweifel 


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Dü  Entwicklung  der  GtHmpi^sioiogu  im  XiX.  Jahrhundert.  271 

unterliegen,  dass  sie  ihre  Ge«ichUeindrücke  für  ihre  Bewegungen 
aul  das  AUergeschickteste  verwerteten.  Dabei  ergab  die  genaueste 
mikroskopische  Untersuchung  des  Gehirns  der  getöteten  Tauben, 
dass  in  der  That  nichts  mehr  von  Grosshtrn,  mithin  auch  nichts  mehr 
vom  Sehcentruni  desselben  vorhanden  war.  Eine  genaue  Beob- 
achtung dieser  Tauben  zeigte,  dass  ihnen  alle  diejenigen  Hand- 
lungen  fehlten,  die  an  irgend  ein  Erinnerungsvermögen  gebunden 
sind.  Sie  kletterten  über  eine  ihnen  im  Wege  befindliche  Katze  mit 
derselben  Gleichgültigkeit  hinweg,  wie  über  einen  Klotz,  hatten 
keine  Furcht  vor  dem  Netz,  mit  dem  sie  eingefangen  wurden,  und 
welches  unversehrten  Tauben  immer  sehr  unangenehm  erschien, 
und  zeigten  auch  keinerlei  Anzeichen  von  Zuneigung  oder  Vertraut« 
hdt  mit  denjenigen  Personen,  welche  sie  warteten  und  fütterten.  Sie 
frassen  auch  nicht  von  selbst ;  auch  der  Futternapf  war  ihnen  nichts 
anderes,  als  ein  den  Raum  erfüllender  Körper. 

Je  weiter  abwärts  man  in  der  Tierreihe  steigt,  um  so  auffiUliger 
ist  eSr  wie  wenig  scheinbar  das  Grosshim  für  die  Existenz  und 
Leistungsfähigkeit  eines  Tieres  zu  bedeuten  hat  Vom  Frosch 
glaubte  man  früher,  dass  er,  wenn  man  ihn  des  Grosshtms  beraubte, 
regungslos  auf  der  Stelle  liegen  bleiben  und  verhungern  müsste. 
Auch  hier  war  es  Schräder,  der  das  Gegenteil  zeigte.  Er  nahm 
einer  Anzahl  von  Fröschen  das  Grosshirn  weg  und  sperrte  sie^ 
nachdem  sie  sich  von  den  unmittelbaren  Folgen  der  Operation  er- 
holt hatten,  mit  anderen  unversehrten  Fröschen  zusammen  und 
setzte  sie  unter  genau  die  gleichen  Verhaltnisse.  Er  fand  nicht  den 
geringsten  Unterschied.  Grosshimlose  Frösche  fingen  um  sie 
herumsurrende  Fliegen  mit  derselben  Geschicklichkeit  wie  unver- 
sehrte, sie  fingen  genau  zu  derselben  21eit  an  zu  schwimmen,  wenn 
man  sie  auf  einer  verschiebbaren  Platte  ins  Wasser  versenkte; 
Sperrte  Schräder  eine  Anzahl  von  Fröschen  unter  eine  grosse 
Drahtglocke,  welche  oben  eine  Oeffnung  besass,  so  suchten  die 
Frösche  zum  Teil  durch  Springen,  zum  Teil  durch  Klettern  die 
Oeffnung  zu  gewinnen;  dabei  fand  sich  hinsichtlich  der  Zahl  der 
springenden  und  der  kletternden  Frösche  und  hinsichtlich  der  Ge- 
schicklichkeit des  Entwischens  nicht  der  geringste  Unterschied 
zwischen  den  grosshirnlosen  und  den  dieses  Organ  noch  besitzen- 
den Her^. 

Wenn  Schräder  daraus  schliesst,  dass  ein  Unterschied 
zwischen  Fröschen  mit  und  ohne  Grosshirn  überhaupt  nicht  be- 
stehe, so  dürfte  hier  doch  wohl  ein  Fchlschluss  vorliegen,  der  aus 

ZdUcfarift  für  pädagogische  Psychologie  und  Pathologie.  2 


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272 


dem  Mangel  einer  sozusagen  individuellen  Beobachtung  hervorgeht. 
Denn  auch  Frösche  zeigen  deutliche  Anzeichen  eines  Erinnenings* 
Vermögens,  wie  schon  daraus  hervorgeht»  dass  dieselbeh  in  Gegen- 
den, in  denen  sie  viel  gestört  werden,  sehr  scheu  werden  und  den 
Menschen  nicht  an  sich  herankommen  lassen,  dagegen  in  einsamen 
Gegenden  ohne  grosse  Mühe  zu  fangen  sind. 

Es  geht  aus  allen  diesen  Untersuchungen  hervor,  dass  das 
Grosshim  nicht  nötig  ist,  um  Bewegungen  zu  machen  und  die  Be- 
wegungen nach  gegenwärtigen  Sinneseindrucken  zu  regulieren  und 
ihnen  genau  anzupassen,  dass  dasselbe  dagegen  ein  Organ  der  Er- 
fahrung, des  Gedächtnisses  ist,  welches  die  vergangenen  Eindrücke 
aufbewahrt  und  sie  zu  beliebiger  späterer  Zeit  wieder  in  das  Ge- 
triebe der  Bewegungen  hemmend  oder  fördernd  eingreifen  lässt. 

Während  so  die  Strassburger  Versuche  mit  einer  Reihe  anr 
derer,  z.  B.  den  Versuchen  von  Steiner  an  Fischen,  die  Be« 
deutung  des  Grosshims  als  Ganzes  klarlegten,  sind  es  insbesondere 
die  Versuche  von  Münk  gewesen,  welche  die  Bedeutung  der 
einzelnen  Teile  des  Grosshirns  bei  Tieren  festzustellen  suchten.  Ich 
will  Ihnen  die  Ergebnisse  der  Münk  sehen  Untersuchungen  kurz 
vorführen : 

Münk  leg^e  bei  seinen  Versuchen  besonderen  Wert  darauf, 

die  Grenzen  der  einzelnen  Grosshirncentrcn  genau  zu  bestimmen 
imd  immer  nur  ein  einzelnes  Ccntrum,  dieses  über  m(')glichst  voll- 
ständitf  zu  entfernen.  Er  fand,  dass  nach  Entternung^  einer  g^nz  um- 
schriebenen Hirnregion  aus  jedem  Hinterhauptslappcn  bei  Hunden 
oder  Affen  die  Tiere  völlig  blind  erschienen.  Obwohl  der  periplierc 
Sehapparat  vom  Auge  bis  zu  den  unteren  Centren  vollkommen 
intakt  war,  und  nur  die  Hirnrinde  selbst  an  umschriebener  Stelle 
fehlte,  konnten  die  Hunde  die  vom  Auge  stammenden  Eindrücke  in 
keiner  Weise  mehr  für  ihre  Bewegungen  verwerten ;  sie  machten 
den  Eindruck  vöUiger  liiindlieit.  Diese  Hunde  unterschieden  >ich 
von  anderen  durch  Erkrankung  oder  Verlust  der  Augen  bhnd  ge- 
wordenen Hunden  noch  dadurch  wesentlich,  dass  sie  selbst  in  be- 
kannten Räumen  nur  sehr  mangelhaft  sich  zu  orientieren  lernten, 
dass  sie  in  ihnen  nicht  ganz  geläufigen  Räumen  stets  die  Schnauze 
zum  Tasten  zu  Hülfe  nahmen  und  z.  B.  niri^iaU  eine  Treppenstufe 
hinuntergingen,  wenn  sie  nicht  den  Boden  der  nach>U'n  abzutasten 
vermochten,  während  ein  periphcr-blindcr  Hund  in  kürzester 
Zeit  sich  in  ihm  bekannten  Räumen  von  einem  sehenden  Hunde 
fast  garnicht  unterscheidet. 


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Die  EHtuneBunf  4er  GeMrmßhytioUigie  im  XIX.  Jtäithundert,  273 

Wenn  Münk  aus  der  ihrer  gesamten  Ausdehnung  nach  fest- 
gestellten Sehsphäre  nur  einzelne  Stücke  herausschnitt,  fand  er, 
dass  in  dem  Gesichtsfelde  des  operierten  Tieres  einzelne  Partien 
ausfielen,  dass  in  demselben  neue  mehr  oder  minder  grosse  „blinde 
Flecke"  entstanden.   Schnitt  er  seinen  Hunden  die  am  weitesten 
nach  vom  gelegenen  Teile  der  Sehsphäre  fort,  so  wurde  die  obere 
Hälfte  der  Netzhaut  blind,  und  die  Hunde  konnten  dann  nicht  mehr 
sehen,  was  auf  dem  Fussboden  vor  sich  ging  und  senkten  den  Kopf 
nach  Möglichkeit.   Schnitt  Münk  die  am  weitesten  nach  unten 
gelegenen  Teile  der  Sehsphäre  fort,  so  geschah  das  Umgekehrte. 
Die  Hunde  sahen  nur  noch,  was  ganz  unten  vor  sich  ging  und  hoben 
deshalb  die  Köpfe  hoch  in  die  Höhe;  sie  suchten  unter  allen  Um- 
ständen den  Rest  ihres  Sehvermögens  nach  Möglichkeit  zu  ver- 
werten.   Beim  Affen  zeigte  sich  besonders  deutlich,  dass  nach 
Entfernung  der  rechten  Hälfte  des  in  der  rechten  Hirnhemisphäre 
gelegenen  Sehcentrums,  die  rechte  Hälfte  der  rechten  Netzhaut  blind 
wurde,  bei  Entfernung  der  linken  Hälfte  der  rechten  Sehsphäre  die 
rechte  Hälfte  der  linken  Netzhaut  und  dementsprechend  bei 
Operationen  an  der  linken  Sehsphäre.  Nach  dem  Herausschneiden 
einer  grösseren  in  der  Mitte  der  Sehsphäre  gelegenen  Stelle  fiel  das 
centrale  Sehvermögen  aus.    Die  Hunde  sahen  nur  noch  was  in  der 
Peripherie  ihres  Gesichtsfeldes  vor  sich  ging.    Bei  dieser  letzt- 
genannten Operation,  der  Entfernung:  der  der  Stelle  des  deutlichsteu 
Sehens  ents])recliondeii  Ilirnpartie  zciß^tcn  sicli  aber  noch  andere 
g.iiiz  merkwürdig^c  Erscheinungen    die  iiunde  sahen  jetzt  noch 
ganz  dcuthch  und  konnten  ihre  ( iesichtsempfiiuiungun  nocli  gut 
für  ihre  lU^wegungen  verwerten,  sodass  sie  nirgends  anstiessen  ;  ein 
so  operierter  Hund  kannte  aber  die  Bedeutung  aller  Dinge,  die  er 
unzweifelhaft  sah,  nicht  mehr.    Er  fand  nicht  mehr  den  Weg  die 
Treppe  hinauf  und  hinunter,  er  ging  an  dem  Futternapf  vorbei, 
ohne  ihn  als  schieben  zu  erkennen,  er  scheute  nicht  mehr  vor  der 
Peitsche  zurück,  er  war  mit  einem  Worte  das  geworden,  was  man  in 
der  Klinik  als  seelenblind  bezeichnet;  er  sah  die  Gegenstände,  al)er 
er  erkannte  sie  nicht.    Der  Hund  lernte  aber  wieder  erkennen;  war 
er  erst  einmal  die  Treppe  hinauf  gegangen  oder  gezogen  worden, 
war  ihm  einmal  die  Scimauze  in  den  Futternapf  gesteckt  worden, 
oder  hatte  er  wieder  einmal  die  Peitsche  zu  kosten  bekommen,  so 
erkannte  er  alle  diese  Gegenstände  wieder.    Was  er  aber  noch  nicht 
wieder  kennen  gelernt  hatte,  das  blieb  ihm  dauern  d  verborgen. 
Dabei  war  es  ganz  gleich,  ob  der  Hund  gleich  ins  Helle  kam,  oder 

2* 


4 


274  äemtieh  Sachs. 

ob  er  längere  Zeit  nach  der  Operation  im  Dunklen  gehalten  wurd.:. 
Man  hätte  sonst  denken  können,  dass  es  nur  «ner  gewissen  Zeit 
zur  Erholung  bedurft  hatte,  und  dann  die  Erinnerung  von  selbst 
wieder  gekommen  wäre;  aber  die  lange  Zeit  im  Dunklen  gehaltenen 
Hunde  mussten  ebensogut  wieder  alle  Dinge  kennen  lernen,  wie 
die  bald  nach  der  Operation  ans  Licht  gebrachten. 

Münk  schloss  aus  seinen  Versuchen,  das  cum  Sehen  zwei 
Dinge  gehören.  Der  Hund  müsse  die  Dinge  sehen,  und  er  müsse 
ausserdem  ein  Erinnerungsbild  eines  einmal  gesehenen  Gegen- 
standes behalten.  Münk  nahm  an,  dass  es  im  Gehirn  und  für 
das  Beispiel  des  Sehens  speziell  in  der  Sehsphare  zwei  verschiedene 
Arten  von  Nervenzellen,  Wahmehmungs-  und  Erinnerungszellen 
gäbe,  dass  also  mittelst  einer  Art  von  Zellen  das  Sehen  zu  Stande 
käme,  während  in  anderen  Zellen  der  Rinde  des  Sehcentrums  die 
Erinnerungsbilder,  je  eines  in  einer  Zelle,  aufgespeichert  würden. 
£r  nahm  des  weiteren  an,  dass  für  diese  Aufspeicherung  zunächst 
solche  Zellen  benutzt  würden,  die  der  Stelle  des  deutlichsten  Sehens 
entsprachen,  und  dass  deshalb  nach  dem  Herausschneiden  dieser 
Stelle  auch  die  in  den  Zellen  lagernden  Erinnerungsbilder  gewisser- 
massen  mit  herausgeschnitten  würden,  und  dann  erst  wieder  neue 
Erinnerungsbilder  in  anderen  erhalten  gebliebenen  Zellen  gebildet 
und  angelagert  werden  müssten. 

Aehnliche  Verhaltnisse  wie  für  das  Auge  fand  Münk  für  das 
Ohr.  Die  Entfernung  einer  bestimmten  grösseren  Rindenpartie 
aus  jedem  Schläfelappen,  oder  auch  nur  dieselbe  Operation  an 
einem  Schläfelappen  bei  Zerstörung  des  gleichseitigen  Ohres  machte 
den  operierten  Hund  taub,  sodass  er  auf  Gehörseindrficke  über- 
haupt nicht  mehr  reagierte.  Schnitt  Münk  dagegen  nur  eine  be- 
stimmte, in  der  Mitte  dieses  Centrums  gelegene  Stelle  fort,  so  hörte 
der  Hund  wohl  noch,  hatte  aber  alles  das  vergessen,  was  er  früher 
mit  dem  Gehörten  in  Verbindung  gebracht  hatte,  wie  z.  B.  die  Be- 
deutung der  Worte  „gieb  Pfote",  „mach  schön**,  „leg  dich"  u.  s.  w. 
Auch  jetzt  musste  der  Hund  die  Bedeutung  dieser  Worte  wieder  von 
neuem  erlernen. 

Ferner  schnitt  Münk  die  Centren  für  die  einzelnen  Glied- 
niassen  heraus,  die  den  von  Hitzig^  gefundenen  elektrisch  er- 
regbaren Punkten  entsprachen.  Er  umgrenzte  auch  hier  mit  mög- 
lichster Genauigkeit  ein  Vorderbein-,  ein  Hinterbein-,  ein  Rumpf-, 
ein  Xacken-,  ein  Auj^cnbewcgungs-Centruni. 

Wenn  M  u  n  k  l)ei  einem  Hnnd  z  R.  das  Centruiii  für  das  eine 
Vorderbein  vollständig  entfernt  hatte,  trat  zwar  keine  Lähmung 


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Ute  Entwicklung  Jt^r  üehimpiiyüologie  im  XIX.  Jahrhundert.  275 

des  betreffenden  Beins  ein;  der  Hund  konnte  noch  mit  allen 
vier  Beinen  laufen.  Aber  es  stellten  sich  doch  auffallende  Defekte  ein. 
Der  Hund  lühite  noch,  wenn  man  ihn  an  der  betreffenden  Pfote 
kniff  oder  etwa  eine  Klemme  an  dieselbe  ansetzte.  Während  er 
aber  über  eine  ähnliche  Behandlung  jeder  anderen  Pfote  sehr  un- 
gehalten war  und  nach  dem  störenden  Finger  biss  oder  die  Klemme 
mit  grosser  Sicherheit  mit  dem  Maule  erfasste  und  entfernte,  inter* 
essierte  ihn  das  Drücken  an  der  durch  die  Operation  in  ihrem 
Centrum  betroffenen  Pfote  nicht;  er  sah  höchstens  etwas  nach  der 
gereizten  Stelle  hin  oder  bewegte  den  Kopf  ein  wenig.  Die  auf- 
gesetzte Klemme  war  ihm  sichtlich  unangenehm,  und  er  machte 
allerlei  unruhige  Bewegungen,  kam  aber  nicht  dazu,  wie  an  einer 
andern  Pfote  die  Klemme  mit  dem  Maule  zu  entfernen.  Brachte 
man  die  Pfote  aus  der  bequemen  Lage  heraus  und  legte  sie  recht 
unbequem  Hn,  so  Hess  der  Hund  dieselbe  ruhig  liegen;  stellte  man 
den  Hund  auf  einen  Tisch,  der  eine  Art  Versenkung  hatte,  eine 
Fallthür,  so  zog  er  jede  andere  Pfote  sofort  in  die  Höhe,  wenn  sie 
auf  der  hinuntergehenden  Fallthür  stand,  die  angegriffene  Pfote 
dagegen  Hess  er  ruhig  mit  hinuntergehen.  Auch  beim  Laufen 
zeigte  sich  eine  gewisse  Unsicherheit;  der  Hund  setzte  die  be* 
troffene  Pfote  schief  auf,  nitschte  oft  mit  derselben  aus  etc.  Der 
Hund  vermochte  auch  die  betroffene  Pfote  nicht  als  Hand  beim 
Festbalten  eines  Knochens  oder  beim  Hervorholen  eines  Gegen- 
standes zu  gebrauchen. 

Münk  schloss  aus  allen  diesen  Resultaten,  dass  der  Hund 
mit  dem  zur  Pfote  gehörigen  Centrum  auch  die  Lage-,  Bewegungs- 
und Tastvorstellungen  der  betroffenen  Pfote  verloren  habe. 

Aehnliche  Resultate  erhielt  Münk  bei  der  Exstirpatton  der 
anderen  Centren.  So  drehte  sich  ein  Hund,  dem  er  das  Rumpf- 
centrum an  einer  Seite  fortgeschnitten  hatte«  niemals  kurz  nach 
dieser  Seite  herum,  sondern  stets  nach  der  anderen. 

Hatte  Münk  ein  Rindenfeld  nicht  vollständig  entfernt,  son- 
dern einen  kleinen  Rest  übrig  gelassen,  so  fanden  sich  nach  und 
nach  die  verloren  gegangenen  Fähigkeiten  wieder  ein. 

Es  ist  andern  Forschem  nicht  gelungen,  die  Munkschen 
Experimente  mit  gleichem  Resultate  nachzumachen.  Wenn  Goltz 
einem  Hunde  die  ganze  motorische  Region  fortschnitt,  fand  er  doch 
nach  einiger  Zeit  eine  Wiederkehr  der  verloren  gegangenen  Fähig- 
keiten auf  der  entgegengesetzten  KÖrperhälfte.  Diese  Wiederkehr 
lässt  sich  sehr  verschiedenartig  erklären.    Auch  für  den  Men- 


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276 


/femrich  Sachs» 


.sehen  ist  die  Kreuzung  zwischen  Gehirn  und  Körper  keine  voll- 
ständijBfe.  Eine  Reihe  von  Bew  cgungen  wie  die  Atmung,  die  Mund' 
bewegungcn,  die  Augenbevvegungen  u.  a.  können  von  jeder  Gross- 
hirnhälfte für  beide  Körperhälften  bewirkt  werden;  bei  anderen 
Bewegungen  wirkt  eine  Grosshirnhälfte  zwar  vorzugsweise  auf  die 
entgegengesetzte,  aber  doch  zum  Teil  auch  auf  die  gleichseitige 
Körperhälfte.  Es  wäre  darnach  sehr  wohl  möglich,  dass  auch  beim 
Hunde  nach  Verlust  der  einen  Grosshirnhemisphäre  die  andere  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  einträte. 

Schliesslich  hat  auch  Goltz  wenigstens  soviel  zugestehen 
müssen,  dass  die  vordere  Grosshirnhälfte  mehr  Beziehungen  zu  den 
Bewegungen,  die  hintere  mehr  zu  den  Empfindungen,  insbesondere 
den  SinnesempAndungen  habe.  Die  Ergebnisse  der  klinischen 
Untersuchung  über  die  Bedeutung  der  einzelnen  Centren  stützen 
durchaus  die  Resultate  der  Münk  sehen  Forschungen,  soweit  die 
Centren  im  allgemeinen  ihrer  Lage  und  Begrenzung  nach  in  Be- 
tracht kommen. 

Eine  besonders  bemerkenswerte  Beobachtung  hat  Goltz  an 
seinen  Hunden  gemacht,  wenn  er  denselben  entweder  beide  vordere 
Quadranten,  oder  beide  hintere  Quadranten  des  Grosshims 
wegschnitt.  Die  Hunde,  denen  Goltz  die  vordere  Himpartie 
wegschnitt,  wurden  bösartig,  die  der  hinteren  Himabschnitte  Be- 
raubten dagegen  gutmütig.  Goltz  giebt  keine  Erklärung  für 
diese  eigentümliche  Charakteränderung;  eine  solche  Hegt  indessen 
nahe.  F.s  ist  natürhch  nicht  so,  dass  die  Gutmütigkeit  im  Vorder- 
hirn, die  Bösartigkeit  im  Hinterhirn  läge,  vielmehr  entbehren  die 
des  Vorderhirns  beraubten  Tiere  der  Geschicklichkeit  ihrer  Be- 
wegungen, während  ihre  Sinnesorgane  scharf  geblieben  sind ;  sie 
können  ihren  Intentionen  nicht  nachkommen,  und  es  ist  daher  be- 
greiflich, dass  sie  über  ihre  eigene  T"'^ngeschickltchkeit  ärgerlich  wer- 
den. Die  des  Hinterhirns  beraubten  Tiere  dagegen  befinden  sich  im 
vollen  Besitz  ihrer  Geschicklichkeit  und  können  daher  den  geringen 
Eindrücken,  die  sie  überhaupt  von  aussen  bekommen,  sich  voll- 
ständig anpassen. 

Dass  derart iq-e  ^^ersuche  so  ^^chwierig  sind  und  so  verschieden- 
artig i^ede'jtet  werden  koimten.  hnt  mehrfache  (iründe.  Zunächst 
sind  dieselben  an  sich  sehr  schwierig,  und  man  muss  eine  lanciere 
Zeit  der  Vorbereitung  daran  wenden,  um  nur  die  Operationen 
richtig  auszuführen.  Es  ist  ein  Unterschied,  ob  jemand  sich,  wie 
M  unk,  ein  Menschenleben  fast  ausschliessHch  mit  derartigen 


^ed  by  CjOOQie 


Die  ErtimkUimg  dtr  Gt/umptynohgie  im  XIX.  yahrkumänt.  277 


Versuchen  beschäftigt  hat,  oder  ob  derselbe  als  .Xiiiaiiger  an  solche 
heraiigt  ht.  Ferner  ist  die  Deutung  der  Rcaullute  sehr  schwierig. 
Es  ist  niiiuiiUr  schon  bei  krausen  Menschen  gar  nicht  leicht,  die 
beobachteten  Erscheinungen  richtig  zu  deuten,  unisoueniger  bei 
Tieren,  die  über  ihr  Inneres  irgend  welche  Auskuntt  nicht  zu  geben 
vermögen.  Schon  bei  einem  etwas  weniger  gebildeten  Menschen 
die  Grosse  und  Form  des  Gesichtsfeldes  zu  bestimmen,  ist  nicht 
immer  leicht,  geschweige  denn  bei  einem  Hunde,  bei  dem  man  diese 
Bestimmung  nur  daurch  machen  kann,  dass  man  ihm  eine  Anzahl 
von  Fleischstuckchcn  auf  den  iioden  streut  und  nun  darauf  achtet, 
welche  er  nimmt,  und  welche  er  liegen  lässt. 

Insbesondere  die  Deutung,  welche  Münk  den  Erscheinungen 
der  Seelenblindheit  bei  seinen  eines  umschriebenen  Stücks  der 
Seh  Sphäre  beraubten  Hunden   gegeben  hat,  erscheint  doch  recht 
zweiielliait.    Die  Auffassung.   il;iss   man   einem  Hunde   mit  dem 
Centrum  gewissermassen  die  Frnnierungsbilder  fortschnitte,  ist  eine 
etwas  grobe,  mechanische,  und  sie  erklärt  nicht  einmal  die  Fr- 
scheinungen.    Wenn  man  sich  tragt  was  dazu  nötig  ist.  damit  ein 
Hund  vor  der  Peitsche  zurückschrecke,  findet  man,  dass  dazu  drei 
Dinge  gehören.    Der  Hund  nmss  eine  Erinnerung  an  die  Peitsche 
haben,  er  muss  ausserdem  eine  Erinnerung  an  die  früher  damit 
bekommenen  Prügel  haben,  und  beide  Erinnerungen  müssen  in 
der  Seele  des  Hundes  miteinander  in  Verbindung  stehen.  Ins 
Anatomische  übersetzt  würde  das  lauten :  es  muss  in  der  Sehsphäre 
ein  Erinnerungsbild  (d.  h.  eine  molekuläre  Veränderung,  deren 
psychisches  Korrelat  das  Erinnerungsbild  ist)  der  Peitsche  sich 
befinden»  ferner  in  einer  anderen  Region  des  Gehirns,  etwa  seinem 
Rumpfcentrum  ein  Erinnerungsbild  an  die  früher  erlittene  Züch- 
tigung und  den  damit  verbundenen  Schmerz,  und  diese  beiden 
Centren  müssen  durch  eine  Nervenbahn,  eine  Assoziationsbahn, 
niit  einander  verbunden  sein.    Wird  die  Bahn  Peitsche-Schmerz 
an  irgend  einer  SteUe  unterbrochen,  so  wird  der  Hund  vor  der 
Peitsche  nicht  mehr  zurückscheuen.    Nun  wird  die  Peitsche  am 
deutlichsten  mit  dem  Mittelpunkte  der  Netzhaut  gesehen ;  von  der 
entsprechenden  Stelle  der  Sehsphäre  aus  werden  also  vorzugs- 
weise Assoziationsfasern  in  Thatigkeit  gesetzt,  oder  wie  man  sagt, 
aasgeschliifen,  welche  zum  Erinnerungsbüde  des  gefühlten  Peit- 
schenschlages führen.   Schneidet  man  also  diese  bestimmte  Stelle 
fort,  so  ist  damit  die  Bahn  Peitsche-Schmerz  unterbrochen;  es 
thüssen  nun  erst  andere  Assoziationsfasem  ausgeschliffen  werden, 


278 


Hthtfi^  Sacks. 


welche  aus  den  Seitenteilen  des  Sehcentrums  kommen,  damit  die 
Bahn  wieder  letstun^hig:  wird. 

Auch  diese  Aiiffassung'  ist  noch  eine  rohe  und  sicher  nicht 
völlig  (k-n  Thntsaclu-n  entsprechende.  Ich  kann  indessen  anf  eiue 
genauere  I^ariegung  in  dem  Rahmen  dieses  Vortrages  nicht  ein- 
gehen, da  uns  eine  solche  viel  zti  weit  führen  würde.  Ks  kam  mir 
nur  darauf  an.  fcsl zustellen,  da^s  die  M  unk  sehe  Deutung  der  Er- 
gebnisse seiner  l  ntersuchungen  an  Tieren  nicht  in  allen  Punkten 
richtig  sein  kann.  Die  hervorragende  Bedeutung  der  l^xperinientc 
selbst  wird  durch  die  nian-^elhatte  Deutung  im  einzelnen  natürlich 
iiiclit  im  gering.stcn  verringert. 

Während  die  Physiologen  in  der  beschriebenen  Weise  weiter 
arbeiteten,  ist  die  Klinik  nicht  stehen  geblieben,  hat  uns  vielmehr 
eine  ganze  Reihe  weiterer  Resultate  geschenkt.  Dass  für  den  Men- 
schen die  Lage  der  Ccntrcn  für  Anne.  Beine.  Gesicht.  Auge  und 
niir  festge.stcllt  wurde,  habe  ich  schon  erwähnt.  Man  hat  eine 
Reihe  weiterer  Beobachtungen  gemacht,  welche  .-Xnaloga  zu  den 
Sprachstönmgen  der  Aphasie  darstellen  und  sich  auf  denselben 
Bahnen  bewegen,  wie  die  Ergebnisse  M  u  n  k  s  an  seinen  operierten 
Hunden.  Man  hat  nach  Zerstörungen  im  Gebiete  der  Sehpharc 
oder  deren  Nachbarschaft  eigenartige  Symptomenbilder  beobachtet, 
wie  z.  R.  die  sogenannte  Seelenblindheit,  bei  welcher  die  betroffenen 
Menschen  gerade  wie  die  M  u  n  k  sehen  Hunde  die  Gegenstande 
wohl  sehen,  aber  die  gesehenen  nicht  erkennen,  oder  die  sogenannte 
optische  .Aphasie,  bei  der  der  Kranke  den  Gegenstand  sieht  und 
erkennt,  nur  seinen  Nanu-n  nicht  findet,  während  ihm  dieser  Name 
sofort  einfällt,  wenn  er  den  Gegenstand  betastet  oder  ein  von  den- 
selben ausgehendes  charakteristisches  Geräusch  (Klingeln  einer 
Glocke)  hört.  Auch  auf  diese  Dinge  genauer  einzugciicn  fehlt  die 
Zdt 

Mit  einigen  Worten  will  ich  noch  auf  die  neueste  Phase  der 
Gehirnanatoniie  eingehen  die  F  1  e  c  h  s  i  g  sehen  .Anschauungen 
am  Schlüsse  des  Jahrhunderts.  Ks  ist  nicht  ganz  leicht  über 
Flechsig  zu  berichten  und  zwar  deshalb,  weil  in  der  schon 
ziemlich  stattlichen  Anzahl  von  Veröffentlichungen  F  1  e  c  h  s  i  g  s 
in  den  letzten  jähren  sein  ."^t.indijunkt  sich  regelmässig  von  einer  zur 
anderen  geändert  hat.  sodass  man  niemals  mit  Sicherheit  sagen 
kann,  welches  eigentlich  Flechsigs  gegenwärtige  Anscliauung 
sei ;  und  die  Erfahrung  hat  gezeigt,  dass  Flechsig  sehr  unan- 


cd  by  CjOOQie 


Die  Entwicklung  der  Gthirnphysiologii:  ü/t  XJX.  Jahrhundert. 


279 


genehm  wird,  wenn  man  etwa  Statt  von  seiner  letzten  von  seiner 
vorletzten  Publikation  spricht. 

Der  wesentliche  Kern  der  Anschauung  F 1  e  c  h  s  i  g  s  ist  fol- 
gender: Er  unterscheidet  zwei  grosse  Gruppen  von  Hirnrinden- 
feldern. Die  eine  Gruppe  steht  in  Beziehung  zu  den  Organen  des 
Körpers ;  das  sind  die  Frojektionscentren.  Zwischen  den  ein^^elnen 
Projektionscentren  liegen  andere,  noch  ausgedehntere  Felder,  die 
Associationscentren,  welche  mit  dem  Körper  keine  direkte  Ver- 
bindung haben,  und  in  welchen  die  höheren  geistigen  Leistungen 
vor  sich  gehen.  Flechsig  suchte  in  den  einzelnen  grossen  Fel- 
dern von  einander  getrennt  die  Persönlichkeit,  die  Tntcllip;'enz,  das 
geniale  künstlerische  Schaffen  etc.  In  späteren  Veröffentlichungen 
wuchs  die  Zahl  der  Felder  immer  mehr,  sodass  sie  jetzt  etwa  40 
beträgt.  Flechsig  erklärt  z.B.  die  Thatsache.  dass  die  Affen 
nicht  sprechen  können,  daraus,  dass  ihnen  sein  Feld  23  und  39  (es 
können  aber  auch  andere  Nummern  sein)  fehlt. 

Alle  diese  Anschauut^n  Flechsigs  entbehren  völlig  der 
zureichenden  Grundlage  und  haben  von  keiner  ernsteren  Seite  Be- 
stätigung oder  Zustimmung  gefunden. 

Blickt  man  noch  einmal  auf  die  Entwicklung  des  Jahrhunderts 
zurück,  so  findet  man  ewischen  Beginn  und  Ende  gewisse  überein- 
stimmende Momente.  In  der  Lehre  der  Phrenologen,  wie  der 
modernen  Physiologie  zerfällt  das  Gehirn  in  eine  Anzahl  von  Feldern 
verschiedenartiger  Funktion.  Während  aber  von  Galt  und  seinen 
Nachfolgern  bestimmte  komplizierte  Eigenarten  der  Seele  in  be- 
stimmten Himteilen  gesucht  wurden,  lokalisieren  wir  jetzt  nur  die 
allerelementarsten  Funktionen,  das  grobe  Material,  aus  welchem 
erst  das  psychische  Leben  entstehen  soll,  und  wir  sehen  als  das 
Wesentlidiste  nunmehr  nicht  die  Oberfläche  des  Gehirns  an,  son- 
dern vielmehr  die  Verbindung  aller  Teile  des  Gehirns  unter  ein- 
ander durch  die  in  der  Tiefe  des  Gehirns  liegenden  Assoziations' 
fasern.  Diese  alle  Teile  der  Hirnrinde  unter  einander  verbindenden 
Fasern  und  ihr  Zusammenwirken  geben  den  unzähligen  Kom- 
binationen des  Geisteslebens  die  anatomische  Grundlage* 

Zwischen  beiden  Perioden  fand  sich  die  Zeit,  in  der  man  das 
Gehirn  ab  ein  Ganzes  betrachtete,  dessen  einzelne  Teile  einander 
völlig  gleichwertig  seien. 

So  steht  unsere  Spezialwissenschaft  gegenwärtig  wieder  ge 
Wissermassen  an  demselben  Punkte  der  grossen  Spirale,  in  der  sich 
alle  Wissenschaft  entwickelt,  nur  eine  Etage  höher,  und  wir  könnten 


■ 


2^0  Hemridi  Sachs. 

im  Laufe  der  weiteren  EnUvicklimo  nun  wieder  zu  dem  Punkte  kom- 
men, an  dem  wir  unsere  ^nze  Lokalisationslchrc  als  eine  Täuschung 
ansehen  und  die  Erscheinungen  der  Lokalisatiou  nur  dadurch  be- 
ding^ finden,  ilass  die  von  der  Peripherie  kommenden  Fasern  an  be- 
stimmten Punkten  des  Grosshirns  endigen,  so  dass  die  beobachteten 
Erscheinungen  gar  nicht  von  der  Verletzung  des  Grosshirns,  sondern 
von  der  Verletzung  der  zu-  und  abführenden  Fasern  abhingen. 

Indessen  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dass  die  Entwicklung 
nach  dieser  Richtung  weiter  geht.  Vielmehr  ist  zu  erwarten,  das»s 
beide  einander  bekämpfenden  Anschauungen  von  der  Bedeutung 
des  Gehirns  und  seiner  Teile  sich  in  bestimmter  Weise  vereinigen 
lassen.  Die  Wrhälluisse  sind  eben  nicht  so  einfach,  wie  die  eine 
oder  die  andere  P'artei,  die  Unitarier  und  die  Lokalisten.  wie  sie 
druch  Goltz  und  Münk  vertreten  waren,  es  sich  vorstellen: 
anderenfalls  wäre  es  j^ar  nicht  verstandlich,  dass  zwei  Forscher 
von  der  hervorragenden  Bedeutung  der  beiden  Genannten  ans 
einem  analog^cn  Rcnbacfitunq^sinaterial  geradezu  entgegengesetzte 
Schlüsse  hätten  herausziehen  können. 

Wahrscheinlich  sind  eben  nur,  wie  oben  schon  angedeutet,  die 
allerelementarsten  Dinge,  die  groben  Empfindung^en,  in  den  ein- 
zelnen Partien  des  Gehirns  lokalisiert;  dagegen  bedarf  es  selbst 
zu  einer  einfachen  psychischen  Leistung  des  Zusammenwirkens 
aller  Grosshirnteile,  wie  das  in  einfachster  Form  schon  aus  dem 
früher  angeführten  Beispiele  des  vor  der  Peitsche  scheuenden 
Hundes  hervorgeht.  Indem  durch  die  alle  Teile  des  Gehirns 
untereinander  verbindenden  Assoziationsfasern  die  gesamte  Hirn- 
rinde in  ein  einziges  und  einheitlich  arbeitendes  Ganze  zusammcn- 
gefasst  wird,  wirkt  die  Verletzung  eines  einzelnen  umschriebenen 
Gebietes  auf  alle  anderen  Teile  ein  und  ist  so  imstande,  die  Funk« 
tionen  aller  anderen  Teile,  d.  h.  des  ganzen  Gcliirns  zu  schädigen. 

Auf  diesem  Wege  dürfte  sich  im  Laufe  der  Zeit  aus  der  Ver- 
bindung  der  beiden  entgegengesetzten  Standpunkte  eine  Auffassung^ 
herauskrystallisieren,  welche  allen  Teilen  gerecht  wird  und  auf  einer 
höheren  Entwicklungsstufe  unserer  W^issenschaft  aus  den  dem  An- 
scheine nach  einander  unvereinbar  gegenüber  stehenden  Beob- 
achtungen und  Anschauungen  ein  einheitliches  Gebäude  ent- 
stehen lasst. 


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üedächtnisuntersuchungen  an  Schülern. 

Von 

F.  K  e  m  s  i  e  s. 
IV. 

Die  aufgestellten  Typen  B  und  C  dürfen  nicht  ohne  weiteres 
mit  visuellem  und  akustischem  Typus  identifiziert  werden ;  denn  bei 
jenen  handelt  es  sich  um  eine  leichtere  Aufnahme  von  Gesichts-, 
resp.  Lautbildem  unter  gleichen  Bedingungen,  während  das  kon- 
stante Hervortreten  der  betr.  Gedächtnisbilder  in  verschiedenen 
geistigen  Vorgängen  das  hervorstechende  Merkmal  der  letzteren 
ist;  es  könnte  wohl  auch  vorkommen,  dass  gerade  die  schwerer 
eingeprägten  Bilder  dauernder  haften  und  vorherrschend  würden. 
Ob  also  Typus  B  stets  auch  ein  visueller  T)'pus  ist,  bedarf  noch 
einer  weiteren  Prüfung. 

In  beiden  Gcd.ichtnisarten  bringt  die  kombinierte  Me- 
thode kein  pc:^t(  igertes  Ergebnis,  doch  ist  ans  den  ZaliU  n  ersicht- 
lich, dass  die  bessi  re  sensorischeAnlage  prävaliert.  Tlicoretisch  Hesse 
sich  noch  ein  Ty])ns  aufstellen.  l»ei  dem  durch  das  Zusammenwirken 
dos  visuellen  imd  des  akustisch-motorischen  Gedächtnisses  bessere 
Resultate  erzielt  würden  als  durch  das  einsinnige  Lernen.  In  der 
That  wurde  er  bei  mehreren  Schülern  angetroffen,  vgl.  Tabelle  D.') 

Wir  zählen  im  diskontinuierlichen  Verfahren  bei  dem  Unter- 
tertianer Naum.  visuell  5 — 7,  akustisch  7 — 9,  kombiniert  aber  nur 
4  Wiederholungen,  (l^'in  Typus  A  unter  diesen  Umständen  aufrecht 
zu  erhalten,  ist  die  Annahme  erforderlich,  die  sich  bei  einigen  Ver- 
suchspersonen verifizierte,  dass  hier  die  Zahl  der  notwendigen 
Wiederholungen  für  alle  drei  Lemweisen  dieselbe  ist.) 


*)  Die  Tabellen  enthalten  nicht  sämtliche  Versuche,  die  angestellt 
limr<1en,  die  ersten  3  bis  5  sind  überall  fortgelassen.  In  Tabelle  C  Versuch  XIV 
gehören  die  unter  ühlerh.  ReprrMj.  angegebenen  Zf»h!en  eine  Zeile  hoher 
zu  Umstellungen,  die  unter  ungcn.  Wörter  angeführten  eine  Zeile  höher 
ni  fehlerh«  Reprod. 


282 


P.  Jümsies, 


Der  Schüler  Sehz.  (Tabelle  C)  gilt  als  normal  befähigt,  er  hat 
in  allen  Unterrichtsgegen ständen  gciiugende.  z.  T.  gute  Censuren 
aufzuweisen  und  ist  in  regelmässigrer  Folge  jährlich  eine  Klasse 
aufgeruckt,  sein  Lebensalter  beträgt  13  Jahre.  Dassdbe  lässt  sich 
von  Naum.  sagen,  der  mit  ihm  gleichaltrig  ist.  Die  ersten  drei 
Beispiele  bestätigen  demnach  die  öfters  hervorgehobene  That- 
sache,  dass  ein  hervorragendes  mechanisches  Gedächtnis  neben 
allgemeiner  geringer  Begabung  einhergehen  kann  wie  bei  Schm., 
dass  jedoch  zur  Erzielung  ausreidiender  Kenntnisse  auf  mehreren 
Gebieten  nicht  nur  „Verstand*'»  sondern  auch  ein  leidliches  Gedächt- 
nis Erfordernis  ist. 

Ob  die  sensorische  Eigenart  des  Gedächtnisses  mit  tieferliegen- 
den Eigenschaften  der  Versuchsperson  zusammenhangt,  oder  ob 
sich  die  Unterschiede  in  der  Begabung  im  Laufe  der  weiteren  Ent« 
Wickelung  ausgleichen,  dafür  fehlt  es  leider  gänzlich  an  Beob- 
achtungen. Dagegen  ergab  sich  wiederholt  ein  gewisser  Zusammen- 
hang zwischen  schwerem  Gedächtnis  und  sonstiger  Leistungsl^hig- 
keit  der  Person. 

Ein  schweres  Gedächtnis  bildet  für  den  Ablauf  der 
geistigen  Prozesse  eine  fortwährende  starke  Hemmung,  die 
sich  leider  auf  keinerlei  Weise  ausschalten  lasst.  Der  Quartaner 
Mart.  bietet  einen  derartigen  Fall,  vgl.  Tabelle  E.  Er  ist  ein 
massiger  Lerner  nach  dem  kombinierten  diskontinuierlichen  Ver- 
fahren, da  er  7 — 9  Wiederholungen  braucht,  er  lernt  schwer  nach 
dem  visuellen  und  sehr  schwer  nach  dem  akustischen  Verfahren, 
indem  er  mit  W,«  nur  bis  %  der  Versuchsarbeit  erledigt.  M.  ist 
15  Jahre  alt,  er  hat  stets  zu  den  schwächsten  Schülern  seiner  Klasse 
gehört  und  trotz  dauernder  Nachhilfe  durch  Privatlehrer  und  fort- 
laufenden Repetitionen  kein  sicheres  Wissen  in  irgend  einem  Gegen" 
Stande  erworben.  In  der  Tabelle  fallen  zunächst  die  starken 
Schwankungen  der  Gcdächtnisleistung  auf.  Die  wechselnden 
Ergebnisse  bei  verschiedenem  Verfahren  wurden  von  allen  Versuchs- 
personen auf  individuelle  Verschiedenheiten  in  der  Konzentrations- 
fähigkeit bezogen  ;  die  Oscillationen  bei  derselben  Methode  wurden 
dagegen  als  normal  betrachtet,  sie  betrugen  in  der  Regel  nur 
2  Wiederholungen  (mit  einzijjfer  Ausnalimc  des  \''ersnchs  1  in  Tabelle 
C.  v,o  am  Schlüsse  3  Wiederholungen  zum  Einprät;en  der  letzten 
Vokabel  n«>ti<^  sind).  M.  hat  ^r'.sscro  r|uantitati\e  DitiV-rcirz-'n ,  <lie 
vielleicht  von  einer  öfteren  Unfäliigkeit,  die  Aufmerk- 
samkeit zu  konzentrieren,  herrühren. 


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Umstellungen 
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286 


F.  Ketnsies. 


Charakteristisch  ist  ferner  die  grosse  Zahl  der  unver- 
knüpften  Bedeutungen,  bis  zu  6  in  i  Reproduktion,  der 
Umstellungen,  fehlerhaften  Reproduktionen  und  der  unge- 
nannten Wörter;  die  letzteren  sind  bis  zur  Unkenntlich- 
keit verstümmelte  Fremdwörter,  aus  denen  erst  <^anz  allmählich 
fehlerhafte  und  schliesslich  korrekte  Wörter  hervorgeiien.  Diese 
Inexaktheit  in  der  Auffassung  tmd  Wiedergabe  fremdartiger 
Lautkomplexe  ist  ein  fernerer  Mangel  des  schweren  Wortgedacht- 
nisses,  der  einen  tiefen  Einfluss  auf  die  Qualität  der  höheren 
Prozesse  ausüben  dürfte.  Alle  Faktoren  wirken  dahin,  dass  das 
bereits  Gelernte  nicht  immer  iestgeiialten  werden  kann,  dass  die 
Fremdwörter  nieder  korrumpiert  werden  —  oder  ganzlidi  aus 
dem  Bewusstsein  entschwinden,  also  ein  rückläufiges 
Lernen  zuweilen  eintritt. 

Tabelle  F  führt  diese  Verhältnisse  in  noch  ausgeprägterer  Weise 
vor.  Der  Schüler  Hard.,  im  gleichen  Alter  wie  der  vorige  und  sein 
Klassengenosse,  gehört  zu  den  schwächsten  Elementen  der  Schule ; 
dennochist  sein  Arbeits-  undZettaufwandfürdieSchularbeiten  enorm. 
Bei  ihm  ereignete  es  sich  wiederholt,  dass  er  die  am  Abend  gelernte 
und  vorzuglich  vorgetragene  Lektion  am  nächsten  Morgen  nicht 
mehr  beherrschte  und  infolgedessen  einen  Tadel  wegen  Trägheit 
erhielt,  er,  der  unzweifelhaft  fleissigste  aus  der  ganzen  Anstalt.  Dass 
ein  Schüler  von  solch  geringer  Begabinig  nicht  in  eine  höhere  Lehr- 
anstalt gehört,  und  dass  er  zuweilen  an  schweren  geistigen  Depres- 
sionen litt,  sei  nebenbei  bemerkt. 

RückläufigesLernen  tritt  deutlich  ein  in  den  Versuchen 
II,  IV,  V,  XV,  XVIII.  und  zwar  nicht  infolge  einer  plötzlichen  Zer- 
streutheit oder  äusseren  Ablenkung,  sondern  veruracht  durch  E 
m  ü  d  u  n  g.  Das  Erlemen  von  lo  Vokabeln  übersteigt  die  momentane 
Leistungsfihigkeit  der  Versuchsperson;  denn  sie  gelangt  nur  bis 
zu  einem  bestimmten  Punkte,  von  welchem  ab  das  Vergessen  das 
Neulemen  überwiegt.  An  einigen  Tagen  (XV,  XVI)  wird  in  den 
ersten  4 — 5  Wiederholungen  ein  energischer  Vorstoss  gemacht, 
der  die  zur  Verfügung  stehende  Energie  aber  so  vollständig  ab- 
sorbiert, dass  sofort  ein  langsames  Abbröckeln  des  Gelernten  ein* 
tritt ;  an  andern  Tagen  (I,  III,  XVI)  rückt  H.  langsam  aber  stetig 
bis  Wio  vor,  das  Endergebnis  ist  jedoch  wechselnd,  und  das  Lenmel 
wird  nicht  ein  Mal  erreicht.  Dieser  Fall  erscheint  pathologisch. 
Die  Inexaktheit  im  Lcrnprozess  ist  ausserordentlich  gpross. 


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Gedäe^mistuU*rsiickungm  m  AAiUm*. 


287 


Wenn  wir  die  Zahl  der  Umstellungen,  fehlerhaften  Wiedergaben 
und  ungenannten  Vokabeln  für  loo  gelernte  Wörter  unter  Be- 
rücksichtigung sämtlicher  Reproduktionen  berechnen,  so  erhalten 
wir  sehr  charakteristische  Zahlen  für  die  einzelnen  Lemer:  die 
geringsten  Prozentsätze  bei  den  beiden  besten  Schülern  Sehz.  und 
Naum.  (C  und  D),  einen  erhöhten  Satz,  insbesondere  für  ungenannte 
Wörter,,  bei  dem  vorzüglichen  Lerner  Schm.  (B),  schliesslich  sehr 
hohe  Zahlen,  speziell  wieder  der  ungenannten  Wörter,  bei  Mart. 
und  Hard.  (£  und  F). 


Tabelle 


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B 

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Umstellungen 

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8,2 

5,6 

22,7 

32.7 

fehlcrh.  Repr. 

17,3 

15,6 

16,9 

21,4 

23,0 

ans.  Wörter 

M 

1,6 

1,4 

20,0 

12,0 

Auf  welche  Weise  kommen  die  „ungenannten"  Wörter  zu 
Stande?  Liegt  hier  ein  Mangel  des  Sensoriums,  der  Aufmerksam- 
keit oder  des  Gedächtnisses  vor,  oder  spielt  bereits  Kombinations- 
thätigkeit  mit?  Wenn  sich  diese  Fragen  auch  nicht  sofort  be- 
antworten lassen,  so  beansprucht  doch  die  in  den  Zahlen  liegende 
Thatsache  unsere  volle  Würdigung ;  sie  führt  uns  vielleicht  auf  den 
ersten  Anfang  einer  pädagogischen  Diagnostik.  — 

Um  Vergleichs  material  zu  gewinnen,  wurden  noch  mit 
drei  jüngeren  Kindern  Versuche  angestellt,  die  in  Tabelle  G  vor- 
gefüiirt  sind.  Der  Ouintaiior  K.  K.,  II  Jahre  alt.  wird  als  hin- 
reichend bcfahij^L  anpreschen,  denn  er  lainint  einen  der  ersten 
Klassenpiai/.e  ein;  der  Sextaner  K.  F.,  ebenfalls  ii  Jahre  alt, 
gilt  als  mangelhaft  begabt ;  endlich  der  Scptiinaner  D.  K.,  9  Jahre 
alt,  als  nicht  unbefähigt.  In  Rezup  auf  Schnelligkeit  des  Lernens 
sowohl  als  aucli  auf  Korrektheit  gebührt  K.  K.  der  erste  Platz 
unter  den  dreien,  er  übertrifft  auch  bei  weitem  die  Quartaner 
Mart.  und  Hard.  und  kommt  den  Untertertianern  gleich.  Mit  den 
beiden  Quartanern  kann  sich  si\<;ar  noch  der  Septimaner  messen, 
obwohl  bei  ihm  die  Zahl  der  fehU  rhaften  Reproduktionen  gross  ist. 
Schlechter  fällt  dap^cf^en  der  Lernprozess  bei  K.  F.  aus,  im  ersten 
Versuch  ist  die  Zahl  der  ungenannten  Wörter,  im  zweiten  die  der 
ZeHichrift  fir  pUagogbcfae  Pqrcbolocie  und  Pifliolocie.  3 


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W,  W,  W,  W4  Ws  w. 

behaltene  Wörter 
richtig  verknüpft 
falsch  verknüpft 
unverlm.  Frendw. 
imverkn.  Bedeutung. 

2    4  10  10  9  12  15  17  20 
2    4  10    6  6  12  14  16  20 
2 

1  1 

12  11 

3   6    B  15  18  20 
2   4    8  14  18  20 

1    2  1 

synonyme  Bed. 
Umstellungen 
fehlerhafte  Reprod. 
ungen.  Warter 

1 

2  112 

12    3  3 

1 

K. 

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tisch: 

F. 

TT 
3.  8.  1801 

W.W.W.W.W.W.WfW.W.W,. 

behaltene  Wörter 
richtig  verknfipft 
falsch  verknüpft 
unvcrkn.  Fremdw. 
unverlm.  Bedeutung. 

1  6  b  8  10  10  9  9  14  13  13 
446   8  668  8  10  10 
2  2  2       2          6  2 

1  1  1 
2   2  2           1  2 

4    5  6  7  10  12  12  12  11  14 
4  4  6  6   8  12  12  12  10  14 
2 

1 

1 

synonyme  Bed. 
Umstellungen 

fehl'Mi..-i''tt  Prprod. 
ungen.  Wörter 

2  2  1 
1121  21222 

3  2  2    1    2  3 

2343777755 
1  1 

a  k  tt  8  t 

D. 

I 

25.  7.  1901 

WiW,w,W4W,  W.W,  \v;\v , 

lacht 
K. 

IT 

WiW,W,W«W»  W.W7  WbWbW», 

behaltene  Wörter 
richtig  verknüpft 
falsch  verknüpft 

unverkn.  Fremd  r 
nnverkn.  Bedeutung. 

2   2   3    4    6  8  8  10  12  13 
2  2   2    4    6  8  8  10  12  12 

1 

1 

2  4  5  6   9  10  11  15  16  18 
2  4  4  6    8    8  10  14  14  18 

2 

1  1 

2   1  1 

synonviTir  Bed. 
Umstellungen 
fAtehifte  RQirod. 
tugen.  Wörter  { 

1112344566 

1  1 

3 

1  2  3  1   2  2       3  4  4 

cd  by  CjOOQie 


GtäddUMisuntersuckunfeH  m  Scküiem, 


291 


fehlerhaften  Reproduktionen  beträchtlich,  sie  erinnert  stark  an  die 
Tabellen  £  und  F,  so  dass  die  Prognose  für  diesen  Schuler  un* 
günstig  ausfallen  dürfte. 

Aus  den  vorgeführten  Beispielen  nach  der  einen  oder  andern 
Richtung  allgemeine  Sätze  oder  pädagogische  Forderungen  abzu- 
leiten, wäre  verfrüht ;  sie  sollen  z.  Zt.  nur  eine  Matenal- 
sammluiig  vurstellen,  die  der  Vermehrung  sehr  bedürftig  ist,  in- 
dessen enthalten  sie  schon  einen  Beitrag  zur  Feststellung  des 
„Durchschnittsschülers'',  jener  Fiktion,  mit  der  in  der  Pädagogik 
fortwährend  gerechnet  werden  muss. 

Denn  die  Lchrziele  einer  jeden  Anstalt,  die  Lehrstoffverteilung 
auf  die  einzelnen  Klassen,  die  täglichen  Arbeitspensen,  aber  auch 
die  Unterrichtsmethodik  sind  auf  einen  fiktiven  Durchschnitts- 
schüler zugeschnitten,  der  gewiss  bei  jedem  Lehrer  und  jedem 
Unterrichtsgegenstand  ein  anderes  Aussehen  trägt.  Seine  wirk- 
lichen Züge  in  jeder  Klasse  an  der  Hand  der  zu  Tage  tretenden 
Leistungen  zu  beobachten,  fällt  zwar  dem  betr.  Klassenlehrer  zu, 
doch  dürfte  eine  psychologische  Analyse  mittels  genauerer  Metho- 
den manche  feineren  Differenzen  und  Abstufungen  ergeben,  die 
nicht  unwichtig  waren. 

Kann  man  z.B.  nach  dem  Ergebnis  der  jährlichen  Klassen- 
Versetzungen  in  den  höheren  Lehranstalten  nicht  die  Vermutung 
aussprechen,  dass  die  Arbeitspensen  und  der  Arbettsmodus  dem 
dritten  Teil  oder  gar  der  Hälfte  der  Schüler  nicht  angepasst  sind, 
und  dass  für  diese  ein  langsameres  Tempo  bei  vermehrter  Klassen- 
zahl oder  andere  Methoden  vorteilhafter  sein  würden?  Wie 
könnte  das  einwandsfrei  festgestellt  werden? 

Bei  jedem  von  der  Norm  abweichenden  Fall  mfissten  psycho- 
logische  Untersuchungen  stattfinden,  die  in  diagnostischer,  prog^ 
noatischer,  ev.  therapeutischer  Hinsicht  zu  verwerten  waren.  Aber 
auch  die  „Norm"  selbst  ist  heute  noch  ein  pychologisches  Problem. 


4^ 


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Ueber  die  Aufnahme  der  Schüler  in  die  unterste 

Klasse  hdherer  Schulen. 

Von 

Karl  LÖtehhorn. 

Es  erscheint  beifallswert  und  ist  auch  von  der  6.  preussischen 
Direktoren-Konferenz  einstimmig  gebilligt,  dass  die  Schulaufsichts* 
behörden  das  vollendete  neunte  Lebensjahr  als  Normaljahr  für  den 
Eintritt  in  die  Sexta  ansehen.  Vorausgesetzt  wird  dabei  eine  ge* 
wisse  Geläufigkeit  im  Lesen  und  Schreiben  deutscher  und 
lateinischer  Druckschrift,  natürlich  auch  eine  vollständige  Ueber« 
Windung  der  mit  diesen  Lehrgegenständen  für  Kinder  anfänglich 
fast  stets  verbundenen  Schwierigkeitoi,  ferner  Fertigkeit,  Diktiertes 
ohne  grobe  orthographische  Fehler  nachzuschreiben,  und  Sicherheit 
in  den  vier  Grundredinungsartenr  früher  auch  einige  Vorkenntnisse 
in  der  Religion,  d.h.  Bekanntschaft  mit  den  unentbehrlichen  Ge- 
schichten des  alten  und  neuen  Testaments.  letztere  Bestimmung 
wird  in  der  Praxis  wohl  nirgends  mehr  ausgeführt,  abgesehen  da* 
von,  dass  der  Lehrer,  seitdem  der  Religionsunterricht  nicht  mehr 
obligatorisch  ist,  rechtlich  nicht  einmal  befugt  ist,  Kenntnisse 
in  der  biblischen  Geschichte  von  einem  in  Sexta  neueintretenden 
Schüler  zu  verlangen.  Dazu  kommt,  dass  wenigstens  in  allen 
Elementarschulen  die  biblische  Geschichte  thatsächlich  in  solcher 
Ausdehnung  getrieben  wird,  dass  eher  zu  viel  als  zu  wenig  gelernt 
wird,  und  die  Kenntnisse  jedes  aufzunehmenden  Sextaners,  der  von 
einer  solchen  Lehranstalt  kommt,  in  diesem  Gegenstande  umfang- 
reicher sind  als  sie  zu  sein  brauchen.  Ja,  es  kommt  oft  der  Fall 
vor,  dass  der  Neueintretende  schon  das  ganze  Pensum  der  Sexta 
und  Quinta  in  Religion  kennt,  ehe  er  nur  eine  Stunde  Religions- 
unterricht in  Sexta  einer  höheren  Schule  selbst  genossen  hat.  Es 
empfiehlt  sich  daher  diese  Forderung  ganz  fallen  zu  lassen. 
Schwieriger  ist  die  Sache  bei  der  Aufnahmeprüfung  im  Deutschen 
und  Rechnen,  zumal  die  Rezipienden  vielfach  eine  wesentlich  ver- 


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Die  Äu/nakme  der  SeJUUer  in       unlersU  Kiaue  höherer  Sehtäen,  293 

schiedene  Vorbereiumg  hinter  sich  haben.    Die  einen  kommen, 
was  freilich  jetzt  bei  dem  beabsichtigten  Eingehenlassen  aller  der- 
artigen Schulen  immer  seltener  wird,  von  einer  mit  einer  höheren 
Lehranstalt  verbundenen  Vorschule,  die  anderen  von  einer  Volks- 
schule, d.  h.  Dorf-,  Stadt-  oder  Bürgerschule,  deren  Lehrplan  in  den 
drei  nnteren  Klassen  ziemlich  übereinstimmt,  und  die  dritten  sind 
durch  Privat-Unterricht  vorgclaldet.    Schon  dieser  äussere  Um- 
stand ersciiwert  das  Urteii  über  die  Schüler  und  namentlich  die 
strenge    Durchtührung  der   Aufnahmebedingungen    sehr,  (nites 
und  ausdrucksvolles  Lesen  kann  nicht  verlangt  werden,  /nnial  in  der 
Dorfschule  vielfach  darauf  nicht  genug  geachtet  wird  und  dies  erst 
in  den  unteren  Klassen  der  höheren  Schulen  gelernt  werden  soll, 
dagegen  ist  jeder  Knabe  unnachsichtlich  zurückzuweisen,  der  nur 
mühsam  zu  lesen  imstande  ist.   Bei  den  Schwierigkeiten  der  neueren 
Orthographie  dürfte  es  sich  wohl  empfehlen,  wie  auch  schon  v.  Gru- 
ber, ,.l'e])er  die  veränderte  Stellung  und  Bedeutung  des  lateinischen 
Unterrichts   auf   Gymnasien."    Programm   des   Gymnasiums  zu 
Stralsund.  1864»    7  wollte,  vom  Schüler  die  Fertigkeit  zu  verlangen, 
ein  Diktat,  in  welchem  keine  ungewöhnlichen  Worte  vor- 
kommen, ohne  grobe  Fehler  nachzuschreiben,  von  ihm  auch  zur 
Erprobung  der  technischen  Fertigkeit  einige  Zeilen  Schönschrift 
zu  fordern,  natürlich  unter  Benutzung  von  Linien.  Als  Normal- 
alter  wird  das  neunte  Lebensjahr  betrachtet,  was  keineswegs  aus* 
schliesst,  dass  man  einen  befähigten  und  gut  vorgebildeten  Knaben 
bestimmt  auch  dann  in  Sexta  aufnehmen  wird,  wenn  er  erst  im 
Laufe  des  Schuljahrs,  am  gewöhnlichsten  wohl  im  Laufe  des  ersten 
Vierteljahrs  desselben,  das  neunte  Lebensjahr  vollendet.  Hierauf 
gehen  die  in  dem  Ministerial-Erlass  vom  30.  Juni  1876  stehenden 
Worte :  „in  der  Regel*\  Kinder  von  normaler  geistiger  und  körper- 
licher Entwickelung  können  ruhig,  ohne  sich  zu  sehr  anzustrengen, 
ihre  Schulzeit  mit  sechs  Jahren  b^innen»  indem  sie  in  diesem  Alter, 
wie  schon  Hirzel  in  Schmids  Encyklopadie  des  gesamten  Er« 
ziehungs-  und  Unterrichswesens  I,  S.  307  mit  Recht  hervorhebt, 
so  viel  Wissbegierde,  Beschaftigungstrieb,  Phantasie  und  Form- 
sinn, endlich  eine  solche  Empfänglichkeit  des  Gedächtnisses  zeigen, 
dass  der  gelinde  Anfang  einer  ernsteren  Beschäftigung,  einer  etwas 
anhaltenden  Spannung  der  Aufmerksamkeit,  einer  unbewusst 
waltenden  Geisteszucht  naturgemäss  zu  sein  scheint. 

Nach  vollendetem  fünften  Jahre,  ja  zuweilen  noch  früher 
pflegen    Kinder,   auch   wenn   sie,   wie   es   naturgemäss  ist. 


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294 


gern  spielen,  mit  X'orlicbc  siundcjilang  auf  der  Rcclua- 
latel  zu  kritzeln.  Zahlen  und  Buchstaben,  die  man  ihnen 
vorschreibt,  nachzumalen  und  kleine  Rechenaufgaben  im  Kopfe 
zu  lösen,  weshalb  es  nicht  angezeif^t  erscheint,  wie  manche 
Pädagogen  vor'=rhlagen.  das  zurückgelegte  siebente  Lebensjahr  als 
das  Normaljahr  für  den  Eintritt  in  die  Volks-  oder  Vorschule  einer 
höheren  Lehranstalt  anzusehen,  atu  allerwenigsten  mit  der  >chon 
wiederholt  vorgebrachten  Begründung,  dass  zwei  in  einer  zwei- 
klassigen  Elementar-  oder  Vorschule  zugebrachte  Jahre  zur  Vor- 
bereitung für  Sexta  ausreichten.  h>st  steht  dagegen,  dass  selbst 
mir  massig  begabte  Schüler,  vorausgesetzt,  dass  sie  sich  allmalilich 
und  sicher  fortschreitend  entwickeln,  ohne  grosse  Anstrengungen, 
namentlich  ohne  irgendwie  mit  vielen  häuslichen  Arl)eiten  ultcr- 
häuft  zu  werden,  die  zur  Aufnahme  in  die  Sexta  erforderlichen 
Kenntnisse  erlangen.  An  Zeugnissen  wird  man  bei  der  Anmeldung 
von  jedem  in  Sexta  Neuaufzunelimenden  nichts  weiter  als  einen 
Impfschein,  einen  T^uf-  bezw.  Geburtsschein  und  ein  Zeugnis,  am 
liebsten  ein  Abgangszeugnis  von  der  von  ihmbisher  besuchten  Schule 
oder  dem  Privatlehrer,  dessen  Unterricht  er  zuletzt  genossen,  vcr* 
langen,  zumal  die  Ausführung  der  Ministerial-Verfügung  vom 
30.  Juni  1876«  wonach  die  Vorlegung  eines  ordnungsmässigen  Ab- 
gangszeugnisses der  entlassenden  Schule  gefordert  wird,  in  der 
Praxis  nicht  selten  auf  grosse  Schwierigkeiten  stösst.  Bekanntlich 
sind  die  von  Volks-,  besonders  Dorfschulen  ausgestellten  Abgangs- 
zeugnisse fast  immer  so  inhaltsleer,  dass  man  in  ihnen  nur  sehr 
selten  eine  genaue  Charakteristik  des  Schülers  findet^  ja  Volks- 
schulen sind  zur  Ausstellung  eines  Abgangszeugnisses  nicht  einmal 
unbedingt  verpflichtet.  Die  von  einzelnen  Privadehrem,  nament- 
lich Kandidaten  der  Theologie  oder  Geistlichen,  ausgestellten  Zeug- 
nisse brauchen,  seitdem  das  Privatschul-  und  Privaterziehungs- 
wesen  der  staatlichen  Beaufsichtigung  unterstellt  ist,  nicht  mehr 
mit  demselben  Misstrauen  angesehen  werden,  wie  ehedem ;  jeden- 
falls enthalten  sie  oft  eine  genauere  Beurteilung  des  SchfUers,  als 
man  sie  von  einer  Volksschule  erlangen  kann.  Was  die  Ministerial- 
Verffigung  vom  30.  Juni  1876  betrifft,  welche  dem  Direktor  das 
Recht  zugesteht,  einem  Schaler,  dessen  Abgangszeugnis  einen  er- 
heblichen Tadel  ausspricht,  die. Aufnahme  zu  versagen,  so  wiid 
man  sie  wohl  nur  in  ganz  besonderen  Ausnahmefällen  anwenden 
können,  zumal  selbst  Verwiesene  oft  noch  sehr  besserungsfähig  sind 
und  sich  spater  thatsachlich  oft  bedeutend  gebessert  haben.  Gnt 


.  Kj       by  Google 


Die  Aufnahme  der  Üchüler  in  die  unterste  Klasse  höherer  Schulen,  29S 


wird  man  dagegen  Ihun.  im  geschil<1erten  Falle  ^tet.s  Erkundigungen 
einzuziehen  und  den  Schüler,  dessen  Abgangszeugnis  einen  erheb- 
lichen Tadel  enthält,  vorerst  nur  bedingungsweise  aufnehmen,  d.  h. 
seinem  Vater  oder  Vormund  eröffnen,  dass  Rückfall  in  den  alten 
Fehler  den  sofortigen  Ausschluss  des  Schülers  zur  Folge  haben 
würde.  An  zahlreichen,  in  kleineren  Orten  gelegenen  Anstalten  ist 
es  Sitte,  dem  Vater  oder  Vormund  des  Neuaufzimchmenden  eine 
von  der  Aufsichtsbehörde  genehmigte  Schulordnung  einzuhändigen 
und  von  ihm  die  Unterschrift  eines  auf  der  letzten  Seite  derselben 
abgedruckten  Formulars,  wodurch  er  die  Verbindlichkeit  der  Schul- 
ordnung für  seinen  Sohn  oder  Mündel  anerkennt,  ausdrücklich  zu 
fordern.  Diese  von  der  sechszehnten  westfälischen  Direktoren- 
Konferenz  (Erler,  Verhandl.  S.  79,  80)  gebilligte  Anschauung  hat 
viel  für  sich,  vorausgesetzt  allerdings»  dass  sie  nicht  als  rein 
juristisches  Kontraktsverhältnis,  sondern  vielmehr  als  Ausdruck 
eines  gewissen  Vertrauensverhältnisses  aufgefasst  wird.  Anderen- 
falls wäre  sie  verwerflich. 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder« 


Vortrag, 

(gehalten  imVerctnfürKinderpsychologiezuBerlin 

am  I.  Februar  1901. 

Von 

Leo  HirsehlAff. 

Meine  Damen  und  Herren! 

Wenn  das  Studium  der  kosmischen  Phaenomene,  die  Er- 
forsdiung  des  künstlerisch  vollendeten  Aufbaues  des  Weltalls  unsere 
Seele  mit  Bewunderung  und  Ehrfurcht  erfüllt  und  geeignet  er« 
scheint,  jenes  geheime  Bedürfnis  unseres  Herzens  zu  stillen,  das 
uns  antreibt,  uns  als  Glieder  eines  atiumfassenden  Ganzen  zu  fühlen, 
so  liegt  der  Reiz  der  Beschäftigung  mit  den  psychischen  Er< 
scheinungen  vielmehr  in  der  Möglichkeit,  in  das  Getriebe  der 
erforschten  und  ^kannten  Faktoren  absichtlich  und  werkthatig 
einzugreifen  und  es  nach  den  Forderungen  der  normativen  Wissen- 
schaften umgestaltend  zu  veredeln.  Von  jeher  galten  die  Ge- 
mütsbewegimpen,  die  Affekte,  die  Leidenschaften  als  derjenige 
Teil  des  Seelenlebens,  auf  den  sich  eine  solche  Korrektion  des 
natürlichen  Geschehens  vornehmlich  zu  richten  habe.  Hatten 
doch  schon  die  alten  Stoiker  das  Ideal  der  djra9^Fta  ausgebildet, 
des  Erhabenseins  über  die  Leidenschaften  der  Seele,  das  allein  die 
sittliche  Freiheit  des  Menschen  bedingt.  Freilich,  in  der  moderiK-n 
Wissenschaft  ist  von  einer  solchen  Bekämpfung  der  Leidenschaften 
wenig  zu  finden.  Die  Bcsclireibnnp:  derselben  und  die  Analyse 
ihres  Wesens  und  Entstehens  tiimmt  einen  breiten  Rauni  ein  auch 
innerhalb  der  modernen  Wissenschaft  und  bildet  eines  der  inter- 
essantesten und  meistbesprochenen  Probleme.  Aber  darüber  hinaus 
reicht  es  selten.  Tout  comf)rendre,  c'est  tout  pardonner,  scheint 
die  unverbrüchliche  Losung  der  modernen  Psychologie  zu  sein, 
soweit  sie  der  Pacdagogik,  der  Ethik,  den  forensischen  Wissen- 


^ed  by  CjOOQie 


Ueber  die  gitrcht  der  Kinder. 


297 


Schäften  zu  Grunde  gelegt  wird.  Nichts  ist  verkehrter  und  un- 
heilvoller als  dieser  Standpunkt.  Sei  es,  dass  er  veranlasst  worden 
durch  die  vielfach  verteidigte  Lehre  von  der  Konstanz  des 
Charakters,  oder  durch  das  unglückselige  Dogma  der  Vererbung 
und  unaufhaltsamen  Degeneration,  sei  es  durch  die  naiv 
mechanistische  und  deterministische  Richtung  unseres  Denkens, 
die  der  momentanen  Ueberschätzung  der  exakten  Naturwissen- 
schaften, insbesondere  der  Entwicklungstheorie  zu  danken  ist,  — 
wir  müssen  alles  aufbieten,  um  diesem  verhängnisvollen  Irrtum 
mit  aller  Macht  entgegenzutreten.  Der  Erkenntnis  des  thatsäch- 
liehen  Geschehens  soll  die  Fruchtbarmachung  der  gefundenen  Ge- 
setze  auf  dem  Fusse  folgen;  die  Kinderpsychologie  im  weitesten 
Umfange  des  Wortes  soll  die  Fundgrube  weiden  ffir  den  Aufbau 
einer  wissenschaftlichen  biologischen  Paedagogik. 

Wenden  wir  diesen  Gesichtspunkt  auf  die  Lehre  von  der 
Furcht  der  Kinder  an,  so  werden  wir  von  vornherein  Stellung 
nehmen  müssen  gegen  die  vielfach  verbreitete  Auffassung,  als  sei 
die  Furcht  der  Kinder  ein  fatales  Erbteil  der  Seele«  das  der\inbe- 
wussten  Erinnerung  an  das  gefahrenreiche  Leben  unserer  Alt- 
vorderen  entspringt.  Wir  werden  vielmehr  zeigen  können,  dass 
es  sich  um  eine  fundamentale,  äusserst  wertvolle  und  zweckmässige 
Reaktion  des  Seelenlebens  handelt,  deren  Uebertreibung  lediglich 
krankhafte  Erscheinungen  hervorzurufen  vermag. 

Zu  diesem  Zwecke  freilich  müssen  wir  weit  ausholen.  Wir 
müssen  uns  die  Frage  vorlegen,  mit  welchen  Methoden  es  gelingen 
mag,  die  Gemütsbewegungen  der  Menschen  wissenschaftlich  zu 
erforschen.  Wir  müssen  eine  Definition  der  Furcht  versuchen, 
ihre  Grade  und  Arten,  ihre  Gegenstände  und  die  Möglichkeit  ihres 
Auftretens,  ihre  Beziehungen  zur  Konstitution,  zum  Lebensalter 
und  zum  Geschlecht,  ihre  Folgeerscheinungen  und  endlich  ihre 
Entstehungsbedingungen  untersuchen.  Erst  dann  werden  wir  in 
der  Lage  sein,  das  Wesen  der  Furcht  richtig  erfassen,  ihre  Ver- 
hütung anstreben  und  ihre  paedagogische,  ethische  und  soziale 
Bedeutung  richtig  würdigen  zu  können. 

Die  Methode  der  Erforschung  der  Gemütsbewegungen  kann 
entweder  eine  physiologische  oder  eine  psychologische  sein.  In 
physiologischer  Beziehung  wird  man  untersuchen  müssen,  welche 
Veränderungen  die  Atmung,  die  Herzthätigkeit,  die  Pulskurve,  die 
motorische  Kraft  und  die  Blutfülle  der  verschiedenen  Organe  unter 
dem  Eindrucke  der  Gemütsbewegungen  erleidet.   Sind  doch  diese 


298 


Veränderungen  die  charakteristischen  Begleiterscheinungen  der 
Affekte»  wenn  sie  auch  keineswegs  ihr  eigentliches,  innerstes  Wesen 
darstellen.  Auf  diesem  Wege  ist  besonders  Mosso  vorgegangen, 
dem  wir  auch  direkte  Untersuchungen  am  lebenden  Gehirn  hei 
Personen  mit  Schädeldefekten  verdanken.  Hier  erhebt  sich  frei- 
lich eine  Schwierigkeit,  die  die  Hervorrufung  der  Affekte  betrifft. 
Was  man  an  Tieren  in  dieser  Beziehung:  durch  brüske  Bewegungen 
oder  durch  Abfeuern  eines  Flintetischusses  oder  V^orhalten  von 
Nahrung  und  dergl.  erreicht,  ist  doch  wohl  zu  primitiv,  nm  eine 
allgemeingültige  Uebertragung  auf  das  komplizierte  Seelenleben 
des  Menschen  zuzulassen.  Dieser  Schwierigkeit  hat  Vogt  dadurch 
zu  begegnen  versucht,  dass  er  die  Gemütsbewegungen  durch  ent- 
sfirechende  Suggestionen  in  einem  hypnotischen  Zustande  der 
Versuchspersonen  hervorzurufen  und  zu  untersuchen  unternahm. 
Diese  Lösung  des  Problemes  wäre  immerhin  annehmbar,  wenn 
nicht  die  durch  Suggestion  hervorgerufenen  Gemütsbewegungen 
der  Hypnotisierten,  wie  ich  aus  vielfacher  eigener  Erfahrung  be- 
haupten muss,  gar  zu  sehr  Zerrbilder  und  schauspielerische  Nach- 
ahmungen der  vrahren  Ereignisse  wären.  Wenn  aber  Vogt  vollends 
versucht»  auf  objektivem  Wege  Gemütsstimmungen  hervorzurufen, 
indem  er  seinen  Versuchspersonen  tönende  Stimmgabeln  von 
wechselnder  Höhe  vorhält,  oder  ihnen  Salz-  oder  Zucker-Losungen 
zu  schmecken  giebt,  indem  er  gesetzmässige  und  allgemein  gültige 
Beziehungen  zwischen  diesen  einfachsten  Empfindungen  und  den 
Gemütsstimmungen  statuiert,  so  vermögen  wir  ihm  auf  dieses  Ge- 
biet nicht  zu  folgen,  weil  wir  seine  Grundvoraussetzungen  nicht 
billigen  können. 

In  psychologischer  Hinsicht  bieten  sich  zwei  Methoden  zur  Er- 
forschung der  Gemütsbewegungen  dar:  die  Methode  der  Frage- 
bogen und  die  souveräne  Methode  der  Psychologie»  die  Methode 
der  Selbstbeobachtung  und  Reflexion.  Die  Methode  der  Frage- 
bogen ist  in  neuerer  Zeit  auf  das  Problem  der  Furcht  von  Binet 
und  Stanley  Hall  angewandt  worden.  Wir  werden  von  den  Re- 
sultaten dieser  Forscher,  die  sich  freilich  weder  durch  Exaktheit 
noch  durch  Ausgiebigkeit  vor  der  einfachen  Beobachtung  aus- 
zeichnen, unten  Notiz  zu  nehmen  haben.  Um  Ihnen  einen  konkreten 
Begriff  von  der  in  Frankreich  und  Amerika  jetzt  sehr  beliebten 
Methode  zu  geben,  will  ich  Ihnen  den  Fragebogen  Binet?  kurz 
schildern.  Er  cnrliili  folgende  Fragen;  i.  Unter  welcher  Form 
und  unter  weichen  Umständen  haben  Sie  das  Gciuhi  der  Furcht 


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Ueö<r  äü  Jsurcht  der  Kinder. 


299 


bei  einigen  Ihrer  Zöglinge  beobachtet?  2.  Welches  sind  die 
physischen  Zeichen  der  Furcht,  die  Sie  bemerkt  haben?  3.  Wie 
ist  das  Verhältnis  der  furchtsamen  Kinder  zu  den  lucht-furcht- 
^men?  4.  Wie  sind  die  gesundheitUchen  Verhältnisse  derselben 
(körperliche  Entwicklung,  Gewicht,  Muskelkraft,  Alter,  Geschlecht)? 
5.  Wie  ist  ihre  Intelligenz  beschaffen  ?  6.  Wie  ist  ihr  Charakter  be- 
schaffen? 7.  Unter  welchem  Einfluss  entwickelt  sich  das  Gefühl 
<ler  Furcht  bei  den  Kindern  ?  Durch  die  Eltern,  durch  ansteckendes 
Beispiel»  schreckliche  Erzählungen  etc.  ?  Welches  ist  der  Einfiuss 
<!  -  Alters,  der  religiösen  Erziehung,  der  Umgebung  (Stadt  und 
Land)?  8.  Kann  man  ein  furchtsames  Kind  heilen  und  wie  ist  es 
zu  behandeln?  —  Dieser  Fragebogen  wurde  an  250  geeignete 
Personen,  meist  Anstaltslehrer,  Seminardirektoren  u.  s.  f.  ver- 
sendet; HO  Fragebogen  wurden  vollständig  und  in  brauchbarer 
Weise  beantwortet  und  bilden  die  Grundlage  einer  Analyse  der 
kindlichen  Furcht,  die  Binet  im  2.  Bande  der  Ann^e  psychologique 
unternimmt.  Ein  anderer»  viel  ausführlicherer  und  detaillierterer 
Fragebogen,  der  zu  einer  Serie  von  Enqueten  gehört,  mit  deren 
Hülfe  in  Amerika  sämtliche  Probleme  der  Psychologie,  gewisser- 
massen  in  kondensierter  Form»  gelöst  werden  sollen»  wurde  von 
Stanley  Hall  an  Eitern,  Lehrer»  Schulvorsteher  und  dergl  ver* 
sendet;  die  eingelaufenen  Antworten,  die  das  Material  von  1701 
Personen,  meist  unter  23  Jahren,  enthalten,  wurden  von  Hall  zu 
einer  umfangreichen  Studie  über  die  Furcht  im  8.  Bande  des 
American  Journal  of  Psychology»  leider  in  wenig  wissenschaftlicher 
Weise  verarbeitet.  Ein  dritter  Fragebogen  endlich»  der  der  gleichen 
Serie  angehört,  der  sich  aber  nur  zum  Teil  auf  das  Problem  der 
Furcht,  und  zwar  auf  die  Furcht  vor  Krankheiten  und  vor  dem 
Tode  bezieht»  diente  Colin  A.  Scott  als  Grundlage  einer  Arbeit» 
die  auf  der  Analyse  von  129  Fällen  basiert.  Obwohl  aber»  wie  Sie 
sehen,  die  statistische  Methode  auf  diese  Weise  ein  äusserst  um- 
fangreiches Material  zu  stände  bringt»  so  ist  doch  der  Wert  dieses 
Materiales  ein  recht  geringer;  beruht  doch  im  letzten  Grunde 
jede  Aussage  der  beteiligten  Personen  lediglich  auf  derselben  Quelle 
der  Selbstbeobachtung  und  Reflexion,  die  von  jeher  als  die  eigent- 
liche Quelle  der  psychologischen  Forschung  gegolten  hat.  Die 
grossen  Zahlen  erwecken  in  uns  nur  die  Illusion  der  Exaktheit; 
in  Wirklichkeit  ist  eine  gute  Beobachtung,  von  einem  zuver- 
lässigen und  geübten  Beobachter  stammend»  mehr  wert  als 
1000  weniger  sorgfältige  Aussagen. 


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300 


Leo  Hinchla^. 


Bevor  wir  aber  auf  die  Ergebnisse  dieser  und  einiger  auucreii. 
unten  zu  erwähnenden  Forschungen  eingelien,  müssen  wir  einen 
Augenblick  bei  der  Definition  der  Furcht  verweilen.    Ein  Altckt 
oder  eine  Gemütsbewegung  ist  nach  der  grundlegenden  Definition 
Stumpfs  ,,ein  passiver  Gefuhlszustand,  der  sich  auf  einen  beurteilten 
Sachverhalt  bezieht'" ;  passiv  in  dem  Sinne,  dass  er  sich  auf  etwas 
Seiendes,  Gewesenes  oder  Künftiges,  nicht  aber  auf  etwas  Sein- 
soUendes  bezieht.   Wesentlich  in  dieser  Definition  ist  die  Betonung 
eines  intellektuellen  Momentes  als  Teilerscheinung  jeder  wirklichen 
Gemütsbewegung,  insofern  in  den  komplexen  Zustand,  den  wir  als 
Gemütsbewegung  bezeichnen,   nicht    nur  Gefühle,  sondern  vor 
allem  X'orsiellungen  iind  Urteile  als  wesentliche  Faktoren  ein* 
gehen.   Die  moderne  Lehre  der  Sensualisten,  wie  sie  von  James» 
Lange,  Ribot,  Spencer,  Bain  u.  v.  a.  vertreten  wird,  hat  diesen 
Anteil  der  intellektuellen  Vorgänge  an  den  Gemütsbewegiiiigen 
geleugnet,  und  die  Affekte  als  das  Rewusstwerden  der  körperlichen, 
vasomotorischen  und  muskulären,  Veränderungen  definiert,  die 
wahrend  einer  Gemütsbewegung  in  uns  vorgehen.   Diese  Behaup* 
tung  hat  sonderbarer  Weise  so  zahlreiche  Anhänger  und  so  wenige 
Gegner  gefunden,  dass  es  notwendig  erscheint,  sich  etwas  ein- 
gehender mit  ihr  zu  beschäftigen.  Zwei  Behauptungen  sind  es.  die 
der  sensualistischen  Lehre  von  den  Affekten  zu  Grunde  hegen: 
I.  das  eigentliche  Wesen  des  Affekts  ruht  in  den  körperlichen  Ge- 
meingefühlen, wie  den  Veränderungen  der  Atmung,  des  Herz- 
schlages, der  Blutverteilung,  der  Darmbewegungen,  Muskelem- 
pfindungen  etc.,  die  die  ältere  Lehre  ledi^ich  als  Folgeerscheinungen 
und  Ausdrucksformen  des  Affektes  auffasste;  2.  die  genannten 
körperlichen  Veränderungen  gehen  dem  Affekt  auch  zeitlich  voraus, 
so  dass  wir  nicht  sagen  dürfen:  wir  weinen,  weil  wir  traurig  sind, 
sondern  vielmehr,  wir  sind  traurig,  weil  wir  weinen;  nicht,  wir 
haben  Herzklopfen,  weil  wir  uns  freuen,  sondern,  wir  freuen  uns, 
weil  wir  Herzklopfen  haben;  nicht,  wir  zittern  und  erbeben,  weil 
wir  uns  fürchten,  sondern  vielmehr  wir  fürchten  uns,  weil  wir  er- 
beben und  zittern.  So  paradox  diese  Behauptungen  erscheinen,  so 
enthalten  sie  doch  einen  wahren  Kern.  Gevfiss  spielen  die  körper- 
lichen Veränderungen,  die  unser  Organismus  während  einer  Ge- 
mütsbewegung erleidet,  eine  grosse  und  wichtige  Rolle;  aber  das 
Wesen  des  Affektes  wird  dadurch  keineswegs  erschöpft,  ebenso- 
wenig, wie  ein  Bild  von  Rubens  als  eine  Summe  von  Farbenklecksen 
oder  eine  Beethovensche  Symphonie  als  ein  Gewirr  von  Schall- 


.  Kj       by  Google 


tUUr  du  Furcht  der  Kmdtr^ 


301 


wellen  erschöpfend  definiert  werden  kann.    Ein  voll  ausgebildeter 
Affekt  enthalt,  wie  wir  auch  bei  der  Furcht  sehen  werden,  stets 
Vorstellungen  und  Urteile  als  wesentlichen  Bestandteil;  nur  bei 
den  sog.  instinktiven  Affekten  der  Kinder  und  Tiere,  die  aber 
auch  deshalb  psychologisch  ganz  anders  zu  werten  sind,  als  die 
Gemütsbewegungen  der  Erwachsenen,  tritt  das  intellektuelle  Mo- 
ment teilweise  in  den  Hintergrund.   Die  zweite  Behauptung  der 
James-Langeschen  Theorie  bezieht  sich  auf  die  chronologische 
Reihenlolge  der  Faktoren,  die  eine  Gemütsbewegung  ausmachen. 
Halten  wir  uns  an  ein  Beispiel,  das  uns  weiter  unten  noch  aus- 
führlicher beschäftigen  wird.   Bei  der  Errötungsangst,  einem  der 
qualvollsten  krankhaften  Zustande,  tritt  wie  Pitres  und  Regis  be- 
haupten, zuerst  eine  Gefässerweiterung,  und  sodann  erst  die  Idee 
des  Errötens  auf.   Pitres  und  Regis  fähren  für  diese  Behauptung 
zwei  Beweise  ins  Feld:  t.  soll  beim  plötzlichen  Auftreten  der  Krise 
infolge  eines  unerwarteten  Eindrucks  erst  die  Vasomotorischen  und 
die  Herzerscheinungen,  dann  erst  der  Gedanke  des  Errötens  ein- 
treten; 2,  könne  der  Kranke,  wenn  die  atmosphärischen  Verhält- 
nisse,  z.  B.  wie  bei  der  Kälte,  dem  Erröten  zuwider  sind,  an  das 
Erröten  denken,  soviel  er  wolle,  ohne  dass  es  in  Wirklichkeit  ein- 
tritt; ein  Beweis,  dass  der  Gedanke  allein  nicht  genüge,  um  das 
Erröten  hervorzurufen.  Beide  Beweisgründe  sind  nicht  stichhaltig. 
Beim  plötzlichen  Erschrecken  tritt  zweifellos  zuerst  ein  Zusammen« 
fahren  und  eine  Veränderung  der  Herz-  und  Gefassnerven-Aktion 
ein,  bevor  eine  Vorstellung  zum  Bewusstsein  gelangt;  indessen 
handelt  es  sich  hier  um  eine  rein  physische  Reaktion,  nicht  um 
einen  Affekt.  Zum  Affekt  wird  dieser  Vorgang  erst  dadurch,  dass 
zu  der  physischen  Veränderung  der  Gedanke  des  Errötens  hinzu- 
tritt und  nunmehr  ein  Bestehenbleiben  oder  sogar  eine  Ver- 
stärkung der  vasomotorischen  Erscheinungen  hervorruft.  Aber 
auch  der  zweite  Beweisgrund  ist  hin31Ug,  der  auf  der  Unfähigkeit 
der  Idee  beruht,  das  Erröten  zu  produrieren,  wenn  die  atmo- 
sphärischen Bedingungen  nicht  gegeben  sind.    Denn  dass  die 
Idee  an  und  für  sich  nicht  das  Wesen  des  Affektes  darstellt,  sondern 
nur  im  Verein  mit  dem  Gefühl  der  körperlichen  Veränderungen, 
ist  selbstverständlich  und  niemals  bestritten  worden;  sie  wird,  crst 
zum  Affekt,  wenn  ihre  Gefühlsresonanz  stark  genug  ist.  um  die 
charaktcriuischen  iniurtn  und  äusseren  Folgeerscheinungen  zu 
veranlassen.    Daher  sagt  die  Behauptung:  von  Pitres  und  Regis 
nichts  anderes,  als  dass  der  Affekt  nur  emirctc,  wenn  bestimmte 


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Lea  Hirschlaff. 


äussere  Bedingungen  gegeben  sind,  was  freilich  nicht  bcainllen 
zu  werden  braucht.  Mit  anderen  Worten:  wir  bleiben  bei  der 
älteren  Auffassung  stehen,  wonach  der  Affekt  die  Ursache  der 
Ausdrucksbewej^ungen  und  nicht  ihre  Folge  ist.  Aber  wir  müssen 
andererseits  unumwunden  zugestehen,  dass  die  Ausdrucksbe- 
wegungen entschieden  geeignet  sind,  dem  Affekte  erst  seine 
charakteristische  Färbung,  Intensität  und  Dauer  zu  verleihen,  in- 
dem sie  auf  das  ursprüngliche  Gefühl  wie  in  einem  Kreisprozesse 
zurückwirken  und  es  zu  seinem  vollen  Umfange  ausgestalten.  Unter 
den  neueren  Autoren  hat  ausser  Stumpf  auch  Soury  diesen  Stand- 
punkt in  lichtvoller  Weise  vertreten. 

Versuchen  wir  nunmehr,  die  Furcht  selbst  zu  definieren.  Nach 
den  übereinstimmenden  Erklärungen  der  Autoren  von  Aristoteles 
an  bis  auf  die  neueste  Zeit  verstehen  wir  unter  Furcht  ein  Unlust- 
gefühl,  welches  sich  gründet  auf  die  Erwartung  einer  drohenden 
Gefahr.  Wir  unterscheiden  also,  konform  der  oben  gegebenen 
Definition  der  Gemütsbewegungen,  auch  hier  einen  körperlichen 
Faktor,  das  Unlustgefühl.  welches  bei  bestimmter  Intensität  zu 
charakteristischen  Ausdrucksbewegungen  Veranlassung  giebt ;  und 
einen  primären,  seelischen  oder  intellektuellen  Faktor,  die  Vor* 
Stellung  einer  bevorstehenden  Schädigung.  Zu  tmterschciden  von 
diesem  Affekt  sind  einerseits  der  Schrecken,  andererseits  die  Furcht* 
samkeit.  die  Schreckhaftigkeit  und  der  Abscheu.  Unter  Schrecken, 
Entsetzen  etc.  verstehen  wir  nicht,  wie  Kant  sagt,  eine  plötzlich 
erregte  Furcht,  sondern  vielmehr  eine  physische  Reaktion,  ein  Zu- 
sammenfahren,  eme  Bestürzung  oder  Betäubung  über  einen  plötz- 
lichen, unerwarteten,  meist  starken  und  unangenehmen  Eindruck; 
es  fehlt  also  dem  Schrecken  das  für  die  Furcht  charakteristische 
intellektuelle  Moment  des  Voraussehens  der  Gefahr.  Unter 
Furchtsamkeit  verstehen  wir  eine  dauernde  Gemütsverfassung,  die 
den  Träger  zur  Furcht  geneigt  macht ;  unter  Schreckhaftigkeit  da- 
gegen eine  Eigenschaft  der  körperlichen  Konstitution,  die  zum 
häufigen  Erschrecken  disponiert.  Endlich  haben  wir  noch  des  Ab- 
scheus  als  einer  verwandten  Erscheinung  zu  gedenken.  W^r  be- 
zeichnen damit  ein  mit  einem  Unlustgefühl  verknüpftes  Abwehr- 
streben, welches  entweder  instinktiv,  oder  bewusst  auf  ein  bestehen- 
des oder  drohendes  Unlustgefühl  gerichtet  ist.  Auch  hier  feUt 
demnach  das  intdlektuelle  Moment  entweder  gänzlich,  oder,  wenn 
es  vorhanden  ist,  so  unterscheidet  es  si^h  qualitativ  durch  die  Ab- 
wesenheit des  Gedankens  an  die  Gefahr  als  einer  drohenden 


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Utixr  du  FufdU  der  Kmder, 


303 


Schädigung  des  Individuums.  Diese  Definitionen  werden  ihre  Be- 
deutung erweisen»  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  sog.  Furcht  der 
Kinder  im  ersten  Lebensjahre  zu  untersuchen;  leider  versäumen 
es  die  meisten  Schriftsteller,  die  Begriffe,  mit  denen  sie  operieren, 
genügend  schar!  zu  praezisieren. 

Wir  kommen  zu  den  verschiedenen  Graden  der  Furcht.  Je 
nach  der  Intensität  der  Furcht,  aber  nicht  etwa  nach  der  Intensität 
der  gefürchteten  Unlust  unterscheiden  wir  als  leichteste  Grade  der 
Furcht  die  Besorgnis  und  das  Bangen,  als  höhere  Grade  die 
Angst  und  das  Grauen ;  in  moralischer  Beziehung  auch  die  Scham. 
In  das  Gebiet  der  Furchtsamkeit  gehören  die  Bangigkeit,  Be- 
klommenheit, Aengstlichkeit,  Blödigkeit  und  Schfichternheit,  sowie 
4ie  moralische  Schamhaftigkeit  und  die  Feigheit.  In  das  Gebiet 
des  Schreckens  gehören  Verwirrung,  Bestürzung,  Betäubung,  Ent- 
setzen, Schauer  und  Schauder,  Grausen  und  Verzweiflung.  Die 
Schreckhaftigkeit  endlich  ist  eine  Unterart  der  allgemeinen  Em- 
pfindlichkeit ;  der  höchste  Grad  des  Absehens  wird  als  Ekel  be- 
zeichnet, während  die  geringeren  Grade  unter  dem  Namen  der  Ab* 
netgung  geläufig  sind.  Alle  diese  Definitionen  freilich  werden 
von  dem  Sprachgebrauche  und  von  den  Schriftstellern  nicht  so 
scharf  innegehalten,  als  es  im  Interesse  der  Verständigung  er- 
wünscht wäre. 

