Zeitschrift für
pädagogischie
Psychologie u
Pathologie
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Zeitschrift
«II
für
Päddaodl$ci)c P$y(l)oloalc
und
Fatbolodie.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hlrschlaff.
III. Jahrgang.
BERLIN S.W.
Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung G.m.b.H.
1901.
Man beachte die Rück$:eitel
Zur s^efl. Beachtung:.
l>ic Zeitschrift wird im nächste» Jahre den Titel führen:
Zeitschrift
Pädaaoai$cl)e P$y(l)oloaie,
PatMogle und t^yglene.
Diese Erweiterung des Titels bedeutet nicht eine prinzipielle
Aendetimg des Prognunmes der Zeitschrift, sondern lediglich
eine Ausgestaltung desselben im Sinne der im 1. Jahrgange
niedergelegten Grund^tze.
Wir hoffen, dass die Zeitschrift auch in der erweiterten
Form sich der gleichen Sympathie erfreuen wird, wie bisher.
VT. * •
' Die Herausgeber.
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Inhalt des 3. Jahrganges
1901.
A. Abhandlungen.
Seile
K.
von Hase: Die psych ologi.sche BegTÜndunjj der
religiösen Weltanschauung im 19. Jahrhundert
1
26
H.
Fischer: Ueber neuere Methoden zur Einführung
ins Verständnis geographischer Karten . .
27-
-37
J.
Friedrich: Die Ideale der Kinder
38
-64
F.
von Luschan: l'^ eher kindliche X'orstelhinj^en bei
den sogenannten Naturvölkern
89-
-96
A.
Baginsky: Ueber Suggestion bei Kindern
''7 -
-103
J. Orth: Kritik der AssociatioiiscinteiUin^en . .
1U4-
-119
F.
Stahl, W. Spohr, O. Feld: Die Kunst im Leben
120-
-140
F. Kein si es: ( redäclitnisiiiilersucluni<;en aiiScliüleni. III.
171
183
L.
Hirschlaff: Zur Methodik und Kritik der Krgo-
graphen- Messungen
184-
-1^8
K.
Löschhorn: Einige Worte über die Beibehaltung
der sogenannten Versetzungsprüfungen
l')9 _
-203
H.
Zimmer: Was soll das Kind lesen?
204-
-214
A.
Moll: Ueber eine wenig beaclitete Gefalir der
Prügelstrafe bei Kindern
215
210
H.
Sachs: Die Entwickelung der ( lehirnplu siologie
im 19. Jahrhundert
255-
280
F. Kenisies: Gedachtnisuntersuchunffen an Schülern. IV. 281 —
-291
K.
Löschhorn: Ueber die Aufnahme der Schüler in
die unterste Klasse höherer Srhnlin
292-
295
L.
Hirse Iii äff: Ueber die Furcht der Kinder . .
296-
■315
K.
Löschhorn: Ueber Zensurprädikate ....
335 -
-342
L.
Maurer: Zur Psychologie des Rechtschreibe-
nnterrichts ,
343^
-348
F.
Kemsies: Arbeitstypen bei Schülern
349-
-362
K.
Steinitz: Der Verantwortlichkeitsgedanke im
363-
-394
C.
Stumpf: Eigenartige sprachliche Entwickelung
419-
447
w.
Münch: Zum Seelenleben des Schulkindes . .
448-
455
A.
Claus: Psychologische Betrachtungen zur Methodik
des Zeichenunterrichts
456
473
B. Sitzungsberichte.
Verein för Kinderpsychologie zu Berlin.
A. Baginsky: Uebcr Suggestion bei Kindern . . . 65 -68
I'\ Kenisies: Gedächtnisuntersnchungen an Schülern 141 —142
L. Hirschlaff: Uebcr die F'urcht bei Kindern . . . 142 — 143
Jessen: Die Erziehung zur bildenden Knnst . . . 220 — 222
Flatau: Ueber die nasale Auimerksainkeitssch wache
bei Kiiid^^rn 395 — 396
\V. Münch: Zum Seelenleben des Schnlkiudes . . 474 — 476
C. Stumpf: Eigenartige sprachliche Butwickeiung
eiues Kindes 476—479
Psychologische üesell sc haften zu Berlin,
Breslau und München.
Sdtc
Türck: Die Psychologie des Genies in Goethes
Faust 68—69
Vortragsplan für das Sommersemester 1901 . . , 144
Vortragsplan für das Wintersemester 1901/1902 . . 3'>7
Abraham: Das absolute Tonbewusstsein 397—400
Stern: Theorie der ererbten psy chischen Anlagen . . 400—401
Jahresbericht der Psychologischen Gesellschaft zu
Breslau 401—407
O. Hoffmann: Die Kunst des Versbaues im Dienste
des Gedächtnisses 403 - 404
G, Rosenfeld: Die psy chischen Wirkungen des Alkohols 404—405
L. W. Stern: Pechner als Philosoph und P»ychopbysiker 405—406
Akademischer Verem für Psychologie zu München . 407—408
C« Berichte und Besprechungen.
Sole
L. W. Stern: l'eber Psychologie der individuellen
Ditierenzeu (Ideen zu einer differentiellen
Psych(jlogie) . - 70-72
W. Heinrich: Die moderne Psychologie in Deutschland 73 — 75
A. Hennstein: Die heutige Schulbankfrage .... 75—76
K, ( ). Beetz: Einführung in die moderne Psychologie 76 — 83
Pabst: Blätter für Knabenhandarbeit 144—146
R. Gaupp: Ursachen und Verhütung der Nervosität
der Frau 146—147
Tli. Ziehen: Leitfaden tkr pliysiologischen Psychologie
iu 15 Vorlesungen , . • , 147
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G. A. Colozssa: Psychologie und Pädagogik des Kinder- ^''"'^
Spiels 148—149
A. Wreschner: Eine experimentdUe Studie über die
Association in einem Falle von Idiotie . . 222 — 227
H. Kroell: Der Aufban der menschUchen Seele . . 227-228
Educatioual Review 228—229
W. A. Lay: Methodik des iiaturgeschichtliclien Unter-
* richts und Kritik der Refonnbestrebungen
auf Grund der neueren Psychologie . . . 316 — ^318
Th. Ziehen: Ueber die Beziehungen der Psychologie
zur Psychiatrie 318—321
K. Li. Löwe: Wie erziehe und belehre ich mein Kind
bis zum sechsten Lebensjahr 321 -322
R. Penzig: Ernste Antworten auf Kinderfragen . . 322—323
W. Muncli: Das Recht der Persönlichkeit in Schulamt
und Schiilleben 409
Jahrbuch der Krüppelfürsorge 410
2^tschrift für Schulgesundheitspflege. XIL und
XIII. Jahr;:ang 411—416
L. Laquer: Die Hilfsschulen für scliwacli befähigte
Kinder, ihre ärztliche und soziale Bedeutung 417 — 418
Loewe: Wie erziehen und belehren wir unsere Kinder
während der Schuljahre 481 — 48H
C. Schuyten: Pedulogisch Jaarboek 483 — 485
J. Heidsiek : Das Taubstummenbildungswesen in den
Vereinigten Staaten Nordamerikas .... 485 — 487
H. Hecke: Die neuere Psychologie in ihren Be>
Ziehungen zur Pädagogik 488
D. Mitteilungen.
Ein Brief des Kaisers über Sclml reform 83 — 84
Das Kind — eine Reformzeitschrift für die Familien 84 — 85
Die Kunst im Leheti des Kindes 85—88
Aeussarungen zur Reform der höheren Lehranstalten 150 — 160
Die unerwachsene Bevölkerung Berlins nach der Volk»»
Zählung 1895 229—237
Ein Wort über die Schulreform 237—240
Aufruf des deutschen \'ereins für Schulgesundheits-
pflege ZU Berlin 241
Ueber die Zulassung der Oberrealschul-Abiturienten
zum Studiuni der Medizin 242 — 244
Geisteskrankheit unter den Lehrerinnen 324
Individuelle Erziehung 324—325
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Ueber die VoiUäge des Vereins für Kindcrlorschuag
iti Jena 325—326
Nene Bestimmiing^en über die zweite Lehrerprüfung 327 — 328
Deutscher Schuhnämier- und Philolo{>-entag , . . 489 — 491
Verein für lateinloses höheres Schulwesen . . , , 491 — 492
Seite
E. Bibltotheca pSdo-psychologica.
Allgemeine Psychologie loi — 170
PsvchL)lci<^'^ie und Psychopathologie des Kindes . . 245—254
Hygiene des Kindes. 1 329—334
Hygiene des Kindes. IL 493—498
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Zeitschrift
Ar
uiid
Patl)olo9ie.
herau^^eboi
von
Ferdinand Kemsies.
Jahrgang IIL Berlin, Februar 1901. Heft i.
Di« p^chologische Begründung der religiösen
Weltanschauung im 19. Jahrhundert.
Vortrag, gehalten in der psychologischen Gesellschaft zu Breslau am 7. Mai 1900
von
Karl von Hist.
In cki Reihe von Vortragen über die Entwickeluiig der
Psychologie und ihrer Nachbargebiete im 19. Jahrhundert
haben Sie auch einem Theologen das Wort verstattet. Dainii
ergab sich mir das Thema: „Die psychüh)gische Begründung
der reügiüsen Weltanschauung im 19. Jahrhundert." Wemi
ich den. allen diesen Vorträgen genuinsauien Zusatz „im 19.
Jahrhuiidf rt recht verstehe, so liegt darin eine doppelte Auf-
gabe; einmal die, einen geschichtlichen Ueberblick über die
Religionsphiloso])hie im 19. Jahrhundert, so fern sie die religiöse
Weltansciiaimng psychologisch begründet, zu geben, und zum
andern die. den Standpunkt zu kennzeichnen, aut welchem die
Rciigiüiisphilosophie beim Abschluss des fahrluiiiderts steht.
So wenig nun der vorige Vortrag ..liebet da-- Kunstempfinden**
eine Kunstgeschichte des 19. Jahrhundeits mit Nennung aller
bedeutenden Namen sein konnte, so wenig kann ich jm engen
Zenrnuin einer Stunde die Geschichte der Religionsphilosophie
im 19. Jahrhundert auch nur skizzieren; aber gerade in diesem
Kreise darf ich mich auf Andeutungen beschränken. Nur aus
den letzten Jahrzehnten werde ich einige literarische Werke ein-
geiiender besprechen, wahrend ich bei der !■ uUe des Stoffs
andere zu Wort koinuieu lassen niuj.S), ohne sie jedesmal zu
bezeichnen. Was aber den gegenwärtigen Standpunkt religions-
psychologischer Betrachumg anlangt, so werde ich nur an eu>
ZeitKhritt tui pädagogische Ptyclioiogie und Pathologie. ]
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2
zelnerh mir besonders wichtig erscheinenden l'roblcnun die
Methüde, ihre wissenschaftliche Berechtigung und ihr Ergebnis
darzulegen versuchen.
Geistige Strömungen kelircn sich nicht an den Kalender
und nicht an die Jahreszahl, aber jedes Jahrhundert hat doch
seine besondere Signatur. Können wir das 18. Jahrhundert
bezeichnen als beherrscht vom Geist der Auiklärung, so stehen
wir zwar dem 19. Jahrhundert noch zu nahe, um ein einheitliches
Wort für dasselbe zu finden, aber wir können doch sagen: im
ersten Viertel war es bestimmt durch das Erwachen des histo-
rischen Sinns; im zweiten durch den Grundgedanken der Ile-
gelschen Philosophie, der logischen Entwickelung des Begriffs;
im dritten wurde dieser Gedanke auch in den Naturwissen^rhaf-
len als Evolutionstheorie angewendet und anerkannt ; im letz-
ten Viertel kam die Psy( hologie zu Ehren. In Philosophie und
Theologie trat die Metaphysik mehr und mehr in den liiiucr-
grund; auf dem Gebiet der religiösen Weltanschauung soll nur
innere Erfahrung den Weg zur Wahrheit zeigen.
Der das 18. Jahrhundert beherrschende und noch ins 19.