Nachdem  wir  die  Grade  der  Furcht  besprochen,  müssen  wir 
ihre  Arten  und  Formen  kennen  lernen.  Aristoteles  sagt,  indem  er 
über  die  Tapferkeit  spricht,  die  nadi  ihm  ein  Mittleres  zwischen 
der  Furcht  und  der  Vergangenheit  ist :  „Man  fürchtet  zwar  jedwedes 
Uebel,  wie  z.  B.  die  Schande,  die  Armut,  die  Krankheit,  den  Mangel 
an  Freunden,  den  Tod;  allein  die  Tapferkeit  bezieht  sich  nicht 
auf  all  diese  Uebel;  denn  einiges  davon  soll  man  fürchten;  hier 
ist  das  Fürchten  schön  und  das  Nicht-Fürchten  schlecht,  z.  B.  bei 
der  Schande.  Wer  diese  fürchtet,  ist  sittlich  und  schamhaft;  wer 
sie  nicht  fürchtet,  unverschämt.  Auch  ist  derjenige  nicht  feige, 
welcher  die  Misahandlung  seiner  Kinder  oder  seiner  Frau  oder 
den  Neid  oder  ähnliches  fürchtet.  Auch  der  Tapfere  wird  das 
Fürchterliche  so  fürchten,  wie  es  sich  gehört  und  wie  es  die  Ver- 
nunft ertragen  kann.  Gefehlt  wird  hierbei  dann,  \venn  man  da  sich 
furchtet.  \vü  man  es  nicht  soll,  oder  nicht  so,  wie  man  es  soll,  nicht 
dann,  wann  man  es  soll  oder  in  sonst  einer  Weise  nicht,  wie  es  sein 
soll".  Wir  haben  ciminncii  einen  Unterschied  zu  machen  zwischen 
<ier  noiiii.iicii  iiivl  der  krani<iiaftcn  I'^ircht,  zwischen  der  physischen 

Zeitscluift  für  pädagogiKhc  P»ycbolosie  und  Pathologie.  4 


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304 


Za»  Hiisckiaß. 


uiul  iler  moralischen  Furcht.  Die  normale  Furcht,  die  der  Franzose 
als  crainte  bezeichnet,  ist,  nach  ßinct  der  Gefahr  angemessen  und 
niitzlich.  da  sie  die  Gefahr  vermeiden  oder  beseitigen  lehrt.  Die 
krankhafte  F;ircht.  i)ciir,  ist  daj^cj^'en  der  Gefahr  unangeme>.sen, 
indem  die  (jefahr  entweder  nur  in  der  Einbildung^  besteht  oder  so 
unwahrscheinlich  ist,  dass  es  th«")richt  ist,  mit  ihr  zu  rechnen:  sie 
beraubt  den  Träger  der  Geistesgegenwart  und  Irr  \'f  rteidigungs- 
mittcl.  In  Bezug  auf  die  sittliche  Wertung  der  i  urchi  müssen  wir 
die  niederen  von  den  höheren  und  feineren  l^irmen  unterscheiden. 
Zu  den  letzteren  gehören  die  Ftirclu  vor  (iott,  vor  Schande,  vor 
Unwissenheit,  vor  Misserfolg  in  den  iiDchsten  Lebensidealen  u.  s.  f. 
\on  diesem  allgemeinen  Gesic1its])unkte  betrachtet,  ist  die  Furcht 
eine  der  wesentlichsten  und  fundamentalsten  Eigenschaften  der 
menschlichen  Seele ;  es  giebt  niemanden  ohne  Furcht,  und  es  soll 
nieniandin  ohne  P'urcht  gel)en.  Em  feiner  Unterschied  muss 
hier  noch  angemerkt  werden:  man  trenne  die  h'urcht  vor  dem 
Unsittiiclien  und  die  Scheu  vor  dem  Unsittlichen.  Man  kann  das 
sittlich  Schlechte  meiden  aus  Scheu  vor  dem  Unsittlichen,  indem 
man  letzteres  in  sich  als  böse  und  unrecht  und  unwürdig  eraciitet 
und  deshalb  von  sich  weist  :  matr  kann  es  aber  auch  meiden  aus 
Furcht  vor  dem  Unsittlichen,  weil  man  tlie  üblen  Folgen  fürchtet, 
die  (las  P.i«se  für  uns  herbeizuführen  vermag.  Wenn  die  Scheti 
vor  dem  Sclücchten  das  wünschenswertere  Motiv  unserer  Hand- 
lungen ist,  so  mag  die  Furcht  vor  dem  Schlechten  im  praktischen 
Lehen  das  häufigere  sein.  Wir  werden  es  im  folgenden  haupt- 
.siichlich  mit  den  niederen,  physischen  und  zumeist  mit  den  krank- 
haften I'^iruica  der  Furcht  zu  tlnui  hal)en  :  wir  werden  jedoch  nicht 
versäumen,  in  unserer  Schlussbetrachtung  auf  diese  Erörterungen 
zurückzugreifen,  da  sie  uns  allein  in  den  Stand  setzen,  die  Aufgaben 
der  Erziehung  bezüglich  der  Furcht  sowie  ihre  ethische  und  soziale 
Ucdeutung  zu  würdigen. 

Wir  gehen  über  zu  den  Gegenständen  oder  den  Objekten  der 
Furcht,  von  I.enhossek.  ein  älterer  Schriftsteller,  dem  wir  eine 
vorzügliche  JOarstellung  des  menschlichen  Gemüts  verdanken,  teilt 
die  Gegenstände  der  Furcht  in  5  Reihen,  je  nachdem  sie :  a)  unsere 
morahsche  Realität  (Achtung,  Ehre,  Freiheit)  zu  beschränken; 
b)  unsere  Rechte  und  unser  Eigentum  anzugreifen;  c)  unserem 
Körper  durch  Schmerzen,  Krankheit  oder  Verstümtnehin^  nach- 
teilig zu  werden;  d)  unser  Leben  zu  vernichten,  oder  aber  c)  an- 
deren Personen,  die  zu  uns  in  näherer  Beziehung  stehen,  auf  irgend 


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OMrr  die  Fu*€ki  der  Kmder, 


305 


eine  Weise  Nachteil  zu  bringen  drohen.  Die  modernen  Forscher 
gehen  mehr  in  das  Detail  ein.  Binet,  der  die  Gegenstande  der 
Furcht  als  unzahlig  bezeichnet,  teilt  dieselben  ebenfalls  in  5  Gruppen 
ein.  £r  fuhrt  auf:  a)  die  Furcht  vor  der  Dunkelheit  und  Nacht, 
vor  dem  Unbekannten  und  Mystischen,  vor  den  Masken,  der  Ein« 
samkeit,  den  Gespenstern,  dem  schwarzen  Mann,  dem  Schornstein- 
feger, den  Wölfen  etc.;  gemeinsam  ist  dieser  Gruppe  die  Vor- 
stellung des  Unbekannten,  b)  Die  Furcht  vor  heftigen  Geräuschen, 
wie  Donner,  Schuss,  Knallen  eines  Champagnerpfropfens ;  das  Ge- 
meinsame dieser  Gruppe  bildet  nicht  die  Vorstellung  dner  Gefahr, 
sondern  meist  nur  diejenige  einer  Erschütterung  durch  einen  hef- 
tigen, unangenehmen  Sinneseindruck,  c)  Die  Furcht  vor  kleinen 
Tieren.  Ratten,  Spinnen  etc.,  vor  Klüt  und  Leiden  ;  hier  ist  der 
( "harakter  der  Abwehi  und  des  Absehens  der  gemeinsame  (Srundzug. 
d  l  Die  übertriebene  hurclit  tuier  nur  entfernt  möglichen  (Jefalir,  /..  B. 
die  Furcht,  auf  der  Stras«:e  einem  Tktrunkcücn  7.\\  begegnen,  oder 
von  einem  Hunde  angefallen  zu  werden,  die  Furcht  vor  Dieben  unter 
dem  Bette  oder  in  den  Spinden  etc. ;  hier  spielt  die  Phantasie  und  die 
Urteilsillusion  die  entscheidende  Rolle;  endlich  e)  die  Furcht  infolge 
Erinnerung  eines  schrecklichen  Ereignisses,  z.  B.  die  Furcht  vor 
dem  Ueberfahrenwerden,  vor  Operationen,  vor  dem  Ertrinken,  vor 
Angriffen  u.  s.  f. 

Eine  noch  mehr  ins  einzelne  gehende  Darstellung  der  Gegen- 
stände der  Fnrclit  giebt  Stanley  Mall  in  seiner  oben  erwähnten 
Studie.  Ihm  wurden  von  1701  Personen  6456  Fälle  von  Furcht  be- 
schrieben, die  sich  im  ganzen  auf  298  Gegenstände  bezogen.  Er 
Stellt  seine  Ergebnisse  in  umstehender  Tabelle  I  zusammen. 

Wenn  wir  diese  Ergebnisse  überblicken,  so  dürfen  wir  vor 
allem  eine  prinzipielle  Bemerkung  nicht  unterdrücken.  Die  Be- 
zeichnung der  aufgezählten  Objekte  als  Gegenstände  der  Furcht 
ist  im  Grunde  eine  ungenaue.  Nicht  der  Donner  und  nicht  die 
Dunkelheit,  nicht  die  Ratten,  die  Reptilien  oder  die  Rauber  bilden 
den  eigentlichen  Gegenstand  der  Furcht  der  Kinder,  sondern  viel- 
mehr die  Unlust,  die  sich  an  die  Wahrnehmung,  Vorstellung  oder 
Erinnerung  dieser  Gegenstände  knüpft.  Diese  Unlustge fühle,  die 
an  die  Objekte  geknüpft  sind  und  die  sehr  wohl  zu  unterscheiden 
sind  von  den  Unhistgefühlen,  die  die  Furcht  selbst  konstituieren, 
hängen  aber  ledigHch  von  unserer  Schätzung  der  Dinge  ab;  sie 
sind  nicht  objektive  Eigenschaften  der  Dinge,  sondern  subjektiven 
Werturteilen  entnommen,  die  wir  an  die  Gegenstände  zu  knüpfen 


d06 


TabeUe  L 


HimmelsertcheinuiijK«!!.  Tiere. 


Dooacr  und  Büts 

603 

Reiytiliea 

483 

Heftiger  Wind 

143 

Haustiere 

268 

Cjklone 

67 

Wilde  Tier« 

206 

203 

i^orcuiciu 

ivftkzcn  una  nunuc 

tw 

Koowten 

VQgM 

91 

NeDM 

16 

i486 

o  1  ri  ■■  III 

atunne 

14 

Finsternisse 

14 

Feuer 

36S 

Extrem  heisses  Wetter 

10 

WasMT 

205 

Extrem  kaltes  Wetter 

8 

PrHlHKeil 

996 

627 

Fremde  Personeo 

436 

Dunkellnit 

432 

Räuber 

153 

Gespenster 

203 

Schreckhafte  Tfittne 

109 

589 

Eiosamkeit 

SS 

Tod 

299 

799 

Kranklwit 

241 

540 

pflegen.    Diese  Verknüpfungen 

sind  jedoch  vielfach 

zutalligL-r 

Natur;  sie  unterliegen 

keinen  allg 

cmein  gültigen  Gesetzen.  Daher 

ist  es  ziemlich  müssig, 

,  alle  diejenigen  Gegenstände  zu 

sammeln, 

woran  sich  Unlustgefühle  der  Kinder  und  infolgedessen 

Befurch- 

tungen  anknüpfen  können.  Wichtiger  wäre  es  zu  untersuchen, 
warum  sich  gerade  zu  den  einen  Gegenständen  die  Unlustgefühle 
assoaieren,  zu  den  anderen  nicht.  Zur  Lusung  dieser  Frage  werden 
wir  unten  noch  einiges  beizutragen  haben.  An  dieser  Stelle  sei 
nur  darauf  hingewiesen,  dass  diese  Gründe  teils  aus  der  Natur  der 
Gegenstände,  teils  aus  der  Erfahrung  herzuleiten  sind,  die  wir  mit 
diesen  Gegenständen  gemacht  haben. 

Betrachten  wir  nunmehr  die  Beziehungen  der  Furcht  zur 
Konstitution  der  Kinder,  zu  ihrem  Geschlechte  und  zu  ihrem 
i^ebensalter.  Die  körperliche  Konstitution  der  Kinder,  die  an 
jbertriehener  Furcht  leiden,  wird  übereinstimmend  als  schwächlich, 
kränklich  und  nervös  geschildert.  „Die  Schwäche  erzeugt  Furcht 
und  die  Furcht  erzeugt  Schwäche",  sagt  Musso  in  seiner  vortreflP- 
lichen  Monographie  der  Furcht.  Die  troistige  Konstitution  der 
Kinder  weist  nach  Binet  kein  bestimnUes  Verhältnis  auf.  Die 


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ütiber  die  Furcht  der  Kinder. 


307 


Furcht  findet  sich  bei  den  intelligenten  Kindern  ebenso  häufig  wie 
bei  den  nnintelligenten;  selbst  bei  idiotischen  Kindern  hat  sie 
Voisin  niemals  vermisst.  Nach  Binets  Untersuchungen  waren  von 
77  Kindern  mit  aiisgcj>rägten  Furchterscheinungen  30  über  dem 
Durchschnitt  der  Intclhgenz,  24  unter  dem  Durchschnitt,  während 
23  in  der  Mitte  standen ;  so  dass  ein  bestimmtes  Verhältnis  zur 
geistigen  Entwickhmg  der  Kinder  nicht  statt  liat.  Indessen  dürfte 
es  schwer  sein,  diese  Frage  auf  statistischem  Wege  zum  Austrag 
zu  bringen.  Was  den  moralischen  Charakter  der  Kinder  anbelangt, 
so  fand  Binet  bei  denjenigen,  die  zur  Furcht  geneigt  waren,  Sanft- 
mut und  Schüchternheit  ais  fast  konstante  Charaktereigenschaften 
ausgeprägt,  während  alle  übrigen  Charakterzüge  keine  Ueber- 
einstimmung  auhviesen.  Die  Beziehungen  der  Furcht  zum  Ge- 
schlecht der  Kinder  sind  von  Staley  Hall  genauer  untersucht  worden. 
£r  fand  bei  500  Knaben  1106,  bei  der  gleichen  Anzahl  Mädchen 
1765  Fälle  von  Furcht.  Im  einzelnen  verteilen  sich  diese  Fälle  auf 
die  verschiedenen  Gegenstände  der  Furcht  wie  Tabelle  II  seigt: 


TabeUe  II. 

weibl. 

minnl. 

veibl. 

minnl. 

Donner  und  BUts 

230 

155 

Anhöhen 

40 

43 

Personen 

190 

129 

Gewissen 

40 

38 

180 

133 

Lim 

36 

10 

DnikdlMit 

171 

130 

LobemHy  bcigrabni 

Tod 

103 

74 

werden 

33 

5 

Haustiere 

96 

S7 

G^eost&nde  der  Ein- 

Kalten und  Miuse 

75 

13 

bildung 

24 

23 

nsekten 

74 

53 

Ertrinken 

20 

19 

Geqwnster 

72 

44 

Wdken 

15 

4 

Wind 

61 

35 

Einsamkeit 

15 

4 

WeltunttriMig 

63 

U 

Plitse 

14 

3 

Waaser 

53 

62 

Meteore 

13 

6 

Räuber 

48 

33 

Schüchternlwt 

S 

9 

Ma<;chinea 

47 

31 

Zauberer 

"7 

Blut 

44 

14 

Lächerlichkeit 

6 

1 

Es  ist  interessant,  aus  dieser  Tabelle  zu  ersehen«  dass,  wahrend 
alte  übrigen  Gegenstände  von  den  Mädchen  mehr  gefürchtet  wer- 
den als  von  den  Knaben,  das  Wasser  und  die  Anhöhen  bei  den 
Knaben  häufiger  als  Gegenstände  der  Furcht  erscheinen,  und  vor 
allem  die  Schüchternheit  bei  den  Knaben  relativ  und  absolut  häufiger 
ist  als  bei  den  Mädchen ;  ein  Verhältnis,  das  auch  wohl  durchaus 
der  Erfahrung  entspricht. 


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308 


Leo  mneU«$, 


Die  Beziehungen  der  Furcht  zum  Lebensalter  der  Kinder 
teilen  wir  zweckmässigerweisc  in  zwei  Abschnitte:  der  erste  utn- 
fasst  das  erste  Lebensjahr,  der  zweite  die  folgenden  Lebensjahre 
vom  zweiten  angefangen.  Um  mit  dem  letzteren  zu  beginnen,  so 
giebt  die  Tabelle  III  von  Stanley  Hall  Auskunft  über  die  Ver- 
teilung der  Furcht  auf  die  einzelnen  Lebensalter  der  männlichen 
und  weiblichen  Kinder: 


Tabelle  III. 

Die  Furcht  der  Kinder  nach  dem  Lebensalter. 


Jahre 

männlich 

Durchschnitt 

weiblich 

DurckidMitt 

0-4 

!  36 

1,76 

74 

4,89 

4—7 

144 

1,54 

176 

2,44 

7^11 

104 

3,56 

227 

4^ 

11—15 

140 

3,69 

127 

6^ 

15-18 

72 

2,40 

38 

10,67 

18—26 

&0 

2^5 

29 

♦,31 

S.  S. 

S24 

2,94 

671 

4,62 

Wir  ersehen  daraus,  dass  bei  den  Knaben  die  Mehrzahl  der 
Befürchtungen  zwischen  dem  4.  und  7.  Lebensjahr  gelegen  ist, 
und  dass  nach  der  Pubertät  sogleich  ein  starker  Abfall  der  Zahlen 
erfolgt.  Bei  den  Mädchen  liegt  das  Maximum  dagegen  in  den 
Jahren  15 — 18,  vielleicht  weil  zu  dieser  Zdt  die  Phantasie  am 
meisten  rege  ist.  Was  die  Verteilung  der  einzelnen  Gegenstande, 
der  Furcht  über  die  verschiedenen  Lebensalter  anbelangt,  so 
nehmen  mit  zunehmendem  Alter  ab:  die  Furcht  vor  Meteoren, 
Wolken,  Blut,  Weltuntergang,  Hexen  und  die  Scheu  vor  Fremden. 
Dagegen  nehmen  mit  zunehmendem  Alter  zu:  die  Furcht  vor 
Donner  und  BHtz,  Reptilien,  Räubern,  Gewissensbissen  und  vor 
der  Einwirkung  übernatürlicher  Wesen.  Während  der  Pubertäts- 
zeit zeigen  eine  Steigerung,  um  nachher  wieder  abzufallen:  die 
Furcht  vor  Winden,  Dunkelheit,  Wasser,  Haustieren,  Insekten, 
Gespenstern,  Tod  und  Krankheit.  Eine  Reihe  anderer  Befürch- 
tungen bleibt  dagegen  stets  in  gleicher  Starke  bestehen. 

Ueber  das  Auftreten  der  Furcht  innerhalb  des  ersten  Lebens- 
jahres der  Kinder  liegen  eine  Fülle  von  Beobachtungen  vor,  die 
freilich  durchaus  nicht  mit  einander  übereinstimmen.  Während 


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Ueber  die  Furcht  Oer  Kinder, 


309 


Darwin,  Mosso  und  l'reycr  beispielsweise  das  Auftreten  der  Furcht 
schon  innerhtilb  der  ersten  Lebenstage  oder  Lebenstnonate  bc- 
liaiij)ten  und  daraus  den  Schluss  ziehen,  dass  die  Furcht  den  Kindern 
angeboren  und  ererbt  sei,  stehen  v(ni  älteren  Schriftstellern  Carus 
und  Tiedeniann,  von  neueren  Sully  und  Compayrc  auf  dem  Stand- 
punkte, dass  erst  auf  (irund  einer  allmählichen  Fortcntwicklunj^  aus 
ursprunglichen  Reaktionen  das  (n  fülil  der  Furcht  in  der  kindlichen 
Seele  sicli  ausbilde.    Um  diese  Streitfrage  zu  entscheiden,  werden 
wir  zunächst  den  1  Beobachtungen  etwas  näher  treten  müssen.  So 
bemerkte  z.  1>.  Darwin,  dass  sein  Knabe  im  Alter  von  2  Jahren 
und  3  Monaten  beim  Besuche  eines  zoologischen  Gartens  Furcht 
zeigte  beim  Anblick  gru^ser.  i  ingesperrter  Tiere,  die  er  nie  gesehen 
hatte  :  und  er  führt  diese  Erscheinung  auf  Vererbiuig  zurück,  da 
unsere  wilden  Vorfahren  gezwungen  waren,  diese  todbringenden 
Geschöpfe  zu  fliehen.    I'reyer  konstatierte,  dass  sein  Kind  bereits 
von  der  7.  Woche  an  bei  jedem  stärkeren  Geräusche  zusammenfuhr 
und  die  Hände  erhob;  schon  vom  2.  Lebensjahre  an  reagiert  das 
Kind  mit  Augenblinxeln,  wenn  man  ein  Licht  in  die  Nähe  seiner 
Augen     bringt,     während     ein     Schliesscn     der     Augen  bei 
grösserem    Lärm   oder   wenn   man   versucht,  dem    Kinde  mit 
dem  Finger  ins  Auge  zu  fahren,  von  ihm  erst  am  60.  Tage 
beobachtet  wurde.    Die  Furcht  vor  dem  Meere,  vor  dem  Unbe- 
kannten, vor  dem  Fallen  und  vor  allem  vor  Tieren  scheint  l^reyer 
ebenfalls  erblirli  zu  sein,  weil  sie  auftritt,  bevor  das  Kind  dies- 
bezügliche Erfahrungen  gemacht  hat.    So  bemerkte  er  bei  seinem 
Kinde  im  9.  Monat  die  Furcht  vor  einem  kleinen  Hund,  während 
Sully  die  Furcht  vor  Tieren  schon  in  der  14.  Woche  ausgebildet 
fand.    Im  18.  und  19.  Monat  lachte  das  Kind  Preyers  über  Donner 
und  Blitz ;  beim  Anschlagen  eines  Glases  zeigte  es  im  16.  Monate 
Furcht,  während  es  im  3.  Monat  keine  Furcht  dabei  gezeigt  hatte, 
u.  s.  f.   Dagegen  bemerkt  Carus:  „Ein  Kind  kann  sich  noch  nicht 
und  kann  sich  nicht  eher  fürchten,  als  bis  es  vorher  a)  Hindernisse 
fühlen,  b)  darüber  erschrecken,  c)  sich  ohnmächtig  fühlen,  d)  seine 
Kräfte  kennen  und  messend  mit  fremder  Gewalt  vergleichen,  e)  die 
Zukunft  ahnden  konnte.   Der  Gebrauch  des  Gesichts  und  noch 
mehr  des  Gehörs  macht  es  zwar  schon  stutzig,  aber  noch  nicht 
furchtsam".   Daraus  geht  zur  Evidenz  hervor,  dass  es  steh  um 
einen  Definitionsstreit  handelt,  wenn  man  das  Auftreten  der  Furcht 
in  den  ersten  Lebenswochen  behauptet  oder  leugnet.   Führt  man 
die  Reflexbewegungen  der  Kinder,  den  Schrecken  oder  den 


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f 

310  Leo  HtruMaff. 

instinktiven  Abscheu,  den  sie  vor  manchen  Dingen  zeigen,  auf 
Furcht  zunick,  so  sind  die  Behauptungen  Darwins  und  Prcyers 
gerechtfertigt;    thut  man  das  nicht,  und  wir  werden  es  auf 
Grund    unserer    vorausgegangenen    Erklärungen    nicht  thun 
dürfen,  so  lallt  damit  die  Lehre  von  der  erblichen  Furcht- 
samkeit.   In  diesem  Sinne  haben  sich  SuUy,  Compayre  und 
Stumpf  ausgesprochen.   Auch  Dietrich  Tiedemann,  der  Begründer 
der  Kinderpsychologie,  der  bereits  im  Jahre  1787  die  erste  und 
zugleich  noch  heute  bei  weitem  die  beste  Beobachtung  der  Ent- 
wicklung eines  Kindes  von  der  Geburt  bis  zum  Alter  von  2  V,  Jahren 
veröffentlichte,  äussert  sich  in  dem  gleichen  Sinne :  „Wenn  man 
den  Knaben",  sagt  er,  „auf  den  Armen  haltend^  von  einer  unge- 
wöhnlichen Höhe  schnell  herabliess,  bestrebte  er  sich,  mit  den 
Händen  sich  fest  zu  halten,  um  nicht  zu  fallen,  und  sehr  hoch  ge- 
hoben zu  werden  war  ihm  unangenehm.   Vom  Fallen  konnte  er 
noch  keinen  Begriff  haben,  also  war  die  Furcht  wohl  weiter  nichts 
als  bloss  mechanischer  Eindruck  von  der  Art,  wie  ihn  auch  Er* 
wachsene  bei  steilen  ungewöhnlichen  Höhen  empfinden,  etwas  dem 
Schwindel  ähnliches*'.  Und  an  einer  späteren  Stelle:  „Bei  der  Er- 
innerung liegt  allemal  Vergleichung  zu  Grunde,  und  es  ist  allemal 
ein  unvollkommenes  Urteil  darin  verborgen".   Halten  wir  dem- 
nach an  unserer  eingangs  gegebenen  Definition  der  Furcht  fest, 
wonach  ein  Urteil  zum  Zustandekommen  dieses  Affektes  notwendig 
ist,  so  werden  wir  vielleicht  folgende  Stufen  in  der  Entwicklung 
der  kindlichen  Furcht  annehmen  dürfen.    Das  erste  ist  die  rein 
mechanische  Reflexbewegung,  z.  B.  das  Schliessen  der  Augen,  oder 
das  Zittern  der  Neugeborenen  und  die  Unterbrechung  der  Atmung, 
das  Schreien,  Weinen  etc.,  das  von  Perez  bereits  für  eine 
Aeusserung  der  Furcht  gehalten  wurde.  Das  zweite  Stadium  wurde 
gekennzeichnet  sein  durch  das  ebenfalls  noch  rein  physische  Er- 
schrecken, sowie  den  instinktiven  Abscheu  gegen  gewisse  Gegen- 
stande und  Eindrücke.   Hierher  gehört  nach  Sutty  beispidswetse 
der  Reflexschrecken  beim  Hören  eines  starken  Lautes,  sowie  die 
Abneigung  gegen  fremde  Personen  und  unbekannte  Gegenstände, 
vielleicht  auch  die  Scheu  vor  der  Dunkelheit,  die  nach  Sully  auf 
einer  physischen  Abneigung  beruht.   Erst  im  dritten  Stadium  ent- 
steht durch  Hinzutreten  von  Assoziationen.  Vorstellungen,  Er- 
innerungen. Urteilen  aus  dem  physischen  Schrecken  und  Abscheu 
der  bewiisste  Abscheu  und  die  eigentliche  Furcht.     In  welchem 
Tempo  die  Entwicklung  dieser  drei  Stadien  vor  sich  geht,  hängt» 


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Ü<ber  die  Furcht  der  Kinder, 


311 


wie  Preycr  richtig  bemerkt,  lediglich  von  der  Behandlung  der 
Säuglinge  ab.  Darüber  später  mehr.  Für  jetzt  nur  noch  die  eine 
Bemerkung,  dass  das  zweite  Stadium  der  Entwicklung  der  Furcht 
auch  beim  Erwachsenen  noch  bestehen  bleibt  und  sich  von  dem 
dritten  Stadium  der  bewussten  Furcht  häufig  nur  schwer  und 
künstlich  abgrenzen  lässt,  z.  B.  in  der  Furcht  vor  starken  Ge« 
rauschen,  vor  manchen  Himmelserscheinungen,  vor  dem  Meere 
und  vor  kleinen  Tieren.  Als  Resümee  dieses  Abschnittes  lehnen 
wir  also  die  Lehre  von  der  Erblichkeit  der  lüircht  ab ;  jedoch  wer- 
den wir  gezwungen  sein,  bei  Gelegenheit  der  Erklärung  der  Aus- 
drucksbewegungen und  bei  der  Besprechung  der  Furcht  der  Tiere 
auf  diesen  Punkt  noch  einmal  zurückzukommen. 

Wir  besprechen  nunmehr  die  Wirkungen  der  Furcht  auf  den 
kindlichen  Organismus.  Was  zunächst  den  Gesichtsausdruck  der 
Furcht  betrifft,  so  heben  Darwin  und  Spencer  als  besonders 
charakteristisch  das  Stimrunzeln  und  die  Vergrösserung  der  Augen 
hervor ;  Mosso  fügt  als  wichtiges  Kennzeichen  noch  die  Erweiterung 
der  Pupillen  hinzu.  Die  ausführlichste  Beschreibung  des  Gesichts- 
ausdruckes der  Furcht  sowohl  wie  der  Furchtsamkeit  hat  Mante« 
gazza  in  seiner  Fisonomia  e  Mimica  geliefert;  er  weist  u.  a.  auf  die 
Aehnlichkeit  der  Wirkung  der  Furcht  und  der  Kalte  auf  den  Ge- 
sichtsetndruck hin.  Die  körperlichen  Ausdrucksbewegungen  der 
Furcht  sind:  Herzklopfen,  Beklemmungsgefühl,  Unregelmässigkeit 
der  Atmung  und  der  Blutzirkulation,  das  Schreien  und  Weinen, 
das  Erbleichen  oder  Erröten,  die  Gänsehaut,  der  kalte  Schweiss, 
das  Strauben  der  Haare,  die  gesteigerte  Dannperistaltik,  die  un- 
ruhigen und  inkoordiniierten  Bewegungen,  das  Zittern  der  Glieder, 
das  Streben  zu  fliehen  oder  die  Gefahr  abzuwehren,  endlich  in  den 
höchsten  Graden  der  Furcht  die  komplette  Lähmung  oder  Er- 
starrung der  Körpermuskulatur,  Krämpfe,  Verlust  der  Sprache  und 
des  Bewusstseins ;  in  selteneren  Fällen  die  unfreiwillige  Entleerung 
von  Harn  und  Stuhl.  Was  die  Häufigkeit  dieser  Ausdrucksbe-  • 
wegungen  anbelangt,  so  ordnet  Binet  sie  in  folgende  Reihe  ein: 
Flucht,  Schutzsuchen  bei  andern,  Abwehrgesten ;  Schreien,  Zit- 
tern, Blässe,  Erweiterung  der  .Augen,  Aufhebung  der  Atmung, 
Herzklopfen,  Weinen ;  Unbcweglichkeit.  Verlust  der  Sprache,  Ohn- 
macht. Hartcnherj^.  ein  eifriger  Vertreter  der  James-Langeschen 
Theorie  der  Affekte,  ^icbt  nach  der  Hätificrkcit  des  Auftretens 
folgende  Ucbersicht :  i.  das  Reklemmuiig.-^gcfuhl,  das  Gefühl  des 
Stillstandes  der  Atmung,  der  Zusammenschnürung  des  Brustkorbes 


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312  ^  mna»Ui$, 

und  des  Erstickens;  2.  das  Herzklopfen,  das  Getülil  der  Be- 
schleunigung und  Verstärkung  der  Herzthätigkeit ;  3.  der  Schauder, 
die  Gänsehaut,  der  kalte  Schweiss  ;  4.  die  Spasmen  der  Eingeweide 
und  der  Blase.  Indessen  fügt  er  hinzu,  dass  diese  Reihenfolge  viel- 
fache Ahwcichungen  erfährt  infolge  der  Besonderheit  der  Indivi- 
dualitäten und  der  dadurch  bedingten  elektiven  Reizbarkeil  be- 
>iinnnter  Organe ;  so  dass  im  Grunde  genommen  „chacun  a  peur 
ä  sa  fa(;<ur  .  Hall  hat  die  Häufigkeit  der  einzelnen  Ausdrucks- 
bewfgnngen  der  Furcht  statistisch  festgestellt  und  folgende  Er- 
gebnisse erhalten:  73  mal  Anschmiegen  oder  Unterkriechen,  meist 
bei  Mädchen;  70  mal  Schwäche-  und  Lähmungserscheinungen; 
58  mal  Zittern  oder  Schlottern  der  P.cinc ;  Erstarrung  in  50.  Er- 
blassen in  44,  Veränderung  der  Atmung  in  43.  Herzklopfen  u.  s.  f. 
in  42  Fällen;  Schweissausbruch  28  mal,  Krämpfe  ebenso  häufig; 
Uebelkcit  in  21,  vorübergehende  Blindheit,  Taubheit  oder  Gefühl- 
losigkeit in  1 1  Fällen ;  Neigung  zum  unwillkürlichen  Harn-  und 
Stuhlabgang  in  3  Fällen.  Bei  ganz  jungen  Kindern  hat  er  lautes 
Schreien  am  häufigsten  angetroffen. 

In  Bezug  auf  seelische  Folgeerscheinungen  der  Furcht  giebt 
ßurckhardt  Trübung  des  Bewusstseins,  Verminderung  der  Urteils- 
kraft und  Schwächung  des  Willens  an.  v.  Lenhossek  hebt  ausser- 
dem die  Herabsetzung  der  Aufmerksamkeit  und  des  Gedächtnisses, 
in  der  Sphäre  des  Gemüts  eine  depressive,  traurige  und  düstere 
Stimmung  hervor. 

Haben  wir  in  solcher  Gestalt  die  Erscheinungen  der  Furcht 
kennen  gelernt,  so  müssen  wir  uns  die  Frage  vorlegen^  wie  sind 
diese  Ausdrucksbewegungen  zu  verstehen  und  zu  erklären. 
Hierüber  sind  mannigfache  abweichende  Meinungen  laut  geworden. 
Soweit  die  Erklärungen  physiologischer  Natur  sind,  haben  sie  für 
uns  geringeres  Interene.  Ob  das  unwtUkürliche  Harnlassen  au£ 
eine  Zusammenziehung  der  Muskeln  zurückzuführen  ist,  welche  die 
Austreibung  des  Harns  aus  der  Blase  zu  versehen  haben,  oder 
vielmehr  auf  eine  Erschlaffung  der  Schliessmuskeln,  ist  eine  relativ 
*  nebensächliche  Frage.  Im  allgemeinen  werden  wir  Mosso  zu- 
stimmen  können,  wenn  er  sagt,  dass  durch  die  starke  Erregung  der 
Nervencentren  infolge  der  Furcht  zunächst  ein  vermehrter  Blut- 
zufluss  zum  Gehirn  als  Aus^eich  der  durch  die  Gemfitsbewegong 
gesetzten  Ernährungsstörungen  stattfinde,  wodurch  den  peripheren 
Organen  das  Blut  entzogen  wird;  während  bei  heftigeren  Ein- 
wirkungen eine  Störung  der  Harmonie  des  Zusammenwirkens  der 


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Ueber  die  Furcht  der  Kinder. 


313 


Nerven-Impulse  statt  hat,  die  sich  in  unzweckmässigen  Bewegungen, 
Zittern  und  dergl.  kundgiebt.  Dies  alles  ist  jedgch  nur  eine  Be- 
schreibung der  physiologischen  Grundlagen  des  psychischen  Ge> 
schehens.  Von  grösserer  Retkiitung  ist  die  entwicklungstheo- 
retische  Würdigung  der  Ausdrucksbewegungen  der  Furcht.  Sind 
sie  zweckmässig  oder  zweckwidrig?  Sind  sie  auf  die  Gewohn- 
heiten und  Erfahrungen  unserer  Altvorderen  zurückzuführen,  oder 
nicht?  Haller  und  Darwin  finden  das  Zittern  infolge  von  Furcht 
unnütz  und  unzweckmässig,  ebenso  wie  alle  anderen  Erscheinungen 
der  Furcht,  da  sie  nicht  auf  die  Erhaltung  des  Fürchtenden  ge- 
richtet sind,  sondern  vielmehr  auf  dessen  leichtere  Vernichtung. 
Mantegazza  dagegen  findet  das  Zittern  höchst  dienlich»  indem  es 
strebt,  Wärme  zu  erzeugen  und  das  Blut,  welches  unter  dem  Ein- 
flüsse der  Furcht  zu  sehr  zur  Erkältung  neige,  zu  erhitzen.  Wir 
halten  die  ganze  Fragestellung  für  falsch:  eine  teleoI<^;ische  Auf- 
fassung  jeder  Einzelheit  des  Naturgeschehens  führt  nur  zu  un- 
fruchtbaren Erörterungen  und  Absurditäten.  Ebenso  halten  wir  es 
für  irrig,  wenn  Duchenne  de  Boulog^e  behauptet,  die  Gesichts- 
muskeln sind  von  der  Natur  geschaffen,  um  unsere  Gemut^e- 
wegungen  auszudrucken.  Wir  geben  vielmehr  Mosso  cecht,  der  die 
Veränderungen  des  Gesichtsausdruckes  infolge  der  Gemütsbe- 
wegungen auf  die  Kleinheit  imd  Beweglichkeit  der  Gesichtsmuskeln, 
auf  ihren  häufigen  Gebrauch,  ihre  Nähe  zum  Gehirn  und  auf  das 
Fehlen  der  Antagonisten  zurückführt. 

Es  erübrigt  sich  die  Frage:  haben  wir  nötig,  zur  Erklärung 
der  Ausdrucksbewegungen  auf  die  Erlebnisse  unserer  Vorfahren 
zurückzugehen?  Um  einige  Beispiele  zu  zitieren:  Spencer  erklärt 
den  Ausdruck  der  unangenehmen  Gemütsbewegungen  folgender- 
massen:  Ursprünglich  bei  Tieren  und  Menschen  entstanden  unan- 
genehme Eindrücke  beim  Anblicke  eines  Feindes  und  waren  in- 
folgedessen verbunden  mit  Angriffsbewegungen  zum  Kampfe; 
daher  noch  heute  die  Ausdrucksbewegungen  bei  tmangenehmen 
Gefühlen.  Das  Sttmrunzeln  beispielsweise  ist  zurückzuführen  auf 
das  Bestreben^  rasch  und  scharf  zu  sehen,  um  im  Kampfe  mit  dem 
Gegner  Erfolg  zu  haben.  Mit  Hilfe  des  beliebten  und  so  oft  miss- 
brauchten  Schlagwortes  des  Ueberlebens  des  Passendsten  ist  damit 
die  Selektionstheorie  der  Furcht  festgelegt.  Noch  weit  spekulativer 
geht  Stanley  Hall  vor:  nicht  nur  die  Ausdrucksbewegungen  der 
Furcht,  sondern  die  Furcht  selbst  ist  nach  ihm  zurückzuführen  auf 
unbewusstc  Erinnerungen  palaeontologischer  oder,  schöner  ausge- 


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314 


Im  Hinchlaf 


drückt,  archaesthetischer  oder  palaeopsychiacher  Erscheinungen. 
So  erklärt  Hall  z.  B.  die  Furcht  vor  grossen  Zähnen,  die  sich  viel- 
fach bei  Kindern  Anden  soll,  zugleich  mit  dem  Küssen  und  der  Liebe 
in  folgender,  klassischer  Weise:  ,,Der  Eintritt  in  den  Nahrungs- 
kaiial  muss  Gegenstand  der  höchsten  Furcht  gewesen  sein,  wo 
immer  das  Gesetz  herrschte,  zu  essen  und  gegessen  zu  werden.  Ein 
ursprüngliches  Element  in  dem  Reiz  des  Küssens  mag  die  gegen- 
seitige Zusicherung  tmd  Bürgschaft  gewesen  sein,  dass  jetzt  an 
Stelle  der  höchsten  Furcht  die  Liebe  herrsche.    Das  abstossende 
ElemeiTt  mag  ursprünglich  starker  gewesen  sein  als  die  Anziehung. 
Der  Reiz  des  Mundes  sowohl  wie  der  Zähne,  jetzt  so  gross  für 
Liebende,  muss  sekundär  gewesen  sein,  und  das  Interesse  an  all 
seinen  Bewegungen,  Gestaltungen  und  Formen  mag  entstanden 
sein  aus  der  allmählichen  Ueberwindung  dieser  von  Alters  her 
begründeten  Furcht."    Aehnlich  begründet  Halt  die  Furcht  der 
Kinder  vor  Fellen  und  Pelzwerk  durch  den  Hinweis  auf  die  Zeiten, 
wo  unsere  wilden  Vorfahren  mit  den  Tieren  noch  in  innigerer 
Gemeinschaft  lebten  als  jetzt,  resp.  wo  sie  selbst  noch  haarig 
waren.    Die  Furcht  der  Kinder  vor  Lehrern,  Aerzten,  Schutz^ 
männem  und  Chinesen  vrird  zurückgeführt  auf  eine  Erinnerung  an 
die  Zeiten,  wo  der  Krieg  aller  gegen  alle  herrschte.   Die  Furcht 
vor  dem  Wasser,  vor  heftigen  Winden,  vor  Anhöhen  und  vor  dem 
Fallen  beruht  auf  den  instinktiven  Spuren  der  Seele,  die  der  Zeit 
entstammen,  wo  unsere  Vorfahren  in  der  See  lebten  und  deren 
Stürmen  ausgesetzt  waren.    Der  Widerstreit  zwischen  der  alten 
Liebe  zum  Wasser  und  der  alten  Furcht  vor  dem  Wasser,  die  an 
die  Zeiten  erinnert,  wo  unsere  Vorfahren  das  Meer  verliessen,  auf- 
hörten, Amphibien  zu  sein  und  ihr  Heim  auf  dem  Lande  suchten, 
ist  noch  jetzt  in  jeder  normalen  Seele  lebendig.    Da  aber  die 
Frauen  in  seelischen  Erinnerungen  konservativer  sind  als  die 
Männer,  und  infolgedessen  die  ursprüngliche  Liebe  zum  Wasser 
die  spater  bei  den  Landbewohnern  auftretende  Furcht  vor  dem 
Wasser  bei  ihnen  überwiegt,  so  ist  noch  heute  ihre  beliebteste  Art, 
sich  freiwillig  den  Tod  zu  geben:  das  sich  Ertränken.    Aber  die 
Argniiientation  Halls  macht  bei  diesen  Entdeckungen  noch  lange 
nicht    Halt.    Er   will    die    Wcisniannschcn   Biophoren   und  die 
Micellen  Naegelis  in  die  Psychologie  einführen;  wie  die  chorda 
dorsalis  der  Embryonen  sich  fortentwickelt  zur  vollständig  aus- 
gebildeten Wirbelsäule,  so   sollen  die   Erinnerungen   des  phylo- 
genetischen Seelenlebens  sich  ontogenetisch  fortentwickein  zu  den- 


Uelxr  die  Furcht  der  Kinder, 


315 


ausgebildeten  psychischen  Phaenomeiieii.  Die  Furcht  ist  ihm,  wie 
<]as  Salpa,  eine  Cossile  Meerespflanze,  eine  typische  Form  des 
lossilen  Seelenlebens.  Er  fordert  eine  Erziehung  des  Keitnplasmas, 
obwohl  er  sich  dahin  resigniert,  dass  diese  geringen  und  allmäh- 
lichen, aber  unaufhörlich  wirksamen  Einflüsse  des  palaeopsychi- 
sehen  Lebens  viel  stärker  sind,  als  die  stärksten  Einwirkungen  plötz- 
licher und  vorübergehender  Art  im  gegenwärtigen  Seelenleben.  Und 
uro  den  Schlussstein  des  Ganzen  nicht  zu  vergessen:  HaU  kennt 
sogar  den  anatonuschen  Sitz  all  dieses  achönea,  cryptoooStischen 
Wissens:  es  sind  die  Basalganglien.  Oh,  diese  armen  Basalganglien I 
Was  immer  die  wissenschaftliche  Mythenbildung  zu  ersinnen  ver> 
mag  in  Bezug  auf  unbewusste  und  fossile  Elemente  unseres  Seelen- 
lebens, es  wandert  unbarmherzig  in  die  Basalganglien»  nachdem  die 
Zirbeldrüse  und  der  Balken  dieses  Amtes  feierlich  entbunden  sind. 

Die  Beis|ttele  für  diese  köstlich  naive  Beweisführung, 
könnten  ohne  Mühe  in  infinitum  vermehrt  werden:  es  mögen  die 
angeführten  genfigen.  Sind  sie  doch  ein  unerfreuliches  Zeichen, 
wie  weit  die  Phantasiethatigkeit  derjenigen  sich  zu  versteigen  ver- 
mag, die  noch  heute  dem  extremen  Darwinismus  huldigen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


316 


Berichte  und  Besprechungen. 


W.  A.  Lay,  Methodik  des  naturgcschichtl.  Unterrichts 
und  Krifik  der  Reformbestrebungen  auf  Grund  der 
neueren  Psychologie.     Karlsruhe  1899.     XVI  und  123  S. 

brosch.  M.  2,50. 

Das  Buch  erschien  als  zweito,  veränderte  Aut'layc  bereits-  lf^99.  Da 
manche  der  darin  erörterten  Fragen  neuerdings  in  den  Vordergrund  ge- 
treten sittd,  dflrfte  noch  jetxt  der  Hinweis  auf  Lays  Arbeit  gerechtfertigt  sein. 

Lay  ist  Lehrer  der  Naturwissenschaften  und  Geographie  am  Lehrer- 
seminar in  Karlsruhe  und  hat  als  solcher  der  Methodik  dieses  Unterrichtes 

und  den  Reformbestrebungen  seine  Aufmerksamkeit  ständig  zugewendet 
Er  hat  dabei  den  Eindruck  gewonnen,  dass  die  vorhandenen  methodischen 
Schriften  „nur  ein  mehr  oder  weniger  buntes  Gemenge  von  oberfläclili  h 
oder  garnicht  begründeten  gelegentlichen  Ratschlägen  darstellen,  die  das 
ganze  Gebiet  des  menschlichen  Bewusstseins  TÖUig  übersehen.  Man  fatst 
wohl  die  Natar,  aber  nicht  auch  die  Seele  des  Sch&lecs  als  einheit- 
lichen und  werdenden  Organismus  auf.**  Deshalb  will  Verf.  ,,aus 
den  Grundthatsachen  der  Biologie  und  neueren  Psychologie"  „auf  psy- 
choloR^isch -  et  bischer  Grundlage"  „bisher  übersehene  mt*tho- 
dische  Grundsätze  ableiten",  die  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  erst 
„iu  einem  allseitigen  und  intensiven  Bildungsmittel  gestalten,  das  sich 
jedem  anderen,  die  Sprachen  eingeschlossen,  getrost  an  die  Seite  stellen  kann." 

Bei  der  Darstellung  der  Grundlagen  des  Seelentebens  hat  er  L. 
Wundts  niysiologische  Psychologie  su  Grunde  gelegt.  Zur  Illustration 
dieser  Ausfühnmgen  analysiert  er  dal  Begriff  „Rose"  und  sucht  die  Be* 
Ziehung  der  darin  vrrkniipften  sinnlichen  und  sprachlichen  Vorstellungen 
durch  eine   Ski/^r   der   .Siniics(  cniren   7M  verdetitlirhen. 

Auf  Grund  diiser  Betrachtungen  stellt  L.  für  die  Bildung  der  An- 
schauimg  folgende  Forderungen  auf:  1.  Beobachtung  und  Versuche  müssen 
stets  Grundlage  und  Ausgang  des  natorgeschichttichen  Unterrichts  bilden.  — 
2.  Man  tbuss  alle  Sinne  üben.  —  3.  Alle  in  Betracht  kommenden  Eindrüdce 
der  Naturkörper  müssen  nicht  bloss  percipiert,  sondern  auch  appercipiert 
werden.  -  4.  Form,  Farbe,  GrÖ5se  und  alle  andern  ICinenschaften  eines 
jeden  cin^^elneri  Trils  eines  (Jbjekls  inuss  der  Lehrer  gesondert  nachein- 
ander, aber  jede  Eigenschatt  von  der  ganzen  Klasse  zugleich  auflassen 
lassen;  dies  wird  veranlasst  dtircb  logisch,  psychologisch  und  sprachlich 
korrekte  Fragen  oder  Aufforderungen.  —  6.  Jede  wichtige  neue  Anschauung 
muss  durch  Vergleibhung  eingeführt  werden,  d.  h.  der  Schdler  muss  ver- 
1  e  i  c  h  c  n  d  auffassen.  -  6.  Die  räumlichen  Anschauung'en  müssen,  so 
weit  immer  nur  möglich,  vom  Lehrer  vor  den  AuRcn  des  Schülers  durch 
schematische  Zeichnimgen  dargestellt  werden;  der  Schüler  zeichnet  sie  nach 
und  muss  veranlasst  werden,  sie  auch  aus  dem  Gedächtnis  zu  zeichnen.  Bei 
der  Auffassung  der  Formen,  bei  ihrem  Festhalten  und  bei  ihrem  Wieder- 


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Berichte  und  Bexfredkungen, 


317 


erzeugen  haben  die  Bewegungsvorstellungen  hervorragenden  An- 
teil; ihnen  isi  daher  besondere  Sorgfalt  zuzuwenden.  7.  Es  ist  bei  der 
hohen  Bedeutung  der  Anicliaiuing  nötig,  dass  das  beste  An>.ciiauungs- 
mittel,  d.  i.  das  Naturobjekt  in  seinen  natürlichen  Eigenschatlcn  und  Be- 
xiehungeu  inmitten  der  freien  Natur,  viel  als  nur  roögUch,  benutzt  werde.  — 
Diese  Forderangen  werden  sicherlich  allgemeine  Zustimmung  finden. 
Es  wäre  von  grossem  Nutzen»  wenn  alle  Naturwissenschaftler  so  sorg- 
fältig wie  Lay  die  Grundlagen  dieses  Unterrichtes  prüften  und  sich  be- 
s<•t1<^•r^i  von  dem  grossen  Nutzen  des  schematischen  Zeichnens 
überzeugten.  Die  von  deiiiaelben  \  eriasser  herausgegebenen  Skuzensamm- 
iungen  (Verlag  Otto  Ncmntch,  Karlsruhe)  duntea  auch  den  L.ehrern  an 
höheren  Unterrichtsanstaiten  willkommen  sein. 

Dagegen  erscheint  dem  Ref.  das  Buch  für  Studierende,  sumal  für 
Schüler  eines  Lehrerseminars  nicht  in  der  richtigen  Form  abgefasst 
zu  sein.  Nach  der  Einleitung  glaubt  man  es  mit  gänzlich  neuen  Ideen  an 
thun  zu  haben;  dabei  hat  die  vom  V'crf.  vertretene  Richtung  längst  in 
niederen  inid  hötiercn  Schulen  Beachtung  gefunden  und  ist  schon  vor  Lay 
vieliach  und  m  objektiverer  l""orni  dargestellt  worden.  Uass  es  ut 
Deutscliland  cntc  ganze  Reihe  weit  verbreiteter  methodischer  Lciiuden  giebt, 
dass  von  mehreren  Seiten  der  Versttch  efaier  „einheitlichen  Gesaltting  des 
gesamten  naturkundlichen  Unterrichtes"  gemacht  und  z.  T.  bereits  wieder 
aufgegeben  ist,  erfahrt  der  Leser  nicht 

Mit  Recht  erwartet  man  heute  auch  von  dem  seminaristisch  gebildeten 
\'nlksschullehrer,  dass  er  an  dem  Ausbau  der  Naturwissenschaften  und  der 
L  nttrrichtsmethodik  erfolgreich  mitarbeite.  Dazu  muss  er  jedoch  schon  im 
Seminar  durch  historische  Einführung  zu  kritisichem  Denken 
erzogen  werden.  Ein  Schulbuch  braucht  nur  Thatsachen  zu  enthalten, 
der  Student  und  der  Seminarist  muss  jedoch  erfahren,  auf  welche  Weise 
und  von  wem  diese  Thatsachen  gefunden  worden  sind.  Wenn  ein  Lehrer 
und  Verfasser  eines  Lehrbuches  es  für  nötig  hält,  seinen  Lesem  die  von 
ihm  selbständig  gefundenen  Ideen  zu  kennzeiclinen,  so  muss  er  auch  die 
Namen  der  Methodiker  nennen,  auf  deren  Schultern  er  steht.  So  h.itten 
v<jr  allem  genannt  werden  müssen  Low,  Vogel,  M  u  1  1  e  n  ii  o  t  t  , 
Lüddecke,  Land^berg,  die  Lays  Forderungen  längst  theoretisch 
entwickelt  und  praktisch  durchgeführt  haben. 

So  erfährt  man  bei  den  Ausführungen  über  die  verschiedenen  Arten 
des  schematischen  Zeichnens  im  naturgeschichtlichen  Unterricht  (S.  19—28), 
dass  es  „verhältnismässig  neu  sei  und  erst  von  wenigen  Methodikern  ge- 
fordert ?ei."  In  Schulprog^rarnnv^n  und  Direktorenverhandlunpen  ist  seit 
Jahrzehnten  diese  Frage  fortwahrend  diskutiert  worden.  Al.s  Verfasser  der 
Samn)iung  „schematische  Zeichnungen"  hätte  Lay  doch  auch  auf  die  in 
Deutschland  weit  verbreiteten  Skizzensammlungen  von  Vogel-Ohmann 
(Berlin  bei  Winckelmann)  und  von  Spitz  (Baden)  hinweisen  und  zu  der 
vom  Zeichenlehrer  Grau  (Stade  1892)  gegen  das  erstere  Werk  eröffn^en 
Polemik  Stellung  nehmen  müssen. 

Bei  den  Retrachtungen  über  die  Rildunp  der  Einsicht  «nd  dir  Pflege 
des  Gemütes,  besonders  des  religiösen  Interesses  durften  nicht  nur  Ver- 


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318 


ßcrichU  und  Besprechungen. 


irrungen  genannt  werden,  die  sich  dieser  und  jener  Methodiker  hat  zu  Schuldca 
kommen  lassen.  Aus  der  reichen  Litteratur  hierüber  heben  wir  besonders 
den  von  O.  Vogel  entworfenen  Lebrplan  für  Naturbeschreibung  (Königtt. 
Realgymnasium  Berlin  189i)  hervor. 

Den  Handfertigkettsunterr icbt  erwähnt  L»]r  nur  kurz 
und  macht  ihm  unxeitgemasse  Vorwurfe.    Seit  langen  Jahren  hat  die  Me< 

thüdik  dieses  UnteiTtchtes  eine  Vertieftmg  erfahren,  in  dem  von  Lay  ge- 

wün'^chten  Sinne  vor  allem  durch  Franz  Hertel  (Zwickau).  Letzterer 
erstrebt  seit  etwa  30  Jahren  in  diesem  Unterricht?*  die  ..praktische  Durch- 
luhrung  des  didaktischen  Prinzips  des  Darsteliens  der  im  Unterricht  er- 
worbenen Anscliauungen"  und  hat  zu  diesem  Zweck  das  Formen,  das 
plastische  Nachbildoin  einfacher  Naturobjekte  als  Minteosivsteo  An- 
schaunngsunterricht"  (Gera  liKH)  bei  Tb.  Hofmann)  empfohlen,  an  den  sidi 
erst  das  Zeichnen  anzuschtiessen  hat.  Dass  auch  andre  Nationen  auf  diesem 
Gebiete  sehr  thätig  sind,  zeigt  die  kürzlich  erschienene  Studie  von 
H  Brendel  über  den  ..Handfertigkeitsunterricht  in  englischen  Volks- 
schulen" (Zürich  1P01>.  der  seit  langen  Jahren  auf  das  Innigste  mit  dem 
Sachuaterriclit  der  Schule  verknüpft  ist. 

Gr.  Lichtert'elde.  Karl  Pappenheim. 


Tb.  Ziehen:  Ueber  die  Beziehungen  der  Psychologie  tur 

Psychiatrie.  Rede»  gehalten  bei  dem  Antritt  der  ord. 

ProfossnrfiirP^iyrhiatrieander  Universität  IMrecht 
am  10.  Oktober  UKK)  Jena,  Gustav  Fischer.  1900.  32  S. 
In  lichtvoller  und  anschaulicher  Weise  setzt  der  verdien5;tvol!e  Fonsrhcr 
in  dieser  Rede  die  Beziehungen  der  Psychologie  zur  Psychiatrie  auseinander. 
Da  er  selbst  zu  den  hervorragendsten  Förderern  dieser  Beziehungen  zahl^ 
wird  es  nicht  wunder  nehmen,  wenn  er  über  diese  schwierigen  Frageo, 
insbesondere  über  die  Ergebnisse  dieser  Bezit  Hungen  etwas  enthusiastischer 
sirh  -iu-^-^nn  als  dem  nnt^cn1)H(  klioben  Stande  der  experimentellen  Psycho- 
logie ■  •!Us]iri<  lit.  Wenigstens  durfte  der  unbefangene  Leser  dieser  Kode 
sich  kaum  des  Emdruckes  erwehren  können,  dass  die  von  Z,  selbst  hervor- 
gehobene Hauptgefahr  des  ,,schabkMienhaften  Schemattsierens  und  des 
pseudoexakten  Zahlensammelns**  von  den  Bearbeitern  dieses  Gebietes  bisher 
durchaus  nii  In  immer  vermieden  worden  bt. 

Theoretisch  ist  gewiss  nichts  wahrer,  als  dass  eine  wissenschaftliche 
P«;vrhjatrie  einer  exakten  Psyrhnlot^ie  7um  Fundinunto  bedarf;  daran  k.inn 
gar  nicht  gezweifelt  werden  in  jiraxi  freilich  liegen  die  Verhaltnisse  bei- 
nahe umgekehrt.  Die  Psychiatric  ist  die  ahcre  Wissenschaft,  die  eme  grosse 
Fülle  empirischer  Thalsachen  aufgestapelt  hat  und  auf  Grund  dieser  That- 
Sachen  zwar  beileibe  nicht  allen,  aber  doch  immerhin  einigen,  und  gerade 
den  praktisch  wichtigsten  Problemen  gegenüber  cinigermasscn  sich  abzu- 
finden vermag.  Die  experimentelle  Psychologie  dagegen  ist  noch  sehr  jung: 
weniger  durch  die  Zahl  der  Jahre,  auf  die  sie  zurückzublicken  vermag,  als 
vielmehr  —  wir  gestehen  es  mit  schwerem  Herzen  —  durch  die  Unreife 


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Beticiut  tmä  Besfrcchungm. 


319 


und  Unsicherheit  ihrer  bisherigen,  „exakten"  Methode  und  Ergebnisse.  Noch 
sind  die  Thatsachen  auf  dem  Gebiete  der  experimentellen  Psychologie  sehr 
dünn  gesäet,  leider  sogar  noch  um  ein  erhebliches  dünner  ab  die  Amahl 
der  Schulen«  die  sich  um  diese  ».Thatsachen"  gruppieren.  Sollte  das  nicht 
etwa  der  wahre  Grund  sein,  weshalb  heute  noch  die  Mehrzahl  der  Psychiater, 
ebenso  wie  die  Mehrzahl  der  Pädagogen,  bei  denen  die  Verhältnisse  ja 
ganx  analog  Hegen,  der  Entwickelung  der  modernen  Psychologie  und  ihrer 
Uebertragung  auf  die  äpezialwissensc haften  teilnahmslos  und  zum  leii  femd- 
lich  gegenid>er  stdwtt? 

Dazu  kommt  noch  eine  andere  Schwierigkeit,  die  auch  2.  in  «einer 
Rede  streift.  Die  wenigen  gesicherten  Ergebnisse,  die  die  moderne  Psycho* 
logie  aufzuweisen  vermag,  sind  von  den  bestgeschulten  Beobachtern  gewonnen, 
über  die  wir  verfügen.  Es  ist  doch  wohl  nocli  iiTimrr  eine  unerlässlic  he 
1  urderung  auch  m  der  modernen  Psychologie,  eine  i'urdcrung,  du;  trotz 
aller  2Lahlen  imd  Experimente,  trotz  aller  kuuipluieneii  graphischen  und 
elektrischen  Hilfsmittel  sich  niemals  wird  umgehen  lassen:  die  Uebung  in 
der  wissenschaftlichen  Selbstbeobachtung.  Wenn  aber  diese  schon  bei  den 
Psychologen  von  Fach  so  schwierig  erscheint,  dass  im  gründe  genommen 
jeder  etwas  anderes  in  sich  findet,  welche  Hoffnung  besteht  da.  dass  die 
iknsteskranken  jemals  zu  solcher  Höhe  der  Selbstbeobachtung  und  der  ge- 
nauen Beschreibung  des  innerlich  Wahrgenommenen  sich  werden  auf- 
schwingen können,  dass  auf  die^m  Fundamente  eine  psychologische  Psy< 
chiatrie  sich  wird  aufrichten  lassen? 

Doch  genug  der  Zweifel.  Uebersdien  wir  einmal  an  der  Hand  des 
kundigsten  Führers  Z.,  welche  Beziehungen  der  modernen  Psychologie  zur 
Ps. chiatrie  bisher  thatsärhlich  vorliegen,  oder  doch  wenigstens  für  die 
Zukunft  wiinsrhenswi  rt  ocli-i   sog.ir  notwendig  sich  erweisen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Kmpfindungen  begnügte  man  h  bisher  mit 
der  Feststelhing  der  etwa  vorbandetMn  Senstbilititsstörungen,  sowie  der 
Ausfallserscheinungen  innerhalb  der  einseinen  Sinnesorgane.  Z.  verlangt  dazu 
noch  eine  Bestimmung  der  Reizschwelle,  wie  sie  mit  den  feinsten  Methoden 
der  Psychologie  möglich  ist.  Gewiss  würden  die  Eigclmissc  solcher  Unter- 
suchungen an  sich  sehr  interessant  sein;  aber  praktischen  Nutzen  für  die 
Psychiatrie  hatten  sie  nach  keiner  Richtung  hm.  Die  normalen  .Schwan- 
kungen der  Sinnesempfindlichkeit  sind  zweifelsohne  äciton  innerhalb  der 
sog.  Breite  der '  Gesundheit  so  beträchtlich,  dass  nicht  aus  den  feinsten  und 
allerfeinsten,  sondern- vielmehr  nur  aus  grösseren  und  gröberen  Abweichungen 
i^endwelche  suverlässigen  Schlüsse  auf  den  Geistesmstand  eines  Menschen, 
gesogen  werden  dürfen. 

Zur  Erforschung  der  Empfindungsstörimgen.  wie  sie  in  den  liallu- 
cinaiiunen  und  Illusionen  der  Geisteskranken  vorliegen,  gicbt  Z.  einige 
nütsliche  Winke,  die  die  Psychiater  gewiss  dankbar  anerkennen  werden^ 
soweit  sie  nicht  auch  früher  schon  Allgemeingut  der  Wissenschaft  gewesen 
sind.  Indessen  halten  sich  diese  Winke  durchaus  im  Rahmen  derjenigen 
Prüfungsmethoden,  deren  sich  die  Psychiatrie  seit  alters  her  bedient. 

Auf  dem  Gebiete  der  Vorstellungen  handelt  es  sich  nach  Z.  1"!  um 
eine    Inventaraufnahme    des    \  orsteüungsschatzci»   der    Geisteskranken;  2) 
um  die  Prüfung  der  Fähigkeit  zum  Ncucrwcrb  der  Vorstellungen.  Der 
Zetttduift  für  pädagogische  Psychologie  und  Psttolocie.  5 


320 


Berichte  und  Besprechungen, 


erste  Gegcnstaiul  ist  wiederum  theoretis*  Ii  sehr  intet t  ssant,  /uinal  Z.  in  einer 
ausführlichen  Anmerkung  die  von  ihm  m  dtc^em  Zwecke  angeuandtc 
Methode  genau  beschreibt;  praktisch  ist  bei  diesen,  auch  von  Rieger,  Krä- 
pelin»  Sommer  und  deren  SchüJer  vielfach  angestellten  Versuchen  noch  nicht 
das  fn  rirtgste  herausgekommen,  was  über  die  vorher  bereits  vorhandenen 
Kenntnis      '.' i  psychiatrischen  Wissenschaft  hinausreicht 

Du-  Prütung  der  sog.  Merkfähigkeit,  d.  h.  der  Faiiigkeit  zum  Neu- 
erwerb \oi\  Vorstellungen  ist  wohl  stets  (.egenstand  der  psychiatrischen  Lnlcr- 
suchung  gewesen.  Auch  hier  gilt  jcduch,  was  wir  bereits  oben  ausführten, 
dass  für  die  psychiatrische  Diagnose  und  Prognose  nur  die  gröberen  Störungen 
dieser  Fähigkeit  in  Betracht  kommen,  die  auch  ohne  Anwendung  experimen- 
tell-psychologischer Methoden  sich  in  genügend  exakter  \\'eise  feststellen 
lassen.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  experimentcll-psychologisrhe  Methoden 
von  irgend  welcher  Bedeutung  m  dieser  Hinsicht  noch  gar  iii>  ht  \  urliegen. 

Die  von  Z.  angeführten  Untersuchuiigsmethoden  der  Aufmerksamkeit 
und  des  Wiedererkennens  sind  noch  so  schüchterne  Anfange  einer  „Experi- 
mentalmethode*',  dass  wir  furchten  mussten,  sie  bei  genauerem  Zusehen  in 
nichts  zerrinnen  zu  sehen.  Gehen  wir  deshalb  zu  der  Bestimmung  der  Ge- 
scliwindij^keit  des  X'orsulhmgs.iblaufes  über.  ..Man  ruft  dem  Kranken  ein 
Wort  zu  und  fordert  ihn  auf,  die  erste  ihm  emfailende  Vorstellung  laut 
auszusprechen."  Die  Zeit,  die  zwischen  diesen  beiden  Momenten  vergeht, 
giebt  —  natürlich  in  Tausendstelsekunden  gemessen  —  ein  Mass  der  Ge- 
schwindigkeit des  Vorstellungsablaufes,  Damit  sich  diese  Behauptung  be- 
wahrheitet, ist  vor  allem  eine  gute  Portion  vcm  Gutwiltigkeit  und  Verständ- 
nis von  Seiten  der  Versuchspersonen  erforderlich.  Bei  Geisteskranken  dürften 
•diese  Eigenschaften  kaum  in  dem  gewünschten  Masse  vorhanden  sein 

Die  experimentelle  Untersut  hung  der  ( Gefühle  und  Gefühlsioiie  :st 
bisher  noch  nicht  einmal  in  der  normalen  Psychologie  gelungen,  geschweige 
denn  bei  krankhaften  Störungen  dieser  Seelenfunktionen. 

Relativ  am  genauesten  erforscht  sind  in  der  modernen  Experimental- 
Psychologie  die  sog  Reaktionszeiten.  Indessen  auch  hier  ist  eine  Ueber^ 
tragung  dieser  Methoden  in  die  Psychiatrie  unmöglich,  weil,  wie  Ref.  aus 
eigener  Erfahrung  weiss,  selbst  beim  bestges«  Kulten  Beobachter  die  Schwii-risr 
keiten  der  exakten  Feststellung  der  Reaktionszeiten  bisher  noch  nicht  in 
einwandsfreier  Weise  überwunden  sind.  Daher  können  wir  Z.  mchi  zu- 
stimmen ,  wenn  er  sagt ,  die  Prüfimg  der  Reaktionsseiten  sei  in  solchen 
Falten  von  unschatsbarem  Werte,  in  welchen  die  körperliche  Untersuchung 
nicht  ausreiche,  mit  Sicherheit  zu  entscheiden,  ob  z.  B.  eine  unheilbare 
Dementia  paral>*tira  oder  eine  heiihare  Nervosität  vorliegt.  Wir  behaupten 
dagegen:  der  Arzt,  der  auch  nur  iti  seinem  eigenen  Innersten  selbst  eine 
Wahrscheinlichkeitsdiagnose  auf  Dementia  paralytica  steht,  wetin  eine  \'er- 
änderung  der  Reaktionszeiten  nadiwebbar  ist,  ohne  dass  die  überaus  cha- 
rakteristischen und  leicht  feststellbaren  körperlichen  Symptome  dieser  Er- 
krankung vorliegen,  macht  sich  der  gröbsten  Fahrlässigkeit  schuldig.  Z. 
selbst  würde  eine  solche  Gewisseiüosigkeit  sicherlich  niemals  b^ehen. 

Hiermit  schliesst  die  Uebersicht  der  Ergebnisse  und  .Anregfungen,  die 
aus  der  Diskussion  der  Bcziehunj^rn  der  rs\ r  liologie  und  Psyiluatric  na-  h 
Z.  hervorgehen.  Das  Resultat  ist  doch  wohl  ein  sehr  durüiges.    l  hatsachen 


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Bericht*  und  Btsprechungen. 


321 


lu'gen  überhaupt  mx  Ii  nicht  vor.  Die  Hoffnungen  und  Aussirhtf>n.  die  sirh 
eroffnen,  erwiesen  sich  der  Kritik  gegenüber  wenig  standhaft.  Was  bleibt 
übrig?  Die  Psychiater  werden  besser  thun,  die  EntwicUung  der  eben  in 
den  ersten,  wenn  auch  noch  so  vielversprechenden  Anfängen  begriffenen 
modernen  Psychologie  noch  eine  Zeit  lang  wohlwollend  abzuwarten,  ehe 
sie  den  Versuch  gutheissen,  die  vorläufig  noch  etwas  unsicheren  Ergebnisse 
solcher  Forschungen  in  die  empirisch  gesicherte  psychiatrische  Wissensrhnft 
ohne  weiteres  zu  übertragen.  Dieser  Standpunkt  i<it  hoffentUch  ebenso 
weit  entfernt  von  einer  Unterschatzuiii;  der  modernen  experimentellen  Psy- 
chologie, wie  von  einer  Geringachtung  der  Leistungen  Z.'s  auf  diesem  Ge- 
biete, mit  dessen  Bestrebungen  wir  uns  vielmehr  principiell  eins  wissen. 
Er  ist  lediglich  geboten  durch  die  Absicht  einer  gerechten  und  kritischen 
Würdigung  der  gegenwärtigen  Sachlage.  L.  Hirschlaff,  Berlin. 


Karl  Richard  Löwe:  Wie  ersiehe  und  belehre  ich 
mein  Kind  bis  zum  sechsten  Lebensjahre?  Für 
Eltern  und  £  r  z  i  e  h  e  r.  H  a  n  n  over  und  Bertin.  1898. 

Carl  Meyer  (G  u  <  t  ^  %■  P  r  i  o  r).   152  S. 

Die  populär  gehaltene  Schrift  wendet  sich  an  Eltern  und  Erzieher, 
die  praktischen  und  gewissenliaften  Ratschlägen  zugänglich  sind.  Das 
Buch  will  nicht  einen  Beitrag  zur  Erziehungswissenschaft  liefen,  ist  vieU 
mehr  aus  der  Praxis  hervorgegangen  und  ordnet  alle  Auseinandersetsungen 
der  Hauptfrage  unter:  „Was  habe  ich  su  thun,  dass  mein  Kind  diejenige 
Bildung  erlangt,  welche  ich  \hm  von  Herzen  wünschen  muss?" 

Von  dem  Gedanken  ausgehend,  dass  nur  in  einem  gesunden  Köry^er 
sich  ein  gesunder  Geist  entwickeln  kann,  hat  Löwe  in  der  Einleitung 
einen  kurzen  Abschnitt:  „Vom  körperlichen  Wohlbefinden  des  Kindes", 
vorausgeschickt,  um  sich  dann  „der  naturgemässen,  vernünftigen  und  guten 
Erziehung'*  ~  zuzuwenden. 

Dieser  Teil  hat  vier  Abschnitte: 

I.  Die  sittliche  Bildung  des  Kindes  (S.  9— 2K),  die 
\'erf.Tsser  als  die  erste  und  schwerste  .Aufgai^e  der  Kitern  und  Krzieher 
bezeichnet,  bei  der  leider  von  diesen  zu  oft  wissentlich  oder  unwi^hentUch 
gefehlt  wird.  —  Sie  umfasst  Erziehung  zum  Gehorsam,  Erziehung  zur 
Wahrheitsliebe  und  Charaktergründtmg. 

II.  Die  geistige  und  körperliche  Bildung  des 
Kindes   bis   zum    Sprechenlernen  (S.  28 — 54). 

Wie  entwickelt  sich  der  Verstand  des  Kindes?  Kann  ein  Kind  \or 
Beginn  des  Sprechcnlernens  eine  nennenswerte  geistige  Bildung  besitzen.^ 
Danach  regeln  sich  die  Hauptforderungen  für  die  Erziehung  bis  zum 
Sprechentemen. 

III.  Das  Sprecheniernen  (S.  64—71).  Recht  beachtenswerte 
Anweisungen  werden  den  Eltern  in  diesem  Kapitel  erteilt;  wie  z.  B.  am 

leichtesten  nnd  wirks.nmsten  etwaigen  Spra<  lifehlern  vorgebeugt  und  ab- 
geholfen werden  könne,  wie  der  l'ebergang  vom  Sprechen  einzelner  Wörter 
ZU  kleinen  Sätzen  sich  am  zweckmässigsten  vollzieht  etc. 

6^ 


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322 


W .  Die  Erziehung  des  Kindes  nach  dem  Sprechen- 
lernen  (S,  71  — 147).  Dirsrr  hei  weitem  umfangreichste  Teil  des  Buches, 
der  für  das  4.  —  6.  Lebensjahr  bestimmt  ist ,  beschäftigt  sich  mit :  den 
Beiidiungen  des  Kindes  zu  Gott»  dm  Naturbeobachtungen,  den  Beziehungen 
zu  den  Mitmenschen.  Seine  Arbeit  beschliesst  L.  mit  einer  Reibe  allge* 
meiner  Ratschläge.    Sie  mögen  auch  an  dieser  Stelle  titiert  werden: 

.,1.  Versieh  nichts  im  Anfange;  in  der  Erziehung  ist  jeglicher  Anfang 
folgenschwer. 

2.  Fordere  nicht  mehr  vom  Kinde,  als  in  seinen  Kräften  steht;  fordere 
auch  nicht  so  viel,  als  es  mit  Mühe  vollbringen  kann;  fordere  nur  SO  vidt 
dasB  es  der  Forderung  mit  Freudigkeit  nachkommen  kamt.  Bei  Eltern  wie 

bd  Kindern  darf  es  nicht  am  guten  Willen  und  am  freudigen  Thun  fehlen. 

3.  In  der  gesamten  sittlichen  Erziehung  hüte  dich  vor  Aufnahmen, 
wie  vor  einem  Unheile.  Bleibe  deinen  (irundsätzen  treu  unter  allen  Um- 
ständen. Behüte  das  Kmd  vor  dem  Thun  deä  Falschen,  Schlechten  und 
Bösen.  Behüte  es  vor  allem  schädlichen  Umgange. 

4.  In  der  geistigen  BUdung  und  Kräftigung,  in  der  Ausbildung  des 
Verstandes  gehe  sehr  langsam  und  bedächtig  vor.  Warte  ruhig,  bis  das 
Kind  eine  Sache  begriffen  hat ;  bei  der  geistigen  Arbeit  schadet  jedes 
Drängen  und  Hasten.  Beobachte  dabei  stets,  ob  das  Kind  mit  der  .\ngelegen- 
hcit  sich  gern  beschäftigt.  Ist  das  nicht  der  Fall,  so  ist  sein  Geist  noch 
nicht  kräftig  genug,  oder  Du  hast  ihm  die  Sache  nicht  leicht  genug  gemacht» 
oder  es  sind  Störungen  vorhanden,  die  Du  erst  vorüber  lassen  musst.  Uebe 
in  der  Bildung  des  Wissens  keinen  Zwang  aus. 

5.  Gehe  bei  allem  Lernen  stets  von  der  wirklichen  Anschauung  aus, 
und  gehe  niemals  über  den  Gegenstand  hinaus,  welchen  das  Kind  vor  steh 
hat.  Bilde  den  Verstand  des  Kindes  niemals  durch  blosse  Worte,  sondern 
allemal  zuerst  durch  das  Betrachten  und  Untersuchen  des  wirklichen  Gegen- 
standes. 

n    Sorge  füi  häufige  Wiederholtmg  in  einer  Weise,  welche  dem 

Kmde  angenehm  ist. 

7.  Vergiss  nie,  dass  das  Kmd  nicht  lange  bloss  geistig  tbätig  sein 
will,  sondern  dass  es  hauptsächlich  körperlich  tbätig  sein  will.  Ver- 
binde so  viel  als  möglich  die  geistige  Thätigkeit  mit  der  Thätigkeit  der  Hand/* 

Der  wanne  und  ansprechende  Ton  des  Buches,  Vermeidung  von  Fremd- 
wörtern und  fachwissenschaftlichen  Ausdrücken,  sowie  gemeinverständliche 
Darstellung  sind  \'orzu^'c,  die  die  Schrift  allen  Eltern,  die  sich  über  ihre 
Erziehungsaufgaben  rasch  informieren  wollen,  empfehlen. 

Berlin.  H.  Koch. 


Rudolf    Pcnzig,    Ernste    Antworten   auf  Kinderfragen. 
Ausgewählte   Kapitel  aus  einer   praktischen  Päda- 
gogikfürsHaus.  2.  Aufl.  Berlin  1899.  DümmlersVerlag. 
Mit  dem  Ende  des  S.  Lebensjahres  beginnt  das  Kind  seine  Wissbe- 
gierdc  durch  Fragen  zu  äussern,  die  sich  auf  die  verschiedenartigsten  Dinge 
beziehen,  von  Vorgängen  des  alltäglichen  Lebens  bis  in  die  tiefsten  meta- 


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Benchlc  und  Besprechungen, 


323 


physischen  Probleme  hinein.  Jetzt  bildet  es  sich  seine  ersten  Vorstellungca 
von  Natur  und  Welt,  Leben  und  Tod,  Gott  und  Schöpfung  und  denkt 
über  sein  Verhalten  gegen  Eltern,  Geschwister,  Dienstboten,  Mitmenschen, 
Tiere  a.  a.  nach.  Damm  ist  es  von  grösster  Wichtigkeit,  den  Ueinen 
Frager  in  richtiger  Weise  zu  belehren  und  nicht  bnrsch  zurückzuweisen. 
Nun  werden  aber  Modus  und  Inhalt  der  kindlichen  Begnffsbildung  durch 
die  Welt-  und  Lebensanschaiiung,  sowie  durch  die  Kenntnisse  des  Erziehers 
so  stark  beeinflusst,  dass  das  spätere  Leben  noch  viellach  Spuren  davon 
aufweist.  Eben  deshalb,  suchen  religiöse,  sodalpoUtische,  ethische  Neuerer 
diesen  Boden  zu  bearbeiten. 

So  ist  auch  das  vorliegende  Buch  von  einem  bestinunten  ethisch- 
pädagogischen  Standpunkt  geschrieben,  der  nicht  überall  auf  den  Beifall 
weitester  Kreise  rechnen  dürfte.  Pädagogisch  kann  man  einwenden,  dass 
eine  frühreife  rationalistische  .')enkweise  erzeugt  wird;  der  poetische  Schieier, 
der  die  kindlichen  Anschauungen  wohlthätig  bedeckt,  wird  schnell  gelüftet, 
um  den  kleinen  Denker  auf  der  Bahn  der  Begriffe  fortsufübren;  i^^idwo 
muss  natürlich  Halt  gemacht  werden.  Es  ist  schwer,  immer  eine  Grenze 
anzugeben,  bis  zu  welcher  der  Erzieher  in  der  Darstellung  der  wirklichen 
Verhältnisse  gehen  soll;  Penzig  wnmt  vor  Bequemlichkeit  und  Prüderie, 
er  Ulli  sogar  nach  Roussenus  und  Basedows  Rezept  den  Vorgang  der 
Zeugung  und  den  Geschlechtsunterschied  —  wetin  auch  in  vorsichtiger  Weise 
—  behandehi,  wie  «s  neulich  E.  Stiehl  in  den  neuen  Bahnen  voige- 
schlagen  hat. 

Die  Sittlichkeit  des  Kindes  soll  nicht  auf  dem  Boden  der  Gewöhnung 
allein  angestrebt  werden,  sondern  es  müssen  auch  die  Gründe  für  das 
Sollen  und  N'ichtdürfen  hinzutreten  :  niclit  instinktives  Pflichtgefühl,  sondern 
forma!  Ingtundet  und  losgelöst  von  religiösen  Beiniischungen.  Beherzigens- 
wert ist,  was  der  Verfasser  über  die  Entwickclung  der  ersten  Rechtsbegriffe 
bei  Kindern  sagt,  über  die  Einschärfung  des  Satzes,  dass  Gewalt  unter 
kdnen  Umständen,  niemals  imd  nirgendwo  Recht  schafft.  Nicht  minder 
die  Beobachtungen  und  praktischen  Ratschläge  in  Bezug  auf  das  Verhalten 
der  Kinder  gegen  ihre  l^mgebiing.  im  Hause,  in  der  S<:luile  und  in  der 
Natur,  in  Bezug  auf  Kinderlügen  u.  v  a  .  worin  Ref.  mit  P.  vorzüglich 
Übereinstimmt.  Wir  glauben  daher  dem  Buche  die  besten  Empfehlungen 
auf  den  Weg  geben  zu  dürfen,  es  wird  oft  belehrend,  stete  aber  anregend 
wirken.  Der  Preis  von  2,80  Mk.  dürfte  kein  Hindernis  für  seine  An- 
schaffung sein,  -s. 


( 
i 


324 


Die  "wissenschaftliche  L  e  i  t  U  U  g  der  bisher  von  dem 
küfitiich  verstorbenen  Kreisschulinspektor  Dr.  Gustav  Fröhlich  in  Sankt 
Johann  herausgegebenen  „Klassiker  der  i  aJagogik"  (Verlag  der  G.  F.  L. 
Gressler'schot  Schutbuchhandliing  in  Langensalza)  hal  Dr.  Hant  Zimmer 
in  Leiptig  übernommen.  Die  Sammlung  umfasst  bis  jetzt  SO  Binde;  mit 
dem  21.  Bande  beginnt  also  die  Wirksamkeit  des  netten  Henmsgebers. 


„Geisteskrankheit  unter  den  Lehrerinnen* 
Ist  der  Titel  eines  Aufsehen  erregenden  Aufsatzes,  den  Professor  Zimmer 
soeben  in  der  ^christlichen  Welt"  veröffentlicht  hat  Er  berichtet»  dass  ihm 
beim  Besuch  verschiedener  Irrenanstalten  aufgefallen  sei,  dass  p,verhältnis> 
massig  viele  und  ernst  erkrankte  Lehrerinnen  unter  den  Geisteskranken 
sich  befanden."  Diese  Beobachtungen  g^ibcn  Professor  Zimmer  Veran- 
lassung, eine  Umfrage  bei  samtlichen  Irrenanstalten  in  Deutschland  Oester- 
reich, der  Schweiz  und  Kussland  zu  veranstalten,  die  zwar  nicht  vun  alicn. 
jedoch  von  einem  grossen  Bruchteil  beantwortet  ist  Das  Resultat  ist, 
dass  auf  80  bis  90  weibliche  Gebteskranke  eine  Lehrerin  kommt  Da  in 
^«issen  nach  der  letsten  Zählung  auf  je  350  Frauen  eine  angetteilte 
Lehrerin  entfällt,  so  ergiebt  sich,  dass  die  psychische  Gefährdung  der  Lehre- 
rinnen viermal  so  k'ros  ist  als  sie  nach  dem  Durchschnitt  der  Friuen- 
gcfährdung  sein  würde.  Noch  schlimmer  steht  es  mit  den  jungen  Mädchen, 
die  in  der  Vorbereitung  zum  Lehrerberui  stehen.  Diese  sind  nach  der 
Ansicht  des  Professors  Zimmer  etwa  zehnmal  so  sehr  psychisch  gefährdet, 
als  die  Frauen  überhaupt  Der  genannte  Autor  erklärt  weiter:  ^Wenn 
Telephontstinnen  und  Verkauferinnen  nervös  werden,  so  nimmt  das  nicht 
Wunder;  denn  ihre  Thätigkeit  findet  keine  Resonanz  im  Fraucngeraut 

Aber  wenn  die  Lehrerinncnthätigkeit.  cK  r  N  atur  der  Sache  nach  so  recht 
dem  Fraucnjfcmüt  entsprechend,  durch  dies  oder  jenes  Unzweckmässige 
in  Vorbildtmg  und  Ausübung  gefährdet  wird,  dann  giebt  es  allerdings  viel 
zu  denken." 


Individuelle  Erziehung.  Bei  dem  überraschend  grossen 
Interesse,  das  speziell  die  Mütter  im  allgemeinen  für  die  geistige  Ausbildung 
der  Töchter  haben,  möchte  ich  gerne  ein  Schriftstück,  das  mir  durch  Zufall 
in  die  Hände  kam,  der  Oeffentlichkeit  übergeben,  damit  dn  kleines  Bei- 
spiel lehrt  wie  systematisch  die  Eigenart  der  Kinder  ruiniert  wird.  Es 
handelt  sich  um  eine  schriftliche  Arbeit,  die  ein  Kind  in  der  siebenten 
Klasse  einer  i  rivatschulc  eines  Vororts  von  Berlin  gemacht,  imd  um  die 
Korrekturen,  die  die  Lehrerin  darin  angebracht 


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325 


Das  Kind  schrieb: 

7.  Mai  1901. 

Die  VValdbäumc: 

In  einem  Laubwalde  ist  es  gemütlich  und  traulich,  die  Baume  stellen 
weiter  auseinander  als  der  Nadelwaid.  In  den  Laubwald  strömt  mehr  Licht 
hinein  als  im  Nadelwald. 

Die  Lehrerin  korrigiert: 

In  einem  Lanbwalde  Mt  der  Eindrndc  auf  uns  ntelir  wohlUraeiider 
und  traulicher,  die  Bäume  stehen  wegen  der  breiten  Kronen  vereinzelter, 
als  «m  Nadelwaldc.  so  dass  mehr  Licht  und  Luft  in  den  Laubwald  hinein- 
strömen kann,  als  in  den  Nadelwald. 

Abgesehen  von  dem  klassischen  Comparativ,  den  die  Lehrerin  an- 
gewendet, ist  natürlich  ilir  Bericht  korrekter  als  der  des  Kindes,  doch  war 
sie  eigentlich  nur  berechtigt,  wirkliche  Sprachfehler  zu  verbessern,  und  hatte 
die  P dicht  gehabt,  den  Versuch  des  Kindes,  sich  nach  eigenem  Empfinden 
auszudrücken,  zu  respektieren.  Wären  doch  Eltern  und  Lehrer  schon  so 
weit,  dass  sie  die  Eigenart  eines  Kindes  als  etwas  Köstliches  ansähen  und 
nicht  immer  nur  die  dreimalheilige  Schablone  kultivieren  würden.  J^y. 

(D.  W.  a.  M.) 


In  der  diesj.ihrigcii  Tnpfttnpf  des  Vereins  für  Kinderforschunj; 
in  Jena  wurden  eine  Keilie  interessanter  Vorträge  gehalten»  von 
denen  wir  iolgendes  hervorheben: 

Zunächst  wurde  auf  Grundlage  einer  Arbeit  des  Würzburger  Chi- 
rurgen und  Orthopäden  Prof.  H  o  f  f  a  über  die  medizinisch-päda- 
gogische Behandlung  gelähmter  Kinder  verhandelt.  Es 
kommen  bei  Kindern  zunächst  Lähmungen  vom  Gehirne  aus  vor.  die  durch 
eine  wahrend  der  Geburt  eintretf-nd«-  Blutung  in  die  Gehirnhäute  entstanden 
sind.  Das  Kind  bringt  die  Lähmung  mit  auf  die  Welt.  Dazu  gesellen  sich 
plötxlich  eintretende  halbseitige  Lahmungen,  die  nach  den  einen  in  der 
Entzündung  der  grauen  Himsubstanz,  nach  anderen  in  der  Verstopfung 
von  Gelassen  im  Gehirn  ihren  Grund  haben.  Andere  Lähmungen  gehen 
\<>n  krankhaften  Veränderungen  im  Rückenmark  aus;  wiederum  andere  von 
Erkrankungen  der  peripherischen  Nerven.  Hoffa  geht  die  verschiedenen 
Arten  der  Lähmungen  bei  Kindern  darauf  hin  durch,  in  wi''  weit  es  mögltch 
ist.  sie  durch  ärztliche  uu'l  pädagng^ische  13ehandlung  zu  bessern.  Insbe- 
sondere verweilte  er  bei  denjenigen  Lähmungen,  die  von  krankhaiten  Ver- 
änderungen im  Gehirn  ausgehen.  Er  zeigt,  wie  hier  durch  pädagogische 
Arbeit  viel  zu  erreichen  ist,  wie  insbesondere  durch  Erziehung  und  Uebung 
auf  die  Herabminderung  des  Schadens  in  der  Auffassung  und  an  der  Spraye 
hingewirkt  werden  kann«  zumal  wenn  Lehrer  und  Arzt  hier  gemeinsam 
arbeiten.  Hervorgehoben  wird  von  anderen,  dass  auch  bei  den  Lähmtmgen, 
die  von  Störungen  im  Rückenmark  ausgehen,  diirrh  Uebung  und  Erziehunf? 
Erfolge  zu  erreichen  sind.    Es  folgten  Erörterungen  über  sog.  psycho- 


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326 


Muteüungen. 


pathischc  Kinder.  Dazu  erstattete  der  Erziehungsiiupektor  der  Idioten- 
anstalt  in  Dalldorf  bei  Berlin,  Piper,  den  Bericht  Naeh  seiner  langjährigen 
Beobachtung  stellt  er  hier  zwei  Hauptgmppen  auf.  Er  unterscheidet  psycho- 
patbisc!u  Kinder  mit  moralischen  Defekten  anf  der  Grundlage  von  Scbwach>- 

'^\r\\\  und  solche  mit  ganz  einseitiger  Begabung.    Bei  den  Psychopathien 

der  k't^tpren  Art  spiele  die  Erblichkeit  eine  grosse  Rolle.  Dagegen  wird  ein- 
«eworten,  dass  die  Bedeutung  der  Vererbung  im  allgemeinen  sehr  über- 
schätzt werde. 

Von  allgemeinem  Interesse  ist  ein  Vortrag  des  Jenenser  Professors  der 
Irrenheilkunde  Dr.  Binswanger  über  Hysterie  im  Kindesalter. 

Einleitend  cnirurt  Binswanger  die  Geschichte  der  Krankheit»  von  dem  Namen 
aiisjrehend.  !.r  zeigt,  dass  die  in  der  Namengebung  ausgesprochene  An- 
nahme von  der  Ursache  der  Krankheit,  Hysterie  bedeutet  dem  Worte  nach 
„Mutterwcli".  irrig  ist;  dass  man  vielmehr  schon  lange  \\<.  is<.  dass  die  Hysterie 
ein  allgemeines  Nervenleiden  ist,  das  sich  in  den  verschiedenartigsten  Stö- 
rungen des  Gefühls  und  des  Bewegungsapparates  und  der  psychischen 
Thätigkeit  ausspricht.  Die  Anschauungen  gehen  allgemein  dahin,  dass  die 
Hysterie  in  einer  gesteigerten  Erregbarkeit  der  Nervenzellen  der  Grösshim- 
rinde  ihren  Gnmd  hat.  Früher  meinte  man,  die  Hysterie  sei  due  Krankheit 
ausschliesslich  des  weiblichen  Geschlechts.  Jetzt  weiss  man  aber,  dass  sie 
sich  auch  beim  männlichen  Geschlecht  findet.  Bei  Kindern  beiderlei  Ge- 
schlechU  kommt  sie  vor.  Die  Hysterie  der  Kinder  hat  eine  hetrachiliche 
Verbreitung.  Schon  deswegen  wäre  es  erwünscht,  dass  Eltern  und  Erzielter 
sich  über  das  Wesen  der  Krankheit  unterrichteten.  Aber  noch  aus  einem 
andern  Grunde,  nämlich  ueil  bei  richtiger  Kenntnis  der  Krankheit  Lehrer 
nnd  Erzieher  mit  Erfolg  eingreifen  können  Hysterische  Kinder  werden 
allzu  oft  von  den  Eltern  und  Erziehern  durchaus  falscb  behandelt.  Sie  crehen 
auf  das  Empfinden  des  kranken  Kindes  allztisehr  ein.  Hat  sich  da<  Kind 
weh  gethan,  so  wird  es  bemitleidet.  Das  ist  falsch.  Man  muss  ihm  die 
Schmerzensempfindung  „ausreden"  und  durch  das  Beispiel  ihm  zeigen,  dass 
es  seine  Empfindungen  ubertreibt.  Zu  diesem  Vorgehen  im  Einzelfalle 
muss  die  planmässige  gesundheitsmässige  Erziehung  zum  Zwecke  der  Herab- 
setzung der  nervösen  Erregbarkeit  hinzukommen.  Zur  richtigen  Erziehung 
eines  hysterischen  Kindes  gehört  nicht  nur  Ver^tändni-^.  sondern  auch 
Willenskraft.  Hysterische  Mütter  sind  hysterischen  Kmdern  gegeniibcr 
machtlos. 

Letzter  Gegenstand  der  Verhandlung  war  die  S  c  h  u  1  a  r  z  t  f  r  a  g  c. 
Prof.  Leubuscher,  Deecrnent  für  Medixiiialwesen  im  sachsen-metnin< 
genschen  Ministerium,  schilderte  den  gut  organisierten  schulärztlichen  Dienst 

in  seinem  Bezirke.  Es  sind  in  Sachscn-Meiningen  Schulärzte  sowohl  für 
die  Volksschulen  als  auch  für  die  höheren  Unterrichtsanstalten  angestellt. 
Ihre  Zahl  ist  so  hoch  bemessen,  dass  eine  jede  Schtile  wenigstens  zweimal 
im  Jahre  ärztlich  geprüft  werden  kann.  Bei  der  Dienstanweisung  für  die 
Sei  ulärzte  ist  d^auf  Bedacht  genommen,  ihre  Thätigkeit  so  abzugrenzen, 
dass  sie  in  den  Arbeitsbereich  des  I^hrers  nicht  übergretfeq.  Vielmehr  ist 
darauf  hingezielt  worden,  dass  Lehrer  nnd  Schularzt  gemeinsam  für  die 


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MUttüungm. 


327 


Schulhygiene  thätig  sindL  Die  Schulärzte  senden  Berichte  an  die  Medizina!- 
alitetlung  des  Ministerium?  ein.  Die  Bearbeitung  dieser  Berichte  hat  eine 
neue  Seite  erkennen  lasstu.  von  der  aus  die  Scluilarzttrage  wichtig  ist.  Die 
Unursuchiung  grösserer  Reihen  von  Schulkindern  giebt  neue  Aufschlüsse 
über  dk  Haafi^rkeit  von  bestimmtem  Krankheiten  in  einzelnen  Gegenden. 
Man  gewinnt  neue  Betträge  zur  »»geographischen  Pathologie''. 


Neue  Bestimmungen  über  clic  zweite  Lehrerprüfung,  dk 
Prüfung  der  MittelschuUehrcr  und  der  Rektoren  trifft  ein  Erlass 
des  Ministers  Studt»  der  wohl  als  ein  Ergebnis  der  im  Kultus* 
ministerium  abgehaltenen  Konferenz  über  die  Lehrerbildung  an- 
zusehen ist: 

Diese  neuen  Prüfungsordnungen  treten,  soweit  die  zweite  Lehrer- 
prüfung in  Betracht  kommt,  schon  am  1.  Januar  und  für  die  übrigen  Prü- 

funpren  am  1.  April  int">2  in  Kraft.  Die  bezüglichen  Hi-^herigen  Prüfungs- 
ordnungen, enthalten  in  den  vom  Minister  Dr.  Falk  unter  dem  lo.  Oktober 
1872  erlassenen  „Allgemeinen  Bestimmungen  ,  werden  aulgehoben.  Be- 
züglich der  zweiten  Lehrerprüfung  sind  die  wesentlichen  Neuerungen  fol- 
gende: 

Das  Militardienstjahr  bleibt  für  die  Zeit»  in  der  die  Prüfung  abzu- 
legen ist»  ausser  Berechnung.    Die  bisher  mit  der  Meldung  zur  Prüfung 

einzureichende  schriftliche  Arbeit  über  ein  pädagogisches  Thema  fällt  weg» 
ebenso  du:  bisher  besonders  geforderte  I'robeschrift  und  Probezeichnung. 
Dem  Meldeschreiben  ist  eine  Angahe  beizulegen,  in  welchem  Fache  der 
Bewerber  sich  besonders  weitergebildet,  und  mit  welchem  pädagogischen 
Werke  er  sich  eingehender  beschäftigt  hat  Der  Kreisschulinspektor  hat 
der  Meldung  einen  Bericht  darüber  anzuschUessen,  welche  Schulstellen  der 
Bewerber  verwaltet,  in  welchen  Klassen  und  in  welchen  Fächern  er  unter» 
richtet»  und  wie  der  Lehrer  sich  nach  Massgabe  der  Revisionen  im  Schul« 
dienst  bewährt  hat.  Wird  die  Zulassung  zur  Prüfung  versagt,  so  sind  dem 
bctreflFcndcn  I. ihrer  die  Gründe  hierfür  zu  eröffnen.  Das  Provinzialschu!- 
ko'.icgium  bestimmt  unter  möglichster  Berücksichtigung  der  ausgesproclienen 
Wunsche  da»;  Seminar,  an  den»  die  Prüfung  abzulegen  i?t.  Rc^ondi-'s 
betont  wird,  dass  die  Prüfung  nicht  den  Zweck  hat,  festzustellen,  ob  die  Be- 
werber das  in  der  Entlassungsprüfung  nachgewiesene  Wissen  in  den  ver- 
schiedenen Lehrfächern  noch  besitzen,  sondern  es  ist  ihre  Aufgabe,  die 
Tüchtigkeh  des  zu  prüfenden  Lehrers  für  die  Verwaltung  eines  Schulamtes 
zu  ermitteln.  Während  der  schriftlichen  Prüfung  ist  statt  der  tMsherigen 
drei  Klausurarbeiten  nur  eine  solche  über  ein  pädagogisches  Thema  inner- 
halb vier  Sliinflen  anzufertigen  Dir  .\nfgal>e  für  die  abzulegende  Lehr- 
prtil)r  i>t  imter  „ihunlichster  Berücksichtigung  der  Klassen  und  Fächer"', 
in  denen  der  Lehrer  bisher  unterrichtet  hat,  zu  stellen.  Bei  zweifelhaften 
Ergebnissen,  oder  wenn  der  Ausfall  der  Lehrprobe  im  Widerspruch  steht  zu 


328 


XhtL'itungen. 


dem  Zeuffnisse  über  die  unterrichtlichen  Leistungen  des  Bewerbers.  kaniT 
die  Prüfungskommission  eine  zweite  Lehrprobe  aufgeben.  Wahrend  der 
mündlichen  Prnfunn  i?t  einzugehen  auf  die  Geschichte  dc<  Untcrriclit?.  auf 
die  Unternchi!»-  und  Er/a luing^ifhrc  und  auf  die  Schulpraxis,  besonders 
auch  auf  die  im  Bezirk  geltenden  Schulverordnuiigon.  Auf  das  positive 
Wissen  ist  nur  nalicr  einzugehen,  wenn  der  Gang  der  Prüfung  hierzu  be- 
sonders Anlass  gietit.  In  das  auf  Grund  der  bestandenen  Prüfung  erteilte 
Zeugnis  der  Befähigung  zur  endgiltigen  Anstellung  als  Lehrer  im  Volk»- 
Schuldienst  sind  die  in  den  einzelnen  Prüfungsgegenständen  erlangten  Prä- 
dikate nicht  aufzunehmen;  sie  dürfen  ihm  aber  in  besondcfef  Anlage  bei- 
gefügt werden.  Eine  Wiederholung  der  Prüfung  ist  frühestens  nach  Ablauf 
eines  halben  Jahres  pestattet. 

Mit  der  Tendenz  der  Neuerung,  die  zweite  Prüfung  nicht  als  ein 
W  lasensrigorosuui,  sondern  als  eine  Feststellung  der  pädagogisch-praktischen 
Befähigung  des  Lehrers  für  den  Schuldienst  anzusehen,  wird  man  sich  ein- 
verstanden erklären  können.  Dieser  Charakter  der  Prüfung  hat  natürlich 
auch  die  Erleichterungen  wie  den  Fortfall  der  Meldungsarbeit  und  die  Be- 
schränkung  der  bisherigen  drei  Klausurarbeiten  auf  eine  tm  Konsequenz, 
die  in  Lehrerkreisen  zweifellos  mit  Beifall  begrüsst  werden  werden. 


In  der  neuen  Verordninig  des  KulUisniiiiisUTS  uIkt  dit-  Lehrcr- 
prüfiinj^cn  werden  \\Wr  die  Prüfungen  der  Mittelscliullchrer  fol- 
gende Bostinummf^i-n  gotroltcn: 

Die  wiciitiK^t*'  Acndrrunpf  an  den  \\)r>chrntcn  über  diese  Prüfung 
besteht  in  einer  beträchtlichen  Vermehrung  der  Fächer,  in  denen  der  Be- 
werber nach  eigener  Wahl  sich  prüfen  lassen  kann,  und  in  einer  Erhöhung 
der  in  jedem  einzelnen  Wissensgebiet  gestellten  Anforderungen,  namentlich 
in  den  naturwissenschaftlichen  Fächern.  Für  die  Prüfung  der  Lehrer  an 
Mittdschulen  sind  fortan  stets  zwei  der  nachbezeichneten  Fädier  zu  wählen: 
1.  Religion  (evangelisch  oder  katholisch):  2.  Deutsch:  3.  Französisch;  4. 
r.nKli^ch;  5.  Geschichte;  <>  Erdkunde:  7.  Mathematik;  8.  Botanik  und 
Zoologie;  Physik  und  Chemie  nebst  Mineralogie,  Im  unterrichtlichen 
Intere^ve  sind  die  in  der  Prüfungsordnung  besonders  genannten  Verbin- 
dungen von  je  zwei  Fächern  zu  berücksichtigen.  Die  Prüfung  dari  in  den- 
selben Fächern  nur  einmal,  und  zwar  frühestens  nach  Ablauf  eines  Jalires, 
wiederholt  werden.  Die  Prüfung  im  Lateuilschen  tritt  nicht  mehr  an  die 
Stelle  eines  anderen  Prufungsgegenatandes,  jedoch  ist  Bewerbern,  die  eine 
Lehrbefähigung  im  Lateinischen  zu  erlangen  wünschen,  die  Gelegenheit 
dazu  geboten. 

Die  Prüfungsgebühr  ist  von  12  auf  20  Mark  erhöht  worden.  Die 
Erhöhung  der  Gebühren  gilt  auch  für  die  Ordnung  der  Prüfung  der  Rek- 
toren, die  im  übrigen  nur  Mcuerungen  untergeordneter  Art  aufweist. 


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329 


Bibliotheca  pädo-psychologica* 

Von  O.  Pfungst. 


III.  Hys:iene  des  Kindes. 
Agahd.  C.    Zur  Würdifrnnir  der  Statistik  über  die  gewerblich'  iCindcrarbcit 

ausserhalb  der   Fabriken   m   Deutschland.     Soc.    Praxis,  1900.  X,  3. 
Am  Ende.  P.     Die    Schularbeiten   im    Hause.    Reichs-Med.-Anz.,  1900, 

XXV,  269—270. 

Am  Ende.  P.  Das  Brattseted  in  der  Volkascfaitle.  Dresden»  Burdach,  1900, 
gr.  8»,  81  S. 

Arnold.  L.  H.  Bacteriologtcal  Study  of  School  Utensils.  Ped.  Seminary,  VI.  8. 
Anst,  C.    Ueberbürdun'^"^  und  Schulreform.    Deutsche  Vierteljahnsdur.  i,  öif* 

Gcs'pfl.,  1900,  Bd.  32.  H.  4,  2te  Hälfte   649- -^'73 
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40  R!..  60  Pf. 

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hans»  1900,  No.  3. 
Kotelmann,  L.   Kritische  Bemerkungen  über  die  Thesen  aar  Schulreform, 

aufgestellt  f.  d.  71.  Vers,  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte.  Zeitachr. 

f.  Schulges'pfl.,  IPOO.  1. 
Kotelmann,  L.    Noch    einmal    die    Münchner  Thesen    zur  Schulreform. 
Erwiderung  an  Herrn  Dr.  G.  Uerberich.    Zeitachr.  f.  Schulges'pfl., 

1900.  8  und  9. 

Kraft    Ueber  die  ärztliche  Schüler-Untersuchung  in  Wetzikon.  Woch'schr. 

f.  Therap.  u.  Hyg.  des  Auges,  Jahrg.  III,  28. 
Krug.    Aus  der  schtdinetlichen  Praxis.    Zeitschr.  f.  Schulges'pfl.,  190O. 

4  und  fi. 

Kruse.  Die  Gesundheitsverhältnisse  der  Aerzte.  Getsdtchen  und  Ober- 
lehrer im  VorRtcich  mit  denen  anderer  Berufe.    Cditralbl.  i  alls. 

Ge'i'pfl..  Jahrp.  10.      und  6. 
Krylofl.  A.    Rationeller  Schultisch  zum  häuslichen  Gebrauch.    Zeitschr.  £. 

Schulges'pfl.,  1900.  3. 
Kuhler,  W.    Kinderheilanstalten   und   Tuberkuloseprophylaxe.  Deatsche 

Medi2.  Zeitg.  1900.  XXI.  473-^7& 

(Portsetsnng  folgt) 


SdifffUdtmirr  P.  Kcnstei,  BeriJii  NW.,  Paatotr.  SSimd  L.  HincbUf  t.  BcrttaW..  Utsowtlr.asb. 

Verlag  von  HrrmannWalther,  Verlagsbuchhandl.,  O.  m.b.H.,  Ba-IinSW.,  Kommandan«cn<.tr  14. 
Drnck  von  .T  /  p  o  g  r  a  p  b  i  a-,  Kontt-  nnd  SctunasdUneo-Dnickerd,  Berlin  SW.,  f  ricdficfattr.  16 


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Zeitschrift 

flr 

und 

Heniisgcgdien 

von 

Ferdinand  Kemsies  und  Leo  Hirschlafi. 


Jahrgaog  IIL  Berlin,  Oktober  1901.  Heft 


üeber  Zensurprädikate* 

Von  Karl  LdBchhorn. 

In  den  „Neuen  Jahrbüchern  für  Philologie  und  Pädagogik", 
1876.  II,  S.  369,  ist  von  einer  babyi^  ni^chcn  Verwirrung  in  der 
Sprache  der  Zeugnisse  die  Rede,  die  sich  von  jeher  und  besonders 
früher  dann  am  deutlichsten  gezeigt  hat,  wenn  ein  Schüler  infoige 
Versetzung  oder  Verzug  <  der  Fltrrn  eine  in  einer  anderen  Provinz 
gelegene  Schule  zu  besuchen  genötigt  war.  Freilich  ist  schon  seit 
längerer  Zeit  hierin  eine  kleine  Besserung  eingetreten,  da  wenig- 
stens in  allen  preussischen  Provinzen  im  allgemeinen  folgende  Zeug"- 
nisnummern  der  Beurteilung  der  Schuler  m  Bezug  auf  Aufmerksam- 
keit, Fleiss  und  Leistungen  zu  Grunde  gelegt  zu  werden  pflegen: 

1.  sehr  gut, 

2.  gut, 

3.  genügend, 

4.  nicht  ausreichend, 

5.  ungenügend, 

mit  den  Zwischenstufen  7i  im  ganzen  (ziemlich)  gnt  tmd  '/«  im 
ganzen  (ziemlich)  genügend.  In  manchen  Provinzen  heisst  aller- 
dings 3  befriedigend,  4  mittelmässig  oder  mangelhaft  und  werden 
gar  keine  Zwischenstufen  zugelassen.  Auch  kommt  es  nicht  selten 
vor,  dass  man  gut  als  erste  Zenstu:  annimmt  und  als  2  befriedigend, 
als  3  mittelmässig,  das  überhaupt  schwer  unterzubringen  ist,  be* 
aeidmeti  von  sonstigen,  mehr  oder  weniger  üblichen  Ptidikaten 
ganz  zu  gescfaweigen.  Im  allgemeinen  wendet  man  aber  mit  Recht 
meist  fünf  Grundnummem  an. 

ZdlMhrifl  ffBr  fildagQgfiebe  Piydiolosk  and  Pittiologie.  1 


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336 


SM  Utekk*m. 


Zunächst  ist  es  unrichtig  zu  gkinbcn,  dass  bessere  als  gute 
Leistungen  ein  Schüler  nicht  aufziuvtistn  vermag;  sie  kommen 
doch,  wenn  auch  sehr  selten,  thatsaciilich  vor.  Das  Prädikat  ..vor- 
züglich'* wird  heutzutage  schwerlich  noch  irj^^end  jemand  zu  ge- 
brauchen geneigt  sein,  da  von  vorzüglichen  i^eistungcn  fast  nie 
gereckt  werden  kann  und  man  mit  Recht  vor  Uebertreibungeu  in 
Ausdrucken  des  Lobes  schon  durch  den  Referenten  der  7  preussi- 
scben  Direktoren-Konferenz  (Erler,  Verhandl.  S.  2)  gewarnt  wird. 

Die  zuerst  angeführten  Bezeichnungen  festzuhalten  wird  sich 
unter  allen   UnritaTulen  empfehlen,  was  nicht  .lusschliesst,  dass 
dieselben  zuweilen  zw-ecks  näherer  Begründung  des  Urteils  durch 
kurze  Zusätze,  welche  in  der  Zensur  tj'lcich  hinter  das  Prädikat  /m 
stellen  sind  und  sich  namentlich  auf  die  in  oberen  Klassen  oft  un- 
gleichen schriftlichen  und  mündlichen  Leistungen  in  den  alten  und 
neueren  Sprachen,  sowie  im  Deutschen  beziehen  werden,  erweitert 
werden  können.    Doch  sind  an  dieser  Stelle  keineswegs  Angaben, 
die  unter  die  mit  Recht  vielfach  benutzte  Rubrik :  „Besondere  Be- 
merkungen" gehören»  anzubringen.  Was  als  besondere  Bemerkting 
anzusehen  ist,  muss  dein  Takt  des  Ordinarius  und  des  Direktors 
uberlassen  bleiben ;  ganz  allgemeine  Regeln  lassen  sich  darüber 
nicht  aufstellen.  Jedenfalls  passen  dahin  etwaige  im  Viertel-  oder 
halben  Jahre  vorgekommene  schriftliche  Tadel  und  Bestraf ungcti. 
d.  h.  nur,  wenn  sie  sich  auf  gfröbere  Verfehlungen  beziehen,  nicht 
wegen  jeder  Kleinigkeit  erteilte  Rügen  und  namentlich  Mitteilungen 
über  gewisse  schwache  Seiten,  die  bei  den  wenigsten  Schülern  ganz 
fehlen,  über  mangelhafte  Fähigkeiten,  vermissten  Fleiss  in  dem  oder 
jenem  Fache  und  Warnungen  für  die  Zukunft,  besonders  zu  Weih- 
nachten, wie  die  im  Königreich  Sachsen  sogar  amtHch  vorge* 
schriebene  EröiEnung,  dass  die  Versetzung  zu  Ostern  nur  bei  be- 
sonderer Kraftanstrengung  möglich  oder  trotz  anerkennenswerten 
Fleisses  wegen  zu  schwacher  Begabung  leider  ganz  ausgeschlossen 
sei.  Alle  im  Klassenbuche  verzeichneten  Noten  nehme  man  jedoch 
keineswegs  unter  eine  besondere  Rubrik  atif^  da  nicht  alle  Tadel 
auch  in  den  Augen  der  Eltern  und  Schüler  gleich  schwer  wiegen. 
Bekannt  ist,  dass  manche  Lehrer  den  zu  tadelnden  Schüler  selten 
und  nur  nach  reiflicher  Ueberlegung  aller  dabei  in  Betracht 
kommender  Umstände,  andere  dagegen,  sich  auf  ein  festes»  rdn 
ihnen  stets  angewandtes  Prinzip  stützend,  fast  jede  Rfige  ins 
Klassenbuch  schreiben.  Hier  thate  der  Direktor  gut  daran,  in  einer 
besonderen,  sogleich  bei  Beginn  des  Semesters  abzuhaltenden  Kon- 


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CMtr  JSmtufpridäkUe. 


337 


ferenz  genau  feststellen  zu  lassen,  was  auf  jeden  Fall  ins  Klassen- 
buch zu  schreiben  ist  und  was  nicht.  Auch  würden  durch  dieses  Ver- 
fahren jungen  oder  anderwärts  herberufenen,  mit  den  Verhältnissen 
der  neuen  Schule  meistens  vöUig  unbekannten  Lehrern  manche 
ihnen  namentlich  zu  Anfang  ihrer  Thätigkeit  von  den  diese 
Unwissenheit  benutzenden  Schülern  bereitete  disziplinarische 
Schwierigkeiten  erspart  bleiben.  Noch  wichtiger  ist  der  Umstand» 
dass  alsdann  die  Schüler  nie  in  die  Lage  kommen  könnten,  zwischen 
strengen  und  milden  oder  wohl  gar  zwischen  sogenannten  gerechten 
und  ungerechten  Lehrern,  wofür  sie  ein  sehr  scharfes  Auge  haben, 
zu  unterscheiden ;  nichts  schadet  aber  dem  Ansehen  eines  Lehrers, 
ja  einer  ganzen  Schule  so  sehr,  als  wenn  einzelne  Lehrer  in  den 
Ruf  kommen,  bei  Bestrafungen  ungleichmässig  zu  verfahren,  also 
ungerecht  zu  sein.  Jede  auf  das  Betragen  und  den  Fleiss  bezügliche 
tadelnde  Notiz  unter  der  Rubrik  „besondere  Bemerkungen"  muss 
aber  ganz  genau  begründet  sein,  denn  mit  der  allgemeinen  Be- 
merkung: »lo  oder  12  mal  u. s.w.  im  Klassenbuch  notiert**  kann 
niemand  etwas  anfangen,  am  allerwenigsten  die  Eltern,  die  den 
Zusammenhang  gar  nicht  kennen  oder  durch  die  Schüler  oft  ab- 
sichtlich falsch  darüber  untemchtet  werden.  Auch  verwende  man 
die  Rubrik  nicht  zur  Notierung  der  Anzahl  der  verhängten  Schul- 
strafen,  denn  wer  z.  B.  im  Anfange  des  Vierteljahres  einige  Male 
Arrest  erhalten  hat.  dem  möge  man  dies,  vorausgesetzt,  dass  er  sich 
inzwischen  gebessert  hat.  nicht  nachtragen,  zumal  schon  die  Zensur 
über  Betragen  und  Fleiss  den  Ordinarius  stets  veranlasst,  auch 
darüber  das  Erforderliche  ganz  kurz  anzumerken.  Im  äussersten 
Falle  schrecke  man  trotz  unserer  heutigen  durchaus  philanthropisch 
^gerichteten  Pädagogik  nicht  davor  zurück,  Notizen  über  körper- 
liche Züchtigung,  wenn  sie,  weä  unbedingt  zur  Besserung  dienend, 
jedenfalls  in  die  Zensur  aufgenommen  werden  müssen,  unter  der 
Rubrik  „besondere  Bemerkungen",  aber  nicht  unter  „Betragen** 
anzubringen,  zumal  solche  Strafen  nur  sehr  selten  verhängt  und 
die  Eltern  sofort  schriftlich  davon  benachrichtigt  zu  werden  pflegen, 
andererseits  jedoch,  wenn  sich  die  Notiz  sogleich  am  Anfang  der 
Zensur  befindet,  der  Gesamteindruck  derselben  unabsichtlich  be- 
deutend verschlechtert  wird.  Nicht  zu  billigen  sind  auch  an  dieser 
Stelle  Notizen,  wie  ,,10  oder  12  mal  wcg-en  Schwatzhaftigkcit  ge- 
l  ulclt"  oder  so  und  so  oft  notiert,  weil  er  eine  Arbeit  nicht  abgc 
liefert  oder  eine  Aufgabe  nicht  gelernt  hat,  denn  derartige  Be- 
merkungen werfen  auf  Schule  und  Lehrer  kein  günstiges  Licht 


338 


Xari  LäsekAom. 


und    fordt-rn    leicht    iiiiIm  i  echtigte,    dem  Ansehen    des  Lehrer 
kollegiums  schädliche  Kritiken  des  Publikums  heraus.    Besser  ist 
CS  in  solchen  Fallen  die  ungünstige  Zensur  im  Fleiss  mit  denZu- 
sätzen,  „weil  er  oft  vcrgesslich  oder  imfleissig  war",  zu  begründen. 

Eine  besondere  Rubrik:  Beschaffenheit  der  Hefte",  ist  nicht 
zu  empfehlen,  am  allerwenigsten  mit  dem  Zusätze  „und  Bücher", 
der  wohl  auf  gedruckte  Bücher  gehen  soll,  da  sie  fast  nur  für  die 
unteren  und  mittleren  Klassen,  sehr  selten  für  die  oberen  Klassen 
und  überhaupt  nur,  wenn  ein  Tadel  in  ihr  ausgesprochen  werden  soll, 
Bedeutung  haben  kann.  Dieser,  wie  überhaupt  Rfigen  wegen 
schlechter  Handschrift  und  Ordnungsliebe,  können  ebenes  unter 
„besondere  Bemerkungen"  gegeben  werden. 

Fär  die  Zensuren  im  Betragen  sind  heutsutage  vielfach  die 
Stufen:  „gut,  nicht  ohne  Tadel,  tadelnswert",  üblich,  deren  unbe< 
dingte  Beibehaltung  sich  empfiehlt,  jedoch  so,  dass  die  beiden  letzten 
Nummern  hinter  dem  erteilten  Prädikat  kurz  zu  begründen  sind. 
Sämtliche  Urteile,  auch  die  über  die  Leistungen,  sind  in  Worten, 
nicht,  wie  in  einigen  Staaten  üblich,  in  Ziffern  auszudrücken. 
Letztere  sind  Ausflüsse  eines  gewissen  Schematismus,  der  unter 
allen  Umstanden  fernzuhalten  ist ;  auch  fühlt  der  Schüler  aus  dem 
Wort  viel  deutlicher  als  aus  der  Zahl  heraus,  dass  der  Lehrer  ein 
gewisses  Interesse  an  seiner  ganzen  geistigen  Entwickelung  hat. 
Sehr  wünschenswert  nicht  nur,  sondern  der  Schüler  und  Hltem 
wegen  absolut  notwendig  ist  es,  wie  der  Berichterstatter  der 
7.  preussischen  Direktoren-Konferenz  bei  Erler,  S.  13  vorschlagt, 
dass  die  Stufenleiter  der  Prädikate,  auch  der  der  Leistungen  auf 
den  Zensur*Formularen  abzudrucken  und  bei  der  Beurteilung  der 
schriftlichen  Schülerarbeiten  dieselbe  Stufenleiter  der  Prädikate 
inne  zu  halten  ist  Man  beherzige  endlich  beim  Ausstellen  jedes 
Zeugnisses  stets  Schräders  Worte  von  der  Bedeutung  der  Zensuren 
(Erziehuttgslehre  II.  Aufl.,  S.  191),  wonach  dieselben  vorwiegend 
darauf  berechnet  sind,  dem  Schüler  durch  ein  Gesamturteil  über 
sein  Verhalten  zur  Selbsterkenntnis  zu  verhelfen  und  sein  ferneres 
Bestreben  zu  bestimmen,  sowie  auch  die  Eltern  über  die  Ent< 
Wicklung  ihres  Kindes  in  Kenntnis  zu  setzen. 

Was  zunächst  den  Ausdruck  „Betragen"  betrifft,  so  ist  derselbe 
beizubehalten,  nicht  „Führung**  oder,  wie  im  Königreich  Sachsen 
üblich,  „Sitten"  dafür  einzusetzen,  doch  ist  es  nicht  unstatthaft, 
wenn  auch  das  Ministcrial-Reskript  vom  12.  Mai  1840  (Wiese,  Ver- 
ordnungen und  Gesetze  I,  S.  160)  die  dreifache  Spaltung  gegen 


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üeber  ZensurprädiJtaU, 


339 


Lehrer,  gegen  Mitschüler,  ausserhalb  der  Schule  verwirft,  das  Be- 
tragen zuweilen  mit  Berücksichtigung  dieser  drei  Punkte  zu  be- 
urteilen. Natürlich  kann  das  Betragen  ausserhalb  der  Schule  nur 
insoweit  in  Betracht  kommen,  als  es  durch  die  Schulordnung  ge- 
regelt ist.  Sehr  schwierig  ist  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  ein 
Schüler,  dessen  Betragen  tadelnswert  war,  aber  dessen  Leistungen 
ihn  unbedingt  für  die  Versetzung  reif  erscheinen  lassen,  in  der 
Klasse  sitzen  bleiben  soll.  Man  dürfte  in  diesem  Falle  wohl  mehr 
geneigt  sein,  das  alte  Wort:  ,,Qiii  proficit  in  litteris  et  deficit  in 
inoribus,  plus  deficit  quam  proficit"  einmal  nicht  anzuwenden,  da 
für  Beispiele  grober  sittlicher  Ausschweifungen  oder  fortj^esetzter 
Widersetzlichkeit  gegen  Lehrer  und  Schulordnung,  die  die  Disziplin 
einer  ganzen  Klasse  oder  Anstalt  gefährden,  das  consilium  abeundt 
unbedingt  zur  Anwendung  gebracht  werden  muss.  Hiernach  wer- 
den Fälle  zu  entscheiden  sein,  in  denen  Zweifel  obwalten,  ob  ein 
Selcundaner,  der  wiederholt  gelogen  (Verh.  d.  2.  pommerschen  Dir.- 
Koni,  a.  a.  O.,  S.  4)  oder  ein  anderer,  der  fortgesetzt  kindisches 
Wesen  gezeigt  hatte  (Verh.  d.  4.  preuss.  Dtr.-Konf,  S*  32),  zu  ver- 
setzen sind  oder  nicht.  Stets  ist  in  solchen  Fällen  der  ganze  Mensch, 
namentlich  seine  Leistungen  anzusehen. 

Keine  Meinungsverschiedenheit  wd  darüber  laut  werden 
können,  ob  man  Aufmerksamkeit  und  Fletss  zu  trennen  oder  unter 
eine  Rubrik  zusammenzufassen  hat.  Unter  Fleiss  ist  jedenfalls 
nur  hanslicher  Fletss  zu  verstehen  und  Aufmerksamkeit  bezieht  sich 
lediglich  auf  die  Schulstunden,  sodass  die  von  einigen  Referenten 
auf  Direktoren-Versammlungen  mitvorgebrachte  Bezeichnung 
„Fleiss  in  der  Klasse"  ganz  ausser  Betracht  fallen  kann.  Die 
Rubriken  zu  trennen  liegt  um  so  mehr  Veranlassung  vor,  als 
manche  Schüler,  die  in  der  Klasse  zu  Traumereien  neigen,  zu  Hause 
sehr  fleissig  <nnd,  während  andere  und  zwar  meist  sehr  fähige  sich 
lebhaft  am  CJnterichte  beteiligen,  aber  zu  Hause  nicht  genug  ar- 
beiten. Den  Ausdruck  „Leistungen"  hat  man  in  den  Zensur- 
formularen beizubehalten,  nicht  „Fortschritte"  oder  „Kenntnisse" 
oder  „Leistungen  in  Verbindung  mit  je  einer  der  beiden  anderen 
Bezeichnungen"  dafür  einzusetzen.  Noch  unpraktischer  ist  „Fleiss 
und  Leistungen",  da  die  Leistungen  dem  Fleisse  oft  nicht  ent- 
sprechen, auch  ^»Fortschritte"  ist  nicht  zu  empfehlen,  weil  bei  den 
nenversetzten  Schülern  der  neue  Onfinarius  schweriich  jemals  niit 
Sicherheit  feststellen  kann,  wie  wdt  sie  fortgeschritten  sind,  da  er 
von  vornherein  über  den  Stand  ihres  Wissens  entweder  gar  nicht 


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340 


oder  nur  rein  zuföUig  unterrichtet  ist.  Die  Beurteilung  der 
Leistungen  hat  natürlich  nach  dem  Klassenziel  ohne  irgendwelche 
Nebenrücksichten  zu  erfolgen.  Sehr  wichtig  ist  endlich  eine  Rubrik 
über  den  Klassenplatz,  der  durch  einfachesAddieren  aller  Zensuren, 
d.  h.  der  im  Betragen,  Fleiss,  Aufmerksamkeit  und  Leistungen  in 
sämtlichen  Unterrichtsgegenständen  mit  Ausnahme  der  rein  tech* 
nischen  Fächer  erteilten  Prädikate  zu  bestimmen  ist;  selbstver;- 
ständlich  ist  dem  Klassenplatze  die  Klassenfrequenz  beizufügen, 
wenn  die  Bestimmung  Wert  haben  soll.  In  Prima  ist  der  Klassen- 
platz nicht  anzugeben,  wohl  aber  noch  in  Sekunda. 

Völlig  zu  verwerfen  sind  mit  fast  allen  Direktoren,  die  auf  der 
siebenten  preussischen  Direktoren-Konferenz  darüber  ihr  Gutachten 
abgegeben  haben,  die  in  der  Provinz  Brandenburg  und  zuweilen 
anderwärts  früher  üblichen  Hauptnummem  der  Zensuren,  da  man 
dabei  stets  auf  Zensuren  von  sehr  ungleichem  Werte  stossen  wird, 
welchen  dennoch  derselbe  Zensiir^ad  erteilt  werden  muss.  Es  ist 
auf  der  siebenten  preussischen  Direktoren-Konferenz  (£rler,  S,  14^ 
atisführlich  die  Rede  über  diesen  Gegenstand  gewesen,  indem  der 
Berichterstatter  die  gegen  die  Zensumtunmem  angeführten  Gründe 
zu  widerlegen  und  dann  zweitens  die  ganze  Einrichtung  zu  ver- 
teidigen suchte.  £r  sagte  u.  a.,  die  Wertbestimmung  der  Zensuren 
durch  Nummern  erleichtere  die  Bestimmung  der  Rangordnung, 
doch  ist  dies  kaum  anzunehmen,  namentlich  dann  nicht,  wenn 
Leistungen  und  sittliche  Führung  sehr  verschieden  beurteilt  sind. 
Auch  erhalt  man  durch  Hic  Zcnsnrntimmem  zwar  einzelne  Rang- 
klassen, gewöhnlich  fünf,  während  die  Schwierigkeit,  den  Klasscn- 
platz  einer  grösseren  Anzaiil  von  Schülern  genau  zu  bestimmen, 
dadurch  nicht  vermindert  wird.  Ferner  gewährt  nach  des  Ref. 
Ansicht  die  ITaiiptzcnsiir  eine  schnelle  und  richtige  Uebersicht  über 
den  Fortschritt  oder  Rückschritt  der  Schüler.  Dagegen  kann  man 
sagen,  dass  aus  der  erteilten  Nummer  noch  ni'cht  ersichtlich  wird, 
in  welchen  Fachern  der  Schüler  fortgeschritten  oder  zurückgegangen 
ist.  Noch  leichter  zu  widerlegen  sind  die  weiteren  vom  Ref.  vor- 
gebrachten üründe.  So  soll  die  Haupt  miintner  dem  .Schüler  selbst 
wie  seinen  Mitschülern  einen  bestimmten  Gradmesser  über  das  ihm 
von  der  Schule  ausgestellte  Zeugnis  oder  Urteil  seiner  Lehrer  ge- 
währen, während  doch  die  Zensur  allein  schon  alles  in  dieser  Be- 
ziehung Notwendige  enthält  und  der  Nutzen  der  Bemerkung  in  gar 
keinem  Verhältnis  zu  der  zwecks  ihrer  Feststellung  aufgewendeten 
Zeit  und  Mühe  steht.  Dass  die  Nummern  den  Eifer  der  Schüler  be-^ 


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sonders  anregen  und  die  Versetzungen  erleichtern,  wie  der  Ret. 
endlich  meint,  ist  ganz  entschieden  zu  leugnen,  weil  die  Eltern  über 
der  Hauptnnmmer  den  eigentlichen  Inhalt  der  Zensur  vergessen 
und  bei  den  Versetzungen  ganz  entschieden  fast  nur  die  Leistungen 
in  Betracht  gezogen,  die  Zensurnummem  aber  unter  gleich- 
massiger  Berücksichtigung  der  Prädikate  im  Betragen,  Fleiss  und 
Leistungen  gegeben  werden. 

Was  die  Zensurverteilung  betrifft,  so  erscheint  es  empfehlens- 
wert, dass  der  Direktor,  wie  wohl  fast  überall,  wenn  auch  mit  ge 
wissen  Modifikatiotu  n  üblich,  nach  den  Unterrichtsstunden  in  der 
Aula  die  neue  Rangordninig  für  die  einzelnen  Klassen,  bz.  die 
Versetzten  vorliest  und  bei  jeder  Klasse  ausser  Prima  und  Ober- 
Sekunda  —  und  zwar  von  der  letzt en  Klasse  aufwärts  —  diejenigen, 
welche  sich  besonders  ausgezeichnet  haben,  tind  nocb  viel  mehr  die 
Tadelnswerten  öffentlich  nennt,  auch  einzelne  Klassen  oder  Schuler 
je  nach  den  Umstanden  autmuntert  oder  ermahnt.  Die  Formulare 
der  gewöhnlichen  Abgangszeugnisse  müssen  mit  denen  der  Zensuren 
natürlich  völlig  übereinstimmen;  für  die  Abiturientenzeugnisse  ist 
eine  bestimmte  Form  in  jedem  einzelnen  deutschen  Bundesstaate 
vorgeschrieben.  Auch  für  die  Zensuren  könnte  für  jeden  Staat, 
also  z.  B.  für  alle  preussischen  Provinzen  eine  stets  innezu- 
haltende  äussere  Form  und  Abstufung  der  Prä- 
dikate, schonderUebersichtlichkeitundGleich- 
mässigkeit  wegen,  festgestellt  werden.  £s  hat  sich nament« 
lieh  früher  oft  bei  Versetzungen  der  Eltern  gezeigt,  dass  ein  und 
derselbe  Schüler  in  mehreren  Provinzen  bei  ganz  gleichen 
Leistungen  verschieden  beurteilt  worden  ist,  und  das  ist  nicht  gut. 

Sämtliche  Zensurformulare  bewahre  man  trotz  der  entgegen- 
gesetzten Ansicht  von  Eiselen  (Neue  Jahrb.  für  Phil,  und  Päd.  1876. 
II,  S.  380—381)  möglichst  lange  im  Archiv  auf ;  die  ältesten  Jahr- 
gänge einer  Anstalt  können  natürlich,  wie  bei  allen  Behörden  üblich, 
mit  der  Zeit  vernichtet  werden. 

Schliesslich  noch  einige  Worte  über  die  in  den  Zensuren  an- 
zuwendende Ausdrucksweise.  Man  achte  immer  darauf,  dass  die 
Sprache  der  Zensur  besonders  bei  der  Beurteilung  des  Betragens 
ernst,  würdig  und  von  jeder  Gemütsstimmung  unabhängig  sei,  und 
vermeide  sorgfältig  jedes  unedle,  tri\iale,  den  Spott  und  das  Lachen 
der  Schüler,  vorzugsweise  der  älteren,  herausfordernde  oder  die 
Eltern  verletzende  Wort.  So  wirken  Ausdrücke,  wie :  „Der  Schuler 
war  lügenhaft,  bz.  roh  gegen  seine  Mitschüler",  welche  letztere  Be- 


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Zeichnung  übrigens  schon  wiederholt  zu  berechtigtem  Einspruch 
seitens  der  Eltern  geführt  hat,  geradezu  vernichtend,  dagegen  An- 
gaben, wie:  „Der  Schüler  hat  nicht  immer  die  Wahih-  it  sagt  ' 
oder  „Der  Wahrheit  die  Ehre  gegeben",  bz.  „er  hat  sich  Misshand- 
lungen jüngerer  Mitschüler  zu  schulden  k  ommen  lassen"  oder  ,,er 
keigte  ein  iinani^emessenes  Verhalten  gegen  seine  Mitschüler"  be- 
schämend und  werden,  wenigstens  im  Laufe  der  Zeit,  bei  nicht  ganz 
verdorbenen  Naturen  reiche  Früchte  tragen.  Aehnlichen  Erfolg 
kann  man  sicli  von  Notizen,  wie:  ,,Es  fehlt  ihm  noch  an  rechtem 
Ordnungssinn"  ;  ,,er  nimmt  es  mit  seiner  häuslu  In  n  Vorbt  r-  itunL,' 
oder  mit  der  Erfüllung  seiner  Pflichten  zu  leicht  '  vers])r(  chen. 
Knrllich  ist  im  Verein  mit  der  7.  pretissischen  Direktoren  Konferenz 
(Erler,  vS.  3)  auf  Korrektheit  des  Ausdrucks,  die  wir  Lehrer  vom 
Schuler  stets  imrl  vorzugsweise  in  Aufsätzen  verlangen.  Gewicht  zu 
legen  und  alle  l'rridikate,  welche  dem  Betragen  oder  dem  Fleisse 
zukommen,  nicht  auch  auf  öic  Person  des  Schülers  zu  übertragen. 


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Zur  Psychologie  des  Rechtschrelbeiinterrichts. 

Von 

Ludwig  Maurer. 

Die  Schwierigkeit  des  Rechtscbreibeunterrichtes  wird  da- 
durch vermindert,  dass  man  zu  dem  Schüler  und  in  der  Um- 
gebung  des  Schülers  deutlich  spricht.  Kaum  konnten  meine 
Kinder  mit  Tafel  und  Stift»  Papier  und  Feder  umgehen,  als 
ich  aus  ihren  Arbeiten  festzustellen  versuchte,  wie  sie  selbst- 
ständig  rein  nach  dem  Gehör  „schreiben".  Voraussehend,  dass 
Abc  -  Schützen  Wörter,  die  sie  vorher  nie  gedruckt  oder  ge- 
schrieben gesehen  haben,  so  fehlerhaft  niederschreiben  würden, 
dass  man  sie  kaum  erkennen  könnte,  ordnete  ich  die  Wörter 
in  sachlich  zusammengehörige  Gruppen.  Sie  schrieben  nieder, 
welche  Dinge  in  der  Schule,  der  Stube,  dem  Stall,  dem  Garten, 
dem  Acker  voiiianden  sind,  und  was  sie  von  der  Kirchweih 
wttssten.  Um  aber  auch  darüber  urteilen  zu  können,  wie  sie 
nach  dem  Gehör  Memoriertes  niederschreiben,  Hess  ich  sie 
Sprüche  tmd  den  Anfang  einer  biblischen  Geschichte  zu  Papier 
bringen.  Während  der  ersten  Versuche  schrieben  die  Kinder 
185  Wörter  nieder,  darunter  die  folgenden: 


Rechenmaschine 

Rech  na,  Rc^enmaschiner 

Stube 

Schdube 

U'schlrWe 

Sofa  

ssoften  Soven 

Spiegel 

Sdibigel 

Oras 

Irras,  kars 

Baume 

BneTme,  beuime,  beume,  Bueme 

Rotheerc  — 

rocibu,  Robir,  Rodbären 

Schurze 

Schuhze,  Schize 

Oarteo 

kraten 

Strflniplc 

Schtrife;  scbtrimpf.  Schrife.  Strif 

Kartaffdsuppe 

Öbinsube,  oibinsube 

Bier  

Bir,  Bihen 

Schnaps  — 

schnsbs 

Seltervasser 

slderwaser 

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Ludwig  Mi 


f\IIUI  wCIU 

I\|2WC1C|  KlIUlwICi  IvUWCI,  IVC|JaCI 

7iM<l(Mpl(nfn 

vMMrlmiti 

lffil*ll1*IH 

ikucniciii 

IVllClIl 

vjiaser 

ivicser 

L,i rn tjc 

A4  Oft  M  A 

uraiwurbl 

urawuscuf  oroiwursif  DrowuscQ 

Vorhalt  V/nrliAinA 

joppe 

JUOC 

WCS  IC  — 

riciiiQ 

Hemert 

V .  nrmlSCllC 

Dcnrnins 

DOUUUll 

oouoin 

vicirciuc 

gcircuiic 

IMIsDC 

nKID 

inwiiegier 

unicrscQuiz 

uimiaGniiiiz 

vJarTcnZaUII 

ff  «V  /4  90  4  < 

UaaZall 

r(  1 1  na  1  AI  c  An 

uugeieiscn 

OlKieiScTl 

1  liiiciiiass 

Ii  rri  f 4icc  firtonT-^i-A 

1  liniaSK»,  uucniasc 

vn^gissnieinniciii 

rerKiSin  einigt 

9CII11l9BelOIIlRIC 

Ci*k1l*lk1m«Ha 

aiciiiisiDiiini« 

Hmi    _   

1  teil        —  — 

nci 

rcuersicin 

rucscnic 

*_noconar 

ocnoiiciu 

1  ClldlClJallill 

Vogelhaus  —  — 

fuckelliaus 

riciic  —  — 

OIclIc 

oiunnure  — 

Cf4itaMim 

Acgc  —  — 

oCnwcinsOUl 

CnliMAinmnli-i^jil 

dcnwcinscuaai 

oiron  — '  — - 

jcniro 

oiacncioccrc  — 

3ciiicg  roir  Ii.  ocnnigeioir 

nimocerc  — 

noioaren 

FnHKfmm   

ciuEnmc  — *■ 

Omi  II 

Afl  Ahfl 

Dimc 

Hl  man 
Dual 

V-' l— 1  IOC 

tiT  t^T\  nlf 

UiCOCK 

hederbüchse  — 

feterbise,  Väderbisssse 

Erdöl 

Erdel 

Brot 

Beiot 

Mangholz  — 

Manchols 

Futter  

futer 

Stopftrog 

Schobstnig: 

Kalb 

kolb 

Barren 

Baren 

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Zur  Ftyckoiogtc  des  HKhUchretbcunUrncJUs.  ^45 


Zwetschgen 

zwaschken 

Kirschen 

Köschen,  Goschen  » 

DCCRII 

Biren 

Mose  

btise 

GartenUttsIdn 

Kdenliaslr 

Wasser  — 

wasar 

Scnrcnze  — 

schrrenze 

Hufeisen 

hueisen 

Plätzchen 

Blizler 

ncuiniinie 

nudHuine 

Flickscnaditel 

VliKscnagtel 

Bücher 

Bigr 

(Jientnnre 

uFetr 

nauäthurc 

hatr,  hadcr 

Schulthiire 

Schoietre 

Schulkinder 

Schulkitr 

Untenfius 

Timfius»  tidenfue 

meine 

muine 

Lehrermagd 

Lierrmat 

gelbe  Rübe 

Geier 

Trompete  -  - 

Drumbetcn 

Weltkugel 

Wlugl 

Fenster  — 

Fensder,  Penzder,  FenseTf  Pentr,  Pestr 

Tisch 

Sofort  fällt  in  die  Augen,  dass  die  meisten  Wörter  laut* 
richtig  in  der  Dialektspiacbe  ^)  wiedergegeben  sind.  Ausnahmen 
bilden  die  Wörter,  welche  das  Kind  in  der  Schule  gehört  oder 
im  Buche  gelesen  hat.  Der  Schatz  der  im  Bewusstsein  nieder- 
gelegten Klangbilder  ist  die  erste  Quelle  für  die  graphische 
Darstellung  der  Wörter«  Die  Korrektheit  der  schriltUchen 
Wiedergabe  hangt  ab  von  der  Reinheit  der  Aussprache  in 
der  Umgebung  des  Kindes  und  von  der  Fähigkeit  desselben. 
Laute  korrekt  aufzunehmen.  Ich  vergleiche  die  Aufnahme  der 
Laute  durch  das  Sensorium  mit  der  durch  den  Schallbecher 
eines  Grammophons.  Je  klarer  und  deutlicher  ich  spreche, 
desto  feiner  wird  der  Stift  seine  Arbeit  auf  der  Walze  aus- 
führen, desto  getreuer  wird  die  Wiedergabe  ausfallen.  Alle 
Variationen  des  Sprechens:  langsam  und  rasch,  accenituiert 
oder  verschwommen,  finden  sich  im  Wortklangzentrum  vor. 
Aus  den  Reproduktionen  erkennt  man  nicht  allein  den  lokalen 
Dialekt,  sondern  sogar  die  Sprecheigentümlichkeit  der  Familie. 

*)  Mittelfrajiken  In  Bayern. 


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346 


iauhmg  Mk 


Als  getreue  Wiedergabe  des  Klangbildes  ist  besonders  auf- 
fallend: Beuime  (Bäume)  dischu  We  (die  Stube),  Wasar 
(Wasser)  und  Afl  (Aplclj.  Geradezu  als  Feinheit  der  üeber- 
tragung  des  Klangbildes  au£  das  Papier  geLten  die  Wörter: 
hatr,  hader,  ufetr  und  Liermiat.  Auch  wer  mit  dem  Dialekt 
der  Bevölkerung  vollständig  vertraut  ist,  braucht  lange,  bis 
er  aus  obiger  Buchst&bensammlung:  Hausthür,  Ofenthüre  und 
Lehrermagd  herauslesen  kann.  £s  gelingt  nur,  wenn  man  den 
Ton  der  Bevölkerung  nachahmend  ziemlich  rasch  die  Silben 
selbst  spricht. 

Eine  Menge  Worte  sind  nach  der  Klangerinnerung  korrekt 
geschrieben:  Schdube,  Fenzderram,  fukelhaus,  Schtägerbtr, 
öbinsube  (Kartoffelsuppe).  Es  fehlt  kein  Laut. 

Folgende  Wörter  sind  falsch  geschrieben:  i.  kars,  dei. 
hueblume,  nkab,  Scfaoletre,  Bueme,^)  diese  Wörtergruppe  zeigt 
die  Unbeholfenheit  mancher  Kinder  in  der  Uebertragung  des 
Klangbildes  auf  das  Papier.  Wie  das  kleine  Kind  tappend 
nach  dem  Spielzeug  langt,  weil  die  Muskeln  dem  Befehl  der 
Zentren  noch  nicht  folgen  wollen,  ebenso  unsicher  in  der  Aus* 
führungsbewegtmg  ist  hier  der  Abc>Schütze.  In  seinem  Bewusst* 
sein  stehen  die  Laute.  Er  bringt  sie  auch  alle  auf  die  Tafel. 
Aber  in  der  Uebertragung  verwechselt  er  die  Reihenfolge. 
Es  geht  hier  dem  kleinen  Mann  ebenso  wie  dem  Setzerlehrling, 
der  im  Hervorholen  der  Typen  aus  dem  Setzkasten  und  in 
dem  Einstellen  in  die  Form  noch  nicht  gewandt  genug  ist. 
Die  Folgen  äussern  sich  hier  als  Druckfehler,  dort  als  ortho- 
graphische. 

3.  Grschen  (Kirschen),  Kdenheissler,  Kg  Weie,  Ferkies- 
mehngt  (Vergissmeinnicht),  Schlislblume,  timfase,  Rechna, 
WSugl,  slderwater.  Schisam.  lo  dieser  Wörtergmppe  fehlen 
Vokale.  Auf  den  ersten  Blick  sieht  man,  dass  diese  Wörter 
eine  beträchtliche  Silbenreihe  repräsentieren.  Während  der 
Uebertragung  des  Klangbildes  litt  die  Aufmerksamkeit,  die 
Willensenergie  und  die  Ueberskht.  Das  Kind  ist  nicht  mehr 
imstande,  die  komplizierte  Thätigkeit  des  Umwandeins  der 
Latte  m  Buchstaben  zu  vollenden  und  bricht  mitten  im  Worte 

Solche  Metathesen  —  Uinäiellungen  zwischen  Vokalen,  Vokalen  und 
Konsonanten  oder  von  Konsonanten  innerhalb  verschiedener  Silben  finden 
sich  idelfach  in  der  historiadieii  Entwi^duiig  der  Sprachen:  Altfranitfstsch:  . 
torbler;  Neufn.:  ttoubler;  Altfn.:  temprer,  Nenfti.;  tremper  (von  temperare). 


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Xur  Psychologtc  des  KecklsehteibeunUrrichis. 


m 


ab.  Während  fs  die  Laute  in  Buchstaben  umwandelt,  steht 
im  Vordergrund  des  Bewusstseins  das  Gesamtklangbild.  Die 
graphische  DarsteUung  df^  ersten  Buchstabens  ist  schwierig. 
Es  dauert  zienilirh  lange,  bis  er  zu  Papier  gebracht  ist. 
Während  des  Schreibens  hat  es  zwar  den  2.  herabholen  wollen, 
ist  aber  im  rascheren  Gedankenfluge  an  den  3  angelangt  und 
überträgt  diesen  Laut  als  Buchstaben  auf  das  Papier,  Daher 
das  Fehlen  des  2.  Buchstabens  in  K  (a)  denheissler,  K(i)g 
Weie,  s(e)lder  waser.  Wie  entstand  das  Wort  Schisume  statt 
Schlüsselblume?  Das  Wort  Blume  ist  den  Kindern 
sehr  geläufig,  geläufiger  als  Schlüssel.  Während  des 
Schreibens:  Schlüssel  entschwand  die  Aufmerksamkeit.  Die 
Willcnsenergie  wurde  wieder  angefacht  durch  das  Frohgefühl, 
das  durch  das  bekannte  Wort  Blume  erzeugt  wurde  und  durch 
die  Bedeutung  der  Klangfarbe  des  Vokales  „u".  Siehe  auch 
Wlugl  (Weltkugel). 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Vokale«  ob  sie  leicht  entschwinden 
oder  sicherer  haften.  So  fehlte  der  Vokal 

0  in  —  Wort, 

a  „   2  Wörtern, 

1  «  10  „ 
e  „  18  „ 

Man  darf  daraus  den  Schluss  ziehen,  dass  volltönende 
Vokale :  o  a  u  sicherer  haften,  als  das  leichte  i  und  das  im 
Dialekt  so  oft  ganz  verschwindende  ,,e".  Dementsprechend 
werden  auch  die  ersteren  Vokale  leichter  wieder  gegeben* 

Wie  schreibt  das  Kind  selbständig  ohne  jegliche  Beein- 
flussung von  selten  des  Lehrers  oder  einer  anderen  Person? 
Aus  dem  Schatze  seiner  Klan^^bilder  holt  es  sich 
z*  B.  das  Wort  „Buch**  heraus.  Leise  spricht  es  vor 
sich  hin:  B  und  schreibt  B,uuch.  £s  ist  dem  Kinde 
ganz  gleich,  ob  es  nun  ein  b,  oder  p,  ein  ch  oder  g  macht, 
wenn  nur  der  Laut  fixiert  ist.  Anders  ist  es  beim  Nieder- 
schreiben  der  Vokale.  Ist  Buch  in  seiner  Umgebung  rein  aus- 
gesprochen worden,  so  schreibt  es  u,  wenn  nicht,  so  ou  bouch. 
Beweis:  Fukelhaus  statt  Vogel,  Beime,  Wäsde  (Weste),  Wasär 
(Wasser),  Schotleiti  (Chokolade).   In  demselben  Moment,  in 


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348 


Ludwig  Maurer. 


welchem  es  ein  Wort  z.  B.  „Buch"  niedergeschrieben  hat, 
entsteht  in  seinem  Bewusstsein  ein  „Schreibbild"  und  wird  als 
Schreiberinnerungsbild  reproduziert.  Je  mehr  korrekte  Schreib- 
erinnerungsbilder, desto  richtiger  wird  das  Kind  schreiben. 

Wie  schreibt  das  Kind  aus  dem  Fonds  der 
gelesenen  Schriftbildf.^r? 

Um  mich  hierüber  zu  orientieren,  mussten  die  Kinder 
Spfüche  und  eine  biblische  Coschichte  aus  dem  (Gedächtnis 
niederschreiben.  Die  wenigen  Fehler,  welche  dieses  Experiment 
zeigte,  Hessen  erkennen,  dass  nur  ganz  schwach  begabte 
Kinder  Buchstaben  umstellten  und  die  richtige  Reihenfolge 
verfehlten :  dun  statt  und,  laher  für  Jahre,  dei  statt  die,  meinde 
statt  meinet,  kien  für  kein.  Manche  Fehler  entspringen  auch 
jetzt  noch  der  schlechten  Aussprache,  die  nicht  ganz  auszu- 
rotten ist:  vertelgen  statt  vertilgen,  gottleches  statt  göttliches, 
See  statt  sie. 

Bin  Kind  schrieb  den  ihm  aufgetragenen  Satz:  „Suchet 
in  der  Schrift»  denn  Ihr  meinet/  Ihr  habt  das  ewige  Leben 
darinnen**  wie  folgt  nieder:  Suet  in  Schrf  Tren  Irmet  hab 
da  ewgelebgleben  darinen  und  —  die  biblische  Geschichte  (An* 
fang  derBnählung  vtm  der  Sündflut):  Noah  und  die  Sündflut* 
Die  Menschen  fingen.  Der  Knabe  hatte  die  Gewohnheit»  die 
Sprüche  sich  von  seiner  Mutter  solange  vorsprechen 
SU  lassen,  bis  er  sie  auswendig  nachsprechen  konnte.  Die 
biblische  Geschichte  dagegen  liest  er  selbst 
durch.  Daher  kommt  es,  dass  er  diese  korrekter  nachzuschreiben 
imstande  ist,  als  jene.  Dort  wird  er  nur  vom  Klangbild,  hier  vom 
Klang-  tmd  Schriftbild  unterstützt. 

Das  im  vorschulpflichtigen  Alter  ge- 
wonnene Klangbild  wird  in  der  Schule  abge- 
ändert durch  das  Hören  richtiger  Laute  und 
durch  das  Hinzutreten  der  Schreibbilder.  Die 
Umänderung  geht  am  vorteilhaftesten  vor 
sich,  wenn  das  Kind  Laut  für  Laut  spricht  und 
während  des  korrekten  Sprechens  zugleich 
den  Buchstaben  niederschreibt.  Eine  Reihe 
weiterer  Versuche  wird  diese  Behauptung  bestätigen. 


V  . 


Arbeitstypen  bei  Schfiiern. 

Vortrag  in  der  1.  Sitzung  des  Berliner  X'ereins  für  Scbulgesundbeitspflege 

am  89.  Oktober  1901.  ^ 
Von 

Ferdinand  Kemsies. 

Geehrte  Damen  tuui  Herren! 

Seit  einem  Dezennium  sind  unsere  Kenntnisse  über  die  psy- 
chologischen und  physiologischen  Voi^g^nge,  die  wahrend  der 
Venichtung  einer  einfachen  Arbeit  stattfinden,  mannigfach  be- 
fdchert  worden.  Wexm  ich  es  heute  unternehme,  vor  Ihnen  über 
Arbeitstypen  su  sprechen,  so  bin  ich  gleichwohl  in  einiger  Ver- 
legenheiti  denn  wir  betreten  hier  dn  Grebieti  auf  dem  z.  Z.  kaum 
mehr  als  einige  Cömbinationen  im  Umlauf  sind.  Sie  wollen 
daher  meine  Ausführungen  mit  der  Nachsicht  beurteilen,  die 
ein  erster  Versuch  in  praktischer  Absicht  beanspruchen  darf. 
Sind  wir  doch  heute  noch  nicht  soweit,  alle  geistigen  und 
körperlichen  Vorgänge  exakt  verfolgen  zu  können,  die  unter 
dem  Begriff  einer  speziellen  Arbeit  zusammengefasst  werden; 
wieviel  weniger  ist  es  daher  möglich,  Typen  der  Arbeit  auf- 
zustellen. Der  Begriff  des  Arbeitstypus^)  verlangt  eine  Kenntnis 
der  Art  und  der  Inten8ität,in  der  die  einzelnen  geistigen  und  körper- 
lichen Punktionen  während  bestimmter  Arbeiten  ablaufen, 
dabei  in  einander  greifen,  indem  sie  sich  gegenseitig  unter- 
stützen oder  hemmen  —  und  zwar  in  charakteristischer  Aus- 
prägung bei  verschiedenen  Individuen.  Da  kommt  es  darauf 
an,  welche  Sinnesempfiiiduiip^en  vorzugsweise  den  geistigen 
Rohstoff  für  den  besonderen  l  all  liefern,  ob  Auge  oder  Ohr 
sich  energischer  bethätigt,  wie  sich  die  Vorstellungen  erneuern, 

>)  Zur  Qrientiemng  Aber  den  psjrdiologiaGheii  Arbellabegriff  ¥gL  man; 

Hdfler,  Piychische  Arbeit  Ztschr.  fQr  Psychologie  und  Physiologie  der 
Sinnesorgane.  VII/VIII.  -  Psychologische  Arbeiten,  herausgeg.  von  Kraepelin. 
—  L.  W.  Stem,  Ueber  Psychologie  der  individuellen  Differensen.  Leipsig  19CX). 
Barth.  — 


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350 


wie  sie  sich  zu  Reiben  verknüpfen,  wie  sie  in  logische  Ver- 
bindungen gebracht  werden.  Da  kommt  es  femer  auf  die 

mannigfachen  physiologischen  Prozesse  an,  die  neben  den 
geistigen  herlaufen  und  vielfach  zu  ihnen  in  Beziehung  stehen, 

wie  es  pathologische  Fälle  deutlich  zeigen.    Da  spielen  die 

Einflüsse  der  Uebunc;,  Gewöhnung,  Ermüdung,  Erholung,  An- 
regung u,  a.  eine  bedeutende  Rolle,  denn  sie  bringen  quanti- 
taÄve  Veiäudeiüiigen  in  den  Arbeitsiesullaten  hervor. 

Zu  diesem  grossen,  nur  teilweise  bekamiten  Komplex  von 
Erscheinungen  kann  ich  Ihnen  nur  einige  statisusrhe  und 
experimentelle  Beiträge  aus  dem  Material  liefern,  das  die 
Schule  zur  i3eobachtiing  gelangen  lässt.  Es  wird  eine  Auf- 
gabe für  die  Zukunft  sein,  den  Arbeitst\'pus  auf  seine  Zu- 
sammensetzung aus  einfachen  Typen  genauer  zu  untersuchen. 
Deshalb  möchte  ich  den  Ausdruck  Typus  an  dieser  Steile 
nur  als  provisorischen  aufgeiasst  wissen. 

1.    Die    Verschiedenheiten    des  Arbeitswertes. 

Rangtypen. 

In  vielen  Schulen  besteht  die  Einrichtung,  die  Schüler 
nach  ihren  Leistungen  in  einer  Rangliste  zu  ordnen.  In  dem 
Klassenplatz,  den  der  Knabe  einnimmt,  kommt  gewisserniasaen 
der  Gesamtwert  zum  Ausdruck,  den  die  Lehranstalt  seiner 
Arbeit  zuerkennt.  Für  die  Feststellung  desselben  wird  ein  Ver- 
fahren in  Anwendung  gebracht,  das,  so  roh  es  noch  erscheinen 
mag,  immerhin  einen  gangbaren  Weg  vorstellt,  zu  einer 
Messung  zu  gelangen.  Die  Leistungen  in  jedem  Fache  werden 
nach  ihrer  Beschaffenheit  durch  eine  Nummer  statt  wie  ge- 
wöhnlich durch  eine  Note  bezeichnet;  den  5  üblichen  Noten: 
„sehr  gut,  gut,  genügend,  mangelhaft,  ungenügend"  ent- 
sprechen die  Zahlen  i — 5.  Man  multipliziert  nun  die  Nummer, 
z.  B.  3,  mit  der  Zahl  der  Wochenstunden  des  Faches,  *B-. 
6,  und  erhält  einen  Wochenwert:  18.  In  dieser  Weise  werden, 
für  alle  Fächer  Wochenwerte  berechnet  und  durch  Addition 
derselben  die  Zahl  gewonnen,  die  für  den  Platz  des  Schülers 
massgebend  ist  Die  guten  Leistungen  In  einem  Gegenstände 
gleichen  hierbei  die  schlechten  in  einem  andern  ganz  o^er 
teilweise  aus. 


Arbeitsiypen  bei  SchüUrn, 


351 


Deutsch 

Frusösisch 

Gaogr. 

Rechnen 

Nalurb. 

Schreiben 


Beispiele. 

5  St.  X  3'/a  ^  Id  (17'/,)  , 


6  St.  X  4 
2  St.  X  4 


St. 
St. 
St. 


X  ■» 

X  3 
X  3 


24 

«  a 

=  20 

^  6 
=  6 

82 


6X2 
X  2 

X  2 

.  1 

X  i 


12 
4 

10 

2 
2 


I 


38 


Bei  der  PesLstcllung  der  Faclir.;;niuici  werden  alle  Leistnn- 
geri  dos  Schülers  sorgfältig  <^rwogen,  Ix^ini  deutschen  Unterricht 
ilso  ebeiibogui  die  Keiuitmsse  \\\  der  ( ir.unriiatik  und  in  der 
Orthographie,  wie  die  Fertigkeiten  im  Lesen  und  im  mündlichen 
oder  schriftlichen  Gebrauch  der  Muttersprache.  Die  Fachnummer 
kann  .sogar  auf  Bruchteiie  lauten;  wenn  der  Wochenwert 
5>  3-  -  15  als  zu  hoch,  5x4  =  20  m  niedrig  angesehen  wird, 
so  kann  eine  der  dazwischen  liegenden  Zahlen  16  bis  19  ge- 
wählt werden. 

Diese  Piatzzahieu  verteilen  sich  bei  der  letzten  Rang- 
ordnungslistc  in  der  Sexta  einer  Oberrcalschule  über  die  Zahlen- 
strecke von  38  bis  82,  jedoch  nicht  gleichmässig,  sondern  häufen 
sich  in  dem  untern  Teil,  sjx;ziell  um  die  Zahl  67,  die  nicht 
weniger  als  fünfmal  auftritt :  Tabelle  I,  Fig.  I.  Das  arithmetische 


Tab.  I. 


1 

!  1 

6, 

71 

i 

53 

63 

73 

54 

64 

66 

73 
75 

1  1 

67 

76 

1 

67 

i  , 

•  1 

«»7 

67 

! 

CjS 

67 

78 

i  ^ 

59 

70 

SO 

i 

59 

7«> 

Mittel  aller  Zahlen  beträgt  64,8.  £s  repräsentiert  demnach  die 
Mehrzahl  der  Sextaner  sogenannte  Dtuxrhschnittsschüler.  Ordnet 
man  die  Zahlen  in  Zehnerreihen  an^  so  bemc  rkt  man  in  der 
Kolumne  von  61  bis  70  nicht  weniger  als  ii  Knaben;  darunter 

ZdltGhtHt  Nr  pidamitche  Pqpdiotosie  nad  PHltotocIe.  2 


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352 


Ferdmand  JCtmties, 


sind  bereits  verschiedene,  die  nicht  in  allen  Fächern  glatt 
genügen,  vielmehr  in  einem  oder  sogar  in  zwei  Gegenstanden 
ein  kleines  Manko  aufweisen,  und  an  deren  Reife  für  die  Ver- 


Figur  I. 


Setzung  nach  V.  zeitweilig  Zweifel  bestanden.  Dabei  muss  zur 
Charakteristik  der  Note  genügend,  auf  die  es  bei  der  Ver- 
setzung ankonunt,  hervorgehoben  werden,  dass  sie  auch  dann 
noch  erteilt  wurde,  wenn  33  o/b  bis  50  ^  der  schriftlichen  Ar- 
beiten des  Jahres  unter  genügend  waren,  sobald  nur  die 
letzten  ein  befriedigendes  Mass  von  Wissen  erkennen  Hessen. 

Vor  der  Kolumne  der  Durchschnittsschüler  befinden  sich 
nur  8  Knaben,  5  mit  Nummern  von  53  bis  59,  die  also  nicht 
viel  über  dem  Durchschnitt  stehen,  und  nur  3  mit  den  Werten 
38,  40,  48.  Unter  dem  Durchschnitt  ebenfalls  8  Sextaner,  mit 
den  Nunmiem  71  bis  82,  die  nicht  reif  für  die  Versetzung 
erschienen,  wenn  auch  einige  noch  nach  V  hinüberge- 
schoben wurden,  da  sie  bereits  2  Jahre  in  der  VI.  zuge- 
bracht hatten. 

Nach  dieser  mathematischen  Anordnung  der  Schüler,  die 
vielleicht  eine  äusserlich-mechanische  genannt  werden  wird, 
da  sie  den  inneren  Wcsenskem  mancher  Individuoi  nicht 
recht  wiederzugeben  vermag,  die  jedoch,  wie  soeben  gezeigt, 


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AHteilstypen  bei  SdnUtm. 


3f.3 


mit  der  Abstufung  in  der  Reife  im  die  nächsthöhere 
Klasse  ungefähr  zusammenfällt,  würden  wir  in  der  VI.  vier 
Rangtypen  unterscheiden :  den  oberen  Typus,  den 
ersten  Durchschnitt,  den  zweiten  Durchschnitt 
und  den  u  n  t  e  r  e  n  T  y  p  u  s  ;  (quantitativ  überwiegen  die  zwei 
letzten,  die  beiden  ersten  nehmen  TUir  die  erste  Bank  der  Klasse 
ein.  Die  Uebergänge  zwischen  diesen  l  ypen  sind  natürlich 
fliesst  Ilde  |rh  vermute  jedoch,  dass  sie  sicli  \\\  den  unteren 
und  mittleren  Klassen  sämtlicher  Lehranstalten  in  ähnlichen 
Proportionen  vorfinden. 

Da  die  Kinwirkungen  der  Lehrer  auf  die  Schüler  euier 
Klasse  zeithch  und  mhaltlich  die  gleichen  sind,  auch  das  ßeur- 
teilungsprinzip  das  gleiche  ist,  da  ferner  die  Lehrer  der  Vi. 
während  des  Jahres  nicht  gewechselt  hatten,  so  können  jene 
Differenzen  in  den  Arbeitswerten  nur  durch  die  psychischen 
Differenzen  in  Begabung,  Fleiss  und  Aufmerksamkeit  ent- 
standen sein,  die  im  Laufe  des  Schuljahres  ihren  Einfluss  auf 
den  Arbeitswert  in  wachsendem  Masse  geltend  machten. 

Was  Fleiss  und  Aufmerksamkeit  angeht,  so  sind  sie  nur 
in  wenigen  Fällen  vemmst  worden,  meist  haben  sie  befriedigt ; 
vor  dem  Versetzungstermin  i)f legen  alle  Schüler  unter  der 
gesteigerten  Aufsicht  und  Einhilf e  der  Eltern  und  Lehrer»  und 
angespornt  von  eigenem  Ehrgeiz,  in  ernsthafter  Arbeit  zu  ver- 
harren. 

Wenn  wir  die  4  Monate  früher  ausgegebene  Rangliste 
betrachten,  Figur  II,  so  ist  eine  Aehnlichkeit  mit  der  jetzigen 
inbezug  auf  den  oberen  Teil  nicht  zu  verkennen,  ein  Unter- 
schied besteht  nur  für  den  unteren  Abschnitt,  da  sich  hier  der 
3.  Typus  von  dem  4.  noch  nicht  gesondert  hat.  Diese  Teilung 
hervorzubringen,  ist  erst  während  des  letzten  Vierteljahres  ge- 
lungen; gesteigerter  Fleiss  und  Aufmerksamkeit  bei  den  auf- 
gerückten Schülern  mögen  hier  zur  Erklärung  herangezogen 
werden. 

Aus  dem  Vergleich  der  5  Ranglisten  des  Jahres  dagegen 
ergiebt  sich,  dass  die  Schwankungen  in  der  Leistung  kleiner 
sind,  als  man  vielleicht  zu  erwarten  geneigt  wäre.  Jeder  Schüler 
nimmt  unter  den  Kameraden,  die  der  Zufall  zu  einer  Klasse 
vereinigt  hat,  eine  ziemlich  konstante  Stellung  ein,  und  das 
weist  auf  die  Begabung  als  die  erste  l^rsache  für  jene  Unter- 
schiede hin. 


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354 


FerJiHund  Kemsüts. 


.\u>nahiiu  n  hi'>iaiit;i'n  d\v  Ro,i;t*I.  \  r>n  tlcn  27  Sextanern 
naiit  n  sich  iS  unget.ihr  in  ilirem  Niveau  ,;;t  haiti-n.  und  nur 
')  ihre  l'osuioii  nennenswert  \frantiert.  namhch  3  lu  negatueni 
und  h  in  posilix  eni  Sinne ;  aber  von  den  (>  waren  3,  deren 
Fortschritte  nicht  auf  eigenes  Konto,  sondern  auf  das  der  Iiäus- 


liehen  Nachhilfe  gesetzt  werden  müssen;  nur  ein  einziger 
hat  sich  ans  eigener  Kraft  —  man  könnte  besser  sagen 

Intelligenz  —  emporgearbeitet  Der  Weg  nach  oben  ist 
in  der  Schule  fast  -  noch  schwieriger  als  im  Leben.  Die 
ausserordentlichsten  Anstrengungen  führen  bloss  in  Ausnahme- 
fällen, nur  wo  Talent  \orhanden  ist,  zu  hervorragenden  Ergeb- 
nissen; in  der  Mciirzahl  der  Fälle  müht  sich  der  Durchschnitts- 
schüler ab,  eine  Durchschnittszensur  zu  erreichen.  Das  ergiebt 
sich  aus  der 

2.  Statistik  der  Arbeitszeiten. 


Aus  dem  täglichen  Zeitaufwand  der  Untertertianer  der- 
selben Anstalt  bei  Anfertigung  der  Schularbeiten  Hess  sich 


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Arbatstvpen  M  SchüUni. 


35:") 


rbinlalls  eine  Viertcilung  drr  Klassi   .iblt-iu-n  ^  i 
sition  der  Klasse  war  der  geschilderten  ähnlich, 
während  zweier  Schulwochen,  die  je  im  ersten 
Halbjahr  gelegen  waren,  diejenigen  Arbeiiszeite 
Fach  und  jeden  Tag  testgestellt,  tlic  der  SciiüliT  u 
zu  Hause  verbraucht   hatte.  al>(»   l->t  Zi'it.  nicht  i' 
den   Hehurden  oder  \  oni  1' iiieiirer  berechnete 
eirunde  gelegt. 

Es  ergaben  sich  1  Wucheulubcllen  mit  je  4 
iabelle  H  und  Hl,  Figur  Hl. 


nii"  Korn{H» 
l'^s  wurden 
und  /weiten 
n  für  jedes 
irklich  dafür 
tua  die  \on 
Soll-Zeit  zu 

Kategorieeu. 


T.ib.  II. 

5  SchQler  .    .  'i22,2  Min.  durchschn.  7  Schüler . 

11      I»     .    .  420,<»  11  . 

8  .   .  324,4 

3      „     .   .  633)3  4  „ 


Tab.  III. 

.  402,4  Min.  durchscbn. 
.  527,7    »,  „ 
•  "13,4   „  „ 
.  955,0  .. 


(Die  Zahlen  am  linken  Rande  gehören  vx  den  Ober  ihnen  Heißenden  Linien.) 


'  Dies«  Zeitschrift  I.  2.  .'{,  \  (ioycn  iIk  Kuhtigkiit  dii  i.-uig<>;clH'nfn 
Arbfits/fitcn  sind  verschiedene  Kinuande  /u  etiielten  di»  k  h  j^elten  hu^si  n 
muss;  doch  möchte  ich  antuhren,  dass  nur  von  niassgebendei»  Schulmännern 
venicheit  ist,  dam  die  obigen  Zahlen  durchweg  m  niedrig  gegriflcn 
»nd;  vgl.  auch  Päd.  Wochenblatt  XI.  5:  Zwei  Fälle  von  Ueberbürdung. 
(Keesebfter) 


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356 


In  der  ersten  Woche  unterscheiden  sich  diese  um  je  ca. 
loo  Min.  durchschnittlich;  in  der  zweiten,  die  erhöhte  An- 
forderungen enthielt,  progressiv  steigend  um  ca.  125»  185  und 
240  Minuten.  Danach  arbeiteten  die  schnellsten  Schüler  etwa 
I  Stunde  täglich,  die  langsamsten  dagegen  2  bis  2V2  Stunden. 
Nun  stehen  diese  Geschwindigkeitstypen  in 
einem  deutlichen,  wenn  auch  vielleicht  uner- 
warteten Zusammenhang  mit  den  Rangtypen. 
Für  die  ersten  15  Schüler  der  Klasse,  die  aus  28  Tertianero 
bestand,  wurden  die  kurzen  Arbeitszeiten  notiert,  der  untere 
Typus  dagegen  und  die  Hälfte  des  Durchschnitts  brauchten 
die  langen  Vorbereitungen. 

Es  entsteht  die  Frage,  wie  sind  diese  gewaltigen  Zeitdiffe- 
renzen zu  erklären?  Welche  Faktoren  spielen  hier  wesentlich 
mit?  Darauf  will  ich  Antwort  zu  geben  versuchen  mit  der 
Vorführung  von 

3.  Gedächtnis  typen. 

Dass  es  Personen  giebt,  die  Gesichtseindrücke  leichter  und 
korrekter   aufzunehmen   vermögen  als  Gehdrsempfindungen 
oder  umgekehrt,  ist  eine  bekannte  Thatsache,  die  sich  auch 
schon  bei  Schülern  konstatieren  lässt.  Ich  wende  mich  sofort 
der  quantitativen  Seite  des  gewöhnlichen  Lemverfahrens  zu, 
bei  dem  das  Gesichtsbild  mit  dem  Gehörs-  und  Sprech- 
bewegungsbild  sich  kombiniert.  Es  wurden  im  Laufe  von  neun 
Monaten  mit  Quartanern  und  Untertertianern  der  Oberreal- 
schule Versüchsserien  über  das  mechanische  Wortgedächtnis 
angestellt.')  Zu  diesem  Zwet  ke  wurden  zweisilbige  Fremdwörter 
mit  zugehörigen  zweisilbigen   Bedeutuni^cn  nach  bestinimien 
Gesichispunkicn  ausgewählt  und  je   10  /u  einem  Leruhiuck 
zusammengestellt.  Dieses  wurde  m  der  Zeil  von  20  Sekunden 
mit  Beobachtung  verschicdciu  1   Kautelen  vorgeführt;  daiau: 
von  dem  Schüler  solon  \Mcderholt,  indem  er  alles,  was  be 
halten  war,  auf  cnu  ii  Zciiel  niederschrieb.   Eine  zweite  Dar- 
bietung und  eine   /.weite  Wiederholung   folgte.    Die  Methode 
wurde  ^0  lange  angevvcnd<  t,  bis  alle  Vokabeln  erlernt  waren.  Es 
ergaben  sicii  grosse  Verschiedenheiten  in  den  Resultaten,  von 

•)  Dieäe  Zeitschrift  III,  ;t — 4.    Gcdächuiisuntersuchungen  an  Schülern. 


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ArbtiUtypen  bei  :>chüUm. 


357 


denen  4  in  Figur  IV  graphologisch  dargestellt  sind.  Nach  der 
ersten  Wiederholung  sind  die  Differenzen  noch  gering,  i — 2 
Vokabeln  (V^ — Vo)  werden  richtig  reproduziert.  Nach  Wj  aber 
sind  die  ersten  beiden  Leraer  bereits  bei  \\  angelangt,  der 
dritte  bei  V3  und  der  vierte  erst  bei  V^.  Bei  .Wj  «erreicht  der 
erste  Typus  das  Leinziel ;  der  zweite  kann  ihm  so  schnell  flicht 
nachfolgen,  er  braucht  noch  3  weitere  Anläufe,  um  zu  Vjjf^ayi 
.gelangen. 


Ftgnr  IV. 


Wie  steht  es  jedoch  bei  dem  3.  und  4  Lernen  aus?  Jener 
muss  im  ganzen  10  Wiederholungen  ausführen,  um  10  Voka- 
behi  zu  erlernen;  der  letzte  geht  fortwährend  im  Zickzack, 
hat  er  1—2  Vokabehi  neu  aufgenommen»  so  ist  er  nicht  im- 
stande, sie  alle  festzuhalten,  er  lernt  dann  rückläufig,  um  wieder 
einen  Schritt  vorwärts  machen  zu  können  —  ein  zum  Ver- 
zweifeln mühsamer  Weg,  mit  10  Wiederholungen  ist  er  erst 
bei  V7.  Dabei  sind  die  Fremdwörter  nicht  korrekt  wieder-« 
gegeben,  sondern  stark  verstümmelt.  Zuweilen  kommt  es  vor, 
dass  er  während  dieser  Anstrengung  ermüdet,  dann  ist  es  mit 
dem  Lemprozess  für  den  Augenblick  überhaupt  vorbei,  und 
es  muss  nach  einiger  Zeit  ein  neuer  Anlaut  versucht  werden. 
Wieviel  Zeit  und  Kraft  für  diesen  so  gering  geschätzten  mecha- 
nischen Lemprozess  hier  verbraucht  wird,  davon  hat  kaum 


uiyu.-n-u  üy  Google 


358 


/•"etittuattt/  Ktutstes, 


jemand  eine  Vorstellung.  £s  wird  nicht  überraschen,  da$5 
dieser  Schüler  im  vierten  Rangtypus  steht.  Interessant  ist 
jedoch»  dass  der  erste  Lerner  mit  seinem  phänomenalen  Ge- 
dächtnis auch  nur  dem  dritten  Rangtypus  angehört. 

Ebbinghaus')  machte  in  ii  Klassen  eiu^  Gymuasinmü 
und  in  3  Klassen  einer  höheren  Mädchenschule  zu  Breslau 
Gedächtnisversuche,  indem  er  kurze  Reihen  einsilbiger  Zahl- 
wortc  in  verschiedenen  Anordnungen  und  mit  einer  bestimmten 
Geschwindigkeit  einmal  vorsagen  Hess.  Wenn  er  nun  die  Schüler 
einer  Klasse  unter  Beibehaltung  ihrer  Rangordnung  in  drei 
möglichst  gleiche  Gruppen  teilte  und  die  Fehlersummen  für 
jede  gesondert  berechnete,  so  fand  er  sie  im  ganzen  ungefähr 
gleich.  Jene  elementare  Gedächtnisleistung,  sagt  E.,  die 
in  dem  sofortigen  getreuen  Reproduzieren  einer  Reihe  von  relativ 
einfachen  Eindrucken  besteht«  ist  also  bei  den  besseren 
Intelligenzen  im  Durchschnitt  nicht  stärker,  als  bei  den 
schlechtem.  Dem  wurde  ich  freilich  insofern  widersprechen, 
als  ich  die  langsamsten  Lerner  bis  jetzt  in  dem  3.  und  4.  Rang- 
t3rpus  angetroffen  habe.  Auch  möchte  ich  beim  Wort^fedächtnis 
aufmerksam  macheu,  dass  die  Korrektheit  der  Wiedergabe  bei 
den  langsamen  Lemem  nur  gering  zu  sein  pflegt. 

4.  Rechenleistungen. 

Einen  gewissen  Anschluss  an  die  Rangordnung  fand 
E.  bei  den  Ergebnissen  einer  Rechenmethode.  Die  Kinder 
mnssten  vor  Beginn  des  Unterrichts,  sowie  am  Ende  jeder  Unter- 
richtsstunde je  10  Minuten  lang  leichte  Additions-  und  Mnlti- 
pläcationeaufgaben  rechnen.  In  8  Klassen  war  die  Leistung 
des  ersten  Drittels  der  Schüler  quantitativ  die  beste,  diejenige 
der  mittleren  Gruppe  blieb  hn  Durchschnitt  lo^la  gegen  die 
vorige  xurück,  die  des  letzten  Drittels  lag  in  der  Mitte  zwischen 
denen  der  beiden  oberen  Gruppen.  Qualitativ  war  wiederum 
die  Arbeit  des  ersten  Drittels  der  der  anderen  Gruppen  uberlegen. 
Danach  müssten  die  Schüler  des  letzten  Drittels,  weil  sie  der 
Rangordnung  nach  hinter  dem  zweiten  Drittel  folgen,  im 


Ziscbr.  f.  Psychologie  und  Physiologie  der  Siimesoigane  XIII. 
401  ff :  Heber  eine  neue  Mcthodr  xw  Prüfung  geistiger  Fähigkeiten  und 
ihre  Anwendung  bei  Schulkindern. 


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Arbeitstypm  bH  Schülern. 


359 


Rechnen  aber  mehr  leisten,  in  den  sprachlichen  Fächern  ganz 
bcMleutend  hinter  ihren  Kameraden  zurückstehen. 

In  früheren  und  neuerdings  wiederholten  Versuchen  mit 
Additionsaufgaben  bin  ich  zu  ähnlichen  Resultaten  gelangt. 
Jedes  Arbeitsstück  enthielt  lo  Exempel,  die  im  Kopfe  zu  lösen 
waren,  sodass  nur  die  Resultate  niedergeschrieben  wurden; 
für  jedes  war  eine  volle  Minute  angesetzt,  die  Quantität  dem- 
nach beschränkt  und  nur  die  Qualität  ausschlaggebend,  doch 
stellten  die  Aufgaben  eine  ziemlich  starke  Belastung  her. 
Beispiel:  345^479  (Uebersrhreilcn  eines  Zehners  und  eines 
Hunderters). 

Es  wurden  10  Versuchsserien  ä  10  Exempel  gemacht  und 
also  von  jedem  der  27  Sextaner  100  Aufgaben  gerechnet;  nach 
Ablauf  einiger  Monate  «dieselbe  Zahl.  Ich  führe  die  Anzahl 
richtiger  Losungen  für  jeden  Schüler  in  der  nachfolgenden 
Tabelle  an^  und  zwar  in  der  Reihenfolge  der  Rangordnungs- 
liste,  wie  sie  in  Tab.  I  und  Figiu"  I  angegeben  ist : 


Tabelle  IV. 

Erstes  Drittel  Zweites  Dritte!  Letztes  Dritte) 

77  55  42 

79  5-  22 

55  2S  bo 

«B  61  58 

85  7  t  5*> 

r.:^  *18  64 

''4  sl  70 

iA  61  83 

eO  52  82 

t,47  =  71."*"<.  4''3  M,8%  54«. 

Tabelle  V. 

Erstes  Drittel  ,    Zweites  Drittel            Letztes  Drittel 

94  :          70  62 

89  67  ,  ^ 

38  64 

y:«  71  WS 

%  78  I  67 

82  ,         M  53 

8»  83  80 

42  I         72  :  Sl 

79  81  <»0 


744  =  S2,7«/o  \        603  r=r  67*/„  051  =  <»1.2*„ 


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Ferdmand  Kemstes. 

Aus  lab.  IV.  ist  ersichtlich,  dass  wieder  die  Rechen- 
icistungen  des  letzten  Drittels  in  der  Mitte  liegen  zwischen  jenen 
der  andern  beiden  Gruppen  71,9  o/o :  54,8 : 60 aus  Tab.  V, 
<lass  das  zweite  Drittel  der  Klasse  noch  in  einem  hohen  Masse 
übungsfähig  ist,  ebenso  wie  das  erste  Drittel,  die  letzte  Gruppe 
jedoch  wenig  Fortschritte  zeigt:  82,7  %  :  67  : 61,2.  Die  Klassen* 
drittel  repräsentieren  natürlich  keiue  eigentlichen  Rcchcntypen, 
auf  diese  weisen  aber  die  (in  den  Tabellen  fettgedruckten) 
Minimal-  und  die  Maximalwerte  hin,  deren  Zustandekommen 
zu  erforschen  bleibt 

5.  CombiiiaLiousleistuugeii. 

Ebbingbaus  Hess  im  weiteren  Verlaufe  seiner  Unter- 
suchungen den  Schülern  Prosatexte  vorlegen,  die  durch  kleine 
Auslassungen  unvollständig  gemacht  waren;  bald  waren  ein- 
ieelne  Silben,  bald  Teile  von  Silben,  bald  auch  ganze  Worte 
fortgelassen.  Der  Schüler  sollte  die  Lücken  möglichst 
schnell,  sinnvoll  und  mit  Berücksichtigung  der  verlangten 
SUbenzahl  ausfüllen.  Die  Arbeitszeit  an  einer  einzelnen  Text- 
probe wurde  auf  genau  fünf  Minuten  bemessen  und  hinterher 
festgestellt,  wieviele  Silben  überhaupt  ausgefüllt,  wieviele  über- 
sprungen, wieviele  sinnwidrig  ausgefüllt  waren,  und  wo  Ver- 
stösse gegen  die  vorgeschriebene  Silbenzahl  vorlagen.  Das 
Wesen  dieser  Combination  besteht  nach  E.  darin,  dass  eine 
grössere  Vielheit  von  unabhäiigig  nebeneinander  bestehenden 
Eindrücken  mit  ihren  Associationen  durch  Vorstellungen  be- 
antwortet werden,  die  zu  ihnen  allen  gleichzeitig  passen  und 
sie  zu  einem  suinvollcn  (ianzcn  vereinigen.  Hierzu  ist  intcllek- 
luelle  Tüchtigkeit  in  erhöhtem  Grade  notwendig. 

Die  Unterschiede  in  den  l.eistungcn  der  verschiedemen 
Klassen  wairen  bei  der  Combinationsniethodc  viel  beträcht- 
licher, bei  der  Gedächtnib  und  RcclicmtK  iticdr  nii  Be- 
weis dciiur.  dass  es  sich  recht  eigciulich  uiii  „Verstandes"- 
operatiunen  handelte.  Aber  ancli  in  jeder  Klasse  ergaben 
sich  zwischen  den  drei  Gruppen  Differenzen,  die  der 
Rangordnung  entsprachen,  nämlich  im  Durchschnitt; 


Erstes  Oiittsl 
Silben  I'ehler  in  %  der 

Tricbtig  ausgefüllt)  ,     Biruttole istung 


Zweites  Drittel 
Silben  |  Fehler 


Letstes  Oiittel 
Silben  '  Fehler 


5u  I  17,3%  48        20,80/^'    43  .it»,3% 


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ArbeiSstypen  bei  Schüifin. 


361 


Die  Menge  der  geleisteten  Arbeit  nimmt  von  oben  nach 
unten  ab,  die  Prozentzahl  der  Fehler  dagegen  zu,  und  zwar 
differieren  die  Leistungen  am  stärksten  in  den  unteren  Klassen, 
während  sie  je  weiter  nach  oben  desto  gleichmässiger  werden. 
Derselbe  Text  wird  beim  Aufsteigen  zu  höheren  Klassen  für 
sämtliche  Schüler  immer  leichter  und  verlangt  schliesslich 
nicht  mehr  eigentliche  Combinationsarbeit,  sondern  nur  noch 
Gedachtnisthätigkeit. 

Die  Versuche  sind  entschieden  die  interessantesten  von 
allen  genannten,  es  ist  zu  bedauern,  dass  sie  nicht  bereits 
an  anderen  Orten,  mit  einigen  Variationen,  wiederholt  sind. 
Für  die  Frage  nach  den  verschiedenen  Arbeitstypen  versprechen 
sie  uns  sehr  wichtige  Aufschlüsse. 

Stern')  schlägt  vor,  die  Lücken  des  Textes  zu  vermehren 
und  den  gegebenen  Stoff  zu  verringern;  man  biete  eine  Reihe 
unter  sich  unzusammenhängender  Biuzelworte  dar  und  lasse 
unter  ihnen  unter  Innehaltung  der  Rethenfolge  und  thun- 
lichsten Vermeidung  anderer  Substantive  einen  möglichst 
knappen,  sinnvollen  Zusamiiicnlianf»^  stiften.  Beispiel:  Krdc, 
Sache,  Messer,  EinsL,  Laube  zrt  A  it  Icr  i']ide  sah  er  eine  Sache, 
die  er  für  ein  l)lank«^s  Messer  hieil,  mit  Liefen  li^rnst  hob  eres 
auf,  um  es  ausserhalb  der  Laube  zu  betrachten. 

6.  E  r  m  ii  d  u  ii  ^  s  t  y  p  e  a. 

Die  Ermüdung  ist  das  Phänomen,  das  wir  alle,  freilich 
in  verschiedenem  Grade,  während  der  Aibeit  aufweisen.  Fast 
scheint  es,  dass  die  Schnelligkeit,  mit  der  unsere  Schüler  bei 
der  geistigen  Arbeit  ermüden,  das  wichtigste  diagnostische 
Merkmal  darstellt.  In  ausgeruhtem  Zustande,  nach  Ferien  oder 
schulfreien  Tagen,  kann  manchem  Schüler  etwas  zugemutet 
werden,  was  er  nach  längerer  Arbeitsperiode  partout  nicht  mehr 
leisten  kann.  Darum  will  ich  zum  Schluss  noch  einige  Er- 
müdungstypen  vorführen,  die  jedoch  in  keiner  Beziehung  zu 
den  Rangtypen  stehen.  Das  Materiel  stammt  aus  einer  hiesigen 
Volksschule,  bei  der  der  Verdacht  der  Ueberbürdung  von  vorn- 
herein ausgeschlossen  war,  und  aus  der  ersterwähnten  Sexta. 

Zehn  bis  fünfzehn  Addiiionse\enipel  von  gleicher  Schwierig- 
keitsstufe sollten  je  eine  in  i  Minute  im  Kopfe  ausgerechnet 

»)  I.  c. 


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362 


Ferdinand  Ktmsies. 


werden.  Nur  wciii^  Schüler  braciiten  sie  alle  richtig  heraus. 
Bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  waren  in  der  ersten  Hälfte 
der  Arbeil  mehr  Treficr  als  in  der  zweiten  Haiti*  ,  seltene: 
war  das  Umgekehrte  der  Fall;  jene  Hessen  die  Aiitrncrksamkeii 
sinken,  bei  diesen  -tieg  sie  während  der  Arbeit  an. 

Wurden  solche  Rechenstucke  aus  je  (2  .\urgal)eu  mehr- 
mals in  die  Unten  u  hlsstunden  eingescho!)cn,  um  f  estzustellen, 
ob  sie  im  I-aufe  des  Schulvormittags  besser  oder  s«  hlechter 
gelö.st  würden,  so  ert^raljen  sich  für  verschiedene  Individuen 
typische  Veränderungen  in  den  Fehlersummen,  vgl.  Figur  V. 


Fixnr  V. 


Wilirend  der  erste  Typus  in  der  ersten  Zeitlage  die  beste 
Letstung  erzielt  und  dann  allmählich  sich  verschlechtert,  be- 
ginnt der  zweite  gerade  umgekehrt  mit  einer  MinimalleistiiBf  , 
um  sich  bis  zu  einem  Optimum  gegen  Mittag  heranfzuarbeitai. 
Ein  dritter  nnd  vierter  Typus  zeigen  in  den  mittleren  Zeitlageh 
ein  Heraufgehen,  resp.  Sinken  des  Arbeitswertes.  — 
G.  D.  u.  H. 

Wenn  Sie  am  Ende  meines  Vortrags  das  vorgefahrte 
lliaterial  überblicken,  so  werden  Sie  mit  mir  sagen,  dass  es 
zwar  erhebliche  Lücken  aufweist,  dass  aber  die  Richtung  für 
spatere  Untersuchungen  in  ihm  klar  angegeben  ist 


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Der  Verantwortlichkeitsgredanke  im 

19.  Jahrhunilert, 

(mit  besonderer  Rücksicht  auf  das  Strafrecht.) 

Vortrag  g«haUen  im  Psychologischen  Verein  zu  Breslau. 

Von 

Kurt  Steinitz. 

Meine  Herren! 

Wenn  ich  als  Jurist  es  unternehme,  hier  vor  Ihnen  über 
dien  Verantwortlichkeitsgedanken  zu  sprechen,  so  bin  ich  mir 
dabei  wohl  bewusst,  dass  ich  einen  Gegenstand  behandle,  der 
weit  heraus  über  die  GK  nzcn  meiner  Fachwissenschaft  Be- 
deutung hat.  Aber  ich  glaube,  (Imss  krii>e  Sphäre^  auch  nicht 
die  der  Moralwissenschaft^  die  doch  wohl  unsern  Gegenstand 
als  so  recht  ihrem  eigensten  Gehif  t  angehörig  in  Anspruch 
nehmen  wird,  für  die  Stellung  des  l^roblems  und  seine  Er 
forschunp  so  geeignet  ist,  wie  die  des  Rechts,  l'nd  ilies  deshalb, 
weil  hier  die  Frage  nach  der  Verantwortlichkeit  d(  s  Menschen 
noch  akuter  ist  als  irgendwo  sonst.  Denn  während  die  Moral- 
Wissenschaft  die  Frage  nach  der  Verantwortlichkeit  nur  als 
eine  Thatsachenfrage  behandelt,  die  ihrer  wissenschaftlichen 
Erkenntnis  unterliegt,  muss  die  Rechtsordnung  sich  zur  Recht- 
fertigung ihrer  selbst  mit  dem  Verantwortlichkeitsgedan- 
ken befassen.  Ihr  eigenes  Thun  und  Lassen,  ihr  eigenes 
Handeln,  nicht  nur  ihre  Erkenntnis  ist  mit  den  Erörterungen 
über  den  Verantwortlichkeitsgedanken  eng  verknüpft.  Die 
Rechtsordnung  ist  ein  Gebilde  von  Menschenhand.  Wer  das 
Recht  schafft,  wer  es  anwendet,  muss  —  wie  stets  der  Mensch 
bei  seinen  Handlungen  —  handtln  aus  bestimmten  Motiven 
heraus,  d.  h.  für  den  vorliegenden  Fall,  er  muss  sich  die  Frage 
aufwerfen,  ob  und  weshalb  er  berechtigt  ist,  an  diese  oder  jene 
Handlung  des  Menschen  gewisse  Folgen  zu  knüpfen.  Denn  da 


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Kurt  SUmäz. 


I  S  in  der  Macht  der  Kechtsordnuiig  steht,  solche  praktischen 
Folgerungen,  z.  B.  die  Bestrafung,  auch  zu  unterlassen,  muss 
für  deren  Statuierung  erst  eine  Begründung,  eine  „Bc- 
rechtigung"  gesucht  werden.  Ob  der  Mensch  für  seine  Hand- 
lungen verantwortlich  ist  und  in  wie  weit  er  es  ist,  ist  also  für 
die  Rechtsordnung  nicht  nur  Gegenstand  der  objektiven  Er- 
kenntnis, sondern  Voraussetzung  ihres  eigenen  Bestandes.  An- 
ders ausgedrückt :  Das  Recht  findet  in  der  Beantwortung  dieser 
Krage  nicht  nur  die  Antwort  auf  ein  wissenschaftliches  Problem 
neben  anderen,  sondern  die  Richtschnur  für  seine  eigene  Be- 
thätigung. 

Und  insbesondere  gilt  das  Gesagte  vom  Straf  recht.  Auch 
die  übrigen  Rechtsgebiete,  so  das  Privatrecht,  rechnen  mit  dem 
Begriff  der  Verantwortlichkeit.  Aber  er  ist  nicht  in  demselben 
Masse  Eckstein  ihres  Gebäudes,  wie  beim  Strafrecht,  dessen 
eigenstes  Gebiet  die  Verantwortlichkeit  des  Menschen  für  ein 
(schuldhaftes)  Handeln  ist.  Damm  wird  auch  der  Begriff  der 
Verantwortlichkeit  und  verwandte  Begriffe,  wie  die  der  Zu- 
rechnimgsfähigkeit,  der  Schuld  und  dergleichen,  in  der  Gesetz- 
gebung, wie  in  der  Wissenschaft  des  Rechtes  in  der  Haupt- 
sache den  strafrechtlichen  Erörterungen  überlassen.  Auch  ich 
will  im  fnlg^enden  meine  Schlussfolgerungen  und  Beispiele  auf 
das  Gebiet  des  Strafrechts  beschränken. 