Jahrliuiulert hineinreichende (ieist der Aufklarung hatte zur
Voraussetzung die Umgestaltung des astrononnschen Welt-
bildes. Die Aufklärung selbst war mehr eine Frage der Bildung
als der Grundsatz einer bestimmten Wissenschaft. Auf allen Ge-
bieten hatte sie sich Geltimg verschafft, wenn auch die Theo-
logie lange sich al)lehnend verhielt, begreiflich, weil diese ganze
grosse Geistesbew( gung im Gegensatz zum kirchlichen Her-
kommen stand. Ergebnis der Aufklärung war geistige Befrei-
ung, aber freilich zugleich auch für die Meisten I'2rschütterung
ihres Glaubens, für Viele Erschütterung der religiösen Welt-
anschauung überhaupt.
Gerade hundert Jahre sind vergangen, seit Schleiennacher
seine „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihr« n
Verächtern" veröffentlicht hat. Vergleicht man das Nucau
der damals herrschenden Weltanschauung, auch abgesehen von
den Schriften der englischen Feidenker, de r 1 1 inzösischen En-
cyclopädistcn und aticli der Ultras des deutschen Rationalismus,
mit dem Niveau der religiösen WehaiiM liauung unserer Zeit,
so ergiebt sich, wiederum abgesehen von der Stärkung
z. B. der kirchlichen Macht des Papstthums und der
evangelischen Kirche mit ihrer Mission, ihrer Verfassung und
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Die p^fdui»güA£ BegrÜHdimg der rdigiAtm WaianMdmHung, $
ihren Liebeswerken, auf die ich als kirchliche und konfessionelle
Fragen hier nicht eingehe, der bedeutsame Fortschritt, die Ver-
tiefung, die festere Begründung, die Eingliederung der religiö-
sen Weltanschauung in den Gesamtorganismus unseres Geistes-
lebens.
Das Verdienst, gegenüber dem flachen Rationalismus
wieder der religiösen Weltanschauung eine wissenschaftliche
Grundlage gegeben zu haben, gebührt dem Begründer der kri-
tischen Philosophie, Kant, und seine Begründung der Religion
ist durchaus psychologisch. Nachdem er in seiner „Kritik der
reinen Vernunft'* die Paralogismen der rationalen Psycholugie
und Kosmologie, sowie der spekulativen Theologie aufgedeckt
hatte, wies er die Voraussetzung aller Moral und Religion,
das Vermögen der Freiheit, die Unsterblichkeit der Seele und
das Dasein Gottes nach als Postulate der praktischen Vernunft.
Nur darf man diese Postulate der praktischen Vernunft nicht,
wie es vielfach geschieht, abschwächend verstehen als Neigimgs-
bedürfnisse. Nach Kant sind sie notwendige Bedürfnisse 'un-
serer Natur, die sich nicht auf eine zufällige Neigung oder Lieb-
haberei, sondern auf die Verfassung der moralischen Vernunft
selbst gründen und daher wie diese allgemein und notwendig
sind. Für die spekulative Vernunft bleiben Freiheit, Unsterb-
lichkeit, Gott immer nur Grenzbegriffe, unauflöslidie Probleme;
aber diese Grenzbegriffe ergeben sich dem Denken mit Not-
wendigkeit, wenn wir auch nur ihre uns zugewandte Seite mit
dem Denken erreichen und ihren Inhalt, ihr Wesen selbst lücht
ergründen. Wir haben von ihnen keine andere als eine mora-
lische Gewissheit; aber diese Gewissheit ist keine blosse Mei«
nung, sondern eine Ueberzeugung, ein Glaube, der sich auf die
praktische Vernunft gründet und in seinem Gebiet die gleiche
Gewissheit hat, wie die empirische Wissenschaft in dem ihrigen.
Diese Begründung der religiösen Weltanschauung ist um so
bedeutsamer, als Kant kemeswegs eine religiöse Natur war;
wo er tiefere Blicke in das religiöse Gebiet gethan hat, z. B. in
seiner Lehre „Vom radikalen Bösen**, hat ihn nicht seine reliöse
Stimmung, sondern sein scharfer Verstand dazu geführt. Wie
fremd ihm das innerste Wesen der Religion war, zeigt da, wo
er über das Vergebliche und Thörichte des Gebets spricht, seine
Bemerkung, dass auch der Fromme von dieser Thorheit ein
Bewusstsein habe, denn wenn man Einen unvermuthet beim
1*
üiyiiizea by Google
4
Kari vm ffase.
Gebet überrasche, pflege er zu erröten, also seiner Handlung
sich zu schämen. Wie wenig nun auch Kants „Religion inner-
halb der Grenzen der blossen Vernunft" an die Fülle und Tiefe
der positiven und historischen Religionen heranreidit, schon
darum, weil ihm der historische Sinn fehlt« so ist doch das seine
Bedeutung, dass er einerseits gegenüber dem blossen Autoritäts-
glauben, andererseits gegenüber der Subjektivität und Sentimen-
talität seiner Zeit, die religiöse Weltanschauung als in der Ver-
nunft selbst notwendig und darum unveräusserlich begründet
nachgewiesen hat.
Aber weil Kants religiöse Weltanschauung nur eine Re-
ligion timerhalb der Grenzen der blossen Vernunft war und sein
wollte, konnte sie den tiefsten Bedürfnissen des Herzens nicht
genügen. Das Gefühl kam in Kants religiöser Weltan-
schauung nicht zu seinem Rechte. Das ist der Punkt, an dem
philosophisch Jacobi, theologisch Schleiermacher ein-
gesetzt hat ; J a c o b i , ohne zu einer einheitlichen Weltanschau-
ung zu kommen, wie er selbst sagt : „mit dem Kopf ein Heide
und mit dem Herzen ein Christ,** während Schleiermiaoher
mit seltener Begabung scharfen Verstandes und tiefen Gemüts
die verschiedensten religiösen Entwickelungsstufen an sich
durchlebend, beides war, zugleidi ein Theolog und Philosoph.
Aufgewachsen im Pietismus der Brüdergemeinde, den er selbst
als den mütterlichen Schooss seiner Frömmigkeit bezeichnete,
dann in rationalistische Zweifel geraten, ergriffen von Spino-
zas einheitlichem tiefreligiösen Panthei^us, berührt von der
Romantik und geübt in platonischen Dialogen hat er durch
seine 1799 erschienenen „Reden über die Religion** Unzähligen
damals und später, wie Klaus Harms in Kiel von sich sagt,
den Anstoss zu einer ewigen Bewegung gegeben. Sie bUden
einen Wendepunkt nicht nur in der Geschichte der Theologie,
sondern auch in der allgemeinen Auffassung vom Wesen der
Religion. Darin gleicht Schleiermacher Kant, dass auch
er unbefriedigt war wie von einer bloss dogmatisclien, so audi
von einer flach rationalistischen Auffassung der Religion; aber
ihm reichte die moralische Gesinnung, in welche Kant das
Wesen des Vemunftglaubens gesetzt hatte, für die Tiefe tmd
den Reichtum der Religion nicht aus. Er wies nach, dass die
Religion nicht bloss in einer Summe von allerlei Lehren bestehe,
noch auch blos in moralischer Gesinnung, sondern dass sie Ihr
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Die p^fdudagiadu Begrtmdamg der fdigiSsen WütoHttkauMMg^
5
eigenes Gebiet im Gemüth des Menschen habe, dass sie eine
Weltanschauung sei, ein unmittelbares Gefühl, ein Bewusstsehi
des Endlichen im Unendlichen, des Zeitlichen im Ewigen, und
dass sie wie eine heilige Musik das ganze Leben des Menschen
begleiten müsse. Ihm ist Religion das Erleben des Unend-
lichen.
Beide Schriften, Kants „Religion innerhalb der Grenzen
der blossen Vennmft** und Schleiermachers „Reden über
die Retigion** gehören der Jahreszahl nach noch dem i8. Jahr-
hundert an, aber ihre Wirkung hat sich tief ins 19. Jahrhundert
erstreckt.
Durchaus psychologisch bedingt war dann die religiöse
Erweckung im zweiten Zehnt des Jahrhunderts. Die Not hatte
unser Volk wieder beten, die Freude danken gelehrt. Man er-
kannte, dass Gott mehr sei als ein blosses Postulat der prak-
tischen Vernunft.
Was aber für Schleiermacher nach seiner religiösen Em-
pfindung der Gnmdzug aller Frömmigkeit war, das em-
pfand Hegel als ein dem Menschen unwürdiges Gefühl, ihm
erschien Schleiermachers scfalechthiniges Abhängigkeitsge-
fühl, das doch recht verstanden schlechthinige Freiheit in
Gott ist, als eine |teligion für Hxmde. Seine Spekulation ver-
hess die psychologisdie Grundlegung der religiösen Weltbe-
trachtimg in der Meinung, sie dialektisch begründen zu können.
Er hat von der Religion nicht gering gedacht; er nennt sie die
Region, in der alle Rätsel der Welt gelöst, alle Widersprüche
des tiefer sinnenden Gedankens enthüllt sind, alle Schmerzen
des Gefühls verstummen, die Religion der ewigen Wahrheit,
der ewigen Ruhe. In dieser Region des Geistes strömen die
Lethefluten, aus denen Psyche trinkt, wenn sie allen Schmerz
versenkt, alle Härten, Dunkelheiten der Zeit zu einem Traum-
bild gestaltet und zum Lichtglanz des Ewigen verklärt. Aber
wie hoch er die Rdigion preist, sie ist ihm doch die Wahrheit
nur in der Form des Gefühls und der Vorstellung; sie weiss,
dass Gott ist, nicht, wajs er ist; es gilt, den ihr unmittelbar und
unentwickelt gegebenen Inhalt göttlicher Wahrheit nach seiner
Wahrheit denkend zu begreifen. Ihm ist die Religion das
Wissen des endlichen Geistes von seinem Wesen als absoluter
Geist; der menischliche Geist erhebt sich zum Geiste Gottes
und der Geist Gottes realisiert sich im endlichen Geist. Vom
uiLjiiizuü Dy Google
Standpunkt der Philosophie au5 hat er nicht nur die Rehgion.
sondern auch das Christenthum, die Trinität, den Gottmenschen
und alle Dogmen der Kirche gerechtfertigt, freilich dadurch,
dass er in ihnen einen Sinn fand, oder in sie hineinlegte, der
ihnen fremd war, oder wie er meinte, auf der niedem Stufe des
Gefühls und der dunkelen Vorstellung der Religion selbst noch
nicht bewusst sei.
Hat Hegel in der Religion die Objektivität des Verhält-
nisses zwischen dem endlichen Menschengeist und dem abso-
luten Gottesgeist und damit die Realität der Religion festge-
halten, so hat Feuerbach in seinem früher vielgelesenen
Buch „Das Wesen des Christentums** das Wesen der Religion
zwar mit Schleiermadier ganz und gar ins Gefühl gesetzt,
aber behauptet, dass das Gefühl nicht ein Bestimmtwerden
durch das Universum im Sinn der Schleiemtiacher'schen
Reden über die Religion, noch ein Wecfaselverhältnts im Simie
Hegels sei, sondern dass die Religion ein bloss subjektiver
Vorgang sei, ein Verhältnis des Geistes, des Herzens zu sich
selbst; alles, was darüber hinausgehe, sei Einbildung, alles
Objektive daran Selbsttäuschung, daher er von seinem materia-
listischen Standpunkt aus die Religion als Illusionismus be-
zeichnet. Alle religiösen Ideen sind nadi ihm nur subjektive
Phantasiegebilde, Produkte des mit Vernunft entzweiten Ge-
müts. Dieses kranke Herz ist nach Feuerbach der eigentliche
Quell der Religion, die eine pathologische Erscheinung ist.
Wenn nun aber auch in dieser Behauptung ein Funke Wahrheit
ist, so verkennt er doch, dass die Religion Heilmittel für das
kranke Herz ist, und behauptet viehnehr, dass der Glaube den
Menschen entzweit, ihn unfrei, befangen, selbstisch mache, so
dass die religiöse Weltanschauung nicht bloss eine theoretisch
unwalire, sondern auch praktisch verderbliche Illusion sei. Mit
Rcrht nermt Pfleiderer in seiner „Religionsphilosophie auf ge-
schichtlicher Grundlage" das Buch Feuerbachs eine Warnungs-
tafel, wohin der Weg führt, wenn man in der Religion nur die
Gefühle, die subjektive Erfahrung und Gewissheit betone, nicht
aber in gleicher Weise auch die Realität einer übersinnlichen
Geisteswelt.