Wenn  ich  nun  speziell  über  den  Verantwortlichkeitsgedan- 
ken im  19.  Jahrhundert  sprechen  soll,  so  ist  dies  nicht 
leicht ;  nicht  nur  wegen  der  Fülle  des  Materials,  sondern  haupt- 
sächlich deshalb,  weil  das,  was  über  diese  Frage  im  19.  Jahr- 
hundert gesagt  und  geschrieben  worden  ist,  sich  nicht  als  eine 
fortlaufende  Reihe  der  Kntwickclung  darsu  llt.  Sondern  es  geht 
auf  und  ab.  hin  und  her.  Was  im  L.uifr  von  Jahrhunderten  über 
die  Verantwortlichkeit  gesagt  worden  ist,  das  alles,  mag  es 
auch  noch  so  verschieden  sein,  hat  auch  in  unserem  Jahrhundert 
eine  Wkdeibclebung  erfahren.  Und  das  hat  seinen  guten 
Grund.  Handelt  es  sich  doch  um  eine  Frage,  welche  —  leider 
—  nicht  nur  der  Gegenstand  exakter  Forschungen,  sondern  der 
Gegenstand  metaphysischer  Spekulation,  ni<  In  nur  ruhiger, 
wissenschaftlicher  Ueberlegung,  sondern  leidenschaftlicher 
Kämpfe  gewesen  ist.  Immerhin  wird  man  eine  gewisse  Ent- 
wicklungsreihe, eine  reinliche  Scheidung  der  Geister  feststellen 
^cönnen.  Ks  ist  dies  die  immer  klarer  fortschreitende  Einsicht 


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Der  VtrmtiVärÜidkteUMgtdaMte  im  tg.  yckrktmdert.  3^ 

in  die  Unmöglichkeit  der  alten  indeterministischen  Lehre  und, 
darauf  fussend,  die  weitere  Erkenntnis,  dass  gerade  vom  Stand- 
punkt  des  Determinismus  aus,  die  Lehre  von  einer  Verantwort- 
lichkeit des  Menschen  für  seine  Handlung  fest  begründet  und 
damit  die  Grundlage  für  eine  eingehendere  Betrachtung 
spezieller  Fragen  gefunden  wird.  Im  Gebiete  des  Straf  rechts 
ist  es  die  Entwicklung  von  der  Vergeltungsstrafe  zur  Zweck- 
strafe, die  dieser  Fortbildung  entspricht. 

Am  Ende  des  i8.  und  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  be- 
•  herrschte  die  Lehre  vom  „Natnrrccht''  die  Rechtsphilosophie. 
Das  positive  Recht  galt  als  Niederschlag  des  einen  und  ewigen 
Rechts  der  Vernunft.  Der  Staat  wurde  als  ein  Veniunflsprodukt 
der  Menschen  aufgefasst,  die  sich,  ihr  eigenes  Beste  richtig 
erfassend  im  ..contraet  social"  (Rousseau)  zum  (Gemeinwesen 
vertragsniassig  vereint  hätten.  Einen  solchen  Vertrag  mit  der 
Gesellschaft  hat  —  nach  dieser  Schule  —  wie  jeder  Mensch, 
so  auch  der  Verbrecher  geschlossen  und  aus  diesem  Vertrag 
wird  nun  das  Recht  des  Staats  hergeleitet,  den  Verbrecher 
(seinem  eigenen  Willen  gemäss)  für  Zuwiderhandlungen  gegen 
den  Gesellsciiattsvertrag  zu  bestrafen.  Liegt  ein  solcher  Ge 
dankengang  an  sich  schon  dem  heutigen  Stande  der  Wissen 
schaft  so  fern,  dass  es  uns  merkwürdig  herijhrt,  wie  noch  vor 
100  Jahren  solche  Th(M>rien  aufgestellt  und  angenommen  werden 
konnten,  so  kommt  es  Jiier  vor  allem  darauf  an.  festzustellen, 
dass  damit  der  Gegenstand,  der  uns  beschäftigt,  nicht  einmal 
gefctreift  wird;  denn  es  wirft  sich  offenbar  sofort  die  Frag«- 
auf,  warum  denn  dir  Osellschaft  einen  solchen  Vertrag,  d  ir*  l> 
den  sie  ihrem  Mitglied  Uebles  zufügt,  mit  ihm  schliesst,  ob 
dies  nötig,  ob  es  gerechtfertigt,  ob  es  zweckmässig  ist. 

Das  Gleiche  aber  gilt  für  alle  sogenannten  absoluten  Straf 
rechtstheorien,  d.  h.  für  alle  diejenigen  Theorien,  welche  es 
ablehnen,  die  Strafe  aus  einem  hinter  ihr  liegenden  Zweck 
zu  rechtfertigen,  sie  vielmehr  als  einen  Selbstzweck  auffassen, 
der  sich  in  der  Vergeltung  des  geschehenen  Unrechts  erschöpft : 
„punitur  quia  peccatum  ist**,  nicht  „punitur  ne  peccetur".  Kant 
folgert  die  Strafe  aus  seinem  kategorischen  Imperativ.  Wie 
dieser  von  jedem  Menschen  unmittelbar  empfunden  werde,  so 
folge  daraus  unmittelbar,  dass  die  Strafe  die  gerechte  Ver- 
geltung des  Verbrechens  sei.  Wenn  es  überhaupt  eine  Ge 
rechtigkeit  gebe,  so  sei  die  Strafe  etwas  Naturnotwendiges  und 


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Kurt  Sün'niiz. 


Scibstx  (•^stciIldlichc^..  ..5ciü>t  wnin  die  menschliche  Gesellschalt 
sich  auflöst",  sagt  er,  „selbst  dann  müsste  der  letzte  Alorder 
noch  hini^erichtet  werden,  \xm  dem  ('.edankeii  der  ( icr« m  litii;k.eit 
treie  Üalwi  za  schaffen".  Dießem  Standpunkt  entspreclicnd  ist 
das  Mass,  mit  dein  er  die  Strafe  /uniisst,  das  der  Talion:  Auge 
um  Auge.  Zahn  um  Zahn.  Der  Morder  muss  der  Todesstrafe 
v<'ri allen,  wer  beleidigt,  soll  öffentlich  abbitten  (in  manchen 
l  alkti  iia/u  noch  den  Handkuss  leisten),  wer  eme  Notzucht 
begehl,  soll  entmaiuu  v, ridcn.  Weder  in  der  Theorie  noch 
in  der  Praxis  hat  dieser  Ca  1  ai.ke  Kants  Vnklang  gefundt  n  unti 
ich  brauche  kaum  hin/ai/.uiugcn,  da^-  er.  von  allem  anderen 
abgesehen,  /.ur  ia^sung  unseres  Probh nichts  beitr.igi.  Denn 
gerade  unsere  H  iuj)li rage  nach  der  Verantwortlichkeit  des 
Menschen  lasst  er  unbeanuvortci  und  begegnet  ihr  mit  einem 
Axiom,  das  jenseits  der  Erkenntnis  völlig  auf  metaphysischem 
Boden  liegt. 

Auch  Hegel  will  die  Strafe  als  emc  absolute  Institution 
beweisen,  aber  nicht  als  eine  axiomatischc  Forderung  der  Moral, 
sondern  als  eine  absolute  begriffliche  Notwendigkeit.  Das 
Recht  ist  nach  ihm  der  allgemeine  Wille.  Im  Verbrechen  lehnt 
sich  der  einzelne  Wille  gegen  den  allgemeinen  auf.  Pas  Unrecht 
ist  als  Negation  des  Rechts  eigentlich  an  und  für  sich  bereits 
nichtig.  Sobald  es  aber  aus  dem  Bewusstsein  eines  Thäters  ent- 
springt, besteht  es  als  Unrecht  in  dem  Bewusstsein  fort  und 
bedarf  der  Konstatterung  seiner  Nichtigkeit.  Diese  Konsta- 
tierung erfolgt  durch  die  Strafe.  Diese  ist  also  die  Negation  der 
Negation,  d.  h.  die  Position,  also  ist  die  Strafe  Recht.  So  ist 
die  Strafe  die  dialektische  Verwirklichung  des  Rechts.  —  Statt 
einer  Begründung  giebt  uns  Hegel  ein  Spiel  mit  Worten. 

Gegenüber  diesen  beiden  Systemen  und  im  Anschluss  an 
das,  was  vor  dem  und  während  dem  über  das  Recht  und  den 
Zweck  der  Strafe  gedacht  worden  ist,  setzt  die  moderne  Krimi- 
nalwissenschaft mit  einer  eingehenden  Prüfung  des  Zweckes 
der  Strafe  ein  und  diese  Prüfung  führt  von  selbst  zurück  zur 
Untersuchung  der  grundlegenden  Frage,  ob  wir  überhaupt  ein 
Recht  zu  strafen  haben,  ob  der  Mensch  für  seine  Handlung 
verantwortlich  sei  oder  nicht.  £s  ist  das  uralte  Problem 
der  „Willensfreiheit",  welches  wieder  aufgerollt  wird. 
Für  den  Rückblick  am  Ende  des  Jahrhunderts  kann  es  freilich 
m.  E.  als  Problem  kaum  mehr  aufgefasst  werden. 


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Der  VermUmortlickktitsgedanhe  im  ig.  Jahrhundert. 


Aber  vermeiden  wir,  so  weit  angängig,  das  vieldeutige  Wort 
„Willensfreiheit".  Man  bezeichnet  als  Willensfreiheit  vielfach 
die  Freiheit  des  WillenSi  die  darin  besteht,  dass  der  Wollende 
seinen  Entschluss  frei  von  der  Beeinflussung  seines  Willens 
durch  einen  anderen  fasst  (als  Gegensatz  z.  B.  die  Fälle  der 
H^imose«  vielieicht  auch  die  des  militärischen  Befehls).  In 
anderem  Sinne  spricht  man  wieder  von  psychologiadber 
Willensfreiheit:  Meine  Neigung  treibt  mich  nach  der  einen 
Richtung,  aber  äusserer  Zwang  veranlasst  mich  zum  Gegenteil; 
Ich  will  s.  B.  aus  dem  Zimmer,  die  Thür  würd  aber  von  aussen 
zugeschlossen.  Hier,  so  heisst  es,  sei  mein  Wille  unfrei  und, 
in  allen  anderen  Fällen,  wo  solcher  Zwang  fehlt,  sei  der  Wille 
frei.  Zwischen  Wille  und  That  bestehe  eine  Verknüpfung  im 
Sinnie  der  Freiheit  auch  umgekehrt,  denn  hätte  ich  nicht 
gewollt,  so  wäre  meine  Handlung  unterblieben. 

So  richtig  dies  alles  zweifellos  ist,  so  wenig  hat  es  mit 
unserem  Problem  zu  thun.  Denn  was  hier  frei  ist,  ist  mcht 
der  Wille,  sondern  die  That.  Es  wird  nicht  untersucht,  ob 
ich  frei  zu  meinem  Willenscntschlusso  gekommen  bin,  sondern 
ob  ich  diesen  Entschluss  frei  ausführen  kann. 

.Unser  Problem  ist  vielmehr  einsig  und  allein  dieses:  Ent- 
steht der  menschliche  Wille  frei,  d.  h.  wählt  der  Mensch  zwischen 
2  oder  mehreren  Möglidikeiten  frei,  in  der  Art,  dass  man 
trotz  Kenntnis  aller  Momente,  welche  bei  der  Bildung  seines 
Entschlusses  mitspielen,  noch  die  Möglichkeit  eines  anderen 
Entschlusses  zugeben  muss;  oder  ist  der  Wille  des  Menschen 
—  wie  alles  andere  Geschehen  —  eindeutig  als  Folge 
bestimmt,  wenn  ich  die  Summe  der  Ursachen,  die  dabei  in 
Betracht  kommen,  auch  wirklich  in  Betracht  ziehe.  Konnte  der 
Mensch  unter  den  vorliegenden  Umständen  (d.  h.  unter  Be- 
rücksichtigung der  Gesamtheit  aller  dieser  Umstände) 
„auch  anders"  handeln  (oder  genauer  anders  wollen)  oder 
musste  er  so  handeln  (so  wollen),  wie  es  in  der  That  geschah? 
Dies  und  nichts  anderes  ist  die  Frage  nach  dem  Vorhandensein 
der  Willensfreiheit  im  metaphysischen  Sinne  oder,  um  meiner 
Absicht,  das  vieldeutige  Wort  möglichst  zu  vermeiden,  treu 
zu  bleiben:  du  !•  rage  nach  der  Richtigkeit  des  Indeterminismus 
oder  des  Deteriuniisiiius.  Indeterminismus,  so  nennen 
wir  die  Lehre,  dass  der  Wille  sich  cindcuug  lacht  bestimme 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und  Pathologie.  3 


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3b8 


lasse,  dass  immer  daneben  noch  eine  Wahlfreiheit  verbleibe. 
Determinismus:  die  entgegengesetzte  Lehre. 

Eine  klare  Stellung  der  Frage  erleichtert  die  Antwoii. 
Haben  wir  von  unserem  Thema  das  ausgeschieden,  was  wir 
oben  mit  „psychülugibchcr  Willensfreiheit"  bezeichneten,  so 
versagt  zunächst  die  Beweisführung,  die  aus  der  naiven  Auf- 
fassung heraus  gegen  den  Detei niinismus  beliebt  wird.  Die 
naive,  ursprüngliche  Auffassung  soll  nämlich  ergeben,  dass  der 
Wille  frei  sei;  jeder  fühle  es  in  sich  selbst,  dass.  wenn  er  sich 
für  die  eine  von  2  Alternativen  (vielkichi  auJ  Grund  eingehen- 
der Ueberlegungi  entschieden  hat,  er  sich  doch  auch  für  die 
andere  hätte  entscheiden  können.  Man  drückt  dasselbe  wohl 
auch  so  aus:  die  Wahlfreiheit  im  Sinne  des  Indeterminismus  sei 
eine  unmittelbare  Thatsache  des  Bewusstseins.  Schon  der  Um- 
stand, dass  der  Mensch  bei  dieser  oder  jener  Handlung  vor 
einer  Wahl  stehe  und  diese  nach  der  einen  oder  anderen 
Richtung  vollziehe,  ergebe  die  Richtigkeit  des  Indeter« 
nunismus. 

Aber  was  hier  als  naive  Auffassung  ausgegeben  wird,  ist 
weiter  nichts  als  eine  Verschiebung  der  Begriffe,  die  mit  jener 
nichts  zu  thun  hat.  Richtig  ist,  dass  es  für  die  naive  Auffassung 
von  mir  selbst  abhängt,  ob  ich  eine  Handlung  vollziehe  oder 
nicht;  unterlasse  ich  sie,  so  bin  ich  es  doch  eben,  der  sie 
unterlässt.  Und  wenn  ich  mich  innerlich  vor  die  Wahl  gestellt 
sehe,  eine  That  (z.  B.  ein  Verbrechen)  zu  begehen  oder  nicht, 
und  ich  entscheide  mich  für  die  Unterlassung,  so  habe  ich 
das  Bewusstsein,  dass  ich  es  eben  gewesen  bin,  der  diese 
Alternative  gewählt  hat.  Dies  ist  zweifellos  richtig.  Aber  er- 
weist es  die  Richtigkeit  der  mdeterministischen  Anschauung? 
Mit  Nichten!  Es  zeigt  weiter  nichts,  als  dass  —  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  —  der  Mensch  frei  von  äusserem  Zwange  handelt 
(sei  es  Zwang  auf  seinen  Willen  oder  Zwang  auf  dessen  Be- 
thätigung),  dass  er  also  seine  Entschlüsse  vollzieht  aus  seinem 
eigenen  Innern  heraus.  Aber  dies  zu  leugnen,  fällt  dem 
Determinismus  gar  nicht  ein.  Wir  bewegen  uns  hier  vielmehr 
noch  auf  neutralem  Gebiet.  Den  sog.  naiven  Detenninismus, 
gegen  den  einige  Rechtslehrer  (z.  B.  Merkel)  zu  Felde  ziehen, 
und  der  da  besagen  soll,  das  bei  der  Fassimg  eines  Willensent- 
schlusses Bestimmende  liege  nur  ausserhalb  des  Menschen  und 
erschöp(e  sich  in  den  äusseren  Umständen,  aus  denen  heraus 


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369 


die  That  entspringe,  diesen  naiven  Determinismus  hat  es  nie 
gegeben.  Also  auf  doi  Menschen  als  den  Träger  des  Willens- 
entschlusses muss  ich  diesen  selbstverständlich  zurückführen 
—  aber  damit  ist  für  unsere  Frage,  wie  denn  im  Menschen 
der  Willensentschluss  zustande  kommt,  noch  gar  nichts  ge- 
geben. 

So  weit  jedoch  der  Satz  v^on  der  uniniuelbaren  Bewusstseins- 
Thatsache  unseres  Wählcns  mehr  sagen  soll,  nämlich,  dass 
dieses  Wählen  vor  sich  gehe,  ohne  restlos  auf  Ursachen  zurück- 
führbar zu  sein,  ist  er  unrichtig  und  wird  .tuch  nicht  mehr 
von  der  naiven  Auffassung  gestützt.  Lassen  Sie  mich  einige 
Beispiele  geben.  Wir  hören,  dass  ein  Mensch,  den  wir  stets 
als  jaiizornig  gekannt  haben  und  der,  wie  wir  wissen,  mit 
den  Jahren  durch  Unglück  immer  mehr  heruntergekommen 
ist,  im  Rausch  einen  Gegner  erschlagen  hat.  Wir  sagen,  das 
musste  einmal  so  kommen,  bei  seinem  Charakter  und  seinen 
Schicksalen  war  dies  zu  erwarten.  Oder  wir  hören  von 
der  Handlung  emes  aiidi  ren  und  sagen:  unter  diesen  Umstän- 
den würde  ich  ebenso  oder  würde  ich  anders  gehandelt  haben. 
Oder  endlich  auch  ein  Gegenbeispiel  zu  dem  zuerst  gewählten : 
die  Thal  ist  uns  unverständlich;  wir  glauben  den  Thäter  genau 
zu  kennen  und  erklären:  es  ist  nicht  zu  verstehen,  dass  er  die 
That  begangen  hat,  da  müssen  besondere  Umstände  mitgespielt 
haben.  Alles  Urteile  des  täglichen  Lebens,  der  naiven  Auf- 
fassung, alles  aber  auch  Urteile,  die  nur  denkbar  sind  unter 
der  Voraussetzung,  dass  der  Willensentschluss  eines  Menschen 
auf  Ursachen  zurückführbar  ist,  die  ihn  hervorgerufen  haben 
und  zwar  derart  restlos  verursacht  haben,  dass  ich,  wenn 
mir  dieTl 'it  noch  nicht  völlig  verständlich  ist,  nach  einer  wei- 
teren Ursache  suche,  die  mir  zwar  unbekannt  ist,  aber  nach 
meiner  „naiven  Auf  f  a ssung"  doch  vorhanden  sein  muss.  Auf  die 
naive  Auffassung  können  sich  also  die  Deterministen  gewiss 
nicht  stützen  und  eben  so  unschlüssig  ist  die  Behauptung,  das 
„Auch-anders-Körmen**  sei  eine  unmittelbare  Thatsache  des 
Bewusstseins  dessen,  der  sich  für  eine  von  mehreren  Wahl- 
möglichkeiten entscheidet.  Wenn  ich  jetzt  meine  Faust  balle, 
so  sage  ich  und  weiss,  dass  ich  es  auch  hätte  unterlassen  können; 
Aber  ich  füge  hinzu,  „wenn  ich  gewollt  hätte".  Das 
Bewusstsein  der  „Freiheit"  bezieht  sich  also  wieder 
nicht   auf  das  Wollen,    sondern  auf  das   Handeln  und 

3* 


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370 


Kurt  Stemits. 


besagt  weiter  nichts  als  die  zweifellos  richtige  That- 
Sache,  dass  ohne  meinen  Willen  die  Handlung  nicht 
matande  gekommen  wäre.  Niemals  und  nirgends  aber  besteht 
im  Bewusstsein  als  immittelbar  gegebene  Thatsache  die  Frei- 
heit dieser  Willensbildung,  ihre  Unbedingtheit  von 
verursachenden  Ereignissen.  Dies  schon  deshalb  nicht,  weil 
unserem  Bewusstsein  niemals  die  Summe  aller  der  Teilursachen 
erschöpfend  gegeben  ist,  welche  auf  den  Willensentscfaluss  ein- 
gewirkt haben.  £rst  wenn  ich  mir  dieser  aller  bewusst  wäre, 
und  wenn  Ich  dann  trotzdem  noch  dast  Bewusstsein  hatte,  dass 
ich  auch  hätte  andei»  wollen  können,,  könnte  die  Indeterminiert' 
heit  des  Willens  dne  Thatsache  meines  Bewusstsetas  genannt 
werden.  —  So  beruht  die  Argumentation  der  Indetermittisten 
beidemal  auf  einer  Versdiiebung  der  Fragestellung:  Sie  ziehen 
aus,  um  für  die  Willensfreiheit  im  metaphysischen  Sinne, 
für  die  Indetenniniertlieit  des  meUschUchen  Willens  zu  kämpfen 
tmd  sie  erstreiten  den  Beweis  einer  ganz  anders  gearteten 
Willensfreiheit,  eine  Beute,  die  ihnen  von  keiner  Seite  je 
streitig  gemacht  worden  ist. 

Nun  aber  zur  positiven  Seite  der  SacUel 

iWir  tsahen  sdüm:  Selbstverständlich  ist  der  WiUe  des 
Menschen  nicht  em  Produkt  äusserer  Einflüsse,  sondern  die 
Psyche  des  Menschen,  vulgo  sein  Charakter,  zusammen  mü 
den  äusseren  Umständen,  die  auf  ihn  dnwirken,  ergeben  im 
konkreten  Falle  den  Willensentschluss.  Dass  ausser  diesen 
heiden  Momenten  noch  ein  drittes  hinzutrete,  kann  logisch 
nicht  in  Frage  kommen  und  wird  selbst  der  Indeterminist  emst- 
lich nicht  behaupten.  Denn  indem  ich  der  Psyche  des  Menschen 
die  äusseren  Umstände  entgegensetze,  schaffe  ich  einen  Gegen- 
satz, der  in  seiner  Summe  alle  möglichen  Ursachen  umfasst : 
Was  nicht  Psyche  des  Wollenden  ist,  ist  eben  für  ihn  Au^en- 
Welt  (selbst  sein  eigener  Kurpcrj.  Daas  aber  /.war  ein  Drittes 
als  \crursachend  für  den  Willen  nicht  hinzukoninie,  an  seiner 
Stelle  aber  ein  vacuum  stehe,  so  nämlich,  dass  /war  die  äusseren 
Ursachen  und  der  eigene  Charakter  des  Wollenden  beim 
\\  ülensentschluss  thätig  werden,  dieser  aber  dadurch  nicht  be- 
stimmt wird,  sondern  so  oder  auch  anders  ausfallen  kann,  ist 
nicht  nur  unrichtig,  sondern  einfach  eine  Denkunmöglichkt  u 
Denn  es  bedeutet  nicht  weniger,  als  dass  der  Willensenis  :hluss 
ursachlos  entstände.  Dies  aber  zu  begreifen  liegt  ausserh^Ub 


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D«r  Vn  iwftwiw  Üiifcffj^yhiilM  im  ig.  JahHmmOtH,  371 


des  menschlichen  Vermögens,  genau  ebenso,  wie  zu  begreifen, 
dass  sich  etwas  ausserhalb  von  Zeit  und  Raum  ereigriet  Das 
Kausalitätsg<'^ciz,  das  Gesetz,  wonach  jedes  Ereignis  einc^ 
Ursache  haben  muss,  ist  eben  mehr  als  ein  Gesetz  der 
Erfahriinj^:  es  ist  ein  Geset?  des  menschlichen  Denkens,  das 
eben  deshall)  niemals  aus  den  Schranken  dieses  Gesetzes  hinaus 
kann.  Wenn  und  so  weit  wissenschaftliche  Erkenntnis  über- 
haupt möglich  ist,  kann  ein  ursachloses  Wollen  nicht  aner- 
kannt, ja  nicht  einmal  gedacht  werden. 

Aber  haben  wir  nicht  etwa  selbst  schon  unseren  Stand- 
punkt  aufgegeben  und  sind  zum  Indeterminismus  zurück- 
gekehrt, indem  wir  in  die  Ursachenreihe  des  Willens 
auch  die  menschliche  Psyche,  den  menschlichen  Charakter 
eingefügt  haben?  Sicherlich  nicht  1  Denn  auch  der  Charakter 
eines  Menschen  ist  keine  causa  sui,  wird  nicht  von  ihm 
selbst  aus  „freiem*'  Entschluss  gestattet,  sondern  ist  eine 
gegebene  Grösse,  und  darüber  hilft  auch  die  Erwägung 
nicht  hinweg,  dass  der  Charakter  nicht  nur  als  Anlage 
vorhanden  ist,  sondern  sich  bilden  und  bessern  lässt.  Denn 
auch  dieser  Vorgang  des  Bildens  lässt  sich  wieder  in  seine 
zwei  verursachenden  Faktoren  zerlegen,  in  die  äussere  Ur- 
sache der  Bildung,  Erziehung,  Umgebung,  Vorbild  u.  s.  w. 
und  in  die  eigene  Disposition.  Beides  sind  gegebene  Grossen. 

Aber  der  Charakter  eines  Menschen  äussert  sich  in 
Wünschen,  Strebungen,  und  wenn  der  Mensdi  bei  seinem 
Wilkttsentschluss  sich  auch  gewiss  nicht  aller  der  Thatsachen 
bewusst  ist,  die  causal  auf  ihn  einwirken,  so  weiss  er  doch  sehr 
wohl,  was  er  erstrebt.  Er  fasstseinesn'Winensenttscfalussbn  Hin- 
blick auf  ein  Ziel,  dessen  Erreichung  ihm  vorschwebt,  und  wenn 
er  auch  eine  Handlung  mit  diesem  Ziele  tm  Sinne  einer  cau- 
salen  Verbindung  verknüpft,  so  ist  dodi  dieses  Streben  nach 
einem  Ziele  selbst  kein  causaks,  sondern  ein  teleologisches 
Element.  So  deduziert  auch  der  Indetenninist  und  sucht  damit 
seine  Theorie  vor  der  Allgewalt  des  Causalgesetzes  zu  retten. 
Aber  woher  stammt  das  Ziel?  Weshalb  hat  der  Wollende  vtA 
gegenwärtigen  Augenblick  dieses  imd  nicht  em  anderes  Stre- 
ben? Er  hat  es  sich  nicht  „frei"  geschaffen,  d.  h.  so,  dass  er 
im  Augenblick  eben  so  gut  ein  anderes  Ziel  hatte  vor  Augen 
haben  können,  sondern  es  ist  gleichfalls  das  Ergebnis  seiner 
Veranlagung  und  der  äusseren  Umstände,  die  bald  dieses,  bald 


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372 


jenes  als  erreichenswert  erscheinen  lassen.  Wie  sich  im  Einael- 
falle  das  Ziel  bildet,  ist  gleich,  genug,  dass  es  auf  keine  andere 
Weise  als  auf  causale  erklärt  werden  kann.  —  Das  eine  will  ich 
hier  noch  betonen,  dass  diese  Frage,  soweit  sie  uns  interessiert, 
nichts  zu  thun  hat  mit  einer  bestimmten  Weltanschauung,  dass 
sie  nichts  zu  thun  hat  mit  dem  Glauben.  Denn  es  ist  ganz 
gleichgiltig,  was  den  Menschen  bei  seinem  Willensentschluss 
beeinflusst  und  was,  um  eine  Teilaktion  hervorzuheben,  seine 
Zielsetzung  leitet,  ob  es  psychische  und  physische  Ursachen 
sind  oder  der  Wille  eines  höheren  Wesens.  Erheblich  ist  für 
uns  lediglich  die  Thatsache,  dass  eine  solche  Verursachung 
stattfinden  muss.  Weitere  Spekulationen  interessieren  uns  hier 
nicht  und  gehören  ins  Gebiet  der  Metaphysik. 

Es  bleibt  also  dabei:  Auch  das  Wollen  des  Menschen 
unterliegt,  wie  jedes  Geschehen,  dem  Causalgesetz.  Der  Willens- 
entschluss  eines  Menschen  ist  stets  und  überaU  das  notwen- 
dige Ergebnis  der  Faktoren,  welche  bei  der  EntSchliessung 
zusammenwirken.  Er  ist  restlos  auf  diese  Faktoren  zurück- 
zuführen. Er  musste  so  ausfallen,  wie  er  ausgefallen  ist. 


Mit  dem  bisher  Gesagten  haben  wir  den  Standpunkt  des 
Determinismus  gewonnen.  Welches  sind  nun  seine  Konse* 
quenzcn  für  den  Verantwortlichkeitsgedanken? 

Nicht  zum  mindesten  die  Furcht  vor  den  praktischen  Kon- 
sequenzen ist  es,  die  ein  gewisses  Vorurteil  gegen  den  Deter- 
minismus gezeitigt  hat  und  als  Hauptargument  für  seine  Gegner 
fungiert.  Der  Determinismus  vernichte  die  menschliche  Ver- 
antwortlichkeit, so  heisst  es,  und  in  weiterer  Konsequenz,  er 
müsse  auch  die  Strafe  beseitigen,  und  damit  leugne  und  zer- 
störe er  wieder  einen  Pfeiler  der  q^p'^ellschaftlichen  Ordnung. 
Denn  wenn  der  Mensch  in  seinem  Wollen  und  in  Folge  dessen 
in  seinem  Handeln  nicht  frei  sei,  wenn  er  so  habe  wollen  imd 
handeln  müssen,  wie  solle  er  dann  dafür  zur  Verantwortung 
gezogen  werden?  Wie  könne  man  noch  einen  Verbrecher 
strafen,  wenn  er  kdne  Schuld  an  dem  Verbrechen  habe? 

Recht  schwerwiegende  Vorwürfe  sind  es  ohne  Zweifel,  die 
da  gegen  den  Determinismus  erhoben  werden.  Sind  sie  aber 
auch  begründet?  Es  ist  hauptsächlich  der  Rechtsphiiosoph 


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Der  VermlmtfÜiiMiüsgiedmük  im  ig.  Jahrkimdirt, 


373 


und  Straf  rechtslehrer  Merkel  (1836 — 1896),  welcher  den 
Glauben  an  die  Abhängigkeit  jedes  Strafrechts  von  dem  Dogrna 
der  Willensfreiheit  mit  Erfolg  bekämpft  hat.  Freilich  nicht  er 
allein,  vielmehr  haben  iiier  Philosophen  un  i  Juristen  zusammen- 
gewirkt und,  was  ich  im  folgenden  wieflcrgebe,  ist  nicht  die 
1  heorie  des  einen  oder  des  anderen,  sondern  das  Facit,  das  ich 
am  Ende  des  Jahrhunderts  ziehen  zu  dürfen  glaube. 

Ich  beginne  mit  der  Gegenfrage :  Was  leistet  denn  der 
Indetermmismus  für  den  Verantwortlichkeitsgedanken?  Wenn 
ich  das  Unmögliche  einmal  möglich  zu  machen  versuchte  und 
mir  wirklich  denken  könnte,   der    Mensch,   der  einen  ver- 
brecherischen Willensentschluss  gefasst  (und  dann  auch  aus- 
geführt) hat,  hätte  (trotz  der  gleichbleibenden  Ursachenreihe) 
auch  einen  anderen  Entschluss  fassen  können,  was  habe  ich 
damit  für  die  Verantwortlichkeit  dieses  Menschen  gewonnen? 
Es  heisst :  Nun,  dann  ist  es  eben  seine  Schuld,  dass  er  ein 
Verbrechen  begangen  hat  und  da  es  seine  Schuld  ist,  ist  die 
Strafe  die  gerechte  Sühne.  Es  klingt  dies  sehr  plausibel,  aber 
es  sind  zunächst  nur  Worte;  sehen  wir  uns  ihren  Sinn  etwas 
näher  an.  Warum  ist  vom  Standpunkt  des  Indeterminismus 
die  Strafe  die  richtige  Sühne  für  das  Verbrechen?  Wenn  ich 
annehme,  der  Verbrecher  hätte  auch  anders  wollen  können  (und 
zwar  ohne  dass  ein  anderer  Anlass  vorlag),  so  heisst  das,  sein 
Willensentscheid  ist  ursacUos  ergangen.  Ist  das  ein  Grund 
mehr,  ihm  die  That  zuzurechnen  und  ihn  zu  strafen?  Es  hebst : 
„dann  ist  er  es  doch  eben  gewesen,  der  den  verbrecherisdient 
Willen  gefasst  hat*\  Dies  ist  richtig;  aber  zwei  Erwägungen 
müssen  sofort  hinzugefügt  werden.  Nämlich  einmal:  es  ist 
genau  so  richtig,  ja  sogar  weit  richtiger,  auch 
vom  Standpunkt  des  Determinismus  und  sodann, 
es  reicht  nicht  aus,  uro  das  zur  Verantwortungziehen  zu 
erklären. 

Es  ist  genau  so  richtig  vom  Standpunkt  des  Deter- 
minismus. Denn  dieser  betont  ja  gerade,  dass  der  Charakter 
des  Menschen  eines  der  beidra  bestinmienden  Momente  für 
seine  Handlung  ist,  dass  also  der  Willensentschluss  aus  dem 
eigensten  Ich  des  Thäters  entspringt.  Ob  er  ihn  frei  im  Smne 
des  Indeterminismus  fasst,  ist  hierfür  zum  mindesten  gleich- 
giltig:  Der  Hässliche  oder  der  Dumme  kann  gewiss  nichts 
dafür,  dass  er  hässlich  oder  dumm  ist.  Aber  diese  Erkenntnis 


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m 


veranlasst  mich  doch  nicht,  eine  hassliche  Frau  schön  ni  finden, 
oder  etnen  dummen  Menschen  mit  einem  kh^en  auf  eine 
Stufe  zu  stellen.  Genau  eben  so  wenig  kann  uns  die  Erkennt^ 
nSSy  dass  die  menschlichen  Händlungen  nidit  itfA,  sondern 
causal  bestimmt  sind,  hindern,  eine  schlechte  That  schlecht 
und  den  Thäter  einen  bösen  Menschen  zu  nennen.  Ja,  es 
wird  dies  sogar  erst  vom  Standpunkt  des  Determinismus  aus 
verstandlich.  Denn  wenn  wirklich  genau  der  gleiche  Mensch 
in  genau  der  gleichen  Situation  bald  so,  bald  anders 
handeln  könnte,  wenn  er  sich  bald  als  Verbrecher,  bald  ohne 
jeden  Wechsel  der  Scenerie  als  der  edelmütigste  Mensch  er- 
weisen könnte,  dann  hatte  ich  kein  Recht  mehr  zu  sagen,  dass 
es  sich  bei  dem  begangenen  Verbrechen  um  die  ureigenste 
That  dieses  Menschen  handele;  denn  dann  könnte  ja  auch 
die  entgegengeisetzte  That  genau  so  gut  die  ureigenste  That 
dieses  Menschen  sein.  Wie  käme  ich  dazu,  den  einen  Menschen 
gut,  den  andern  böse  zu  nennen,  wenn  der  Gute  eben  so  leicht 
Böses  und  der  Böse  eben  so  leicht  Gutes  vollbringen  kann 
und  vielleicht  auch  im  nächsten  Augenblick  wirklich  volK 
bringen  wird.  Ich  bin  also  oben  noch  einen  Schritt  zu  weit 
gegangen.  Die  Anrechnung  einer  Handlung  ist  gerade  nur 
vom  Standpunkt  des  Determinismus  aus  verstandlidi  und  nur 
dieser  giebt  auch  die  weitere  notwendige  Beschränkung,  dass 
die  That  nicht  nur  dem  Thäter,  sondern  auch  den  äusseren 
Umständen  zuzurechnen  ist,  die  ihn  zu  der  That  getrieben 
haben. 

Die  Berechtigung  zu  einem  solchen  Anrechnen  der  That 
reicht  aber,  wie  gesagt,  auch  gar  nicht  aus,  um  das'  Zur-Verant- 
wortung^iiehen,  das  Strafen,  zu  begründen.  Die  eben  ge- 
pflogene Erwägung  zeigt  nur,  wie  es  kommt,  dass  die  Hand- 
lung auf  das  Konto  des  Handelnden  gesetzt  wird,  wie  es 
kommt,  dass  man  den  Thäter  nach  der  That  bewertet  und 
dass  man  die  That  selbst  nicht  nur  nach  ihrem  Effekt,  nach 
dem  Nutzen  oder  Schaden,  den  sie  stiftet,  segensreich  oder 
unheilvoll,  sondern  mit  deutlicher  Beziehung  auf  den 
Thäter  gut  oder  schlecht  nennt.  Mit  anderen  Worten: 
Unsere  Deduktion  reicht  aus,  wenn  ich  in  dem  Begriff  der 
Verantwortlichkeit  weiter  nichts  sehe  als  die  Thatsache,  dass 
eine  That  ihrem  Thäter  angerechnet  wird.  Diese  Anrechnimg 
und  die  Verantwortlichkeit  in  diesem  Sinne  erschöpft  sich 


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Der  VenmtwortUchkeitsgedanke  im  ig.  Jahrhundert. 


375 


allerdings  in  dem  Gedanken,  dass  die  That  aus  dem  ureigensten 
Ich  des  Thäters  entsprungen  ist  Dagegen  reicht  sie  nicht  aus, 
wenn  wir  die  Frage  auf  werfen:  sollen  wir  den  Verbrecher 
strafen?*)  sind  wir  berechtigt,  ihm  ein  Uebel  zuzufügen,  weil 
er  eine  böse  That  begangen  hat?  Denn  die  Redewendung  von 
der  Sühne,  die  dem  begangenen  Unrecht  folgt,  ist  in  der 
That  nicht  eine  Begründung  fOr  das  Strafen,  sondern  nur 
eine  andere  Formulierung  für  die  Thatsache,  dass  gestraft 
wird.  Sie  erklärt  nicht,  sondern  bedarf  ihrerseits  der  Eikläning. 
Es  üst  absolut  nicht  einzusehen,  inwiefern  die  Berechtigm^ 
für  das  Strafen  darin  gefunden  werden  soll,  dass  der  Mensch 
angeblich  ohne  Vorhandensein  von  eindeutig  bestimmenden 
Gründen  seine  Willensentschlüsse  fasst  und  ein  Verbrechen 
begeht. 

Kann  der  Indeterminismus  aus  sich  heraus  diese  Begrün- 
dung sonnt  nicht  liefern,  so  reicht  hierzu  —  und  dies  verdient 
besonders  betont  zu  werden  —  auch  der  Determinismus  nicht 
aus,  wenn  er  auch,  wie  wir  sehen  werden,  eine  Vorstufe  für 
diese  Begründung  darstellt. 

Auch  der  Determmismus  ist  nicht  fähig,  aus  sich  heraus 
die  Verantwortlichkeit  in  dem  jetzt  verstandenen  Sinne  zu 
begründen,  nämlich  das  Zur- Verantwortung-Ziehen,  das  Recht 
XU  Strafen.  Und  dies  einfach  aus  dem  Grunde,  weil  es  sich 
hier  nicht  mehr  um  ein  logisches  Erklären  handelt,  also  nicht 
um  die  Sphäre,  für  die  das  Kausalgesetz  zur  Anwendung  gelangt, 
sondern  um  eine  Frage  des  Sollens,  eine  Frage,  die  nadi  Zweck- 
gesichtspunkten zu  lösen  ist.  Nidit,  als  ob  nun  plötzlich  das 
Kausalgesetz  ausgeschaltet  wäre.  Im  Gegenteil,  ich  habe  vorhin 
ausgeführt,  dass  auch  die  Ziele,  die  sich  der  Mensch  setzt, 
selbstverständlich  auf  kausale  Weise  entstanden  und  zu  er- 
klären sind.  Aber  es  handelt  sich  für  uns  jetzt  nicht  darum,  zu 
erklären,  wie  sie  entstanden  sind,  sondern  darzuthun,  ob 
überhaupt  gestraft  weiden  soll  und  dass  es  Zweckgedanken 
sind,  welche  die  Strafe  rechtfertigen.  Und  das  letztere  muss 
notwendiger  Weise  der  Fall  sein;  denn  ein  Rechtfertigen,  eine 
Erwägung,  „so  soll  es  sein'*,  kann  für  den  Menschen  mir  in 

Auch  schon  dann  reicht  aie  nicht  aus,  wenn  ich  die  Frage  nach 
dem  Grunde  der  moralischen  Verachtung  des  Bösen  aufwerfe,  die 
hier  aber  niclH  zu  behandeln  ist.  * 


376 


der  Wdse  vor  $ich  gehen,  dass  er  sich  einen  Zweck  vorsteUt 
und  nun  prüft,  ob  diese  oder  jene  Massnahme  geeignet  ist, 
-diesen  Zweck  zu  erfüllen.  Genau  so,  wie  für  die  Erklärüng  eines 
Geschehens  das  Kausalgesetz,  ist  für  die  Rechtfertigung  einer 
Handlung  der  teleologische  Gedankengang  die  einzig  mögliche 
Art  menschlicher  Denkform.  Und  so  ergiebt  sich  denn  der 
wichtige  Satz,  dass  für  die  Begründung  der  Strafe 
der  alte  Streit  zwischen  Determinismus  und 
Indeterminismus  unerheblich  ist,  weil  er  auf 
einem  ganz  anderen  Gebiet  geführt  wird.  Freilich  werden  wir 
sehen,  dass  damit  keineswegs  etwa  jene  Streitfrage  ihre  Be- 
deutung für  den  Verantwortlichkeitsgedanken  völlig  eingebüsst 
hat. 

Will  man  eine  Zweckerklärung  geben,  so  muss  von  einem 
bestimmten  Zwecke  ausgegangen  werden,  über  den  vorher  eine 
Einigkeit  erzielt  werden  muss.  Ob  dijeser  Zweck  selbst  wiederum 
aus  anderen  höheren  Zwecken  als  richtig  beweisbar  ist  und 
im  letzten  Ende  aus  einem  allgemein  gütigen  letzten  imd  höch- 
sten Zwecke,  interessiert  uns  hier  durchaus  nicht.  Der  Zweck, 
von  dem  aus  die  Menschen  ihre  Stellung  zur  Frage  der  Be- 
Strafimg  von  Verbrechen  einnehmen,  ist  uns  klar  gegeben  und 
wird  eine  Diskussion  nicht  hervorrufen.  Es  ist  der  Zweck, 
die  menschliche  Gesellschaft  aufrecht  zu  erhalten  und  die  Ver- 
brechen zu  verhüten.  Sollte  jemand  diesen  Zweck  anfechten 
und  den  Staat,  die  menschliche  Ordnung,  für  ein  unnützes 
Ding  ansprechen  (so  etwa  die  Anarchisten?},  nun  gut,  so 
haben  die  folgenden  Ausführungen  für  ihn  keine  Geltung.  Aber 
wenn  er  uns  nicht  einen  anderen  Zweck,  der  durch  das  Strafen 
erreicht  werden  soll,  aufweist,  so  wird  er  eben  überhaupt  die 
Berechtigung  der  Strafe  leugnen  müssen. 

Der  Zweckgedanke  also  ist  es,  durch  den  einzig  und  allein 
das  Zur-Verantwortung-Ziehen  oder,  wie  ich  für  das  von  mir 
behandelte  Gebiet  statt  dessen  sagen  kann,  das  Strafen  zu 
begründen  ist.  Es  ist  zwar  versucht  worden,  den  Determinismus 
mit  der  Vergeltungsstrafe  zu  vereinen,  namentlich 
Merkel  hat  dies  gethan.  Aber  solche  Versuche  müssen  scheitern 
oder  man  muss  eben  den  Begriff  der  Vergeltungsstrafe  in  dem 
engeren  Sinne  auffassen,  den  ich  oben  hervorhob,  dass  nämlich 
damit  nur  der  Umstand  gekennzeichnet  werden  soll,  dass  die 
That  dem  Thäter  angerechnet  wird.  Demgegenüber  betont 


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D*r  V0fmUmortUMeüsg€äanke  im  ig.  yakrhmndert. 


377 


von  den  Neueren  namentlich  der  Rechtslehrer  Franz  v.  Liszt 
und  seine  Schule,  die  man  wohl  gegenwärtig  als  die  herrschende 
Schule  des  Straf  rechts  bezeichnen  kann,  den  Zweckcharakter 
der  Strafe  als  oberstes  Prinzip,  welches  die  Strafandrohung, 
das  Strafsystem,  das  Strafmass  und  den  Strafvollzug  in  gleicher 
Weise  beherrschen  müsse.  Ein  besonderer  Zweig  der  Straf- 
rechtswissenschaft, der  die  Bekämpfung  des  Verbrechens 
und  des  Ver!>rechers  zu  seinem  ( n  genstande  macht,  hat  sich 
in  der  Knmnialpolitik  herausgebildet  Eine  „Internationale 
kriminalistische  V' ereinigung"  ist  zur  Erörterung  und  prak- 
tischen Pflege  dieses  Gebiets  gegründet  und  zählt  in  fast  allen 
Kulturstaaten  unter  Theoretikern  wie  Praktikern  zahlreiche 
Mitglieder;  sie  hat  schon  heute  nicht  nur  auf  die  Wissenschaft 
und  die  Praxis  des  Strafrechts,  sondern  auch  auf  die  Gesetz- 
gebung einen  nicht  zu  unterschätzenden  Einfluss. 

Wenn  so  zum  obersten  Prinzip  der  Strafe  die  Bekämpfung 
des  Verbrechens  gemacht  wird,  so  darf  nicht  übersehen  werden, 
dass  die  Strafe  doch  nur  e  i  n  Mittel  und  zwar  die  ultima  ratio 
für  diesen  Zweck  ist  Das  Verbrechen  entspringt,  wie  wir 
sehen,  nicht  nur  dem  Inneren  des  Verbrechers.  Zwei  Motiv- 
reihen  wirken  zur  Entstehung  des  Wülensentschlusses :  Der 
Charakter  des  Thäters  und  die  äusseren  Umstände.  Wer  also 
das  Verbrechen  bekämpfen  will,  muss  in  erster  Linie  auch 
sein  Augenmerk  auf  die  gesellschaftlichen  Zustände  lenken, 
welche  das  Verbrechen  im  Einzelfall,  welche  aber  auch  zum 
grossen  Teil  das  Verbrecherttmi,  die  verbrecherische  Veran- 
lagung zeitigen.  Besserung  der  sozialen  Verhaltnisse  ist  somit 
zugleich  Besserui^  der  kriminalen  Zustände.  Diese  Fragen 
gehen  jedoch  über  die  Grenzen  der  Kriminalpolitik  hinaus; 
sie*  gehören  in  das  Gebiet  der  allgemeinen  Sozialpolitik  und 
•ebenso  geht  über  unser  Gebiet  hinaus  die  Fürsorge,  die  durch 
Erziehung,  durch  Verbreitung  der  Bildung,  kuiz  durch  alle 
jene  Massnahmen  getroffen  wird,  die  das  moralische  Niveau 
•des  Menschen  zu  erhöhen  geeignet  sind. 

Und  auch  innerhalb  der  Sphäre  des  Rechts  hat  die  Strafe 
nur  eine  sekundäre  Stellung.  Für  die  gesamte  Rechtsordnung 
j;ilt,  was  wir  eben  von-  der  Strafe  ausführten,  dass  sie  ein 
Zweckgebilde  ist,  bestimmt  zum  Schutze  vorhandener  Lebens- 
interessen. Das  Recht  ist  die  äussere  Ordnung  des  Zusammen- 
lebens von  Menschen.  Es  will  als  solche  zunächst  nachweisen, 


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I 
I 


378  Stttmih. 

welcher  Zustand  als  der  normale  zu  betrachten  ist,  d.  h.  bei 
wekhcni  Zustand  die  vorhandenen  Lebensintercssen  der  Ein- 
ielnen,  <V\v  oft  genug  sich  hart  im  Räume  Stessen,  ihren  zweck- 
mässigstcn  Ausgleich  finden,  und  es  schafft  (im  Zivilrecht) 
zwangsweise  diesen  Ausgleich  da,  wo  durch  das  Verhalten  des 
Einzelnen  eine  Verschiebung  dieses  Zustandes  emgetreten  ist. 
Das  Recht  ist  also  auch  eine  Kampfesordnung  (v.  Liszt).  Es 
zwingt  den  Einzelnen  zu  seiner  Anerkennung  und  das  schärfste 
Mittel,  welches  ihm  für  diesen  Zweck  zur  Verfügung  steht, 
ist  eben  die  Strafe.  Während  es  im  Zivilrecht  den  Ausgleich 
der  Interessen,  die  Wiederherstellung  des  normalen  Zustandes 
anstrebt,  verfolgt  es  als  Strafrecht  den  gleichen  Zweck  eines 
Schutzes  der  Rechtsordnung,  nur  mit  anderen  Mitteln.  Diesen 
kurzen  Hinweis  auf  die  Stelltmg  der  Strafe  im  System  wollte 
ich  nicht  unterlassen,  damit  nicht  eine  einseitige  Ueberschätzung 
des  Wertes  der  Strafe  und  ihrer  Bedeutung  für  das  Recht 
platzgreift. 

Wie  stimmt  nun  diese  Zweckstrafe  zu  dem,  was  ich  früher 
über  die  Bildung  des  verbrecherischen  Entschlusses  sagte.  Be- 
gründen konnte  der  Determinismus  die  Zweckstrafe  nicht,  aber 
sie  muss,  so  bald  wir  sie  wieder  in  den  Kreis  logischer  Erörtemn- 
gen  ziehen,  offenbar  zu  ihm  passen,  sonst  müsste  doch  wieder 
irgendwo  ein  Fehler  versteckt  liegen.  Und  sie  passt  audi  dazu 
und  zwar  ganz  vortrefflidi.  Der  Verbrecher  lasst,  wie  jeder 
Mensch,  seinen  Willensentschluss  auf  Gnmd  seiner  individueUen 
Disposition  (seines  Charakters)  geleitet  von  äusseren  Umstanden. 
Diese  beiden  Motivreihen  unterschieden  wir  schon  früher.  Ein 
Menisch,  der  ganz  normal  veranlagt  ist,  geistig  wie  sitdidi, 
begeht  ein  Verbrechen,  weil  er  in  eine  Lage  kommt,  in  der 
auch  die  meisten  anderen  Menschen  gestrauchelt  wären  (z.  B. 
er  stiehlt  in  der  grössten  Not  Nahrungsmittel).  In  anderen 
Fällen  überwiegt  der  Charakter  als  Willensfaktor.  Unter  nor- 
malen äusseren  Verhältnissen  begeht  ein  Mensch  einen  Dieb* 
stahl,  weil  er  eben  diebische  Neigungen  hat.  Im  ersteren  Falle 
haben  wir  es  mit  einem  Gelegenheitsverbredier,  im  zweiten  mit 
einem  berufsmässigen  Verbrecher  zu  tfaon,  dessen  ausgepräg- 
teste Spezies,  der  sog.  unverbesserlidie  Verbrecher  ist.  Nun 
ist  aber  unter  den  Umständen,  welche  von  aussen  her  einwirken, 
ehe  der  Entschluss  für  oder  gegen  die  Begehimg  eines  Ver- 
brechens j^cfasst  wird,  einer,  und  zwar  möglicher  Weise  ein 


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Der  VeroMtvoorÜichheUsgtdaMke  im  ig.  Jahrhundert. 


379 


sehr  wichtiger,  die  Erwägung,  dass  auf  das  Verbrechen  die  Strafe 
folgt.  Jemand,  der  ohne  dieses  Giied  m  der  Kausalkette,  den 
Willensentschcid  für  die  Ausfühnmg  des  Verbrechens  ge- 
fasst  hatte,  das  ihn  etwa  durch  seine  i"  rüchte  reizt,  wird  nun- 
mehr infolge  der  Einführung  dieses  Gliedes  zu  einem  anderen 
Entscheid  kommen.  Er  wird  von  dem  Verbrechen  Abstand 
nehmen,  da  die  Lust  an  den  Früchten  des  Verbrechens  über- 
wogen wird  von  dem  Unlustgefühl,  welches  die  Strafe  vcr- 
heisst.  So  ist  also  die  Zweckslrafe,  die  grade  deshalb  ange- 
droht wirdy  lim  Verbrechen  zu  verhüten,  eingegliedert  in  den 
Gedankengang  des  Determinismus.  Grade  weil  der  mensch- 
liche Wille  determiniert  und  determinierbar  ist,  und  nur  des- 
halb, ist  die  Strafe  ^  Zweckstrafe  möglich.  Der  Indetermi- 
nismus steht  im  Widerspruch  zur  Zweckstrafe.  Denn  weldien 
Sim  kann  es  haben,  durch  die  Strafe  auf  den  Verbrecher  ein- 
wirken, seinen  WillensentschluBS  beeinflussen  zu  wollen,  wenn 
der  Wille  indeterminiert  ist,  wenn  trotz  Au&iahme  der  Strafe 
in  die  MotivreUie  des  Thäteis  dessen  Entsdieid  genau  so  wie  vor 
ihrer  Aufnahme  ein  JMs^  ist  und  eben  so  gut  für  wie  wider 
das  Verbrechen  ausfallen  konnte? 

Der  oberste  Satz  für  die  Anwendung  der  Strafe  muss  nach 
dem  bisherigen  der  sein,  dass  gestraft  werden  darf  nur  inso- 
fern durch  die  Strafe  der  WiUensentschhiss  eines  Verbrechers 
bestinunt  werden  kann.  Nach  diesem  Prinzip  haben  wir  zu 
hestimmen,  wer  gestraft  und  wie  gestraft  werden  soll.  Was 
gestraft  werden  soll,  steht  auf  einem  anderen  Blatte. 
Offenbar  nur  eolcfae  Thaten,  deren  Vermeidung  gewuns«^ 
wild.  Darüber  gibt  uns  aber  nidit  der  Strafzweck  Aufschlttss, 
aondem  die  Wertung,  welche  diese  oder  jene  That  ihrer  Folgen 
wegen  bei  den  Menschen  findet.  Hierauf  naher  einzugeben, 
liegt  also  ausserhalb  des  Rahmens  meines  Vortrages.  Nur 
zweierlei  mochte  idi  betonen.  Einmal,  dass  hier  eine  der 
Stellen  ist,  wo  die  Werturteile  einen  emscheidenden  Einfhiss 
auf  die  Gestaltung  des  Stiafredits  haben,  ja,  wo  sie  allein  das 
massgebende  Wort  sprechen  dürfen.  Die  Tötung  eines  Men- 
schen, die  Verletzung  der  Besitzsphäre,  die  Störung  der 
öffentlichen  Ruhe,  die  Körperverletzimg  sind  als  solche 
Thaten,  die  einen  Unwert  haben,  die  —  ganz  abgesehen  davon, 
ob  ich  einen  Ihatei  dafür  verantwortlich  machen  kann  und 
will  —  als  vermeidenswert  gelten.   Ob  der  VVuai>di,  aulche 


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380 


ThatCM  zu  vermeiden,  zur  Androhung  einer  Strafe  führen  wird 
oder  nicht,  hangt  wiederum  von  der  Intensität  des  Unwert- 
urteils  ab.  Nicht  alles,  was  vermieden  werden  soll,  wird  unter 
Strafe  gestellt;  es  giebt  z.  B.  keine  Strafen  für  Lügen,  für 
Unhöflichkeit.  für  Kunlraktbruch  u.  s.  w..  Die  Strafe  ist  viel- 
mehr die  ultima  ratio,  ein  Mittel,  von  dem  nicht  zu  oft  Gebrau ch 
gemacht  werden  soll,  einmal,  damit  es  nicht  abstumpft  und 
sodann,  weil  die  Strafe  .selbst  ein  Uebel  ist  und  deshalb  bei 
unvernünftiger  Handhabvmg  das  durch  die  Sirafe  zugefügte 
Uebel  leicht  grosser  sein  kann,  als  das,  welches  man  durch  sie 
vermeiden  will.  Das  zweite,  worauf  ich  hinweisen  wollte  ist, 
dass  die  Entscheidung  darüber,  was  strafbares  Unrecht  sei. 
grade  weil  sie  sich  an  die  Werturteile  anschliesst,  auf  und 
abschwankt.  Und  dies  liaulig  recht  stark;  ja  es  gilt  zuweilen  — 
freilich  nur  in  Ausnahmefällen  —  das,  was  von  den  einen  für 
ein  fluchwürdiges  Verbrechen  angeschen  wird,  für  die  anderen 
als  Heldenthat.  Auch  das  Werturteil  unterliegt  nicht  nur  dem 
geschichtlichen  Wandel,  sondern  vor  allem  wechselt  es  von 
Gesellschaftsschicht  zu  Gesellschaftsschicht ;  in  den  Kreisen  der 
Fabrikanten  gilt  der  Kontraktbruch  vielfach  als  ein  Delikt» 
welches  bestraft  werden  sollte,  in  den  Kreisen  der  Arbeiter 
ist  umgekehrt  der  Streikbrecher  der  verächtlichste  Mensch. 
Das  Werturteil  ist  der  Niederschlag  der  sozialen  Interessen 
und  so  verschieden  diese  Interessen,  so  verschieden  sind  die 
Werturteile.  Nur  in  den  elementaren  Fragen  des  Lebens,  bei 
denen  eine  Interessengemeinschaft  aller  Menschen  besteht  oder 
doch  wenigstens  aller  derer,  die  man  als  Kulturmenschen  be- 
zeichnet, besteht  eine  feste  und  gleichmassige  Wertschätzung. 
Der  Mord  erscheint  darum  jedem  als  eine  schnöde  That;  aber 
wie  lange  ist  es  her,  dass  die  Blutrache  sogar  ak  hohe 
sittliche  Pflicht  galt?  Und  wie  steht  es  heute  mit  der  Tötung 
des  Feindes  im  Kriege?  Im  Institut  der  Notwehr  erkennt  das 
Recht  unmittelbar  die  Abhängigkeit  des  Begriffs  der  Straf« 
that  von  dem  Gesichtspunkte  des  Interesses  an.  Eine  strafbare 
Handlung  ist  nicht  vorhanden,  wenn  jemand  die  an  sich  straf- 
würdige That  zur  Abwehr  eines  rechtswidrigen  Angriffs  vor« 
nimmt. 

Wen  ich  strafen  darf  und  wie  ich  strafen 
soll,  muss  sich  —  wie  schon  gesagt  —  nach  dem  Zweckcharak- 
ter der  Strafe,  nach  der  Determinirbarkeit  durch  die  Strafe- 


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Der  Vtrantworüichkeitsgedanke  im  /p.  jfahrkumUrl. 


381 


richten,  i^rcilich,  wenn  der  Thäter  trotz  der  Strafandrohung 
sich  von  dem  Verbrechen  nicht  hat  abschrecken  lassen,  so 
zeigt  sich,  dass  die  Bestimmbarkeit  im  konkreten  Falle  nur  ein 
frommer  Wunsch  gewesen  ist.  Aber  daraus  kann  nicht  etwa  die 
Folgerung  gezogen  werden,  dass  nun  die  Strafe  nicht  vollstreckt 
werden  dürfe,  weil  sie  den  von  uns  festgestellten  Zweck  ver- 
fehlt hat.  Freilich,  diese  That  ist  nun  einmal  geschehen  und 
kann  nicht  wieder  rückgängig  gemacht  werden.  Aber  ihren 
vorbeugenden  Charakter  wird  die  Strafe  trotzdem  erweisen  und 
zwar  nach  doppelter  Richtung:  Ihre  vielleicht  wesentlichste 
Wirkung  vollzieht  sie  im  Verborgenen:  Die  Generalprä- 
V c n t i o n.  Sie  verhindert  in  anderen  den  verbrecherischen 
EntschlusSj  ohne  dass  —  weil  eben  die  Strafthat  unterbleibt  — 
dies  zur  Kenntnis  der  Straforgane  kommt.  Sie  wirkt  hier  als 
Strafandrohung.  Diese  Androhung  wäre  aber  machtlos, 
wenn  nicht  auf  sie  in  Fällen  der  'Zuwiderhandlung  auch  wirk- 
lich der  Strafvollzug  folgen  würde,  und  in  diesem  Sinne 
Mdrd  der  Verbrecher  gestraft,  nicht  weil  er  das  Verbrechen 
begangen  hat,  sondern  damit  es  andere  nicht  begehen.  Der 
Strafvollzug  ist  hier  das  Mittel,  der  Strafandrohung  Gewicht 
zu  verleihen.  Gleichzeitig  jedoch  offenbart  der  Strafvollzug 
auch  die  andere  Seite  des  Straf  zwecks:  die  Spezialprä- 
vention, die  Einwirkung  auf  den  Verbrecher  selbst.  Ge- 
branntes Kind  scheut  das  Feuer.  Der  Verbrecher,  der  die 
Strafe  am  eigenen  Leibe  erfahren  bat,  und  auch  die  Miss- 
achtung,  die  sie  in  den  Augen  seiner  Mitmenschen  nach  sich 
zog,  wird  vielleicht  in  Zukunft  vor  der  Strafandrohung  mehr 
Respekt  haben  als  zuvor.  Zugleich  wird  sich  beim  Strafvollzug 
Gelegenheit  bieten,  eine  innere  Läuterung  des  Verbrechers  vor- 
zunehmen, der  Strafvollzug  (vielleicht  schon  die  blosse  That- 
Sache  der  Strafverhängung)  kann  zur  Besserung  des  Ver- 
brechers führen.  Und  wenn  beides  nicht  der  Fall  ist,  so  bleibt 
doch  immer  noch  ein  letztes  übrig,  um  die  Gesellschaft  vor 
diesem  Verbrecher  zu  schützen:  Man  macht  ihn  tmschädlicli, 
sei  es  durch  Einspemmg  oder  durch  Vernichtung  seines  Lebens. 
So  haben  wir  neben  einander  drei  Strafzwecke  kennen  gelernt: 
die  Abschreckung,  die  Besserung,  und  die  U  n  - 
s  c  h  a.  cl  1 1  c  h  rn  a  c  h  u  n  g. 

Neben  einander.  Danut  liabc  ich  ihnen  den  Stand- 
punkt vorgeführt,  der  in  unserer  modernen  Kriminaiwibsen- 


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382 


scliait  der  herrschende  ist.  Die  „relative"  Straf  rechtet  heorie. 
(im  Gegensatz  zur  ,^soluten",  die  in  der  Strafe  einen  Selbst- 
zweck sieht),  die  sie  giebt,  ist  gleichzeitig  eine  „gemischte". 
In  früherer  Zeit  hatte  man  bald  den  einen,  bald  den 
anderen  Strafzweck  in  den  Vordergrund  gestellt,  ja  wohl 
zu  dem  alleinigen  gestempelt.  Von  Feuerbach,  dem  Knmma 
listen,  niclit  dem  Philosophen,  (1775— 1833)  rührt  die  Theorie 
des  psychologischen  Zwanges  her,  die  ich  Ihnen  eben  vorgc 
tragen  habe,  die  Theorie  der  Generalprävention  durch  Ein- 
wirkung der  Strafandrohimg  auf  den  Willensentschluss.  Wie 
wichtig  sie  für  die  Erkenntnis  des  Wesens  der  Sache  war, 
so  barg  sie  doch  eine  Gefahr  für  die  Praxis,  sie  vernachlässigte 
den  Strafvollzug,  dessen  praktische  Ausgestaltung  so  recht  das 
eigentliche  Gebiet  des  Kriiniiialpolitikers  ist.  Die  neuere 
Strömling,  welche  in  der  internationalen  kriminalistischen  Verei- 
nigung ihren  Sammelpimkt  hat,  wandte  sich  darum  vor  allem 
wieder  der  Frage  des  Strafvollzuges  zu.  Während  wir  es  bei 
Feuerbach  imd  den  älteren  Straf rechtslehrern  des  Jahrhunderts 
mehr  mit  allgemeineren  philosophischen  Gesiditspuiikten  zu 
thun  haben,  entfalten  sich  hier  die  Kenntnisse  und  Erfahnm- 
gen,  die  speziell  strafrechtlicher  Natur  sind.  Um  nur  eiiiige 
dieser  praktischen  Fragen  herauszugreifen,  nenne  idi  Ihnen 
den  Kampf  gegen  die  kurzzeitige  Freiheitsstrafe,  die  Frage 
nach  der  Einführung  der  Deportation,  nach  der  Trennung  von 
Zuchthäusern  und  Gefängnissen,  nach  der  Einführung  der 
Prügelstrafe,  der  bedingten  Verurteilimg,  der  Besserungsan- 
stalten für  jugendliche  Verbrecher  und  dergl.  melür.  So  be- 
rechtigt eine  solche  eingehende  Berücksichtigung  der  straltech- 
nischen  Fragen  ist,  so  wenig  dürfen  doch  darüber  die  grund- 
l^enden  Fragen  und  der  Zusammenbang  des  Ganzen  veniach- 
lässigt  weiden. 

Fragen  wir  uns  nun  aber,  ob  denn  der  Zweckcharakter  der 
Strafe,  der  theoretisch  am  Ende  des  Jahrhunderts,  man  kann 
wohl  sagen,  fast  auf  der  ganzen  Linie  gesiegt  hat,  auch  nun 
wirklich  in  unserem  Strafrecht,  in  der  Gesetzgebung  und  der 
Stralpraxis  als  Grundgedanke  festgehalten  wird  oder  ob  er  auch 
nur  im  Empfinden  derer  zum  Ausdruck  kommt,  die  seine 
Richtigkeit  zugeben  und  glauben,  ihn  konsequent  zu  vertreten, 
so  acheint  es,  als  müssten  wir  mit  einem  entsehjedcpen  „Nein** 
antworten.  Der  allgemeinen  Auffasefung  gilt  vielmehr  das 


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Der  VtrantwortUchkatsgedanke  im  ig.  Jahrhundert. 


383 


Stiaf urteil  als  eine  Funktion  des  Werturteils.  Sie  bewertet 
zunächst  ein  Verbrechen  moralisch,  sie  erklärt  den  einen  für 
einen  weit  grösseren  Verbrecher  als  den  anderen,  die  eine  That 
für  weit  verbrecherischer  als  die  andere  (dies  natürlich  ohne 
Jeden  Hinblick  auf  einen  Strafzweck)  und  verlangt  dann  als 
etwas  ganz  selbstverständliches,  dass  das  „grössere  Verbrechen** 
auch  schwerer  gestraft  wird.  Mit  anderen  Worten:  die 
Schätzung  der  Strafbarkeit  richtet  sich  nach  den  Werturteilen, 
sie  ist  kaum  etwas  anderes  als  eine  besondere  Seite  der  Wert- 
urteile. Und  dies  nicht  etwa  nur  nach  der  Meiniung  der  tmge- 
bildeten  Menge,  sondern  dieselbe  Auffassung  beherrscht,  wie 
jeder  weiss,  auch  die  Strafrechtspflege.  Wie  verträgt  sich  dies 
mit  unserer  Einsicht  in  die  Begründung  der  Strafe?  Ist  es 
nicht  ein  krasser  Gegensatz  zu  unserer  theoretischen  Erkenntnis, 
ein  krasser  Rückfall  in  den  Indeterminismus?  oder  anders  aus- 
gedrückt, zeigt  nicht  etwa  hier  die  allgemeine  Auffassung,  dass 
der  Indeterminismus  doch  nicht  so  ganz  abgethan  ist,  wie  ich 
es  vordem  darstellte? 

Das  letztere  müssen  wir  zunächst  ganz  entschieden  ver- 
neinen. Mit  dem  Detenninismus  und  Indeterminismus  hat  die 
Frage  gar  nichts  zu  thun.  Die  Auffassung  der  Strafe  als  eine 
Sühne  für  ein  begangenes  Unrecht  ist  eine  Thatsache,  die  wir 
zu  konstatieren  haben,  aber  sie  bedeutet  nichts  als  ein  anderes 
Wort  dafür,  dass  ich  dem  Thäter  die  That  anrechne ;  darüber, 
warum  das  zu  geschehen  hat,  (wegen  der  Determiniertheit  oder 
Indeterminiertheit  des  Verbrechers)  sagt  sie  nichts.  Und  ebenso 
wenig  giebt  sie  eine  Begründung  dafür,  weshalb  ich  strafen 
darf.  Sie  ist  eben  weiter  nichts  als  eine  Gleichsetzung  der 
Bewertung  einer  Handlung  mit  deren  Bestrafung.  Dass  diese 
Gleichsetzung  vorgenommen  wird,  ist  eine  Thatsaclic,  die,  wie 
andere,  der  ICrklärung  bedarf,  und  da  sie  eine  Thatsache  des 
Seelenlebens  ist,  bedarf  sie  einer  psychologischen  Erklärung. 
Aber  eine  ganz  andere  Frage  ist,  ob  und  in  wie  iWeit  sie  be- 
rechtigt ist,  ob  wir  also  bei  der  Androhung  und  beim  , Ver- 
hängen von  Strafen  dieser  Meinung  folgen  sollen.  Und  damit 
sind  wir  wieder  bei  dem  schon  vorher  betonten  Gegensatz  ange- 
langt. Die  Frage,  ob  wir  so  oder  anders  handeln  s  f>  1 1  en,  kann 
ihre  Beantwortung  nicht  aus  dem  Umstand  entnelimen,  dass 
diese  oder  die  andere  Ansiclit  herrscht;  sie  kann  nnr  beant- 
wortet werden,  wie  alle  ragen  des  Sollens,  nach  dem  Zweck- 
ZcitKhriU  für  pida^giscbc  Psychologie  and  Pathologie.  4 


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384 


Kurt  SUiniU. 


gedankcn.  Wir  müssen  also  konstatieren,  dass  die  bei  d^  r 
Mehrzahl  der  Menschen  herrschende  Auffassung  von  der 
Strafe  nicht  übereinstimmt  mit  dem,  was  die  Strafe  sein  solt 
oder  anders  ausgedrückt,  dass  die  allgemeine  Meinung  über 
die  Art,  wie  zu  strafen  ist,  nicht  übereinstinunt  mit  den  Gnnid- 
Sätzen,  von  denen  man  bei  der  Bemessung  der  Strafe  ausgehen 
sollte.  Daraus  ergeben  sich  nun  zwei  Fragen.  Die  eine:  wie 
ist  das  zu  erklären  ?  und  die  andere :  sollen  wir  darum  unsere 
Auffassung  darüber,  wie  gestraft  werden  soll,  modifizieren? 

Ich  will  jedoch  den  Gegensatz  nicht  unnötig  verschärfen.  Dir 
„allgemeine  Mtuuing".  von  der  ich  eben  sprach,  ist  keineswegs 
eine  eindeutige  und  keineswegs  eine  feste.  Fragen  Sie  in  zwei 
Fällen,  in  denen  das  Mass  der  moralischen  Entrüstung  bt  i 
Vertretern  dieser  allgemeinen  Meinung  genau  das  gleiche  sein 
möge,  einen  solchen  Vertreter,  ob  der  eine  Thäter,  der  vielleicht 
ein  unverbesserlicher  Gewohnheitsverbrecher  ist,  in  genau  der 
.L;kichen  Weise  Ixhaiulclt  werden  soll,  wie  der  andere,  der 
em  jugendlicher  Delinquent  ist,  und  er  wird  sich  auf  sich  selbst 
besinnen  und  dies  verneinen  Gehen  Sie  ihm  überhaupt  etwas 
eindringlicher  zu  Leibe  und  machen  Sie  ihn  auf  die  Folgen 
aufmerksam,  welche  die  eine  oder  die  andere  Strafe  nach  sich 
ziehen  wird,  so  wird  er  zurückweichen  und  wird  seine  vor 
schnelle  Beurteilung  eben  nach  diesem  Zweckgesichtspunkt 
modifizieren. 

Und  wie  kommt  das?  Es  kommt  einfach  daher,  dass  jene 
absolute  Gleichsetzung  des  Werturteils  mit  dem  Strafiuteil 
nichts  ist  als  ein  Mangel  an  Ueberlegung,  ein  Urteil  des  Affekts. 
So  wie  in  der  Theorie  eine  Begründung  dafür  nicht  gegeben 
wird  und  nicht  gegeben  werden  konnte,  ist  es  auch  in  der 
Praxis.  Die  rileichsetzuug  entspringt  dein  Impulse.  Sie  ist 
weiter  nichts  als  eine  elementare  Aeusserung  des  Rachegefühls, 
des  Vergeltungstriebes,  die  nur  mit  einem  moralischen  Män- 
telrhen umgehängt  erscheint.  Freilich  ein  etwas  destilliertes 
Rachegefühl.  Es  wird  empfunden  nicht  (oder  doch  nicht  allein l 
über  die  eigne  \'erletzung,  auch  nicht  mehr  bloss  über  die 
Verletzung  der  Sippeangehörigen  (Blutrache),  sondern  ent- 
sprecheml  der  immer  weiteren  Verzweigung  der  gesellschaft- 
lichen Beziehungen  wird  es  empfunden  über'  die  Verletzung 
irgend  eines  Gliedes  des  grossen  Körpers  der  Gesellschaft.  Abe  r 


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D<r  Veraniworthchkeiisgedanke  im  /p.  Jahrhundert. 


385 


Dank  seiner  Natur  redet  es  auch  jetzt  noch  am  stärksten  bei 
der  Verletzung  der  eigenen  Sphäre  oder  bei  der  Verletzung 
derer,  mit  denen  eine  Interessenverbindung  vorhanden  ist  und 
es  verflacht  sich,  ja  es  schweigt  schliesslich  ganz  und  ver- 
kehrt sich  in  sein  Gegenteil,  da,  wo  solche  Beziehungen  nicht 
mehr  bestehen  und  das  eigene  Interesse  für  eine  entgegen- 
gesetzte Behandlung  ins  Gewicht  fällt  —  wofür  etwa  die  Unem- 
pfänglichkeit  als  Beispiel  genannt  sei>  die  noch  heute  grössten- 
teils der  weissen  Bevölkerung  Amerikas  gegenüber  einer  Unbill 
eigen  ist,  die  ein  Schwarzer  erleidet.  Auch  das  Gebiet  der  polt- 
tischen  Delikte  konnte  manches  lehrreiche  Beispiel  abgeben. 
Ob  nicht  etwa  dem  Rachegefühl  als  solchem  auch  ein  sittlicher 
Wert  zukommt,  das  zu  untersuchen  ist  nicht  meine  Aufgabe, 
wie  ich  es  ja  hier  überhaupt  nicht  mit  moralischen  Untersuchun- 
gen zu  thim  habe.  Es  genügt,  hier  festzustellen»  dass  das  -Rache- 
gefühl einen  recht  erheblidben  Anteil  an  dem  Satze  hat,  dass 
die  Strafe  die  Sühne  des  Verbrechens  sei. 

Sollen  wir  nun  der  vorhandenen  Werturteile  wegen  unser 
praktisches  Verhalten  zur  Straf  frage  ändern?  Oder  stimmen 
etwa  die  Resultate»  zu  denen  wir  vom  Standpunkt  der  Zweck- 
theorie aus  gelangen,  mit  den  „herrschenden'*  Werturteilen 
ttberein?  Letzteres  erschiene  bei  der  Verschiedenheit  des  Aus- 
gangspunktes merkwürdig  und  doch  besteht  zwar  nicht  eine 
Uebereinstimmung,  aber  doch  eine  weitgehende  Anpassung  der 
Zweckstrafe  an  die  Werturteile.  Der  Unterschied  zwischen  dem 
Werturteile  und  dem  Strafurteile,  wie  es  nach  meinem  Stand- 
punkt sein  sollte,  ist  lange  nicht  so  erheblich,  wie  nach  dem 
bisher  Gesagten  angenommen  weiden  könnte.  Wir  sahen  schon : 
Welche  Thaten  unter  Strafe  gestellt  werden  sollen,  darüber 
gaben  uns  nur  die  herrschenden  Werturteile  Aufschluss;  was 
geschützt  werden  soll,  kann  ich  nicht  dem  spezifischen  Straf- 
zweck entnehmen.  Aber  auch  die  Höhe  des  Strafmasses  wird 
grade  aus  dem  Zweckgedanken  der  Strafe  heraus  sich  in 
enger  Anpassung  an  diese  Werturteile  halten  müssen.  Denn 
je  höher  ein  Ciut  bewertet  ist  (/..  B.  das  menschliche  Leben  gegen- 
über der  Iniegniai  dcb  Eigentums),  desto  mehr  muss  daran 
liegen,  seiner  Verletzung  vorzubeugen,  und  desto  Iiöher  wird 
also  auch  grade  aus  dem  Zweckgedanken  heraus  die  Strafe 
bemessen  sein.  Das  Stiatnuiss  wird  aisu  hier  von  selbst  dem 
Unwerturteil  parallel  gehen  müssen. 

4* 


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386 


Kurt  SUtnit». 


Aber  eine  entgegengesetzte  Richtung  scheinen  die  beiden 
einzuschlagen,  wenn  Sir  an  Fälle  w'w  den  schon  niolirerwähnten 
Diebstahl  aus  Not  dd»  r  an  den  Kmdcsmord  dt  nken.  Die  Not 
kaim  auch  einen  sonst  ehrenwerten  Menschen  zum  Straucheln 
bringen ;  die  Furcht  vor  dem  Elend  und  der  Schmach  kami 
auch  feine  liebende  iMutter  zur  Verzweiflungsthal  treiben.  Das 
sittliche  ßewusstsein  wird  beide  darum  weniger  hart  beurteilen. 
Andererseits  haben  beide  unter  besonders  starken  Motiven 
gehamielt  und  zwar  eine  Handlung  begangen,  die  vermieden 
werden  soll.  War  das  Moti\'  besonders  stark,  nun.  sn  g(  hört 
ein  besonders  starkes  Gegenmotiv  dazu,  um  seine  Wirksamkeit 
zu  hemmen.  Dieses  hemmende  Motiv  sollte  die  Strafe  sein. 
Also,  so  lautet  der  Schluss,  muss  für  solche  Fälle  eine  besonders 
scharfe  Strafe  angedroht  werden.  Werturteil  und  Strafurteil 
nach  dem  Prinzip  der  Zweckmässigkeit  scheinen  in  direktem 
Gegensatz  zu  stehen.  Ich  glaube,  es  wird  kaum  einen  unter 
Ihnen  geben,  der  nicht  dieses  Resultat  als  unbefriedigend  an 
sehen  wird  und  der  nicht  meinen  wird,  hier  liege  ein  Fall  vor, 
wo  wir  in  der  That  dem  Werturteil  eine  entscheidende  Be- 
deutung für  das  Straf  urteil  zubilligen  müssen.  Wie  aber  ist 
dies  zu  begründen,  ohne  dass  mit  Recht  der  Vorwurf  der 
Inkonsequenz  erhoben  wird?  Ich  finde  —  und  <las  ist  ja  offenbar 
der  einzig  gangbare  Weg  —  die  Begründung  gerade  in  dem 
Zweckcharakter  der  Strafe.  Die  Strale  tagt  ein  l'ebel  zu,  um 
ein  anderes  Uebel  zu  vermeiden.  Aus  diesem  Zweckcharakter 
ergiebt  sich  der  Satz,  dass  die  Strafe  niemals  mehr 
Unheil  schaffen  darf,  als  sie  verhütet.  Im 
einzelnen  mag  die  Bilanz  schwer  zu  ziehen  sein.  Aber  im 
Prinzip  muss  dieser  Satz  festgehalten  werden,  sonst  entartet 
das  Strafrecht  zur  Grausamkeit  und  wird  selbst,  wie  thatsäch- 
lieh  in  manchen  traurigen  Epochen  der  Geschichte,  eine 
Geissei  der  Menschheit,  statt  ihren  Zwedcen  zu  dienen.  Wiid 
nur  der  Zweck  'der  Verhütung  von  Verbrechen  verfolgt  —  und 
man  braucht  ja  bei  diesem  Wort  nicht  bald  an  Mord  und  Tot- 
schlag denken,  Verbrechen  in  diesem  ^ne  ist  jede  auch  noch 
so  harmlose  Handlung,  die  unter  das  Strafgesetz  lallt  —  ohne 
jenes  Gegengewicht,  so  wäre  es  das  einfachste  und  radikalste, 
jedem  Dieb  und  jedem  nächtlichen  Ruhestörer  den  Kopf  abni- 
schlagen;  denn  ihn  verhindern  wir  gewiss  dadurch  am 
sichersten  an  jeder  Wiederholung  <und  auch  die  Generalprä- 


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387 


vention  könnte  nachdrücklicher  nicht  gefördert  werden.  Und 
doch  wäre  hier  der  Zweckgedanke  zur  Fratze  entsteht.  Er 
trägt  jenes  Correktiv  in  sich,  weil  das  Strafrecht,  wie  jedes 
Recht,  nur  um  der  Menschen  willen  dxi  ist  Wem  freilich  das 
Strafen  Selbstzweck  ist.  der  brauchte  sich  durch  solche  Huniani- 
tätsrücksichten  nicht  erschrecken  lassen. 

Die  notwendige  Anpassung  des  Strafzwecks  an  den  allge- 
meinen Zweckgedanken  wird  nun  durch  die  Werturteile  ver- 
mittelt. Indem  das  Werturteil  nicht  die  Strafthat  als  vereinzelte 
Erscheinung,  sondern  die  Gesinnlung  des  Uebelthäters  zu  seinem 
Gegenstände  macht,  indem  es  deshalb  die  Motive  der  That 
erforscht  und  würdigt,  berücksichtigt  es  bereits  in  eingehender 
Weise  nicht  nur  den  sozialen  Unwert  der  That,  sondern  auch 
die  Gefährlichkeit  des  Thäters  für  die  Gesellschaft.  Hat  er 
sich  nur  unter  einem  besonders  starken  Motiv  zur  Strafthat 
verleiten  lassen,  so  folgt  daraus,  dass  von  ihm  eine  Wieder- 
holung kaum  zu  befürchten  ist,  und  hat  gar  ein  Motiv  mitge- 
wirkt, das  wir  als  solches  sittlich  anerkennen,  hat  dem  Ver- 
brecher ein  Zweck  vorgeschwebt,  dessen  Erreichung  uns  an  sic|i 
(freilich  nicht  auf  dem  Wege  der  Strafthat)  wünschenswert 
erscheint,  so  wird  das  Unheil,  welches  angerichtet  ist,  nicht 
mehr  so  hoch  veranschlagt  werden  k&inen.  Spiegelt  sich  so 
\m  Werturteil  die  Schwere  der  That,  das  Mass  des  Unheils, 
das  sie  auch  für  die  Zukunft  in  sich  birgt,  so  ist  damit  nadi 
unserem  Grundsatz  auch  die  Grenze  für  das  Strafurteil  gesteckt ; 
die  Strafe  wird  nicht  höher  zu  bemessen  sein,  als  es  dem  Unwert- 
urteil  emspricht,  da  sie  sonst  mehr  Unheil  anrichtet,  als  sie 
verhütet;  es  ist  aber  auch  nicht  zweckmässig,  sie  niedriger 
festzusetzen,  weil  —  wie  schon  hervorgehoben  —  an  sich  der 
Gesichtspunkt  der  Absdneckung  die  Tend^  hat,  die  Strafe 
nach  der  Grenze  des  zulässigen  Höchstmasses  hinaufzuschrau- 
ben. Selbstverständlich  ist  durch  diese  Erwägung  nicht  etwa 
eine  Skala  für  den  Strafrichter  geschaffen,  von  der  er  nun 
auf  das  Bequemste  die  Strafe  für  jede  zur  Aburteilung  stehende 
That  ablesen  kann.  Das  ist  lekler  nicht  erreichbar  und  wer 
die  Strafrechtspflege  kennt,  weiss  auch,  dass  die  Auswerfung 
des  Strafmasses  im  Einzelfalle  doch  zum  ^iiten  Teil  eine  Sache 
der  Willkür  ist. 

■ 

Müssen  wir  so  die  grosse  Bedeutung  des  Werturteils  für 
die  Strafe  anerkennen,  so  ist  doch  ein  absolutes  Gleichsetzen 


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Kurt  Stanüi. 


der  beiden  keineswegs  begründet.  Die  Strafe  hat  eben  ihren 
besonderen  Zweck,  der  Wiederholung  eines  Verbrechens  vor- 
zubeugen. Häufen  sich  also  z.  B.  in  einer  Zeit  die  Fälle  der 
Selbsthilfe,  so  kann  der  Staat,  trotzdem  das  Werturteil  über 
sie  dasselbe  bleibt,  zur  Unterdrückung  solcher  Anwandiungeu 
mit  Recht  besonders  scharf  gegen  die  Selbsthilfe  vorgehen. 
Hat  der  Zusammenbruch  eines  Bankhauses  den  wirtschaftlichen 
Ruin  vieler  E.xistenzen  zur  Folge,  so  kann  das  Strafurteil  gegen 
den  Urheber  ein  viel  schärferes  sein,  als  das  moralische  Wert- 
urteil, welches  etwa  dem  Umstände  Rechnung  tragen  muss, 
dass  der  Urheber  niclu  .iu>  Gewinnsucht,  sondern  durch  eigene 
Verblendung,  oder  \ielleirht  aus  Schwäche  und  übergrosser 
Gutmütigkeit  gegen  andere,  die  ihn  auszunutzen  verstanden, 
zum  Verbrecher  geworden  ist  Das  Schicksal  des  einzelnen 
mag  hier  bedauernswert  erscheinen,  aber  der  Strafzweck,  die 
grosse  Gefahr,  welche  ein  Leichtsinn  gerade  an  dieser  Stelle 
für  die  Allgemeinheit  in  sich  birgt,  ein  Leichtsinn,  dem  nur 
durcli  drakonische  Strafandrohungen  ein  Gegengewicht  zu 
schaffen  ist,  kaiui  hier  ein  schärferes  Zugreifen  verlangen. 

Wo  das  Werturteil  mit  dem  Strafzweck  nicht  mehr  gleichen 
Schritt  lialt,  muss  es  für  die  Strafe  unbeachtet  bleiben.  Vor- 
uberg<'hen<l  koiuUe  freilich  aus  Utilitätsgründen  auch  dann 
noch  der  Staat  dem  Werturteil  nachgeben,  um  nicht  bei  der 
grossen  Menge,  die  für  eine  solche  Scheidung  noch  nicht  reif 
ist.  Verwirrung  anzurichten.  Denn  dadurch  würde  indirekt  der 
<  '>laubeTi  an  die  Bedeutung  der  Strafe  vuid  damit  die  W  iiksam- 
keit  der  .Strafandroliung  abgeschwächt.  Solche  (gründe  können 
aber  selbst  dazu  liihrc-ii.  ein  Werturteil  der  grossen  Menge,  das 
bereits  als  unberechtigt  anerkannt  ist.  zu  einem  Strafurteil  um- 
zuformulieren,  etwa  um  der  Gefahr  einer  sonst  drohenden 
Lynchjustiz  vorzubeugen.  In  solchen  Fällen  wird  es  aber  Auf- 
gabe des  Staates  sein,  auf  jene  zurückgebliebenen  Meinungen 
erziehlich  einzuwirken,  um  je  eher  desto  besser  das  Strafgesetz 
solchen  Einflüssen  entziehen  zu  können. 

Nach  einer  heute  weit  verbreiteten  Meinung  liegt  so  die 
Sache  auch  bei  einer  Frage,  die  wir  bisher  nur  gestreift  haben, 
der  Frage  nämlich,  wer  als  straffähiges  Subjekt  zu 
gelten  habe.  Nicht  jeder  Mensch  wird  für  seine  Thaten 
verantwortlich  gemacht,  der  Sittenrichter  wie  der  Strafrichter 
kennt  den  Begriff  der  Unzurechnungsfähigkeit.  Wie  ist  dieser 


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D«r  VerantworlluMxiUgedanke  tm  ig.  yahrJtuHd,:ii. 


Begriff  zu  bestiniinen  und  soll  er  sich  in  beiden  Sphären  decken  ? 

An  dieser  Stelle  habe  ich  einen  Namen  zu  erwähnen,  den 
Sie,  meine  Herren,  wohl  schon  lange  von  mir  zu  hören  envartet 
haben,  den  Namen  des  italienischen  Gelehrten  Lombroso.  ich 
erwähne  ihn  erst  jetzt,  weil  sich  zwar  der  Kampf  der  Meinungen 
über  die  Verantwortlichkeit  des  Verbrechers  für  das  grössere 
Publikum  thatsächlich  um  diesen  Namei*  gruppiert,  weil  aber 
systematisch  die  Untersuchungen  Lombrosos  nur  für  ein  ver* 
hältnismässig  geringes  Teilgebiet  unseres  Thätnas  Bedeutung 
liaben.    Lombroso  behandelt  unsere  Frage  vom  Standpunkt 
der  Kriminalanthropologie,  d.  h.  er  sucht  zu  ergründen,  ob  sich 
naturwissenschaftlich  ein  Typus  des  Verbrechers  — 
und  zwar  auch  nur  des  sog.  Gewohnheitsverbrechers  —  fest* 
stellen  lässt.  Die  Kriminalanthropologie  ist  also  nicht  etwa  die 
Gruiidlage  für  die  Lehre  von  der  Verantwortlichkeit,  sondern 
sie  baut  nur  eine  Seite  dieser  Frage  und  zwar  auch  diese  nur 
in  bestimmter  Richtung  aus.  Ob  es  gelingt»  den  Verbrechertypus 
naturwissenschaftlich  festzustellen  oder  nidit»  ist  für  die  Frage, 
ob  man  einen  Menschen  strafen  soll  und  darf,  der  seiner  inneren 
Veranlagung  nach  immer  und  immer  wieder  zum  Verbrechen 
getrieben  wird,  wenn  auch  nicht  gleichgiltig,  so  doch  jedenfalls 
nicht  entscheidend.  Ein  näheres  Eingehen  auf  die  Lehre  Lom- 
brosos und  setner  Nachfolger  kann  ich  um  so  mehr  unterlassen, 
als  die  Kriminalanthropologie  den  Gegenstand  eines  besonderen 
Vortrages  in  unserem  Cyklus  bildet. 

Eritmern  wir  uns  an  das  oben  festgestellte  Prinzip  der 
Zweckstrafe,  so  scheint  sich  die  Antwort  auf  die  Frage, 
wer  ist  straffähig  oder  technisch  ausgedrückt,  wer  ist  straf- 
rechtlich zurechnungsfähig,  von  selbst  zu  ergeben:  Zurech« 
nungsfähig  ist  der,  welcher  durch  das  Moment  der  Strafe 
in  normaler  Weise  bestimmbar  ist  oder  —  da  der  Zustand 
der  Zurechnungsfähigkeit  der  regelmässige  ist  —  besser 
negativ  ausgedrückt:  strafrechtlich  unzurechnungsfähig  ist 
derjenige,  welcher  durch  das  Moment  der  Strafe  nicht  in 
normaler  Weise  in  seinen  Handlungen  bestimmbar  ist.  So 
hat  auch  Liszt  in  einem  VortraL^r  auf  dem  Miiiichcner  Psycho- 
logenkongrcss  den  Begriff  zu  fassen  gesucht  Diese  Begfriffs- 
bestimmun^^  unterscheidet  sich  zunächst  fundaniental  von  der 
uiL>.eres  positiven  Rechts.  Dieses  besagt,  dass  straflos  derjenige 
bleibe,  dessen  freie  Wiilensbcstimmung  zur  Zeit  der  Begehung 


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390 


der  Handlung  aut>gc schlössen  war,  eine  Definition,  mit  der  sich, 
wollte  man  sie  wörtlich  nehmen,  wie  gezeigt,  nichts  anfangl&h 
Hesse.  Sie  unteilscheidet  sich  aber  auch  von  der  UnzurechnuQjgs- 
fähigkeit  im  medizinischen  Sinne,  von  den  verschiedenen  Arten 
und  Formen  der  Geistesstörung.  £s  erscheint  mir  nicht  aus* 
geschlossen,  dass  jemand,  der  z.  B.  an  einer  gewissen  fixen 
Idee  leidet,  und  deshalb  als  geisteskrank  anzusehen  ist,  für 
die  Bedeutung  einer  bestimmten  Strafthat  einerseits  und  der 
Bestrafung  anderseits  volles  Verständnis  besitzt.  PrinzipieU 
wichtiger  aber  ist  für  uns  die  Abweidiung  der  strafreohtlidien 
Zurechnungsfähigkeit  von  der  medizinischen  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite:  Die  Fälle,  in  denen  jemand  geistig  gesund, 
durch  das  Moment  der  Strafe  aber  nicht  normal  bestimmbar 
ist,  sind  nicht  nur  wohl  viel  zahlreicher  als  die  eben  erwähnten, 
sondern  für  die  Kriminalpolitik  von  ganz  besonderer  Bedeutung. 
Es  gehören  hierher  die  Fälle  der  sog.  moral  insanity  und  — 
damit  im  Zusammenhang  —  der  unverbesserliche  Ver- 
brecher. Der  gefährlichste  Verbrecher  ist  der  Mensch,  dessen 
sittliches  Bewusstsein  nicht  hinreicht,  um  gut  von  böse  zu 
unterscheiden,  dem,  sei  es  durch  Veranlagung,  sei  es  durch 
die  Umgebung,  in  der  er  aufgewachsen,  das  Verbrechen  ein 
Lebenselement  geworden  bt.  Er  ist  zwar  nicht  geistig  krank, 
wohl  aber  moralisch,  sein  sittliches  Bewusstsein  ist  ein  anor- 
males,  er  ist  moralisch  unzurechnungsfähig.  Geistig  unzurech- 
nuii;gsfähig  ist  er  keineswegs:  er  vermag  Ursache  und  Folgen 
in  genau  derselben  Weise  aneinander  zu  gliedern,  wie  der 
normale  Mensch.  Aber  sein  Hang  zum  Verbredien  ist  ein 
so  eingewurzelter,  dass  keine  Strafandrohung  ihn  zurück- 
schreckt. 

Ist  er  aber  dann  noch  straffähig  oder  muss  nicht  vieU 
mehr  das  Recht,  ihn  zu  strafen,  verneint  werden,  da  die 
Begründung  dieses  Rechts,  der  Zweck  des  Strafens  eben  ver- 
sagt? Die  Bejahung  dieser  Frage  würde  natürlich  nicht  etwa 
bedeute»  dass  diese  gcfährliclistcn  Verbrecher  frei  umher 
laufen  sollen ;  es  handeh  sich  vielmehr  um  die  in  neuester 
Zeit  auch  im  Zusammenhang  mit  den  Lehren  Lombrosos  wieder- 
hoh  aufgeworfene  Frage,  ob  der  Unverbesserliche  ins  Zucht- 
haus oder  ins  Irrenhaus  gehört.  Freilich,  dies  haben 
wir  schon  betont,  ins  Irrenhaus  im  gewöhnlichen  Sinne  gehört 
er  nicht  und  mit  der  Aufwerfung  jener  Frage  ist  nicht  etwa 


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Der  VtmuUmwäiekkdltgmkuiät  tm  ig.  yakrkmmdert. 


391 


die  Sü  schon  recht  hc  liwci  zu  ziehende  Grenze  zwischen  Irrsinn 
und  Verbrechen  völhg  verwischt.  Es  wäre  vielmehr  ein  Irren- 
haus eigener  Art,  eben  ein  solches  für  morahsch,  nicht  geistig 
Irre.    Im  Zuchthaus  wie  im  Irrenhaus  wäre  der  Verbrecher 
für  die  Gesellschaft  unschädlich.  Dennoch  ist  sowohl  jKirh  der 
praktischen  Ausgestaltung  der  beiden  Institute,  wie  vor  allem 
nach  ihrer  moralischen  licdcutung  /wischen  beiden  ein  himmel- 
weiter Unterschied.    Das  Zuchthaus  soll  ein  U<  bei  für  den 
Verbrecher  sein,  das  Irrenhaus  eine  Wohithat  für  den  Kranken. 
Der  Zuchthäusler  ist  ein  Gegenstand  der  Verachtung  seiner 
Mitmenschen,  der  Irrenhäusler  ein  Gegenstand  ihres  Mitleids. 
Der  Streit  darüber,  wohin  der   unverbesserliche  Verbrecher 
gehört,  kann  auch  am  Ende  des  Jahrhunderts  als  geklärt  nicht 
betrachtet  werden.   Die  naturwissenschaftliche  Schule  neigt 
dazu,  ihn  als  Irren  zu  behandeln.  Die  Gesetzgebung  und  Praxis 
des  Strafrechts  hält,  wie  Sie  wissen,  starr  daran  fest,  dasä  er 
ina  Zuchthaus  gehört.  Die  fortgeschrittene  moderne  Kriminal- 
wiesenscfaaft  nimmt  zum  Teil  einen  vermittelnden  Standpunkt 
ein.   So  erkennt  Liszt  theoretisch  die  strafrechtliche  Unzu- 
reehn'ungalähigfceit  des  unverbesserlichen  Verbrechers  an.  Er 
memt  aber,  dass  auf  absehbare  Zeit  die  Staatsgewalt  dieser 
besseren  theoretischen  Einsicht  nicht  nachgeben  dürfe  und  zwar 
wegen  der  oben  betonten  Notwendigkeit,  die  vorhandenen  Wert- 
ufteile  zu  schonen.  Das  Irrenhaus  als  Sühnieanstalt  für  Ömt 
Gewohnheitsverbrecher  würde  in  der  grossen  Masse  noch  kein 
Verständnis  linden.  Es  würde  nur  Verwirrung  m  den  Köpfen 
anrichten  vaaid  sei  deshalb  mit  einer  gesunden  Krtmkialpelitik 
heaie  noch  unvereinbar.  Ich  meinerseits  glaube,  dass  es  dieser 
opportunistischen  Konzession  an  die  vofliandenen  Werturteile 
iMk%  bedarf,  dass  vielmehr  auch  von  dem  hier  vertretenen 
SlaoBMIirankt  aus  der  unverbesserliche  Verbrecher  ins  Zucht- 
bans  gehört.  Für  ganz  verfehlt  halte  ich  zunächst  das  Haupt- 
argument, mit  welchem  die  gegenteilige  Meinung  gestützt  wird. 
Wenn  zugegeben  wird,  dass  der  unverbesserliche  Verbrecher 
ein  moralisch  kranker  Mensch  sei,  so  dürfe  er  —  so  heisst  es  — 
nicht  der  Verachtung  anheim  gegeben  werden,  mit  der  das 
Zuchthaus  verbunden  ist,  sondern  sei  ein  Gegenstand  des  Mit- 
leids und  der  Fürsorge.  Diese  Erwägung  wäre  m  der  That 
geeignet,  das  ganze  Gebäude  des  Strafrechts  ins  Wanken  tm 
bringen.  Denn  sie  trifft  offenbar  nicht  nur  auf  den  unverbesser- 


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liehen  Verbrecher,  sondern  auf  jeden  Verbrecher  und  jedes 
Verbrechen  zu.   Der  Unterschied  zwischen  dem  unverbesser- 
lichenVerbrecher  und  den  anderen  ist  hier  nur  ein  solcher 
des  Grades,  nicht  der  Art.  Anormal  ist  jedes  Verbrechen  und 
insofern  bin  ich  auch  berechtigt,  für  den  Seelenzustand,  aus 
dem  es  hervorgeht,  den  Namen  Krankheit  zu  gebrauchen.  Trotz- 
dem bleibt  das  Verbrechen  eine  Handlung  von  sozi^em  Un- 
wert und  wie  wir  wissen,  der  Verbrecher  ein  Mensch  mit  sitt- 
lichem Makel.  Was  ich  oben  vom  Verbrecher  im  Allglsmeinen 
sagte,  gilt  von  dem  gewohnheitsmassigen  Verbrecher  nicht 
minder,  sondern  eher  mehr:  eben  so  wenig,  wie  die  Einsicht, 
dass  Hässlichkeit  und  Dummheit  Eigenschaften  sind,  für  welche 
ein  Mensch  nicht  kann,  uns  veranlasst  den  Hässlichen  schön 
und  den  Dummen  klug  zu  finden,  eben  so  wenig  vermag  die 
Einsicht,  dass  der  Verbrecher  ein  „Kranker**  bt,  uns  zu  ver- 
anlassen, das  Schlechte  für  gut  imd  den  Thater  für  einen 
edlen  Menschen  zu  erklären.  Dass  dieses  Böse  das  Lebens- 
element eines  Menschen  ist,  dass  er  trotz  aller  Verwarnungen, 
Besserun^smittel  und  Strafen  doch  immer  wieder  das  Böse 
thut,  ist  nun  gewiss  alles  andere  eher  als  ein  Grund  gerade 
diesen  Menschen  mit  dem  moralischen  Unwerturteil  zu  ver- 
schonen. An  dieses  Unwerturteil  aber  knüpft  sich  unmittelbar 
die  Verachtung,  auch  ohne  dass  es  der  Verhängung  einer 
Strafe  durch  den  Staat  bedarf.  Weshalb  und  warum,  weshalb 
namentlich   einem    solchen  Menschen  nicht  Mitleid  statt 
Verachtung  entgeg^engebracht  wird,  das  mag  eine  recht  inter- 
essante Üntersuchimg  für  den  Moralphilosophen  sein.  Für 
uns  genügt  die  Konstatierung  der  Thatsache.  Und  diese  That- 
Sache  bedeutet  für  unsere  Frage,  dass  die  moralische  Krank- 
heit des  Unverbesserlichen  kein  Grund  ist,  gerade  ihn  vor 
dem  Makel  zu  bewahren,  dem  er  in  der  öffentlichen  Meinung 
doch  so  wie  so  verfallen  ist.  Ja  wir  könnten  es  nicht  einmal, 
wenn  wir  wollten.  Denn  selbst  wenn  der  Staat  das  Zucht- 
liaus  nicht  von  Gesetzes  wegen  als  ein  Institut  der  Ehrlosen 
behandeln  würde,  würde  es  ob  mit  oder  ohne  den  Namen  Zucht- 
haus, die  moralische  Wertschätzung  von  sich  aus 
thun,    die   nicht  ein   Ausfluss   der   Strafe   ist,  sondern 
neben  dieser  einhergeht.  Sollte  hier  einmal  eine  Aenderung 
leintreten,  so  wäre  es  eben  eine  solche  in  unseren  moralischen 
Anlschauungen,  nicht  in  unseren  strafrechtlichen.  .Mit  dieser 


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D<r  VermiwortiukkeiUgedankc  im  ig.  JcihrhumUrt. 


393 


Erwägiing  ist  aber  auch  schon  m.  E.  der  Streit,  ob  Irrenhaus 
oder  Zuchthaus  entschieden.  Denn  wenn  ich  auch  für  die  Ver- 
hängung einer  Strafe  nicht  mit  dieser  negativen  Erwägung  aus- 
komme, sondern  nach  dem  von  mir  festgehaltenen  Standpunkt 
einen  Strafzweck  aufweisen  muss,  und  wenn  auch  der  Unver- 
besserliche durch  sein  Gebahren  zu  zeigen  scheint,  dass  biei 
ihm  das  Strafen  zwecklos  ist,  so  ist  dies  doch  nur  ein  Schein. 
Zunächst  ist  auch  die  Unschädlichmachung  ein  Strafzweck 
und  dieser  ist  hier  sehr  wohl  erreichbar.  Freilich  wäre  sie  es 
auch  <iuf  andere  Weise,  so  eben  durch  das  Irrenhaus.  Aber 
Unschädlichmachung  plus  moralischer  Verachtung  ist  eben 
Strafe  und  die  moralische  Verachtung  ist,  wie  wir  sahen,  von 
dem  moralischen  Irresein  nicht  trennbar.  Dann  aber 
trifft  auch  der  Gesichtspunkt  der  Abschreckung  zu,  freilich 
nicht  der  Abschreckung  dieses  Individuums,  wohl  aber  der 
Gesichtspunkt  der  Generalprävention.  Diese  earfordert  mit  Not- 
wendigkeit auch  die  Bestrafung  des  Unverbesserlichen.  Denn 
es  müsste  in  der  That  die  grösste  Verwirrung  anrichten  und 
dem  Glauben  an  den  Emst  der  Strafandrohung  den  Boden 
entziehen,  wenn  sie  gerade  da  nicht  verwirklicht  würde,  wo 
die  Verletzung  am  schwersten  gewesen  ist.  Das  Gewohnheits- 
verbrechen nicht  bestrafen,  hiesse  fast  eine  Prämie  auf  die 
Wiederholung  von  Verbrechen  setzen.  Wie  wir  generell  den 
Verbrecher  strafen,  obgleich  wir  sehen,  dass  im  vorliegenden 
Falle  die  Strafandrohung  ihre  Wirkung  versagt  hat,  so  müssen 
wir  audi  den  Unverbesserlichen  strafen,  damit  die  Strafan- 
drohung bei  anderen  nicht  ihren  Zweck  verfehlt. 


Meine  Herren!  Wenn  ich  bisher  den  Versuch  gemacht 
habe,  Ihnen  zu  /eigen,  welche  Gestaltung  der  Verantwortlich- 
kP!tsp;<>danke  im  Strafrerln  .un  Ivnde  des  Jahrhunderts  an- 
nruuni,  so  möchte  icii  /tiin  Srhluss  nur  einer  recht  naheliegenden 
Folgerung  aus  dem  besagten  \orbeugen.  -Man  könnte  meinen, 
dass  jedes gesrhriebene  Strafret  ht  mit  seinerstarren  Normierung 
der  einzehien  Slrafthaten  und  des  fiir  sie  ausgeu  oifenen  Straf- 
masses der  vollkommenen  Erreichung  des  Siratzweckcs  nur 
hinderhcli  sei.  Die  Individualität  der  That  und  des  Thäters 
lasse  sich  im  voraus  doch  nicht  erfassen  und  die  Gefährlich- 


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994 


keit  eines  iudividuurns  zeige  sich  nicht  nur  in  den  rhaten. 
die  bis  zur  Vollendung  oder  dem  Versuch  gediehen  sind.  Ks 
empfehle  sich  daher  ein  Strafrechtssystem,  welches  in  weit- 
gehendster Weise  dem  Richter  Spielraum  lasse,  die  Strafe  in 
concreto  zu  bestimmen.  So  beachtenswcri  sokht  Lrwägune^en 
theoretisch  sein  mö^^rn  so  gefährlich  wären  sie  in  die 
Praxis  umpff^seizt.  Sie  rechnen  nicht  mit  der  i  hatsache  da^> 
der  Verbrecher  auch  wieder  nur  von  Menschen  abgeurteilt 
wird,  die  nicht  frei  von  menschJichen  Schwächen  und  Irr- 
tümern sind  und  deren  Willkür  dann  der  Angeklagte  preisge- 
geben wäre.  Man  darf  nicht  übersehen,  dass  das  Straf  recht 
em  Recht  des  Staates  ist.  dem.  wie  jedem  Recht,  eine  Pflicht 
gegenüber  steht,  die  Pflicht  des  Staates,  die  gezogenen  drenyen 
auch  dem  Verbrecher  gegenüber  zu  waiiren.  Niclii  ohne 
Grund  hat  man  in  diesem  Sinne  gesagt,  dass  das  Strafrechl 
ein  Recht  des  Verbrechers,  die  magna  Charta  des 
Verbrechers  sei.  Durch  das  Strafrecht  zieht  der  Staat  sick 
selbst  Grenzen.  An  diesen  Grenzen  rütteln  oder  sie  g,^ 
■iederreissen,  hiesse  den  Schutz  des  Individuums  vernichten. 
In  meinem  Vertr^e  hatte  ich  diese  Seite  der  Sache  nicht 
au  behandeln;  nur  die  entgegengesetzte,  das  Recht  des 
Staates  auf  Strafe  war  sein  Gegenstand.  Aber  ich  möclue 
nicht  die  einseitige  Auffamuig'  Platz  grelfien  lassen,  daas 
mit  der  Beleuchtung  von  diesem  Standpunkt  aus  die  Fragte 
nach  der  praktischen  Ausgestaltung  des  Verantwortlichkdits- 
g^iankens  erschöpft  sei.  Wir  haben  gesehen,  dass  und. 
weshalb  der  Staat  ein  Recht  darauf  hat,  den  Uebelthäter 
zur  Verantwortung  zu  ziehen.  Der  Reciitsordnung  muss  es 
vorbehalten  bleiben,  die  Grenze  dieses  Rechts  im-  Einzelnen 
scharf  und  unverrückbar  zu  zeichnen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin, 
dnss  alsdann  ein  Verbrecher  der  Gerechtigkeit  entscUüpft. 
Jeder  Strafrechtspflege  muss  die  alte  Wahrheit  vorschweben: 
CS  ist  besser,  zehn  ScfauJdage  frei  ausgehen  zu  lassen,  als  eae« 
UBSchiiMigen  zu  verurteilen. 


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Sttsungsbericlite. 


Verein  lOr  Klmlerpsychelogie  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  7.  Juni  1901. 
Beginn  Uhr. 
Vorsitiender :  Herr  Stumpf. 
Schriftführer :  Herr  Hirschlaff. 

Nach  einigen  geschäftlichen  Vorbemerkungen  des  Vorsittenden  hält 
Herr  Fiat  au  den  angekündigten  Vortrag;  „Ueber  die  nasale  Auf- 
merksamkoitsschwäche  der  Kinder  (Aprosexia  nasali  s)". 

Der  Vortrag  wird  ia  extenso  in  dieser  Zeitschrift  zum  Abdruck 
gelangen. 

Nadt  dem  Vortrage  veranstaltete  <ler  Vortragende  eine  Reihe  von  De- 
moostrationen  und  zwar  1)  stroboscopische  Bilder  zur  Verdeutlichung  der 
Störungen  der  Sprach-  und  Stimmbildung  durch  die  adenoiden  Vegetationen; 

2)  mikroskopische  Präparate  zur  Vcranschaulichunj!;  der  Lymphräume  der 
Nasen-  und  Rachenschlcimhaut ;  3)  grössere  Anschauungspräparate  anatomi- 
scher Natur. 

Diskussion: 

Herr  Heubner  Das  vorliegende  Thema  hat  die  Aerzte  seit  l  anger 
Va  u.  beschäftigt  und  auch  mich  speziell  interessiert.  Es  ist  sicher,  dass 
der  Zusammenhang  der  Saftbahnen  der  Nase  mit  denen  des  ^ehirns  von 
grosser  Bedeutung  ist;  sehr  schon  veranschanlidien  dies  auch  die  «uf- 
geat^ten  Präparate.  Im  allgemeinen  freilich  sind  die  Verhältnisse  der 
Lymphzirkulation  zwischen  Gehirn  und  den  übrigen  Teilen  noch  höchst 
unklar,  sodass  ich  mich  vor  einiger  Zeit  veranlasst  sah,  "Herrn  Waldeyer 
um  Aufstellung  einer  Preisarbeit  über  dieses  Thema  ru  bitten.  So  wurden 
kurzlich  bei  Tieren,  jungen  Fröschen.  Rinsprit/un^rn  m  die  Seitcnvcntnkel 
des  Gehirns  gemacht  und  dabei  ein  grosses  Lymphgefäss  entdeckt,  Kvelches 
In  der  Nebenniere  endigt;  ein  Verhalten,  das  höchst  wunderbar  .und  unver- 
«ändlidi  ist.  Von  grosser  Bedeurung  Ist  ferner  der  Zusammenhang  anrischen 
den  adenoiden  Vegetationen  und  der  Idiotie  sehr  junger  Kinder  im  ersten 
und  zweiten  Lebensjahre.  Freilich  ist  es  sehr  schwer  7V!  entscheiden,  was 
hier  Ursache  und  was  Folge  ist.  Ebenso  ist  bei  der  sog  Aprosexia  nasalis 
diese  Frage  aufzuwcrfen.  Sehr  interessant  ist  m  dieser  Beziehung,  dass 
es  «twn  besonderen  Typus  der  Idioten  ^ebt,  der  sich  ausaeichnet  durch 
etwas  geschlitzte  Augen,  breites  Gesicht,  sehr  vorstehende  Backenknochen 
und  einen  eigentümlichen  Bau  des  Schädels,  der  eine  leichte  .Aehnlichkeit 
mit  der  mongolischen  Rasse  aufweist  und  deshalb  -  unter  'dem  Wider- 
spruche Virrhow's  -  als  monj^oloifler  Typus  der  Idiotie  bezeichnet  worden 
ist.     Diese  moagoloiden   Idioten  haben  fast  durchweg  adenoide  Vegeta- 


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396 


tionen.  Wie  auch  immer  der  Zusammenhang  dieser  Erscheinungen  ge- 
deutet werden  mag»  so  ist  es  doch  sicher  em  Gebiet  von  j^rosser  Bedeutung 
und  von  grossem  Imeresse,  das  der  Vottngen^  etditert  htt. 

Herr  Leuchter  bittet»  als  Nicht-Medianer  das  Wort  nehmen  zu 

dürfen,  um  einr  Fr^f^c  an  den  Vortragenden  zu  richten.  Giebt  es  tleut 
liehe  l>(  f(  ktc  koiperiichcr  oder  geistiger  Natur,  die  durch  die  adenf>!d»m 
Wucherutigeji  hervorgerufen  werden  und  die  auch  die  Mutter  beobachten 
kann?  Er  sdbst  sei  bd  seinem  S  jährigen  Kinde  darauf  aufmatem  ge- 
worden, dass  ein  gewisses  Stottern  beim  Anfange  des  Sprechens  üch  be- 
nm-kbar  machte.  Der  Aizt,  den  er  konsultierte,  steIHe  adenoide  Vege- 
tationen im  Nasenrachenräume  fest,  nach  deren  Entfernung  dann  in  der 
That  eine  auffallende  Bessr'riinr,^  im  Befinden  des  Kindes  eintrat.  Es  wären 
daher  deutiiciie  Kennzeichen  erwünscht,  wie  nian  an  der  Hand  bestimmter 
Erscheinimgen  auf  das  Vorhandensein  dieser  Erkrankung  schUessen  könnte. 

Herr  Flatau:  Die  hi^orstechenden  Symptome  des  Ladens  sind:  die 
Störung  des  Schlafes  und  der  ganie  Habitus  der  Kranken»  z.  B.  das  Offen- 
halten des  Mundes  wShrend  des  grossten  Teiles  des  Tages.  Die  Besserung 
He?  Stottems  durch  opernti\e  Tlntfemung  adenoider  Vegetationen,  von  der 
der  Herr  Von  Irv  i  I  i n  luetc,  ist  leider  nicht  sehr  häufig.  Mindestens 
ist  bei  schulpiiichtigen.  Kindern  das  Abstellen  des  Stottems  viel  schwieriger» 
ab  vor  dieser  Zeit.  Was  das  Alter  anbelangt,  in  dem  das  Leiden  anmeist 
auftritt»  so  ist  die  Affektion  selten  im  1.»  häufiger  im  8.  Lebensjahre; 
meist  aber  im  2.  Decenuium  häufiger  als  im  ersten.  Zuzugeben  ist  die 
Beobachtung  Heubners  über  das  Zusammentreffen  der  Idiotie  und  der 
adenoiden  Vegetationen,  das  in  einem  hohen  Prozentsatze  der  Fälle  Icon- 
statiert  werden  kann,  freilich  ist  der  Zusammenhang  dieser  Stönmgen 
schwer  zu  entscheiden.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  um  dcgencrative 
Erscheinungen,  die  zugleich  mit  den  anderen  Anzeichen  der  Entartung 
auftreten. 

Herr  Stumpf  bemerkt»  die  Psychologie  habe  diese  Dinge  schoa 
lange  ins  Auge  gefasst,  da  es  merkwürdig  erschien,  dass  durch  einen 
so  geringen  Defekt  das  geistige  Leben  so  stark  beeinträchtigt  werden 
sollte.  Mittelglied  sei  dabei  sicherlich  die  gemütliche  bturung,  die  De- 
pression» die  durdi  die  andauernden  Beschwerden  hervorgebracht  wfirde. 
Bei  dieser  Auffassung  Iconne  man  dann  nicht  mehr  von  singollren  Er. 
scheinungen  sprechen.  Die  Fälle  von  H  e  u  b  n  e  r  machen  allerdings  be- 
denklich, ob  man  auf  diesem  psychologischen  Wege  zu  einer  völlig  be- 
friedigenden Erklärung  der  Sachlage  komme  Hier  ist  sicherhch  ein 
physischer,  mehr  direkter  Zusaninunh.mg  vorhanden.  Auch  die  schweren 
Sprachstörungen  begreifen  sich  aus  den  indirekten  Erkläruugsversuchen  mehr. 
Hier  liegt  noch  ein  Problem  vor»  zu  dessen  Losung  die  Assoziation  zwischen 
Aerzten  und  Lehrern  sehr  nütdich  erscheint;  wünschenswert  wäre  es  freilich, 
auch  einmal  einen  Psychologen  darüber  zu  Rate  zu  ziehen. 

N'ach  einigen  Demonstrationen  des  Vortragenden  an  der  Hand  r 
aufgestellten  Präparate  und  Modelle  schliesst  der  Vorsitzende  die  Sitzung, 
um  93/4  Uhr. 

4  .... 


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iiittUHgsbgrühie. 


397 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Berlin. 

Vortragsplan  für  das  Winterhalbjahr  1901/2. 

31.  Oktober  1901.   Dr.  Hermann  Törck:   Die  Psychologie 

des  Genies  in  Shakespeares  Hamlet. 
14.  November  1901.    Dr.  F.  Kemsies:    Die  pädagogische  Psychologie 
seit  Herbart. 

fl8.  November  1901.  Dr.  M.  Kronenberg:  Die  Psyiiuilogie  des  phito. 

sophisdien  Ideafismiu. 
18.  Deiember  1901.  Dr.  F.  Schumatisi:   Angenbewegungen  und  Raum. 

wnhm«'hmimp  (mit  Demonstrationen  im  Psychologischen  Institut}. 
16.  jajiv:.ir  l.HiL^     Geh.   Reg.  Rat   Professor  Dr.  W.  Münch:    Die  Psy- 

chologie  der  Grossstadt. 
90.  Januar  1902.  Prof.  Dr.  R.  Lehmann:  Die  psychologischen  Grund» 

lagen  der  änhetischen  Erziehung. 
13.  Februar  1902.  Dr.  S.  Sänger:  Die  Psychologie  John  Stuart  MDls. 
27.  Februar  1902.    Dr.  R.  Bärwald:   Ueber  die  Gabe  der  Auffassung. 
6.  März  1902.     Ordentliche  General. Versammlung. 

An  noch  nahtr  m  bestimmenden  Tagen: 
Dr.  L.  W.  Stern  (aus  Breslau  t .    Zur  Psycliologie  der  Aussage,  ^^i-xperi- 

mentelle    Untersudiungen    über    das    Gedächtnis    und  seine 

Täuschungen.) 

Dr.  Henry  Hughes  (aus  Bad  Soden  a.  T.):  Ueber  die  Affekte. 

Die  Sitzungen  der  Psychologischen  Gesellschaft  werden  gcwöhnhVh 
an  zwei  Donnerstagen  jedes  Monats  im  Hörsaal  des  Botanischen  Instituts, 
Dorotheenstrasse  5.  abgehalten  und  beginnen  um  7  Uhr.  Gastweise  Teil- 
nahme ist  zweimal  im  Jahre  gestattet.  t 

Die  Tagesordnung  wird  regelmässig  in  der  Vossiscben  Zeitungi  in 
der  Pädagogischen  Zeitung,  in  der  „Berliner  Anseigen'*  des  Herrn  Grosser 
und  am  schwarzen  Brett  des  Psychologischen^  Instituts  angezeigt.  Die 
einzelnen  Sitzungsberichte  werden  fortlaufend  in  der  Zeitschrift  für  päda- 
gogische Psychologie  imd  Pathologie  abgedruckt  und  den  Mitgliedern  zur 
Verfügung  gestellt.  .Ausserdem  erhalten  die  Mitglieder  die  „Schriften  der 
Gesellschaft  für  psychologische  Forschung". 

Alle  Anfragen  und  Mitteilungen  sind  su  riditen  an  den  derseitigen 
VofSitxenden,  Herrn  Professor  Dr.  Dessoir,  Berlin  W.,  Goksstrasse  31. 
Ueber  die  Bedingungen  der  Mitgliedschaft  erteilen  die  Satzungen  Auskunft 
(Semesterbeitrag  4  M.)  • 


Referate. 

Dr.  Otto  Abraham*):  Das  absolute  Tonbewusstaein. 

Das  Wort  „musikalisch"  ist  bisher  nicht  genügend  definiert  worden; 
man  muss  cur  Definiton  die  Individual-  oder  Typenpsycb(riogie  xu  Hülfe 

*)    Der   \'ortrag  crschemt  deniitachst   in  erweiterter   Form  in  de« 
Sammelheften  der  internationalen  Mu^ikgesellschaft. 


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398 


rufen,  dum  erkennt  man  erst  die  Beiiehungen  zwischen  den  cuuelaen  musika- 
liBcheQ  Faktoren.  Am  besten  teilt  man  sich  den  Haupttypus  „musikalbclk*' 
in  einselne  Untertjrpen  ein;  diese  Untertypoi  nnd  kdne  Ininsll^iett  Falni« 

kate.  Sie  existieren  schon  und  sind  dadurch  entstanden,  dass  eine  FShi|(- 
keit  besonders  stark  entwickelt  ist  und  die  anderen  Faktoren  (fes  Musiksinns 
beeinflusst.  Solchen  Typus  bilden  die  mit  absolutem  Tonbewusstsein  be- 
gabten Menschen. 

Unter  absolutem  Tonbewusstsein  versteht  man  zweierlei:  1)  die  Fähig- 
keit» einen  geholten  Ton  ohne  IntervaUver{^eichiing  richtig  zu  benennen; 
^  die  Fähigkeit«  sich  einen  Ton,  dessen  Name  genannt  wird  ohne  Intervajl- 
vergleichung  vorzustellen  und  ihn  richtig  (durch  Gesang  oder  Pfeifen)  produ> 
zieren  zu  können. 

a  Die  absolute  Tonhöh  rnbcurteilung:  Absolutes 
ionbcwusstsein  ist  völlig  zu  trennen  voa  dem  fälschlich  sogenannten  reia- 
tiven  Tonbewusstsein,  don  Intovallsinn.  Bei  letsterem  erkennt  man  die 
Tonhöhe  durch  Imervallabach&tzung  und  logisdien  SchltMs,  bei  dem  absolaten 

Tonbewusstsein  entsteht  ohne  bewus»ten  psychischen  Prozess  die  Assoziation 
zwischen  TonbUd  und  Wortbild.  Nur  die  Bezeichnung  der  Oktavenhöb'e 
Wird  nicht  mit  reproduziert,  erstens  wegen  der  musikalischen  Ungewohntheit, 
zweitens,  weil  die  mit  absolutem  Tonbewusstsein  begabten  Menschen  ein  be- 
sonders starkes  GefuU  für  die  OktavenShnlichkeit  haben,  fär  die  Aefanlichfceit 
des  Zusammengesetzten,  wahrend  sie  kein  Gefühl  für  die  Aehnlichkeit  des 
Kinfachen  besitzen  Daher  macht  es  ihnen  Schwierigkeiten,  die  Octaven* 
höhe  anzugeben,   und   Octavenverwechselungen  sind  häufig. 

Die  absolute  Tonhöhenbeurteilung  Itangt  ab  von  der  Tonhöhe,  der 
Stärke,  der  Dauer  und  der  Klangfarbe  der  Töne:  iClänge  der  mittleren 
Oktaven  w^en  am  besten  erkannt,  tiefste  Tdne  werden  deduU»  leidUch 
gut  taxiert,  weil  der  diskontinuteriidbe  Charakter  ein  mittelbares  Kriterium 
abgiebt,  höchste  Töne,  von  der  Mitte  der  6  gestrichenen  Oktave  an  er- 
regen wohl  noch  deutliche  Tonrmpfindungcn,  lassen  aber  nicht  nn^hr  die 
Reproduktion  des  Tonnamens  f  ntsiehen.  Zur  absoluten  TonhöhenbeurteüuQg 
genügt  eine  minimale  T  o  n  s  t  a  r  k  c  ,  die  eben  den  Ton  perzipieren  iasst, 
ja  schwache  T&ie  werden  sicherer  beurteilt,  als  die  obenonhaltigen  siailMi 
Töne.  Die  Dauerscbwelle  für  die  absolute  Tnahöhmbeuiteilung . ist 
gleich  der  Dauerschwelle  für  die  Tonempfindung.  Die  Klangfarbe  ist  von 
grosser  Wichtigkeit  für  das  absolute  Tonbewusstsein.  Man  hat  sich  durch  musi- 
kalische Ucbung  eine  Einheit  konstruiert,  auf  welche  andere  Klänge  bezogen 
werden  (Ciaviertoneinheit,  Geigentoneinheit).  Klange,  die  der  Einheit  ähndn, 
rejiffoduaierai  den  Tonnamen,  andre  Kfihtg^  die  von  ihr  verschieden  smd,  nidit. 

Ausser  dkm  direkten  Wege  der  absoluten  Tonhöhenerfcennung, 
die  darin  besteht,  dass  einfach  das  Wortbild  durch  das  Tonbild  reproduziert 
wird,  giebf  es  noch  einen  indirekten  Wej^  durch  mittelbare  Kriterien. 
Optische  Vorstellungen  (Notcnbiid,  Tastenbild,  Farbenemplindungen,  Audition 
coloröe)  können  ebenso  wie  Bewegungsvorstellungen  mittelbare  Kntenen 
abgeben, 

b.  Die  absolute  Tonhöheavorstellnag:  Bas  WorMl 
reprodnsieft  das  TonNId,  nicht  nmg^kdirt;  (Kes  ist  mir  mit  Httfs  mülfll' 


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399 


barer  Kriterien  möglich,  wobei  Muskelempfindungen  und  Bem^^gsvor- 
steBtingen  eine  Hauptrolle  spielen. 

c.  Der  AssoziationswL-g  funktioniert  «iirckt  in 
beiden  Richtungen:  Die  so  begabten  Musiker  haben  das  feinste 
abecdute  Tcmbewusstsein,  sie  haben  Tonbegnfle»  die  in  mittleren  Oktaven 
nicht  mehr  als  6  Schwingungen  zu  umfassen  brauchen. 

Das  absolute  Tonbewusstsein  ist  eine  selten  gefundene  musi- 
kalische Eigenschaft;  es  ^vird  im  Musikunterricht  alles  gethan, 
um  den  Intervallsinn  zu  entwickeln  auf  Kosten  des  absoluten  Tonbewusstseins ; 
und  doch  ist  das  absoite  loabewusstsein  anzuerziehen, 
besonders  leicht  bei  Kindern.  Die  Methoden  der  Erlernung  richten  sich 
nach  der  Veranlagung  der  Schüler,  ob  sie  rein  akustisch  oder 
mehr  visuell  oder  motorisch  begabt  sind.  Allerdings  kann  nkht  jeder  ein 
absolutem:  Tonbewusstsein  erwerben,  ein  individueller  Faktor  bleibt 
noch  erforderlich,  doch  ist  er  nicht  so  bedeutend,  wie  meist  angenommen  Ivvird. 
Die  Erwerbung  des  absoluten  1"  o  n  1'  <  w  u  s  s  t  s  e  i  n  s  ist  er- 
strebenswert, denn  es  ist  von  grossem  praktischem  Wert  fiir  die 
Mtltik;  durchdringendes  Verständnis,  besonders  aber  schnelle  Auflassung 
einer  schwierigen  Komposition  setsen  ein  absolutes  Tonbewusstsein  voraus, 
wichtig  ist  es  auch  für  den  Sänger. 

Das  absolute  Tonbewusstsein  hat  ganz  bestimmte  Beziehungen  zu 
dt>n  anderen  musikalischen  Eigenschaften,  dem  I ntervall- 
gedächinis,  Melodiegedachtniä  und  besonders  zu  der  musikalischen  Phantasie. 
Alle  mit  absolutem  Tonbewusstsein  begabten  Menschen  sind  im  Stande  zu 
phantasieren  und  komponierea  So  ist  das  absolute  Tonbewusstsein  nicht 
für  sich  tu  betrachten,  sondern  bildet  einen  besonderen  musika- 
lischen Typus. 

In   der   Diskussion  führte  Herr  Dr.  ter  Kuile  etwa  folgend'-s  aus: 

1.  Die  nur  mit  Intervailbewusstsetn,  nicht  mit  absolutem  Tonbewusit 
sein  Begabten,  können  einen  Ton  in  seiner  absoluten  Hohe  bcstininien, 
wenn  sie  den  Gnindton  der  Skala  kennai,  worin  der  Ton  gespielt  ist. 
Nach  H.  Dr.  Abraham  sieht  dann  der  Betreffende  einen  Scfaltus  aus  swei 
Praemissen :  z.  B.  der  Grundton  ist  „es**,  der  gehörte  Ton  war  4lie  Quarte 
in  der  Leiter;  also  ist  dieser  Ton  „as". 

Daf5s  dies  immer  so  vor  sich  gehen  miiss,  ist  nicht  sicher.  Mir  selbst 
z  B.  scheint  es  vielmehr  so  zu  sein,  da^s  ich,  wenn  ich  den  Grundton, 
also  die  Tonan  keime,  die  Quarte  mir  sogleich  die  Taste  von  '„as  '  und  die 
Beaeichnung  „fa"  vor  den  Geist  ruft,  ohne  dass  ein  Schluss  aus  «den 
genannten  Praemissm  geiogen  wird.  Es  ist  mir  so,  als  ob  ich,  po  lange 
in  der  bestimmten  Tonart  gespielt  wird,  für  dieselbe  ein  absolutes  Ton- 
bewusstsein hätte 

2.  Dass  der  gepfiffene  Ton.  obgleich  eine  Oktave  hoher  als  der 
gesungene,  dennoch  viel  tiefer  als  dieser  zu  sein  scheint,  schreibt  Herr 
Dr.  Abraham  der  Armut  und  dem  Reichtinn  an  Obertdnen  su.  Dies  kaim 
ich  nicht  als  feststehend  ansehen.  Es  ist  die  Frage,  ob  nicht  das  Tief- 
Scheinen  des  gepfiffenen  Tones  und  das  Hoch-Scheinen  des  gesungenen 
Tones  daher  stamme,  dass  der  erste  nach  der  Untergrenze  des  Gebietes 
der  gepfiffenen  Töne,  der  letzte  nach  der  Obergrenze  der  gesimge&en 

ZdtKlirift  f&r  piidigpgiKlie  Fqpcbologie  und  PaUiologic;  S 


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400 


SüMWtgibcrühU. 


Töne  liegt.  Hierfür  spricht,  dass  uns  die  höheren  ^gepfiffenen  Töne  nicht 
entsprechend  zu  tief  scheinen,  als  die  tieferen,  sondern  gerade  einen  sehr 
scharfen,  hohen  Eindruck  machen;  dass  uns  die  tiefen  gesungenen  Töne» 
öbglekh  reich  an  Obertönen,  wirklich  sehr  tief  scheinen,  nicht  viel  zu 
hoch.  Auch  machen  die  mit  einer  gewissen  Anstrengung  gesungenen  tiefsten 
Töne  einer  Altsängerin  einen  viel  tieferen  Eindruck,  als  ihrer  wirklichen 
Höhe  entsprechend  sein  würde.  Es  scheint  also,  dass  gerade  die  Töne  uns 
um  so  tiefer  scheinen,  je  mehr  die  zufälligen  Nebenmerkmale,  die  die 
Menschen  in  allen  Sprachen  dazu  gebracht  haben,  die  tiefen  Tdiw  eben 
tief  zu  nennen,  sur  Geltung  Irammen.  Als  dergleichen  Merkmale  konnten 
i.  B.  in  Frage  kommen  das  Senken  des  Kopfes  und  der  Augenbrauen 
beim  Singen  tiefer  Töne,  das  Heben  derselben  beim  Hervorbringen  höherer 
Töne.     Ks  giebt  jedoch  von  ilergleichcn  Merkmalen  mehrere. 

Für  seine  böchäl  interessanten  und  zum  grossen  Teil  aut  eigenen 
Versuchen  stützenden  Ausführungen  bezeuge  ich  dem  geehrten  Redner  meinen 
Dank  und  meine  Hochachtimg. 

Dr.  Wilhelm  Stern:  Theorie  der  ererbten  psychischen 

Anlagen. 

Der  Vortragende  führte  im  wesentlichen  Folgendes  aus:  Alle  sowohl 
körperlichen,  als  auch  psychischen  Eigenschaften  und  Fähigkeiten  sind  ent- 
weder vom  Individuum  im  La,ufe  seines  Lebens  erworben,  oder  angeboren. 

Das  Angeborene  kann  entweder  von  der  Natur  beim  einzelnen  Individuum 
gesetzt  sein,  oder  ererbt  sein.  Und  das  Krerbte  wiederum  ist  teils  ursprünglich 
von  der  Natur  bei  einigen  oder  bei  viclr-n  oder  allen  «in  Betracht  kommenden 
Individuen  gesetzt  und  dann  von  diesen  aut  die  Nachkommenschaft  vererbt, 
teSs  von  früheren  Individuen  im  Laufe  ihres  Lebens  erworben  und  dann 
auf  die  Nachkommenschaft  vererbt.  Unter  Anlage  venteht  er  das  an- 
geborene Angelegtsein  zu  gewissen  Eigenschaften  und  Fähigkeiten.  Ihn 
interessieren  hier  nur  die  psychischen  .\nlagcn  und  unter  ihnen  wiederum 
nur  die  ererbten.  Von  diesen,  also  den  ererbten  und  speziell  den  tücht 
von  der  Natur  ursprünglich  gesetzten,  sondern  auf  das  von  früheren  Indi* 
viduen  im  Laufe  ihres  Lebens  Erworbene  zurückführbaren,  mithin  stets 
nur  ererbten  psychischen  Anlagen  trägt  er  eine  kurz  gefasste  Theorie  vor. 

Der  Vortragende  kommt  durch  die  \'crbindung  des  Gesetzes  des  ab- 
S(  hwächcnden  und  aufhebenden  Einflusses  der  Gewohnheit  und  Uebung 
auf  das  Bewusstsein  mit  dem  Gesetze  der  Vererbung  auf  diu  Erklärung 
der  hierher  gehörenden  Erscheinungen  der  ererbten  Organisation,  soweit 
es  sich  um  ihre  körperliche  Grundlage  handelt.  Wir  sind  nämlich,  sagte  er, 
gezwungen,  uns  selbst  bei  den  näheren  psychischen  Vorgängen,  von  den 
lernen,  die  etwas  für  tms  vollständig  Unzugängliches  sind,  absehend,  zum 
grossen  Teile  auf  die  Untersuchung  der  Veränderungen,  welche  sich  bei 
den  mit  ihnen  verbundenen  körperlichen  Vorgängen  vollziehen,  zu  beschränken 
und  dieselben  höchstens  bis  zum  Punkte  ihres  Ueberganges  in's  psychische 
Leben  zu  verfolgen.  Der  Vortragende  kommt  nun  zu  dem  Resultate,  dasa 
Locke's  Satz:  „Nihil  est  in  intellectu,  quod  non  prius  fuerit  in  sensu" 
zwar  bestehen  bleibt,  aber  einer  Modifikation  bedarf.  Denn  es  bleibt  zwar 
richtig,  dass  nichts  im  Geiste  ist,  was  nicht  vorher  in  den  Sinnen  gewesen 


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401 


ist'  Aber  luter  dieflen  Siimeii  nnd  nidit  in  aUen  Fülen  blo«  die  des  jetst 
lfü>eiideii  Individuums,  sondern  andi  die  unsabliger  früherer  Individum» 

d.  h.  die  der  Vorfahren  des  jetzt  lebenden  Individuums  zu  verstehen,  welche 

viele  hierher  gehörende,  also  psychische  Eig^fnschaftcu  und  Fähigkeiten 
im  Laufe  ihres  Lebens  allmählich  erworben  und  auf  dasselbe  vererbt  «haben. 


Jahresbericht  der  Psychologischen  Qeseiischaft 

za  Breslau. 

(Secttcm  Breslau  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Psychologische  Forschung.) 

1900/01. 

1.  Mitgliedschaft:  Die  Ges^lschaft  hat  nun  bereits  das  4.  Jahr 
ihres  Bestehens  hinter  sich  und  kann  mit  Befriedigung  auf  ihre  Entwickelung 
zurückblicken.  Der  Bestand  an  Mitgliedern  betrug:  Zu  Anfang  des  Arbeits- 
jahres 31  ordentliche  und  5  ausserordentliche;  beim  Schluss  des  Arbeits- 
jahres  ein  Ehrenmitglied,  39  ordentliche  und  8  ausserordentliche  Mitglieder, 
Die  Mitglieder  setzen  sich  zusammen  aus  Universitätslehiem  verschiedener 
Fakultäten,  prakt.  Amt«n,  Juristen,  Lehrern  u.  s.  w.  Als  ausserordentliche  Mit- 
glieder finden  Studenten  Aufnahme. 

S.  Vorstand:  In  der  Generalversammlung  vom  15.  Januar  1901 
wurden  folgende  Herren  in  den  Vorstand  gewählt: 

Privatdocent   Dr.   L.  William   Stern  (Vorsitzender), 
Nervenarzt  Dr.  Hans  Kurella  (stellvertretender  Vorsitzender),  • 
Reditsanwak  Dr.  Kurt  Steinitx  (Schriftführer), 
Primärarzt  Dr.  Alfred  Methner  (Kassierer). 
Der  frühere  steUveitretende  Vorsitzende  Dr.  Robert  Gaupp  wurde 
bei  seinem  Scheiden  von  Breslau  für  seine  Verdienste  um  die  Begründung 
und  Entwicklung  des  Vereins  zum  Ehrenmitglied  ernannt. 

3.  Sitzungen:    Es  fanden  13  wissenschaftliche  Sitzungen  statt, 

mit  folgenden  Tagesordnungen: 

1)  23.    10.   1900:   Herr   Privatdocent  Dr.  W.   Stern:  Nietzsche  als 
Plulosoph. 

8)  6.  11.  1900:  Herr  Profenor  Dr.  Otto  Hoff  mann:  Die  Kunst  des 

V^ersbau's  im  Dienste  des  Gedächtnisses. 

3)  20.  11  1000:  Herr  prakt.  Ant  Dr.  G.  Rosenfeld:  Die  psychischen 
Wirkungen  des  Alkohols. 

4)  27.  11.  1900:  Herr  Privatdocent  Dr.  Stern:  Referat  über:  Freud, 
Die  Traumdeutung. 

6)  11.  12.  1900:  Herr  cand.  med.  G.  Moskievicz:  Die  modernen 
Anschauungen  ttber  das  Verhältnis  von  Körper  und  Seele, 


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402 


SttsungsberichU. 


6)  l.'V  1.  IIMM  n  t*  m  o  n  s  t  r  a  t  I  o  II  t  iniger  Apparat»-  i;u  psychologischea 
Laboratorium  der  Universität  durch  Herrn  Privatdoccnt  Dr.  Stera 
und  Herrn  cand.  med.  Moskiewicz.  (Nur  für  Mitglieder). 

7)  29.  1.  1901:  Vortrag  des  Herrn  Oberlehrers  Dr.  F.  Kemsie» 
(Berlin):  Die  Eniwickelung  der  pädagogischen  Psychologie  im  19. 
Jahrhundert  (1.  Hälfte).  Bei  Verhinderung  des  Vortragenden  wurde 
das  Manuskript  verlesen. 

S)  19.  2.  1901:  Herr  Privatdocent  Dr.  W.  Stern:  Experimentelle 
AesthetUc 

9}  5.  3.  1901:   Herr  Professor  Dr.  W.  Sombart:  Tecbnik  und 

Wirtschaft. 

10}  2.  4.  l'JOl :  Herr  Dr.  K.  Storch  referierte  über :  J.  Pikler,  Das  Grund- 
gesetz alles  neuropsychischen  Lebens,  und  Herr  prakt.  Am  F. 
Krämer  Qber:  Th.  Heller,  Studien  zur  Blindenpsychologie. 

11)  SO.  4.  1901 :  Herr  cand.  med.  Moskiewicz referi^e über : Münster* 
berg,  Prinzipien  der  Psychologie. 

12)  11   ö.  l'.)01;  Herr  Privatdocent  Dr.  Sachs:  Uebcr  .\phasic. 

13)  18.  G.  1901:  Herr  Privatdocent  Dr.  Stern;  Fcchner  als  Philosoph 
und  Päychophysiker  ^zuiu  Gedachlnis  seines  lOU.  Geburtstags). 

Die  Sitsuttgen  erfreuten  sich  dnes  regen  Besuches.  Von  dem  seiteiia 
der  Gesellschaft  gern  gewährten  Gastrecbt  wurde  lebhafter  Gebrauch  gemacht. 

Der  Vortrag  unter  Nr.  9  ist  als  Publikation  der  Gehestiftung  in 
Dresden,  der  unter  Nr.  5  ist  im  Centralblatt  für  Psychiatrie  und  NervenheiU 
kimde  erschienen. 

Ueber  die  unter  Nr.  2,  3  und  13  genannten  Vorträge  folgen  weiternnten 
Berichte. 

4.  Publikationen:  Die  Puljlikation  des  „V'ortragscyklus  Über  die 
Entwickelung  der  Ps>  ( hologie  und  verwandter  Gebiete  des  Wissens  und 
des  1  ebf ns  im  Ii).  Jahrhundert"  hat  begonnen.  Es  sind  (im  Verlage  von 
Hennann  Wailhcr  Berlin)  bisher  als  Brochüren  erschienen  (zugleich 
als  Abbandlungen  in  der  Zeitschrift  für  pädagogische  Psycholc^e  und 
Pathologie) : 

Dr.  L.  William  Stern,  Privatdoc. :  Die  psychologische 
Arbeit  des  19.  Jahrhunderts. 

Dr.  Robert  Gaupp,  Nervenarzt:  Die  Entwickelung  der 
Psychiatrie  im   19.  Jahrhundert. 

Ctonsistorialrat  Prof.  Dr.  D.  Carl  Hase:  Die  psychologische 
Begründung  der  religiösen  Weltanschauung  im  19. 
Jahrhundert. 

Im  Erscheinen  begriffen  sind : 
Dr.  Heinrich  Sachs,  Nervenarzt,  Pnvatdoc:  Die  Psychologie 
des  Gehirns 

Dr.  Kurt  Steinits,  Recfatsanw.:  Der  Verantwonlidhkeitsgedanlce 
Dr.  Ferdinand  Kemsies,  Oberlehrer  (Berlin):  Die  Entwicklung 

der  paedagogischcn  Psychologie 
Prof.  Dr.  Franz  Skutsch:  Grammatik  und  Psychologie 
Nervenarzt  Dr.  H.  Kurella:  Die  Entwicklung  der  Kriminal- 
anthropologie 


im 

19. 

Jabih. 


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SütunffsbericAte. 


403 


6.  Bibliothek:  In  der  Generalversammlung  wurde  die  Begründung 
einer  Bibliothek  bescUossen»  die  durch  Schenkungen  und  Ankäufe  alsbald 
ins  Leben  gerufen  wurde.  Mit  der  Leitung  der  Bibliotheksangelegenheiten 
wurde  Herr  cand.  med.  Moskiewicz  betraut. 

G.  Die  Gesellschaft  gehört  der  „D  eutschen  Gescllsihaft  für 
psvchologische  Forschung"  als  Sektion  Breslau  an.  Die  Publi- 
kationen dieser  Gesellscliaft  stehen  uiisereti  .Mitgliedern  zu  Vorzugspreisen 
tur  Verfügung. 

Psychologische  Gesellschaft  zu  Breslau. 

LA: 

Dr.  W.  Stern»  Hdfdienstr.  101.  i  Rechlsanv.  Dr.  K.  Stdnitz,  Antonien- 

Novenarzt  Dr  H.  Kurdh,  fOntoi-        Strasse  23. 

stnsse  100.  FtiroärantDr.AiAethnerJauentz.-PL7. 


Referate. 

Otto  Hoff  mann:  Die  Kunst  des  Versbau's  im  Dienste  des 
Gedächtnisses. 

Selbst  wenn  der  Vers  ursprünglich  eine  reine  Kunstform  gewesen 

sein  sollte  was  keineswegfs  feststeht  — ,  so  hat  er  für  die  älteste 
Zeit  der  Dichtung  jedenfalls  noch  eine  zweite  praktische  Bedeutung  besessen ; 
er  diente  zur  Gliederung  eines  umfangreichen  spradüichcn  Stoffes,  dessen 
Niederschrift  unmöglich  und  ungewöhnlich  war«  und  der  deshalb  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  nur  durch  mündliche  Ueberlicferung  und  das  Ge- 
dächtnis fortgepflanzt  wurde.  Es  verlohnt  sich  deshalb  wohl,  die  Frage 
anfzii warfen,  welche  Eigenschaften  die  historisi  hen  Formen  und  Mittel  des 
Verses  in  Bezug  auf  das  leichte  Erlernen,  das  sichere  Einprägen  und 
die  glatte  Reproduktion  einer  umfangreicheren  Dichtiug  besitzen.  Eise 
experimentelle  Untersuchung  dieser  Frage  wird  sich  in  der  Methode  eng 
an  diejenigen  Arbeiten  anzuschliessen  haben,  die  Ebbinghaus,  G.  E.  Müller, 
-Schumann  ti.  .1.  über  die  Bildung  und  Festigkeit  der  Assoziationen  bei 
dem  Krlernen  längerer  Silbenrcihen  veröffentlicht  haben  lim  Beispiel  mag 
erläutern,  in  welcher  Art  die  Probleme  zu  stellen  und  wie  sie  praktisch  zu 
untersuchen  sind. 

Bd  den  Indem  und  Griechen  sind  die  grossen  epischen  Poesieen 
in  sogenannten  Langversen  überliefert,  die  durch  einen  Einschnitt  in  der 
Mitte,  die  Caesur,  in  zwei  annähernd  gleiche  Hälften  zerfallen.  Nun  hat 
namentlich  U?5ener  überzeugend  nachgewiesen,  dass  dieser  Langvers  erst 
aus  zwei  ursprunglich  selbständigen  Kurzverseu  zusanimengesch weihst  ist. 
Dass  dabei  ästhetische  oder  musikaiisch-detdamatoi^he  Grunde  gewirkt 
haben,  ist  möglich,  aber  nicht  nachiuweisen.  Dagegen  ist  es  fiir  die  Er- 
lemtrag  und  gedÄchtnismässige  Reproduktion  eines  Gedichtes  keineswegs 
gleich,  ob  ich  es  7.  B.  in  2(K)  Kurzverse  zu  je  3  Hebungen  oder  in  lÜO 
Langversc  zu  je  6  Hebungen  zerlege.  Im  erstcren  Falle  wird  der  einzelne 
Vers  natürlich  schneller  erlernt,  weil  er  nur  aus  d  zu  assoziierenden  Grössen 
besteht  —  aber  es  müssen  dann  200  selbständige  Verse  mit  einander  ver- 


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404 


SUwMHgOeriekie. 


knüpft  werden.     Im  zweiten  Falle  ist  die  Erlernung  und  Reproduktion 

des  einzelnen  Verses  natürlich  schwerer,  weil  er  aus  G  Gliedern  hf>«^teht 
—  dafür  brauchen  dann  aber  nur  100  Verse  mit  einander  verbunden  zn 
werden.  Sollte  vielleicht  die  letztere  Art  für  das  Gedächtnis  die  leichtere 
sein?  Experimentell  würde  Mch  das  so  untersuchen  Uusen,  du»  man  M 
sinnlose  Silben  das  eine  ICal  in  4  Teilen  m  je  6  Silben,  das  andere 
Mal  in  2  Teilen  zu  je  12  Silben  nach  dem  bekannten  Verfahien  fon 
Ebbinghaus  oder  Müller  Schumann  erlernen  lässt  und  nun  untersucht,  nach 
der  wievicltsten  Wiederholung  die  erste  richtige  Reproduktion  eintritt  und 
bei  welcher  der  beiden  Arten  nach  einer  bestunniten  Zeit  eine  neue  Er- 
lernung am  schnellsten  vor  sich  geht. 

In  ganz  gleicher  Weise  lässt  sich  auch  der  Wert  des  Reimes  imd 
des  Stabreimes  für  das  Gedächtais  untersuchen.  Bei  dem  letzteren  würde 
sidl  s.  B.  die  interessante  Frage  erheben,  ob  die  Vermeidung  der  gleichen 
Alliteration  für  alle  vier  Hebungen  zweier  Halbvcrse  (es  alliterieren  nur 
die  beiden  Hebungen  des  ersten  Halbverses  mit  einer  Hebung  im  /.weilen 
Haibversc  oder  nur  je  eine  Hebung  in  den  beiden  Halbvcrsen)  rein  ästhe- 
tischen Gründen  entsprang  oder  ob  sie  nicht  vielleicht  auch  aus  mnemo- 
technischen Gründen  sich  verstehen  lässt. 

Sollten  die  experimentellen  Untersuduingen  —  was  a  priori  kaum 
zu  erwarten  ist  —  zu  dem  Resultate  führen,  dass  in  Fällen,  wie  den  an- 
geführten, für  das  Gedächtnis  kein  Unterschied  zwischen  den  verschie- 
denen Versformen  besteht,  so  würde  auch  das  einen  Fortschritt  bedeuten. 

Georg    Rosenfeld:    Die    psychischen    Wirkungen  des 
Alkohols. 

Behufs  Erforschung  der  psychischen  Leistungen  des  Alkohols  führt 
die  historisch-kritische  Methode  nicht  zum  Ziele,  da  wir  den  alkoholiosen 
Lebensabschnitt  eines  Kulturvolkes  nicht  kennen,  den  wir  mit  semer  Thätig 
k<  it  unt<  r  Alkohol  nicht  vergleichen  können.    Es  bleibt  nur  die  experimentell- 
psychologische   l  orschung   übrig.     Von  den  Alkoholphänomenen,  die  ihr 
zur  Erklärung  anheimlallen,  ist  die  gesellschaftliche  Angeregtbeit  eines  der 
auffallendsten.  Sie  ist  im  Wesentlichen  mit  einer  Erhöhung  der  Aeusseiui^ 
lahl  identisch:  die  Vermehrung  der  Aeussenu^oi  kann  nicht  auf  Ver 
mehrung  der  Gedankenfülle  zurückgeführt  werden.    Dies  beweisen  die  De 
fekte   in  den  geistigen  Funktionen,  wie  sie  Kraepelin  und  seine  Schii!<'T 
sowie  joss  nachgewiesen  haben,  welche  Studien  gestatten,  die  Wiricua^ 
des  Alkohols  auf  das  Hirn  in  ein«'  Passageerschwerung  fai  den  fdneiea 
Himbabnen  —  der  Associationen,  Hemmungen,  Kritik      su  sehen.  ]Q»en- 
dieses  Fortfallen  der  Nebenbahnen  erlaubt  —  durch  Energiespanng  — 
die  Auslösung  motorischer  Endeffekte:  pantomimische  Bewegungen,  Aeusse 
rungen.      Daher    die    eine    „Angeregtbeit"    vortäuschende    Neigung  zum 
Sprechen.    Dass  der  alkoholbefangene  Mensch  sich  selbst  angeregter  vor- 
kommt, beruht  zum  kleinsten  Teil  auf  den  wenigen  wirkUchen  Anregtmgcn. 
die  die  gesprächseifrige  Gesellschaft  anderer  Alkoholislen  geben  küoaM^ 
hauptsächlich  auf  der  durch  Alkoholbetäubung  veranlassten  Atisschaltttog 
der  Kritik  in  körperlicher  und  j  i  ri-cr  Hinsicht.   Eine  Rolle  spielt  auch 
die  hier  durch  Alkohol  bewirkte  Vt;ränderung  der  AussenwelteindrüdK. 


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4Q5 


und  die  leichte  Ansprechbarkeit  der  Musiculatur.  In  summa  ist  der  A]koh«d 
ein  SchädUng  für  psydiische  Leistungen  Oberhaupt,  für  die  Auffassuags- 
fähigkeit  und  für  die  Beoutsung  der  Asaotiationsbahnen  auch  in  Udnen 
Dosen. 

L.  William  Stern:  Fecbner  als  Philosoph  und  Psycho. 

p  h  y  s  i  k  e  r.  i 

Gustav  Theodor  Fechner  ward  am  19.  April  1801  geboren. 

Wenn  man  den  100.  Geburtstag  eines  Foisdiers  feiern  kann,  so 
ist  dies  ein  gutes  Zeichen  für  seine  Bedeutung;  denn  es  bekundet,  daas, 
etwa  ein  halbes  Jahrhundert  nach  seinem  Hauptschaffen,  dieses  bei  der 
Menschheit  nicht  vergessen  ist.  Noch  besser,  wenn  man  an  seinem  100. 
Geburtstag  bekemien  kann,  dass  noch  heute  weite  Strecken  unseres  Avi^sen 
schaftlichen  Lebens  unter  den  unniittelbarea  Nachwirkungen  seiner  Leistungen 
stehen.  Und  das  Beste,  wenn  man  glaubt,  prophezeien  zu  dürfen;  erst 
«Se  Zukunft  wird  ganz  genau  erkennen,  was  dieser  Mann  der  Welt  bedeutet. 
^  Dies  ist  der  Fall  bei  Fechner. 

Fechner's  Leben  deckt  sich  fast  mit  dem  19.  Jahrhundert;  es  währte 
von  1801—1884.  Und  er  ist  der  Sohn  seiner  Zeit,  wenn  er  in  den  dreissiger 
Jahren  vom  Strudel  der  Scheiling-Oken'schen  Naturphilosophie  mit  fort- 
gerissen wird,  dann  aber  an  ihre  Stelle  die  exakte  Empirie,  die  zählende 
und  mesMude  NatwforKhung  setzt;  er  ist  Mitaxbdter  an  ihr,  wenn  «r 
dastt  beiträgt,  auch  am  Seelischen  die  Besiehtmgen  sur  physisdien  Welt 
sn  betonen  und  Mass  und  Methode  der  Naturwissenschaft  auf's  Psychische 
auszudehnen.  In  manch  anderer  Hinsicht  aber  ist  es  ein  fremder  Gast 
in  d«^r  Kultur  des  19.  Jahrhunderts,  namentlich  in  dessen  zweiter  Hälfte, 
dieser  j>achlichen,  nüchternen,  spezialistischen,  analytischen  Epoche.  Er  ist 
von  umfassendster  Vielseitigkeit:  Physiker,  Psychophysiker  tmd  Psycholog, 
Aeathetiker,  Dichter  und  Humorist;  und  er  ist  —  in  dieser  unphikisophisdi' 
sten  aller  Kulturseiten  —  philosophisch:  in  ihm  lebt  ein  Drang  nach  Zu> 
sammenfassung  und  Harmonisierung,  der  ihn  weit  über  das  Scheuklappen- 
tum  des  Nichts-  als  Fachgelehrten  hinaushebt.  So  schafft  er  eine  Welt- 
anschauung,  an  der  sein  kritisch  exakter,  naturwissenschaftlicher  Geist  wie  sein 
tromm  religiöses  Gemüt,  dichtende  Phantasie  und  philosophische  Synthese 
gleichen  Anteil  haben  —  eine  Weltanschauung,  von  der  ein  Fragment, 
nftndidi  der  Parallelismus,  in  siemlich  verwässerter  Form  wdthin  accqpcieit 
wurde,  während  sie  als  Ganses  erst  am  Beginn  ihrer  Wirksamkeit  steht 

Der  Vortragende  geht  nun  auf  eine  speziellere  Darstellung  der  Fech- 
ner'schen  Leistungen  ein,  die  hier  nur  kurz  angedeutet  werden  kann. 

Er  schildert  ihn  zunächst  als  den  Begründer  der  P  s  y  c  h  o  p  h  y  s  i  k : 
wie  er  von  der  rein  objektiven  Physik  ^^Elektrizität)  zu  der  mit  subjektiver 
Bedeutung  (Optik)  überging,  wie  ihm  altmalig.  gewohnt  an  Alles  Maas- 
methoden  ansul^en,  das  psychophysische  Grundproblem  in  allgemeinster  Form 
aufging:  Weldie  Massbedehungen  bestehen  swischen  Reizen  und  Empfin- 
dungen? —  wie  er  hier,  gleichsam  nii<^  (]em  Nichts,  das  System  der  Be- 
griffe- Schwelle,  Untcrschicdsschwelle,  i-niptindlichkeit  etc.,  die  Reibe  der 
Methoden  und  schliesslich  jenes  universelle  Gesetz  entwickelte,  das  er  nach 
Ernst  Heinrich  Weber  benannte,  das  aber  heut  nach  Gebühr  seinen  Namen 


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406 


SiUungsbtfidUe^ 


mitträgt.  Auf  die  kritischen  Bemerkungen  des  Vortragenden  zu  diesem 
Gesets,  insbesondere  auf  die  Forderung,  dass  man  nicht  nur  inuner  nach 
seiner  kausalen  Deutung,  sondern  vor  allem  nach  seiner  teleologi- 
schen Bedeutung  die  Frage  stellen  solle,  kann  hier  nicht  eingegangen 

werden. 

Fechner's  Psychophysik  ist  über  sich  selbst  hinausgewachsen.  Sie  hat  sich 
nicht  gehalten  als  die  besondere  Wissenschaft  von  den  Beziehungen  swischen 
Reiz  und  Empfindung.  Aber  indem  sie  zurücktrat,  wurde  sie  die  Mutter 
einer  neuen  bedeutsamen  Wissenschaft :  der  Experimcntalpsychologie  —  und 
die  Helferin  einer  andern:  der  Sinnesphysioloi;ie.  Die  Worte  Fechner's 
zu  Wundt,  als  dieser  sein  Laboratorium  bcf^ründete:  „Wenn  Sie  die  Saclie 
so  im  Grossen  betreiben,  werden  sie  in  wenigen  Jahren  mit  der  ganzen 
Psychophysik  fertig  sein"  —  sie  haben  sich  bewahriidtet  im  Sinn  der 
engeren  Psychophysik,  aber  nicht  in  dem  der  experimentellen  Psychologie. 
Und  heute,  da  diese  Wissenschaft  in  voller  Blüte  steht,  ist  unsere  dankbare 
Bewimdprunp  doppelt  gross  für  den  Mann,  der  sie  als  erster  gefrflegt  — 
ohne  Laboratorium,  ohne  Apparate,  ohne  Assistenten!  — 

Nach  einer  nur  zum  Teil  ähnlichen  Richtung  hin  liegen  seine  ästhe- 
tischen Leistungen.  Der  starke,  künstlerische  Zug  Fechner's,  der  sieb 
allezeit  in  Dichtungen,  Satyren  und  zahlreichen  Kunstkritik^  kundgab, 
kristallisierte  sich  schliesslich  wissenschaftlich  zu  seiner  „Vorschule  der  Aesthe- 
tik".  die  wiederum  diesem  Gebiet  neue  Wege  wies.  Er  proklamiert  hier 
Uf^eniiber  der  ide.ilisti-ch-iiu'taphysischen  Aesthctik  .,von  oben"  —  die 
ubrigeiiü  darum  nicht  verworfen  wird  —  eine  empirische  Aesthetik  „von 
unten",  die  von  den  einfachsten  Elementen  der  WohlgefiUligkeit  au^hen 
soll,  schildert  eine  Reihe  von  Prinzipien  des  Wohlgefallens,  von  denen  die 
Scheidung  des  direkten"  und  „assoziativen"  Faktors  am  mcbten  weiter- 
wirkte,  und  entwickelt  wieder  eine  Mcthodenlehre.  in  der  das  Experiment 
die  Hauptrolle  spielt  und  sofort  in  den  bekannten  Untersuchimgen  über 
den  goldenen  Schnitt  eine  fruchtbare  Anwendung  erfährt.  — 

Der  Vortragende  geht  endlich  zum  Philosophen  Fechner  über; 
ist  doch  schliesslich  die  ganze  Fragestellung  seiner  Psychophysik  nur  aus 
seiner  Metaphysik  völlig  zu  verstehen,  und  ist  doch  sein  ästhetischer  Zug 
vielleicht  bedeutender  als  in  Dichtung  und  ästhetischer  Theorie  in  seiner 
Weltanschauung  zum  Ausdruck  gelangt.  Eine  Tagesanstcht  will  er 
gegenüber  der  berrsdienden  Nachtansicht  verfechten,  jener  Idmme- 
rischen  Lehre,  die  aus  der  Welt  mit  Ausnahme  der  wenigen  Menschen  und 
Tiere  das  Geistige  entfernen,  die  aus  dem  All  ein  stummes  sinnloses  Spiel 
von  Bewegungen  machen,  die  alles  Leuchten  und  Tönen,  alle  Farbe  und 
Wärme,  kurz  alle  Qualität  zu  einer  Illusion  herabsetzen  will,  die 
entweder  einen  Gott  überhaupt  nicht  kennt  oder  nur  einen  solchen,  der 
von  aussen  stösst. 

Was  aber  lehrt  die  Tagesansicht?  In  der  physischen  Welt  cu- 
nächst  herrscht  überall  strenge  Gesetzmässigkeit,  Aber  diese  Gesetzmässig- 
keit ist  nicht  mechanisch  in  dem  Sinne,  dass  sie  hlos  durch  das  Aneinander- 
und  Aufeinanderwirken  der  Teile  und  die  in  diesen  Teilen  schon  vor- 
handenen Kräfte  eridart  werden  könnte.  Gesetz  besteht  überhaupt  nur  uu 
Miteinander,  im  System,  und  so  bilden  sich  denn  soldie  Verbindungen 


uiLjiiizuü  Dy  Google 


SitsungsberuhU. 


407 


gcseizmassiger  Verknüpfung,  in  denen  nicht  nur  Teil  auf  Teil,  sondern  Teil 
auf  Ganzes  und  Ganzes  auf  Teil  wirkt :  so  die  chemische  Verbindung, 
ao  die  Pflanze,  das  Tier,  der  Mcns:h,  die  Erde,  das  Planetensystem,  das 
AU  ^  eine  Stufenfolge  öbereinandefgeschichtet«  Einheiten.  Das  gesetzmSssige 
Ptiniip  aber»  das  in  jeder  dieser  Einheiten  wirkt  ist  die  ideologische 
Tendenz  zur  Stabilität. 

Auf  der  psychischen  Seite  ein  gleiches  Bild ;  denn  zwischen 
dem  Materiellen  und  dem  Geistigen  besteht  vollendeter  Paraiielismus. 
£s  ist  dasselbe  System,  das  sich  als  physisch  darstellt,  sofern  es  einem 
Anden^  als  psydiiadi,  sofm  es  sich  sdbst  gegeben  ist.  Nichts  existiert 
nur  materiell,  nichts  nur  psychisch.  Was  äusserlich  Vielheit  materieller 
Teile,  ist  innerlich  Einheit  des  Bewusstseins.  Und  wie  im  Physischen, 
findet  sich  auch  im  Psychischen  die  Uebereinanderstufung  der  Bewusstseins- 
einheiten:  die  Glieder  und  Organe.  Individuen  niederer  Ordnung,  sind 
inbegriffen  in  der  höheren  Einheit  des  Menschen;  die  Menschen,  Tiere, 
PQanzen  —  auch  die  letzteren  sind  beseelt  —  gehen  auf  in  der  höheren 
Einheit  der  Erde  —  denn  die  Gestirne  sind  gleichfalls  lebendige  seelische 
Individuen  —  und  schliesslich  umfasst  Gott  alle  niederen  Einheiten  als 
universellste  Einheit  —  alle  Bewusstseine  als  Allbewusstsdn«  als  höchste 
Persönlichkeit ! 

Durch  zwei  Punkte  unterscheidet  sich  der  Fechner'sche  Parallelismus  von 
dem  heut  vorherrschenden  empiristischen :  F.  hat  den  Mut  der  Conscquenz, 
den  Paraiielismus  auf  alles  Existierende  durchzuführen,  wodurch  dieser  zwar 
metaphysisch  aber  wenigstens  ohne  logische  Sprünge  ist  und  F.  sieht 
das  Problem  der  Individualisierung  von  Bewussiseinseinheiten,  wenn 
er  es  auch  nicht  löst  —  ein  Problem,  das  die  heutige  parallelistische 
Theorie  meist  i?rnoriert,  weil  sie  ihre  Unzulänglichkeit  ihm  gegenüber  ahnt. 

Da«»  19.  Jalirbundert  hat  vor  allein  Kcchner  den  Psychophysiker  ge 
kaiint   und  geehrt;  das  2U.  jaiirhundert,  an  dessen  Beginn  nach  langer 
Karens  die  metaphysische  Sehnsucht  des  Menschen  wieder  dch  xu  regen 
wagt,  wird  vor  allem  Fechner  den  Philosophen  verstehen  und  lieben. 


Akademischer  Verein  für  Pfiychologie 

zu  Mflnchen. 

Der  Verein  begann  seine  Sitzungen  im  Winter  semester  am  "i  o- 
vembcr.  Auf  13  Abende  verteilten  sich  Vorträge  und  Diskussionen  in 
folgender  Weise: 

8,  November;  Herr  Professor  Dr.  Lipps:  „Ueber  Unterordnung". 

9.  tNovember:  Herr  Professor  Dr.  Zoll  mann:  »^ur  Frage  der  „Ge* 

staltsqualitaten". 

16.  November :  Herr  cand.  philos.  v.  Aster:  „Zur  Psychologie  des  Gefühls". 

November:  Herr  Dr.  phil.  Ettlinger:  ..lieber  Ausdrucksbewegungen". 
30.  November:  Herr  cand.  phili».  Geiger:  „Das  UnbewusstPsychische". 


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408  SUumgabtiieklt, 

14.  Dezember :  Herr  Professor  Dr.  Lipps:  „Die  Formen  der  ästhetisch«^ 
Apperceptkm.*'. 

U.    Jamiar:  Herr  caad.  ^AäkxB.  v.  Frycs:  ,,Das  Wtedeieiteiiieii". 

25.  Januar :  Herr  cand  philos.  XI  a  1 1  i  n  g  e  r :  ,^iiin  Streit  über  das  Probkn 

der  Ethik". 

i.  Februar    Diskussion  über  das  Grundproblem  der  Ethik.  (Refereot:  Herr 

cand.  philos.  G  a  1 1  i  n  g  e  r.) 
8.  Februar:  Dükuai^oa  über  da»  Wesen  des  logisdien  UneUs.  (Refemt:- 

Herr  cand.  philos.  Daubert.) 
16.  Februar    Herr  cand.  philos.  Huber:  „lieber  die  Bedeutung  der  Kate- 
gorien für  das  UrtL-il" 
22.  Februar:  Diskussion  über  dt-n  Bcgrifl  der  Substanz  bei  Hume.  (Referent: 
Herr  cand.  phüos.  Feig  s.) 
1,  Man:  Herr  Privatdozent  Dr.  Pfänder:  „Das  objektiv  Wirkliche". 
Am  1.  Märs  wurde  das  Semester  geschlossen.    Am  90.  November 
legte  Herr  Dr.  Ettling  er  tu  allgemeinem  Bedauern  den  Vorsits  nieder 
und  es  w  urde  an  seiner  Stelle  Herr  v.  Aster  zum  Vorsitzenden  gewählt, 
für  den  Herr  Hirsch  das  Amt  des  Schriftführers  übernahm.  Dieselben, 
sowie  der  Kassenwart,  Herr  Feigs,  werden  für  das  Sommer-Semester 
wiedergewählt. 


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Berichte  und  Besprechungen. 


Das  Recht  der  Persönlichkeit  in  Schulamt  und  Schul- 
leben.    Von  Wilhelm  Münch.    Sonder  .Abdruck  aus 

Lehrproben  und  Lehrgänge»  1901,  8.  Heft«  Halle  a.  S. 
Verlag  der    Buchhandlung  des  Waisenhauses,  190L. 

Das  Recht  der  Persönlichkeit  ist  mit  dieser  selbst  gegeben;  ihre 
natürliche  Grundlage  »st  die  Individualität,  die  aber  ethisch  indifferent  ist. 
Die  Persönlichkeit  ist  gewisserinasscu  organisierte  Individualität;  sie  ist 
jedoch  nicht  daasdbe  wie  Charakter»  eoodem  flüssiger  und  beweglidier 
als  dieser.  Jedes  Amt  hemmt  das  Recht  der  Persönlichkeit  in  etwas,  denn 
es  verlangt  Pflichttreue  und  korrekte  Lebensführung,  oder  weiter  ausgeführt : 
Ehrlichkeit,  Zuverlässigkeit.  Gewissenhaftigkeit  —  Diskretion,  Arbeits- 
willtgkeit,  Einordnung  —  Loyalität,  bürgerliche  Korrektheit,  moralische 
Würde.  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  nicht  auch  in  vielen  Fällen  die 
EiH^tung  der  eigensten  Seelenkrafte  mit  den  Bedürfnissen  des  Amtes 
harmonieren  wird.  Aber  m  gewissen  Stunden  werden  sie  doch  als  unbequ^e 
Fesseln  empfunden  werden.  Ist  denn  die  Unparteilichkeit  in  der  Praxis 
so  leicht  zu  handhaben,  wie  in  der  Theorie?  Gewähren  denn  der  Klein- 
dienst und  die  elementare  Arbeit  des  Tages  innere  Befriedigung?  Fällt  es 
kräftigen  Naturen  nicht  zuweilen  schwer,  sich  der  Disciplin  zu  fügen? 
Ueber  einer  echten  Persönlichkeit  dürfen  die  Wellen  des  Amtes  trotzdem 
nicht  lusammenschlagen.  Sie  werden  es  nicht,  wenn  nicht  Schrottheit  der 
Vorgesetzten  die  Untergd>enen  lihmt,  wenn  nicht  ein  Uebermass  von  Arbeit 
erdrückend  wird,  wenn  nicht  die  Schablone  den  Gesichtslueis  hemmt. 

Und  wie  stehen  Persönlichkeit  und  Methode  2U  einander?  Diese 
lasst  nur  weniv(  IVeiheit  der  natürlichen  Bewegung.  Ihre  Normen,  die 
aus  dem  Nachdenken  über  das  Wesen  des  Unterrichtsstoffes,  über  Zweck 
und  Ziele  des  Unterrichts,  über  die  Thatsachen  der  Psychologie  hervor- 
gegangen sind,  fordern  Befolgung.  Persönlichkeit  und  Methode  bilden  dem- 
nach auch  keinen  Gegensatz,  vielmehr  geht  die  wahre  Handhabung  der 
Methode  allmählich  in  persönliche  Kunst  über.  Darm  wird  die  Arbeit  des 
Lehrers  zugleich  erzieherisch  wertvoll.  Durch  korrekte  Massnahmen,  durch 
Ik'bermittelung  von  Anschauungen  und  Gedanken  und  Einweisung  auf  die 
Lebensziele  wird  man  noch  kein  vollendeter  J  ugcndlehrer,  wenn  nicht  die 
eigentümliche  Kraft  vorhanden  ist,  auf  Menschen  su  wirken,  wenn  es  an  der 
erzitherischen  Persönlichkeit  fehlt. 

Diese  kurze  Wiedergabe  des  Vonrages  lässt  wohl  erkennen,  deas  es 
sich  um  allgemein  wertvolle  und  geistreiche  Ausführungen  handele 

Berlin,  W.  Krause. 


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410  BetieMt  tmd  AMfrtcktmgm, 


Jahrbuch  der  Krüppclfürsorge,  herausgegeben  von  D, 
Theodor  Schäfer.  L  Jahrgang.  1899.  Mit  5  Voll-  und 
2  T  exthtldern.  2.  Auflage.  Hamburg.  1900.  Agentur  des 

Rauhen  Hauses. 

Der  Verfasser  leitet  seine  Abhandlung  mit  einem  Ruckblick  auf  du- 
ersten  Anfänge  der  systematischen  Krüppelfürsorge  ein.  Als  man  in  Kopen 
hagen  sich  der  Krüppel  anzunehmen  begann,  kannte  man  45  solcher 
Leidenden,  13  Jahre  sp<atcr  waren  es  schon  1492,  und  heute  schätzt  man 
ihxt  Zahl  auf  600000.  Wie  auf  so  vielen  Gebieten  der  Erziehung,  des 
Utttenidits  und  der  Pflege  ist  auch  hier  die  christlidie  Seelsoige  bahn- 
brechend vorgegangen.  Da  als  Folge  der  körperlichen  Missbildungen  meist 
seelische  Verunstaltungen  und  Dcfcktt*  auftreten,  so  darf  es  uns  nicht 
Wimder  nehmen,  wenn  der  Geistliche  hier  dem  Mediziner  und  dem  Staats 
vaaam  vorgegriffen  hat.  Wie  es  in  der  Seele  eines  verkrüppelten  Menschen 
kindes  aiusi^,  schildert  in  treffend«-  Weise  an  dieser  &elle  Pastor  Hoppe, 
der  Vorsteher  der  Kruppelanstatt  in  Nowawes.  Er  zeigt,  wie  jene  traurigen 
Folgen  schon  in  dem  frühesten  Alter  mit,  man  inüchtc  s^ij^cn,  grausamer 
Gesetzmässigkeit  sich  einstellen  und  das  betroffene  Geschöpf  fast  von  der 
Wiege  an  eine  Leidensgeschichte  durchlebt.  Mannigfaltige  Beispiele,  die 
der  Verfasser  anführt,  illustrieren  dieses  ergreifende  Bild  und  überführen 
uns  noch  mehr  von  der  Pflicht,  hier  Abhilfe  zu  schaffen.  Die  Lichtblicke 
in  der  vereinzelt  dastehenden  Thätigkeit  der  Geistlichen  führten  endlich 
zu  der  Gründung  staatlich  unterstützter  Heilanstalten,  deren  geschidiliche 
Entwicklung  der  Verfasser  darstellt.  Ausgehend  von  der  Mutteranstalt  in 
Kopenhagen,  die  ihr  Entstehen  jenem  p^rossen,  liebe-  und  krafivollen  ^Tanne, 
dem  Pastor  Knudscn  verdankt,  machte  auch  in  Deutschland  die  neue  Be- 
wegung Fortschritte.  Dieser  stellt  ein  dreifaches  Ziel  auf:  erst,  wo  e» 
angemessen  ist,  die  Verkrüppelten  ganz  oder  teilweise  zu  heilen;  zweitens 
zu  erziehen  und  endlich  zu  verpflegen.  Er  zeigt  theoretisch  und  an  der 
Hand  von  Beispielen,  sowie  statistisch,  wie  die  beiden  letzteren  Ziele  sich 
notwendig  dem  ersten  anschliessen  mussten  und  welch  grosser  S^en  dadurch 
gestiftet  wird 

Bewunderung  erfasst  jeden  Leser  und  das  Gefühl  amigster  Mitfreude 
bei  dem  Berichte  über  die  Erziehung  der  Hertha  Schulz,  bei  dem  gläiueuden 
Erfolge  menschlichen  Wirkens,  das  ein  der  drei  Hauptsinne  beraubtes 
und  somit  fast  vom  Leben  ausgeschlossenes  Wesen  diesem  wieder 
zurückgiebt,  es  fähig  macht,  st^ar  an  einigen  Freuden  desselben  teilzunehmen. 
Hierin  liegt  ?u:^I'Mr!i  i\-r  augenfällige  Beweis  für  das  grosse  Verdienst 
des  Begründers  tier  Krupjjelversorgung,  des  Pastors  Knudscn.  dessen  Leben 
und  Wirken  der  Verfasser  als  zweiten  Teil  seines  Jahrbuches  behandelt 
Er  hat  das  Fundament  gelegt,  auf  weldiem  derart^  Resukate  enidt 
werden  konnten.  Die  Schrift  wird  ihren  Zweck  nicht  verfehlen:  ein  klares, 
lebendiges  BUd  von  der  Bedeutung  sowohl,  wie  von  den  Fortschritten 
der  Krüppelversorgung  vor  Ai^^  zu  stellen  und  für  die  gute  Sache  Weiter 
zu  werben. 

Berlin.  £d.  Banasch. 


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411 


juhauii  ^irnos  Comenius,  heraus g.  von  Prof.  Dr.  Eugeu 
Pappenheim.    Gre  ssters  Klassiker  der  Pädagogik. 
Bd.  XV.  —  I.  Teil.   Lebensabriss,  lerner  die  „Grosse 
Lehrkunst**,  aus  den  Lateinischen  übersetit.  8.  Auf- 
lage. Langensalza.  Ladenpreis  3,50  M. 
Im  Vorwort  zur  ersten  Auflage  (l-'^yi)  sagt  der  Herausgeber,  dass  er  die 
„(.rosse  Lchrkunst"  in  selbständiger,  wortgetreuer  und  vollständiger  Ueber- 
Setzung  nach  dem  lateinischen  Text  des  Jahres  1657  bringe.  P.  "fügt  auch, 
wo  es  notig  erschektt«  erläuternde  Anmerkungen  hinxu.  In  einer  Zeit,  wo 
man  die  idealen  Ziele  Comenius'  von  allgemeineren  Genchtspunkten  su 
würdigen  und  auf  der  anderen  Seite  die  fruchtbare  Tiefe  seiner  pädagogischen 
Lehren  or*^^  zu  verstehen  beginnt,  bedarf  diese  «seine  bedeutendste  Schrift 
kaum     l  ur  besonderen  Empfehlung,  es  sei  denn,  dass  man  die  Klarheit 
und  Sci)i>iiheu  der  Uebersetzung  hervorhebe. 


Zeitschrift  für  Schulgesundheitspflege.  Begründet 
von  Dr.  L.  Kotelmami.  Redigiert  von  Professor  Dr.  Fr.  Erismami  in 
Zürich.  Verlag  von  Leopold  Voss  in  Hamburg. 

12.  Jahrgang  1899,  Heft  I-^IS,  8».  769  S.  u.  13.  Jahrgang  1900, 
Heft  1—12.         734  S. 

„Entstehung  u.  V  f  r  h  u  t  u  n  g  nervöser  Zustände  bei 
Schulern  höherer  Lehranstalten"  von  Dr.  C.  Schmid-Monnard. 
Der  Verfasser  gicbt  verschiedene  Gründe  für  die  Entstehung  der  Nervo- 
sität an,  die  unabhängig  von  der  Schule  wirksam  sind,  bei  körperlich 
schwachen,  bei  rekonvaleszenten,  bei  rasch  in  die  Länge  gewachsenen,  "und 
bei  .solchen  Schülern,  cli(>  st:hon  von  Haus  aus  durch  Vererbung  odt-r  durch 
verzärtelte  Erziehung  nervös  sind  I.r  glaubt,  dass  diesen  iMnflussen  des 
Alitagslebens  in  ihren  schädlichen  Wirkungen  schwer  entgegen  zu  treten 
sei.  Er  weist  dagegen  die  Schuld  für  die  durch  die  Schule  bedingten 
Ursachen,  wie  das  übergrosse  Pensum,  die  UeberfüUung  mit  Stoff  und 
die  grosse,  geforderte  obligatorische  Arbdtsseit,  den  VerwaltUDgen  und  Be- 
hörden zu,  in  denen  nur  Juristen  und  Altphilologen  aber  keine  Hygieniker 
sitzen.  Zur  Bcseititnmg  dieser  Zustände  giebt  er  die  verschiedensten  .Vor- 
schläge an,  besonders  aber  verlangt  er  die  Konzentratjun  des  Lernpensums 
auf  den  Vormittag,  wo  dieser  nicht  ausreicht,  eine  Verringerung,  ferner 
eine  Veränderung  und  Entlastung  des  Lehrphms. 

„Das  Gebor  und  seine  Pflege"  von  Dr.  F.  Pluder,  Ohren- 
arzt in  Hamburg.  P.  bespricht  den  Wert  des  Gehörs  als  Sinnesorgan  an 
sieh  lind  dann  iin  W  rgleK  Ii  zu  den  anderen,  wie  Auge  und  Nase.  Er 
druckt  sein  Bedauern  darüber  aus,  dass  noch  in  den  weitesten  Kreisen 
die  Grundzüge  einer  guten  Pflege  des  Gehörs  vmd  seines  Organs  zu  iwenig 
bekamit  und  gewürdigt  sind,  und  dass,  wo  etwas  gethan  wird,  es  mebtens 
m  so  fahcher  Weise  geschieht,  dass  msbt  Schaden  als  Nutsen  daraus 
entsteht.  Deshalb  wünscht  er,  dass  schon  in  den  Schulen  einiges  Auf- 
klärendes über  die  gute  Pflege  des  Gehörorgans  mitgeteilt  werde,  Bei  der 
Besprechimg  der  Hygiene  des  Gehörorgans  gebt  er  von  den  verschiedenen 


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LoboiMlteiii  aus»  -von  dem  Säuglingsalter,  vom  kindlichen  und  Schnlatler» 
in  dem  die  Affekiiaiien  der  obersten  Atmungswege  ihren  nachteiligen  £tD- 
fltiss  besonders  geltend  machen,  und  der  gute  Zustand  von  'Nase,  Mund 
und  Rachen,  das  erste  Erfordernis  einer  gesunden  Hygiene  des  Gehör 
Organs  sei.  Er  empfiehlt  deshalb  hirr  ptne  besondere  firztliche  Aufsicht 
und  eine  allgemeine  Abhärtung  des  Korpers  schon  vom  zweiten  Lebeiü 
jähre  ab.  Bei  Erwachsenen  kommt  der  Beruf  bei  der  Pflege  des  Ohres 
sehr  in  Betracht»  so  giebt  es  Berufszweige,  die  ein  tadelloses  feines  Gdior 
beanspruchen,  und  andere,  die  ein  gutes,  kräftiges  Gehörorgan  voraus- 
senen,  um  den  schädlichen  Einflüssen  der  Beschäftigung  zu  widersteh». 

..Ueber  die  ,,G  e  i  s  t  e  s  s  t  ö  r  u  n  g  c  n  unter  den  Schulkin. 
d  e  r  n"  schreibt  Rektor  ü.  Hintz  Berlin,  da-ss  die  geistigen  Störungen  ,zum 
Teil  auf  Störungen  gewisser  Sinnesorgane  zurückzuführen  seien,  andere 
als  Gedankenflucbt,  Zwangsideen  und  Hallusinationen  su  bezeichnen  sind, 
auch  spiele  das  moralische  Irresein  enie  wichtige  Rolle.  Er  enqifiehlt 
die  Einrichtung  von  Nebenldassen,  wie  sie  Berliner  Gemeindeschulen  be- 
sitzen, zur  Unterbringung  dieser  Schulkinder  und  zieht  sie  den  sogenannten 
Hilfsschulen  und  Klassen  vor,  weil  den  Schülern  dadurch  der  Stempe!  d<'r 
Minderwertigkeit,  den  wir  im  praktischen  Leben  diesen  weniger  Begabten 
beizulegen  beheben,  genommen  wird,  was  von  grossem  Werte  bei  cni 
lassenen  Schülera  sein  kann,  denn  leider  wird  der  Mensch  im;  Leben  nidit 
immer  nach  dem  beurteilt,  was  er  ist,  sondern  oft  nach  dem,  was  er  zu 
sein  scheint. 

In  dem  Aufsatz  „Ueber  den  Einfluss  der  Steilschrilt 
auf   die   Augen   und   Schreibhaltung    der  Karlsruher 

\'"olksschuljugend"  stellt  der  Karlsruher  Augenarzt  Dr.  Gelpke  Ver- 
gleiche an  über  die  bisherigen  Ergebnisse  seiner  in  grossem  Umfange 
gemachten  Untersuchungen  aus  den  jähren  1HH7  und  1897,  nachdem  1891 
die  Steilschrift  obligatorisch  emgeführt  worden  war.  Er  zieht  auch  die 
Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  in  einer  Schule,  in  der  noch  .die  Schräg- 
schrift gelehrt  wurde,  in  Betracht;  so  kommt  er  bei  der  Betrachtung 
des  in  Tabellen  geordneten  umfangreichen  Materials  dahin,  dass  die  Stell« 
Schrift  auf  die  Augen  einen  wenig  zu  bemerkenden,  bessernden  Einfluss 
ausgeübt  hätte,  dass  sie  aber  eine  ganz  bedeutend  bessere  Schreibhaltung, 
in  Hezug  auf  Kopf,  Schultern  und  Korper,  herbeigeführt  hätte.  Zum  Schluss 
wirft  er  die  Frage  auf,  ob  schon  alles  Mögliche  in  dieser  Richtung  hin 
geschehen  sei,  und  giebt  noch  einzelne  Ratschläge,  um  dem  Ideal  näher 
zu  kommen. 

Der  Krcisphysikus  Dr.   Berger  in  Neustadt  am  Rübenberge  ^Han 
nover)  sagt  in  seiner  Abhandlung  „Die  Bekämpfung  der  Tuber- 
kulose in  der  Schule**,  dass  die  Prophylaxe  wohl  der  wichiigste 
Faktor  in  der  Bekinpfung  dieser  Krankheit  sei,  und  ihm  Hodi  viel  mehr  Ge- 
wicht als  bisher  beizulegen  sei.  Vorbedingungen  dazu  seien  natürlich  möglichst 
hygienisch  eingerichtete  S' hulj^efiäude  und  Aufstellung  von  vielen  zweck 
massigen  Spucknapfen ;  es  sollten  ferner  keine  tuberkulösen  Lehrer  unter- 
richten, die  Kinder  müssten  in  gesundheitlichen  Dingen  vielmehr  imter- 
wiesen  und  es  sollte  auch  auf  ihr  häusliches  Leben  ehigewirkt  werden  und 


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BtwitkU  und  Besprechungen, 


413 


zwar  dadurch,  dass  die  Ehern  mit  der  rationellen  Bekämpfung  der  Krank- 
heit vertrant  gemacht  werden. 

A«t  dem  Aufsatz  des  Dr.  med.  Julius  HoMS  über  „D  i  e  Neuorgani- 
sation  der  Volksschulen  in  \f  a  n  n  h  e  i  ni"  erfahren  wir,  dass 
der  dortig**  Stadtschulrat  Dr.  Siekinger  eine  Dreiteilung  der  Volksschulen 
verlangt,  und  2war  eine  Abteilung  mit  höher  gesteckten  Lehrzielen  für 
GuAefähigte,  eine  i»eite  Abteilung  mit  geringeren  AnspfüdMi  ffir  die 
SdnvidierbdSbigten  und  dann  eine  dritta  Abtetlmiig,  die  sogenannten  „Hills- 
Uatfen**  fttr  die  anormal  Begabten. 

Ucbcr  „die  üeberbürdung  der  Lehrer"  schreibt  Dr. 
Sdunkl-Monard*  und  verlangt  aus  mehreren  Gründen  die  Herabsetzung 
der  Marimalstttndfsiiahl  für  Lehrer  von  24  auf  16—18  Stunden  pro  Woche. 

„K örperliche  und  geistige  Früh,  und  Spätentwick- 
lung" von  Dr.  med.  Bauer,  Senünararzi  in  Schwäbisch  Gmünd.  Der 
Verfasser  ist  der  Meinung,  dass  man  den  SchuUdndem  im  Pubertätsalter 
mehr  korperlidie  Bewegung  verschaffen  müsse»  dann  wftre  die  voneitige 
Ausschulung  der  Frühreifen,  wie  es  z.  B.  bei  den  »Mädchen  sehr  oft  der 
Fall  ist,  nicht  m  hr  nötig.  Für  die  körperlii  h  Zurückgebliebenen,  also 
Schwächlinge  und  Krüppel,  verlangt  er  ebenso  wie  für  die  geistig  inferioren 
Kinder  Nebenklassen  nach  dem  Berliner  System,  damit  beide  Teile  «eine 
indiiridttellere.  Erziehung  erfahren. 

Zu  der  noch  immer  ungelösten  „Schularzt frag  e"  schreiben  ver- 
sdiiedene  Autoren  und  legen  ihre  Ansichten  darüber  Uar,  so  z.  B.  Pro« 
fessor  E.  v.  Esmarch .  Königsberg  m  Preussen,  der  uns  seine  auf  einem 
rnspektionsj^ange  durch  die  Königsherger  \'(<lls  und  Bürgerschulen  gc 
machten  Beobachttmgen  mitteilt,  dann  Protessor  Schüler,  der  noch  mehr 
Gewicht  auf  die  ausreichende  hygienische  Vor-  und  AusbUdung  des  Lehrer- 
standes gelegt  wissen  will  und  Dr.  Paul  Schubert,  der  die  Verstaatitchimg 
des  ganzen  Systems  verlangt,  damit  die  ganze  Allgemeinheit,  so  ^.  B.  auch 
die  Uieineren,  weniger  bemittelten  Gemeinden,  Nutzen  von  dieser  Einrich- 
tung hätte. 

13.  Jahrgang:  1900. 

,,Z  u  r  P  r  o  p  h  !  .1  X  c  der  S  c  h  u  I  e  {)  e  d  e  ni  i  e  n"  schreibt  Dr, 
Steinhardt.  Kinderarzt  und  städtischer  Srhular/t  in  Nürnberg.  Kr  glaubt, 
dass  im  Interesse  der  Schulhygiene  ein  groäücr  Schrat  vorwärts  gethan 
sei,  wenn  folgende  drei  Punkte  viel  strenger  durchgeführt  würden:  1)  strikte 
Anzeigepflicht  der  Eltern  bezw.  der  behandelnden  Aerzt«;  2)  möglichst 
frühzeitige  Ausscheidung  infektiös  erkranicter  Kinder  atis  der  Schule  durch 
schulärztliche  Untersuchung;  3)  Femhaltung  der  Rekonvaleszenten  aus  der 
Schule,  solange  Verschleppux^  der  Krankheitskeime  durch  sie  noch  als 
möglich  anzunehmen  ist. 

„Die    Mttnchner   Thesen    zur    Schulreform*',    die  von 

Grie^harh  und  Herbcrich  aufgestellt  wurden,  haben  eine  sehr  grosse  Pole- 
mik hervorgerufen.  Kotelmajin- Hamburg  weist  in  seinen  kritischen  Be- 
merkungen zu  diesen  Thesen  statistisch  nach,  dass  die  Gymnasialabiturienten 


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pnMentisch  vid  bessere  Eicamma  bd  der  Prüfung  für  das  höhere  Lehr- 
fach in  den  naturwissenschaftlichen  Fächern  ablegen  als  die  Realgymnasial- 
ablturienten.    Herberich  will  das  dadurch  erklärt  wissen,  dass  die  Real- 

gymnasiastcn  ihr  Studium  gezwungen  oft  ohne  besondere  innere  Neigung 
ergreifen  müssen,  da  ihnen  nur  diese  Fakultät  offen  steht.  Kotelmann 
erklärt  es  dagegen  mit  folgenden  beiden  Ursachen,  erstens  hat  das  Real 
gymnasium  im  grossen  und  ganien  ein  weniger  begabtes  Sdiulermakerial, 
zweitens  besuchen  die  Realgynmasialabiturienten  die  UniversitätscoUegs  sdir 
mässig,  weil  ihnen  als  Vorgeschrittene  dieselben  anfänglich  nicht  viel  Inter- 
esse abgewinnen  können,  sie  aber  dadurch  sdion  sehr  vieles  versäumen. 