Von ähnlichen Voraussetzungen wie Feuerbach geht Fr.
Albert Lange in seiner Geschichte des Materialismus"
aus, nur dass er unter dem Einfluss seiner ganz anders gearteten
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Die ptyehehgüdu Bggründtmg der rdigidsen tyiähmsekmamg: 7
persönlichen Wertschätzung der Religion zu einem anderen
philosophischen Ergebnis kommt. Weil ihm als Neukantianer
der Satz feststeht, dass eine Erkenntnis des Dings an sich, also
der Welt jenseits miserer Sinneseindrücke, nicht möglidi i^
machte er zwischen dem, was durch die Naturwissenschaft fest-
steht, und der Ideenwelt einen tiefen, unüberbrückbaren Unter-
schied. Aber wenn ihm das Eine feststeht, kann doch sein Ge-
müt, auf das Andere nicht verzichten. Ihm ist die Religion be-
rechtigt, nicht wie bei Kant als ein Postulat der praktischen
Vernunft, sondern psychologisch als eine Wohlthat der Phan-
tasie. Unbefriedigt durch die Welt der Sinne flüchtet er in
die wahre Heimath unseres Geistes. Ob sie Realität hat, ist
zweifelhaft, ja die Wahrscheinlichkeit nur verschwindend ge-
ring; aber cüe Menschheit kann den Glauben nicht entbehren;
in ihm liegt die Kraft für alles Grosse. „Das Gloria in excelsi»
Deo**, sagt er, „bleibt eine weltgeschichtliche Macht und wird
schallen durch die Jahrhunderte, so lange noch der Nerv eines
Menschen über dem Sdiauer des Erhabenen erzittern kann."
Aber so wohlthuend die Wärme religiöser Empfindung bei
Lange berührt, seiner Religion fehlt, was zum Wesen der Re-
ligion unentbehrlich gehört, die Gewissheit. Eine bloss ästhe-
tische Begründung der Religion reicht nicht aus in den schwer-
sten Kämpfen des Lebens.
Ist für Albert Lange die Religion das Ideal, nach dem der
Mensch sich sehnt, ein schönes FabeUand, von dem wir doch
nicht wissen, ob es irgendwo zu finden ist, so ist sie für Wil-
helm Bender, den Bonner Religionsphilosophen, das Ab-
bild, oder genauer der Reflex des auf jeder Kulturstufe erwach-
senden Lebensideals. Ihm ist religionsbildender Grundtrieb
inuner die jeweilige Vorstellung vom I^bensideal des Menschen,
wie es sich aus dem gesamten Kulturleben ergiebt, wobei er
dieses Lebensideal als ein dturchaus diesseitiges ansieht. Jede
der drei von ihm angenonmienen Stufen ist eudämonistisch be-
dingt, die erste individualistisch-sinnlich, die zweite national,
die dritte universell-sittlich. Da aber auch auf dieser unserer
Kulturstufe, welche die Erkenntnis von der wesentlichen Gleich-
heit der Gattung, wie der gemeinsamen kulturellen Arbeit durch
den Austausch materieller und geistiger Güter hat, viel fehlt
an der Erfüllung dieser sittlichen Bedingungen, so bleibt auch
auf dieser Stufe das Bedürfnis nach Religion; denn wo immer
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8
KaH VOM Haae,
der Mensch an die Grenzen seines Wissens und Könnens an-
stösst und doch seine Lebensinteressen nicht preis geben will,
da entsteht nach Bender als Kompensation die religiöse Welt-
anschauung.
Auf den Rausch des Hegelianismus folgte eine tiefe Er*
nüchtening.
Nach dem Positivismus, der für die Religion kein Verständ-
nis hatte, wandte sich das Interesse der Philosophen Vorzugs*
weise den erkenntnis-theoretischen Fragen und den Problemen
der physiologischen Psychologie zu.
Gegenüber Feuerbach, Lange, Bender, denen die religiöse
Weltanschauung mehr oder weniger Illusionismus ist, stehra
Andere, welche die religiöse Weltanschauung gleichfalls psy-
chologisch begründen, aber so, dass ihr objektive .Wahrheit
entspricht. Fechner, der Phychplisiker, hat im Jahre 1863
ein kleines Buch herausgegeben unter dem Titel: „Die drei
Motive und Gründe des Glaubens". Er unterscheidet Motive,
die zum Glauben treiben, und Gründe, die zum Glauben be-
rechtigten. Ausgehend vom Unterschied zwischen Glau*
ben und Wissen weisst er zunächst nach, wie, abge-
sehen von dem Reich mathematischer Wahrheit, dessen,
was wir gewiss wissen, sehr wenig ist. Wir haben eine
Empfindung von Rot, Grün, Gelb in der Weit; „ob aber
Andere die Orange, die vor mir liegt," sagt Fechner. ..ebenso
gelb sehen als ich, kann ich streng genommen nicht wissen,
ich glaube es nur fast so fest, als ob ich es wüsste." In das
Meiste, was wi.sseii heisst, geht der Glanbe doch bedingungs-
weise ein. sofern das Wissen dabei sich auf die Vorausset-
zung vnti etwas Geglaubtem stützt Wer kann sagen, es sei
durch Krlahrung oder Mathematik oder Beides zusammen er-
wiesen oder erweisbar, dass das Gravitationsgesetz durch alle
Räume und durch alle Zeiten gilt.' weil es sich aber gültig
gezeigt hat, so weit und so lang wir es durch das Gebier der
Himmel und der Zeiten verfolgen können, so begründet dies
einen Glauben, der es dem strengsten Wissen an Festigkeit
gleich thut, und darum rechnen wir es als eine Sache unseres
Wissens, ja als eine Sache des strengen, des exakten Wissens.
So setzt alles imser liistorisches Wissen den Glauben an die
Glaubwürdigkeit der Quellen, unsere ganze Erfahrungswissen-
schaft setzt den Glauben, dass Andere richtig gesehen, un-
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Die ßtyekehfüek* Begründumg der tOfgiimt WeUam^mtititg. 9
sere ganze Psychologie, soweit sie nicht bloss die eines In-
dividuums ist» den Glauben an anderer Menschen Seelen vor-
aus. Und was bliebe' von aller unserer Wissenschaft, wenn
aller dieser Glaube fiele! So gewiss nun aber der religiöse
Glaube seine eigenen Motive und Gründe hat, die allein
ihm seine Welt- und Todüberwindeude Kraft geben, so irrig wäre
es doch, die Wi$sensgründe von den Bestinunungsgründen
unseres Glaubens ganz auszuschliessen. Wie in unser Wissen
etwas vom Glauben eingehti so kann umgekehrt das, was wir
von einer Sache wissen, sehr wichtigen Anteil an unserem
Glauben haben. Darum mag der Mann des Wissens den
Glauben und der Mann des Glaubens das Wissen nicht zu
sehr verachten. Nur die Verbindung von Wissen und Glauben
führt in der Religion, wie in der Wissenschaft zum höchsten
Ziele. Fechner zeigt sodann die drei Motive und Grunde oder
Prinzipien des Glaubens, durch die wir zum Glauben kmn-
men. Erstens historisch: wir glauben, was uns gesagt wird, was
vor uns geglaubt worden ist, und was um uns her geglaubt
wird. Zwätens praktisch:'twir glauben, was ims zu glauben
gefallt, dient und frommt. Drittens theoretisch: wir glau-
ben, wozu wir in Erfahrung und Vernunft Bestimmungsgriinde
finden. Im Glauben des Einzelnen waltet dies oder jenes Motiv
vor. Jedes reicht für sich hin, den Glauben zu begründen
und zu halten, doch nur insofern, als jedes zum Hauptge*
Sichtspunkt erhoben werden und sich die anderen dienstbar
machen kann. Statt einen der drei Werksteine zu verwerfen,
gilt es alle drei festzuhalten als Grundlagen des Glaubens
für das Gewölbe der Religion. Darum bekennt Fechner, dass
er, obwohl es seinem freien Standpunkt zu widersprechen
scheine, doch für die Orthodoxen meist mehr Vorliebe ge>
habt habe als für die Freireligiösen und Neukatholischen, weil
er bei Ersteren am häufigsten die Verbindung jener drei Mo-
tive gefunden und die Bethätig^ung der Religion bei ihnen
ihn mit stiller Achtung und Freude erfüllt habe.
Dem deutschen Psychophysiker steht in der Begründung
der religiösen Weltanschauung am nächsten der englische
Staatsmann, erster Lord des Schatzes, James Balfour. In
seinem 1895 erschienenen Buch: „Die Grundlagen des Glau-
bens", das in England und Deutschland grosses Aufsehen er-
10
regt hat, giebt Balfour ganz im Sinne des Agnosticismus zu-
nächst die Unmöglichkeit der. Erkenntnis der Dinge zu, da
wir nichts zu erkennen vermögen als Erscheinungen und die
Gesetze des Zusammenhangs, geht aber dann noch einen Schritt
weiter und bestreitet auf diesem Standpunkt auch die Gewiss-
heit richtiger Erkenntnis der Erscheinungen. Folgerichtig
giebt es für die Agnostiker nichts Gewisses als sein Ich. Von
diesem Ich führt keine Brücke zur äusseren Welt. Weil aber
dieser vollendete Skeptizimus dem Geiste kein Genüge giebt»
treibt er selbst dazu, eine andere Lösung zu suchen. Nur
Eins hilft dazu: der Glaube an eine gewisse Gleichförmig-
keit innerhalb der Natur, eine Gleichförmigkeit, die uns die
Schlussfolgerung erlaubt von uns auf die Welt. Wie wir geistig
so beanlagt sind, dass alle unsere Vorstellungen im Denk-
schema von Raum und Zeit sich bewegen, so giebt es keiner-
lei Erkenntnis, auch nicht auf dem Gebiet des Natürlichen
und sinnlich Erfahrungmässigen, zu der nicht in gewissem
Sinne Glaube notwendig ist. Dementsprechend ist auch der
religiöse Glaube nur die allgemeine Form der Erkenntnis,
angewandt auf das Unsichtbare. Wenn mm gewisse Ueber-
zenguugen fast mit Universalitat und Notwendigkeit sich fin-
den, ohne welche eine Entwicklung des menschlichen Ge-
schlechts kaum denkbar ist, und wenn sich ergiebt, dass die
TJeberzeiigungen, welche sich auf sittliche und religiöse Wahr-
heiten beziehen, unvergleichlich wichtiger sich erwiesen haben
als die, welche Urteile über die Welt der Erscheinungen ent-
halten, so muss auch der Naturalismus nach seinen biologischen
Prinzipien, nach dem Grundsatz von Ausstossung und Aus-
lese, die Berechtigung der ethischen und religiösen Ucber-
zeuguiigeii von »meinem Standpunkte aus anerkennen. So kommt
Balfour zu dem Ergebnis, dass, wie irgend eine Art der Har-
monie zwischen! unserem innern Selbst und dem Weltall, von
dem wir ein Teil sind, bestehen muss, so aucli /.wischen dem
Weltall und jenen anderen Elementen, in denen die religiöse
Weltanschauung ihren Grund hat. Eins aber erschwert den
Glauben, das ist der wechselnde und unvollkommene Ausdruck
des Glaubens. Der Satz: „Es giebt einen Gott", hat einen
ganz anderen Sinn und Inhalt im Munde eines Wilden, der
an seine Stammesgottheit denkt, und im System eines Phi-
losophen, der damit etwa das Absolute Hegels meint. Hängt
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Die psyckohgü^ Begründung 4er rdigütten WdUmsAemung.