„Zur  Frage  über  die  normale  geistige  Arbeit"  von  Dr 
A.  Netschajeff.  ]^er  Verfasser  geht  davon  aus,  dass  die  bish^rit^fn  Unter, 
suchungen  über  die  normale  Arbeitsdauer  der  Schüler  alle  an  t'iiiein  (.^lund- 
fehlcr  litten,  da  sie  nämlich  nur  den  Zustand  der  Schüler  vor  und  nach 
ihrer  Arbeit  ins  Auge  fassen,  während  die  Arbeit  selbst  t>hre  Quantität 
und  wirkliche  Dauer)  unerforscht  bleibt.  Da  nun  nach  dieser  Ricfatmig 
hin  noch  keine  Untersuchungen  gemacht  worden  sind,  so  teilt  er  uns 
die  Ergebnisse  scinnr  Sell^stbeobachtungcn  mit,  bei  denen  sein  Zweck  -war, 
die  Beziehung  zwischen  den  Schwankungen  in  der  Dauer  der  täglichen 
Arbeitszeit  (Intensität  der  Arbeit)  und  der  Schlaf-  und  Bewegungsdauer, 
sowie  das  Verhältnis  bestimmter  Tage  zu  einer  ganzen  Arbeitsperiode  zu  er- 
griinden.  Bei  diesen  Untersuchungen  galt  ihm  als  Grenze  der  ^pnonnalen 
Tagesarbeit"  ein  solcher  Zustand  der  EnnSdiwg,  der  ein  charakteristisdies 
Gefühl  der  „Uebersättigung"  mit  sich  führte;  femer  unterschied  er  jMch 
zwei  Arten  von  geistiger  Arbeit,  nämlich  eine  leichte  und  eine  schwere 
oder  wissenschaftliche.  Er  erhielt  .so  folgende  Resultate:  für  ihn  "war  die 
durchschnittliche  Dauer  der  geistigen  Arbeit  im  Laufe  eines  gewöhnlichen 
Werktages  ungefähr  6Vi  Stunde,  wovon  47«  Stunde  auf  schwere  Arbeit 
kamen;  als  die  günstigsten  Arbeitstage  erwiesen  sich  Mittwoch  und  Don- 
nerstag, als  die  schlechtesten  Montag  und  Freitag;  eine  ähnliche  Schwan» 
kung  ergab  sich  auch  im  Laufe  einer  ganzen  Reihe  «von  Wochen,  wenn 
er  die  gesamte  Zahl  der  Arbeitsstunden  verschiedener  Wochen  verglich. 
Ferner  kommt  er  zu  der  Ueberzcugung,  dass  es  einen  Zusammenhang 
zwischen  der  Quantität  der  Arbeitstunden  einerseits  imd  der  Schlaf-  und 
Bewegungsdauer  andrerseits  geben  muss;  so  zeigt  er  uns  die  'ipmittelbare 
Abhängigkeit  der  geistigen  Arbeit  erstais  von  der  Dauer  des  Schlafes 
und  zweitens  von  der  Bewegung.  Er  kommt  weiter  nach  ^Umgestaltung 
seiner  angegebenen  Tabellen  zu  3  ,, normalen"  Reihen,  in  denen  die  ge- 
samte geistige  Arbeit  konstant  ist,  aber  die  Dauer  wissenschaftlicher  Arbeit, 
der  Bewegung  und  des  Schlafes  variabel  smd,  und  aus  denen  die  Abhängig- 
keit dieser  Grössen  von  einander  klar  hervorgeht.  In  dieser  Weke  be« 
rechnet  er  dann  seine  „normale  Arbeitsdauer^',  d.  h.  ^e,  mit  günstigster 
Schlaf,  und  Bewegungsdauer  verbundene  und  den  vom  Gefühl  der  „Ueber- 
Sättigung"  begleiteten  Grad  der  Ermüdung  ausschliesscndc,  grösste  Stun 
dcnzahl  geistiger  Arbeit.  Obwohl  alle  diese  Beobachtungen  durch  seine 
Indjvidualuäi  beeuiflusst  seien,  so  glaubt  er  doch  für  die  Allgemeinheit 
den  Grundsatz  ableiten  zu  können,  dass  einer  produktiven  Arbeit  ein  durch 
aus  bestimmtes  Mass  von  Schlaf  und  Bewegung  entspricht. 


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„Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der  Steilscbrif t- 
bewegung".     Dr.  med.  E.  Lengsdorf  in  Darmstadt  teilt  uns  einige 

sehr  interessante  von  Schulen  und  hörden  des  westlichen  Deutschlands 
über  die  Steilschrift  er«  fällte  Urteile  um.  Die  überwiejjonde  Anzahl  der- 
selben lautet  absprechend,  nur  wenige  sind  für  die  Einführung  der  Steil- 
schrift, während  einige  die  angefangenen  Versuche  fortführen  wollen. 

„l't^ber  Schulstrafen"  knüpft  Direktor  Emanuel  Bayer-Wien 
t  inii^e  Betrachtungen  an  die  vers<  liii  d»  ncn  MinistcriaKerordnungen  und  die 
Erlasse  des  nicderöstcrrcichischen  Laiulsi  luilr.itcs  und  des  Bezirkssrhulratcs 
der  Stadt  Wien  an.  Er  spricht  besonders  über  die  körperliche  Züchtigung 
der  Schüler,  die  schon  seit  1870  auf  den  österreichischen  Volks-  und  Bürger 
schulen  verboten  ist,  und  wünscht  lebhaft  die  Einrichtung  von  sogenannten 
Disziplinarklassen  für  diejenigen  ^ii^illosen  Kinder,  die  noch  kein  mora* 
üsrhes  Delikt  beganj^en  haben,  das  ihre  Ifnlcrbringunt^  in  einer  Besserungs- 
anstalt bedingte.  Er  hofft  auch,  dass  die  Prügelstrafe  bald  aus  dem  l'^r- 
ziehungswcrk  des  Elternhauses  verschwinden  wird,  sobald  nämlich  den 
Eltern  ein  grösseres  Verständnis  für  die  Aufgaben  der  Schule  und  für 
ihre  eigenen  Pflichten  gegenüber  der  Seele  ihres  Kindes  betgebracht  würde. 
Dies  glaubt  er  dadun  Ii  zu  erreichen,  dass  man  der  wissenschaftlichen  Pä- 
dagogik,  deren  Grundlage  Physiologie  imd  Psychologie  ist,  und  der  Srhul. 
hygiene  immer  mehr  Berücksichtigung  in  den  weitesten  Kreisen  verschaffe. 

Erismaan^ürich  teilt  luis  die  Gründung,  die  Entwicklung  im  ersten 
Jahre  und  den  Verlauf  der  ersten  Versammlung  des  „Allgemeinen 

deutschon  \' er  eins  für  S  c  h  ulg  e  s  u  i  '  Ii  e  i  t  s  p  f  1  e  g  e"  in 
Anrhen  iK).  9.  1900)  in  einer  Abhandlung  mit.  Kr  gielit  uns  darin  di« 
Statuten  des  Vereins,  wie  sie  die  Versammlung  annahm,  die  V  orstauds- 
wahlcn,  und  2  Beschlüsse  wieder.  1)  Petition  zur  Abschaffung  der  Ab- 
schlussprüfung in  der  Untersekunda,  und  2)  eine  Kommission  lur  Vor. 
berettung  der  Fragen  über  das  Berechtigungswesen  und  über  die  Erleich- 
terui^  der  Abiturientenprüfung  zu  wählen. 

„Psychologie  in  Bezug  auf  Pädagogik  und  Schul, 
gesundheitspflege"  von  Dr.  med.  Gerhardi,  prakt.  Arst  in 
Lüdenscheid.  In  seinem  in  3  Teile  gegliederten  Aufsatz  bespricht  er  m 
erst  die  Zusammensetzung  des  Gehirns  und  seine  Arbeitsart.  Da  ^ber 
nach  einer  physiologischen  Regel  das  Blut  in  grösserer  Menge  durch  die 
Organe  fliesst,  die  in  besonderer  Thätigkeit  stehen,  so  z.  B.  in  den  Ver- 
dauungsorganen nach  den  Hauptmahlzeiten,  also  demnach  in  dem  Gehini 
ein  Blutmangel  entstehen  muss,  so  kommt  er  lU  dem  Schiusa,  dass  eine 
geistige  Arbeit  cum  pleno  ventre  eine  ebenso  erfolglose  wie  deshalb  über* 
flüssige  Quälerei  für  Lehrer  und  Schüler  sei  Zweitens  bespricht  er  di« 
pf5yrhologischen  Willensvorgängc  und  ihre  Entstehung  aus  Moti\en,  die 
ihrerseits  wieder  eine  ■  Verbindung  von  Vorstellungen  und  Gefühlen  sind, 
und  leitet  für  die  Schulgesundhcitspflege  zwei  Hauptforderungen  ab:  1)  darf 
nidit  atle%  waa  schebibar  fehlerhaft  ist,  alt  bBacr  WiUe^  als  Faulheiti  ala 
vermeidbares  Verhalten  angesehen  werden»  8)  soll  eine  Strafe»  vielleicht 
Zdlsduill  Hr  pUsfpgMie  P^diolatte  rnid  FMbolaife.  6 


416 


lU ruhte  und  Besprechungen. 


für  die  Anschauung  des  jugendlichen  Schülers,  aber  niemals  im  Bcwusst- 
seia  des  Lehrens  als  Vergeltung,  sondern  nur  als  Mittel  zur  Besserung 
in  Anwendung  kommen.  Drittens  stdit  er  eine  psychologische  Betiachtung 
über  den  alt^racUichen  Unterricht  an  und  weist  gans  energisch  die  Be^ 
hauptung  zurück,  dass  die  lateinische  Sprache  das  beste  und  «in  unersetz- 
liches Mitte!  zur  Dressur  des  Verstandes  sei.  Der  gesamte  Inhalt  der 
elementaren  Logik  bilden  Begriff,  Urteil  und  Schluss;  femer  sagt  er  aber, 
dass  die  Ucbung  von  Begriffsbildung  viel  nötiger  als  von  Uneils-  und 
«  Scfalussbildung  sei,  und  dass  dazu  eine  ausgedehnte  Sach*  und  Begriffs- 
kenntnia  nötig  sei.  Er  hofft,  dass  an  Stdle  des  altspradilicben  Unter- 
richts in  der  beneidenswerten  Schule  der  Zukunft  die  Anschauung  als 
Methode,  und  Naturwissenschaften  und  Muttersprache  als  Mittel  zur  Aus» 
bildung  des  Geistes  herrschen  werden. 

In  ^em  Aufsatz  „lieber  die  Ursachen  der  Minder, 
begabung  von  Schulkindern"  teilt  uns  Dr.  Schmid-Monard  Er- 
gebnisse von  Untersuchungen  und  Beobachtungen  in  der  Halleschen  Hilfs- 
schule mit.  Diese  Kinder  sind  nicht  nur  geistig,  sondern  meist  auch  körper- 
lich minderwertig  und  mit  chronischen  Leiden  behaftet,  die  hauptsächlich 
folgende  sind:  1)  angeborene  Mingd  infolge  Vererbong,  S)  durch  ungünstige 
soziale  Verhältnisse  und  dadurch  bedingte  Krankheiten  oder  durch  über« 
standene  Krankheiten  erworbene  Mängel,  3)  drüsige  Wucherungen  im  Nasen- 
rachenräume. Die  Ursachen  können  aber  auch  in  den  häuslichen  V'er 
hältnissen  liegen,  so  zeigt  er  uns  in  einer  Tabelle  den  Einfluss  des  mora- 
lischen Zustandes  der  Eltern  auf  die  Leistungen  der  Kinder. 

Uebcr  Schuleinrichtungen  für  Schwachbegabte 
Kinder"  sogenannte  Hilfsschulen,  wie  sie  jetzt  schon  fast  in  allen  grösseren 
Städten  Deutschlands  beständen,  schreibt  Rektor  Grothe  in  Halle.  Der- 
artige Anstahen  haben  meistens  8^  4  oder  6  aufzeigende  Klassen,  be- 
deutend niedigere  Ldmiele,  weniger  Lehrstundea  und  bestreben  sich,  den 
Zö künden  die  unentbehrlichsten  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  für  das  spilere 
Leben  beizubringen. 

Aus  einem  Vortrage  des  Professors  Dr.  Meumann  über  die  „Anfinge 
und  Ziele  der  experimentellen  I'ädac:oj^ik"  entnehmen  wir 
folgendes:  Die  experimentelle  Pädagogik  stellt  nicht  mehr  den  Lehrenden 
sondern  den  Lernenden  in  den  Mittelpimkt  ihrer  Untersuchungen,  ihr  Ziel 
ist  die  Erforschung  seiner  geistigen  Arbeitskraft,  die  Probleme  ihres  Studiums 
sind  die  Masse  der  Arbeittfahigkeit  und  der  Arbeitsdatier  des  Indlviduunia. 

Auch  in  diesem  Jahrgang  wird  die  „S  c  h  u  1  a  r  z  t  f  r  a  g  e"  noch  ein- 
mal angeschnitten,  so  verlangt  Dr.  Bauer  gerade  entgegen  der  Meinung 
dea  Stadtarztes  Dr.  Knams  die  Einführung  des  Instituts  der  ScbuISnte 
für  Stuttgart  unbedingt.  In  den  Mädchenschulen  Hessen  sich  ja,  bei  dem 
heutigen  Stande  der  Frauenemanzipation,  bald  weibliche  Aente  anstellen. 
Hier  wäre  also  auch  kein  Hinderungsgrund  mehr. 

Berlin.  H.  du  Bois. 


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417 


Leop.  Laquer,  Nervenarzt  in  Frankfurt  a.  M.  „Die  H ilf «schttl en 

für  schwachbefähigte  Kinder,  ihre  ärztliche  und 
soziale  R  e  d  r u  t  u  n  g".  Mit  einem  Geleitwort  von  Dr.  med.  Emil 
Kraepelia,  Professor  der  Psychiatrie  in  Heideiberg.  Wiesbaden.  Verlag 
von  J.  F.  Bergmann.  1901.  62  S. 

Die  Torliegende  Schrift  ist  iiadk  einem  auf  der  XXV.  Wanderver- 
sammlung  der  südwestdeutschen  Neurologen  und  Inenarzte  zu  Baden. 
Baden  am  27,  Mai  1900  gehaltenen  Vortrage  verfasst.  L.,  der  die  schul- 
ärztliche Aufsicht  über  die  städtische  Hilfsschuir  zu  Frankfurt  a.  M.  führt, 
giebt  zunächst  eine  kurze  Schilderung  der  Lntwickelung  und  Organisation 
der  Unterrichts- Anstalten  für  Schwachsinnige  und  Schwachbefähigte  und 
bespricht  dann  eingehender  die  Frankfurter  Hilfsschule^  ihre  Anordnung, 
ihre  Zöglinge,  die  Unterricbtsweise,  den  Stundenplan  u.s.w. 

Uro  der  geistigen  und  körperlichen  Verkümmerung  der  schwach- 
sinnigen und  schwachbefähigten  Kinder  entgegen  zu  arbeiten,  um  die  Schulen 
von  dem  „Bleigewicht  der  Unbegabten  und  Zurückbleibenden  zu  ent- 
lasten", fordert  er  die  Gründung  von  Hilfsschulen.  Jede  dieser  Anstalten 
ist  unter  sdiuISrstliche  Aufsidit  m  stdlen.  Nachdem  der  Verfasser  seine 
Ansiditen  und  Wünsche  über  die  gemeinsanie  Arbeit  dw  Lehrer  und  Schul> 
ärste  erörtert  hat,  befasst  er  sich  mit  der  Thatsache  des  Zusammenhangs 
der  Minderbegabung  und  der  körperlichen  Gebrechen. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Schrift  entrollt  er  cui  Bild  von  dem  Wesen, 
der  Unterricbtsweise,  den  Unterrichtsfächern  der  Idioten-Anstait  zu  Idstcm 
und  scUiesst  daran  einige  Leitsätie  über  Organisation  der  Hillischulen; 
er  kommt  su  der  Uebeneugung,  dass  die  Anstaits-Eniefanng  sdiwach- 
sinniger  Kinder  dem  Httfsschul-Unterrichte  gegenüber  den  Vorteil  hat,  daas 
sie  die  Beaufsichtigung  und  Beschäftigung  der  Kinder  während  des 
ganzen  Tages  ermöglicht. 

Zum  Schluss  fasst  Laquer  „die  hauptsächlichsten  ärztlichen  und 
•oiialen  Genchtspunkte  auf  dem  Gebiete  des  HilN«diulwea<»i%  wddie  audi 
für  weitere  Kreise  Bedeutung  haben  und  deren  Beachtung  verdienen**, 
in  folgende  SStte  xusamrooi: 

.1,  Der  angeborene  oder  früh  erworbene  Schwachsinn  ist  die  Grund 
1a L  T  vieler  schweren,  zumeist  unheilbaren  Nerven-  und  Geistesstörungen,  sowie 
schwer  verbesserlicber  Neigungen  zum  Verbrechen. 

2.  Die  Einrichtung  von  Hilfsschulen  für  schwachbeflhigte  Kinder  der 
Minderbemittdten  ist  notwendig  sur  frühen  Erkennung  der  verscluedenen 
Grade  des  Schwachsimis,  zur  richtigen  Erstehung  und  Behandlung  der 
Schwachsinnigen  imd  zum  Schutze  derselben  VOr  stedichem  Verfall  und 
vor  Verarmung  durch  Erwerbsunfähigkeit 

3.  Die  gegenwärtige  Verfassung  der  mehrklassigen  selbständigen  Hilfs- 
schulen ist  im  wesentlichen  aufrecht  zu  erhalten;  sie  ist  durch  Hilfsklasse% 
die  an  die  Normalsdiule  sich  angliedern»  nicht  su  eisetsen,  aber  durch 
Anfügung  von  Internaten  mit  Speisung  und  Beschäftigung  der  Kinder  jn 
den  Nachmittags-Stunden  weiter  auszubauen. 

4.  Das  Zusammenwirken  von  Lehrern  und  Schulärzten  ist  notwendig, 
um  die  Schwachsinnigen  von  den  Normalbcfähigten  schon  in  der  Volks- 
schule rechtzeitig  zu  sondern  und  nur  die  bildungsfähigen  Imbecillen  der 

6* 


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418 


Hilfsschule  zuzuführen,  auch  die  Bedeutung  der  körperlichen  Verandemngen 
für  die  Entu  K  kclung  des  Schwachsinns  festzustellen. 

5.  Alle  S(  hwarlisinnigcn.  welche  die  Klassenziele  der  Hilfssrhtilc  nicht 
erreichen,  sind  auszuschulen  und  den  Idioten-Anstalten  zu  systemauschcm 
Unterrichte  lu  fiberweisen.  Alle  Moralisch-Defekten,  Epileptiker  und  die 
mit  schweren,  unheilbaren  Sinnesgebrechen  Behafteten  gehören  in  beson> 
dere  Anstalten. 

0  Nur  durch  mehrjährige  weitere  Versorgung  und  Unterstützung  der 
aus  (Ut  Ililfssrhule  entlassenen  Zöglinge  wird  ihre  Selbständigkeit  und 
Erwerbsfahigkeit  im  späteren  Leben  gewährleistet.  —  Stellen-Nachweis, 
Zahlung  von  Lehr,  oder  PflegegeKlem  sind  durch  private  Wohlthätigkeit 
oder  öffentliche  Mittel  zu  ermöglichen.  Leichte  Handwerke  und  ländliche 
Arbeiten  sind  als  berufliche  Ziele  ffir  Schwachsinnige  anzustreben. 

7.  Den  Militär-  und  Justizbehörden  sind  genaue  Berichte  über  die 
Schulleistung  und  über  das  sittliche  Verhalten  der  Hilfsschüler  ztjgänglich 
zu  machen,  damit  bei  Vergehungen  p:r'gen  das  Gesetz  ihre  Unzurechnungs- 
fähigkeit bewiesen  oder  wenigstens  ihre  Bestrafung  gemildert  werden  könne. 

Das  Buch  enthält  für  Geistliche  und  Lehrer,  ffir  Verwaltungs*  und 
Gerichtsbehörden  mancherlei  Belehrung.  Es  wird  den  Ant,  der  dem  vom 
Verfasser  mit  so  grosser  Sorgfalt  behandelten  Gebiete  noch  fernsteht.  <a 
cip:enen  Beobachtungen  anregen  und  verdient  seines  reichen  und  wertvoUea 
Inhalts  wegen  weitgehende  Beachtung. 

Berlin.  W.  Eichler. 

Andersens  Märchen.  Aus  dem  Dänischen  ubersetst 
von  Pauline  Klaiber.  Mit  44  Vollbildern  und  167  Ab- 
bildungen im  Text  nach  Zeichnungen  von  Professor 

Hans   T  egener,  Kopenhagen. 

Ein  zeitgeniässes  Unternehmen  ist  diese  Uebcrsetzung  der  Andersen- 
schen  Märchen.  Das  vortreffliche  Werk  wird  sicherlich,  wenn  es  am  Weih- 
nachtsabend in  die  Hand  nnserer  Kleinen  gelangt,  grosse  Freude  hervor, 
rufen.  Wohl  sind  die  Ausgaben  dieser  unsterblichen  Märchen  sahlreicb 
gcntip:^,  doch  werden  «ie  ron  dem  vorliegenden  Werke  QbertrofTen. 
Was  ihm  einen  ganz  l)esnnderen  Wert  verleiht.  d;is  ist  die  kunstvoüe  Ge- 
staltung von  Bild  und  Text.  Denn  kein  Geringerer  als  Professor  Tegener 
aus  Kopenhagen  hat  die  Illwtrationen  geliefert.  Die  henrUdien  Gestalten, 
die  uns  in  dem  Märchen  vor  Augen  treten,  werden  durch  den  Stift  des  hervor, 
ragenden  Künstlers  lebendig  gemacht.  Da  können  wir  alle  die  trauten 
Freunde,  alle  die  gruseligen  Gestalten,  denen  wir  in  den  Dichtungen  be- 
ge^,^^cn,  persönlich  begrQssen.  Die  flüssige  Uebcrsetzung  ist  klar  und  f.isslich,  und 
nirgends  ein  Wort,  das  uns  an  die  Original^prache  erinnert  Deshalb  kann  das 
Werk  allen  Ettem  als  Weilinachtsgeschenk  wann  empfohlen  werden.  Es  kostet 
komplett  gebunden  \t  Marl^  auch  wird  es  in  10  wöchentlichen  Heften 
versandt  lum  FMise  von  je  einer  Mark. 

Berli.n.  W.  Krattse. 


SchrifllcihinjT-  F  Kemsif  s  Rcrlin  NXT  ,  Piulstr.  33  und  L.Hirschlaff.  Berlin  W.,  Lützo^tr.  85b, 
Verlag  von  tlerin«nnWalther,  Vcriagsbuchhandl.,  O.  m.  b  H.,  Berlin  SW.,  KonunawUiitaisu.  14. 
Druck  «QU  WilbelB  Vsfacr,  Bcriia  SV.»  PHcAMNlr.  l*. 


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Heinrich  Saeks,  Die  EiUmiekelting  der  Gekimphysiotogie  *m  A/A.  Jahrhunilerl. 


Hrläuteru Ilgen  zu  den  Figuren. 


PIg.  1 

Phrmologiaeh«  BOato. 


1.  G«tehl«ehtetrieb 

19.  Idealitit 

2.  Kinderliebe 

?  Unbeitimnit 

3.  Einheitslrieb 

20.  Witz 

4.  Anhänglichkeit 

21.  Nachahmung 

5.  Bek&mpfuagstrieb 

22.  (jegenstandssinn 

6.  Z«ntArttiig8lrieb 

23.  FoniMfiflian 

+  NahruBsstrieb 

24.  GrSMeatinn 

7.  Verheimlichungstrieb 

25.  G^iebtwiiiii 

8.  Erwerbstfieb 

26.  Farbensinn 

9.  Bausinn 

27.  Ortssinn 

10.  Selbstachtung 

28.  Zahlensinn 

IL  BtHiUiliebe 

29.  Ordnungssinn 

12.  Voraicht 

30.  Tbataachensinn 

13.  Widerwille 

31.  Zwtaian 

14.  Ehrfurcht 

32.  Tonsinn 

15.  Festigkeit 

'{3.  Sprachsinn 

Ib.  Gewissen 

34.  Vergleichender  Schürfsinn 

17,  Hoffnung 

35.  SchhiOiVermögen. 

18.  Wandeninn 

Flg.  2. 

Grosshirn,  convexe  (äussere)  Fläche. 


Pif*  S. 

GnMbini»  innere  und  innere^untere  Fliehe. 


Barlchtlfvnf: 

S.  267  <S.  13  des  Sondenbdrucka)  ZeUe  6  liea  statt  .5''  . . .  „0* 


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Jahrgang  III.         Berlin,  Dezember  190K 


Eigenartige  sprachliche  Entwickeiung 

eines  Kindes. 

Von 
€.  Stampf. 

In  der  Geschichte  der  Wissenschaft  finden  wir  allenthalben 
die  Erscheinung,  dass  man  die  schweren  und  fernliegenden 
Probleme  vor  den  leichteren  und  naher  liegenden  in  Angriff 
genommen  hat,  weil  sie  eben  die  interessanteren  sind  und  weil 
man  ihre  Schwierigkeiten  noch  nicht  kannte  So  hatte  man 
auch  längst  über  den  Ursprung  der  Sprache  in  der  Urzeit 
nachgesonnen  und  Hypothesen  aufgebaut,  ehe  man  daran 
dachte,  die  Eutwickelung  des  Sprechens  bei  den  Kindern  zu 
verfolgen.  Aber  hier  und  dort  tauchten  ähnliclic  Detail trat,'cii 
auf,  und  so  mögen  wir  zuerst  einen  Rückblick  auf  <(e\visse 
Wandlungen  werfen,  die  jenes  ältere  und  allgemeinere  Problem 
durch<4^euiaclit  l.at. 

In  den  Streitigkeiten  über  den  vorgeschichtlichen  Ursprung 
der  Sprache  spielte  eine  Zeil  lang  der  Begriff  der  Erfindung 
eine  Rolle.  Tieferdenkende  sagten  sich  aber,  dass  einer,  um 
Sprache  /u  erfinden,  bereits  eine  geistii^'^e  Stufe  erreicht  haben 
müsste,  die  man  nur  mit  Hilfe  der  Sprache  orlangl. 

Nun  kam  eine  entgegengesetzte  Anschauung  auf.  Die 
Sprache ,  hiess  es  jetzt,  sei  ein  Organismus ,  der  nicht  ge- 
macht,  sondern  gewachsen  S''i;  gewachsen  ohne  Zullnin  der 
Einzelnen  als  solchen,  aus  der  gemeinschaftlichen  Menschen- 
natur heraus.  Sie  sei  nicht  durch  das  Denken,  sondern  mit 
dem  Denken  entstanden,  als  dessen  äussere  Erscheinung, 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und  Paihologie.  1 


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420 


C,  atump/. 


Heute  haben  wir  auch  diese  Vorstellungs-  und  Redeweise 
verlassen.  Wir  haben  eingesehen,  dass  man  die  Sprache  nicht 
personifizieren  darf,  dass  sie  einen  Komplex  von  Aeussemngs- 
formen  darstellt,  die  den  Einzelnen  mit  der  Aussenwelt  ver« 
binden,  neben  denen  es  aber  noch  andere  Äettsseningsformen 
giebt,  7..  B.  die  Geberdeu,  und  wir  haben  eingesehen,  dass  man 
auf  die  Gesetze  der  psych ophysischen  Bewegungen  überhaupt 
zurückgehen  muss,  um  den  Ursprung  und  die  Möglichkeit  der 
Sprache  zu  begreifen.  Ganz  besonders  wird  geg:en  die  frühere 
Anschauung  betont,  dass  die  Sprache  ursprünglich  lediglich  aus 
dem  Bedürfalis  der  Mitteilung,  der  gegenseitigen  Verständigung 
erwachsen  sein  kann.  Für  den  jetzigen  Menschen  hat  sie  frei« 
lieh  ausser  dieser  Funktion  noch  die  andere,  dass  sie  auch  sein 
einsames  Denken  begleitet,  unterstützt  und  dessen  höhere 
Leistungen  sogar  erst  ermöglicht.  Aber  diese  Funktion  kann 
nicht  die  ursprüngliche  gewesen  sein,  sonst  drehen  wir  uns  im 
Kreis  oder  fallen  in  nichtssagende  Reden  zurück.  Das  Be- 
dürfnis hingegen,  sich  anderen  verstandlich  zu  machen,  wozu 
die  Notwendigkeit  des  gemeinsamen  Lebens  von  Anfang  an 
drängte,  musste  dahin  führen,  aus  der  Menge  der  natürlichen 
Bewegungen  nach  und  nach  die  zu  diesem  Ende  brauchbarsten 
herauszusondem.  Die  Lautäusserungen  waren  nur  eben  der* 
jenige  Teil  dieser  natürlichen  Verständigungsmittel,  der  sich 
besonders  bequem  und  bildsam  er%\nes. 

Hierbei  wird  aber  anfänglich  sehr  viel  Individuelles 
unterlauf  und  aus  diesem  wieder  nur  allmählig  das  Brauch- 
barste von  weiteren  Kreisen  att%eiiommen  sein.  Und  jenes 
Individuelle  kann  man,  ohne  damit  in  den  verworfenen  Be- 
griff der  Erfindung  zurückzufallen,  zugleich  als  ein  Willkür- 
liches insofern  bezeichnen,  als  es  sich  eben  um  das  Ergreifen 
von  allerlei  noch  nicht  allgemein  sanktionierten  Verständigungs- 
mitteln handelte,  wie  sie  der  Lauf  der  Vorstellungen  oder  äusse- 
ren Anregungen  gerade  mit  sich  brachte,  und  als  wohl  auch 
oft  genug  unter  mehreren  vorschwebenden  Verstandigungs- 
mitteln  eine»  ergriffen  d.  h.  vorgezogen  wurde  Ob  man  dies 
nun  Willens-  und  Wahlliandlungen  im  eigentlichen  Sinne  zu 
nennen  hat,  kann  hier  auf  sich  beruhen. 

>)  Besonders  A.  Marty  bat  diese  ,rA.baichtlichkelt"  der  SpraohbUdimg 
betont  (Unpnmg  der  Spncihe  187S)  und  gegenüber  den  Vielen,  die  sie  leugnen, 
Terteidigt  C^ierto^aluflaclirif«:  fttr  winenscheftL  Philoeophie  XIV,  8.  SS  f.) 


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JSigmariig»  sfiracMicke  Entwiekdunf  ti$i«$  Kindts,  421 

Hypothetisch  bleiben  natürlich  diese  Theorien  immer,  da 
es  sich  beim  ersten  Ursprung  der  Sprache  um  einen  längst 
abgelaufenen  Prosess  handelt  Aber  wir  können  die  Hypothesen 
wenigstens  so  formen,  dass  sie  möglich  und  psychologisch 
glaubwürdig  werden. 

Aehnliche  Probleme  bietet  uns  nun  auch  die  Entstehung 
des  Sprechens  beim  Kinde.  Dis  Sache  liegt  zwar  hier  inso- 
fern wesentlich  anders,  als  dem  Kinde  schon  eine  Sprache  über- 
liefert wird.  Auch  wenn  wir  von  absichtlichen  Einwirkungen 
der  Erwachsenen,  von  aller  Unterweisung  absehen,  liegt  doch 
die  ungeheure  Tragweite  der  mechanischen  Nachahmungen, 
durch  welche  die  Ausdrücke  und  Wendungen  der  Umgebung 
.auf  das  Kind  übergehen,  offen  zu  Tage;  Dennoch  war  vid&cb 
bis  in  die  neueste  Zeit  auch  hier  von  einer  originellen  Pro- 
duktion, einer  sprachschöpferischen  Tbätigkeit  die  Rede,  die 
sich  bald  mehr,  bald  weniger  offenbare,  und  es  sind  eine  An- 
zahl von  Beobachtungen  dafür  beigebracht  worden.  Doch  waren 
die  Beobachtungen  grossenteils  nicht  beweisend  oder  man  schied 
nicht  genauer,  was  sie  beweisen  konnten  und  was  nicht  Preyer^) 
und  neuerdings  Wundt  erklärten  sich  daher  lebhaft  gegen 
solche  Behauptungen.  Sie  vertreten  die  Thesis,  dass  kein 
einziger  Ausdruck  sich  mit  Sicherheit  als  Neubildung  des 
Kindes  erweisen  lasse.  Ja  sie  fassen  die  Sprachentwickelung 
beim  Kinde  überhaupt  nur  als  eine  Akkommodation  an  die  Um- 
gebung in  Verbindung  mit  anderen  gleichfalls  rein  mecha- 
nischen Vorgängen.  „Die  kindliche  Sprache  ist^S  sagt  Wundt, 
„ein  Erzeugnis  der  Umgebung  des  Kindes,  an  dem  das  Kind 
selbst  wesentlich  nur  passiv  mitwirkt'^ 

Wenn  man  sich  die  Sache  zunächst  vom  allgemeinen 
Standpunkt  aus  überlegt,  erkennt  man  leicht,  dass  von  einer 


1)  Die  Seele  des  Kindea,  1.  Aufl.  1882,  S.  333,  5.  Anfl.  19Q0.  a  357. 
>)  Völkefpeychologle  I,  1  (I9U0)  S.  296w 

Die  AnMcht,  „das  Kind  erüade  sich  ä«ine  Sprache  selber,  und  von 
frtihe  an  wende  es  diesem  Zwecke  sein  ■  Aufmerksamkeit  und  Ueberlegung 
zu",  ist  nach  Wundt  nicht  blos  weit  verbreitet  bei  Mütt«rn  nnd  Amm^n, 
sooderu  wird  „last  auänahmslos  von  den  pädagogischen  Beobachteru  der 
K{iLd«rsprw»li0  und  Ton  Tielea  Psychologe u  geteilt**  (du.  8.  273).  Das 
möchte  ich  dodi  l>esweifeliu  Aber  Wnndt  iet  eben  eaeh  sonst  dlmtsehr 
geneigt,  seinen  FachgenoSNen  einen  naiven  Glauben  an  Ammenmärchen  unter- 
zuechieben.  Man  findet  sogleich  ein  weiteres  Beispiel  euf  derselben  Seite 
seines  Werkes. 


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422 


C  atttmp/. 


Ertiadung  in  den  ersten  Zeiten  der  kindlichen  Entwickelung 
gewiss  nicht  die  Rede  sein  kann.  Denn,  wie  man  auch  sonst 
den  Begriff  der  Erfindung  begrenzen  mag  (die  Herren  vom 
Patentamte  wissen  da  von  mancher  Schwierigkeit  zu  reden): 
jedenfalls  gehört  dazu  die  Allgemeinvorstellung  eines  Zweckes, 
femer  die  Vorstellung  von  Mitteln  zu  diesem  Zweck,  endlich 
eine  vergleiche! kIp  Abschätzimg  der  Nützlichkeit  verschiedener 
Mittel,  die  zu  glcicliem  Ziele  führen,  auf  Grund  gewisser,  durch 
Erfahrung  und  Reflexion  erworbener  Kenntnisse  über  den 
kausalen  Zusammenhang.  Wo  die  letzteren  fehlen,  kann  es 
sich  um  ein  Finden,  aber  nicht  um  ein  Erfinden  im  eigent- 
lichen Sinne  handeln.  Hierzu  sind  also  intellektuelle  Thätig- 
keiten  höheren  Grades  erforderlich  und  Willensthätigkeiten,  die 
mit  solchen  in  engster  Verbindung  stehen.  Bei  Tieren  pflegen 
wir  daher  weder  von  Entdeckungen  noch  von  Erfindungen 
im  engeren  Sinne  zu  reden. 

Bis  nun  die  Verstandes-  und  Willensthätigkeiten  in  der 
Entwickellinn;  des  menschlichen  Kindes  soweit  durchgebildet 
sind,  dass  man  an  Erfindungen  im  eigentlichen  Sinne  denken 
könnte,  ist  sicherlich  das  hauptsächlichste  Material  der  Sprache 
bereits  in  den  Besitz  des  Kindes  gelangt.  Und  nachdem  dies 
der  Fall  ist,  fällt  ohnehin  das  Bedürfnis  und  die  Nützlichkeit 
solcher  Erfindungen  so  ziemlich  hinweg  Darum  wird  man 
auch  hier  eine  solche  These  schon  aus  allgemeineren  Gründen 
nicht  vertreten  mögen. 

Damit  ist  aber  wiederum  nicht  ohne  weiteres  gesagt,  dass 
nicht  auch  hier  ein  Stadium  individueller  und  selbst  willkür- 
licher Versuche  vorausgehen  kann,  welche  von  einer  mecha- 
nischen Akkommodation,  von  reiner  Passivität  sehr  weit  entfernt 
sind.  Wenn  man  überhaupt  den  Menschen  eine  Maschine  nennen 
wollte,  würde  ich  es  eher  für  den  Erwachsenen  zugeben  als  für 
das  Kind,  dem  wenigstens  der  Zwang  der  Gewohnheiten  noch 
fremd  ist  Es  bleibt  denkbar^  dass  in  der  in  formung  des 
Gegebenen,  in  der  Bevorzugung  einzelner  Ausdrücke  gegenüber 
anderen,  in  ihrer  Verbindung  zw  zusammengesetzten  Bezeich- 
nungen und  zu  Sätzen  die  individuelle  Willkür  des  Kindes 
mehr  oder  weniger  zu  Tage  tritt.  Und  es  bleibt  denkbar,  dass 
ein  Kind  sich  aus  dem  Rohmaterial  der  seinem  Ohr  über- 
lieferten Ausdrücke  eine  Sprache  schaHti  die  sich  von  der  der 
J&rwachsenen  immer  mehr  zu  entfernen,  statt  ihr  zu  nahem 


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EigenarUge  sprachliche  Enimckehtng  emes  Kmdes. 


423 


scheint  Schon  der  Reiz  des  Spieles  kann  emzelne  dazu  ver- 
fiihreii  vSie  spielen  mit  Atisdriicken  und  Wendungen  wie  mit 
anderen  Spielsachen,  nnd  das  einmal  «'ekostete  Verjni (igen  der 
Produktion  lockt,  wenn  die  Produkte  von  der  Umgebung- 
einigermassen  verstanden  oder  gar  in  Kurs  <:^cnoiTiincn  werden, 
zu  weiteren  Versuchen.  Aber  auch  das  ernsthatte  Bestreben 
der  Verdeutlichung  ihrer  Vorstellungen  und  Absichten  vermag 
Kinder  im  zweiten  und  dritten  Lebensjahre  sehr  wohl  auf  ori- 
ginelle Versuche  zn  führen,  die  dem  iirwachsenen  statt  der  ge- 
wünschten Aufklärung  vielmehr  zunächst  Rätsel  aufgeben. 
Aehnlich  wie  einer,  der  im  fremden  Lande  eine  fremde  Sprache 
radebricht,  zuweilen  in  der  Not  Ausdrücke  erfindet,  wie  sie  im 
Moment  durch  eine  Analogie,  eine  Onomatopöie  oder  einen 
ganz  zufälligen  Umstand  ein i^^egeben  werden,  die  aber  unreiner 
verständnislosen  Verwunderung  der  Augeredeten  begegnen. 
Während  nun  in  solchem  Falle  der  erwachsene  Spraclikünstler 
nur  zu  bald  von  der  Unbrauchbarkeit  seiner  Wortbildung  über- 
zeugt wird  und  sich  seiner  Unkenntnis  schämt,  kann  das  Kind, 
dem  bei  der  Einfachheit  seiner  Ideen  und  dem  Eutgegen- 
kominen  der  Erwachsenen  ein  Versuch  gelang  und  dem  Em- 
pfindungen der  Beschämung'  heim  Misslingen  fremd  sind,  sich 
zu  weiteren  Versuclir  n  trü  ben  fühlen,  auch  wo  kein  Notfall 
mehr  vorliegt,  und  mit  einer  gewissen  Hartnäckigkeit  seine 
( )riginalschöpfuugen  längere  Zeit  fcst!i:ilten  ln!-alern  kann 
man  auf  Grund  allgemeiner  Erwägun,L;rn  dir  Möglichkeit 
nicht  leugnen,  dass  in  gewissem  Umfauge,  je  nach  den 
Individuen  bald  mehr  bald  weniger,  absichtliche  Sprach- 
formatiouen  auch  in  der  Kindheit  des  Einzelneu  sich  vorfinden 
köuueu. 

Wenn  man  den  Begriff  der  Erfindung  nicht  gerade  in 
dem  erwähnten  eiprentlichsten  Sinne,  scmdern  in  einer  mehr 
übertragenen  Bedeutung  nimmt,  so  wild  man  mit  Rücksicht 
auf  solche  sehr  wohl  denkbare  Vorkommnisse  auch  ruhig  von 
Erfindungen  in  der  Kindersprache  reden  dürfen. 

Besser  als  allgemeine  Erwägungen  sind  nun  aber  Be- 
obachtungen. Sie  lehren  erst  die  Grenze  und  die  Richtung 
kennen,  in  denen  sich  die  Produktion  in  Wirklichkeit  bewegt. 
Und  so  will  ich  einen  von  mir  beobachteten  Fall  nach  den 
seinerzeit  gemachten  Notizen  hier  beschreiben.  Die  voraus- 
geschickten Bemerkungen  sollten  nur  dienen,  die  theoretischen 


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424 


C.  atump/. 


Gesichtspinikte  und  Be7ichungeii  anzudeuten,  in  welchen 
solche  Eiuzelbeobachtungen  etwa  wissenschaftliches  Iiilrie-.se 
beanspruchen  können.  Wenn  gelegentlich  auch  einiges  ein- 
geflochten wird,  was  in  dieser  Hinsicht  nicht  absolut  nötig 
erscheint,  so  bitte  ich  zu  berücksichtigen,  dass  bei  Beob- 
achtungen aus  dem  Kinderleben  lieber  etwas  zu  viel  als  zu 
wenig  gesagt  werden  niuss,  weil  es  darauf  ankommt,  nicht 
blosse  Einzelheiten  aneinanderzureihen,  sondern  auch  in  'ge- 
wissem Grade  das  Gesamtbild  eines  kiudlichea  Individuums 
durchscheinen  2u  lassen. 

Mein  am  3.  Februar  1885  in  Halle  a.  S.  geborener  Sohn 
Felix  zeigte,  in  allem  Uebrigen  ganz  normal,  eine  langsame  und 
wunderliche  Sprachentwickelung,  sodass  gute  Freunde,  als  er  drei 
Jahre  alt  geworden  war,  um  seine  Intelligenz  besorgt  wurden. 
Wir  Eltern  teilten  diese  Besorgnis  nicht,  da  wir  sowohl  ans 
anderen  Anzeichen  als  auch  ans  dem  Gebrauch  der  ihm  eigen- 
tümlichen und  uns  verstandlich  gewordenen  Sprachformen  seine 
geistige  Entwickelnngsstnfe  kannten.  In  der  That  bequemte  er 
sich  in  seinem  vierten  Jahre  plötzlich  der  aUgemeinen  Sprache  der 
Umgebung  an,  und  es  ist  später,  noch  jetzt  in  seinem  17.  Jahre, 
nur  etwa  ein  langsames  und  öfters  stockendes  Sprechen  beim 
Erzählen  einer  längeren  Geschichte  als  bemerkenswerter  Zug 
zurückgeblieben. 

Ich  will  noch  hinzufügen,  dass  sein  um  vier  Jahre  älterer 
Bruder  gerade  in  sprachlicher  Hinsicht  sich  rasch  entwickelt 
hatte  und  kindliche,  vom  Sprachgebrauch  der  Erwachsenen 
abweichende  Ausdrücke  nur  in  verschwindendem  Masse  ge- 
braucht hatte,  sodass  man  fast  sagen  könnte,  er  habe  von  vorn- 
herein, was  er  sprach,  nur  hochdeutsch  gesprochen.  Ferner 
will  ich  nicht  unterlassen,  im  voraus  zu  bemerken,  dass  wir 
Erwachsenen  uns  keineswegs  prinzipiell  Felix*  Sprache  an- 
bequemten und  ihn  darin  bestärkten,  vielmehr  häufig  genug 
ihn  auf  die  richtige  Ausdrucksweise  zu  bringen  suchten,  wenn 
wir  auch  natürlich  in  vereinzelten  Fällen  seine  Ausdrücke  uns 
aneigneten.  Über  mich  selbst  und  meine  Frau  ist  mir  in- 
bezug  auf  Sprachentwickelung  nichts  Besonderes  bekannt 
Einer  meiner  Brüder  hat  aber  das  Sprechen  gleichfalls  sehr 
langsam  erlernt  Femer  war  einem  Bruder  mdner  Frau  bis 
ins  Alter  hinein  jene  obenerwähnte  stockende  Vortragsweise 


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Eigaiartige  tpraekUcke  Entunek^nmg  einei  Kmäes. 


425 


eigen.  Von  den  Grosseltera  beiderseits  ist  nichts  Aehnliches 
überliefert 

Ich  berichte  nun  genau  nach  dem  Tagebuch. 

In  der  zweiten  Oktoberwoche»  also  8  Monate  nach  der 
Geburt,  wiederholte  Felix  die  ihm  von  dem  alteren  Bruder  vor- 
gesprochenen Silben  „wa,  wa,  wa,  wa*'.  Dieses  Spiel  dauerte 
lange,  da  sie  beide  grosses  Gefallen  daran  hatten^  und  sie  übten 
es  mehrere  Tage  lang  gelegentlich. 

Am  15.  Oktober  sprach  er  deutlich  „püpa,  mama"  nach, 
als  ihm  jedes  dieser  Worte  öfters  vorgesagt  wurde.  Von  ihrer 
Bedeutung  hatte  er  natürlich  keine  Ahnung,  und  es  zeigte  sich 
bald  —  27.  November  - ,  dass  er  sie  in  einer  geringen  Um- 
formung: npap^t  map^"  zur  Bezeichnung  für  Bssen  anwandte^). 
Eine  Zeit  lang,  im  folgenden  Frühjahr,  schien  er  überhaupt 
jede  Annehmlichkeit  damit  zu  bezeichnen,  insbesondere  auch 
die  Freude,  wenn  er  irgend  einen  von  4cr  Familie  erblickte. 
Aber  spater  wurde  der  Ausdruck  pap-^  durchaus  nur  tech- 
nischer Terminus  für  Essen.  Dies  entspricht  auch  den  Wahr- 
nehmungen bei  anderen  Kindern  und  scheint  mit  der  Mund- 
bewegung beim  Essen  zusammenzuhängen;  das  Wort  kann  also 
als  eine  Art  natürliches  d.  h.  durch  sich  selbst  verstandliches 
Sprachzeichen  betrachtet  werden.^ 

Am  30.  Januar  1886  trat  noch  ein  Zeichen  für  Wohlgefallen 
hinzu,  welches  länger  mit  Regelmässigkeit  gebraucht  wurde: 
die  Silbe  „kn'\  •  Im  Mai  desselben  Jahres  bediente  er  sich  zu 
demselben  Zweck  auch  der  Reduplikation:  „g^^-ga". 

Für  die  Vögel  im  Käfig  hatte  er  eine  besondere  Begrüss- 
ung:  „/la'*,  mit  einer  von  der  Höhe  zur  Tiefe  absteigenden  Be> 
tonung. 

Für  die  Abwesenheit  eines  Dinges  oder  Menschen  kam 
jetzt  die  Silbe  fn  auf. 

Am  31.  Juni  1886  bildete  er  zum  ersten  Mal  einen  Satz 
ans  seinem  geringen  Wortschatze.  Er  legte  ein  Stück  Weiss- 
brod  in  einen  Topf  und  sagte:  »,papn  in",  d.  h.  das  Brod  ist 


1)  Dies  war  alao  die  mte  sinnvolle  Anwendung  artikalierter  Lente. 
Player  erwähnt  eine  BoJche  ena  dem  11.  Monet  (Se^  dM  Kindes  5.  A. 
S.  307),  Wnndt  sine  ans  dem  12.  Monat  (a.  a.  O.  S.  272). 

^  Vgl.  die  Bemerkungen  zum  Menschenfressergesang  der  Bellaoala- 
Indianer  und  ihn  ii  Ausdrücken  ham^  hemej,  harnet*  in  der  Viertey.-SGhr.  I. 
Musikwissenschaft  IL  (1886)  S.  419. 


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426 


6'.  Stumpf. 


weg.*)  Bei  tn  machte  er  zuj^fleicli  eine  HaiidbewegTiug,  die  er 
sich  für  die  Abwesenheit  eines  crwünschteu  Dimkes  mit  längerer 
Zeit  angewöhnt  liatte,  indem  er  die  Hand  mit  der  Innenfläche 
nach  oben  hielt-).  Daranf  nahm  er  den  l>eckel  vom  Topf  und 
rief  mit  freudigster  Miene:  ,,ußrgah/"  (=  eccel),  eine  jetzt  einge- 
tretene Umformung  jenes  ,,ga",  das  wir  bereits  kennen. 

Am   10.  XI.  eignete  er  sich  das  Wort  ,,fsch**  für 

Fleisch  oder  Fisch  an  (wir  waren  im  Seebade  Binz),  setzte  es  aber 
bald  wieder  ausser  Gebrauch.  Viel  später  taucht  es  von 
neuem  auf  (s.  u.>. 

Im  Uklübcr  (Ib,  Monat)  gelang  es  ihm,  „papa,  jnama" 
nicht  blos  völlig  deutlich,  sondern  auch  mit  dem  Bewnsstseu: 
ihrer  Bedeutung  herauszubringen.  Er  rief  uns  mit  diesen 
Namen,  und  zwar  indem  er  von  der  ersten  zur  zweiten  Silbe 
in  der  kleinen  Terz  herabstieg.  Vorher  hatte  er  trotz  unserer 
Bemühungen  „mama''  nur  in  der  Form  „nume"  herausgebracht, 
„papa*'  aber  überhaupt  nicht  (ansgeuommen  die  obenerwähnten 
•  Fälle  ganz  zu  Anfang  des  Spreciieus) 

Im  November  mehrte  sich  endlich  sein  Wortschatz;  und 
nun  traten  zugleich  Bezeichnungen  auf,  dereu  Herkunft  nicht 
immer  deutlich  war. 

,,11^"  bedeutete  h^eisch. 

„uiui"  \oiui,  üinh  bedeutete  seineu  Bruder  Rudi. 

Bei  der  Aussprache  dieser  Silben  wurde  die  Oberlippe 
ganz  über  die  untere  gezogen,  die  Zunge  nach  vorn  gelegt 
tmd  das  u  oder  o  dumpf,  kon.sonantenartig  gesprochen.  Das 
Wort  wurde  auch  zu  „ululul''  erweitert.  Es  findet  sich  übrigens 
in  verwandten  Formen  bei  Kindern  häufig  zum  Ausdruck  ganz 
verschiedener  Bedeutungen  und  gehört  offenbar  wie  Pap  und 
hap  zu  denen,  die  sich  den  unbeholfenen  Sprachorganen  be- 
ßonders  bequem  darbieten'). 

*)  ^ofer  konstetterte  du  «rste  ge8procIi«ne  UrMl,  dM  abar  nur  in 
flIiMnL  "Wort  auagedrttekt  wurde,  im  23.  IConatk  di6  Vereltiigoiiff  mretor 

Wörter  zn  einem  Satz  noch  etwM  später  S.  32 J,  325).  Eigentlich  handelt 
sich 's  aber  im  ]pt7.ttM(-n  Fall  am  zwei  durch  je  ein  Wort  auSG^pdrücktR  Sätze: 
haim  mtmi  =  helmi^geheji ^lilch( trinken),  femer  vergi,  Sigmund  bei  Preyer 
S.  345,  Strümpell  daselbbt  S.  348. 

>)  Oam  dleeelbe  Geberde  pflegte  oacli  AnaMge  meinmr  JPreo  der  mlltter» 
liehe  Oroasvater  anter  Ihnlicben  ümetM&den  uunwaadea. 

s)  Vgl.  auch  Marty  Viertelj.-Sch.  f.  wiaa.  FhiL  VIEL  &  467  Aber  ein- 
aohUglge  Beobaobtnngen  Steinthal'a» 


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Eigm«rtige  sprachlieh*  Entmckelung  dn*s  Kindes. 


427 


,,rah"  =ss  liurrah,  und  natürlich  daraus  entstanden.  Zuerst 
beim  Anblick  und  beim  Schwingen  der  Fahne,  dann  bei  jedem 
erfreulichen  Anblick  angewendet. 

„kurrdk",  s])äter  „kraJi"'  »  Soldaten. 

,,ajä'%  ein  Jnbelausdruck,  der  auch  wohl  öfters  hinter- 
einander wiederholt  wurde.  Besonders  und  mit  grosser  Regel- 
mässigkeit gebraucht,  wenn  ein  neues  Gericht  beim  Essen  auf- 
getragen wurde,  auch  wenn  Felix  nichts  davuii  bekam. 

Dazu  dir   iniliLren  Ausdrücke,   zumal  für  die  Ab- 

wesenheit eines  Ümges  oder  Menschen. 

Tn  dieser  Zeit  war  Felix  ausserordentlich  lebhaft  und 
possierlich,  fing  aber  auch  schon  an.  mit  seinem  geringen 
Sprachschatz  zu  ~  lügen  So  zeigte  er  mit  Vorliebe  auf  einen 
Riss  im  Papier  des  Bilderbuches  und  sagte  auf  die  Frage,  ob  er 
es  gethan:  „na,  uluiut'  oder  auch  „na,  papa'*  —  mir  ins  Gesicht. 

Im  Januar  1887  (23.  Monat)  traten  hinzu: 

„tap",  wenn  dne  Flasche  geöffnet  wurde. 

„kap'%  wenn  er  etwas  „kaput"  machte  oder  auseinandernahm. 

^krapap"  und  ,Japap*',  Ausdrücke  für  Komisches;  der 
erste  zum  ersten  Mal  für  das  Kasperle  im  Marionettentheater 
und  vielleicht  aus  diesem  Namen  gebildet. 

Das  Spradi Verständnis,  das  schon  gegen  Ende  des 
ersten  Jahres  bemerkenswert  vorgeschritten  war,  hatte  sich  mit 
Beginn  des  dritten  Jahres  so  vervollkommnet,  dass  Felix  das 
meiste,  was  wir  m  ihm  zn  sprechen  Veranlassung  hatten,  ver- 
stehen  konnte. 

Pur  Farbenbezeichnungen  hatte  er  jedoch  noch  kein 
Verständnis. 

Im  März  und  April  1887  gebrauchte  er  vorübergehend 
„ick"  für  sich  selbst.  Dafür  trat  aber  bald  noch  ein  anderer 
viel  häufiger  gebrauchter  Ausdruck  ein,  den  wir  sogleich 
erwähnen. 

Im  Sommer  dieses  3.  Jahres  hcisst  „aja**  (s.  o.)  allgemein 
soviel  wie  angenehm,  lieb,  gut.  Der  Accent  liegt  aber  von 
nun  an  auf  der  ersten  Silbe.  Auch  wird  es  später  aspiriert: 
kaja.  Der  Gegensatz  dazu  ist  „ä'\  jedenfalls  ein  Nachahmungs> 
Produkt,  welches  von  da  an  eine  grosse  Rolle  spielt 

Femer  tritt  nun  eine  bleibende  Benennunsr  für  ihn  selbst 
auf:  fxJob*\  auch  ausführlicher  „job-tobbelob'\  Wenn  Felix  von 
Fremden  nach  seinem  Namen  gefragt  wurde,  war  dies  die 


428 


C.  S/um//. 


stäudicfe  Antwort.  Ein  christlich  denkender  Mann  wandte  sich 
nach  wiederholten  Versuchen  dieser  Art  mit  g;elindem  Entsetzen 
an  uns:  „Wie  heisst  das  Kind?''  Wir  konnten  ihm  aber  itl)er 
den  Kalenderhciligcn  Job-tobbelob  aucli  kerne  Auskunft  g-ebei., 
Der  Ursprung  des  Ausdruckes  ist  dunkel.  Ich  könnte  mir  mir 
die  eine  Möorlichkeit denken:  l'\lix,  sonst  kerngesund,  litt  an 
Ausschlägen,  und  es  konnte  Jemand  liin  gelegentlich  als  Hiob 
angeredet  haben.    Aber  dies  ist  eine  blosse  Hypothese. 

Eine  bewusste  Gegenüberstellung"  von  Affirmation  und 
Negation  gebrauchte  er  in  diesem  Sommer  (das  Datum  ist  hier 
nicht  genau  notiert).  Es  war  eine  beliebte  Neckerei^  ihm  zti 
sagen:  „Du  bist  Papa  sein  Junge".  Antwort:  „näh".  „Bist  du 
Mama  ihr  Junget'  Antwort:  nebst  Kopfnicken).  „Nein,  du 
bist  Papa  und  Mama  ihr  Junge".  Antwort:  ,ypapa  näh,  mamam". 

Im  September  1887  war  der  Sprachschatz  noch  immer 
nicht  erheblich  grosser,  aber  mit  den  paar  Wörtern  und  Silben 
wurden  viele  Sätze  gebildet   Z.  B 

„ijk  olul  ei  hapn"  ^  ich  und  Rudi  essen  ein  EL 

„iüt  ä  hapn  näk"  =  dieses  garstige  Gericht  mag  ich 
nicht  (auf  die  Suppe  weisend). 

^äa  aja  hapn  ja'*  _  dieses  gute  Essen  mag  ich  (auf 
Fleisch  und  Gemüse  weisend). 

„papa  .  $chUch     hapn      tn     näh"  ^ 

(Papa)  (Fleisch)  (gegessen)  (weg)  (nicht)  ^ 
Fleisdb  nicht  aufgegessen  (weggegessen). 

Die  einzelnen  Ausdrücke  sind  die  früheren  oder  leichte 
Umformungen  derselben.  Aber  die  Zusammenfugung  ist  neu 
und  zuweilen  eigentümlich;  so  werden  im  letzten  Fall  die 
beiden  wichtigsten  Gegenstandsausdrücke  voran,  die  Verneinung 
nach  Art  unserer  gerichtlichen  Urteilssprüche  an  den  Schlnss 
gestellt  happn  in  ist  hier  als  ein  zusammengesetzter  Ausdruck 
zu  verstehen.  Die  Interpretation  solcher  Satze  war  für  die 
Umgebung  vollkommen  eindeutig,  zumal  sie  auch  durch  (testen 
unterstützt  wurde. 

Im  Winter  1887/8  und  im  Frühjahr  1888,  also  beim  Übergang 
vom  dritten  in's  vierte  Jahr,  mehrten  sich  die,  immer  noch 
meistens  einsilbigen,  Wörter  bedeutend.  Ihre  Entstehung-  war 
grösstenteils  leicht  erklärlich,  interessant  nur  wieder  die 
Zusammenfügungeu ,  die  vorgenommen  wurden,  teils  um 
zusammengesetzte  Begriffe  anzudeuten,  teils  um  ganze  Ge- 


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htgenarttge  sprachliche:  Entwickdung  eirus  KimiCi. 


429 


schichten  zu  erzählen.  So  erklärte  Felix  mir  einmal  sein 
ganzes  Bilderbuch  in  einer  Weise,  die  mich  an  g-ewisse  Theorien 
vom  Sprach  Ursprung  erinnerte,  wonach  bestimmte  Gesichts- 
bilder 7A\  bestimmten  Ausdrücken  reflexartig  hinkiten  sollten. 
Solche  Theorien  sind  offenbar  falsch  und  unpsychologisch; 
aber  vielleicht  hat  zu  ihrer  Ent.stchnnj^  die  Wahruehmuni; 
beigetraj^en,  wie  Kinder  durch  das  Sehen  ihrer  Bilderbnclicr  zu 
Spraclibildmiyen  angeregt  werden').  Es  sind  nur  eben  nicht 
neue  Atisdrücke,  die  sie  finden,  sondern  neue  Zusammen- 
setzungen bereits  vorhandener. 

Hier  ein  Verzeichnis  der  wesentlichsten  Ausdrücke  und 
Zusammensetzungen  aus  jener  Zeit,  sowie  einer  Anzahl  daraus 
gebildeter  Sätze: 

1)  Einfache  Ausdrucke. 

nkn  »  OnkeL 
taia  mn  Tante 
dock  I.  Z^eback. 
tu/  =  Stuhl 
Jkuf  SS  Kutscher. 

top  =  Scheere,  Zange.  Ursprung  nicht  ganz  deutlich. 
Doch  wohl  aus  der  früheren  Anwendung  desselben  Wortes 
(s.  b.)  abzuleiten. 

Aamdi/  (das  /  blos  angedeutet)  ^  Hammer  (Hammer 
und  N&gd  waren  seine  besten  Freunde). 

me  =  Messer. 

bumhum,  später  buch  ^  Buch. 
Hek  .  Brief. 

ßsch  (das  i  fast  verschluckt)  =  Fisch. 
ape/ak  =  Heidelbeeren  (hier  ist  vielleicht  eine  Metathesis 
beteiligt). 

prulUch  =  Milch*). 

>)  Hierzu  v^.  andi  H.  6hitoii«&ii,  Bm  Kindes  Spimohe  nnd  Sprach^ 

fehler,  S.  '>2f. 

Ich  hatte  in  einer  schwachen  i?tiuide,  von  Felix'  Sprachverdreh uiigen 
angesteckt,  statt  MUch  Molch  gesagt.  Das  belustigte  ihn  derart,  doss  er 
weitere  VariattoiMii  Termidito:  mnUA,  prultüki  and  bei  dteeer  letsten  Fom 
blieb  er  fortan  atehen.  Man  aieht  hieran  wohl  das  HanptmotlT  der  Wnnderlich- 
keit«n  seiner  Sprache:  das  Gefallen  an  NeabÜdmigen  als  aolchen.  Nur  die 
lieharrlichkeit  kann  Wunder  nehmen,  mit  der  sie  festiBehalten  Wurden,  nach* 
dem  «ie  längst  auigehört  hatten,  neu  zu  sein. 


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430 


6".  Stumpf. 


mipi  zunächst  »  Katze,  später  =  Braten^). 

hu  Hund. 

hoto  =  Pferd. 

kjob  =  Schnee.    Ursprung  unbekannt 

IUI  =c  Züg^el. 
dach  ~  Hans. 

km  Kugel,  kreisrundes.  Vielleiclit  von  Kuller",  wie 
man  iu  Halle  a.  S.  die  kleinen,  glä.serneu  Spielkugeln  nannte, 
.^uch  die  Säulen  im  Baukasten  liiessen  anfänglich  kru^  wegen  ihre^ 
Kundung;  sonst  aber  nur  immer  das  Kreis-  oder  Kugelförmige. 

tu  ff  =c  Ci  gar  reu. 

schsch  s=r  Eisenbahn  (Ononiatopöie,  wie  das  vorige). 

bii  mm  bitte,  auch  .-^  danke. 

pü  (kaum  von  dü  unterschieden)  —  zuspitJieu, 
opa,  hopa,  npa  =  aufheben,  aufnehmen. 
wapa  =  herunterfallen,  unrAL-rten. 

täl,  später  lal  »  eingeschlossen,  zugeschlossen,  ein-  oder 
zuschliessen^). 

u  gross. 

m  (niüuilhert),  sj)äter       =  und. 
nggäh,  auch  näh  =^  nein. 

Ja  t=  ja,  sehr  häufig  aber  auch  ^  auch,  ebenfalls.  Z.  B. 
,Jrh  ja"  =  ich  will  a\ich  etwas  haben.  Erst  ganz  arn  Schluss 
dieser  Sprachperiode  (April  1888)  sagt  erj  »t^^  auch". 

weich  r=  weiss. 

ä  ^  schwarz;  zugleich  hassHch,  böse.  In  diesem  Fall 
ist  aber  der  Gegensatz  oder  haja-,  verstärkt:  haja-baja  gegen- 
über ä-bä. 

Die  beiden  Helligkeitsuisdrücke  weich  und  ä  werden 
übrigens  von  Felix  auch  bei  Farben  und  zwar  stets  in  rela- 
tivem Sinne  verwendet;  s.  u. 

I)  Anoh  an  dieser  Übertragung  war  ich  sdrald,  Indem  ich  einen  auf» 
getragenen  Hasenbraten  mit  einem  alten  Wits  als  Katze  (mipi)  bewichnet 
hatte.  Das  gab  Felix  Anlass,  sich  den  Auadrnck  lür  jeden  Braten  an- 
zueignen, anfangs  wohl  noch  mit  dem  Gefühl,  eioeu  Witz  zu  machen, 
später  uhne  dautseibe. 

•)  Nach  einer  Vermutung  meiner  Frati  könnte  das  Wort  von  „heil*' 
stanunen,  indem  oft,  wenn  etwas  zerrissen  oder  wenn  Zerrissenes  repariwt 
wurde,  in  den  Reden  der  Erwachsenen  dieses  Wort  Torkam,  Es  kOnnta 
aber  auch  etwa  von  „Sclmle"  kommen  (Nnaasehalen  etc.).  Einmal  wandte 
Felix  dm  Aosdrock  in  der  That  bei  siner  Cttronensdiale  an. 


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Eigenartige  sprachliche  EtUwicäelumg  eines  Kindes. 


431 


Eigentünilicli  ist  die  Vorliebe  für  Umkehnmo^  gewisser 
allittcrierender  Silbenpaare;  z.  B.  tak-tik  statt  tik-tak  für  die 
Uhr.  Wenn  es  ihm  korrigiert  wurde,  antwortete  er  beharrlich: 
näh,  tak-tik. 

Ebenso:  statt beim  SchieBsen.  Dabei 

blieb  er  aiisuahmslos,  so  oft  er  es  auch  umgekehrt  hörte. 

Ebenso:  tap-tip  =  Treppe,  statt  iip-tap,  wie  wir  änderet! 
gelegentlich  der  Kiudersprache  gemäss  sagten^). 

Bigennamen: 

nam-nam  =  Marie,  das  Stubenmädchen. 

he-am-nam-nam,  später  verkürzt  in  Ae  =^  Luise,  die  Köchin. 

0/0/  (s.  o.)  =  Rudi. 

üide  =  Leo  (Hausgenosse). 

du  =  Clara  (Fräulein);  wahrscheinlich  nach  dem  Pro- 
nomen Du,  welches  zwar  nicht  von  ims,  aber  von  Rudi  j^e- 
braucht  wurde.  Einige  Zeit  hiess  sie  auch  /aka  (Metathesis). 

ick  a_  ich,  mir,  mein  etc.  Später  dafür  auch  /iki,  wie  er 
von  den  Erwachsenen  meist  genannt  wurde. 

Zahlwörter: 

/0  »  unbestiininte  Mehrheit  (wie  das  englische  some). 
Wahrscheinlich  aus  „Paar"  herzuleiten. 

krei  (das  r  sehr  scharf)  wm  mehrere.  Jedenfalls  ans  „drei". 

pa  und  krei  werden  auch  als  Gegensatz  zu  einander 
gebraucht,  dann  ist      »  zwei. 

Für  „sehr  viele"  gebrauchte  er  gelegentlich  schiebe,  ölf, 
töif  (das y  sehr  weich),  etwas  spater  auch  aek,  noi,  nach  den 
Zahlenausdrücken,  die  er  bei  Rudi*s  Rechenfibungen  vernommen. 
Besonders  ach  tritt  immermehr  in  den  Vordergrund. 

nocke  noch  ein  (dialektisch).  Sehr  beliebter  Ausdruck, 
zumal  für  die  nächste  Tasse  Milch  fnoche  prullich/J, 

2)  Zusammeusetzuugeu. 

Hierin  verfuhr  Felix  sehr  selbständig.  Keine  von  den 
folgenden  Zusammensetzungen  ist  ihm  durch  Erwachsene  vor- 

Es  fiel  mir  zu  gleicher  Z^it  an  f.  dass  Felix  BiHprhticher  ebenso 
gern  von  oben  herunter  betrachtete  und  die  bezüglichen  Figuren  erkliirte, 
als  wenn  sie  sich  in  der  aufrechten  Lage  befanden;  ein  Zug,  der  bei  Kindern 
ja  fiWhanpt  stell  ftndet  und  «nfEidlend  genug  ist.  Ob  er  mit  der  obigen 
SpimehTeidrehimg  eine  gemeinsame  WotmI  hat,  mnw  dahingoetellt  bleiben. 


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432 


C.  Stumpf. 


j^-esprocben ,  sie  sind  eigene  Krfindiing,  wenn  wir  einmal  so 
saL^eu  wollen.  Zusammen  Fügungen  bekannter  einfacher  Aus- 
drucke nahm  er  natürlich  in  der  Sprache  der  T^mcjcbnng  wahr, 
und  es  mochten  vielleicht  solche  mit  „Mann''  und  mit  ..machen", 
die  er  besonders  ausnützte,  etwas  häufiger  darin  vorkommen 
als  andere;  aber  die  Art  und  der  Umfang,  in  welchem  er  dieses 
Aiisdrurksnnttei  verwertete,  ging  weit  über  das  hinaus,  was  er 
von  Anderen  liciren  konnte. 

wausch-kap  =r  Messer  (Fleisch-kapiit). 
wausch-kopa  =  Gabel  i  Fleisch-aufnehtnen). 
ei'hopa  =  Thee-  (Eier-)  Löffel, 
hoto-loh  —  Postwagen  (Pferde-laufen). 

Das  Teilwort  ioh  —  laufen  wurde  selten  oder  gamicht 
für  sich  gebraucht;  weshalb  mir  erst  später  die  Erklärung 
für  die  schon  9  Monate  lang  gebrauchte  Zusammensetzung  auf- 
ging.   (s.  u.) 

kotihpapn  ^  Milchwagen  (Pferde-essen). 

a-^g'i  =  Schreiben  (a  und  i).  Die  drei  Silben  werden  mit 
nur  minimalen  Pausen  aneinandergereiht;  a,  i  stehen  für  die 
Buchstaben  überhaupt,  von  denen  er  während  Rudis  Schreiben- 
lernen  gehört  hatte 

pap-tube  =  Speisezimmer. 
hu-tube  mm  Schlafzimmer. 

a-i'tube  ^  mein  Studierzimmer,  wo  er  auch  selbst  seine 
Briefe  schreibt. 

lal-bich  =  Briefumschlag.  Dagegen: 

bich-lal,  auch  hicli-muff  =  Briefmarke.  Der  Bedeutungs- 
nnterschied  zwischen  lal-bich  und  bich-lal  wird  durchaus  in 
dieser  Weise  festgehalten.  \'i»'lleicht  ist  die  Meinung  diese: 
Umschlag  für  den  Brief  —  Brief  (zweiter  Ordnung)  für  den  Um- 
schlag. Jedenfalls  ist  es  ein  interessantes  Beispiel  für  die  Ver- 
wendung der  Wortstellung  in  Zusammensetzungen, 

aua-lal  (den  Brief)  zukleben,  aua  hier  uulirscheinlich 
RcTiiiniscenz,  nachdem  ihm  bei  einer  Verwundung  ein  Pflaster 
aufgeklebt  worden  war. 

koko'dach  =  der  Kaufladen  unter  seinen  Spielsachen 
(Chokoladen-Haus). 

ich-koko-äach      mein  Kaufladen. 
koko'fman  =  Kaufmann. 


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Eigenartige  sfmMühe  Untwickeluug  eines  Kindes^ 


433 


koko-tata  Tm  die  Chokoiadentante  (den  Grund  kann  man 
sich  denken.) 

bock -man  =  Würfel  in  Rudi's  Baukasten.  Auch  für 
würfelförmige  Zuckerstücke,  die  sich  zuweilen  unter  den  ge> 
wohnlichen  in  der  Dose  fanden.  Später  auch  für  die  Säulen 
im  Baukasten.  Beliebtes  Wort,  dessen  Ursprung  aber  nicht  deutlich  • 

guck-man  =  Zuschauer,  hap-man^  pap-man  =  der  Essende. 
buek-man  =  der  Lesende,    bich-man  ~  Briefträger. 

sck-sch      Bisenbahn,  allgemeiner  Maschine. 

pitsch-sch  =  Spitzmaschine,  das  Reibeisen,  womit  Rudi 
seinen  Schieferstift  spitzt  Die  Uebertragung  hier  dadurch  be- 
günstigt, dass  das  Instrument  eine  eiserne  Rinne  darstellt, 
worin  der  Stift  hin  und  her  gewetzt  wird. 

u-kru  (grosses  Rundes)  das  Windrad  auf  der  Anhöhe 
am  Saaleufer. 

ack-kru  (Vieles  Runde)  =  Erbsengemüse.  Nicht  in  den 
regelmässigen  Wortschatz  übergegangen,  wie  die  vorherigen 

Zusammensetzungen. 

ack-pit  (Vieles  Spitzige)  =  die  spitzen  Bausteine. 

Auch  einen  Eigennamen  bildete  Felix  durch  Zusammen- 
setzung. Sein  mit  Rudi  etwa  gleichaltriger  Vetter  Herman 
Scherer  aus  Berlin  war  auf  einige  Stunden  zu  Besuch  dagewesen. 
Er  nannte  ihn  tap-olol  {tap  =  Scheere,  also  Schceren-Rudi)  und 
schrieb  noch  Wochen  lang  bich  über  bich  au  iap-oloL 

3)  Sätze. 

Haben  wir  schon  in  den  Wortzusammensetzungen  einen 
gewissen  originellen  Zug  bemerkt,  so  gilt  dies  noch  mehr  von 
den  Satzbildungen.  Felix  zeigt  sich  hierin  öfters  von  der 
Wortstellung  in  den  entsprechenden  Sätzen  Erwachsener  sehr 
unabhängig  und  überhaupt  sorglos.  Bs  scheint  ihm  nur  darauf 
anzukommen,  dass  die  zum  Ausdruck  seines  Gedankens  erfordere 
liehen  Worte  seines  Lexikons  voll/ählig  in  dem  Satz  vorkommen. 
Dies  ist  aber  auch  stets  der  Fall,  mögen  sie  noch  so  bunt  durch- 
einandergewürfelt sein.  Man  wird  mit  Hülfe  der  vorangeschickten 
Wortbedeutungen  die  nachfolgenden  Sätze  verstehen  und  das 
Gesagte  daran  erproben  können. 

ick  olol  hoto  wapa  8  Rudi  hat  mein  Pferd  umgeworfen. 
^»Mein'«  fkh)  und  „Pferd"  (koto)  werden  durch  ^Rudi*'  (ohl) 
getrennt. 


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434 


uütJ  wapa^  uIhI  upa  =  Rudi  hat  es  hingeworfen,  Rudi 
soll  es  auflieben.  Ein  sehr  beliebtes  Diktum  und  in  ent- 
sprechendem  Tone  vorgebracht. 

oM  pa  näk,  ick  pa  ja  -  Rudi  bekommt  nichts,  ich  be- 
komme etwas  (wenn  Süssigkeiten  aufgetragen  wurden),  pa 
das  obige  unbestimmte  Zahlwort^)« 

papa  blich  ff  um     Papa  liest. 

papa  baid  hap-man  ^  Papa  wird  bald  essen.  Erster  Ver- 
such zum  Ausdruck  des  Zukünftigen. 

papa  gttck-ffian,  ick  oiol  du  kap-fnan  =  Papa  sieht  zu, 
ich,  Rudi  und  Fräulein  essen  (als  ich  mit  der  Suppe  bereits 
fertig  war). 

ich  guck'man  nggäk^  ich  hap-man  mm  ich  sehe  nicht  zu, 
sondern  esse. 

lik  Hggäh,  likif  Lik  heisse  ich  nicht,  sondern  Liki.  Er 
war  doch  sehr  auf  die  vollständige  Wiedergabe  seines  Namens 
erpicht,  was  der  Bruder  zu  Neckereien  benützte.  Auch  der 
alte  Name  Job  schien  ihm  nicht  mehr  würdig: 

Job  weg,  liki  da. 

oM  Job  &  —  rmdi  liki  kaja  =  Olol  und  Job  sind  schlechte 
(Namen),  Rudi  und  Liki  schöne. 

ntdi  pa  milck,  iek  krei  milek  =  Rudi  hat  zwei  Tassen 
Milch  getrunken,  ich  mehr. 

ick  a-ng-i  mack  «.  ich  schreibe. 

papa  a^ng-i  bick  =  Papa  schreibt  Briefe. 

a  kapH  m  butta  ^  Schwarzbrod  und  (mit)  Butter. 

nggäk  weick  kapn,  ä  kapn  kaJa  »  Kein  Weissbrod! 
Schwarzbrod  ist  gut  (besser). 

Ohl  haja  u  kru  wapa  «  Rudis  schöne  grosse  Kugel  ist 
umgefallen.  Er  verstand  hier  unter  kru  die  Rechenmaschine, 
wegen  der  darin  befindlichen  Kugeln.  So  wanderte  dieser  Auf- 
druck auf  einen  neuen  Gegenstand  hinüber. 

')  Damit  "Moralisten  nirlit  ob  frühreifer  B^-islteit  die  S-'tirne  ranzchi. 
will  ich  bemerken,  clas»«  Fulix  sehr  ;^utmüt«g  w&r,  sich  aber  va  Neoker-neu 
gefieL  Wenn  er  sich  einen  Pudding  (so  nannten  wir  Seiuiuel  uäi  Milch 
vermiaeht)  zoreclitgieiiWGht  hatte  und  nun  die  Tante  Za^er  darauf  tfcraiiBn 
Bollta,  hieBS  es  Immer:  tote  a^!  sobald  er  aber  den  Zocker  hatte:  tete  §f 
Die  abwesende  Tante  nimmt  er  dagegen  in  Schutz.  Als  meine  Frau  bei 
Tisch  üht  r  Olli  aiifi^^etrag'enes  TTuhn  au^sserte:  ..scheint  eine  alt«'  TaTite-% 
h  >rte  Felix  eine  Invektive  heraas  und  entgegnete  mit  Nachdruck:  nik, 
lata  aja. 


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EigmafÜge  spraddiAe  E$Uandidimg  Htu*  Kbtdes, 


435 


ke  da  krei  tück  koko  pruiHch  wapa  =  Luise  (hat)  da 
mehtere  Stücke  Zucker  (in  die)  Milch  geworfen.  Hier  hat  er 
sich  einmal  genau  an  unsere  Wortstellung  angeschlossen. 

tia  kjob  hoto  krei  loch  ich  du  mach  ^  Dort  (im)  Schnee 
haben  ich  und  Fräulein  ein  Pferd  mit  mehreren  Lochern 
gemacht  Sie  hatten  die  Figur  eines  Pferdes  in  den  Schnee 
eingegraben. 

hafa  tata  haja  nkn  ich  da  apap^  u  apap,  kti  apap  = 
Die  liebe  Tante,  der  liebe  Onkel  (haben)  mir  da  einen  Apfel 
(gegeben),  einen  grossen  Apfel,  einen  eingewickelten  Apfel. 
Er  war  in  rotes  Papier  eingewickelt 

d  fcrah  ä  6u,  weich  krah  haja  hu  Die  schwarzen 
Soldaten  in  die  schlechte  Schachtel  »  Bett),  die  weissen 
Soldaten  in  die  gute  Schachtel  Die  eine  Schachtel  war  defekt 
Hier  aeht  man  in  einunddemselben  Satze  die  doppelte  An- 
wendung von  ä  für  schwarz  und  schlecht  mit  den  zugehörigen 
Gegensätzen. 

Rudi  sendet  Felix  zur  Mutter  mit  dem  Auftrag,  ihm  eiueu 
Hustenbonbon  zu  erbitten.  Felix  richtet  aus:  mama,  o/o* 
koko  kapn.  Die  Mutter:  „Liki,  sag'  an  Rudi,  ich  will  ihm 
einen  Storch  braten."  Felix  richtet  aus:  olol,  mama  haja 
ivausch  olol  hapn  =  Mama  (will)  schönes  Fleisch  Rudi  (zu) 
essen  (vebcii). 

ich  da  geld.  sc/iiebn,  ack.  notn,  ölf.  Natürlich  hatte  er 
von  der  Bedeutung  dieser  Zahlen  keinen  Begriff,  hörte  sie  nur 
öfters  in  dieser  Folge. 

mama,  du  iock  haja  mach  =  Mama,  Fräulein  hat  die 
(Tisch-)  Glocke  blank  gemacht 

Als  ich  ihn  fragte,  wer  gestern  bei  Mama  zum  Kaffee 
gelvesen,  antwortete  er:  ^aia,  tata,  tata,  tata,  ack  tata,  m 
kako-iata  s  Eine  Menge  Tanteui  auch  die  Süssigkeitstante. 

ich  haja  koko-dach  mach  olol  kap  nah  =  Rudi  soll  meinen 
schonen  Kaufladen  nicht  kaput  machea  Das  „soll**  war  hier 
durch  den  Ton  des  Ganzen  ausgedrückt,  durch  welchen  sich 
die  Beschwerde  unverkennbar  von  der  Mitteilung  einer  Thatsache 
unterschied.  Das  näh  am  Schluss,  wie  in  den  meisten  Fällen^) 
(und  zwar  dann  immer  mit  einem  starken  Accent  und  ganz 
eigentümlichen  Tonfall). 


>)  Hierza  vgl.  Snlly,  Untennichangen  über  di«  Kindheit»  S.  162. 
Zcftalirilt  Mr  (riMifpigixlic  P^tbologle  nad  PttholOKic.  2 


436 


6*.  Stumpf. 


ick  holoi  a-i  guck  mach  näh  ich  lasse  (mache)  Rudi 
die  Schrift  nicht  sehen.  Er  hatte  die  Tasse  am  Munde  und 
drehte  sie  so,  dass  Rudi  die  Inschrift  „Felix"  nicht  sehen  kounte. 
Gleich  daranf  sprach  er  nochein  mal  denselben  Satz  mit  anderer 
Wortstellung:  hohl  ich  fuck  mach  a-i  tiäh. 

da  u  kjob,  ja  ma  we.o  ^  (sieh)  da  (grossen  Sciinee, 
auch  ist  Mama  weg  (sie  war  verreist).  Viel  leicht  machte  ihm 
der  grosse  Schneefall  Sorge  um  die  Abgereiste. 

Ich  erzählte  Rudi,  dass  Mama  im  Theater  ein  schönes 
Stück  gesehen.  Felix,  der  zugehört  hatte,  ergänzte:  ja,  Maja 
iück  apelah  =  ja,  schönes  Stück  Heidelbeeren.  Unter  einem 
schönen  Stück  konnte  er  sich  nur  einen  schönen  Bissen  vorstellen. 

Biner  von  den  Zügeln  seines  Pferdes  hatte  Glocken,  der 
andere  nicht.  Darauf  hinzdgend  sagte  Felix:  hek  lül  —  tacken 
HU  =  Glocken-Zügel  —  trockener  Zügel  Tro<^en  im  Sinn  von 
etwas  Mangelhaftem  überhaupt;  wieder  ein  Hineinspielen  der 
Bss-Phantasie. 

lÜt  diesen  Proben  wird  der  freundliche  Leser  nun  wohl 
genug  haben.  Eis  ist  kindliches  Kauderwälsch,  wie  anderes, 
aber  in  einer  ungewöhnlichen  Weise  consequent  durchgebildet 
und  festgehalten,  eine  wirkliche  Sprache,  in  deren  Sätzen  kein 
Wort  zu  viel  und  keines  zu  wenig  ist  Solche,  die  sie  nur 
vorübergehend  hörten,  mussten  freilich  besorgt  den  Kopf  dazu 
schütteln. 

Wir  gaben  uns  öfters  MSlie^  ihm  die  richtigen  Ausdrücke 
beizubringen.  Aber  wenn  wir  ihn  belehrten:  „Bs  hdsst  doch 
Sdiuee'S  „es  heisst  doch  Milch^,  so  war  die  Antwort:  „ich  kjW', 
^Uh  pruilUh'*^  Br  gebrauchte  also  allmSlilich  seine  Sprache 
auch  mit  dem  Bewusstsein  und  der  Absicht,  dadurch  von  der 
allgemeinen  Sprache  abzuweichen. 

Die  Mutter  versuchte  j^relegentlich,  ihn  zum  Nachsprechen 
wohlbekannter  Wui  ie  dadurch  zu  bringen,  dass  sie  in  Gedichten, 
die  er  vom  Hören  gut  kannte,  innehielt  und  ihn  den  Schluss 
eines  Verses  ergänzen  liess.  Der  Effekt  war  beispielsweise 
folgender: 

l'^uchs,  du  hast  die  Gans  gestohlen 
Gieb  sie  wieder  her, 
Sonst  wird  dich  der  Jäger  holen 
Mit  dem  .  .  .  pu-pu-pa. 


r 


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Eige$tartigt  tproiklkhe  EntwicAelung  eines  Kindes.  437 

Seine  grosse,  lange  Flinte 
Schiesst  auf  dich  den  Schrot, 
Dass  dich  färbt  die  rote  Tinte 
Und  du  bist  dann  .  .  .  Map, 
Oder: 

Hinter  mei'm  Gartenzaune 

Blüht  so  e  schöner  .  .  .  ap-hap  (Apfel)  .  .  .  -Banm 
Da  sitzt  e  Fink,  Fink,  Fink, 
Der  so  schön  .  .  .  haja  4aia, 

O  Mohder,  min  Finke  senn  .  .  .  kap, 
Se  fresse  keen  Grömelche  .  .  .  kapH, 
„Hättest  du  de  Finke  .  .  .  kapn  .  .  .  qregewwen, 
Wäre  de  Finke  .  ,  .  nick  nuhr  kap  (am  Lewe  ge- 

blewwen)**. 

Also  auch  diese  List  war  vergeblich. 

Unterscheidung  von  Farben  und  von  Zahlen. 

Sehr  bemerkenswert  war  jetzt  (Ende  des  dritten  und 
•  Anfang  des  vierten  Jahres)  die  Verwendung  von  weich  und 
ä  bei  Farbenbezeichnungen.  Eines  Tages  verlangte  Felix, 
nachdem  er  sich  aus  meinem  Papierkorb  Material  zu  einem 
hi^  an  tata  ausgesucht  hatte,  einen  Bleistift  Zu  diesem 
Zwecke  führte  er  mich  an  den  Schreibtisch  und  streckte  zwei 
Finger  der  einen  Hand  lang  aus>  während  er  mit  der  anderen 
Hand  auf  eben  diese  Finger  hindeutete,  damit  ich  sie  bemerke. 
Die  Geberde  sollte  den  Bleistift  anzeigen.  Icli  gab  ihm  einen, 
der  an  dem  einen  Ende  rote,  am  anderen  blaue  Schreibmasse 
enthielt  Er  rief  sehr  erfreut:  weich  m  ä!  ^  hell  und  dunkel! 
und  deutete  bei  weich  auf  das  rote,  bei  &  auf  das  blaue  Ende. 

Meine  Frau  wusste  es  bereits,  dass  er  alle  hellereu  Farben 
als  weich  bezeichne.  Wir  zeigten  ihm  eine  russische  Schale, 
welche  rot,  golden  und  sdiwarz  lackiert  war.  Rot  und  Gold 
wurden  beide  als  weich  bezeichnet,  Schwarz  als  ä. 

Während  nun  aber  Rot  neben  Schwarz  als  weich  benannt 
wurde,  wurde  Rot  neben  helleren  Farben  als  ä  bezeichnet. 
Als  ein  PfcTckbahnwaj^cn  ii:  der  Dunkelheit  vorüberfuhr,  der 
vorn  eine  weisse  und  eine  rot--  Laterne  hatte,  rief  l'\-lix: 
ä  m  weich/  Und  als  er  darauf  den  Wagen  von  hinten  sah, 
wo  LT  blüü  rutes  Licht  hatte,  antwortete  ci  aut  meine  Frage, 
was  das  für  ein  Licht  sei:  ä.    Die  Identität  des  üiudrucks  mit 

2* 


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438 


C.  Stumpf, 


dem  eben  gesehenen  veranlasste  ihn,  die  Bezeichnung  beizu* 
behalten,  obschou  der  Gegensatz  jetzt  nicht  mehr  vorhanden  war. 

Nun  kam  ein  anderer  Wagen,  der  weisses  und  grünes 
Licht  hatte.  Wiederum  Ausruf :  m  «o^/V:.^ /  Also  ä  jetzt  «  grün* 
Als  der  Wagen  vorüber  war  und  nur  grünes  Licht  zeigte,  nannte 
er  dieses  wiederum  auch  jetzt  noch  ä. 

Auf  seiner  Serviette  waren  drei  Luftballons  zu  sehen,  die 
auf  der  einen  Seite  des  Gewebes  rot,  auf  der  anderen  weiss 
erschienen.  Als  er  dies  entdeckte,  rief  er:  krei  ä  ball,  krei  weich 
baill  Täglich  gab  er  dann  Befehl,  in  welcher  Farbe  er  sie  sehen 
wollte,  und  ruhte  nicht,  bis  diese  Seite  oben  lag.  Das  als  ä 
bezeichnete  Rot  war  hier  sogar  Hellrot.  Trotzdem  wurde  es 
gegenüber  Weiss  mit  dem  Namen  für  Schwarz  bezeichnet 

Am  Thermometer  war  der  Nullpunkt  durch  einen  roten 
Strich  augegeben,  die  übrigen  Grade  durch  schwarze.  Felix 
erklarte:  weich,  a  —  ä  a.  Unter  a  verstand  er  Buchstaben  (a 
ng  i,  s.  o.),  von  denen  er  die  Zahlzeichen  natürlich  nicht  unter- 
schied. Die  roten  Zahlen  hiessen  jetzt  also  wieder  umgekehrt 
weich,  weil  sie  schwarzen  gegenüberstanden. 

Kurz,  es  wird  jede  Farbe  gegenüber  Weiss  als  a,  gegen- 
über Schwarz  als  Toeieh  bezdchnet,  und  noch  allgemeiner  heisst 
die  dunklere  von  zweien  ä,  die  hellere  weich. 

Auch  innerhalb  der  Schwarz-Weiss-Reihe  genügen  schwache 
Helligkeitsunterschiede,  um  die  Ausdrücke  hervorzurufen.  So 
unterscheidet  Felix  weich  hjoh  und  ä  kjob,  weissen  und  schwarzen 
(schmutzigen)  Schnee.  Auch  hier  also  sind  die  Ausdrücke 
durchaus  relativ  zu  verstehen. 

Das  Vorstehende  konnte  auf  die  Vermutung  der  totalen 
Farbenblindheit  fuhren.  Die  Augen  wurden  nicht  daraufhin 
untersucht  (was  ja  auch  bei  Kindern  in  diesem  Alter  nicht 
durchfuhrbar  wäre),  erwiesen  sich  aber  spater  als  vollkommen 
farbentüchtig.  Bs  ist  also  wohl  nur  Sache  der  Bezeichntmg 
gewesen.  Wie  wenig  man  einen  mangelhaften  Sprachschatz 
gegenüber  Farbenausdrücken  als  Argument  für  Farbenblind- 
heit verwenden  dar^  ist  ja  von  Marty  und  Anderen  evident 
nachgewiesen.  In  unserem  Falle  bliebe  freilich  immer  die  Mög- 
lichkeit, dass  ein  zuerst  farbenblindes  Organ  später  farben- 
tüchtig geworden  wäre;  weit  wahrscheinlicher  ist  es  aber,  dass 
Felix*  sprachlicher  Bigensinn,  wenn  ich*s  so  nennen  soll,  sich 
bezüglich  der  Farben  durch  Beschränkung  auf  HelUgkeits- 


Eigmartigt  spraehücke  Entwickdung  ekus  Kindes. 


439 


unterschiede  äusserte,  und  dass  ihn  die  qualitativeil  Unter- 
schiede noch  nicht  genügend  interessiertetif  tttn  ihn  zum  Hin- 
ausgeheu über  diese  Ökonomie  zu  veranlassen. 

Was  die  Zahlen  betrifft,  so  schien  er  mir  zuerst  am  20. 
II.  1888,  also  kurz  nach  Beginn  des  4.  Lebensjahres  die  Begriffe 
zwei  und  drei  bestimmt  zu  unterscheiden.  In  einem  oben  er- 
wähnten Satz  hatte  er  bereits  pa  und  krei  in  der  Weise  gegen- 
übergestellt, dass  mit  f>a  zwei,  mit  krei  aber  eine  darüber  hin- 
ausgehende Zahl  im  allgemeinen  bezeichnet  schien.  Jetzt  aber 
scheint  er  den  Zalilbegriff  3  als  solchen  erfasst  zu  haben.  Er 
sagt  nämlich  bei  Tische:  wei  guckman,  drei  /lapman,  und  dies 
stimmte  genau:  zwei  waren  fertig  (Zuschauer),  drei  assen  noch. 
Möglich  ist  es  freilich,  dass  er  auch  diesmal  nur  die  grössere 
Mehrheit  damit  bezeichnen  wollte.  Auch  ging  jedenfalls  diese 
unbestinmitere  Bedeutung:  noch  länger  neben  der  bestimmteren 
her,  wie  ans  den  sogleich  folgenden  Proben  zu  erkennoi. 

Im  März  1888  begannen  auch  Pluralbildungen  aufzu- 
treten, während  bis  dahin  weder  Deklination  noch  Flexion  oder 
Kon  Inflation  existierten: 

drei  taketiki  —  mehrere  Uhren.  Die  Pluralisierung  wurde 
also  sogar  auf  beide  Teile  des  Wortes  taktik  (s.  o.)  ausgedehnt 

Ebenso:  drei  tapetipe      mehrere  Treppen. 

bocke-manne  _  mehrere  Würfel  (bock-man  s.  a) 

ack  gwke'ioche  mm  viele  Fenster  (in  dem  von  ihm  gebauten 
Kunsthause). 

Als  ich  im  Frühjahr  1888  auf  5  Wochen  (vom  10.  III.  bis 
20.  IV.)  verreist  war,  fand  ich  nach  der  Rückkunft  den  Stand 
der  Dinge  so  gut  wie  unverändert 

Zu  den  früher  erwähnten  Zimmerbezeichnungen  war,  als 
die  Balkonthüre  im  Frühling  geöffnet  wurde,  noch  die  kalt 
tuhn  getreten,  und  das  bezügliche  Zimmer  behielt  den  Namen 
auch  als  es  wärmer  wurde. 

Ferner  war  jetzt  auch  in  seinem  gebräuchlichen  Sinn  in 
den  Wortschatz  aufgenommen,  wofür  früher gedient  hatte. 

Bndlich  kam  jetzt  iok  als  selbständiges  Wort  für  „Lattfen** 
vor,  während  ich  es  früher  nur  in  Zusammensetzungen  fkota- 
ioh)  bemerkt  hatte:  taktik  loh  mach  =  lass  die  Uhr  laufen. 
Wahrsdieinlich  war  es  aus  „los**  entstanden.  Daher  auch  ein- 
mal in  dieser  Zeit:  lala  wieder  hh  =  die  Musik  geht  wieder 
los.   Bs  ist  aber  merkwürdig,  dass  ein  Wortchen  von  so  be- 


440 


C,  Stumpf. 


stimmter  Bedeutung  zuerst  nur  als  Teil  vcm  Zusammensetzun- 
gen gebraucht  wurde  (soviel  ich  wenigstens  kontrollierte).  Der 
Ausdruck  hoto4ok,  dessen  Herkunft  mir  jetzt  erst  verstSndHdi 
wurde,  war  dreiviertel  Jahr  vor  diesem  Zeitpunkt  bereits  im 
Gebrauch. 

Plötzliche  Wandlung. 

Am  5.  Mai  1888  kamen  wir  Bltem  Abends  vom  Spaziergang 
zurück,  nachdem  die  Kinder  soeben  in  das  Bett  gegangen  waren, 
und  wurden  vom  Fraulein  in  grosser  Aufregung  mit  der  Mit- 
teilung emp&ingen,  Liki  könne  auf  einmal  alles  sprechen.  Sie 
war  ausser  sich  vor  Verwunderung.  Wir  traten  in*s  Zimmer 
und  fanden  bestätigt,  dass  er  alles,  was  ihm  vorgesprochen 
wurde,  sehr  korrekt  nachsprach;  zunächst  vier  kurze  Gebete^ 
die  er  von  da  an  Monate  lang  taglich  vor  dem  Einschlafen 
hersagte,  allmälig  auch  ohne  Vorsprechen.  '  Kleine  Un- 
genauigkeiten  blieben  natürlich,  wie  bei  Kindern  immer,  noch 
lang  an  bestimmten  Silben  bestehen  (statt  Herz  kesck^  statt 
Jesus  sekisehisek,  statt  Schlaf  ia/),  aber  sonst  war  die  Aussprache 
fast  tadellos.  Unter  den  Buchstaben  blieb  ihm  nur  das  s  noch 
längere  Zeit  schwer. 

Wie  ist  nuu  diese  plötzliche  Bekehrung  tax  deuten?  War 
es  doch  wirklich,  als  ob  der  heiH<»-e  Geist  über  ihn  gekommen 
wäre  und  ihm  die  Gabe  der  Sprache  eing-egossen  hältf.  Das 
psychologische  Motiv  indessen  wird  wohl  einfach  gewesen  sein: 
er  war  des  Spieles  satt  geworden.  Auch  mochte  er  die  Ab- 
weichung seiner  Sprache  von  der  gewöhnlichen  und  ihre  Un- 
vollkommenheiten  zuletzt  doch  als  störend  und  beschämend 
empfunden  haben.  Was  den  Hergang  dieser  Wandlung  be- 
trifft, so  ist  es  begreiflich,  dass  die  akustii^chen  Worthilder 
des  Hochdeutschen  durch  das  mehrjährige  Hören  in  seinem 
Geiste  fest  sassen,  wie  er  denn  auch  ihre  Bedtiitnng  so 
vollkonuiicn  verstand,  als  es  nur  bei  Kindem  seines  Alters 
der  Fall  sein  kann.  Aber  dass  er  die  Worte  sogleich  fast 
fehlerfrei  herausbrachte,  nachdem  er  bis  zu  diesem  Zeit- 
pimkt  sozusagen  eine  fremde  Sprache  geredet,  ist  iminerlnn 
merkwürdig.  Denn  es  gehören  dazu  auch  motorische  (von  den 
Bewegungen  der  Sprachorgane  zurückgebH ebene)  Vorstellungen 
in  der  richtigen  Aufeinanderfolge,  wodurch  allein  erst  die  Aus- 
führung der  wirklichen  in  gleicher  Weise  angeordneten  Sprach- 


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SigemaH^  sfraMieke  Bmiwiektiimg  tiites  Kmdeu 


441 


bcwegungen  möglich  wird.  Man  könnte  vermuten,  dass  er 
sich  vorher  heimlich  geübt  hatte.  Aber  bemerkt  hnhen  wir 
davon  nichts;  für  uns  war  der  Übergang  ein  durchaus  un- 
vermittelter. Und  sicherlich  hätten  wir  oder  die  sonstige  Um- 
gebung^ irgend  etwas  davon  bemerken  müssen. 

Zunächst  handelte  es  sich  indessen  nur  um  Nachsprechen 
und  um  freies  Hersagen  des  vorher  Nachgesprochenen.  In  der 
folgenden  Zeit  machte  Felix  aber  auch  grosse  Fortschritte  im 
Selbständig  -  Sprechen  und  bediente  sich  aller  möglichen,  oft 
aud>  seltener  und  fremdsprachlicher  Wörter.  Bin  Lieblings- 
wort war  komisch  oder  sonderbar.  Die  Verbalformen  blieben 
iaat  durchweg  noch  infiuitivi.sch  und  flexionslos:  ick  machen  etc. 

Am  6.  Juli  hörte  ich  ihn  zum  ersten  Mal  einen  vollständig 
richtig  gebildeten  Satz  spontan  aussprechen,  dessen  Inhalt  sich 
nicht  gut  mitteilen  lässt  Ein  paar  Tage  später:  „Pui,  wie 
dreckig  das  Wasser  aussieht I" 

Die  alten  Ausdrücke  kamen  immer  swischendurch  vor> 
versclnvnnden  aber  mehr  und  mehr,  u  kru  war  allmälig  Eigen- 
name für  jeden  Windmotor  geworden.  SaaUy  welcher  Ausdruck 
schon  früher  für  alle  Gewässer  dienen  musste,  behielt  diese 
allgemeine  Bedeutung  noch  lange,  z.  K  y^eine  hübsche  Saale". 

Im  Anglist,  als  wir  in  Friedrichroda  waren,  wurde  auch 
ein  Monatsname  in  drolHger  Art  verallgemeinert:  „Mama,  in 
welchem  Juli  brüllen  die  Hirsche?*  —  Dies  sind  indessen 
häufig  beobachtete  Dinge. 

Die  Musik  hiess  noch  länger  kUai,  die  upa-kUke,  laMcke 
mit  kkk^ßPs  waren  noch  im  August  sehr  beliebt 

Die  Farben  lernte  Felix  erst  nach  und  nach  korrekt 
bezeichnen.  Ich  fragte:  „Wie  ist  der  Himmel?  rot,  grün?" 
Antwort:  blau,  „Wie  ist  der  Wein**  (Rotwein)?  Antwort: 
bramm.  Das  Gras  wurde  zuerst  als  g0lb,  dann  als  blau 
bezeichnet  Es  hatte  bereits  einen  Stich  in's  Gelbe,  anderwärts 
aber  auch  in*s  Blaue,  die  Ausdrücke  kdnnen  bereits  richtig 
gemeint  gewesen  seia  Aber  der  Ausdruck  grün  erschien  über^ 
haupt  erst  später. 

Felix  fand  nun  sogar  Gefallen  daran,  unaufgefordert  die 
Farben  zu  benennen  und  Rudi  darauf  aufanerksam  zu  machen. 
Vorübergehend  erfand  er  aber  auch  für  einige  Farben  besondere 
Namen,  z.  R  Kappel  für  Gelb.  Auf  einem  Büde  war  nämlich 
ein  gelbes  Kleid  besonders  auffallend,  und  dieses  ganze  Bild 


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442 


C.  Slump/ 


war  von  ihm  aus  einem  nicht  mehr  crkeniibarcu  Grunde 
Kappel  cfenannl  worden,  worauf  dann  der  Name  für  diese 
Faibe  !x  stehen  blieb.  Ein  Fall  der  Übertragung  vom  Ganzen 
auf  den  Teil. 

Am  30.  November  1888  legte  ich  ihm  die  Regenbogen- 
falben  vor.  Er  konnte  jetzt  die  Hauptfarben  benennen,  ohne 
sich  zu  besinnen:  Grün,  Blau,  Rot,  Geib  —  immer  auf  die 
betreffende  deutend. 

Im  Februar  1889  zeigte  die  Sprache  noch  einige  Un- 
ebenheiten, wie  wratg  statt  schwarz.  Die  mit  st  anfangenden 
Wörter  wurden  samtlich  mit  einem  vorausgestellten  t  versehen, 
z.  B.  tschtehen  für  stehen.  Mit  wie  drolligen  Zusammensetzungen 
er  sich  auch  später  öfters  behalf,  mag  nur  ein  Beispiel  zeigen. 
In  Berlin  hatten  ihm  bei  einem  kurzen  Aufenthalt  im  August  1889 
die  Pferdebahnen  besonders  imponiert,  und  er  unterschied 
zwei  Arten:  „die  mit  Obendrauf  und  die  mit  ohne  Oben- 
drauf". Doch  auch  dies  sind  Wendungen «  die  oft  genug  vor- 
kommen i). 

Im  Laufe  dieses  Jahres,  des  fünften,  trat  ein  grosses 
Wohlgefallen  an  Reimereien  auf,  wofür  er  den  Ausdruck 
hatte:  „Das  sticht  sich''.  Was  sich  freilich  stach,  stand 
nicht  immer  im  Reimlexikon;  z.  B.  „8  und  10  sind  18:  das 
sticht  sich^ 

Eine  seltsame  Schrulle  brachte  noch  der  Anfang  des 
folgenden,  sechsten  Jahres.  Die  Kinder  hatten  ein  Buchstaben- 
Legespiel  bekommen,  das  grosse  und  kleine,  deutsche  und 
lateinische  Lettern  enthielt  Für  diese  Buchstaben  erfand 
Felix  Namen,  die  samtlich  mit  „Familie^  zusammengesetzt 
waren.  Z.  B.  g  hi'ess  „Dreh -Familie**,  p  „Schwanz-Familie**, 
„Schön-F."  91  „Saus-F.**,  g  „Stehdrin-P".  ®  „Stemdrin-F.", 
5b  „Einbauch-F.",  ^  „Zwdbauch-F.«,  H  „Storch-P.*'.  Wober 
der  Gattungsname  „Familie**,  kann  ich  nicht  sagen.  Die 
unterscheidenden  Merkmale  sind  in  den  drei  letzten  Beispielen 
aus  der  Gestalt  der  Buchstaben  genommen,  in  vielen  und  den 
meisten  anderen  Fällen  (ich  habe  deren  30  aufgeschrieben,  die 
mit  voller  Regelmassigkeit  wiederkehrten)  ist  der  Ursprung 
dunkel    Auf  Befragen  suchte  Felix  die  Wahl  der  einzelnen 


>)  VergL  Agathou  Keber,   Zar  Philosophie  der  Kiadersprache,  1868, 
S  57:  „Heute  bin  ich  ohne  mit  dem  Stahl  in's  Bett  geatiegea'*. 


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Eigcnariige  sprachlidu  Entwickelung  eines  Kindes. 


443 


Buchstaben  zu  rechtfertigen;  doch  schien  ihm  der  Ursprang 
selbst  öfters  nicht  mehr  erinnerlich,  jedenfalls  waren  es 
Ähnlichkeiten  oder  Associationen,  die  uns  Erwachsenen  sehr 
weit  hergeholt  schienen. 

Diese  Bezeichnungen  wurden  lange  Zeit,  etwa  ein  Viertel- 
jahr, festgehalten.  Doch  auch  später,  im  November,  kam 
Felix  gelegentlich  noch  wieder  auf  die  Namen  zurück  und 
wusste  die  „Familien"  noch  prompt  anzugeben. 

Der  Vorgang  zeigt  die  Liebhaberei  dieses  Knaben  in 
Hinsicht  des  selbständigen  sprachlichen  Vorgehens,  wenn  es 
sich  auch  nicht  um  die  Erfindung  ganz  neuer  Ausdrucke 
handelt,  sondern  um  die  Kombination  gegebener  und  um  die 
Verwendung  der  Kombinationen  in  bestimmten  festgehaltenen 
Bedeutungen. 

.  Unter  den  Bausteinen  befand  sich  eine  Klasse  von  be- 
sonderer Gestalt  (dünn  und  lang),  welche  Felix  stets  mit  dem 
Ausdruck  marage  (das  g  franzosisch  ausgesprochen)  bezeichnete. 
Dies  ist  der  einzige  Ausdruck,  an  den  er  sich  noch  heute  deutlich 
erinnert.  Br  giebt  als  Grund  dieser  Benennung  an,  der  Stein 
habe  eben  so  ausgesehen,  wie  dieses  Wort  klinge,  und  das 
komme  ihm  heute  noch  so  vor.  In  der  That  liegt  wohl  in 
den  sogenannten  „Analogien  der  Empfindung"  (den  Verwandt- 
schaften, welche  die  Eindrücke  verschiedener  Sinne  miteinander 
infolge  ihrer  ähnlichen  Gefühlswirkxmg  oder  sonstiger  Neben- 
umstände besitzen)  bei  Kindern  ein  Motiv  für  die  Wahl  be- 
stimmter Ausdrucke,  deren  Herkunft  eben  darum  dunkel  bleibt, 
weil  solche  Analogien  oft  sehr  individueller  Art  sind. 

Vielleicht  darf  ich  /.ur  Illustration  dieser  wunderlichen 
PhantasiethätigkeiL  noch  eine  Geschichte  aus  späterer  Zeit  hier 
anreihen.  Am  6  Juni  1897,  alsu  14  Jahre  alt,  spielte  er 
Klavier  und  behauptete  nacliher  mit  Bestimmtheit,  dass  bei 
einer  gewissen  Stelle  des  Stückes  die  aiil  dem  IHügel  stehendeu 
Blumen  jedesmal  gerochen  hätten.  Die  Blumen  rochen  aber 
überhaupt  nicht 

Im  Spätherbst  des  6.  Jahres,  1890,  entstand  eine  neue 
Passion  bei  Felix:  eine  ungeheure  Begeisterung  für  Zahlen 
uufi  Zählen,  die  ihn  auch  schnell  zu  selbständigem  arith- 
metischem Denken  führte.  Ich  will  h!erüt)er  anhangsweise  noch 
Einiges  beifügen,  da  das  arithmetische  Zeichensystem  und  seine 
Verwendung   ia   auch   ein   spezieller  Fall  des  allgenieiueu 


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444 


C,  Stampf. 


Sprachlichen  Zeichensystems  und  der  damit  zuaammenhängendett 
gedanklichen  Operationen  ist. 

Ich  notierte  damals  zuerst  im  Dezember,  dass  er  sich  seit 
einigen  Wochen  auffallend  für  Zahlen  und  Zählen  interessiere 
und  sich  darin  selbst  mit  einem  ausserordentlichen  Wissenstrieb 
forthikle.  Er  konnte  bereits,  ohne  unterrichtet  zu  sein,  nicht  blos 
bis  lOU  und  noch  darüber  zählen»  sondern  auch  die  Zahlen  lesen 
und  schreiben,  kleinere  Zahlen  auch  addieren.  In  der  Küche 
frag  er:  „Nicht  wahr,  wenn  ein  Thaler  drei  Mark  sind,  dann 
sind  zwei  Thaler  sechs  Mark?*  Und  so  stellte  er  sich  immer 
Probleme  und  suchte  sie  zu  losen.  Am  11.  Dezember  konnte 
er  auch  3X3,  2  <8  und  überhaupt  alle  kleineren  Multiplika- 
tionen ausführen,  bald  daraul  auch  2X300  u.  dergl.  Vor- 
gesprochene grossere  Zahlen  wie  1928  schrieb  er  nieder.  Vieles 
lernte  er  so  aus  sich  selbst;  nur  wo  er  im  Zweifel  war,  liess- 
er  sich  helfen.  Am  14.  XII.  schrieb  er  sogar  «50001"  hinnnd 
fragte:  „Ist  das  richtig,  fünfzigtansend  und  eins?*  Dann 
operierte  er  so  mit  den  Tausendern  weiter.  Am  6.  Januar  IS*^!, 
also  noch  nicht  volle  6  Jahre,  rechnete  er  bereits  2X648 
u.  dergl.  im  Kopf  aus  und  bediente  sich  dabei  verschiedener 
Methoden  in  Hinsicht  der  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Teil- 
operationen, hauptsächlich  aber  der  Zerlegung;  z.  B.  2X38  durch 
2X30,  dann  2X8,  dann  60+10,  dann  70+6.  Nichts  war  ihm 
angenehmer,  als  wenn  man  ihm  solche  Aufgaben  stellte. 

„Er  sieht  nur  Zahlen",  sagte  damals  die  Mutter,  mit  ihm 
aus  der  Stadt  znruckkehreud.  An  den  Läden  mit  den  schönsten 
Spielsachen,  an  den  Pferdebahnwagen,  an  den  Häusern  — 
überall  nur  die  Zahlen.  Daran  erkannte  er  auch  die  einzelnen 
Pferdebahnwagen,  deren  doch  eine  ziemliche  Menge  war,  und 
begrüsste  jeden  froh  als  guten  Bekannten.  Kam  die  Zdtung^ 
so  sah  er  sofort  nach  der  Nummer  und  war  sehr  au^feregt, 
wenn  sie  sich  nicht  regelrecht  an  die  aoschloss,  die  er  zuletzt 
gesehen.  Seit  Mitte  Januar  verfertigte  er  sich  ein  kleines  und 
ein  grosses  Einmaleins,  indem  er  in  einem  Büchlein  sehr  sorg- 
sam die  Zahlen  untereinanderschrieb,  die  er  aber  für  dieses 
Dokument  der  grosseren  Sicherheit  halber  mit  Hilfe  der  Rechen* 
maschine  Rudi^s  kontrollierte. 

Nun  kam  er  auch  auf  die  Bruchrechnung.  Die  Namen 
>,Halb,  Viertel"  etc.  hatte  er  naturlich  schon  gehört  und  auch 
bemerkt,  dass  Teile  von  Zahlen  gemeint  waren.   In  dem  Mo> 


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Bigmamge  spmekUckt  Mmtmickdtmg  «mm  Km4e$» 


445 


ment,  wo  ihm  die  genaue  Bedeutung  klar  wurde,  konnte  er 
auch  damit  rechnen:  „Nicht  wahr:  8  ganse  Stunden  sind  16 
Viertel?*  Nein,  antwortete  ich,  16  halbe.  Daranf  Felix  ohne 
Besinnen:  „Ach  so,  dann  sind  es  32  Viertelstunden". 

Auch  fand  er  selbst  heraus,  dass  eine  gerade  und  eine 
ungerade  Zahl  zusammen  wieder  eine  ungerade  geben.  Was 
eine  gerade  Zahl  sei,  hatte  ihm  eines  der  Dienstmadehen  ge- 
sagt; er  erklarte  sie  mir  als  „die,  die  man  durch  2  machen 
kann^*.  Am  Abend  desselben  Tages  kam  er  aber  mit  einem 
Fund:  „Ich  kann  auch  machen,  dass  wieder  eine  ungerade 
herauskommt".  Vfvt  denn?  fragte  ich.  „Wenn  ich  3  zu  3  zu- 
sammennehme  und  dann  noch  einmal  3  dazunehme'*. 

Auch  die  irerschiedenen  ZiHemfoimen  interessierten  ihn 
sehr,  er  schrieb  das  erwähnte  1X1  in  altdeutschen  Formen,  die 
er  Gott  weiss  wo  gesehen  hatte. 

Diese  Rechnen-Passion  war  indessen  nur  eine  Episode. 
Sie  verlor  sich  während  des  Somincrs  1891,  und  in  der  Schule 
hat  Felix  keinerlei  hervorragende  matliematischeii  i  ahigkciten 
entwickelt.  Anfangs  klagte  er  selbst  einmal:  „In  der  Schule 
verlerne  ich  alles."  Dagegen  trat  1893,  im  9.  Jahre,  wieder 
plötzlich  eine  ähnliche  Begabung  und  Neigung  für  das  Schach 
auf,  das  er  überaus  sclmell  und  gut  erlernte.  Jetzt,  in  seinem 
17.  Lebensjahre,  fesseln  ihn  physikalisch-technische  Neben- 
interessen mehr  als  es  einem  Schüler  des  humanistischen 
Gymnasiums  nützlich  ist.  Hoffentlich  ist  aber  die  alte  Liebe  zur 
Sprache  nicht  ganz  erloschen,  die  in  den  ersten  Lebensjahren 
sein  vornehmstes  und  freilich  auch  am  meisten  misshandeltes 
Spielzeug  gewesen. 

Ich  will  diese  anspruchslosen  Mitteilungen  endigen,  ohne 
noch  einmal  auf  die  grossen  Probleme  zurückzukommen, 
von  denen  wir  ausgingen.  Mag  es  nun  Jedem  überlassen 
bleiben,  was  und  wieviel  er  daraus  über  die  treibenden  Kräfte 
bei  der  kindlichen  Spraclientwicklung,  über  Anpassung,  Nach- 
ahmung, selbständige  Pr(>chiktion  oder  Benutzung  fremden 
Eigentums  entnehmen  zu  können  glaubt.  Möchten  sich  aber 
auch  Berufene  dadurch  angeregt  finden,  auf  ähnliche  Fälle  zu 
achten.  Manches  Gespräch  mit  Eltern,  manche  Notizen  in  der 
Litteratur  lassen  vermuten,  dass  Eigenartiges  von  Bedeutung 
nicht  so  selten  ist  Wenn  auch  wohl  Neubildungen  im  strengsten 
Sinne  sich  immer  weniger  herausstellen,  je  mehr  man  auf  die 


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446 


C.  atumpf. 


Umstände  Acht  giebt^),  so  wird  dafür  iniraer  mehr  des  Indivi- 
duellen in  Umbildungen  und  Verknüpfungen  entdeckt  werden.-) 
Wir  werden  dadurch,  wenn  man  auch  die  übrigen  Äusserungen 
des  Geisteslebens  heranzieht,  gewisse  Typen  unterscheiden 

in  difs<T  lieziohujig^  kann  irh  Wundt's  Bemerkun[.'eu  zu  dpn 
uuerkittrlicheii  \Vortbildui^{üu,  die  von  Mre.  K.  C-  Moore  (früher  schon  von 
Taine  n.  A.)  an^jefSlirt  wurden,  nur  zustimmen,  obioiioii  leb  nicht  so  weit 
gehe,  die  Iföglfchkeit  und  du  VoTkommen  wirklicher  NenbUdangen  ganz  sa 
leugnen,  und  Herleitungen  wie  die  des  Wort^  bcyer  (=a  Hnnd)  ana  einer 
Niicliahmung  der  TJcIHum*  -irnujen  oder  tibu  (=  Vo^r,.!";  ans  Piepvogel  für 
mehr  als  g'pwajrt  anseiie.  Aui  meisten  .scheinen  wirkliche  Gründungen  hei 
Eigennamen  vorzukommen  ^vgL  Sullj  S.  135).  Man  kilnnte  hier  nur  viel- 
leicht indirekt  eine  Wirkung  der  Kachahnnmg  finden,  insofern  das  Kind 
wohl  bemerken  kann,  daes  die  Erwachsenen  mit  Eigennamen  adur  wiUkfir» 
lieh  Umänderungen  vornehmen,  vor  allem  mit  denen  der  Kinder  selbst. 

G.  Komanes  '^\\'\A  in  tseinem  Buche  „Mental  evulution  in  man" 
S.  l  'Wf.  narh  pint»r  mir  uiclit  bekannt  gewordenen  Abhandlung  von  H.  Haie 
austiihrlichen  Bericht  über  zwei  Fülle  vou  „eri'uudeuen",  systematisoh  durch- 
geföbrten  und  festgehaltenen  Kinderspraohen  mit  lauter  eigenen  Ansdiflcken; 
er  fügt  auch  noch  einige  Einzelbeobachtnngen  über  erfundene  Ansdrftcke 
nach  Hr.  E.  Street  hinzu.  Die  Angaben  Halens  scheinen  mir  nicht  voll- 
kommen duiflisii  litiq-  nnd  einwandfrei,  da  z.  B.  in  dem  ersten  der  Fälle 
verschiedene  ofVenliar  dem  Frunzö.sischen  entlehnt«  Ausdrücke  vorkamen, 
obächon  die  Mutter,  die  Französisch  gelernt  iiatte,  diese  Sprache  niemals 
in  der  Unterhaltung  gebraneht  haben  soll.  Aber  im  gamsen  maehen.  diese 
Beobachtungen  doch  in  ihrer  detaillierten  Wiedergabe  keineswegs  den  Ein- 
druck, dass  sie  ein  für  ülL-mal  und  en  bloe  «in  das  Gebiet  der  flabel  zu 
verweisen  ■  wären  (vgl.  Wundt  28o). 

HerauzuT^iehen  sind  hier  ferner  die  Beobachtungen  an  Taubstummen 
und  Taubstuuun-Blindeu,  bei  welchen  die  JNütlage  die  erfinderischen  Kräfte 
in  höherem  Hasse  In  Bewegung  setzt,  wenn  nur  die  nötige  geistige  Eegsam- 
keit  überhaupt  vorhanden  ist.  Ausser  dem,  was  schon  früher  über  Laura 
Brtdgman  berichtet  ist,  die  z.  B.  durch  etwa  50  Stimmzeichen  die  ihr  be> 
kannten  Pei^sonen  untcrscUiecl,  sind  die  Mitteilungen  G.  Riemann's  in  der 
lehrreichen  Schrift:  ,.Tuul>.stuuuu  und  Idind  zugleich«,  1895,  zu  beachn^n, 
namentlich  Ö-  L'7  über  erfundene  Eigennamen  und  S.  7  Über  erfundene  Ge- 
berden. IVeilich  handelt  es  sich  hier  um  ein  Kind,  das  erst  im  vierten 
Jahr  Gehör  und  Gesicht  und  allndUig  auch  Sprache  und  Wortgedlehtnis 
verloren  }iatte. 

Mprkwtirdij^t'-  !)eiichtet  S.  Heller  über  die  Sprache  eines  9j8hri|Lren 
„[isychlsch  tauben«  Kindes.  Sie  war  aus  einer  grösseren  Anzahl  von 
Stämmen  und  von  Endiguugen  eigener  Art  ijebildet  (Stämme:  tu,  ta,  bu. 
am  etc.,  Endigungen:  antech,  intech,  untsch,  ainpt,  impf,  umpf  etc.).  Spitter 
wich  sie  der  normalen  Sprache.  ^Ueber  psychische  Taubheit  im  Klndeaalter* 
1894  (mir  nur  bekannt  ana  dem  Referat  in  der  Zeitschr.  für  Psychologie 
und  PhysioL  der  Sinnesoigaae  IX,  1896,  S.  74). 


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Eigenartige  sprachliche  Entwieketung  eines  Kindes. 


447 


IcTueu,  iu  denen  sich  das  Keimen  und  Sprossen  des  jiiiij:^en 
Menschengfeistes  vollzieht,  und  wir  werden  einer  auf  Erfahninjif 
rnhcndcn  F.rkcnntiiis  der  Anlatjen  näherkommen,  auf  denen 
diese  Entwicklungsverschiedenheiten  ruhen. 

Ans  dem  Gesichtapunkt  dM  Spieles  hat  K.  Oroos  tlie  Erliniiuugsfrage 
besprochoi:  Die  fiplde  dee  Menschen,  1899,  S.  380f. 

^  Hanohe  hübsche  Beobachtung  himrttber  findet  meii  n.  A.  in  der 
schon  erwähnten  kleinen  Schrift  von  A.  Keber,  S.  33  o.  ö.,  sowie  bei 

G.  Lindner,  Aus  dem  Naturgarten  der  Kindersprache,  1898,  S.  62  u.  0. 
TJndner  spricht  auch  S.  42  von  dfir  Neigang  des  noch  nicht  zwegihrigen 
Kindes,  mit  seiner  Sprache  zu  spielen. 

Suliy  und  Compajrre  sind  iu  ihren  bekannten  in  s  Deutsche  über- 
Betxten  Werken  schon  Tielfach  auf  die  Yerknttpfnngsfonniii,  die  Wort- 
stellang,  die  ümformnngsrichtungen,  kurz  das  ganze  grammsEtlfldL- logische 
Operieren  eingegangen.  Besonders  aber  W.  Ament  in  seiner  gründlichen 
Mono  raphie  „Pie  Entwickelung  von  Sprechen  und  üfnk»^n  beim  Kindp" 
18''^',  die  in  dei  Verbindung  ausgedehnter  selbstanf/estellter  Beobaclituugeu 
mit  psychologischen,  logischen  und  sprachwissonschoitlichen  BeÜexionen 
sicher  den  rechten  Weg  geht,  wenn  anch  mancheB  zun  Widerspradk  herans» 
fordert. 

Am  wenigsten  Ge.schmack  kann  ich  blossen  Wort  zäh  Inn  gen  ab- 
gewinnen. Seit  der  amerikanische  Astronom  IIo!f1(»n  eine  förmliche  Statistik 
gleichsam  eine  Sternkart«  —  des  Wortschatzes  bei  seinem  Kiud  in  ver- 
sclüedeneu  Siadien  augelt  gi  hat,  etnd  nicht  Wenige  seinem  Beispiel  gefolgt, 
wie  die  Tabelte  bei  Freyer  EL  365  zeigt.  Aber  was  kann  man  denn  neues 
aas  diesen  <>o  mtihevoll  gewonnenen  SSahlen  ableiten?  Daaa  indlTidneUe Unter- 
schiede im  Wortreichtum  sein  werden,  versteht  sich  von  vornherein.  Wenn 
man  auf  das  Zahlcnvcrhältnis  der  TTnnptwörtpr  zn  den  "Kigenschaftswörtem, 
Zeitwörtern  etc.  Gewicht  legt,  so  ist  schon  die  Zählung  selbst  hier  nicht 
ohne  Willkür  mögUch:  denn  oft  genng  kann  man  einen  Kindenraadmck 
ebensognt  zn  der  einen  wie  der  aaderou  ELlasse  rechnen  und  wird  er  that> 
sttchiich  bald  in  der  einen  bald  in  der  anderen  Funktion  gebrancht  Ich 
möchte  daher  weniger  mit  Preyer  wünschen,  dass  in  dieser  quantitativen, 
als  dass  in  der  qnnittntiven,  die  Analyse  psychologisch  vertiefenden  itichtODg 
weiter  gearbeitet  würde. 


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Zum  Seelenleben  des  Schulkindes. 

Vortrag  tm  Verein  für  Kioderpsychologie  am  8.  November  1901 

von  Wilhelm  Münch. 
(Gekflixter  Bericht) 

Das  Studium  der  Kinderpsychologle  wendet  sich  im  all- 
gemeinen, hier  wie  im  Ausland,  vorwiegend  dem  frühesten  Alter 
zu.  Wenn  dies  naturgemäss  und  berechtigt  ist,  so  kann  doch 
nicht  etwa  die  Beschäftigung  mit  spateren  Entwickelungsstadien 
für  zwecklos  gelten,  so  lange  nicht  über  das  früheste  recht  feste 
und  allseitige  Brkenutnisse  gewonnen  wären.  Unbedingte  Sicher- 
heit und  Vollständigkeit  wird  ja  wohl  nie  erreicht  werden.  An 
verschiedenen  Punkten  der  Linie  den  Hebel  zugleich  anzu- 
setzen, kann  nicht  verfehlt  heissen.  Ist  man  doch  auf  mehr 
als  einem  Gebiete  in  den  Anfängen  überhaupt  stecken  geblieben, 
weil  man  dieselben  nicht  gründlich  genug  glaubte  erledigen 
zu  können. 

Der  gegenwärtige  Beitrag  beansprucht  überhaupt  keinen 
wissenschaftlichen  Charakter.  Es  wird  ja  immer  auch  die 
schlichte  Erfahrung  und  die  Beobachtung  mit  den  natürlichen 
Mitteln  wieder  zum  Worte  kommen  dürfen.  Ist  sie  wissenschaft- 
licher Feststellung  nicht  gleichwertig,  so  wirkt  sie  doch  auf  eine 
nicht  verächtliche  Art  mit  dieser  zusammen,  liefert  ihr  eine 
Art  von  Rohmaterial,  lässt  auch  wohl  die  Probleme  heraus- 
wachsen und  wird  immer  der  exakten  Forschung  vieles  er- 
gänzend und  füllend  hinzufügen  können. 

Der  Begriff  Schulkind  ist  fester  abgegrenzt  als  der  Begriff 
Kind  selbst.  Das  letztere  Wort  oder  das  ihm  in  anderen 
Sprachen  entsprechende  hat  je  nach  Zeiten  oder  auch  nach 
Umständen  und  Stimmungen  eine  sehr  verschiedene  Bedeu- 
tung erhalten.  Am  weitesten  wird  die  Anwendung  des  fran- 
zösischen enfant,  obwohl  es  von  in/ans  (s  noch  nicht  sprechen 
könnend)  herkommt,  nach  oben  hia  ausgedehnt.  Im  Deutschen 
scheiden  wir  gerne  ziemlich  früh  „Knabe**  imd  „Mädchen** 


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Zum  SeeUnitben  det  Sch*Ukmd«s. 


449 


von  „Kind",  denken  bei  dem  letzteren  Worte  an  die  volle 
Hülfsbedürftigkeit,  Weichheit,  Bestimmbarkeit,  Anlehnung,  an 
das  Fehlen  jedes  festen  oder  schon  harten  Kernes,  und  bei  den 
ersteren  an  die  begonnene  Ablösung  (d.  h.  die  dritte  Ablösung, 
nach  der  ersten  der  Geburt  und  der  zweiten  des  Gehenkönnens), 
an  die  Bildung  einer' gewissen  inneren  Selbständigkeit  und  an 
die  Hinlehnung  zu  Genossen.  Gewisse  Uebergänge  oder  Sta- 
tionen sind  eben  von  der  Natur  selbst  gegeben ;  andere  werden 
halb  durch  Natur  halb  durch  menschliche  Kultur  hervorge- 
bracht, noch  andere  durch  konkrete  menschliche  Einrichtungen 
jfeschaffen.  So  entsteht  die  Kategorie  Schulkind. 

Man  muss  nicht  mei^ien,  dass  die  Abgrenzun|f  hier  immer 
•die  gleiche  gewesen  sei.  Bis  in  das  18.  und  19.  Jahrhundert 
hinein  pflegte  man  den  Schulbesuch  weit  früher  beginnen  zu 
lassen,  als  jetzt  üblich  und  zwar  so  ziemlich  in  allen  Ländern 
gleich  üblich  ist.  Die  obere  Grenze  fällt  allerdings  grossenteils 
über  das  Stadium  hinaus,  welches  sonst  das  „Kindesalter**  ab- 
schliesst  Mit  der  früheren  Periode  des  Schulbesuchs  wollen 
auch  wir  uns  vorwiegend  beschäftigen. 

Der  Uebergang  vom  Hauskinde  zum  Schulkind  ist  wirk- 
lich für  das  seelische  Leben  ein  sehr  tiefgreifender.  Ple  Ueber- 
gänge, welche  die  Natur  hervorbringt,  sind  für  das  Seelen- 
leben glimpflicher.  Dreierlei  kann  man  herausbeben,  was  mit 
diesem  Uebergang  plötzliche  und  tiefgreifende  Bedeutung  ge- 
winnt: die  Schule  ist  Sphäre  der  Autorität,  der  Pflicht,  der 
Kameradschaft.  Wenn  diese  Begriffe  eine  gevdsse  Kraft  schon 
vorher  besassen,  so  treten  sie  hier  doch  mit  ganz  anderer  Wucht 
auf.  Es  ist  wirklich  Eintritt  in  eine  neue  Welt,  mittkeuen  Lebens- 
bedingungen. 

Dass  ihr  in  Aufregung  und  mit  Bangigkeit  entgegenge- 
sehen wd,  dafür  sorgt  leider  oft  die  Umgebung  des  Kindes. 
Eine  wohlwollende  Erziehung  würdigt  die  Schwere  des  Ueber- 
ganges  und  sucht  dessen  Schroffheit  durch  freundliche  Mass- 
nahmen zu  mildern.  Aber  der  Eindruck  der  neuen  Verhältnisse, 
Schranken  und  Bande  bleibt  gross.  Die  Oede  der  gewöhn- 
lichen Schulzimmer  kommt  mit  unbehaglicher  Wirkung  hinzu. 

Autorität  der  Eltern  machte  sich  immer  fühlbar.  Aber 
sie  war  weit  glimpflicher,  beweglicher,  flüssiger,  ward  abgelöst 
durch  Aeusserungen  der  Liebe,  oft  auch  geradezu  von  Liebe 
durchkreuzt.  Jedenfalls  schrumpft  der  Emst  dieser  Autorität 


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450 


H'iUulm  Münch. 


ji't/t  sehr  zusammen  gej^emiber  der  neuen,  unbediriL^teren.  J  )ort 
\  crl)ancl  sie  sich  mit  1-  ürsorj^^e,  mit  Hül£sl)ereits(  hafi  im  Kleinen 
und  PersDnlieliin.  nut  Schutz.  Dort  ward  nicht  l)l<»s  über- 
legenes W'isvcii  und  Können  fühlbar,  sondern  allgememe  per- 
«=innJiche  I 'eberlei^enheit.  Das  reichliche  Hervortreten  des  Ge- 
fuhlsleljens  bei  den  autoritativen  Personen  fehlt  jetzt.  Der 
Lelircr  bleibt  in  einer  ziemlich  stetigen  Jenscitigkeit.  Seine 
Autorität  ist  weit  starrer.  Seine  Gehoie  sind  nicht  wie  mütter- 
liches oder  väterlichem  (icheiss,  sie  sind  so  gut  wie  Ges(  tze. 
Der  Begriff  des  Gchcizes  taucht  überhaupt  jotzt  auf.  Das  Ilaus- 
gesetz  daht  im  war  mehr  eine  Haus-  und  Lebensordnung,  m  die 
man  unbewusst  hinemgewachsen  ist,  die  auch  nicht  starr  zu  sein 
pflegt.  Zu  den  Geboten  kommen  die  V^erbote,  deren  man  zu 
Hause  mo  viele  in  den  Wind  ge-^chlagen  hat,  ohne  dass  es  weitere 
Folgen  haben  musste,  und  die  hier  so  unangenehm  ernst  ge- 
meint sind. 

Aber  schon  (He  (Jrdnung.  die  Lehensordnung  für  die  Schub 
gemeinschaft,  ist  eine  viel  unbedingtere  und  unbequemere,  l'nd 
ebenso  unbedingt  muss  hier  Gehorsam  geleistet  werden,  auch 
wo  das  Innerste  widerstrebt;  Gehorsam,  der  zwar  \on  früh 
auf,  aber  kaum  jemals  recht  konsequent  gefordert  wurde,  und 
der  hier  in  der  Schule  nicht  erleichtert  wird  durch  den  natür- 
lichen Einklang,  durch  das  ganze  nahe  Verhältnis  zu  den 
Gehorsam  Ilei^fhenden. 

Dazu  der  neue  J'.egriff  der  Pflicht  als  zusammenhängende 
persönliche  ( iebundenheii  an  tin  bestimmtes  Thun,  Pflicht  mit 
Verantwortlichkeit.  Zuerst  die  grosse  und  allgemeine  Pflicht 
der  Aufmerksamkeit.  Diese  soll  der  Lehrer  freilich  wecken  und 
durch  die  Art  seines  Llnterrichts  erhalten.  Aber  wie  schwer  be- 
hauptet sich  diese  Wirkung  auf  die  Dauer,  wie  natürlich  ist 
das  Al)schweilen  der  Gedanken,  wie  stark  sind  die  ablenkenden 
Einflüsse!  Dann  die  Zumutung  an  die  korrekte  körperliche 
Haltung,  namentlich  bei  j)cdantischen  Lehrern.  Ferner  die 
grosse  Pflicht  des  Fleisses,  der  Hegriff  der  zu  lösenden  Auf- 
gabe. So  minimal  diese  auch  im  Anfang  sein  mag,  sie  wird 
keineswegs  so  empfunden.  Der  Druck  der  Verantwortung  lastet 
auf  der  werdenden  kleinen  Persönlichkeit,  der  Druck  der  ge- 
samten neuen  Lebenslage  auf  dem  Gemüt.  Bei  manchen  Kin- 
dern dau(  rt  die  aufregende  Wirkung  Wochen  und  Monate  lang, 
die  Besorgnis  vor  dem  Nichtrechtmachen  verfolgt  sie  bis  in 


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Aum  StstUnUbcH  des  Schtäkindes.  4^1 

den  Schlaf.  Als  erfreuliche  Gewisseahaftigkeit  wird  oft  ge- 
nommen, was  Aengstlichkeit  des  zarten  Gemütes  ist.  AUmählicjti 
«rfolgt  Eingewöhnung,  Abhärtimg,  auch  Abstumpfung. 

Als  das  dritte  Neue  kommt  das  Leben  in  der  Genossen- 
schaft in  Betracht.  Geschwister  und  andere  Gespielen  vorher 
bedeuteten  keineswegs  dasselbe  wie  diese  fest  abgegrenzte  und 
fest  umschliessende  Klassengenossenschaft.  Mit  allen,  auch  den 
ganz  ungleichartigen,  ist  hier  zu  rechnen;  alle  und  die  Gesamt- 
heit gewinnen  Bedeutung  für  den  Einzelnen.  Die  Fremdartig- 
keit des  Wesens  mancher  Schulgenossen  kann  zu  einem 
schweren  Druck  werden,  die  Angst  vor  einem  solchen  kann 
grösser  sein  als  die  vor  Schule,  Lehrer,  Strafen.  Einige  tyranni- 
sieren früh  die  Gemeinschaft.  Auch  entwickelt  sich  bald  eine 
Art  von  Klassengeist.  In  ihn  wird  der  Einzelne  hineingezogen. 
Das  Gemeinschaftsleben  verdichtet  sich  allmählich;  seine  be- 
sondere Moral  wird  bestimmend.  Es  gibt  innerhalb  der  jugend- 
lichen Entwicklung  eine  Periode,  wo  die  Genossenschalt  eine 
überragende  Macht  erhält  gegenüber  den  natürlichen  und  ge- 
setzten persönlichen  Autoritäten.  Es  ist  eine  Zeit  der  Abwen- 
dung von  der  Familieninnigkeit.  Das  Stadium  scheint  durch- 
laufen werden  zu  müssen,  damit  nachher  die  Bildung  einer 
individuellen  Natur  erfolgen  könne.  Nach  dem  natürlichen 
innigen  Verbundensein  mit  der  Blutsgemeinschaft,  deren  Schoss 
das  Kind  entsprosst  und  angehört,  folgt  dieses  Aufgehen  in  der 
freieren  Verbindung,  um  endlich  zur  (relativen)  Selbständig- 
keit gelangen  zu  lassen.  Ihr  voUstes  Leben  hat  diese  Genossen- 
schaft im  kameradschaftlichen  Spiel>  das  in  seinem  Rechte 
(auch  als  wildes  Spiel)  nicht  anzutasten  ist,  und  das  auch  inner- 
halb des  Schullebens  Gelegenheit  zur  Entfaltung  finden  muss. 
Die  genauere  Entwicklung  des  Verhältnisses  der  Kameradschaft 
sei  hier  nicht  verfolgt ;  kritische  Zeiten  folgen  wohl,  wilde  Autori- 
täten stellen  sich  gegen  die  echten,  trotzig  unsittliche  gegen  die 
sittlichen,  körperliche  gegen  die  geistigen,  Ueberkraft  gegen 
Vollmacht.  Der  jugendliche  Mensch  macht  hier  einen  Ent- 
wicklungsprozess  durch,  wie  ihn  die  Menschheit  auf  dem  Wege 
ihrer  gesamten  Kulturentwicklung  durchmachte,  oder  die  ein- 
zelnen Völker  in  der  Menschheit.  Die  Knaben  durchlaufen 
das  heroische  Zeitalter.  Die  Lektüre,  die  sie  i|i  dieser  Zeit 
suchen,  entspricht  jenem  inneren  Zustand.  Dem  lieblich  Wun- 
derbaren der  früheren,  echt  kindlichen  Stufe  folgt  hier  das 

Zeitschrift  für  pädagogi'schc  Psydiologie  und  Pathologie.  3 


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452  WWulm  Münch, 

Abenteuerliche,  das  vom  Sittlichen  losgelöste  Heroische,  um 
später  dem  heroisch  Idealen  Platz  zu  machen. 

Es  wird  in  dieser  Zeit  gcwissermassen  ein  Doppelleben 
geleVjt :  in  der  freien,  wildwüchsigen  Gemeinschaft,  und  in  der 
organisierten.  Ein  Doppelleben  zugleich  aber  auch  zwischen 
der  häuslichen  Gemeinschaft  und  der  Schule.  (Einem  solchen 
Doppelleben  stehen  übrigens  auch  die  Erwachsenen  keines« 
wegs  so  fem,  wie  sie  glauben  mögen.)  Dasselbe  Kind  ist  In  den 
beiden  Lebenssphären  in  Wahrheit  nicht  dasselbe.  Die  Eltern 
kennen  es  meist  nur  halb,  und  auch  die  Lehrer  meist  tmr  von 
der  einen  Seite.  Fälle  eines  ganz  auffallenden  Auseinander- 
gehens fehlen  nicht;  störrjg  hier  und  weich  dort  vermag  der- 
selbe Zögling  zu  sein;  ganz  häufig  ist  das  Nebeneinander  von 
gesittet  und  wild,  von  freundlich  mitfühlend  und  gefühllos  kalt, 
ja  von  wahrhaftig  und  lügnerisch.  Natürlich  ist  auch  die  Sprache 
oft  hüben  und  drüben  ganz  verschieden  (fast  so  wie  die  der 
jungen  OHiziere  auf  dem  Exerzierplatz  und  im  Damensalon). 
Manches  Hässliche  im  Gemüt  des  Schulzöglings  wird  ganz 
abgestreift  mit  dem  Verlassen  der  Schulbänke.  Im  günstigen 
Falle  wächst  aus  beiden  Naturen  eine  neue,  selbständige  und 
nicht  wertlose  heraus. 

Praktisch  verursacht  das  äussere  und  innere  Doppelleben 
in  Schule  und  Hans  viel  Missliches  und  Bedauerliches.  Dass 
die  Familie  ein  Bild  gewinne  von  dem  wirklichen  Leben,  Geist, 
Ton  und  den  Vorgängen  in  der  Schule,  ist  sehr  schwer,  kaum 
möglich.  Eine  objektive  Wiedergabe  durch  die  Unreifen  ist 
nicht  zu  erwarten;  Verschiebungen  und  Uebertreibungen  sind 
selbstverständlich.  Man  muss  noch  nicht  bösen  Willen  an- 
nehmen, wenn  unrichtige  Bilder  gegeben  werden.  Aber  frei- 
lich ist  man  noch  weniger  berechtigt,  guten  Willen  anzu- 
nehmen, einen  Willen,  der  ernstlich  auf  Wahrheit  und  Ge- 
rechtigkeit (selbst  dem  Lehrer  gegenüber)  gerichtet  wäre. 
Uebrigens  sind  die  meisten  En^-achsenen  bei  entsprechenden 
Mitteilungen  kaum  weniger  unzuverlässig. 

So  ist  denn  auch  der  Glaube  an  willkürliche  Gunst  oder 
Ungunst  der  einzelnen  Lehrer  gegenüber  den  einzelnen  Schü- 
lern sehr  verbreitet  und  verständlich  genug.  Dass  persönliche 
Sympathie  auch  l)ei  gewissenhaften  Lehrern  leise  mits])nclit. 
wird  nicht  zu  leu^^nen  sein;  ganz  ausgeschlossen  oder  unbe- 
merkbar wäre  es  nur   bei   einer  künstlich  stanen  i'rciudhciu 


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Zum  SeeiemiebeH  des  SektiUAuk». 


453 


Aber  die  J  ugend  sieht  schon  in  der  strengeren,  kälteren  Behand- 
lung des  wirklich  sittlich  schlechten  Schülers  eine  Art  von 
Parteilichkeit,  ja  von  Rache.  Berechtigt  andererseits  ist  die 
Missstimmung,  wenn  beginnende  Besserung  nicht  vom  Lehrer 
zeitig  anerkannt  wird.  Die  schlimmste  Wirkung  übt  es,  wenn 
der  Lehrer  einen  zurückgebliebenen  Schüler  auf  geraume  Zeit 
ganz  liegen  lässt  und  ihm  so  wenigstens  innerhalb  des  Klassen- 
lebens die  Selbstachtung  nimmt. 

Im  übrigen  sind  die  jungen  Seelen  gegen  Tadel  und  Lob 
sehr  ungleich  empfindlich.  Einige  bedürfen  ziemlich  häufiger 
AnerkerOiung,  um  zu  gedeihen,  ajidere  vertragen  Lob  über- 
haupt nicht  gut.  Die  Fordenmg  des  Publikums  von  heute,  das 
möglichst  viel  Lob  verlangt,  ruht  nicht  auf  der  rechten  Erfah- 
rung. Aber  sie  erklärt  sich  aus  der  entgegengesetzten  Gewöh- 
nung deutscher  (und  namentlich  preussischer)  Lehrer.  Jeden- 
falls hat  Herbart  Recht,  dass  der  Tadel  nicht  als  eine  Minus- 
grössc  für  sich  dastehen  darf. 

Eine  sehr  natürliche  Empfindung  des  Sclnilkindes  ist,  vom 
Lehrer  nicht  recht  gekannt  zu  äciii.  Der  Lehrer  scheint  über- 
haupt innerlich  kaum  recht  zu  unterscheiden.  In  Wahrheit 
unterscheiden  zalilrcichc  Lehrer  zu  sehr  nach  gewissen  Symp- 
tomen oder  nach  Kategorien.  Wird  die  Aufgabe,  auch  in  tler 
Massenerziehun^^  zu  individualisieren,  an  den  Schulen  immer 
wieder  betont  und  ins  Auge  gefasst,  so  ist  man  mit  der  Verwirk- 
lichung bis  jetzt  wenig  zufrieden.  Man  stellt  sich  die  Sache 
freilich  ausserhalb  der  Schule  zu  leicht  vor  und  verlangt  neben 
Unmöglichem  auch  UnberechtiG^tes.  Immerhin  aber  könnte 
mehr  geschehen,  z.  B.  in  BeziehutiL;  auf  Kenntnis  der  körper- 
lichen l'ntergründe  des  geistigen  Lebens,  auch  der  unterstutzen- 
den oder  erschwerend ''n  Einflüsse  der  häuslichen  S))liare. 
Ausserdem  sind  die  bei  den  Lehrern  üblichen  psychologischen 
Kategorien  im  ganzen  unzulänglich.  Die  Einrichtung  der  stereo- 
tyj)cn  Z('ugni->prädikate  nebst  den  Rangnummern  wirkt  dabei 
nni.  Sie  wirkt  auch  ungünstig  auf  das  ICltcrnhaus  zmiick.  Der 
Ehrgeiz  der  Väter  liegt  oft  mi  Kampf  mit  dem  wirklichen 
Können  der  Kinder. 

Das  geistige  Können  und  X'erstehen  bildet  überhaupt  ein 
Gebiet  seelischer  Schwierigkeiten.  Trotz  aller  Bemühung  des 
Lehrers  bleibt  das  Verständnis  oft  nur  ein  momentanes,  ver- 
fliegt bald  wieder,  weil  es  zu  künstlich  gestützt  war.   In  den 

3* 


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454 


Wähelm  MUndk. 


häuslichen  ArbeitstuiKleii  am  Abend  herrscht  oft  nur  noch 
Ratlosigkeit,  Dumpfheit,  Verzagtheit,  Angst.  Die  Eltern  ent- 
rüsten sich  dann  unschwer  gegen  die  unnatürlichen  Zumutungen 
der  Schule.  Aehnlich  ist  es  mit  dem  Gefühl  der  Unproduktivitat 
da,  wo  Produktion  gefordert  wird. 

Eine  Reihe  von  nicht  natürlichen  Zumutungen  und  psycho- 
logischen Irrtümern  lasst  sich  ausserdem  zusammenstellen.  Hier- 
her gehört  die  bekannte  Auferlegung  der  Bitte  um  Verzeihung 
(die  nur  unter  besonderen  Umständen  berechtigt  ist),  die  Zu- 
mutung, sich  selbst  anzuzeigen,  ungünstige  Noten  zu  Hause 
vorzulegen  und  Unterschriften  einzuholen  (wobei  auf  billige 
Beurteilung  und  leidenschaftslose  Aufnahme  ganz  und  gar  nicht 
zu  zählen  ist),  femei^  die  Voraussetzung  einer  weisen  Verteilung 
der  Hausarbeiten  auf  die  freie  Zeit,  oder  eines  freiwilligen  Vor- 
ausarbeitens,  eines  Wiederholens  halbvergessener  Pensa  aus 
eigener  Initiative,  einer  unverminderten  Frische  und  Samm- 
lung am  Montag  Morgen  oder  nach  sonstigen  Unterbrechungen, 
und  manches  Andere.  Auch  die  Forderung  gletchmässigen 
Fleisses  für  alle  Gegenstände  als  blosses  Ergebnis  des  guten 
Willens,  oder  aus  Rücksicht  auf  die  Eltern,  oder  auf  den  Lehrer, 
oder  auf  den  Nutzen,  oder  auf  das  ferne,  zukünftige  Leben. 
Nicht  minder  die  Erwartung  von  dankbarer  Gegenliebe  für 
das  berufsmässige  Wohlwollen  des  Lehrers,  oder  einer  An- 
dauer  der  kindlichen  Anhänglichkeit  auch  über  die  Krisis  der 
Flegel-  oder  Backfischjahre  hinüber. 

Das  innere  persönliche  Verhältnis  des  Schulkindes  zum 
Lehrer  wird  durch  die  schon  oben  besprochene  Zugehörigkeit 
zur  Klassengemeinschaft  sehr  gehemmt  oder  vergröbert.  Die 
Klassengemeinschaft  steht  namentlich  in  den  mittleren  Schul- 
jahren sittlich  tiefer  als  der  Einzelne.  Gegen  irgendwelche 
Ungerechtigkeit  oder  den  Schein  derselben  ist  sie  empfind- 
licher; sie  ist  anspruchsvoller  und  in  ihrem  Urteil  massloser; 
die  Klasse  trägt  auch  viel  mehr  dem  Lehrer  nach,  als  dies  je 
ein  Lehrer  den  Schülern  thut. 

Die  allgemeine  Stiuimung  der  Schüler  ihrer  Schule  gegen- 
über mag  also  verständlich  sein  so  wie  sie  ist.  Dass  sie  immer- 
hin an  niani  hem  Punkte  \  i-rbessert  und  gehoben  werden  konnte, 
ward  schon  /wischeridurch  angedeutet.  Auch  gewisse  äussere 
Dinge  könnten  hier  mitwirken.  Die  noch  immer  vorwiegend 
anzutreffende  Oede  und  Schmucklosigkeit  der  Räume  ist  em 


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Xum  Setlatiebtn  des  SckuUHnäet. 


455 


nicht  notwendiges  l  cbcl,  das  Fehten  von  Spielhöfen,  Hallen, 
Gärten  sollte  jedenfalls  nur  ein  vorübergehendes  Uebel  sein. 

Nicht  bloss  in  Hinsicht  auf  diese  äusseren  Dinge,  sondern 
auch  innerlich  ist  das  Leben  der  Schulkinder  in  den  verschie- 
denen Ländern  keineswegs  ganz  gleicliartij^^  Ein  bestimmter 
Einblick  z.  B.  in  französische  oder  englische  V^erhältnisse  würde 
dies  ergcbrn.  Aber  auch  der  Wandel  der  Zeiten  bringt  hier 
Verschiedenheiten  mit  sich.  Noch  selbstverständlicher  ist  der 
Unterschied  der  Geschlechter. 

Leicht  ersichtlich  ist,  wie  abweichend  von  Knalx  nx  hulen 
das  Verhältnis  der  einzelnen  Schülerin  zur  Klasse  sich  ge* 
staltet,  und  ebenso  dasjenige  zur  Lehrerin  oder  zum  Lehrer, 
welche  kleineren  oder  grösseren  Unarten  hier  vorwiegen  oder 
zurücktreten,  wie  Leichtigkeit  der  Auffassung,  l.elihaftigkeit 
des  Wesens,  Sinn  für  sittsame  Form  und  Empfindlichkeiti 
Unlust  zu  ausdauernder  Konzentration  sich  gegenüberstehen, 
namentlich  auch,  welche  grössere  Kontraste  von  Hingebung 
und  Unlenksamkeit  sich  finden. 

Das  Verständnis  des  Seelenlebens  der  Kindheit  wird  sich 
immer  zusammenfinden  mit  der  Würdigung  der  Rechte  der 
Kindheit.  Trher  diese  Rechte  hegt  man  freilich,  ebenso  wie 
man  sie  praktisch  nicht  selten  mit  Füssen  tritt,  theoretisch  viel- 
fach unhaltbare  Vorstellungen.  Das  Rrrht,  von  den  Krwachsc- 
nen  wirklich  erzogen  zu  werden,  bleibt  das  wie  hiigstc  dieser 
Rechte.  Jedenfalls  aber  darf  man  von  den  ['fliehten  der  ju;^end 
am  bestimmtesten  reden,  wenn  man  die  Rechte  der  Kindheit 
am  klarsten  erkannt  und  anerkannt  hat. 


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Psychologische  Betrachtungen  zur  Methodik  des 

Zeichenunterrichts. 

Von 
A.  Claas. 

Wohl  bei  keinem  Lehrfache  stehen  sich  die  Ansichten 
der  Methodiker  so  gegenüber,  wie  beim  Zeichnen.  Nicht 
genug,  dass  die  einen  dem  Ornament,  die  andern  dem  Natiir- 
zeichnen,  wieder  andere  gewissen  Lebensformen  das  Wort 

reden ;  t  s  bestehen  auch  noch  tiefgehende  Meinungsver- 
schiedenheiten über  die  Behandlung  des  Freihandzeichnens  im 
allgemeinen,  über  die  Zulässigkeit  von  Hilfsmitteln,  über  vor- 
bereitende Uebungen,  z.  B.  Nctzzcichnen  oder  Stäbchenlegen, 
nicht  minder  über  den  richtigen  Beginn  des  Zeichenunter- 
richts selbst. 

Erst  in  der  neusten  Zeit  hat  man,  angeregt  durch  einige 
Amerikaner,  sowie  durch  die  Untersuchungen  von  Konrad 
Lange  „Die  künstlerische  Erziehung  der  deutschen  Jugend** 
und  Sully  „Untersuchungen  über  die  Kindheit",  den  Zeichen- 
unterricht mit  den  psychologischen  Forschungen  in  Verbindung 
zu  bringen  versucht,  wie  es  aber  scheint,  nicht  immer  in  glück- 
licher Weise  und  teilweis  irre  geleitet  durch  falsche  Ziele. 

Den  Wert  des  Zeichenunterrichts  für  die  Schule  hat  unter 
den  Neueren  Konrad  Lange  am  besten  erkannt,  doch  über- 
treibt er  in  etwas  einseitiger  Weise  die  Anforderung  der  ästhci- 
tischen  Bildung. 

Der  Zeichenunterricht  bildet,  wie  richtig  erkannt  ist,  das 
beste  und  fast  einzige  Gegengewicht  gegen  die  Ausbildung 
des  Wissens  und  Verstandes  in  der  Schule,  indem  er  die  Aus- 
bildung zur  produktiven  Arbeit  und  zwar  zur  künstlerisch- 
produktiven  sich  als  Ziel  setzt.  Alles  andere  erscheint  gegen- 
über dieser  Bedeutung  untergeordnet.  Das  Kind  soll  arbeiten 
lernen,  sich  dabei  den  notwendigen  Formen-  und  Raumsinn 
aneignen,  die  Genauigkeit  des  Sehens,  Schaffens  erwerben  und 


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P^dulogiscfu  BetraciUuHgen  zur  Mtlkodü  des  jieuJtenunUrrichU. 


457 


FIä.  4. 


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458 


A.  Claus. 


auf  der  höheren  Stufe  auch  den  Sinn  für  Schönheit,  das  ästhe* 
tische  Gefühl,  entwickeln  lernen.  Wenigstens  wird  man  die 
Elementarformen  der  dekorativen  Technik  noch  als  Ziel  des 
elementaren  Zeichenunterrichts  hinstellen  können. 

Wie  lässt  sich  nun  die  Methodik  mit  den  Beobach- 
tungen des  Kinderzeichnens  in  Einklang  bringen?  Die  wesent* 
liebsten  Resultate,  welche  man  bei  der  Durchforschung  dieses 
Gebietes,  soweit  es  bisher  in  Angriff  genommen  ist,  gefunden* 
hat,  sind  in  dankenswerter  Weise  von  C.  Götze,  das  Kind  als 
Künstler,  Hamburg  1898,  zusammengestellt  und  von  Dr.  K. 
Pappenheim ')  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Unterricht 
in  Beziehung  gesetzt  worden. 

Nicht  minder  lässt  sich  aber  auch  die  Ht'oharhtunj;  des 
Kinder/cichncns  für  die  Methodik  des  Zeichenunlcrric  lits  selbst 
nutzbar  machen,  und  die  folgenden  ("cdanken  sollen  da/u  bei- 
tragen, einige  einschlägige  Fragen  zum  mindesten  auf-suwerfen, 
vielleicht  auch  die  Lösung  derselben  vorzubereiten. 

Welches  ist  der  Standpunkt  eines  Kindes,  das  in  Begriff 
ist  die  Schule  zu  besuchen  in  Bezug  auf  seine  Vorbildung  lür 
das  Zeichnen?  Viele  Kinder  mögen  wohl  noch  nie  einen  Griffel, 
einen  Bleistift  oder  einen  Federhalter  in  der  Hand  gehabt 
haben,  ehe  sie  die  Schulbank  kennen  lernen.  Alle»  welche 
auf  dem  Lande  aufwachsen,  sehen  im  Hause  selten  ein  der- 
artiges Werkzeug  und  ihre  Haufitbeschäftigung  ist  es,  im  Freien 
zu  spielen,  sich  zu  tummeln,  vielleicht  auch  bei  den  leichtesten 
Arbeiten  des  Tragens,  des  Sanunelns  und  dergl.  den  Eltern 
und  grösseren  Geschwistern  schon  helfend  zur  Hand  zu  geben. 
Anders  schon  in  der  Stadt,  in  der  Familie  des  Kaufmanns, 
des  Handwerkers  und  des  hoher  Gebildeten;  da  bietet  sich 
der  Jugend  frühzeitig  Gelegenheit  den  Bleistift  oder  Griffel 
zu  erhaschen  und  Eigenes  damit  zu  produzieren.  In  einzelnen 
Familien  giebt  das  Vorbild  der  Eltern  wohl  ^ar  ein  anregendes 
Beispiel,  und  hier  wird  man  die  Kleinen  oft  bei  ihrer  Lieblings- 
beschäftigung, dem  Zeichnen  und  Malen,  .finden  können,  das 
in  den  langen  Winterabenden  oder  nach  dem  ermüdenden  Her* 
umtummeln  in  frischer  Luft  eine  gern  benutzte  Abwechselung 
bietet.  Auch  in  den  FröbePschen  Kindergärten  findet  man 


Ztschr.  f.  pädagogische  rsythologie,  Jahrg.  I,  Heft  2. 


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Psychologische  Betrachtungen  zur  MctJiodik  lies  Zeichenunterrichts. 


Fig.  8. 


460 


C.  Ckms. 


hier  und  da  die  Beschäftigung  mit  Zeichenübungen,  freilich 
meist  in  der  wenig  empfehlenswerten  Form  de^  Netzzeichnens, 
das  dem  kindhchen  Gemüt  keineswegs  angepasst  ist. 

Denn  was  zeichnen  unsre  Kleinen  vom  3.  bis  6.  oder  7, 
Jahre,  wenn  wir  sie  ihren  eignen  Gedanken  folgen  lassen? 
Sehr  richtig  sagt  Konrad  Lange  Seite  48 :  „Das  Kind  hat  keinen 
Sinn  für  das  Tote,  sondern  nur  für  das  Lebende".  Wie 
den  Tisch,  an  dem  es  sich  stösst,  straft,  weil  er  ihm  beseelt, 
belebt  erscheint,  so  geben  auch  die  Zeichnungen  fast  immer 
dasjenige  wieder,  was  ihm  einen  Begriff  des  Lebens  zu  ent- 
halten scheint.  Der  erste  und  wichtigste  Gegenstand  für  die 
Gedanken  des  Kindes  sind  die  mit  demselben  verkehrenden 
Menschen  und  Tiere,  besonders  Pferde  und  Hunde.  Die 
schnelle  Bewegimg  erweckt  in  dem  Kinde  in  erster  Linie  Auf- 
merksamkeit, daher  zeichnet  es  mit  Vorliebe  den  Reiter  (Fig.  8)^  die 
Eisenbahn,  den  Wagen  (Fig.  5ti.6),  das  Schiff  (Fig.  1)  tmd  selbst  ein 
ruhiges  Haus  nie  ohne  den  aus  dem  Schornstein  hervortretenden 
Rauch.  Nicht  die  gewohnlichen  Dinge  der  Umgebung,  die  es  tag- 
täglich sieht,  erwecken  das  Interesse  des  Kindes  in  erster  Linie, 
sondern  seltnere  Eindrücke.  Ist  nicht  der  Zirkus  mit  seinen 
beweglichen  Bildern  (Fig.  2),  der  marschierende  Soldatenzug,  die 
rasselnde  Feuerwehr  für  jeden  Kleinen  ein  Gegenstand  höchsten 
Interesses?  Diese  Wahrnehmungen  sind  es  hauptsächlich, 
welche  sich  dem  Kinde  einprägen,  besonders  dann,  wenn  sie 
ihm  nicht  allein  durch  die  Gesichtswahrnehmungen  bewusst 
werden,  sondern  auch  durch  Gehör  oder  Gefühl,  z.  B.  die  Er- 
schütterung  des  Körpers.  Der  lebhafte  Knabe  wird  eine  Er- 
zählung eines  Strassenvorganges  meist  nur  wiedergeben,  indem 
er  dabei  alle  vorkonunenden  Geräusche  getreulich  nachahmt, 
den  bellenden  Hund,  den  befehlenden  Offizier,  die  Glocke  der 
Feuerwehr,  der  Strassenbahn  und  dergl.  Diese  Bilder  sind  es, 
welche  sich  den  meisten  einprägen;  in  zweiter  Linie  sind  es 
auch  wohl  solche,  welche  sich  durch  kräftige  Farben  den  Ge- 
sichtswahmehmungen  aufdrängen.  Dahin  gehören  die  bimten 
Kleider  und  Decken  im  Theater,  im  Zirkus,  beim  Militär; 
denn  Eins  können  wir  auch  bei  dem  kleinsten  Zeichner  be- 
obachten: Sobald  das  erste  Bild  entsteht,  ist  das  Kind  be* 
strebt  Licht  und  Schatten,  Hell  und  Dunkel  darauf  zu  unter- 
scheiden. Haare  und  Stiefel  erhalten  die  erste  Schattierung. 
(Vgl.  Fig.  2,  6,  9). 


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Psychologisch«  Jictrachtungeti  zur  Methodik  des  /eichenunttrtichts.  461 


Flg.  II. 


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462 


A,  Claiu. 


Eine  weitere  Frage  ist  es:  Kann  die  Darstellung 
so  bewegter  Bilder  eine  vollkommene  sein?  Unmöglich.  Und 
doch  genügt  sie  dem  phantasiereichen  Geiste  des  Kindes. 

Wie  durch  die  Untersuchungen  von  SuUy  und  die  folgen- 
den Forschungen  festgestellt,  bedient  sich  das  Kind  fnihzeiti|^ 
gewisser  Schemata  einfacher  Formen,  die  zumeist  wohl  durch 
Tradition  von  Eltern  oder  Geschwistern  entstehen,  und  ist 
nun  in  der  Lage  bei  einigermassen  lebhafter  Phantasie,  diesen 
Formen  die  gerade  vorgestellte  Lage  zu  geben  und  so  sich 
die  Bilder  der  Phantasie  vor  die  Seele  zu  rufen.  Viele  Kinder 
werden  freilich  vor  der  Darstellung  so  lebhafter  Bilder  auch 
schon  in  dem  jüngsten  Lebensalter,  das  sonst  mutig  wagt, 
zurückschrecken,  und  diese  beschränken  sich  daher  auf  wenige 
immer  wiederholte  Motive,  die  ihnen  gerade  nahe  liegen.  Die 
einen  malen  Bisenbahnzüge,  andere  Radfahrer,  noch  andere 
Strassenbahnwagea  oder  Miets wagen  (Droschken, Fiaker).  Andere 
Häuser,  Landschaften,  Menschen  in  den  gleichen  Stellungen 
und  mit  denselben  unmöglichen  Gesichtern.  (Vgl.  Fig.  1  u.  2). 
Diese  Kinder  werden  leicht  stereotyp  und  machen  nur  durch 
Anregung  von  aussen,  durch  Besichtigung  von  Bilderbüchern, 
oder  Nachahmung  anderer  Kinder  Fortschritte  und  verkümmern 
daher  in  ihrer  Vorstellungs-  wie  Darstellungsgabe.  Daneben 
aber  giebt  es  Kinder,  welche,  atigeregt  durch  zeichnende  Eltern 
oder  Geschwister,  bereits  ein  ornamentales  Zeichnen  beginnen. 
(Fig. 3  u.  4).  Sie  zeichnen  „Muster**,  „Figuren"  (Dreiecke»  Kreise) 
meist  mit  Hilfsmitteln, Linealen, Geldstücken,  Ringen,  die  sie  gern 
benutzen,  manche  zeichnen  auch  weitergehende  „Schnörkel"; 
das  Fremdwort  „Ornament"  ist  ihnen  ja  noch  unverständlich, 
wie  überhaupt  der  Inhalt  dieses  Begriffes  fast  jedem  nicht 
fachlich  Gebildeten.  Auch  der  gebildete  Deutsche  weiss  kaum, 
was  ein  Bandmuster,  was  eine  gemalte  Rosette  oder  Palmette 
ist.  Die  Kinder  malen  aber  aus  der  Ornamentik  selbstverständ- 
lich nur  das,  was  sie  benennen  kömien,  denn  nur  die  Ver- 
standesmässigen  Begriffe  kommen  im  Zeichnen  der  Kinder 
zum  Ausdruck.  (Als  solche  sind  Wappen,  Kreuze,  Herzblatt 
für  die  zeichnenden  Kinder  zu  empfehlen.) 

Es  ist  nun  die  grosse  Frage,  soll  die  Schule  jene  Neigung 
des  Kindes  benutzen  und  derartige  Lebensformen  in  den  Unter- 
richt aufnehmen?  Angercgi  durch  Fange's  Schriften  und  den 
X'organg  der  Amerikaner  haben  eine  Anzahl  Hamburger  Lehrer 


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Psychotogitche  Bclra*:htungen  sttr  Meütcäiä  itts  XaehmutUtrrkhts,  463 


eine  Methode  aufzustellen  gesucht,  welche  die  so^enanattm 
Lebensformen  in  den  ersten  Schulzeichenunterricht  eingefühlt 
wissen  will,  und  welche  die  Schwierigkeit  des  Nachzeichnens 
durch  das  Stäbchenlegen  vennitteln  möchte. 

In  der  That  ist  es  ein  gewaltiger  Schritt»  welchen  der 
kleine  Zeichner  machen  muss  von  seinen  häuslichen  Arbeiten 
lebensvoller  Handlungen  zu  dem  Zeichnen  gradliniger  Figuren, 
wie  sie  der  Lehrplan  höherer  Schulen  vorschreibt.  Wo  bleibt 
da  die  Verbindung  ?  Es  konmien  noch  andere  Schwierigkeiten 
dazu. 

Das  Kind  zeichnet,  im  Anfange  namentlich,  immer  m  kleinem 
Massstahe.  (Fig.  7  ti.  8).  Zu  dem  Niedlichen,  Kleinen  fühlt  sich 
der  kleint-  Menscli  als  zu  etwas  Gleichartigem  besonders  hin- 
gezogen. Die  Schule  dagegen  verlangt  einen  gewaltigen  Mass- 
stab. Linien  bis  20,  25  cm  Länge.  Rechtecke  von  ähnlichem 
Massstabe  und  dergl.  sollen  aus  freiem  Augenmass  dargestellt 
werden.  Ferner:  Das  Kind  zeichnet  die  Bilder  an 
beliebigen  Stellen  seines  Papiers  oder  seiner  Tafel  und 
kümmert  sich  wenig  darum,  ob  die  Platzverteilung  dem  An 
Spruche  der  Erwachsenen  genügt.  Der  Lehrer  aber  verlangt 
gebieterisch,  dass  die  Zeichnung  genau  die  Mitte  des  Blattes 
einnehme. 

Femer :  Das  Kind  hat  den  Trieb»  das  Bild  mit  allen  mög- 
lichen Hilfsmitteln  entsprechend  zu  gestalten.  Es  benutzt  das 
Lineal,  um  einen  Rahmen  darum  zu  legen;  es  benutzt  Farb> 
stifte,  um  es  bunt  erscheinen  zu  lassen.  Der  Lehrer  verlangt 
eine  völlig  freie  Handführung,  er  fordert  zumeist  sofort  die 
Abschätzung  gleicher  Strecken  nach  rechts  und  links,  also  ein 
gewaltiges  Augenmass,  er  begnügt  sich  mit  einer  einfachen 
Umrisszeichnung,  die  dem  Kinde  meist  wenig  Gefallen  erweckt, 
da  es  in  seinen  Zeichnungen  wenigstens  die  Schattierung,  noch 
mehr  aber  die  Farbe  liebt.  Und  endlich:  Das  Kind  war  ge- 
wöhnt nach  freiem  Gedanken  seine  Bilder  zu  schaffen,  der 
Lehrer  verlangt  die  Nachzeichnung  eines  bestimmten  Vor- 
bildes. Wohl  haben  manche  Kleinen  ihre  Bilderbücher  nicht 
blos  studiert,  sondern  auch  zu  kopieren  versucht.  Aber  welch 
ein  Unterschied  zwischen  der  gleich  grossen  Vorlage,  die  sie 
zur  Nacheiferung  antreibt  und  das  Nachmessen  ermöglicht, 
und  der  grossen  Wandtafelzeichnung,  die  viele  Meter  entfernt. 


464 


A.  Claus. 


den  Kindern  für  den  ersten  Augenblick  unerreichbar  er- 
scheinen mussl 

Wo  sind  da  die  Uebergänge  zu  suchen? 

Einige  Methodiker  griffen  zu  dem  F'röberschen  Netz- 
zeichuen  und  gaben  ihm  eine  Stelle  in  dem  Elementarzeichnen, 
(2.  Schuljahr)  und  diese  unnatürliche  Methodik  ist  sogar  in 
die  preussischen  X'olksschulen  eingedrungen  und  erhält  sich 
vielfach  noch,  so  viel  auch  von  ärztlicher  Seite  wie  von  Seiten 
der  Zeichenlehrer  mit  Recht  dagegen  Front  gemacht  worden  ist. 

Andre  wie  Htrth^)  glaubten  gegenüber  dem  Zeichnen  nach 
Vorlagen  und  Wandtafeln  die  natürlichen  Gegenstände  selbst 
in  das  Bereich  des  Kindes  als  Vorbilder  rücken  zu  können, 
ohne  zu  bedenken,  dass  das  Kind,  wie  alle  Untersuchungen 
dieser  Materie  übereinstimmend  beweisen,  nicht  nach  einem 
bestimmten  Vorbilde  einen  Gegenstand  zeichnet,  sondern 
immer  nur  seine  begrifflich  erfassten  Gedanken  und  Formen 
zum  Ausdruck  bringt,  meist  ohne  sich  um  ein  Vorbild,  auch 
wenn  es  noch  so  nahe  zur  Vergleichung  liegt,  zu  kümmern. 

Das  Zeichnen  nach  dem  Naturgegenstande  selbst  liegt 
dem  Kinde  fern.  Die  Uebertragung  des  Körperlichen  auf  die 
Fläche,  die  Umwandlung  des  realen,  wirklichen  Dinges  in  ein 
schematisches  geschieht  nicht  unmittelbar,  sondern  durch  V'cr- 
mittelung  der  Gedächtniskraft,  des  x  erstaiulesiiiässigen  Deukcns, 
des  Erinnerungsbildes.  (Vgl.  Fig.  1,2  n. 6).  Dci  Sprung  von  dem  kind- 
lichen Zeichnen  zum  schuluiässigen  würde  also  nur  vcrgrössert 
weiden,  weini  man  das  Zeichnen  iiac  h  wirklichen  Gegenständen 
einfuhren  wollte.  Da  war  die  alte  Methode  des  Kopieicns 
von  Vorlagen  dem  kmdlichen  (iei>-te  angemessener;  denn  sie 
gab  den  natürlichen  Ucbergang  von  dem  Abzeichnen  der 
Flächenfiguren  des  Hiklerbui  hes  in  einem  stufcnmässigcn 
Ltiu gange  mit  dem  Ziele  der  Bildung  des  Hand-  und  des 
Augcnmasscs,  welche  auch  bei  dem  Koi)ieren  \on  X'orlagen 
erreicht  werden  kann.  Auch  hatte  die  einfache  Kopiermeihude 
den  X'orzug,  dass  sie  eine  nidi\  iduelle  liehandlung  des  Schülers 
zuliess,  die  sich  mit  dem  gegenwärtigen  Zei(  henunterricht  mit 
seinen  V'orhängelafeln  für  die  ganze  Klasse  nicht  so  gut  er- 
reichen lässt.   Aber  ein  wichtiger  Punkt  fehlte  freilich:  die 


1)    G.   Hirth,   Ideen  über  Zeichenunterricht  u.  künstlerische  Berufs, 
bildung.   München  1887. 


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t^jftMlogüdte  BetradkUrngm  mr  Metkodäk  des  ZeiekenunUrriekts,  4^ 


Belehrung  über  die  Vorlage,  das  Eindringen  in  das  Verständnis 
des  zu  Zeichnenden,  das  erst  die  Richtigkeit  der  Zeichnung  ver- 
bürgt, und  die  geistige  Fortbildung,  die  Erweitenmg  der  Kennt* 
nisse  ausmacht.  Eine  mündliche  Belehrung  ist  bei  grossen 
Klassen  nur  möglich,  wenn  für  die  ganze  Schülerschar 
ein  einziges  Vorbild  genommen  wird.  Aber  das  Abzeichnen 
lernt  das  Kind  erst  ganz  allmählich  und  es  muss  von  dem  Ijehrer  . 
auf  die  Vergleichung  mit  dem  Vorbilde  hingewiesen  werden. 

Sollen  wir  nun  den  Neueren  folgen,  welche  die  sogenannteii 
schematischen  Lebensformen  nach  Lange's  Anregung  in  den 
Schulzeichenunterricht  einführen  wollen?    Sie  bieten,  wie 

Müller,  der  die  Methode  ausgeführt  hat,  leblose  Gegenstände 
in  möglichst  wenig  Linien  in  schematischen  Formen  z.  B. 

Fenster,  Schild,  Schirm,  Kreuz,  Kaffeemühle,  Hände,  Hüte, 
Waage,  Haus  und  wollen  diese  dem  Kinde  erst  durch  Stäb- 
chenlegen verständlich  machen. 

Das  Zeichiun  soll  die  Erziehung  zu  produktiver  Thätig- 
keit  sein.  Das  Legen  der  Stäbchen  ist  ein  gekünstelter  Um- 
weg, der  eher  vom  Ziele  ab,  als  zum  Ziele  hinführt.  Man 
gebe  den  Kleinen  ruhig  den  Bleistift  in  die  Hand  und  lasse 
sie  versuchen.  Das  Stäbchenbild,  das  durch  jede  unvorsic  htige 
Handbewegung  zerstört  werden  kann,  hat  keinen  Wert  für 
das  kindliche  Gemüt.  Für  dieses  brstelu  vor  allem  das,  was 
als  positiver  Beweis  des  Könnens  gezeigt,  getragen,  aufbewahrt 
werden  kann,  nicht  aber  eine  solche  ephemere  Uildung  halb 
plastischer,  halb  flachbildartiger  Umrisszeichnung.  Das  Kind 
bedarf  zur  Unterstützung  der  Vorstellung,  wie  schon  oben  ge- 
sagt, der  Schattierung,  wären  es  auch  nur  wenige  Striche. 
Sie  fehlen  dem  Unirissbild  ans  Stäbchen,  und  dies  zerstört 
meiner  Ansicht  nach  die  Illusion,  die  allein  das  kindliche  Herz 
bctriedigt.  So  möchte  ich  auch  darin  einen  verfehlten  Weg 
erkennen,  abgesehen  davon,  dass  einzelne  (Gegenstände,  wie 
sie  Müller')  als  Beispiel  vorlegt,  auch  nicht  den  (lefühlswert 
für  die  Kinder  besitzen,  der  ihnen  zugeschrie  ben  wird.  Nur 
das  handelnde,  belebte  oder  belebt  gedachte  Wesen, 
das  bewegliche  Ding  ist  für  das  Kind  von  packender  Wirkung, 


1)  Fritz  Müller,  das  Zeichnen  nach  Stäbchen  auf  der  Unterstufe, 
Hambg.  Kloss  1895  und  „der  erste  Zeichenunterricht"  im  «^Kindergarten** 

Ihaü.  No.  1.  u.  IL 


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466 


A.  Claus. 


nicht  aber  der  tote»  einzeln  aus  der  Umgebung  herausgeholte 

Gegenstand. 

Freilich  möchte  ich  für  den  Kindergarten  den  schema- 
tischen Lebensformen  nicht  jeden  Wert  bestreiten.  Wie  der 
Anschauungsunterricht  im  Kindergarten  gepflegt  wird,  so  soll 
auch,  so  kann  auch  in  der  oberen  Stufe  für  Kinder  im  Alter 
von  5 — 6  Jahren  mit  Vorteil  die  Zeichenkunst  in  den  Em- 
pfindens- und  Verständniskreis  der  Kleinen  gezogen  werden. 
Das  Netzzeichnen  nach  Fröbel  mag  bessere  Bilder  ergeben 
als  das  freie  Zeichnen ;  oh  das  Netz  nicht  aber  die  kindliche 
Illusion»  auf  die  es  doch  dabei  ankommt,  zerstört,  wäre  eine 
andere  Frage. 

Durch  Unterweisung  der  Erzieherin  kann  das  Kind  an 
den  Bildern  unterscheiden  lassen:  einmal  die  äussere  Erschei- 
nung des  Mannes,  der  Frau,  des  Knaben,  des  Mädchens,  dann 
die  einzelnen  Teile  des  Körpers,  die  Arme,  die  Hände,  die 
Teile  des  Gesichts,  den  Hals,  der  gewöhnlich  von  den  Kleinen 
völlig  vergessen  oder  übersehen  wird,  die  Brust  mit  den  Armen 
(die  nicht  am  Kopf  sitzen  I),  den  Leib,  die  Beine  und  die  Füsse. 
Es  können  die  Kleinen  aufmerksam  gemacht  werden  auf  den 
verschiedenen  Anblick,  den  der  Mensch  von  vorn  und  von  der 
Seite  bietet,  damit  eine  Klärung  der  Ansichten  eintritt,  die  so 
leicht  ist,  wenn  sie  den  Kindern  verdeutlicht  wird,  während  an- 
dernfalls eine  unklare  Vorstellung  bestehen  bleibt,  die  z.  B. 
Profilansichten  des  Kopfes  mit  beiden  Augen  hervorbringt. 
Das  smd  dankenswerte  Aufgaben,  die  den  Blick  der  Kinder, 
schärfen,  ihr  Interesse  erwecken  werden  und  zu  vielerlei 
Besprechung  und  Belehrung  Anlass  geben. 

Ein  kleiner  Knabe,  der  sich  viel  mit  Zeichenstudien  be> 
schäfdgte,  kam  sogar  auf  die  Idee,  alle  möglichen  Dinge  von 
hinten  zu  zeichnen,  natürlich  alles  aus  der  Erinnerung,  und 
er  fand,  dass  es  noch  einen  vierten  Standpunkt  giebt,  als  er 
einmal  im  Theater  vom  Olymp  das  Verschwmden  emes  Geistes 
in  der  Versenkung  gesehen  hatte,  die  Ansicht  von  oben. 
Di(  Fachgelehrten  nennen  diese  den  Grundriss,  Und  auch 
dieser  dran-i  sich  schon  den  Kiemen  im  Kindergarten  bei 
verschiedenen  Spielen  auf.  Die  Jugend  zeichnet  ja  nicht  bloss 
mit  dem  Bleistift  und  dem  Griffel,  sondern  auch  mit  dem 
Stabe  in  den  Sand,  die  Erde.  Das  ist  ja  die  einfachste  und 
allumfassendste  Zeichenmethode,  welche  eben  so  von  den  Dorf- 


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Pxychologüchc  Ditrachtungcn  zur  Methodik  des  ZetchenunUrrickU. 


467 


kindem  geübt  werden  kann,  wie  sie  voa  den  grossen  Mathe- 
matikern des  Altertums  bisweilen  angewandt  worden  ist. 
Gerade  in  der  Neuzeit  sind  vielfache  Spiele  in  der  Jugend 
gebräuchlich  geworden,  welche  die  Zeic  hnung  von  Figuren 
im  Sandi  b(  dingen,  z.  B.  das  Paradieshüpfen,  Eins,  zwei,  drei, 
das  faule  ICi,  das  Schneckenspiel  und  dcrgl. 

Auch  sieht  die  heutige  Jugend  von  früh  auf  in  den  Städten 
Pläne  von  Häusern,  von  Strassen  und  Flüssen,  von  Ländern 
und  Meeren,  und  der  geographisclie  Unterricht  nimmt  mit  Recht 
zum  Verständnis  des  Kartenbildes  seinen  Anfang  von  dem 
Grundriss  der  Schulstube.  So  ist  es  an  der  Zeit,  darauf  hinzu- 
weisen, dass  nicht  zeitig  genug  die  Verschiedenartigkeit  des 
Aufrissbildes  und  des  Grundrisses  den  Kindem  zum  Verständ- 
nis gebracht  werden  kann,  damit  nicht  konfuse  Vorstellungen 
entstehen,  die  keinen  Wert  haben,  indem  sie  Teile  des  Grund' 
risses  mit  Aufrissdarstellungen  verbinden.  Das  Kind  ist 
leicht  geneigt,  einen  Tisch  so  darzustellen,  dass  es  die 
Beine  und  Seitenansicht  darstellt  und  darauf  noch  eine  von 
oben  gesehene  Tischplatte  legt.  Da  gilt  es  rechtzeitig  vorzU' 
beugen  und  klare  Ansichten  zu  schaffen. 

Aber  noch  in  einer  anderen  Beziehung  könnte  der  Kinder- 
j^arten  vorbereitend  und  erzieherisch  wirken,  wenn  er  das 
natürliche  Hilfsinittel  zur  Herstellung  gerader  Linien,  das 
Lineal,  richtig  handhaben  lehrte.  Ein  schönes  Werkzeug,  das 
die  Vorfahren  noch  kannten,  ist  freilich  veraltet  und  kaum 
noch  zu  finden:  das  sogenannte  „Kautel**,  ein  Lineal  von 
quadratischem  Querschnitt.  Unsere  Eltern  und  Grosserem  be* 
nutzten  es  fleissig,  um  die  damals  noch  nicht  Itniierten  Schreib- 
hefte zu  liniieren.  Die  Fortschritte  der  Zeit  haben  diese  Arbeit 
jetzt  überflüssig  gemacht;  denn  jeder  kleine  Kerl  findet  die 
Hefte,  wie  er  es  nur  wünscht,  liniiert  bei  jedem  Papierhändler 
vorrätig.  Früher  war  das  Liniieren  eine  sehr  gute  Uebung.  Die 
Arbeit  musste  sauber  und  sorgfältig  hergestellt  werden  imd 
erforderte  eine  ziemliche  Sorgfalt.  Heut  sind  die  Kleinen  dieser 
Mühe  überhoben  und  doch  wäre  eine  derartige  Uebung  für 
sie  recht  dienlich.  Warum  könnte  nicht  das  alte  „Kantel** 
wieder  eingeführt  werden  zur  Herstellung  von  linearen  Ver- 
zierungen, von  quadratischen  Feldern  (Scliachbrettmustern) 
oder  mit  schräger  Ueberschneidung  von  Rautenmustern  (cf. 
das  bayerische  Wappen)  ?  Warum  Hessen  sich  nicht  durch  An- 

Zeitschrift  für  fuiiagogi'.che  P&ycholoifie  und  Paüio!üi;;c-.  4 


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A.  Claus. 


etnanderreihung  von  Kreiseo,  die  vieUeicht  vermittels  Ringen 
hergestellt  würden,  Ketten«  Perlenschnüre  und  dergl.  zur  Dar- 
stellung bringen?  Das  sind  Dinge,  die  auch  einem  kleinen 
Knaben  oder  Madchen  von  5  Jahren  nicht  zu  hoch  sind,  die  sich 
ungezwungen  ergeben,  Abwechselung  bieten  und  nicht  das 
Kind  an  die  lästigen  Fesseln  des  Netzes  binden,  das  den  jGeist 
auf  eine  arge  Folter  spannt. 

Und  mit  dieser  Vorübung  im  Kindergarten  wäre  meines 
Erachtens  der  Uebergang  zum  Schulzeichenunterricht  gegeben. 

Sobald  die  Kinder  den  Zahlbegriff  verstanden  haben  und 
zum  Rechnen  mit  benannten  Zahlen  übergehen,  wäre  es  an- 
gebracht, ihnen  durch  den  Centimeterstab,  bezw.  den  halben 
Meter  klare  Begriffe  über  Verhältnisse,  Längen-  und  Flachen- 
masse beizubringen.  Der  Schüler  lerne  im  2.  und  3.  Schuljahr 
messen  und  das  gefundene  Mass  mit  möglichster  Genauigkeit 
wiedergeben.  £r  lerne  Punkte  durch  Linien  genau  verbinden 
und  zeichne  so  mit  geringer  Mühe  die  ersten  Gebilde  abstrakter, 
oder  wenn  wir  uns  so  ausdrücken  wollen,  idealer  Art.  Mit 
mathematischen  Begriffen  können  wir  ihn  füglich  noch  einige 
Jahre  verschonen.  Man  braucht  das  Zeichnen  nicht  mit  dem 
Quadrat,  Dreieck  und  Sechseck  beginnen,  sondern  man  kann 
anschliessen,  wie  ich  dies  bereits  1888  nachgewiesen  habe,  an 
die  omamentalen  Verzierungen  der  Urzeit^),  an  einfache  Bander 
alter  Vasen,  an  die  griechischen  gebrochenen  Bänder,  an  Netz- 
und  Flechtwerk.  Das  sind  klassische  Zierformen,  die  sich 
Jahrhunderte  lang  erhalten,  tmd  ihren  dauernden  Wert  bewiesen 
haben,  die  auch  dem  jungen  Herzen  einen  «rfrischenden  Inhalt 
l^ewähren  und  auf  diese  Weise  vermittelt,  ohne  künstliche  Er- 
schwerung durch  das  strenge  Freihandzeichnen  wird  auch  das 
vielgeschmähte  Ornament,  das  doch  unbedingt  in  den  Zeichen- 
Unterricht  gehört,  dem  jugendlichen  Herzen  näher  kommen. 
Der  Uebergang  in  das  freihändige  Zeichnen  geschieht  alhnäh- 
lieh  bei  zunehmender  Sicherheit  der  Handfunktion,  und  er  tritt 
von  selbst  ein,  wenn  der  Uebergang  vom  gradlinigen  zum 
krummlinigen  Ornament  gemacht  wird*).   Bänder  und  Stem^ 


Vgl.  Ztachr.  d.  Veteins  deutscher  Zeichenlehrer  Jhig.  1888.  S.  57  ff . 

,,Dcr  Ursprung  der  geometrischen  Ornamente". 

*)  Cf .  Ehret,  der  erste  Zeichenunterricht  in  der  Schule  u.  die  Be- 
gründung einer  nruen  Methode  desselben,  in  d.  Ztschr.  d.  Vereins  deutsch 
Zeichcnl.  Jhrg.  1697.  S.  343  ü. 


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P^fchOogiathe  Bttm^nngm  mtr  Mähodäk  des  ZatheHunUrriekts.  469 

formen  bilden  in  der  Hauptsache  den  Inlialt  der  gradlinigen 
Verzierungen.  Die  einfachen  regelmässigen  Figuren:  Recht- 
eck, Quadrat,  Dreieck,  Sechseck  sind  wohl  als  Grundlagen 
des  gradlinigen  Ornaments  zu  besprechen,  gehören  aber  an 
sich  nicht  in  den  Zeichen-  sondern  den  mathematischen  Unter- 
richt Auch  der  Kreis,  der  nach  der  jetzigen  Methode  so  viel 
Schwierigkeiten  den  Kleinen  und  selbst  den  Quintanern  be- 
reitet, wenn  er  freihändig  hergestellt  werden  soll,  wird  den 
Schülern  Freude  bereiten,  wenn  man  seine  mechanische  Er- 
Zeugung  zugiebt. 

Das  Kind  verlangt,  wenn  es  in  das  Alter  von  6 — 7  oder 
8 — 9  Jahren  gelangt  ist.  eine  grössere  Vollkommenheit  der 
von  iliiii  erzeugten  (Irbilde.  Das  Auisv  ist  durch  die  regel- 
mässigen rornien  der  Druckschrill  uiul  ALhiiliche-  so  weit 
gebildet,  dass  es  nicht  mehr  vorlieb  nimmt  mit  den  man^t^el- 
haften  I)ai:ilellungen.  die  in  früherei  Zeit  das  Herz  untl  (jemüt 
befriedigten.  Es  ist  daher  mein  richtig,  wenn  die  neuere  Zeichen- 
mclhodik  zur  Verteidigung  von  der  l.clire  des  st  engen  freien 
Handzeichnens  den  Satz  aufstellt,  man  brauche  nicht  so  genau 
auf  die  Richtigkeit  der  Zeichnung  und  auf  die  Schönheit  der 
Linien  sehen.  Ebenso  wenig  wie  der  Lehrer,  wird  auch  der 
Schüler  Freude  an  einer  Zeichnunjg  haben,  die  mangelhaft  ist. 
Da»  Kind  hat  sich  vielleicht  stundenlang  gequält,  ist  aber  doch 
überzeugt,  dass  es  ohne  Hilfsmittel  etwas  Schönes  nicht  er- 
zielen kann.  Das  sind  aber  Gefühle,  die  für  die  Weiterbildung 
von  grösstem  Wert  sind.  Die  Lust  vergeht,  der  Schüler  zeichnet 
oft  nur  gezwungen,  sieht  unbefriedigt  auf  die  Ergebnisse  seines 
Schaffens  und  lässt  vielleicht  ein  schlummerndes  Talent  dabei 
verkümmern.  Mancher  pedantische  Lehrer  hat  wohl  durch 
seinen  Glauben  an  die  allein  seligmachende  Freihandzeichen- 
methodik junge  Talente  im  Keime  erstickt.  Dem  Kinde  freie 
Bahn  nach  höheren  Zielen  I  Das  sei  die  Devise.  Erleichterung 
des  Unterrichts  in  jeder  Beziehung,  aber  keine  Erschwerung! 
Die  Ausbildung  des  Augenmasses  ergiebt  sich,  wenn  der  Schüler 
aus  dem  Gedächtnis  bestimmte  Masse  z.  B.  10,  15  cm  zu 
zeichnen  geübt  wird,  ebenso  wie  er  Winkeigrössen  taxieren 
und  nachzeichnen  lernen  soll.  Alles  zug^leich  aber  im  Anfangs- 
unterricht des  Zeichnens  erreichen  zu  woUenj  das  ist  verkehrt. 
Daher  kam  denn  auch  die  Aiifhebung  des  Zeichenunterrichts 
in  Sexta,  angeblich  wegen  der  geringen  Erfolge;  und  doch, 

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A,  CUmt. 


wie  notwendig  wäre  gerade  in  dieser  Klasse  die  Bildung  des 
Augenmasses  und  der  Hand.  Freilich  solche  Zugeständnisse 
werden  wir  der  Schule  nicht  machen  können,  wie  Georg  Hirth 
sie 'vorschlägt,  indem  er  wünscht,  dass  ein  Kind  das  andere 
zeichne,  oder  den  dünnen  und  dicken  Maim,  oder  dass  wir 
nur  Tiere  und  Menschen  in  den  ersten  Unterricht  als  Vor- 
bilder aufnehmen.  Die  Schule  hat  unter  allen  Umständen  zu 
analysieren,  aufzulösen.  Ehe  der  Mensch  gezeichnet  werden 
kann,  muss  der  Kopf  gezeichnet  werden.  Ja,  früher  zeichnete 
man  vor  dem  Gesicht  die  einzelnen  Teile,  die  Nasen,  Ohren, 
Augen,  den  Mund.  Vor  dem  zusammenhängenden  Ornament 
muss  das  einzelne  Ornament,  vor  dem  natürlichen  Gegenstande 
mit  allen  Zufälligkeiten,  ein  einfaches  aller  solcher  störenden 
Nebendinge  entkleidetes  Modell  geübt  werden.  Ehe  der  Schüler 
den  Körper  betrachten  lernt,  muss  er  die  Flächenformen  ver* 
stehen.  Ehe  er  perspektivisch  in  die  Tiefe,  muss  er  geometrisch 
in  die  Länge  tmd  Breite  sehen  und  vergleichen  gelernt  haben. 
Ehe  er  in  bunten  Farben  malt,  möge  er  die  Stimmungen, 
Tönimgen  einer  Farbe  kennen  lernen^).  So  ist  ein  Fortschritt 
möglich.  Man  vergesse  nicht,  dass  mit  der  ersten  Schulbildung, 
wo  Worte  in  Buchstaben  oder  Laute  zerlegt  werden,  die  Ana- 
lysis,  die  Auflösung  der  kindlichen  Phantasiebilder  beginnt, 
so  dass  für  das  Schulkind  auch  im  Zeichnen  nicht  mehr  die 
einfachen  Schemata  genügen  werden,  und  dass  das  Kind  in 
der  Schule  schon  durch  den  Vergleich  mit  dem  andern  Lern- 
stoff auch  im  Zeichnen  andere  Dinge  erwartet,  als  banale  häus- 
liche Gebrauchsgegenstände  in  schematischer  Form.  Es  wird 
auch  das  Ornament  verstehen  und  lieben  lernen,  wenn  dasselbe 
nicht  in  blossen  Formen,  sondern  auch  mit  Namen  und  Be- 
deutung vorgeführt  wird. 