11
das Gewand der Sprache, wie Balfour sich anschaulich aus-
drückt, nur lose um die Schultern des Glaubens, so ist an-
zunehmen, dass auch der Glaube nicht immer mit der Wirk-
lichkeit in vollem Einklang steht, und dass das Axiom: jeder
Glaube muss entweder wahr oder nicht wahr sein, logisch
zwar unbestreitbar richtig ist, aber nur zu oft die Thatsache
verglsst: wir erkennen nur stückweise und darum nicht richtig;
wir können nur unvollkommen coordinieren, was wir nur tm-
voUkommen begreifen. Der Konflikt aber zwischen Wissen-
schaft und Rdigion beschäftigt sich meist mit Dingen, die
verhältnismässig geringfügig sind, oder mit Interessen, die
weit über den Bereich der Theologie, und noch mehr über
den des Glaubens und der praktischen Frömmigkeit hinaus
liegen. So gewiss dei* logische Schluss aus dem Dasein der
Welt auf einen Gott als ihren Urheber unzulässig ist, weil
der Induktionsbeweis nur innerhalb der Welt zulässig ist, so
gewiss ist der Glaube zulässig, weil er erst unserer Auffassung
der Naturwelt Einheit und Zusammenhang giebt. W^che
Schwierigkeiten auch der Theismus, der Glaube an einen be-
bendigen^ persönlichen Gott, zumal auch durch die Ptobleme
des Elends und der Sünde, in seiner Vorstellung von Gott
und über sein Verhältnis zur Weit noch birgt , er ist ein Prin-
zip, dass die WissenschSaft zu ihrer eigenen Vervollständigung
nicht entbehren kann. Auf diesem Standpunkt einer einheit-
lichen Weltanschauung lösen sich Widersprüche, die sonst un-
gelöst blid)en. Was bei der bloss naturalistischen Weltanschau-
ung wie ein skeptischer Reif auf unsere Lebens- und Schön-
heitsideale sich legte, schwindet vor dem Sonnenschein des
Glaubens.
Verwandt dem englischen Staatsmann in seinen Anschatt>
ongen ist der franzosische Professor der protestantischen Theo-
logie zu Paris Auguste Sabatier. Ist es die These Bal-
lours, dass zu jedeni Erkennen Glauben gehört, so zeigt Sa-
batier in seinem 1897 erschienenen „Entwurf einer Religions-
philosophie nach Psychologie und Geschichte**, dass auch zum
Handeln Glauben gehört. Die religiöse Frage ist doch die
tiefste Lebensfrage; mag eine Zeit sich von ihr abwenden,
immer kommt die Keuschheit auf sie zurück. So gerade jetzt
in Frankreich. Auf eine Generation, die sich gefiel im philo-
sophischen Materialismus, im moralischen Utilitarismus, im
L^oogle
12
Kttfi «OK Hme.
kiizistlerischen Naturalismus, ist dort ein Geschlecht gefolgt,
das wieder das Geheimnis der Dinge fast quälend heschäf tigt»
das sich hingesogen fühlt zum Ideal, das von sozialer Gleich*
heit^ von Selbstverleugnung! Hingehung an die Geringen, Blen-
den und Bedrückten, bis zum Heroismus christlicher Liebe
träumt. Eine Wiedergeburt des Idealismus, der Rückkehr zu
den allgemeinen Ideen, zum Glauben an das Unsichtbare, ein
Sinn für Symbolismus ist angebrochen, ein Verlangen wieder
eine Religion zu finden oder zu der zurückzukehren, welche
die Väter verachtet haben. Die Jugend geht wie zwischen
zwei hohen Mauern; auf der einen Seite die moderne W'isscn-
schaft mit ihrer strengwissenschaftlichen Methode, auf die man
nicht verzichten kann, auf der andern Seite die Dogmen und
Institutionen der Religion, an die sie glauben möchte und doch
nicht recht glauben kann. Soll sie sich entscheiden für eine
Wissenschaft, die gegen die Religion ist, oder für eine Religion,
die gegen die Wissenschaft ist? Giebt es da keinen Ausweg?
Zumal der Jugend, deren Lehrer er ist, will Sabatier den Weg
zeigen, der zuar schmal und schwierig ist, aber durch Felsen
hinaufführt auf eine Hohe, von der man einen weiten freien
Blick hat. Sabatier weist zwar die Behauptung zurück, auf dem
Standpunkt des Evolutionismus oder gar des Materialismus
zu stehen, aber die geistigen Eigenschaften des Menschen ent-
wickeln sich auch nach seiner Darstellung nur allmälig aus dem
Tierleben. Er geht aus von der Frage, was ist der Mensclv?
Aeusserlich unterscheidet er sich wenip von den höheren Tier-
arten, deren Reihe er auf unserem Planeten abgeschlossen
zu haben scheint. Seine natürliche Organisation setzt sich zu-
sammen aus den gleichen Elementen und verhält sich nach
den gleichen (lesetzen wie die der übrigen Natur. Nur durch
die unvergleichliche Entwicklung der Vrriiunft unterscliculet
und löst er sich allmälig von der Tierwelt. Nun treten 1 r-
scheinungen und Gesetze von neuer Art auf. Das geheinuus-
volle Leben des Geistes, ausgehend von dem naturhaften
Leben, entfaltet sich allniälig wie eine göttliche Blume, die tur
uns der Welt ihren Sinn und ihre Schönheit verleiiit. Das
Gebiet des Wahren, Schönen und (juten eröffnet sich für das
Gewissen. Die Welt der Sittlichkeit stellt sich dar als eine
holitre Ordnung, welcher der Mensch angehört. Diese sitt-
lichen Gesetze, die im Stande sind, die natürlichen zu beherr-
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Die fisyckalogisckt Begründung der religiösen WdUoueiUMUHg, 13
sehen und unter höhere Zwecke zu beugen, sind es, die in
dem nu nschlichen Tierwesen die Menschheit verwirkhchen und
zu Stande bringen. Der Mensch ist Mensch nur in soweit, als
er ihnen gehorcht, und diese Uebergangssteilung, die er ein-
nimmt zwischen zwei Wehen, und die Notwendigkeit einer
Entscheidung, durc h die er sich lossagen muss von der mütter-
lichen Tierwelt, ist so bedeutsam, dass wenn er sich ni< ht über
das Tier erhebt, die Verderbtheit seines Lebeii> ihri init Not-
wendigkeit unter das Tier herabsinken lässt. So hat das Leben
von seinem Ursprung her eine doppelte Bewegung, eine von
Aussen nach Innen zum Zentrum des Ich und eine andre vom
Zentrum nach der Peripherie; die eine durch die sinnliche
W ihi iu iimung. die andere durch den Willen, in Jasen beiden
Gt genströnunigen vollzieht sich das Geistesleben. Aber schon
hier wirtl der ursprüngliche Widerspruch ersichtlich, in wel-
chem dieses Leben sich bildet und dauernd entwickelt; die
passive und die aktive Seite des Geisteslebens stehen nicht
im hai nionischen X'erhältnis; die sinnlic hen Eindriicke er-
drücken den Willen, die Aktivität; die Eutf;iliuiig des ich, sein
Wunsch, sich auszudehnen und zu wachsen, sind bedingt durch
das Gewicht der Welt, das von allen Seiten es bedrückt. Der
Lt bensstrom, der aus dem Innern strömt, bricht sich, wie eine
machtlose Woge an dem Fels der Aussenwelt. Dieser stete
Anstoss, dieser Kampf des Ich mit der Welt, ist der erste
Grund und der Ursprung des Schmerzes. So zurückgeworfen
auf sich selbst, sammelt sich die .Vkuvitat im Innersten, das
nun heiss wird, wie der Mittelpunkt eines sich drehenden Rades.
Bald erglänzt ein Funke, und das innere Leben des Ich wird
Licht: es ist das Selbstbewusstsein. Durch den Schmerz und
den sich iiiiiner erneuernden Misserfolg auf sich zurückge-
worfen von Innen nach Aussen, macht das Ich sich zum Objekt
seiner eigenen Reflexion, es verdoppelt sich und lernt sich
kennen; bald beurteilt es .sich; es trennt sich von dem Organis-
mus, mit dem es frulier eins war; es kommt in W^iderspruch
mii selbst, als ob in ihui wirklich zwei Seinsformen wären:
ein ideales und ein empirisches Ich. Daher kommen seine
Qual, seine Kämpfe, seine (iewis-cnsbisse, aber auch der innere
erneute Aufschwung, der uucndlu lu' 1 ortschritt seines Geistes-
lebens. Hier wird die göttliche Auiga.be des Schmerzes er-
sichtlich. Ohne iiui wurde das Geistesleben sich kaum über
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14
Karl von Hase,
das physische Leben erheben. Es giebt keine Geburt ohne
Schmerzen; auch das Gewissen wird unter Thränen geboren.
— Den Gedanken des innem Widerspruchs weist Sabatier auf
allen Gebieten des Lebens nach; überall tritt dem Menschen
seine Schranke entgegen, im Glückbedürf nis, im sittlichen Han-
deln, frei im Willen und doch ein Sklave in der That. Wie
der Apostel Paulus, so fragt auch er : „Wer wird mich erlösen
von dieser Qual, von diesem Widerspruch des Lebens ?** Weder
die Wissenschaft noch eine äussere Verbesserung der Lebens-
verhältnisse vermögen es; daher der pessimistische Zug, der
durch unsere Zeit geht. Aus diesem Gefühl der Traurigkeit,
atis diesem tiefen Widerspriicli des inneren Lebens, entsteht
nach Sabatier der Glaube, die Religion. Das ist der Spal: im
Felsen, aus dem die belebende Quelle fliesst. Nicht als ob
die Religion dem Problem eine theoretische Lösung brächte;
der Ausweg, den sie öffnet, ist von praktischer Natur. Sie
rettet uns nicht durch neue Kenntnisse, sondern durch eine
Rückkehr zu dem Urgrund, von dem unser Wesen abhängt,
und durch eine moralische That des Vertrauens auf den llr-
sprung und das Ziel unseres Lebens. Und diese rettende That
ist kein Akt der Willkür, er vollzieht sich mit Notwendigkeit.
Es ist der Erhaltungstrieb des Lebens, nur auf c inor höiieren
Stufe; die Erkenntnis, dass wir so wenig als alle irdischen Dinge
unsere Existenz uns selbst verdanken, zwingt uns, den Ur-
spnmg und das Ende unseres Seins in einer ersten Ursache zu
suchen. Religion haben, heisst hiemach zunächst nur, vertrau-
ensvoll, einfach und demütig, die Thatsache unserer persön-
lichen Unterordnung und Abhängigkeit anerkennen, heisst,
sich zurückführen und binden an diesen ewigen Cirund, heisst,
eins sein wollen mit der Weltordnung und der Harmonie .ille.s
Lebens. Das (iefühl unserer Abhängigkeit in seiner ganzen
Tiefe ist gleichbedeutend mit dem der geheimnisvollen Üeg an-
wart Gottes in uns. Nur in der Demut des Menschen liegt
seme Erhebung. Selbstbewusstsein und Welterfahrung, die
sich im Widerspruch finden, haben die Lösung ihres Wider-
spruchs nur in Etwas, was höher ist als beide, das Ich und
die Welt, und von dem beide abhangig sind. Dieses \er-
söhnende Ikuusstscin ist der Cottesglaubc. Nie hat der
Mensch, um seiner Verzweiflung zu entgehen, ein anderes Heil-
mittel gehabt, als diesen Glauben. Der Wilde nümnt dahm
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Die paya«i0gtsdu BtgrÜ>td»mg der reUglikm Wdtantdimtatg. 15
seine Zuflucht nach der Stufe seiner Erkenntnis, wenn er unter
den Schrecken der Natur die unbekannte Macht seiner Gott-
heit anruft, ebenso wie der Philosoph, wenn er den Ausgleich
des inneren Widerspruchs zwischen sich und der Welt, zwischen
der reinen und der praktischen Vernunft, sucht im Gottes-
begriff. Er erkennt Gott an in seinem Denken unter der Form
des logischen Gesetzes, in seinem Willen unter der Form des
Sittengesetzes. Er kann die Einheit seines Wesens nur retten
durch den Glauben an Gott und in ihm. Auf den Einwand, dass
diese Erklärung des Glaubens und der Religion vielleicht zu
philosophisch sei, als dass sie Anwendung finden könne auch
auf die vorgeschichtlichen Zeiten der Menschheit, die doch
aluch nicht ohne Religion waren, zeigt Sabatier, dass der Aus-
druck der Empfindung auf den verschiedenen Bildungsstufen
zwar ein himmelweit verschiedener sei, aber dass die religiöse
Erfahrung, die den Menschen durchschauert, für den Wilden
im Schrecken des Erdbebens tmd für uns angesichts des Rät-
sels der Welt und des Todes im Grunde die gleiche sei. Pascal
mit all seinem Wissen empfand keine geringere Traurigkeit,
wie der Mensch der Urzeit, als der grosse Denker das Wort
schrieb: „Das ewige Schweigen der unendlichen Räume er-
schreckt mich". Und steht der Schüler Kants, der verzweifelnd
sich beschränkt in den unüberschreitbaren Grenzen der
sinnlichen Wahrnehmung, oder der Schüler Schopenhauers,
der zuletzt ankommt bei dem unlösbaren und tötlichen Kon-
flikt zwischen Erkenntnis und Willen, nicht unter einem noch
schmerzlicheren Drucke seiner Ohnmacht? Und wenn sie auf-
hören, ihrer Vernunft zu folgen, um; sich zu entschliessen, zu
leben, merken sie nicht, wie auch wider ihren Willen in der
Bitternis ihres Herzens ein Gefühf aufsteigt, tmd als Seufzer
über ihre Lippen kommt, dasi der Anfang eines Gebetes ist?