Freilich  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  dass  neben 
dem  Ornament,  das  in  erster  Linie  vor  wie  nach  im  Zeichen- 
unterricht gepflegt  werden  sollte,  der  Natur-  oder  Gebrauchs- 
gegenstand nicht  auch  einmal  der  Abwechselung  wegen  zur 
Verwendung  gelangen  könnte.  Lernt  doch  der  Quintaner 
auch  schon  gelegentlich  einen  lateinischen  Vers,  der  eigent- 
lich in  das  Pensum  der  Tertia  oder  Sekunda  gdiört.  So 
auch  im  Zeichnen.    Es  giebt  Gelegenheiten  den  Gesichts- 

I)  Cf.  des  Verfassers  »^Methodik  der  Farbenlehre".  Berlin.  Ferd. 
Ashelm  im 


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Psychologische  Bttrochtung<m  zur  Methodik  des  Zeichenunterrichts, 


471 


kreis  der  kltincn  Zeichnrr  zu  erweitem  oder  die  pri\are 
Vorbildung  derselben  auf  die  Probe  zu  stellen.  In  der  Schule 
aber  wird  als  Lehrgang  doch  iitiiner  nur  ein  Fortschritt 
vom  Leichten  zum  Schweren  aufgestellt  werden  können,  vom 
Flächenhaften  zum  Körperlichen,  vom  Schattierten  zum  Bunten, 
vom  Einfachen  zum  Zusammengesetzten,  vom  Regelmässigen 
zum  Zufälligen,  aber  alles  dies  freilich  nur  unter  Berücksichti- 
gung der  psychologischen  Betrachtungen  der  Kindesseele. 

Die  fortschreitende  geistige  Thatigkeit  des  Kindes  wird 
man  hauptsächlich  an  folgenden  Merkmalen  der  Zeichnungen 
erkennen  können: 

1.  Der  Massstab  der  Bilder  wird  ein  grösserer. 

2.  Das  Kind  beginnt  auf  richtige  Verhältnisse  zu  achten, 
besonders  bei  dem  figürlichen  Zeichnen.  Vergl.  Fig.  5.  Zeich- 
nung eines  ganz  ungeübten  9  jähr.  Knaben  mit  schlechten  Ver- 
hältnissen, und  Fig.  6,  dasselbe  Bild  einer  Droschke  mit  viel 
besseren  Verhältnissen. 

3.  Die  Zeichnung  wird  richtiger  disponiert.  Vergl.  wieder- 
um Fig.  5  und  6. 

4.  Die  landschaftliche  Perspektive  entwickelt  sich.  Vgl. 
Fig.  9  und  10. 

5.  Charakteristische  Unterscheidungen  werden  scharf  be- 
obachtet. Fig.  II. 

6.  Der  Arbeitsplan  erstreckt  sich  auf  mehrere  Bilder. 
Femer  sind  auffallend  die  Unterschiede,  welche  sich  1)ei 

den  Bildern  der  Knaben  und  der  Mädchen  bemerkbar  machen. 
Einmal  zeigen  bei  den  Mädchen  natürlich  die  Linien  eine 
leichtere,  schwächere  Führung,  dann  aber  ist  bereits  ziemlich 
frühzeitig  die  Lust  an  Schmuck  und  Verzierung  zu  erkennen, 
imd  meistenteils  eine  grössere  Peinlichkeit,  eine  grössere  Sorg- 
falt im  kleinen,  die  erkennen  lässt,  dass  sich  der  Ideenkrciis 
des  Weibes  mehr  auf  die  Einzelheiten  als  auf  das  grosse 
Ganze  richtet.  Auch  dürfte  man  selten  finden,  dass  ein  Mädchen 
andere  als  Profilstellungen  wählt. 

So  viel  aber  geht  aus  der  Beobachtung  des  kindlichen 
Zeichnens  hervor,  dass  eine  Entwickelung  ohne  Anleitung  zu 
keinem  Ziele  führt,  oder  nur  bei  wenigen  begabten  Kindern. 

Das  Ziel  aber  muss  sein,  den  grossen  Durchschnitt  zu  der 
Fähigkeit  zu  erziehen,  die  uns  umgebende  Kunst  und  Natur 
richtig  zu  sehen  und  wiedergdben  zu  können.  Ein  Kunstver- 


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A,  Ckuu. 


suiKlni.<  ist  auch  nur  denkbar,  wenn  wenigstens  das  Erstere 
errciclu  ist. 

Es  ist  femer  zu  berücksichtigen,  dass  der  Zeichenunter- 
richt mciit  nicht  von  Künstlern  erteih  wird,  welche  viellei  lu 
allen  Wünschen,  alUn  i  iianlasicn  tlcr  Kinder  gerecht  werden 
k()nnen,  sondern  von  Lehrern,  die  meist  nur  einen  bc 
srhriinktcn  Teil  der  1  oriiu'iiw fit  beherrschen.  Die  Schule  kann 
dtiluT  au(  h  nur  einen  bcbcliraukten  Forrncnkreis  in  den  Bereich 
ihres  Sysieiiis  hineinziehen,  oder  sie  verfällt  dem  Schema- 
tismus der  Vorlagen,  wie  dies  früher  der  Fall  war.  Die  Schule 
kann  von  der  Kunst  nur  das  Allereinfachste  Ichren  und  das 
ist  zumeist  da-s,  was  in  der  historischen  Entwickelun|f  das 
Erste  ist. 

Zunächst  müssen  in  den  einfachen  Schulverhältnissen  die 
Leistungen  der  höheren  Kunst  ausgeschlossen  sein,  Malerei, 
BUdnerei,  ebenso  wie  im  Deutschen  keine  Gedichte  und  Romane 
verlanget  werden  können;  dann  müssen  wir  verzichten  auf  das 
Figürliche,  so  sehr  auch  der  Mensch  den  Menschen  interessieren 
mag.  Es  bleibt  in  erster  Linie  das  Ornament  und  die  Dar- 
stellung des  Wirklichen,  Sichtbaren  aber  Ruhenden  als  Inhalt 
des  Schulzeichnens  übrig,  und  bei  dem  Ornament  ist,  wenn 
wir  vom  Leichten  zum  Schweren  übergehen  wollen,  eine  Be- 
rücksichtigung der  mathematischen  Grundformen,  die  aller 
rhythmischen  BUdung  zu  Grunde  liegen,  notwendig  für  die 
Bildung  des  Auges  und  der  Hand,  während  andererseits  zur 
Bildung  des  Geschmacks  und  des  Intellekts  die  Berücksichti- 
gung historischer  oder  naturalistischer  Formen,  .am  besten 
beider,  erforderlich  ist. 

Nacli  diesen  Anschauungen  lassen  sich  folgende  Grund- 
sätze für  den  Zeichenunterricht  autstcUeii ; 

I  Man  vermeide  im  Anfange  alle  unnatürlichen  künst- 
hchen  Hilfsmittel. 

2.  Man  bilde  dagegen  die  Anschauung,  den  Sinn  für 
Masse,  Entfernungen;  man  lehre  messen  und  gemessene  oder 
diktierte  Masse  abtragen.  Erst  das  Centimeter,  erst  spater 
das  Augenmassl 

3-  Die  mathematischen  Grimdformen,  besonders  die 
regelmässigen  Vielecke  dürfen  als  die  ewigen  Grundformen 
der  Symmetrie  und  Regelnlässigkeit  nicht  weggelassen  werden. 


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Psychologische  Sclrachtungcn  zur  Methodik  des  Zeichenunterrichts.  473 


sind  aber  ini  Unterricht  zu  Oinamentfonnen  auszugestalten, 
ebenso  wie  der  Kreis  die  Grundlage  der  Roscttenbildung  ist. 

4.  Das  geradlinige  Zei<  hnen  zerfällt  in  Linealzeirhnen  bei 
grösserem,  in  freihändiges  Skizzieren  bei  kleinerem  Massstabe. 

Von  Anfang  an  sind  die  Flächen  durch  Abtönung 
(Schraffieren)  oder  Tuschen  von  den  angrenzenden  abznheberL 

6.  Der  gute  Umrissstrich  ist  durch  richtige  Anleitung  des 
sog.  Freiarmzeirhnens  zu  erreichen, 

7.  Durch  Pflege  des  historischen  Ornaments  (wie  Rosetten, 
Palmettcn)  ist  der  Kunstsinn  zu  wecken,  und  8.  durch  Cedächt- 
niszeichncn  das  Komponieren  (eigene  Entwerfen)  \  or/ubereileru 

Das  rilan/enreich  bildet  die  Ueberleitung  vom  Flächen- 
zum  Körper/eiclmen. 

10.  Beim  Korperzeichnen  sind  die  verscliiedenen  Dar- 
stelluni^sweiseti   (projektive   inid  perspektivische)   zu  erörtern. 

Danach  hat  man  sicli  ablehnend  zu  verhalten. 

1.  gegen  die  sog.  Lebensformen,  weil  sie  keine  feste  Form 
und  keinen  künstlerischen  Gedankeninhalt  bieten. 

2.  gegen  die  allzulange  Behandlung  geradliniger  Figuren; 

3.  gegen  iiliertriebene  Anforderungen  des  Freihandzeich- 
nens und  blossen  Absrhätzens  ohne  Maasse; 

4.  gegen  die  teilweise  gewünschte  Beseitigung  des  Orna- 
mentzeichnens ; 

5.  gegen  das  un^enut^end  vorbereitete  Zeichnen  von  Natur> 
formen,   Blattern,  Blumen  etc.; 

6.  gf^gen  ungenügend  vorbereitetes  Entwerfen  von  Oma- 
menlcu , 

7  gegen  Vernachlässigung  der  Technik  (unsauberen 
Strich  etc.): 

8.  gegen  all/,uvieles  Dozieren  ästhetischen  oder  kuust- 
geschichilichen  Inhalts. 

Zum  Schluss  zwei  Wünsche : 

1.  Vermehrung  der  Zeichenstunden  namentlich  in  den 
Bürgerschulen  und  Seminaren  und 

2.  ein  einiicitliches  V  orgehen  des  l"nterrichtsmini-ii  1  lums 
in  dieser  Präge  und  des  Ministeriums  für  Handel  und  bewerbe, 
welchem  die  gewerblichen  Fortbildungsschulen  unterstellt  sind. 


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Sitzungsberichte. 


Verein  für  Kinderpsychologie  zu  Berlin. 

Sitzung  vom  8.  November  1901. 
Beginn  S'/«  Uhr. 

Voreltzender:  Herr  Sttimpf^ 
SduiftfÜbrer:  Herr  Hirsch  1  äff. 

Nach  einigen  kurzen  f^eiichäftiicheii  Mitteilangen  des  YordtsendeD  h&lt 
Herr  ICttnch  den  axtgekflndigten  Vortrag:   „Zam  Seelenleben  des 

Seknlkindes". 

Ein  Referat  dieses  Vortrages  ist  unter  den  Originalien  dieser  Zeitschrift 
abgedruckt. 

D  i  «  k  u  8  K  i  o  n : 

Herr  8tum}>l  daakt  dein  Vortragenden  tur  seLae  lehrraiciieu  nnd  ge* 
haltvollen  Darlegungen. 

Herr  Kern  sieb  weist  zur  Ergänzung  des  vom  Kednur  gezeichneten 
Bildes  auf  seine  eigenen  Untersocbangen  über  Arbeitstypen  hin.  Er  be- 
gründet in  längerer  AnsfOhning  den  Begriff  derselben  und  Ihr  VerhSltois 
Sur  Bangordnnngslistc  und  bebt  eine  Reibe  von  Folgerungen  hervor,  die 
ans  einer  solchen  zahlenmSssigMi  AnfsteUnng  bei  der  Bangordnnngsliste 
sich  ergeben. 

Herr  Fischer:  Ich  möchte  zu  dem  Vortrage  eine  kleine  historische 
Bemerkung  machen,  die  virlU^irht  niiKokam  r  i  t.  Die  Nummern -Censtnreu 
sind  teilweise  sclion  Ende  d»*  18.  Jahrhundei i,s  in  (it'ljraurh  gewesen,  so 
unter  Gedike  um  Grauen  Kioster  in  Berlin.  Ick  be^iize  von  meinem 
Gfoesvater  ans  den  ersten  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  eine  Beihe  von  sog. 
Duodex-Cttisnren.  bei  denen  verschiedene  Farben  fttr  die  einaelnen  Nnmmern 
angewMadt  sind.  z.  B.  gelb  für  No.  I,  grfin  fttr  No.  II,  n.  8.  f.;  ediUessliöh 
eeel«grau  für  No.  IV. 

HeiT  Münch:  Die  Ergänzungen,  die  die  Herren  Vorredner  zu  meinen 
Ausfiilirung'en  gegeben  haben,  sind  mir  sehr  wertvoll  g^ewrsen.  Aber  ich 
wünsclite,  dass  ausser  den  Nummern,  die  die  Leistungsfäiiigkeit  der  Schiller 
feetstellen,  auch  noch  die  sonstigen  Eigenschaften  der  Kinder  eine  genauere 
Beleodhtiing  finden.  Im  übrigen  würde  ich  die  üethode,  die  Herr  Kern«  i  es 
snr  Fsststelinng  der  Bangordnnngsliste  ▼orgeftthrt  hat^  nicht  billigen.  Das 
Verfahren  ist  ▼ielinehr  so,  da.ss  die  einzelnen  Unterrichtsfächer  in  den  ver- 
Bchiedeuen  Klassen  ver.S(  hit-den  l>ewrrtpr  werden.  Auch  ist  es  ein  Unrecht^ 
dass  die  schriftlichen  Arbeiten  noch  eine  so  grosse  Rolle  spielen. 

Herr  Stumpf:  Die  niatliematisch-inechaiiis(:li-stati.->tische  Methode,  die 
Herr  Kenjsies  vorgetnigon  liat,  scheint  auch  mir  bedenklicli.  Öie  mag 
vielleicht  für  Mathematiker  brauchbar  sein;  aber  die  Jkfathoaotiker  &ind 


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SiUuHgsItcnchU, 


47S 


nicht  immer  die  besteu  Fsyehoiogen.  Das  V'erfahrea,  daa  Hen-  Münch 
empfolilHi  hat,  dM  raf  der  SeelenkeaiitDis  der  Kinder  and  beeonderB  der 
elnselnen  Individnalitlten  hemlit,  scheint  aneh  mir  dae  empfehlenswertere 
an  sein. 

Herr  Kemsles:  Obwohl  sahlenmAsalg  gewonueu,  hat  die  von  mir 

vorgeführte  (Trupponnnordnung  sehr  j^rosse  Bedeutung,  da  sie  Im  Laufe 
de«  Jahres  wenig  wechselt.  Diese  Konstanz  ist  nns:<erordentlich  bemei  kens- 
weri;  denn  es  ist  damit  der  Beweis  erbruclit,  dass  es  sich  nicht  nur  um 
mechanische  Berechnungen,  sondern  nm  die  Erfossung  tlct'erliegcuder 
Arfaeitselgenseliaften  der  Pnraönlichkdteu  handelt.  Es  IKsst  sich  daher  nicht 
leugnen,  dass  das  Verfahren  aui  einer  psychologischen  Basis  raht.  Die 
verschiedene  Hewertung  der  Fächer  in  verschiedenen  Klassen  ergiebt  sich 
bei  der  Rangordnung  in  gewissem  *^innp  von  ppüvst  durch  dif»  Multiplikation 
der  Fachnummer  mit  der  von  Klasse  zu  Kla^sse  wechselnden  ätundeuzalil 
des  betr.  Paehes. 

Herr  Stampf  miSchte  bezweifeln,  dass  man  nicht  ohne  die  Zahlon 
anch  durch  die  blosse  Beobachtong  der  einzelnen  SchOler  sn  den  gleichen 
Ergebnissen  kommen  kiinnte;  will  aber  nicht  bestreiten,  dass  die  Zahlen, 
zweckmässig  gewonnen,  p^chologische  Betrachtongen  anregen  nnd  stützen 
können. 

Herr  Rauh:  Ich  möchte  aus  meiner  jM-rsönlichen  Erfalirung  einige 
Momente  anCahreu,  die  gegen  die  Aufi'assung  des  Herrn  Kemsies  sprechen. 
Ich  selbst  bin  als  Schüler  in  manchen  Jahren  von  den  eisten  auf  die  letzten 
Pliktse  gesogen;  in  der  Mitte  habe  ich  nie  gesessen.  Daher  wären  die 
Folg^nngen,  die  Herr  Kemsies  ans  seinen  Zahlen  zog,  für  mich  .sehr 
unheilvolle  gewesen.  Ich  möchte  eine  andere  Erfahrung,  die  ich  als  Lehrer 
g-prnacht  habe,  danj^bon  stellen.  Ich  beobachte  seit  langen  .Tnhnm,  dass  die 
Kangordnong  meiner  Schuler  im  ersten,  noch  mehr  al>er  im  zweiten  Viertel- 
jahre sich  ▼oUkommen  umgestaltet,  sobald  ich  eine  Klasse  Qbemehme. 
Woran  das  liegt?  An  dem  Untersehlede  der  Individoaiitilten  der  Xjehrer. 
Der  eine  erwartet  Ton  seinen  Schülern  etwas  anderes  als  der  andere  und 
beurteilt  infolgedessen  die  Kinder  demgeniäss.  Daher  erweisen  sich  auch 
hier  die  Folgerungen  des  Herrn  Kern  sie«:  als  unzulänglich.  Es  erscheint 
vielmehr  notwendig,  auf  die  Individuiilitiiicu  der  Schüler  einzugehen.  £a 
ist  gefi&hrlich,  die  Klasse  als  einen  GesiitjUorguuismus  zu  betrachten. 

Herr  Peukert:  Ich  möchte  mir  zwei  Bemerkungen  gestatten  Die 
Anordnung  der  2küüen  in  den  Zeugnissen  unserer  Schiller  verdanken  wir 
den  millttrischen  Zeugnissen.  Dieses  Pointwesen  ist  eine  Unsitte,  die  von 
den  militärischen  Anstalten  übernommoi  worden  ist.   Heate  verlsagt  die 

ünterricbtsverwaltung  von  den  Lelirern  bei  den  Abiturienten  eine  genaue 
Schildcrnnp^  dor  rharnkterc-  der  SrliiUer.  Das  ist  aber  oine  Fordorune:.  die 
den  Lehrern  so  viel  Jüühe  zuweist,  dass  sie  allgemein  nicht  durchgeführt 
werden  kann.  Jedenfalls  lässt  sich  nach  d«ii  Zahlen  allein  die  Leistung 
der  Schttler  nidit  beurteilen. 

Herr  Fischer:  Der  Vortrag  des  Herrn  Httnch  hat  so  ansserordentUdi 
an^igend  gewirkt,  dass  die  Frage  erheben  m({chte,  ob  man  nicht  ein 
oauennai  an£  den  Vortrag  nnd  die  Diskossion  zurttckkommen  könnte. 


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476 


Herr  Münch:  Die  beiden  erwähnten  Methoden  der  Beurteüaug  der 
Leisfeangsfähigkeit  der  Schiller  widerq^mshen  lidL  nidkt,  Modem  elfi  ergänzen 
eich  vielmehr  in  sehr  glfidclicker  Weise  in  der  Hand  geeehtekter  Lelizer. 
Es  giebt  jedenfalls  Schfiler^  die  eine  Reihe  von  XTebergangsstadien  asigen. 

Hiermit  ist  die  Diskossien  erschöpft.  Nedi  einer  Irorzen  Fvose  teUleest 
sich  die  statutenmilssige  Goueralversammlnng  «n»  deren  Tagesordnung  die 

Neuwahl  des  Vorstandes  bihict.  Es  werden  wicdergewälilt  die  Herren 
Prof.  Stumpf  als  I.  Vorsitzender,  Geheimrat  Prof.  Dr.  Henbner  als 
IL  Vorsitzender.  Au  Steile  des  wegen  UeberbUrdong  ausscheidenden  Herrn 
Oberlehrers  Dr.  Kemsles  wird  Herr  Oberlehrer  Dr.  Fischer  gewfthlt.  Die 
Herren  Dr.  Flatau  und  Dr.  Hlrschlaff  werden  wiedergewählt. 

tkhlnss  der  Sitsnng  10i/>  Uhr. 


Sitzung  vom  13.  Dezember  1901, 

Beginn  8%  Uhr. 

\'orsiucndcr:    Herr  Stumpf,  später  Herr  H  e  u  b  n  c  r. 
Schriltftihrer:    Herr  H  i  r  s  c  h  1  a  f  f. 

Nach  EruiTnuiig  der  Siuung  teilt  der  Vorsitzende  mit,  dass  in  der 
kürzlich  stattgefundenen  Geaerelversaminlung  Herr  Oberlehrer  Dr.  Kemsies 
das  Amt  des  Schriftfährers  niedergelegt  hat  und  Herr  Oberlehrer  Dr.  Fischer 
an  seiner  Stelle  in  den  Vorstand  eingetreten  ist.  Sodann  hält  Herr  Stumpf 
den  angekündigten  Vortrag : 

EiKonartigc  sprachliche   lintwickelung  eines  Kindes. 

Der  Vortrag  ist  unter  den  Originaibeiträgen  dieser  Zeitschrift  ab- 
gedruckt. 

Diskussion: 

Herr  H  c  u  b  n  c  r  eröffnet  die  Diskn<'iion  mit  einigen  lu  rzliclien 
Dankesworten  an  den  V'ortra^renden  und  hcbi  Ijesonder!?  die*  s.orgi,iltigc 
Methode  hervor,  die  für  die  spatere  Forschung  vurbüdlich  srin  durfte. 

Ili-n  Flatau:  Die  v;'"iiauf  Auf/cichiumy  einer  solchen  nniTcwöhn 
hellen  pa(hoIogischen  Spraclientwickclung  wie  im  vorliegenden  Falle  ist  von; 
wissenschaftlichen,  wie  vom  praktischen  Standptmkt  ausserordentlich  dankbar. 
Denn  ein  solcher  Fall  interessiert  die  Vertreter  sehr  vieler  Päclier,  nicht 
nur  die  Pädagogen  und  Psychologen,  sondern  auch  die  Aer.ne  und 
Hygieniker.  Wir  wissen  ia.  dass  wir  in  einem  gewissen  I^ben.salter  alle 
Stnmmler  sind.  Auch  hier  handelt  es  sich  m  der  ersten  Entwickelnng  um 
ein  gewisses  Stamnicln.  Man  hat  in  dieser  Beziehung  Gesetze  aufzustellen 
gesucht,  indem  man  glaubte,  dass  die  Laute  der  verschiedenen  Artikulations- 
reihen sich  in  verschiedenen  Zeitstufen  entwickeln,  analog  den  motorischen 
Schwierigkeiten,  die  hei  der  .'\ussprache  der  einzelnen  Konsonanten  zu  über- 
winden sind.  Sicher  ist  iedenfan'-.  (la>s  die  Kinder,  die  von  diesem  Leiden 
befallen  sind,  sich  gehen  lassen,  und  dass  diese  Erscheinung  fast  stets  mit 


SütungsberichU. 


477 


anderen  Bcwcguugshemmuugcn  zugleich  uuiiritt.  interessant  ist  es,  wenn 
wie  hier  diese  Sprache  des  Stammelns  so  weit  getrieben  wird,  dass  die 
andere  Sprache  sdieinbar  dahinter  turücktritt   Ein  Punkt»  auf  den  ich  noch 

besonders  eingehen  möchte,  betrifft  die  bemerkenswerte  Plötzlichkeit,  mit 
der  hier  die  bessere  Sprache  aufgetreten  ist.  Ich  selbst  habe  Aehnliches 
beobachtet  und  habe  schon  vnr  mehreren  Jahren  die  mechanischen  Be- 
dingungen dieser  Erscheinungen  studiert.  Auch  durch  Schreck,  z.  B.  Angst 
vor  der  Operation  und  ähnliches,  kann  mit  einem  Mate  sich  unvermittelt 
die  normale  Sprache  einstellen.  Damit  ist  freilich  noch  keine  Erklining 
gewonnen,  wie  das  motorische  Centrum  mit  einem  Male  funktioniert,  wenn 
auch  das  akustische  schon  lange  vorher  mit  Material  überladen  ist.  Endlich 
noch  eine  kleine  Anincrkunff  ans  der  Sprachentwickclniifi  dc'^  Knaben. 
Das  .,Uh"  lur  ..gross"  ist  wohl  mit  Wahrscheinlichkeit  /uruckzutührcn  auf 
den  Affekt  der  Bewunderung,  wie  wir  das  bei  anderen  Kindern  auch  beob- 
achten. Seltsam  ist,  dass  die  Satzbildung  zeitlich  auf  die  Bildung  der  Worte 
nnd  Ausdrücke  folgt,  während  sonst  wohl  beides  annähernd  zur  gleichen 
Zeit  sich  entwickelt 

Herr  S  tu  m  p  f :   Nur  die  Einteilung  des  Vortrages  geschah  nach  dem 

Prinzip,  dass  zuerst  die  einfachen,  sodann  die  zusammengesetzten  Ausdrücke 
und  zum  Schlüsse  erst  die  Satzbildungen  besprochen  wurden.  Damit  sollte 
recht  {»esajjt  «ein.  dass  diese  lo^^j^ch  getrennten  Abschnitte  auch  in  der  zeit- 
lichen Entwickelung  aut  einander  lul.,-^!-!!.  Was  die  Aehnbchkeit  des  vor 
getragenen  Falles  mit  anderen,  bekannten  Erscheinungen  anbelangt,  so  habe 
ich  in  der  Litteratur,  die  ich  durchgesehen  habe,  nur  Einen  Fall  gefunden, 
der  eine  gewisse  Aebnlichkeit  zum  gegenwärtigen  darbietet,  aber  patho- 
logischen Charakter  trug.  Er  ist  von  dem  Wiener  Taubstummenlehrer 
Heller  beschrieben  und  betriift  ein  neunjähriges  Kind.*) 

Herr  Fischer:  Einen  ähnlichen  plötzlichen  Uebcrgang,  wenn  auch 
auf  einem  anderen  Cebiete  als  dem  der  Sprache,  wie  ihn  der  Herr  Vor 
tragende  geschildert  hat,  iiabe  ich  selbst  bei  mcnuin  eigenen  jüni^sten  vier 
jährigen  Söhnchen  feststellen  können.  Vielleicht  handelt  es  sich  dabei  um 
plötzlich  auftretende  stärkere  Willenseinfiüsse.  Der  Knabe  war  nicltt  zu 
bewegen,  ausser  Milch  andere  Dinge  als  Griesbrei  und  in  solchen  eingehüllte 
Speisen  zu  geniessen.   Mit  einem  Tage  änderte  sich  diese  Gewohnheit,  die 


*)  Maditräglidi  bin  ich  noch  auf  andere  Fälle  aufmerksam  geworden, 
die  mehr  Aehntichkeit  mit  dem  von  mir  beschriebenen  als  der  Heller'schc 
df4rhieten  tmd  in  Be^np:  auf  die  Eipenarticrkeit  der  einzelnen  Ausdrücke 
über  den  meinigen  hinausgehen,  wenn  auch  leider  die  Beobachtunpr  und 
Berichterstattung  nicht  allen  Anforderungen  entspricht.  Diese  Falle  sind 
beim  Druck  des  Vortrags  in  den  Anmetkangen  am  Schluss  erwähnt.  Ich 
möchte  sie  übrigens  ebensowenig  wie  den  meinigen  als  „patho- 
logische" bezeichnen,  da  sie  ja  vielmehr  in  geistiger  Hinsicht  eine 
i.'npfcwöhnliche  Selbständigkeit  des  Vorgehens  verraten  und  in  Hinsicht  der 
Riidvmg  der  einzelnen  I^ute  nur  etwa  das  spätere  Auftreten  einzelner  Buch 
Stäben  bemerken  lassen,  das  zu  den  ganz  gewöhnlichen  Erscheinungen 
gehört.  Stumpf. 


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478 


Sitsungsbertchte. 


trotz  lortwaiircnden  und  c^crgl^cllcn  Zuredens  vorher  lan^e  Zeil  k-^r- 
gchaUeu  worden  war,  unter  ausdrücklicher  Erklärung  des  Kindes.  Ausserdem 
möchte  ich  angesichts  der  vom  Herrn  Vortragenden  erwähnten  Thatsachen 
bezuglich  der  Farbenbezetchnung  anfragen»  ob  die  bei  meiner  Tochter  bis 
ins  5w  Jahr  festgestellte  Unfähigkeit,  die  Farbennamen  richtig  zu  verwenden, 
als  ungewöhnlich  zu  bezeichnen  ist? 

Herr  Möller:  Ich  möchte  mir  erlauben,  die  Frage  aufzuwerfen: 
Hat  das  Kind  bei  seiner  eigenartigen  Sprache  immer  die  Beziehung  zur  ge- 
wöhnlichen Spraclie  gehabt?  Dem  Anschein  nach  ja.  soweit  dies  aus  den 
Mitteilungen  ,des  Herrn  Vortragenden  hervorgeht.  Es  müssen  dcmnacii 
Klangbilder  der  hochdeutschen  Sprache  und  solche  der  eigenen  Sprache 
mit  einander  verbunden  gewesen  sein.  Konnte  nun  nicht  der  Fall  gedacht 
werden,  dass  das  Kind  die  hochdeutschen  Klangbilder  stumm  mitgesprochen 
hat.  cl)i;nso  wie  wir  «rlh>t  es  ijei  dct  F.rlerntinßr  fremder  Sprachen  an  uns 
bemerken?  Oline  diese  iiauüge  l">regung  des  motorisihen  Sprachcentruisu 
w  ire  eine  Erklärung  des  plötzlichen  Ucbcrganges  der  pathologischen  Sprache 
^  zur  normalen  Sprachbildung  wohl  kaum  möglich.  Ich  erinnere  mich  aus 
meinen  Erfahrungen  als  Lehrer,  dass  das  stumme  Mitsprechen  bei  dem  Unter- 
rieht  in  den  Seminarklaüsen  eine  grosse  Rolle  spielt. 

Herr  Stumpf:  Ich  kann  nur  wiederholen,  dass  jedenfalls  eine  sicht- 
bare Uebung  der  Sprachorgane  in  der  Richtung  der  hochdeutsclien  Aus- 
drücke nicht  stattgefunden  hat.  Ucber  die  Farbensinn-Entwickelung  brinj^en 
P  r  e  y  e  r  u.  a.  zahlreiche  Angaben,  nach  welchen  in  Herrn  Fische  r'i 
Falle  die  Entwickclung  dieses  Sinnes  mit  vier  Jaliren  allerdings  verspätet 
erscheint 

Herr  Fla  tau:  Das  Kind,  dessen  sprachliche  Enlwickelung  der  Herr 
Vortragende  gesdiildett  hat,  befand  sich  augenscheinlich  in  derselben  Lage, 
wie  ein  Kind,  das  in  zwei  Sprachen  aufwächst,  z.  6.  Englisch  und  Deutsch, 
wobei  die  Kinder  beide  Sprachen  verstehen,  aber  nur  eine  von  beiden 

sprechen  und  zur  anderen  nicht  zu  bewegen  sind.  Was  die  vnrprfiihrtc 
Sprache  selbst  anbetrifft,  so  durfte  es  empfehlenswert  sein  nachzusehen,  ob 
vielleicht  einzelne  Konsonanten  darin  besonders  häufig  vorkommen  oder 
fehlen.  Nach  den  Eindrücken,  die  ich  wahrend  des  Vortrages  erhalten  habe, 
fehlte  augenscheinlich  das  „s",  während  die  Vokale  sehr  zahlreich  vertreten 
sind.  Dadurch  erinnert  das  Bild  einigermassen  an  eine  sehr  seltene  .Spr.nch- 
störung,  die  von  einem  Wiener  Kollegen  als  „Hottentottismus"  bezeichnet 
worden  ist. 

Herr  Krmsies  weist  auf  die  Beziehungen  solcher  SprachbiMii  :«cn 
zu  dem  Spieltxiebe  der  Kinder  hin  und  erinnert  an  einen  merkwürdigen  Fall 
wirklicher  Spracherfindung,  der  in  den  Veröffentlichungen  der  British  Child- 
Sttidy  Association  ausführlich  beschrieben  ist.  Hier  handelte  es  sich  um 
einen  sechsjährigen  englischen  Knaben,  der  sich  eine  eigene,  völlig  durch- 
gebildete Sprache  geschahen  hatte,  ffir  die  er  aogaor  ehi  dgenes  voll- 
ständiges Lexikon  ausarbeitete. 

Herr  Fischer:  Auch  ich  möchte  die  Frage  aufwerfen,  ob  das  ab- 
sichtliche Verbilden  der  Worts,  die  die  Kin:2er  hören,  vielleicht  in  Bc- 


.  j     .  >  y  Google 


SitMUHgsberidtU. 


479 


Ziehung  steht  zu  <Uii  vorgetragenen  Störungen,  wohci  die  Kinder  nichts 
weiter  im  Sinne  hal)t  n.  als  mit  der  Sprache  zu  spielen,  wie  sie  es  mit  anderen 
Dingen  auch  thun. 

Herr  Stumpf:  Als  psjxhologihch  lumiameniales  Moment  für  die  Ent- 
stehung der  kindlichen  Sprache  kommt  diese  Gewohnheit,  die  sicherlich 
besteht,  wohl  nibetntcht,  sogar  auch  im  erwachsenen  Alter. 

Herr  H  c  u  b  n  e  r:  Die  Plötzlichkeit  der  Entstehung  der  hochdeutschen 
Sprache  lässt  sich  vielleicht  folgendermassen  erküren.  Es  ist  anzunehmen» 
dass  wir  von  jedem  Worte,  das  wir  sprechen,  Bewegunssvorstellungen  haben 
müssen,  dass  jedes  Wort  erst  vorher  nachgesprochen  sein  muss.  Wenn  nun 
die  F.rinnorungsbildcr  der  hochdeutschen  Sprache  vorhanden  sind,  so  dürfte 
das  genügen,  um  durcli  allmähliche  Bahnung  des  motorischen  Centrums  die 
richtigen  Sprachbewegungen  auszulösen.  Der  plötzliche  Wegfall  der  vor- 
handenen Hemmung  würde  dann  weniger  wunderbar  erscheinen.  Etwas 
Aehnliches  erMwn  wir  auch  bei  Geisteskrankheiten,  wo  manchmal  hässUche 
und  gemeine  Worte  bei  den  Kranken  zum  Vorschein  kommen,  nachdem  die 
moralischen  Hemmungen  durch  patholojjische  Prozesse  aufgehoben  sind, 
wie  ich  es  leider  erst  kurzlich  m  emem  nur  .sehr  nahe  gehenden  Falle  erlebt 
habe.  Ebenso  ist  wohl  bei  dem  Kinde  die  Fähigkeit  zur  normalen  Sprache 
vorhanden  gewesen,  aber  nicht  benfitzt  worden,  bis  die  Hemmung  plötzlich 
fortfiel. 

Herr  Biedermann  bemerkt,  dass  in  der  vorgetragenen  Sprache  eine 
ganz  auffallende  Logik  zu  konstatieren  ist.    Die  zusammengesetzten  Worte 

scheinen  bereits  Sätze  darzustellen.  Aufgefallen  sei  ihm  femer,  dass  der 
s-Laut  fehlt,  während  b,  g,  k  besonders  häufig  vorkommen. 

Herr  Stumpf  stimmt  diesen  Bemerkungen  im  wesentlichen  ZU.  Es 
führt  im  nbrigren  zu  ziemlich  vcrwicIceUen  FVagen,  wenn  man  alle  hier  in- 
betracht  kotmnenden  Probleme  genauer  verfolgt.  Z.  B.  ob  wir  buch- 
stabierend, ^yliabierend  oder  die  Worte  als  Ganzes  produzierend  sprechen, 
bczw.  in  welcher  von  diesen  Formen  die  Bewegungsvorstdiungen  vorher 
gegeben  Sein  müssen.  Jedenfalls  bin  ich  den  Herren  Vorrednern  dankbar  für 
die  Anregungen,  die  mir  von  verschiedener  Seite  zuteil  wurden. 

Schluss  der  Sitzung  um  10  Uhr. 


Psychologische  Gesellschaft  zu  Breslau* 

Fttr  den  Winter  1901/2  sind  folgende  Vortrüge  in  Anasicht  g«. 

nommen: 

1.  Privatdoc.  Dr.  W.  Steril :  Zur  P.sychologie  der  Aussaf?e.  (Experimentolle 
UiitersnehungC'ii  ül»er  das  (.Tedilchtnis  und  sein?  Täuschungen). 

2.  Provinzialschulrat  Dr.  Ostermann:  (Thema  vorheiialtenl. 

3  BechtBamwalt  Dr.  E.  Steinits:  Die  psychologische  Schule  in  der  Volks- 

wirtachafkalehie, 
4.  Assistenzarzt  Dr.  £.  Storch:  Ueber  Aphasie. 


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480 


5.  Prof(!S8or  Dr.  F.  Skatsch:  Ueber  Bedeatnngswandel. 

6.  Cand   phi!  J.  Becker;  Graphologie  und  Psy^'hnlnrrip 

7.  Rechtsaii .vilt  0.  Peiser:  Die  Bedeatanjg  des  Schweigetns  in  pfl;ycho> 
logischer  mxd  rechtlicher  Hinsicht. 

8.  OtwEUhrer  Dr.  F.  Ke mii««  (Berlin) :  Die  Entwlcklong  der  pidegogieeheft 
JPlychologie  In  den  letsten  50  Jaluren. 

9.  Nervenarzt  Dr.  H.  Kurella:  Probleme  des  Gefühlslebens. 

10.  "Redakteur  Dr.  med.  H.  TIarabnrger:  Das  Do])pol-Ic}i  in  der  UttermtoT. 

U.  Nervenarzt  Dr.  F.  Kramer:  Ueber  die  Aufmerksamkeit. 

12.  Privatdoc.  Dr.  W.  Stern:  Psychologie  und  Geistes  Wissenschaften. 

Aasserdem  sind  Referatabeude  vorgesehen,  an  detien  u.  a.  verschiedene 
Abeoluiitte  von  Wnndt'e  Völkerpsychologie  Besprechung  finden  sollen. 


DieSitmngea  finden  gewdhnlich  alle  14  Jage  Dienetege  In  Btf  ttehers. 
Festsälen,  Neue  Gaase  15,  statt  nnd  beginnen  um  8*/«  Uhr.  Herren  beben. 

ala  QiUte  Zutritt. 

Die  Wintcrthätf^kelt  beginnt  am  Dienstag,  den  29.  Oktober  mit  dem. 
snb  1  geuaanteu  Vortrage. 

Die  Tagesordnungen  weiden  regehniaalg  am  Sonatagyor  den  ^tsnngen 
in  den  T^geeseitnngen  bekannt  gemaobt. 

Ueber  die  Bedingungen  der  Mitgliedschaft  erteilen  die  Satzungen 
Auskunft.  (Jahresbeitrag  fär  ordentliche  Mitglieder  6  M.,  für  Studierend» 
als  ausserordentliche  Mitglieder  2  Mk.) 

Anfragen  und  MitteÜuiigen  wolle  man  richten  au  den  Vorsit^^eudeu 
Dr.  W.  Stern,  Höfchenstraase  101  oder  an  den  Schriftführer  Bechtsanwalt 
Dr.  Steinitz,  Antonienatraase  23. 


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4 


Berichte  und  Besprechungen. 


Wie  erziehen  und  belehren  wir  unsere  Kinder  während 
der  Schuljahre?  Von  Karl  Richard  L dwe  8».  XVI.  838  8.» 
Hannover  iL  Bertin  1689.    Carl  Meyer  (Gustav  Prior). 

Dieses  Buch  bildet  die  Fortsetzung  der  1898  erschienenen  Löweschen 
Erziehungsschrift:  „Wie  belehre  und  erziehe  ich  mein  Kind  bis  zum  seclistcn 
Lebensjahre?"  Es  wendet  sich  wie  diese  an  Eitern  und  Erzieher  und 
behandelt  die  Zeit  vom  sechsten  bis  einschliesslich  siebzehnten  Jahre. 
Zweck  der  Arbeit  ist,  nicht  etwa  die  Aufgaben  der  Schule  ins  Eltemhaus  * 
zu  verlegen,  sondern  der  heranreifenden  Jugend  das  zu  vetschalfen,  was 
ausserhalb  des  Rahmens  der  Ijehranstalten  liegt,  aber  zu  einer  harmo- 
nischen Ausbildung  notwendig  ist,  —  eine  rationelle  Mitarbeit  der  Eitern 
an  den»  Erziehungswerke. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  kann  die  vorliegende  Schrift 
ein  wahres  „Schatzkisdein  des  guten  Rates"  für  aOe  Eltern  genannt  werden 
und  einen  Platz  in  jeder  Famihenbibliothek  beanspruchen. 

Der  Inhalt  des  Buches  zerfällt  in  zwei  Hauptteile.  Im  ersten  (S.  1 — 174) 
werden  dif  Grundsätze  für  Erzit'hung  und  T'ntorricht  in  leicht  verständlicher 
und  ansprechender  Form  unter  Berücksichtigung  folgender  Punkte  ent- 
wickelt : 

1.  Welche  Grundsätze  gelten  für  die  Bildung  jedes  Kindes? 

2.  Wie  wird  das  Kind  mit  Rücksicht  auf  seine  Eigenart  gebildet? 

3.  Wir  sor»;cn  wir  für  das  gegenwärtige  und  künftige  Wohlbefinden 

des  Kindes? 

Der  zweite,  an  Umfang  nicht  geringere  feil  (S.  174— 3iJ8j  beschäftigt 
sich  mit  der  häuslichen  Durcharbeitung  der  Unterrichtsstoffe.  Er  ist  in 
3  Unterabteilungen  zerlegt,  welche  die  Bildung  in  der  Muttersprache  — 
die  Bildung  der  Zahl  und  Raunibegriffe  und  die  Bearbeitung  der  übrigen 
BiMunji:s^rhiptc  n:m  ncpcnstaiul  haben. 

In  dem  Kapite!  ..Bildung  in  der  Muttersprache"  giclit  Verfasser  beher- 
zigenswerte Winke,  den  mündlichen  und  schriftlichen  Gebrauch  der  Sprache 
betreffend.  Er  empfiehlt  Eltetn  und  Erztehem  auf  eine  richtige  Arttkuladon 
der  Laute  —  insbesondere  des  t  u.d,  k  u.  g,  p  u.  b,  e  tu  &,  i  n.  fi.  —  bei 
ihren  Zöglingen  zu  achten,  auch  SprachstOTUngen,  sogenanntes  Stammeln, 
(las  durch  nachläs.sigcs  Sprerhen  in  den  ersten  Jugendjahren  oft  entsteht, 
thunlichbt  abzuhelfen.  Die  Kinder  sollen  tum  richtigen  Gebrauch  der 
Wörter  und  Wortbeziehungeu  angeleitet,  mit  den  Gruiid^ügeu  der  Wort- 
bildung und  mit  den  synonymischen  Ausdrücken  vertraut  gemacht  werden. 

Em  anderer  Absdnütt  beschäftigt  sich  mit  dem  Lesen :  Da  werden  die 
Vorzüge  des  Lautierens,  der  allmähliche  Uebergang  vom  Wort-  zum  Satz- 
lesen, die  Satzbetonung,  Interpunktion,  Lesepausen  n.  a.  bebandelt. 


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482 


Berichte  und  Besprechungen. 


Auch  eine  bracliti  iisu erte  Anleitung;  zum  Aufsatzschreiben  findet  der 
I.eser  hier  iS.  211  ffj  Nachdem  Verfasser  von  der  Wjrhripjkeit  des  /Vn- 
schauens  und  Heobac  htens  und  der  logischuu  Verknüpfung  der  cituelnen 
Tliatsachen  gesi)rochcn,  schreitet  er  zur  technischen  Seite  der  Ausführung. 

Beispiele,  wie  der  Stoff  anzuordnen  und  der  Aufsatz  zu  entwerfen  sei, 
mögen   hier   folgen : 

Die  Birke,  ^vergl.  S 

1.  Wo  sehe  ich  die  Birke? 

a)  in  grosser  Menge? 

ciTizL-ln 

2.  Woran  erkenne  ich  die  üirkc Was  fällt  nnr  auf  ? 

a)  an  der  Rinde? 

b)  an  den  Zweigen^ 
c>  an  den  Blättern? 

3.  Wie  entsteht  die  Birke? 

ii;  Wie  sieht  ein  Samenkornchen  aus? 

b)  Wo  entsteht  der  Same  r 

c)  Wie  kaaii  aut  emcr  M.aii  r  eine  liirkc  entstehen? 

4.  Was  sehe  ich  an  der  Birke  im  Winter? 

a)  Wann  erscheint  die  Birke  besonders  schon? 

b)  Was  braucht  sie  für  den  kommenden  Frühling? 

G.  Wozu  brauchen  die  Menschen  die  Birke? 

a)  Wenn  sie  im  Krdlwdcn  bleibt? 

b)  W(  nn  sie  gefällt  ist.  (Wozu  brauchen  die  Menschen  das  Holz, 

die  Kmde.  die  Zweige  ?) 
Eine  Anleitung  zum  Entwurf  eines  Aufsatzes  wird  auf  S.  221  erteilt; 
wir  geben  sie  hier  wieder,  weil  sie  (ms  einerseits  wertvoll  erscheint,  anderer- 
seits aber  auch  zeigt,  wie  gründlich  und  allgememverstindlich  L  w  e  auf 
diese  Dinge  eingeht: 

1.  Die  Hauptfragen  sind  aufgeschrieben. 

2  Unterfra;' cn,  soweit  sie  nötig  sind,  werden  beigefügt. 

3.  Die  Antwort  auf  die  erste  Frage  wird  liberlegt,  für  jeden  gedachten 
Satz  ein  Merkw-ort  rasch  hingeschrieben;  beim  ausführlichen  Nieder- 
sdireiben  des  ersten  Gedankens  konnten  die  übrigen  dem  Bewusstsein 
entschwinden. 

4.  Man  übersi>  ht  die  Merlcworte  und  besinnt  sich  vielleicht  auf  einen 

fehlenden  Gedanken ; 

5.  schreibt  die  Sätze  des  ersten  Teils  auf; 

6.  giebt  die  Hauptfragen  noch  einmal  an,  liest  den  eisten  Teil  als  Antwort 
Uut  vor,  macht  bei  jedem  Punkte  eine  merkliche  Pause,  damit 

mancherlei  Fehler  in  der  Kinreihung  der  S.itzi-  offenbar  werden, 

7.  Mit  gleicher  Sorgfalt  werden  die  anderen   Teile  ausgearbeitet. 

8.  Der  ganze  Avits atz  wird  ziemlich  geschwmd  \ or^elesen.  Man  erkennt, 
ob  cm  Gedanke  wiederholt  ist  oder  etwas  kurzer  ausgedruckt  werden 
kann. 

9.  Man  prüft»  ob  die  Satzanfänge  Abwechselung  bringen,  ob  die  Wieder- 
kehr desselben  Wortes  vermieden  werden  kann. 


licriclite  und  B<sprechungen. 


4ö3 


10.  Nun  erst  wird  die  Rlm  titschreibung  geprüft. 

11.  Der  verbesserte  Aufsatz  wird  sorgfältig  eingcsclirieben. 

In  dem  Teile,  welcher  das  „Sclidnscfarelben"  behandelt,  wird  au£  den 
Nntsen  vorangegangener  ZtichenObiingen  (Kreis,  Ellipse  etc.)  snr  Eixielnng 

kalligraphischer  Formen  hingewiesen 

Der  Abschnitt  Rechtschreibung"  bietet  gleichfalls  inant  lies  Lehrreiche. 
Besonders  sei  hier  auf  die  graphisclie  Darstellung  des  harten  und  weichen 
„S"-Lauteh  (S,  233j,  die  bekanntlich  vielen  Schülern  Schwierigkeiten  bereitet, 
verwiesen.  Die  lahlreichen  Beispiele  zur  Erlernung  der  Orthographie  in 
diesem  Buche  gewähren  dem  Vater  bezw.  der  Mutter  htnieichend  Stoff 
zu  Diktaten  für  ihre  Kinder. 

Nicht  minder  ausführlich  wird  an*  b  das  Rechnen  behandelt :  zunächst 
die  Zahlbegnffe  1 — 10;  dann  der  Zahlcnkrcis  l — 20,  1 — 100  etc.  Ein  zweiter 
Teil  ist  dera  Rechnen  mit  Bruchzahlen  (gewöhnliche  u.  Dezimalbrüche), 
der  Regeldetri  und  der  Raumlehre  gewidmet. 

Zum  Scfaluss  findet  man  noch  die  übrigen  Lehrfacher;  Religion,  Ge- 
schichte, Geographie,  Naturwissenschaftoi,  Zeichnen  und  Handarbeiten  kurz 
bchandeh. 

Berlin.  H  ans  K  u  c  h. 


Paedologisch  Jasrboek  onder  Redactie  van  Prof.  Dr*  M. 

C.  Schuytcn.  Jahrgang  1.  u.  II.  fi^  pp.  810  U.  240.  Ant- 
werpen "u.  Leipzig  1900/1901. 

Das  im  Auftrage  der  Stadt  Antwerpen  von  Professor  Schuyten,  dem 
Direktor  des  Pacdologischen  Laboratoriums  zu  Antwerpen,  herausgegebene 
Jahrbuch  ist  als  eine  verdienstvolle  Leistung  auf  psychologischem  Gebiet  zu 
bezeichnen.  Es  ist  in  doppelter  Hinsicht  bemerkenswert:  Es  enthält  neben 
wertv(rflen  Untersuchungen,  die  obgleich  in  holländischer  Sprache  mitgeteilt, 
im  Prinzip  denjenigen,  die  des  Holländischen  nicht  mächtig  sind,  durch  fran- 
zösische beziciiungsweise  englische  Resumcs  zugänglich  gemacht  sind,  auch 
eine  vortreffliche  Bibliographie  der  neuesten,  einschlägigen  Litteratur.  Ueber 
einige  der  un  ersten  und  zweiten  Bande  beschriebeiien  Untersuchungen  wollen 
wir  hier  kurz  berichten. 

Der  erste  Jahrgang  !n  ginnt  mit  einer  Untersuchung:  „Ueber  die 
Zunahme  der  Muskelkraft  bei  Kindern  während  f1  f>  s 
Schuljahre  s".  Schuyten  hat  mit  Hilfe  emcs  elIipti>clK'n  Dynamometers 
m  2  ./Vntwerpener  Schulen  eine  beträchtliche  Anzahl  Versuche  an  Knaben 
und  Mädchen  im  Alter  von  18—16  Jahren  angestellt,  um  über  das  «ich 
gestellte  Problem  Aufodilitts  su  erhalten.  Er  besuchte  die  Lehranstalten 
von  Oktober  1898  bis  Juli  1899  um  die  Mitte  jedes  Monats  (stets  an  demselben 
Wochentage)  .Seine  Befunde  hat  er  zu  Tabellen  (vgl.  S.  8 — 98)  zusammen- 
gestellt   Sic  führten  zu  nachstehenden  Resultaten: 

„Die  physische  Kraft  der  Kinder,  dargestellt  durch  die  Druckkraft  der 
Hände,  hat  nach  10  monatlicher  Beobachtung  zugeninnmen  (siehe  Tab.  1  u.  2 
S.  101).  Die  monatlichen  Unterschiede  weben  keine  sehr  grosse  Regelmässig- 
keit auf,  beim  männlichen  Geschlecht  sind  sie  scheinbar  regelmässiger  als 
beim  weiblichen.  Auch  eine  Asymetrie  in  der  Entwicklung  der  Muskel- 
ZeMichrin  fflr  |^U«gO|^8che  Psychologie  und  Pathologie.  5 


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4M 


JSetuhU  und  Jksprechungen. 


krati  zeigt  sich  be»  erstcrem  mehr  als  Ix  i  letalerem;  sie  teatsteht  jebetifalls 
bei  Knaben  schneller.  Als  Durchsriinitt  bat  sich  das  Verhältnis  8,9  :  10 
ergeben. 

Interessant  ist  die  Thatsache,  das«  die  Muskelkraft  während  des  ganxen 
Schuljahres  (Oktober— Juli)  •  nicht  stetig  zunimmt ;  eine  auffallende  A  b . 

nähme  wurde  sopar  im  Märr  bemerkt  (S.  00,  10<».  lü.')\ 

Em  zweiter  Aul&atz  brhandeit  die  l'"ra>i<- :  i  s  zu  w  r  1  <  h  <■  m  G  r  a  d  t- 
passt  sich  die  Schkratt  der  Made  Ii  en  den  Handarbeiten 
an»  die  in  den  Antwerpener  Schulen  gelehrt  werden? 

VerfiuMcr  stfltit  sidi  auf  ein  umfiMigreichei  Zahlenmaterial.  Er  hat  in 
11  Schulen  von  Mitte  Nfarz  bis  Mitte  April  Nachforschimgen  in  obiger  Richtung 
gehalten  Zu  diesem  Zwecke  legte  er  den  Mädchen  foljAc  nde  !■  rat?en  vnr : 
Kommt  es  vor,  dass  ihr  a;  beim  Stricken,  b)  beim  Häkeln,  o  beim  Nahen 
ein  Stechen,  Thränen  oder  Flimmern  der  Augen  empfindet? 

Die  Umfrage  ergab: 

1)  dass  22  o/o  der  Schülerinnen  beim  Stricken, 
24<Vb   „  „  „  Häkein, 

34  0/0   „  „  „     Nähen    mit    Schwierigkeiten  zu 

kämpfen  haben,  weil  sie  die  Details  der  Arbeiten  nicht  gut  m  unter« 

scheiden  vermögen ; 

2'   dass  diesp  Br-srhwrrdcn  mit  zunehmendem  Alter  heim  Stricken  und 
Häkeln  wachsen,  ijeiiii  Nähen  hingesjen  geringer  werden; 

3)  dass  Nahen  die  grösste  Sehkraft  erfordert. 
Im  zweiten  Bande  des  Jahrbuchs  interessiert  uns  zunächst  eine  experi- 
mentelle Arbeit  des  Herausgebers :  „Ueber  die  Veränderlichkeit 

der  Muskelkraft  bei  Kindern  w  ä  h  r  c  n  d  d  e  8  b  ü  r  g  er  1  i  c  h  e  n 
und  des  S  c  ii  u  i  j  a  h  r  e  s.  Sie  bildet  gewissemuissen  eine  Fortsetzung 
der  im  !    Bande  mitgeteilten  Untersuchungen. 

Von  Oktober  IkSdüi  bis  Juli  IBUil  hat  Schuyten  Kinder  beiderlei  Ge- 
schlechts, die  in  den  Jahren  1889/00  geboren  waren,  derart  unimucht, 
dass  er  im  Oktober  die  im  Januar  geborenen,  im  November  die  hsa  Februar 
geborenen  Kinder  u.  s.  w.  obser\ icrte.  um  stets  n^it  möglichst  gleichartigen 
Versuchspersonen  zu  arbeiten.  Jedes  derselben  wnrde  zweimal  im  Monat 
vermittelst  eines  elliptischen  Dynamometers  auf  seine  Muskelkraft  hin  ge- 
messen und  lieferte  12  Resultate  (6  für  die  rechte  imd  6  für  die  linke 
HmmL) 

Auf  diese  Weise  erhielt  der  Experimentator  durchschnittlich  4945  Re* 

sultate  pro  Monat  —  in  summa  ein  stattliches  Material,  auf  Crund  dessen  er 
im  Laufe  des  Jahres  nachstehende  4  Perioden  konstatierte. 

1)  Von  Januar  bis  März  nimmt  die  Muskelkraft  ab. 

2)  Von  April  bis  Juni  ^Ki^^ert  sich  die   Muskelkraft  wieder. 

3)  Von   Juli   bis   September   nimmt   die   Muskelkraft    v  e  r  m  u  t . 
lieb  ab. 

4)  Von  Oktober  bis  Dezember  nimmt  die  Muskelkraft  wieder  zu. 

Während  der  Schulferien  (Juli-September)  musate  Schuyten  seine  Ver- 
suche leider  einstellen,  er  vermutet  indessen  eine  Abnahme  der  MtMlcelkraft 
in  diesen  Monaten. 


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485 


Was  die  (.inzclnfn  Perioden  anbetrifft,  so  wird  bemerkt,  dass  <lie 
zweite  Zunahrntfirriode  kleiner,  die  zweite  Abnahmeperiode  aber  grösser 
als  die  entsprccitcucic  erste  sei. 

Ancb  der  Aiibtti  Aber  „O rigtnal.Kinderxeiclmiingeii,  als 
Beitrag  xar  Kind«ranalyse**  von  Schuyten  verdient  an  dieser 
Stelle  erwähnt  zu  werden. 

Bek.'utntlich  bieten  die  Kinder/eichnungen  ein  vortreffliches  Mittel,  um 
vtwas  über  die  geistipjc  Verarüagun;;  liint'crcr  Kinder  zu  erfahren  \'erfas<;er 
teilt  die  Wahmehinungcu  mit,  die  er  aa  cmciii  ^Vs  jahrigeti  Knaben  .aut  iliesc 
Weise  gcnodit  hat.  Er  hat  diesen  eine  Reilie  nwihibekannter  Gegenstinde, 
wie  Pferd,  Hund,  Vogel,  Fisch,  i^ifel,  Biine,  Tisch  etc.  mit  fCreide  ddsrieren 
lassen.   Dabei  ist  er  xu  nachstehenden  Resultaten  gelangt: 

1)  Der  Kruibe  hat  eiTu-  rirhtifre,  wenn  aucb  JÜcltt  vollständige  VorsteUung 

von  den  ihn  umgebenden  Objekten. 
Z)  iir  besit/t  die  BejfrJtfe  „cms'*  und  „iwei" ;  der  Bi^hff  „vier"  ist  ihm 
in  seiner  Gesamtheit  unbekannt,  er  besoichnet  ihn  ab  »fViel". 

4)  Die  einaelnen  Teile  seiner  Skizaen  lassen  auf  eine  Vorstelluitg  von  den 
Crössenvcrhälmissen  schliessen. 

5)  Von  den  Begriffen:  länge,  Breite,  Dicke,  Volumen,  sind  ihm  die 
beiden  ersten  gut  bekannt. 

Bemerkenswert  ist,  dass  er  in  seinen  Zeichnungen  im  allgemeinen  den 
Kopf  vom  Rumpf  nicht  trennt,  den  Schwans  bei  den  Tieren  aber  stets 
»charf  markiert.  In  derselben  Weise  hat  Verfasser  20  andere  gleichaltrige 
Kinder  (13  Knaben  und  lä  Mädchen)  geprüft,  ohne  jedoch  irgend  welche 
Resultate  zu  erzielen. 

Jener  Knabe  ist  also  der  am  meisten  entwickelte  unter  ihnen;  (^w.^ 
besüdgen  andi  die  anthropometriachen  Memiagea  Er  hat  die  Grösse 
eines  6— 6  jährigen,  das  Körpeigewidit  eines  6— 7  jährigen  und  den  Hände- 
druck eines  9 — 10  jährigen  Kindes. 

Zur  »Charakteristik  desselben  erfahren  wir  weiter,  dass  er  schon  in 
frühester  Kmdhcit  Anzeichen  eines  klaren  X'trstandes  gegeben  hat:  er  ist 
streitsüchtig,  eigensmnig,  empfindlich  und  tur  Schmeichelei  empfänglich. 
Femer  erfreut  er  sich  eines  guten  Gedächtnisses,  ist  gutmütig  und  ein 
grosser  Tierfreund. 

Berlin.  Hans  Koch. 


Das   T  a  u  bs  t  u  m  m  en  bildungs  wes  e  n    in   den  Vereinigten 
Staaten   Nordamerikas.    Ein   Reisebericht   und  wei- 
terer Beitrag  zur  Systemfrage  vonj.  Heidsiek.  Taub- 
stummenlehrer in  Breslau.    Breslau.    Im  Selbstver- 
läge d  es  Ver  f  ass  er  s.  1899.  88  S. 
Von  der  Unmöglidhkeit  überzeugt,  „die  Taubstummen  aller  Katego- 
rien zum  verständlirhen  Sprechen  und  sicheren   .Ablesen  vom  Munde  zu 
bringen  und  die  in  ihnen  schlummernden  Geisteskräfte  bei  ausschliesslicher 
Vcrwendimg  der  Lautsprache  genügend  zu  entfalten",  ist  der  Verfasser  seit 
vielen  Jahren  bemüht,  die  Mängel  der  in  Deutschland  in  den  Taubstummen- 
Instituten  eingeführten  Lautspracfamethode  darzulegen  und  eine  gründliche 
Reform  des  Untemchtsverfahrens  herbeisuführen.  In  dem  Bestreben,  bessere 

5* 


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486 


Ü<rickU  und  ßespreckuHgen, 


Meihoden  kennen  i\\  lernen,  du-  ^ich  in  der  Pimxis  bereits  bewährt  haben, 
unternahm  der  Verfasser  eine  Reise  nach  den  \  ereinigten  Staaten,  um  deren 
so  vielseitiges  TaubstummenbiM'*Tigswe5en  zu  studiefen.  In  der  vorliegenden 
Broschüre  bespricht  er  die  auf  der  Reise  empfangenen  Eindrödce  und  fe- 
sammelten  Erfahningen  und  knüpft  daran  eingehende  Erörteningen  über  die 
Met  hodenfrage. 

Der  erste  Teil  der  Schrift,  der  von  der  äusseren  <  »r^ianisatinn  der 
Institute  handelt,  enthält  einen  Bericht  über  die  Zahl  der  nordamerikanischen 
Staats-  und  Privat-Taubstumraenanstaltcn,  die  Uoicrhaltungskosten  j>ro  Kind 
und  Jahr,  die  Dauer  der  Schulzeit,  die  äussere  und  innere  Ausstattnag  d^ 
Institute. 

„Unterricht  und  Erziehung"  ist  der  zweite  Teil  überschrieben.  Auf 
eine  kurze  Ucbersicht  über  dir  prsrhirhtürhc  IvntwirkcIunL'  ri»-r  Unterrichts* 
methodcn  folgen  ausführliche  Besprechungen  dieser  Methoden. 

1,  Nach  dem  Manual-System",  bei  welchem  Handalphabet.  Gebärde 
und  Schrift  in  Anwendung  kommen,  unterrichten  nur  noch  vier  Anstalten. 
Ueber  die  in  den  ManuaI<KIassen  des  Instituts  lu  Philaddphta  erreichten 
Erfolge  spricht  sich  der  Verfasser  sehr  anerkennend  aus.  Die  Letstun^en  der 
Schüler  übertrafen  alle  Erwartungen  Die  Kinder  verfügten  über  Sack- 
ketmtnisse,  dio  in  den  C  und  D-Klassen  unserer  TaubstununokAnstalten 
überhaupt  nicht  gelehrt  werden. 

2.  Die  „Oral-  oder  mundliche  Methode"  deckt  sich  mit  dem  in  Deutsch- 
land üblichen  Unterrichtsverfahren,  nur  lassen  die  Amerikaner  mehr  schreiben 
und  legen  grösseres  Gewicht  auf  die  Ldcture.  Unter  den  56  Staatsanstalten 
befinden  sich  ausser  dem  Oral  Departement  in  Philadelphia  nur  7  Institute  mh 
zusammen  'iTl  /Möglingen,  in  denen  diese  Methode  ausschliesslich  zur  Ver 
wendimg  kommt.  Neben  guten  Resultaten  in  euiigen  Schulen  konnte  Lehrer 
Heidsiek  aber  auch  Anstalten  beobachten,  bei  denen  die  reine  Lautsprach- 
methode  das  grösste  Unheil  angerichtet  hatte. 

A,  Die  ,^uricular-  oder  Hörmetbode'*  beabsichtigt.  Schwerhörige  mit 
Hilfe  von  Hörinstrumenten  oder  auch  durch  lautes  Vorsprechen  das  Reden 
und  Schreiben  zu  lehren.  Von  dieser  Methode  macht  man  nur  in  den  grössten 
Instituten  Gebrauch.  Gegenwärtig  findet  sie  in  13  Anstalten  bei  zusammen 
etwa  140  Zöglingen  Anwendung.  ,,Da  die  .S<  hurrliurigen  kaum  zu  den  Taub- 
stummen gezählt  werden  dürfen,  so  sollte  man  jenes  Verfaliren  besser  gar 
nicht  als  Unterrichtsmethode  bei  Taubstummen  auffuhren** 

4.  ,,Das  f^Combined-System"  ist  das  vorherrschende  in  den  Vereinigten 
Staaten.  Es  kommt  allein  in  den  Staatsanstalten  bei  über  8000  Gehörlosen 
7ur  Anwendimg  und  besteht  in  der  Benutzung  sämtlicher  Vcrständignngs. 
nuttel,  welche  sich  zur  Ausbildung  der  Taubstummen  bis  jet/t  als  brauchbar 
erwiesen  haben.  Lautsprache,  Handalphabet,  Gebärde  und  Schrift  sind  die 
Instrumente,  mit  denen  die  kombinierte  Kfethode  opcricn,  und  die  Bevor- 
zugung dieser  oder  jener  Mittel  richtet  sich  nach  der  Veranlagung  und  dem 
Bildungsstandpunkt  der  Zöglinge." 

ö.  Die  ,, Manual  .Alphabet-Methode"  vermeidet  die  Geliardmsprarhe 
gänzlich,  macht  dagegen  den  uneinge««rhranktesten  Gebrauch  \om  Hand- 
alpbabet.  Durch  seine  glänzenden  Resultate  hat  sich  das  Taubstummen- Institut 
2U  Rodhester,  wo  dieses  Unterrichtsverfahren  allein  eingeführt  ist,  die  weit- 


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iierichU  und  ßtsprtchtmgen. 


487 


gehend?te  Beachtung  erzwtingen  Ausführli  he  Besprechungen  sind  diesem 
System  und  der  Anstalt  m  Rochester  gewidmet. 

Ehe  der  Verfasser  die  schwer  zu  entscheidende  Frage  nach  der  besten 
Metbode  beantwortet,  erörtert  er  eingehend  den  Wert  oder  Unwert  der  eln- 
xelnen  Unterrichtsverfahren  und  das  Wesen  der  verschiedenen  Sprachmittel 
tm  allgemeinen,  sowie  ihren  bildenden  Wert,  den  sie  insonderheit  für  Taub- 
stumme haben  Dieser  Abschnitt  trii^^t  die  ITehersrhrift  ,.1. mitspräche,  Ge 
bärde,  Schrift  und  Handalphabei  ini  \'erhaltnis  unter  sich  nnd  /um  Taub 
stummen".  Der  Verfasser  spricht  hier,  wie  schon  in  anderen  Biuschüren,  stine 
Ueberzeugung  aus,  dass  die  reine  Lautsprachroethode,  wie  sie  in  Deutschland 
seit  ehiigen  zwanzig  Jafaien  zur  Anwendung  kommt,  nicht  geeignet  bt,  allen 
Anforderungen  an  eine  gute  und  zweckmässige  Unterrichtsmethode  zu  ge- 
nügcni.  Er  ist  der  Ansicht,  dass  sowohl  Lehrer  wie  S«  hüler  von  der  natür- 
lichen Gehnrdc-,  der  Pantoniimc,  als  Veranschaulii  liungsinittel  Gebrauc  h 
machen  dürfen,  die  konvenuunelle  Gebärde  aber  unbedingt  vermeiden  müssen. 
Der  Schrift  als  Verständigungsmittel  wird  nur  geringe  Bedeutung  beige- 
messen, um  so  eindringlicher  werden  die  Vorzüge  der  in  Deutschland  so 
vernachlässigten  Fingersprache  betont.  Diesem  ebenso  einfachen  wie  sinn» 
vollen  \'er«^t.mdigungsmittel,  dessen  sich  in  den  56  Staatsinstituten  .Amerikas 
mehr  al-  njhi(i  T.iubstumme  bedienen,  schreibt  der  Verfasser  die  über- 
raschcndi  11  s])i.ii  hlirliL'n   Rrs\iltatr   luuipt^arhlich  zu. 

In  dem  ..Summanstiics  L  rteii  über  die  Methoden  oder  Systeme" 
betitelten  Abschnitte  stellt  der  Verfasser  zwei  Grundsätze  auf,  nach  welchen 
er  die  verschiedenen  Systeme  auf  ihre  Brauchbarkeit  hin  beurteilt.  Seiner 
Ansicht  nach  ist  die  Manual-Alphabet^Methode,  die  sich  der  Finger*,  Laut- 
und  Schriftsprache  bedient,  „die  glücklichste  Form  des  kombinierten  Systems; 
denn  sie  vereinigt  diejenigen  Momente  der  deutschen  und  französischen 
.Methode  in  sich,  welche,  sich  >;t  n-i  itig  tordcMid  und  unterstiit/cnd,  genu  in 
saai  das  Ziel  verfolgen,  den  Taubäiuiuiiieu  iii  den  Besitz  der  Wurtspraclie  /.u 
bringen**.  Weiter  sagt  er  über  dieses  Unterrichtsverfahren:  „Kein  zweites 
System  ist  wie  dieses' emer  theoretischen  Begründung  fähig  und  kann  mit  ihm 
gleiche  Resultate  aufweisen.  Ich  halte  darum  die  Manual^phabet-  oder 
Rochester  Methode  für  d.is  vollkommenste  System  der  Gegenwart  und  für 
die  Methode  der  Zukunft." 

In  den  Schiussbetrachiungen  wendet  sich  der  Verfasser  noch  einmal 
mit  aller  Entschiedenheit  gegen  die  reine  Lautsprachmethode  und  die  Art, 
wie  sie  m  den  Instituten  gehandhabt  wird,  und  hebt  die  unbedingte  Notwendig- 
keit einer  durchgreifenden  Reorganisation  des  deutschen  Endehungswesens 
für  Taubstumme  hervor. 

Ist  die  \  ()rliej;endr»  Schrift  atu  h  hauptsächlich  für  Fachmänner  be- 
stimmt, so  bietet  sie  doch  auch  dem  gebildeten  Laien  viel  Anregung  und 
Belehrung.  Hoffentlich  finden  die  Ausführungen  des  einsichtsvollen,  durch 
mehrere  Abhandlungen  über  die  Methodenfrage  bekannten  Taubstummen- 
lehiers  an  massgebender  Stelle  die  Beachtung,  welche  sie  im  Interesse  einer 
gedeihlichen  Entwickelung  unseres  Taubstummenbildungswesens  verdienen. 

Berlin.  W.  Eichier. 


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488 


Berkhtc  und  Besprechungen. 


Library    liulleiini».    No.    2.    Books    on    education    in  the 
librarics  of  the  Columbia  University.  New  York  1901. 
Das  Anwachsen  der  pädagogischen  Utterattir  in  den.  Büchereien  der 
Columbia-Universität  sowie  die  grosse  Zahl  der  Studierenden,  die  sie  foirt- 

laufend  bt-nutzten,  machten  den  Druck  eines  Katalogs  notwendig,  der  infolge 
seiner  Ri  irhhaltigkrit  über  den  erst^jeda!  Inen  Zweck  weit  hinausgeht 
und  steil  als  ein  ausgezeichnetes  bibliograpiuschtb  Nach-Schlagebuch  quali- 
fiziert; er  enthält  nicht  weniger  als  13  500  Titel.  Die  Anregung  liu  dieser 
Veröffentlichung  gab  Professor  Nichdas  Murray  Butler»  der  verdienstvolle 
Herausgeber  der  Zeitschrift  ,.£ducational  Review".  — s. 


Gustav  Hecke,  Die  neuere  Faychologle  in  ibren  Be> 

ziehuü^en  zur  Pädagogik.  Geschichtlich  -biblio» 
graphisclir  Orientierung  und  kritische  Würdigung. 
Gotha.  Verlag  von  E.  F.  T  h  i  n  o  m  a  n  n.  1901.  5S  S.  1  Mk. 
Ein  kurzer  Ueberbllck  über  die  Haupvnchtungeu  der  früheren  theo- 
rettedien  Fäydiologie  fOhrt  durch  die  wichtigsten  philosophischen  Systeme 
vom  Altertum  bis  znrNenseiti  um  su  migen,  wo  die  Anfiloge  dw  modernen 
Psychologie  liegen,  wie  Bich  diese  im  vorigen  Jahrhundert  aUmllLlich.  als 
SpezialwiHsensehaft  herausarbeitete  und  sieh  als  Grundlage  aller  Geistes- 
wfp.N-en Schäften  betrachten  darf.  Mit  ihr  wurde  die  iüuderpsychoitigie  ^-e- 
bureu.  iSaehdem  Pestalozzi  die  Groudliiiieu  einer  psychologischen  Pädagogik 
geselclmet  hatte,  die  dorcli  ICBiiiier  ans  der  Sditöle  Kante,  Herbaits  nnd 
JBanckes  erweitert  und  vertieft  war,  entstand  anch  bei  den  Psdagogen  das 
Bedttrfnis  und  der  WnnBch,  genauere  Einsichten  in  das  Wesen  der  Kinds»* 
seele  zu  gewinnen,  und  man  begann  ihre  Erscheinungen  mit  natnrwissen- 
schaftlichcn  Methoden  zu  analvsieren.  So  trat  zunächst  die  Kindrriisvcho- 
lopfie  als  psychologisches  Teilgebiet  auf  neben  Tierpsycliolugie,  V  Uker- 
psychologie  n.  a.  Indem  sie  sieh  jedoch  in  den  Dienst  der  Fftdagogik 
stellte  und  sieh  den  drei  Hauptfragen  derselben  —  Sehulor^ukisation,  Sdinl« 
hygieiie  und  Methodik  der  Lehrfächer  —  zuwandte,  w\irde  sie  zur  Päda- 
•^ot^ischen  Psychologie.  Ihre  bi.-^beri  r  Ergelmis.^e  i^ind  heute  nicht  mehr 
zu  ignorieren,  ihre  Methoden  erzwingen  sicli  den  Eingang  in  alle  päda- 
gogischen Zweige.  Mit  ihrer  Hilfe  wird  es  allein  möglich  sein,  die  £r- 
ziehnugsatiigaben  der  Schule  und  des  Hauses  in  exaktem  Stime  an  I9sen. 
fWtgsn  Uber  den  BÜdnngswert  der  etmehien  Lelirfftcher,  Uber  Gemllts-  und 
'Willensbildung,  über  die  Battcksichtigung  der  Individualität,  über  Ver- 
anla-^un^  und  Vererbung  n.  a.  gehören  vor  ihr  Forum.  Die  Reichhaltigkeit 
ihrer  Probleme  und  die  zahlreiclien  Ansatzstellen  für  ihre  Lösung,  sowie 
dus  steigende  Interesse  für  die  neue  Disziplin  selbst  lassen  uns  schon  iur 
die  nKchste  Znktmft  ein  rüstiges  yorwirtwelirsiteii  erwarten.  Dssu  wird 
auch  die  vorliegende  Schrift  mit  Ihrer  klaren,  sadJichen  Darsfeellaag  anregen. 
Berlin.  W.  Kcanae. 


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Mitteilungen. 


Deutscher  Schulmänner-  und  Philologentag. 

Professor  Dr.  Rciiiiiardt  i  Frankfurt^  erstattete  den  Beru  ht  über  den 
altsprachlichen  Unterricht  auf  dem  von  ihm  ;,'elciteten  Gymnasium  nach  dem 
I  rankfurtrr  i.chrplaii.  Alle,  die  an  dieser  Schule  mitarbeiten,  sind  iiberzeugt, 
dass  der  neue  Weg  viel  Gutes  hat,  ja  dem  ahcn  vonusicJien  ist.  Von  88 
Abiturienten  hat  nur  ein  einsiger  das  Ziel  beim  ersten  Anlauf  nicht  erreicht» 
diesem  aber  ist  nach  einem  halben  Jahr  unbedenklich  die  Reife  zugesprochen 
worden.  Einige  Schüler  haben  trotz  langer  V^ersäumnis  wegen  Krankheit 
das  Kxani<ni  dennoch  mit  gutem  Erfolge  bestanden.  Das  ist  bemcTkcnswert 
auch  deshalb,  weil  nun  schon  gememt  hatte,  die  Erfuli^e  s-ten  nur  fluchtig, 
beruhten  auf  fluchtigem  Einprägen.  Es  ist  das  also  ganz  und  gar  nicht  der 
Fall.  In  vier  Jahren  ist  erreicht  worden,  wozu  andere  sechs  brauchten!  Der 
erste  Unterricht  ist  schon  eine  Propädeutik  der  Syntax.  Die  Form  lässt  sich 
nicht  losgelöst  vom  Satze  erklären.  Die  Schüler  greifen  denn  auch  hungrig 
(!:ina(h.  Drt^  Cedärhtni'^  ist  auch  jet^t  viel  schärfer,  kurz,  e«;  ist  eine  Be- 
reicherung de»  ganzen  geistigen  Lebens  festzustellen.  In  einem  Jahre  kann 
man  im  die  Cäsar- Lektüre  gehen,  imd  R.  kann  versichern,  dass  kein  gram- 
matisches Zerpflücken  stattfindet. 

Die  Uebersetzungen  aus  dem  Deutschen  ins  Lateinische  werden  ernst  ge- 
pflegt, so  dass  der  Schüler  auch  im  freien,  ja  mündlichen  Ausdruck  Sicherheit 
erlangt.  -  A)mm  wie  steht  es  mit  dem  Gnechisehen,  ohne  da^  das  (jymn.isjiim 
kein  (lynrnasrnm  mehr  ist?  Wir  jje^itehen,  dass  uns  hier  hL'>oiider3  bange 
war.  Aber  es  war  eine  der  schönsten  1-nitäuschungen  nn  Leben  des  Redners, 
die  Entwickelung  des  griechischen  Unterrichts  zu  beobachten.  Wie  er> 
zieherisch  wertvoll  zeigte  es  sich,  dass  14— 16  jährige  junge  Leute  noch 
einmal  mit  den  Elementen  einer  Sprache  anfangen.  Die  Sehüler  trachten  mit 
grossem  Eifer  danach,  diese  w nndi  rliair  Sprache  zu  erlernen  und  dies  — 
auch  was  das  Gedächtnis  hetriHt  —  nut  bestem  Erfolge  Das  Wagnis,  mit 
Homer  anzulangen,  ist  vielleicht  für  die  Zukunft  mchi  ausgeschlossen.  Der 
neue  ahsprachliche  Unterricht  unterscheidet  sich  von  dem  auf  alten  Gym* 
nasien  in  folgenden  Punkten:  1.  Die  Schüler  kommen  in  reiferem  Alter 
hinein.  2.  Es  kann  eine  reichere  pädagogische  Anknüpfung  und  Verknüpfung 
stattfinden.  Der  l'nterricht  wird  lebendiger,  geistvoller,  anregender.  Die 
Kfil!'  L^en  drängen  sich  danarh.  ihn  auch  in  den  Anfangsgründen  t^eben  zu 
dürfen,  denn  er  reisst  einen  stets  selbst  mit  fort.  Man  erreicht  eine  grössere 
Konzentration  der  für  das  Gymnasium  bestimmten  Eächer,  nämlich  der  alten 
Sprachen,  ohne  dass  andere  Dinge  zu  kurz  kommen.  Es  ist  ein  Nacheinander 
an  Stelle  des  frühecen  Nebeneinander.  Die  Zukunft  wird  ^tsdieiden.  Un- 
bedingte  Ruhe  ist  der  Feind  alles  geistigen  Fortschritts.  Der  Frankfurter 
Versuch  ist  nicht  gegen  die  humanistischen  Studien  gerichtet,  sondern  als 


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490 


MUteüungen. 


ein   andfii  I    W'rii   zur   Forderung'   der   humanistischen  Studien.  ^Lebhafter 
Heifallj    Auf  ciiu-  l)isku-.sii)n  wird  \cr/u:lnct. 

Professor  Dr.  Kehrbach  Berlin;  gab  einen  Bericht  über  die  V'eroffeni- 
Ijcbungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Schulgescbichte»  über  ihre  Gruppen 
und  über  die  Stellung  des  Reichstages  diesen  Arbeiten  gegenüber.  Die 

Notwendigkeit  rwu-r  Zentralstelle  für  das  gesamte  deutsche  Bildungswesen 
ist  immer  wieder  betont  worden  Wenn  man  der  Ausfühnnig  dieses  Cr- 
dankens  näher  treten  wird,  so  wird  man  in  drn  Veröfft-rith  hungen  der  Cv- 
sellschaft  einmal  ein  treffhchcs  Material  finden.  Der  Reichstag  hat  die  Arbeit 
der  Geaeltschaft  mit  jährlich  30000  Mark  unterstützt.  In  der  leuten  Session 
hat  der  Reichstag  einmütig  die  Regierung  ersucht,  diese  Unterstützung  auf 
50000  Mark  zu  erhohen.  Damit  ist  die  Hoffnung  gegeben,  dass  die  Gisell-» 
Schaft  bald  in  die  Lage  kommen  werde,  in  noch  durchgreifenderer  Weise  ihre 
bedeutsamen  Aufgaben  zu  brarh(  itrn  Zugleicli  liegt  in  dem  Entgegen- 
kommen der  Regierung  und  de:»  Reichstages  ein  erneuter  Ausdruck  der 
Wertschätzung  und  Anerkennung  für  die  nicht  genug  zu  würdigende  Arbeit 
an  der  Eniehung  und  Bildung  der  Jugend.  (Lebhafter  Beifall.)  —  Aus 
den  zahlreichen  anderen  Vorträgen  sei  noch  erwähnt  derjenige  von  Professor 
Dr.  Kannegiesser  (Strassburg)  über  die  Notwendigkeit  der  Vermehrung  der 
dputsrb»'n  T 'nterrirbt';<^tunden.  Der  R^^dner  lictnnte.  dass  d>i>  Gymnasiuni 
auf  clein  c  •(  biete  des  deutschen  rnii  rrn  hts  seino  Aufgaben  nicht  in  dem 
wunscheiiswerten   Masse   erfülle,   hauptsachli«  b   deshalb   nicht,   weil   es  im 

aUgemdinen  einer  su  sehr  Ibrmalistischen  Ausbildung  dient  und  die  klassisch 
antiken  Unterrichtsfächer  zu  sehr  betont.   Auch  nach  seiner  Ueberzeugung 

müsse  das  klassische  Altertum  die  feste  Grundlage  des  Unterrichts  bleiben. 
Aber  die  antike  Welt  sei  heute  nicht  r.K-tir  der  Mitt<  Ipunlct  imserf»?  i^risti'jen 
I.ebens,  darum  kt>nne  sie  aurh  nirht  üu  lir  der  Miucl[>L]iikt  unscrt^r  I'iüdung 
sein.  Andererseits  müsse  man  abt-r  au«h  davor  warnen,  dass  etwa  der 
deutsche  Unterricht  in  die  vom  Latein  verlassene  beherrschende  Position 
rücke.  Um  aber  dem  Deutschen  den  richtigen  Einfluss  auf  diese  Ausbildung 
zukommen  zu  lassen,  muss  man  ihm  so  viel  Raum  gewähren,  wie  es  unbedingt 
braucht.  Professor  Kannegiesser  begründete  nun  eingehend  die  Forderung: 
Ueberau  und  unbedingt  für  Tertia  und  Sekunda  |e  drei,  für  F^riina  'einsrh!ies>- 
hch  philosophische  Propädeutik)  vier  btunden.  Das  Mittelhochdeuts«  he, 
so  wünschenswert  es  sei,  könne  keinen  Platz  im  deutschen  Lehrplan  haben. 
Ein  besonderes  Augenmerk  sei  auf  die  Ktassenlektüre  zu  richteiL  Sie  ist 
ausserordentlich  wichtig.  Wir  sollten  doch  nachdenklich  werden»  in  welche 
geistige  Atmosphäre  unsere  Jugend  nach  dem  Austritt  aus  der  Schule  gerät.  * 
Auf  die  Privatlektüre  darf  man  be'itc  ni(  ht  nirhr  rr*  hnen.  Für  fin7^«-lne 
Fälle  mag  es  richtig  sein,  dass  die  Schuler  sich  privatim  in  der  I.L-kture 
weiterbilden.  Aber  die  Zeiten  sind  vorüber,  wo  die  Mehrzahl  der  Primaner 
und  Studenten  sich  in  weihevollen  Stunden  in  die  Klassiker  versenkte  und 
die  Schule  ergänzte.  Die  ausgedehnten  sportlichen  Liebhabereien  der  Jugend 
brauchen  noch  gar  nicht  dazu  zu  veranlassen,  die  Intensität  des  Fleisses 
diesrr  Juijend  zu  bezweifeln  Alter  der  moderne  Flciss  ^eht  mehr  .ntif  das 
Reale.  Darum,  so  lanj^e  umn  (be  hij^md  norh  in  der  Hand  hat.  ^^slt  es,  sie 
in  der  Lektüre  zu  leiten.  Daim  wird  sie  sich  einst  vor  einer  pietätlosen  Kritik 
an  Deutschlands  litterarisch  grdsster  Zeit  hüten  und  sich  auch  nicht  kritiklos 


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MüleäuMgm» 


491 


der  litterarischen  Dekadenz  in  die  Arme  werfen,  —  Ein  Mangel  an  geeigneten 
Lehrkräften  sei  nirht  zu  befürchten,  auch  nicht  eine  emstliche  Weigcnmic 
der  Oliorschulht  hurden  und  Regierungen,  du-  \'ernichriing  des  deutschen 
Unterrichts  einzuführen.  Hoffentlich  sei  der  ietzte  preussische  Lchrplau 
nodi  nicht  als  das  letite  Wort  zu  betrachten,  wenigstens  was  den  deutschen 
Unterricht  betrifft  Wir  erwarten  zuversichtlich,  dass  dem  Deutschen  im 
Gymnasium  doch  noch  sein  volles  Recht  werde.  (BeifalL) 

Eine  lange  Debatte  folj:,'te.  Im  wesentlichen  war  man  sich  über  die 
Notwendigkeit  der  \ t  rl.m>;t(.ii  Vi  rnu-lining  »  inifi.  die  praktische  Ausführung 
freilich  gab  Anlass  zu  mancher  Meinungsverschiedenheit. 

Professor  Dt.  Altendorf  ai»  Offenbach  trat  m  längerem  Vortrage  für  die 
Abschaffung  des  griechischen  Sprachunterrichts  als  obligatorischen  Unter« 
richtsgegenst.indes  ein  und  für  die  Versetsung  dieses  Faches  in  die  fakul- 
tativen Gegenstände.  Das  Lateinische  solle  erst  in  Quarta  bej;innt  ii  I)<  r 
Schüler  solle  zwischen  Griechisch  und  Englisch  zu  wählen  haben,  das  i- ran- 
2usische  solle  früher  beginnen,  griechische  Litteratur  sollte  auch  in  guten 
Uebersetzungcn  gelesen  werden  u,  ä.  w.  Diese  Forderungen  fanden  scharfen 
Widerspruch. 

Die  vereinigte  romanische  und  englische  Sektion  beschäftigte  sich  be< 
sonders  mit  einem  Vortrage  des  Rektors  der  Halleschen  L'niversität  Pro- 
fessor Dr.  Suchier  über  ,.die  akadf-mischc  V'nrbildung  unserer  fremdsprach- 
lichen Lehrer."    Im  .Vnschluss  daran  wurde  lolgcnde  Entschliessung  gef asst : 
„Die  vereinigte  romanische  und  englische  Sektion  der  l(j.  Versamm- 
lung deutscher  Philologen  und  Schulmanner  erachtet  die  Beibehaltung 
des  Lateinischen  als  Vorbedingung  für  das  akademische  Studium  der 
neueren  Sprachen  für  unerlässlich  und  hält  es  für  notwendig,  dass  die 
Kenntni«?  der  lateinischen  Spr.h  !)'*  im  Tnifanpre  der  .Xntorderungen  des 
Gymnasiums  oder  Realgymnasiums  schon  auf  der  SchuK-  erwortx  ii  wird," 

(Nach  d.  Berl.  Tagebl.) 


Verein  für  lateinloses  hö  Ii  eres  Schulwesen. 

1.  Der  Verband  giebt  seiner  l'cberzeugung  dahin  Ausdruck,  dass  die 
Beseitigung  aller  l'nterschiede  im  Berechtigungswesen  und  in  den 
Promotionsordnungen  der  \  <«r-;rhiedenen  Sta.iten  und  Universitäten 
Deutschlands  im  nationalen  interesse  gelioten  erscheint. 

2.  a)  Die  Fürsorge  für  die  deutschen  Schulen  im  .•\uslande  hat  ihre  hohe  , 
nationale  Bedeutung  und  kann  deshalb  den  deutschen  Regierungen 
und  insbesondere  der  Reichsregriening  nicht  genug  empfohlen  werden. 

b)  Diese  Fürsorge  kann  sich  bcthätigen  durch  die  Gewährung  von 
grosseren  wirklich  .Tusrcichenden  Zuschüssen  und  dUTch  die  Errichtung 
eines  eigenen  Reichsschulamts. 

c)  Femer  ist  zu  wünschen,  dass  die  Pensionsverhältnisse  und  Relikten- 
Versorgung  der  Lehrkräfte  an  deutschen  Auslandsschulen  tmter  Mit- 
wirkung des  Reiches  geregelt  werden,  sowie  dass  die  von  deutschen 
Lehrern  an  diesen  Schulen  verbrachte  Dienstzeit  bei  ihrer  etwaigen 
Wiederanstellung  im  Schuldienste  ihres  Heimatstaates  angerechnet 
wird. 


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492 


MiUeüntngen. 


Du  Mitwirkung  von  Privatpersonen  und  von  Vereinen  ist  sehr  er- 
wünscht. 

Femer  hat  der  Vorstand,  gleichfalls  auf  Grund  der  in  Marburg  gct«ü>sten 
BescbUisse,  mit  allen  ihm  geeignet  erscheinenden  Mitteln  dabin  «u  wiiltea 
versucht,  daae  doi  Realanstalten  die  Gleichberechtigung  mit  den  Gymnasien 
gewährt  werde.    Zu  diesem  Zweck  trat  der  Vorstand  im  Februar  v.  J.  mit 

dem  V^erein  deutscher  Ingenieure,  dem  allgemeinen  deutschen  R<Mlschul- 
Tnännervcrein  und  dem  St  hulrt-forniverein  in  Berathung.  deren  Ri  ^ullat  die 
am  Ii.  Mai  v.  ].  in  Berim  abgehaltene  Versammlung  war.  Eme  beiracntUche 
Zahl  der  Mitglieder  unseres  Vereins  nahm  an  der  Kundgebung  teil.  Den 
Verhandlungen  der  „Junikonferens**»  zu  der  tu  unserem  sduner^chen  Be- 
dauern kein  einziger  Vertreter  unserer  hiteinlosen  höheren  Schulen  eingeladen 
worden  war,  folgte  der  Vorstand  mit  der  j^rössten  Aufmerksamkeit.  In 
Sicherheit  !ie5s  sich  der  \'^orstand  nher  dadurch  nicht  wiegen.  F.r  set?te 
scme  Thatigkeit  vielmehr  m  erhöhtem  Masse  tort,  als  selbst  nach  Eriass 
der  von  allen  sdiulpolitischen  Parteien  mk  so  aufrichtigem  Dank  begrüsste 
königliche  Eriass  vom  23.  November  v.  J.  die  Durchführung  des  hiemn  er- 
neut ausgesprochenen  Grundsaties  von  der  Gleich  Wertigkeit"  der  höheren 
Schulen  immer  länger  auf  sich  warten  licss.  Wir  richteten  in  Gemeinschaft 
mit  dem  unserem  Verbände  angehörenden  \'ercinen  und  mit  dem  bayerischen 
Realschulmannervercm  emc  Emgabe  an  tic  n  Bundesrat,  m  der  um  Zulassung 
der  Oberrealschulabiturienten  zum  medizinischen  Studium  gebeten  wiurdc. 
Der  Bundesrat  hat  anders  beschlossen  und  nur  den  Abiturienten  der  Real- 
g\  mnasien  dieses  Recht  neu  gewährt. 

Dagegen  ist  unseren  Abiturienten  der  Zugang  zu  der  gesamten  philo- 
sophischen Fakultät  in  Preussen  eröffnet  worden.  Wir  sind  dem  Herrn 
Minister  für  diesen  Akt  zu  grossem  Dank  verpflichtet.  De  r  Bann  ist  damit 
gebrochen,  der  Sieg  mioss  unserer  Sache  zufallen.  In  dieser  Zuversicht 
haben  den  Vorstand  auch  die  wiederholten  Parlamentsverhandlungen,  ins- 
besondere die  des  preussischen  Abgeordnetenhauses,  bestärkt.  An  dessen 
Mitglieder,  sowie  an  die  des  Herrenhauses  hatte  der  Vorstand  unmittelbar 
vniiicr  den  Vortrag  des  Ilrrrii  Cihcim'-n  Rcgierungsrats  Dr.  Matthias  ,.I)ie 
Gleichwertigkeit  der  <  >l)t  ri i  alsrhul  und  der  GymnasialhiUiung"  gesandt. 
Wer  die  Verhandlungen  gelesen  hat,  weiss,  wie  wirkungsvoll  tur  misere 
Sache  sich  dieses  mannhafte  Wort  wieder  erwiesen  hat. 

Die  neueste  Schulreform  hat  die  Abschlussprüfung  beseitigt.  HeiTscht 
innerhalb  unseres  Vereins  am  h  ^u  inimgsverschiedenheit  darüber,  ob  das 
richtig  war.  so  sind  wir  alle  doch  darin  eins,  dass  dieselben  Gründe  dann  auch 
die  Bescuiguiig  der  Reis,  prüftmg  an  den  Realanstalten  fordern.  Dem  ist 
vom  Vorstand  an  massgebeniier  Stelle  Ausdruck  gegeben  worden. 

(Nach  d.  Berl.  l  agebl.) 


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Bibliotheca  pAdo-psycholosica* 

Von  O.  P  f  u  n  g  s  L 


IlL  Hy$ßmam  &m  KiodM. 

(Fortsetzung.) 

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f.  Schnlgcs'pfl.,  190a.  7. 
X^asnt^,  E.    Sur  la  prophylaxie  du  rachitisnie  et  de  la  debilite  nerveus« 

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Latour.  T.    El  probloina  infantil  y  la  lepislacton.    Ba'^rs  para  una  ley  de 

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Lautenbach,  L.  J.   The  Control  and  Prevcntion  of  Ear  Diseases  among 

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IB99.  242. 

Leitsätre  der  Sc  hui  Gesundheitspflege.  2.  Anfl.  Berlin.  Verl.  d.  Med.  Waren- 

hanscs.  19U0. 

Lexikon  der  Kinderheilkunde  und  Kandererziehung.  1.  Teil:  Kinderheii* 
knnde.  Eine  gemeinverständlidie  Darstellung  sammtlicher  Kinder- 
krankheiten, deren  Verhütung  und  Heilung.  Von  San.-R.  Dr.  L.  Ffitst 

—  2.  Teil:  Kindererziehung  und  Berufswahl.    Von  Lehrer  Hans 
Snck     Berlin,  Schild,  1900.  Lex.  8»  in  20  Lief. 
Lobsien.  M.    Unterricht  und  Ermüdung.    Langensalza»  H.  Beyer,  1899, 

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SchriftleitunK!  P,  Kemsi  es ,  Berlin  NW..  Paulstr.  33  und  L.  Htrschlaf  f .  Berlin  W.,  Lfitzovstr.SSb. 
Vertag  von  HermtnnWnlffirr  Verlnr'-HirHhandl.,  Q.  m.h  H..  Berlin  SW.,  Kommandartenstr  14. 
Druck:  Deutsche  Buch-  und  Kunstdruckerci,  O.  m.  b.  H.,  Berlin  SW.,  Friedrichstr.  16. 


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