Damm ist die Religion tmsterblich. Diejenigen, welche ihr
baldiges Ende verkünden, verwechseln die Religion mit ihrer
äusseren, wechselnden Form. Wie der Mensch zum Menschen
wird erst durch die Religion, so schreitet er fort und vollendet
sich nur durch sie. So ist die Religion nach Sabatier ein Akt
des Vertrauens, des Mutes, nicht irgend einer Beweisführung.
Sie ist eine Behauptung, die zur Voraussetzung nicht wissen^
schaftliche Beweise, wohl aber einen: moralischen Willensakt
hat. Diesen Akt» man muss ihn vollziehen oder man muss
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16
i&frf «UM Hase,
verzweifeln. Das Individuum kann sich das Leben nehmen,
die Menschheit will leben, und ihr Leben ist ein Akt ihres mit
jedem Tage erneuten Lebens. — Vollzieht sich diese Lösung
durchaus auf dem Gebiete des praktischen Lebens, so schliesst
sie doch auch die Möglichkeit und Hoffnung einer theore-
tischen Lösung nicht aus. Gerade weil das Ich der reinen
Vernunft und der praktischen Vernunft das gleiche ist, und
weil wir an die Freiheit unseres Ichs, der Welt und iu Gott
glauben, das lässt ims hoffen, dass die Wissenschaft und der
Glaube einst in ihrer Einheit sich erkennen. Wie die Mathe-
matiker sagen, dass zwei Parallele im Unendlichen sich be-
gegnen, so versöhnen sich in c 'Ott die reine und die praktische
Vernunft, Wissenschaft und Glaube.
Noch einen Schritt weiter als Sabatier geht HenriDrum*
mond, der Schotte, in seinem Buch: „Das Naturgesetz in der
Geisteswelt", das in England innerhalb weniger Jahre in 123000
Exemplaren verbreitet war. Er selbst erzählt in der Vorrede,
wie er zur Abfassung des Buches und dessen Grundgedanken
gekommen ist. Als Professor las er an Wochentagen vor Stu-
denten, wahrend er des Sonntags vor einer Zuhörerschaft, die
sich hauptsächlich aus dem Arbeiterstand zusammenfand, sitt-
liche und religiöse Fragen besprach* Manchem seiner Freunde
schien diese doppelte Thätigkeit wie ein Rätsel, wälircnd sie
ihm selbst nie unvereinbar schien. Ihm löste sich das
Rätsel einfach dadurch, dass er beide Gedankenkreise völlig
auseinander hielt, so dass er Naturwissenschaft und Religion
gleichsam in verschiedenen Kammern seines Geistes von ein-
ander abschloss. Allmälig jedoch geriet die Scheidewand ins
Wanken; die beiden Wissenschaften begannen langsam in ein-
ander überzufliessen. zuletzt vereinigten sich die Wasser und
die Scheidewand ging unter. Das Ergebnis dieser Vtiliiiidung
war für Drummond die Erkenntnis von einem Hinüberi eichen
der Naturgeselze in die Geisteswelt, .^n einer Reihe von Bei-
spielen sucht er das nachzuweisen, so an der Biogenesis, an der
Entartung, am Wachstum, am Tod, am Absterben, am Emtluss
der Umgebung, am lialbparasitentum und Parasitentum. und
zeigt, dass allen diesen Vorgängen in der Natur Vorgänge
ini geistigen und geistlichen Leben des Menschen entsprechen,
die den Beweis liefern, dass beide Gebiete, das der Natur und
das des Geisteslebens, unter dem einheitlichen Gesetze einer
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Die ptydiohgüdU BegtÜMdtmg derr^giSatH WHtoiuetuuamg, \J
obcisieii gemeinsaiucii l it^ache stehen. Dabei führt er den
Kachweis, dass Wahrheiten, welche die Religion auf GiiukI des
Glaubens aufgestellt hat, mul die von der W issenschaft nach Jahr-
tausenden erwiesen werden M il; nnmeriim solche Gedankenver-
bindung und Beweibluhi uiil; lur Manchen nicht überzeugend
sein, wie es sich in der Thal mir um Analogien handelt, so
ist sie doch insofern intcrossaui, als sie beweist, wie gerade
in der Gegenwart, nachdem der Material isnuis seine Herr-
schaft wissenschaftlich verloren liai, Annalierungcn zwischen
den verschiedenen Gebieten des Geisteslebens sich \ulUiehcn,
und wie die Anerkennung des Gesetzes der Entwicklung dabei
kein Hindernis ist. Wir dürfen es getrost sagen, die Grund-
lagen des Glaubens sind heut zu Tage insofern fester als
früher, als sie eingegliedert sind in den Gesamtorganismus un-
seres Geisteslebens.
Nur kurz weise ich noch hin auf das erst im vorigen Jahre
erschienene Werk des Kieler Botanikers Rcinke: „Die Welt
als That". Sein Standpunkt ist der naturwissenschaftlicher
Induktion; er erkennt die hohen Verdienste Darwins in der
Desccndenzlehre vollauf an, aber er erklart, in der Natur und
in der W'cll ohne Zweckbegriff nicht auszukonuncn. Wo aber
ein Zweck ist, ist auch eine Absicht. Wo eine Absicht ist,
ist eine Intelligenz. Energieen und Intelligenzen konstituieren
nach ihm das Wesen der Welt. Sofern die Intelligenzen in
den Energieen wiiksam werden, nennt er sie Dominanten.
Ya- unterscheidet tierische Intelligenz, menschliche Intelligenz
und kosmische Intelligenz, Letztere entspricht nach ihm dem,
was die Religion Gott nennt. Ist auch das Resultat kein voll-
befriedigendes, so ist doch bedeutsam, wie hier auch die streng
wissenschaftliche Induktion fortschreitend vom Mechani^nius
zum Organischen erklärt, der kosmischen Vernunft in ihrem
System nicht entraten zu können.
Wenden wir uns bei unserm Rückblick, der nur der Reli-
gionsphilosophie gilt, ohne nachzuweisen, wie die philoso-
phischen Systeme je und je auf die christliche Theologie ein-
gewirkt haben, zuiel/i noch der zur Zeil na deutschen Protes-
tantismus herrschenden theologischen Richtung, der sogenann-
ten R i t s c h 1 'sehen Schule zu, so finden wir, dass auch bei
ihr, wenn nicht die Begründung der religiösen Weltanschau-
ung, so doch die ^lethode eine durchaus psychologische ist,
Zcitschriit fflr pidagogische Psychologe und l'atholosie. 2
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18
ICati vom Sau,
Schon der ii,rian<jer Hofmann hatte die Eudhiuiig zur alleini-
gen Quelle der Dogmatik gemacht. Aus der Thatsachc der
Wiedergeburt wollte er das ganze Christentum ableiten. Ritsehl
wies jede Vermischung des Christentums mit der Philosophie
und dem natürlichen Welterkennen ja grundsätzlich ab, um
die christliche Wahrheit lediglich aus der Offenbarung in
Christo abzuleiten. An die Stelle des causalen Welterkennens
in der Naturwissenschaft soll in der Theologie lediglich die
teleologische Betrachtung treten. Aus den Zwecken Gottes
und der Menschen soll die Wdt erkannt und die Selbstbeur-
teilung des Menschen gesichert werden. Alle christlichen Glau-
benssätze smd aus der heiligen Schrift abzuleiten. Aber das
Neue Testament gilt ihm nur insoweit normativ, als es die
alttestamentlichen Gedanken fortfuhrt. So wird das spezifisch
Christliche auf das allgemein Religiöse beschränkt. Gottver«
trauen, Benifstreue, Menschenliebe bilden das christliche
Lebensideal, den spezifischen Inhalt der Gottesoffenbarung in
Christo. Zutreffend bezeichnet Lipsius den RitschPschen Stand«
punkt als formalen Positivismus, materiellen Rationalismus und
bemerkt, dass man einen durchaus in rationalistischem Stile
aufgefassten Bau nicht mit einem supematuralistbchen Portal
verzieren könne. Aber das ist nicht zu verkennen, Ritscbl hat
die Geistesrichtung des Jahrhunderts in der religiösen Weltbe-
trachtung sehr wohl verstanden; er bat seiner Theologie zwar
den Offenbanmgcharakter gewahrt, aber in ihr durchaus die
psychologische Methode angewendet. Alle dogmatischen Aus-
sagen, insbesondere die Rechtfertigung und Versöhnung,
lösen sich ihm auf in subjektiv psychologische Vorgänge, Wert-
urteile und Willensakte, welche in der christlichen Gemeinde*
aus der Thatsache der Offenbarung in Christo abgeleitet
werden. Das Wahrheitsmoment der Ritschl'schen Theologie
ist das, freilich schon vor ihm geltend gemachte, dass alle dog-
matischen Aussagen in Uebereinstimmung stehen müssen mit
der religiösen Erfahrung.
So bleibt nur noch übrig„ an einzelnen Hauptproblemen
der religiösen Weltanschauung die psychologische Begründung
kurz nachzuweisen. Wohl das wichtigste und schwierigste ist
das des Gottesbegriffs selbst und zwar der absoluten Persön-
lichkeit. Zunächst' scheint dies ja Gegenstand der Dogmatik
oder Metaphysik, aber gerade der Begriff der absoluten Per-
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Du: psychologische Hegründung (Ur religiösen WeUanschauung, \^
sönlichkeit lässt sich nur auf psychologischem Wege richtig
fest-^tollen. Wie ich in diesem Kreise nlle Rewei-e für das
Da-fin Gottes^ welche von Philosophen gefunden und von
Philosophen verworfen worden sind, als bekannt voraussetzen
darf, so verzichte ich auch auf die gerade m unserer Zeit er-
örterte Frage, ob es Religion geben könne ohne Gottesglauben,
oder ob von einer Religion des Unbewussten oder des Agnos-
ticismus zu sprechen, wie der englische Biologe Romanes ge-
sagt hat, nicht ebenso nnvcrstandif^ ist, als wenn man von dtr
Liebe eines Dreiecks oder von der Vernunft des Aequators
reden wollte. Nur darauf möc hte ich mich beschränken, die
Widersprüche zu beleuchten, weiche im Glauben an einen per-
sönliclien Gott, also im Begriff der absoluten Persönlichkeit,
zu liegen lu uien. So viel ist von vornherein klar, dass wir
vom Gottesbegriff, sobald wir nicht religiös empfinden, sondern
spekulativ denken, alle \'orstelhmG;^en, ciie nur sinnbildlich! r
Art sind, lösen müssen; aber ebenso gewiss, dass wir uns hüten
müssen mit der sinnbildlichen Vorstellung nicht ihr Wahrheits-
momont zu verlieren und den Gottesbegriff zu entleeren, so
dass von ihm zuletzt nur noch Negationen ausgesagt werden
oder dass von ihm das Wort Phiios gilt : „Von Gott kann man
nicht reden, nur schweigen", weil jedes Wort eine Verend-
lichung und Beschränkung des Unendlichen und Unaussprech-
lichen wäre. Getrost dürfen wir sagen: Ciott sieht, Gott hört»
Gott hält unser Leben in seiner Hand, und doch ist gewiss,
dass er kciue Augen, kein Ohr und keine Hand hat, wie wir.
Aber, der das Auge gemacht hat, nach dessen Schöpferplan
— und wäre <*s innerhalb Jahrtausenden — es entstanden ist,
sollte der nicht .^ehen! und der das Ohr gemacht hat, sollte der
nicht hören? Der die Welt regiert, sollte der nicht auch unser
Leben in seiner Hand halten? Wir dürfen unsere mensch-
lichen Vorstellungen nirht auf ihn übertragen, und können doch
nicht anders als mrii-.i lilich von ilim reden. — Aber auch
innerhalb der [)hilosüplHschen Spekulation erhebt sich die
Frage: dürfen wir Gott Persönlichkeit zuschreiben, widerspricht
der Begriff der Absolutheit nicht dem der Persönlidikeit, die
wir uns immer mit einer Schranke verbunden denken? Ist
der Begriff der absoluten Persönlichkeit nicht ein innerer
Widerspruch? Es kommt hier vor allem darauf an. den Begriff
der Persönlichkeit recht zu fassen. Im gewöhnlichen Sprach-
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20
Karl von Hau.
gcbraurh versieht man darunter etwas Aeusserlichcs, wie man
von Einem, den man niclit näher kennt, wohl sagt; ,,Ich kenne
ihn nur \ oii ]\MSon". Anders sclion, wenn man von Einern
sagt, dass er eine kraftvolle oder tüchtige, geistreiche oder
liebenswürdige Persönlichkeit sei, womit wir seine Individu-
alität m( inen. Aber im Aeusseren, im Körperlichen besteht
die Persönlichkeit nicht. Es kann Einem ein Arm oder ein
Bein aminitiert werden, und er bleibt dieselbe Person. Auch
die Individualität ist nicht das Wesentliche im Begriff, sie
ist nur die Eigenart der Persönlichkeit. — Was macht den
Begriff der Person aus? Wie entsteht sie? Gewöhnlich nimmt
man an, sie entsteht dadurch, dass der Mensch sich unterschei-
det von anderen endlichen Dingen, und schlicsst daraus, also
sei Persönlichkeit immer durch das Bewusstsein unserer
Schranke, unserer Endlichkeit bedingt. Aber wicht durch die
Erfahrung der uns umgebendem Endlichkeit entsteht unser
Ich, sondern au^5 der Erkenntnis, dass wir, unser Geist, unser
Ich, das Gleiche bleibt, während alles Aeussere um uns,
auch unser eigener Körper wechselt. Genau genommen bleibt
nicht einmal unser Geist immer der gleiche; denn so wenig
ein Greis körperlich noch dem Kinde gleicht oder körperliche
Bestandteile aus der Kindheit an sich hat, so wenig gleicht der
Geist des erfahrenen Mannes dem des kleinen Kindes, und
doch sagt der Greis : ,,A]$ ich ein Kind war." So ist es das
Selbstbewusstsein, die Continoität des Geistes, welche den Be^
griff der Persönlichkeit atismacht Man hat eingewendeti ob
es nicht unlogisch sei, bei der Verschiedenheit des göttlichen
und menkchlichen Geistes beide mit demselben Ausdruck zu
bezeichnen. Aber der Geist besteht nicht» wie Spencer meint,
in einer Reihe von Bewusstseinszuständen, sondern in deren
Einheit und das gilt für beide. £s ist ja begreiflich, dass
Denker von dem Ernst und der Gewissenhaftigkeit wie
Biedermann und Pfleiderer Bedenken tragen, den Be^
griff der Persönlichkeit auf Gott anzuwenden, während Pflei-
derer doch wenigstens Selbstbewusstsein und Freiheit, Den-
ken und Wollen in dem absoluten Geiste Gottes ^unbedingt
anerkennt; aber die Scheu, dass der Begriff der Persönlichkeit
in beschränkter Vorstellungsweise aufgefasst werde, darf uns
doch nicht abhalten, den Begriff in seiner spekulativen Wahr-
heit festzuhaken, und dies um so mehr, weil aus dem Auf-
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Die psychologtsche Begründung der religiösen Weltanschauung. 2 1
geben desselben zweifellos in noch viel weiterem Maasse eiii
anderer verhängnisvoller Irrtum sich verbreiten würde, näm-
lich der, als ob ein wirkliches Verhältnis zwischen dem unend-
lichen Gottcsgeist und dem endlichen Menschengeist über-
haupt nicht bestände, während wir doch das Verhältnis religiös
uns eben nur denken können als ein Verhältnis von Personi
zu Person. Gewiss auch dem Pantheismus ist eine religiöse
Stimmung und Weltanschauu ig nicht abzusprechen; aber Re-
ligion, wirkliclic Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott,
ist nur dann möglicli, wenn das Verhältnis ein persönliches
ist. Mag auch dem theistischen Gottesbegriffe auf der Stufe
der Vorstellung noch viel Menschliches anhaften, die Auf-
gabe der Spekulation ist, diese Begriffe und Vorstellungen
zu prüfen und ihre religiöse Wahrheit festzustellen. Aber die
Frömmigkeit hat das Kindcsrerht, über alle Formen und Be-
denklichkeiten sich hinwegzusetzen und mit Gott zu reden,
wie ein Kind mit seinem Vater redet, in dem Bewusstsein, dass
er über uns ist in hoher Ferne und doch uns nahe in ver-
traulicher Nähe
Das zweite i^roblem der religiösen Weltbetrachtung ist dns
der Erlösung So lange Menschen denken, haben sie nach-
gesonnen über die F'rage : warum und woher das Uebel der
Welt? (irübelnd fragt das Buch Hiob, warum auch der Ge-
rechte so viel leiden muss. Aber so wenig die Freunde Hiobs
ihn trösten konnten, so wenig hat er selbst die rerlite Ant-
wort gefunden. Seitdem ist die Frage nicht zum Schweigen
gekommen. Das 18. Jahrhundert war geneigt, bei der opti-
mistischen Antwort Leibnizens sich zu beruhigen, dass diese
Welt die beste Welt sei. die Gott unter den mörjlirhen wählen
konnte, das Böse nur wie der Schatten im Bilti ur;d die Disso-
nanz in der Musik, wodurch die Schönheit nicht gemindert,
sondern erhöht und die Harmonie des Weitalls nicht gestört
wird. Erst Kant iiat, gänzlich imbeeinflusst von der kirch-
lichen Auffassung, ja im Gegensatz zu ihr, in seiner Abhand-
lung: „Von der Riinvohnnng des bösen Prinzips neben dem
Guten oder über das radikale Böse" das Problem, wenn
nicht gelöst, doch wieder tiefer gefasst. Weder für den Opti-
mismus, noch für den Pessimismus sich entscheidend trat er
zunächst der Ansicht entgegen, als sei das Böse mit der Sinn-
lichkeit eins oder in einem Naturtrieb gegründet. Besteht
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22
ai)er das Böse weder in dem Sinnlichsein nach in der Vernunft,
so kann es nur dann bestehen, d.iss der Mensch seine Vernunft
der Sinnlichkeit unterordnet, statt urngekehrt, und dass er diese
Unterordnung zur Maxime gemacht hat, denn nur was aus
einer Maxime hervorgeht, ist gut oder böse. Diese Maxime,
deren zeitlicher Ursprung nicht nachgewiesen werden kann,
denn wir alle fmden sie vom Anfang unseres Bewusstseins
si hon vor, kann ein angeborener Hang genannt werden, durch
den der Mensch jedoch nicht entschuldigt wird. Da der Hang
böse ist, muss er des Menschen eigene That sein; da er vor
unserem Bewusstsein liegt, ist er eine zeitliche, nur durch
\'ernuij(t zu erkennende, intelligible That, aus der doch alle
späteren zeitlichen empirischen Thaten folgen. Was die Bibel
als eine historische Thatsache erzählt, der Sündenfall, ist also
nur ein vorzeitlicher Vorgang in der Vernunft, der in jedem
Menschen sich wiederholt, und der mit der kirchlichen Lehre
vuii der ]nbi.unde, die Kant in den schroffsten Ausdrücken
verwirfi, nichts gemein hat. Die allgemeine Geistesrirhiung
freilich konnte Kant mit seiner, den Mcisteu um cibiandlich
bleibenden Lehre vom radikal Bösen nicht ändern : sie blieb,
so lang der Rationalismus herrschte, oberflächlich. Auch die
spekulative Philosophie brachte in dieser Hinsicht zwar eine
veränderte Auffassung, aber kaum eine Vertiefung. Hegels
Grundanschauung, nach der alles Wirkliche vernünftig ist, wie
die Logik selbst, konnte die Not des Lebens und die Sünde der
Menschen nicht anders ansehen als etwas Notwendiges, ab
einen Durchgangspunkt im Prozess der Entwicklung des
Geistes. Er hat die Notwendigkeit der Sünde für die geistige
und kulturelle Entwicklung der Menschheit ausgesprochen ; das
Paradies ohne den Söndenfall wäre ein Park für Tiere. Auch
Sckleiermacher sah in der vor jeder That des Einzelnen vor-
handenen Sündhaftigkeit als Unfähigkeit zum Guten nur
die notwendige Folge einer unvollständigen Mitteilung des
Gottesbewusstseins an die Menschheit, die doch durch das
Gewissen eines Jeden als Gesamtthat, und darum auch als
Gesamtschuld des menschlichen Geschlechts empfunden wird*
Unbefriedigt von dieser abschwächenden Auffassung vom
Wesen der Sünde, wies Julius Müller, der Hallenser Theo-
loge, in seinem Buch: „Die christliche Lehre von der Sünde'*-
nach, dass die Sünde als Sündhaftigkeit mit uns geboren
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Lhe ^ychoiogxsctu BigrütuUmg der rtUgüSuH WelUmschauung.
"wird; aber da ihm die Erbsündeniehre nach ihrer herkömm-
lichen Erklärung durch natürliche Fortpflanzung unannehm-
bar schien, weil Sünde nur durch eigene Schuld begründet
werden kann, sah er sich genötigt, noch über Kant hinauszu-
gehen und nach dem Vorgange des Un^cncs in gnostisch-
phantastischer Weise einen unerklärlichen bundrnfall der ein
seinen Seele in ihrem vorzeitlichen Sein anzunehmen. — Für
den Monismus Eduard v. Hartmanns, nach dem die
Welt entstanden ist aus einem unglücklichen Zufall, muss be-
reif lieber Weise auch die Summe des Elends in der Welt
grösser sein als die Summe des Glücks, während vc>n Sünde
im Grunde überhaupt nicht die Rede sein kann. — In unserer
Zeit hat Ernest Naville, der Genfer Philosoph, in seinem
vor lausenden von Zuhörern gehaltenen X'orträgen ,,Siir le
Probleme du mal", mit dieser Frage eingehend sich beschäf-
tigt. Er kommt zu dem Schluss : nur einen ersten Ursprung
kann die Sünde haben, die Freiheit des Menschen. In der
Willensfreiheit liegt die Möglichkeit der Sünde. Weil aber
jeder Anteil hat an der Sünde, durch fremde, wie durch
eigene Schuld, hat jeder auch Anteil an der Not der Welt.
Von diesem Bann und diesem Fluch frei werden, ist mehr
«der mmder klar bewusst und empfunden der Inhalt aller
Religion. — \'erschieden und darum irreführend ist in den letz-
ten Jahrzehnten des Jahrhunderts vielfach das Wort Erlösung
im christlichen und im buddhistischen Sinne gebraucht worden.
Dem Buddhisten ist sie Befreiung von der Qual des Lebens
in immer neuen Gestalten, die beseligende Gewissheit : nie
werde ich wieder neugeboren werden ; dem Christen ist sie
Vergebung der Sünde, die ihn nun die Leiden dieser Zeit nicht
mehr als Leiden empfinden lässt, so dass er Tod und Hölle
nicht mehr fürchtet. — Aber auch innerhalb der christlichen
Dogmatik hat gerade die Lehre von der Rechtfertigung und
Versöhnung die Richtung der Zeit auf psychologische Begrün-
dung besonders stark erfahren. Zwar hat auch die orthodoxe
Dogmatik das subjektive Moment des Glaubens im evange-
lischen Sinne nicht verkannt, aber sie hat den objektiven Vor-
gang in Gott, den forensischen Akt der Rechtfertigung des
Sünders, zumeist betont. Die neuere Theologie lässt den
Christus „für uns" zurücktreten hinter dem „Christus in uns".
Ihr Kecht ist die psychologische Begründung, ihre Gefahr,
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24
dass sie den objektiven Vorgang in Gott unterschätzt oder
leugnet.
Ihren Abschluss findet die religiöse Weltbetrachtung mit
dem Ausblicke in die ICwigkeit. Auch die Entstehung des
Ewigkciisglaubciis hat psychologische Motive. Wer einmal
zu sich selbst gesprochen hat,, Ich", wer sich als eigenartige
selbsibcwusste Persönlichkeit begriffen hat, der kann sich
ausser in geistiger Umnachtung nicht wieder verlieren. Nichts
ist uns gewisser als unser Sein. Sind die Beweise für die Un-
sterblichkeit der Seele auch einzeln nicht von zwingender Kraft,
so führen sie doch in ihrer Verbindung und in ihrem Zusam-
menhang den Geist bis auf den Punki, dass er die Welt, das
Leben, sich selbst nicht begreifen würde ohne diese Annahme,
die ihm dadurch zur innern Gewissheit wird. Immer wieder
kommt dem Menschen, zumal in Zeiten der Trauer um einen ge-
liebten Toten, der Wunsch, dass er doch möchte gleichsam
einen PH k liiun hinter den Vorhang, der uns das Jenseits,
die Zukunft, den Zustand nach dem Tode verbirgt; aber kein
Blick reicht hinüber, und was in den verschiedenen Religionen
als Offenbarung gegeben wird, auch das ist nur ein Bild
und Gleichnis. Die sinnlichen Organe, mit denen wir hier
die ganze, weite, reiche Erfahrungswelt in uns aufnehmen,
reicht für jene Welt nicht aus. Aber mag jeder Versuch, eine be-
stimmte Form des jenseitigen Lebens darzustellen, phantas-
tisch sein, eins ist gewiss, giebt es ein Leben nach dem Tode,
dann muss die Ernte der Saat und dem, was des Lebens
Arbeit und was Gottes Gnade daraus gemacht hat, entsprechen.
Das ist eine Konsequenz wie unseres Denkens, so vor allem
unseres sittlichen Bcwusstseins. Wie das, was durch Arbeit
oder Liebe unser geistiges Eigentum geworden ist, uns hier
nicht genommen werden kann, wie es Erfahrungen und Er-
lebnisse, Kr imici ungen giebt, ohne die wir uns unser Leben
nicht mehr denken können, weil sie unser Leben selbst, in
gewissem Sinne unsere eigenste Persönlichkeit ausniacheu, so
wird das auch lunuberwirken über den Tod, der nichts ist als
ein körperlicher Vorgang. Dagegen spricht auch nicht der
Umstand, dass etua das hohe Grciscnaltcr manchmal wieder
kindisch wird, üclci doch einbüsst an Cicistesschärfe und Geistes-
besitz. Die Seele ist nicht nur ein Produkt des Leibes. Mit
Recht hat Fechner in seiner Psychophysik gezeigt, dass die
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•Die psychologische Btgründung lUr reUgidsen iVeltanschauung.
25
physische und psychische Thäligkeit Parallerscheinungen sind,
deren Einheit in der psycholophysischen Energie, in diesem
Fall im Individuum, besteht. Was sich abnützt, ist nur das
sinnliche Organ, welches der Träger des Lebens und des
Geistes ist; nicht der Inhalt schwindet, sondern das Gefäss
wird schadhaft und zerbricht im Tode. Darin liegt schon die
Erwartung,* dass unser Geist nicht nach pantheistischer An-
sicht aufgehen wird in der Welt oder in Gott wie der Tropfen
Wassers im Meer, sondern dass er seine Individualität, die
sein Wesen ausmacht, behalten wird. Max Müller, der
Oxforder Gelehrte auf dem Gebiete der vergleichenden Re-
ligionswissenschaft, schreibt: „Ohne den Glauben an persön-
liche Unsterblichkeit ist Religion sicherlich wie ein Strebe
bogen, der nur auf einem Pfeiler ruht, wie eine Brücke, weiche
in einen Abgrund ausläuft". Aber das ewige Leben nimmt
seinen Anfang nicht erst mit dem Tode, es beginnt schon hier.
Das ist nicht eine philosophische Spekulation neuerer Zcit.
Setzt Christus (Ev. Job. 17,3) das ewige Leben in die Er-
kenntnis Gottes und dess, den er gesandt hat, so ist freilich
zu bedenken, dass der Sinn des Wortes „erkennen" im neuen.
Testament ein tieferer ist, als etwa ein blosses Wissen und
eine verstandesmässige Erkenntnis. Aber schon der Begriff
„ewiges Leben" sollte zu einer anderen Vorstellung führen,
als die gewöhnliche ist, die das ewige Leben unvermittelt nach
dem Tode beginnen lässt. Das ist klar und gewiss : die Zeit
ist nichts als ihr Inhalt. Wie es Minuten giebt, die im Schmeri
oder in der verzweifelnden Erwartung sich endlos dchnrn, so
giebt es Augenblicke, die einen unendlich reichen Inhalt Iiabcii,
so dass wir wohl in sinnvollem Widerspruch sagen: „Es war
ein ewiger Augenblick", darum weil Vergangenheit und Zu-
kunft unserm Bcwusstsein entschw.md und wir ganz und voll
in dem gegenwärtigen Augenblick mit seinem reichen Inhalt
lebten. Solche zeitlose, intensive Lcbensausfüllung und Lebens-
vollcndung lässt uns etwas ahnen von dem, was die religiöse
Weltbetrachtung „ewiges Leben" nennt. Wenn Schlcicrmacher
sagt: „Mitten in der Endlichkeit einswerden mit dem Unend-
lichen und ewig sein in jedem Augenblick, das ist die Unsterb-
lichkeit der Religion", so hat er damit in der That gezeip^t,
worin das ewige Leben, wenn nicht besteht, doch hier
seinen Anfang nimmt> wenn ihm auch der rechte, volle, ge-
26
KM vom Mkm.
irosie, hoffnungsfreudige Ausblick in die Zukunft fehlt. Auf
diesem Begriff und dieser Voraussetzung ewigen Lebens ruht
auch die von Richard Rothe vertretene Ansicht, dass die
Menschcnseelc nicht ohne weiteres unsterblich sei, sondern
nur die, welche hier ein höheres, geistiges Leben begonnen
habe, und die Gott deshalb zu einem neuen Leben erwecke.
Gewiss ist nur das Eine, dass ewiges Leben nur in dem Ewigen^
nur ni Gott uns verbürget ist.
Meine Herren I Konnte mein Vortrag auch nur andeutend
sein, so hoffe ich doch, er hat gezeigt, wie gross die Bedeutung
ist, welche die rbvchologie im 19. Jahrhundert für die Religions^
Wissenschaft gehabt hat. Das aber will ich zum Schluss nicht zu-
rückhalten: wie wichtig auch die psychologische Bcgtuadung
der religiösen Weltanschauung i^t, die christliche Theologie
hat ihre eigenen Fundamente und Gesetze; wurde sie sich nur
auf die Psychologie stützen, so käme sie in Gefahr, die Re-
ligion in bloss subjektive Vorgange aufzulö-en. Was die Re-
ligionswissenschaft der Psychologie verdankt, wird darum nicht
geringer. ;
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Ueber
neuere Methoden zur Einffihruns: ins VerstAndnls
geographischer Karten.
Vortrag von H. Fischer
Im VereiD fOr Kfnderpq^ologie zu Bolin
ftin 16^ November 1900.
Jede methodologische Unterrichtsfrage muss ihren {»ycho-
logisch en l^ntergrund haben. Das mag meinen Vortrag an die-
ser Stelle rechtfertigen. Zur Frage selbst möge man bedenken,
dass es sich um Erörterungen auf einem Gebiet handelt, ID
der die Methodenlehre noch in ihren Anfängen steckt. Der
Psychologe wird das aus der Jugend der modernen experimen«
teilen Psychologie leicht begreifen; aber auch den Geographen
kann dies bei der grossen Verworrenheit, die in allen metho«
dischen Fragen auf dem Gebiete der Schulgeographie heut»
noch herrscht, nicht entgehen. Dazu kommt die Jugend der
modernen geographischen Karte. Sie geht in ihren Anfängen
kaum über den Beginn des 19. Jahrh. hinaus. Damals kamen
einige Momente zusammen, die aus der alten Territorienkarte» *
wie sie das lä. Jahrh. uns zeigt, hinausführten. £s waren das
einmal die barometrische Höhenmessung, die eine bequeme
Methode die dritte Dimension in ihren Verhältnissen zu erken-
nen darbot, ferner die kartographischen Fortschritte, die mit
der Erfindung der Lehmannschen Schraffe und der Ducar-
laschen Isohypse verknüpft sind und die Darstellung der dritten
Dimension auf eine mathematisch korrekte Weise auf den Kar-
ten ermöglichten, und drittens, das mit dem Zusanmienbruch
der politischen Verhältnisse des 18. Jahrh. durch den napoleo-
nischen Ansturm verknüpfte Aufkommen der „reinen*' d. h.
nur physikalischen Geographie. Im Laufe des 19. Jahrh. hat
sich dann die Kartograpliie mit wachsendem Interesse dieser
neuerworbenen Fähigkeit, die dritte Dimension, oder sagen wir
einfach, die Gebirgslandschaften in ihrer Eigenart — zur An-
schauung zu bringen noch immer mehr verstärkt. Von Seiten
der Wissenschaft haben diejenigen Fragen, die mit Verände-
rungen, sei es organischer, sei es physikalischer Natur, infolge
verschiedener Höhenlagen zusammenhängen, vielfach im Vor*
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28
H, J^itdur.
dergrunde des Interesses gestanden. Fast ebensoviel verdankt
die Karlographie aber dem Liebhabertuni, das sicli mit wachsen*
der Begier dem Gebirge zugewandt hat ; ist doch dem heutigen
Grossstadtmenschen ausser der Grossstadl selbst und etwa noch
der Küste nur eigentlich das Gebirge, das er jährlich raifsucht,
eine geläufige Vorstellung. Zwischen den Oasen, Grossstadt
und (kbirgc, dehnt sich das iibrigc Land, das grosse Land, das
die Menschheit eigentlich gebiert und nährt, als unbekannte
Wüste aus. So kann es uns nicht Wunder nehmen, dass in
Versuchen, Kindern das Verständnis der modernen Karten —
denn das ist die heutige Schulkarte auch — zu vermitteln. Ver-
suche sie in das Verständnis der dritten Dimension, wie sie
auf den Karten zur Anschauung kommt, einzuführen, schon
sehr früh beginnen und fast allein herrschen. Die einfachste
Fomi wäre ja die, dass man Karte und Wirklichkeit unmittelbar
vergHche. Aber das verbietet sich infolge der Beschaffenheit
grösserer Teile unseres Vaterlandes viellach schon von selbst.
Als Surrogat für das Gebirge hat man dann wohl sein verklei-
nertes Abbild, das Relief eingeschoben. Ks ist eine besondere
Teilfrage, welche Stellung im L^nterrichte dieses nicht zu im-
terschätzendc Hilfsmittf l f iii/uuehmen hat; ich möchte darauf
hier aber nicht emgch« ii. Nur dies: die natürlichste Form
das Kmd in die Kenntnis der Erdoberfläche einzuführen ist»
die auf dem Wege der praktisch erworbenen Ileimatskunde
(Pestalozzi, Tobler, Henpig, Finger) ; aber diese Form erweist
sich vielfach unter den heutigen Schuherhältnissen als unaus-
führbar. Die naturähnlichstc Darstcllungsform kleiner Stücke
der Erdoberfläche ist das Relief; aber seiner Benutzung gleich
am Anfange jedes geographischen Unterrichts stellen sich eben-
falls schulgeographisch-technische Schwierigkeiten gegenüber.
Wie hat man sich da nun zu helfen versucht? Prof. Rieh. Leh-
mann, der Verfasser der Vorlesungen über „Hülfsmittel und
Methode des geographischen Unterrichtes" und einer der Füh-
rer moderner ^ cl.u'gcographischer liestiebungen, hatuns üngst
in einigen Blättern seines ,, Schulatlasses für die unteren Klassen
höherer Lehranstalten", die er direkt ,,zur Einführung in das
Kartenverständnib" überschreii)t, eine Art Idealkursus gegeben,
wie er sich die Sache denkt. V.x geht den Fingerschen Weg
vom Haus zur nächsten Umgebung, zur Ortschaft, zur Land-
schaft, zur weiten Welt, nur dass es sich natürlich nicht um ein
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Neuere Methoden zur htnJuJirung tns yersldnänis geograpk. KarUn. 29
spezielles Schulhaus und ebenso eim ]iP7i( Aiisg-angsstadt
und Landschaft handeln kann, und giebt eine Reihe von sich
entsprechenden kartographischen und bildHclien Darstellun-
gen, die mit dem Schulhaus beginnen und mit der Idcaldar-
stcllung eines Hochgebirges und einer KüstcnsTfücnd enden.
Die Absicht ist also, durch den vertrauteren i^iiidruck eines
Bildes das Kind zum Begreifen einer Kartendarstellung zu füh-
ren. Hiergegen lässt sich nun mancherlei Wesentliches ein-
wenden. Vor allen Dingen sind Ideallandschaften zu verwer-
fen; sie führen allemal zu Zerrbildern und gehören ebenso
wenig in einen Atlas, wie komponierte Phantasietierc in ein
Zoologielehrbuch. Auch Dr. Haack hat sich schon ähnlich ge-
äussert (Geog. Anz. I S. 6). Ferner kommt für die Lehmann-
schen Darstellungen speziell der grosse Kehler hinzu, dass trotz
eines ausdrücklichen Hinweiies auf das perspektivische Ver-
halten von Bildern (Atlas S. 4 A i) besonders die späteren,
grössere Landschaften darstellenden Bilder durchaus falscli in
der Perspektive sind. Fast völlig entsprechen sich auf Karte
und Bild hier Süden und Norden, dort V^order- und Hinter-
grund, sodass man nach dem beigegebenen Massstab im Vor-
dergrunde kilometerhohe Bäume und dergl. vorfindet. Ich ver-
mute die Entstehung dieser Darstclliingsform, die gewiss ganz
zu verwerfen ist, so, dass man sich an Stelle der Wirklichkeit
ein Relief gedacht hat und dieses durch Drehung um eine
querlaufcndc Horizontalachse allmählich zu dem Ansehen einer
von oben betrachteten Karte hat kommen lassen, wie dies z. B.
die wunderliche auch sonst ganz verfehlte Darstellung der West-
alpen im Harmfjchcn Schulatlas IL Aufl. Bl. i zeigt. Es bleibt
also die I'>wägung übrig, wenn man solche unperspektivischen
gewissermassen als Relief gedachten Bilder ablehnt, ob man
zur Einführung in das Karlenverständnis natürliche Ansichten
neben die entsprechenden Kartenausschnitle zweckmässiger-
weise setzt und diese dem Anfänger vorlegt. Diese Frage ist
sehr oft mit ja beantwortet worden, eine der hübschesten Aus-
führungen haben wir in dem leider scheinbar verwaisten Schul-
allas für die mittlere Klassen von Lüddekc*). Aber hier, wie m
ähnlichen Darstellungen anderer Atlanten zeigt der Vergleich
*) Wahrend des Druckes dieses Artikels kündigt Dr. Haack im QcQgr.
Anzeiger II. S. 5 ff. eine von ihm iicuhcarbcitc(c 3. Auflage des AtlasSCS an,
die wahrscheinlich schon früher als diese Zeilen erschienen sein wird.
oiy ii^uo uy Google
-90
ff, fisektr.
ron Bild und Karte eine so tiefgehende Verschiedenheit beider,
dass man cigriitlich nicht daran denken kann, das Bild wirk-
lich zur Eiiifulirung in das Kartcn\ crstandnis zu benutzen und
man sich vielmehr daniii begnügen sollte, in ihm das zu sehn,
was es gewiss ist: ein höchst wirksamer Erklärer und Verdeut-
licher kartographischer od( r iiulI bcbbcr laudbchatiiichcr Ein-
zelheiten, wonach ci^ aku hauptsächlich eine Rolle bei der Ver-
tiefung und Erweiterung des Kartenverständnisses zu spielen
hätte. Zeigen sich nach alled m die Wege durch den Ueber-
gang über das Bild das erste Kartenverständnis zu vermitteln
als nicht so brauchbar, wie man meist meint, so ist es wohl
auch der, an den gelegentlich gedacht worden ist, die Aehnlich-
keit der Ballonphotographie mit der Karte für das Verständnis
dieser bei Kindern austunutzen. Die FreoMlartigkdt solcher
Photographieen auch für den Erwachsenen schliesst die Brauch-
barkeit dieser Bilder von vom herein aus. Sollte die Idee auf
Lehmann „Hülfsmittel etc.'* S. 282 zurückgehen?
Aber ist denn bei der Einführung in das Kartenverständ-
nis der Umweg über .das Bild überhaupt nötig? ich meine
nicht. Die Karte soll in ihren Grundzügen ihrem Wesen nach
selbstverständlich sein, und sie bt es auch thatsächltch. Sie
ist ja nicht Selbstzweck sondern Mittel zum Zweck, nämlich zum
Zweck irgendwelche räumlichen Verhältnisse der Erdoberfläche
besser zu begreifen, weil in übersichtlicher Form veranschau-
licht. Ihre Selbstverständlichkeit innerhalb gewisser Grenzen
wird daher auch allgemein angenommen und mit recht; denn
sonst wären längst die doch meist für geographisch nicht ge-
schulte Augen bestimmten Eisenbahnfahrtspläne, Stadtpläne»
Turistenkarten u. dergl. m. verschwunden. Hat doch uns die
neuste Zeit in der Radfahreriearte wieder eine neue Kartenform
gebracht, die für den neuen Zweck, Entfernungen, Steigungs-
verhältnisse und Beschaffenh'^it der Landstrassen leicht abzu-
lesen, gerade wieder das richtige Mittel ist. Der untrüglichste
Weg aber, zu beweisen, dass die Karte in ihren Grundlagen
selbstverständlich ist, bot mir die Beobachtung meiner eigenen
Kinder, besonders metner fünfjährigen Tochter. Ich Hess sie
ihr bdcannte Wege, nachdem sie sie öfter zurückgelegt hatte,
beschreiben, und erlebte sehr bald das von mir vorausgesetzte,
dass sie ihren Zeigefinger und die Tischplatte zur Erläuterung
der von ihr gemachten Ortsveränderungen benutzte und also
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Neuere Methoden aur Einführung ins Verständnis geograph. harten,
eine Karte in ihren ersten Anfängen sich schuf. Und mein
dreieinhalbjährigcr Sohn richtet sich fast jeden Tag für seine
Pferdebahnen eine Bellc-Allianccstr. und Tempelhof erchaussee
ein, wobei er auch die Steigung, also die so heHebte dritte Di-
mension, meist nicht ausser acht lässt. Bekannt ist es ja auch,
dass wir bei unkuhivierten X'ölkem Kartenskizzen als Orien
tierungsmittel finden. Die psyciiologische Erklärung wird mir
dadurch gegeben, dass auf dor Karte die Menschen die Orts-
bewegungen, die sie im Grossen mit ihrem ganzen Körper
machen, im Kiemen mit dem Finger oder den dem Finger
nachwandelnden Augen in abgreifbarer und übersehbarer
Weise nachmachen können. Somit ist eine Einführung in das
Kartenversiandiiis gewissermassen überhaupt nicht erst nötig,
es kommt vielmehr darauf an, die gegebenen Elemente zu ord-
nen, die nötigen Fälligkeiten zu entwickeln und so allmählich
das Verständnis auch schwierigt rer Darstellungsformcn zu er-
möglichen, wobei man dann freilich daran denken mag, dass
ein wirkliches Verständnis der Darsteiiungsform eines Obirges
nicht möglich ist ohne ein Verständnis für die Bildungsge-
schichte des Gebirges selbst. Da diese nun zu erwerben aber
erst einem ziemlich reifen Lel^cnsaltcr besrhieden ist, so möge
man sich überlegen, ob es zweckmässig ist. die Jugend mit
Versuchen ihr ein unverständliches Ding zum Verständnis zu
bringen, zweckmässigerweise quälen soll. Man beschränke sich
vielmehr auf die allereinfachsten Anschauimgcn und Begriffe.
Vorstehende Darlegung war in etwas veränderter Form
Inhalt des Vortrags. In der Diskussion sprach mir Herr Dr.
Kemsies den Wunsch aus, diesem „analytischen Teil" einen
„synthetischen" folgen zu lassen. Die wenigen Andeutungen
des ergiebigen Themas, zu dc:":en die vorgerückte Zeit mir
noch Raum gab, führe ich jetzt in etwas umfangreicherer Form
aus. Will man anstelle des oben abgelehnten etwas passenderes
TM setzen versuchen, so ist man heute in einer üblen Lage. Es
liegt das an dem Mangel an geographischen Fachlehrern über-
haupt. Versteht man nähmlich unter einem Fachlehrer einen
Mann, der seine Sache von Grund aus übersieht, also auf der
einen Seite genügend ernstli.ifi betriebene wissenschaftliche Stu-
dien hinter sich hat und andererseits in einer langjährigen,
einigermassen gleichmässigrn und genügend umfangreichen
Lehrerfahrung in seinem Fache steht, die er ausserdem an we-
üiguizeü by Google
32
nigstens einigen ähnlich gearteten Genossen hat abschleifen
können, kurz das geographische Pendant eines Mathematikers,
Sprachenlehrers oder Naturwissenschaftlers, so ist mir ein geo-
graphischer Fachlehrer persönlich nicht bekannt (vcrgl. über
diese Verhältnisse: Hermann Wagner „Die Lage des geogr,
Unterrichts etc." 1900). Ich persönlich möchte wohl einmal
ein geogr. Fachlehrer werden, habe aber bei einer jetzt bald
Ijjahngcii Leiirtliatigkcit nur »mmer deuiliclicr die Grösse des
Unterschiedes kennen und empfinden lernen müssen, die uns,
sozusagen, Fachicliierkandida a in der Beherrschung unseres
Gebietes von den Fachlehrern anderer Gegenstände trennt.
Nur dieses vorausgesandt, karui ich mich zur Darbietung
einiger persönlicher Versuche Kinder in das Kartenverständ-
nis eiiizuführen, entschliessen. Reifere Erfahrung und stärkerer
au.: der Praxis entsprungener Ideenaustausch wurden wolü
selbst \uu diesem wenigen noch manches anders gestalten,
iiis ich CS so, viel zu persönlich, als dass es wesentlich normativ
sein konnte, geben kann. Ich möchte aber doch bemerken, dass
ich die betreffende, auch nach Lehmanns „Methoden" er-
schienene l,iuti;Liur zKinlich ausgiebig verfolgt habe, nuine
bezügliche SchulLrfahruiig aber aui dem Eiiifulirurigsunter-
richt bei 4 Gemeindeschulklasscn (3. Schuljahrj iruiidestens 6
höheren Töchterschulklassen (7. Klasse, also auch 3. Schuljahr)
und einer Gynmasialsexta beruht.
Nach Fingers V^orbild gehe ich sofort uhiie weitschweifige
Erklärung an die Sache selbst. Dass die Kinder auf der Erde
sich befinden und dass diese unübersehbar gross ist, bind Be
wusstseinsthatsachen, die die i\inder mitbringen, die nur ge-
klärt zu werden brauchen. Um sich auf dieser grossen Lide
zurechtzufinden, brauchen wir nun die Mimmelsrichtungcn. Das
leuchtet den Kindern von selbst nicht ein, sie finden sich ja ohne
diese in ihrem kleinen Gebiet zurecht, z. B. von Hause nacli der
Schule. Sie müssen es einem nun schon glauben, dass man
sie braucht. Ich sehe darin keinen Schaden. Das X'orhanden-
sein von für die Menschen nötigen Dingen, bei denen es den
Grund noch nicht einzusehen vermag, warum sie nötig sind, ist
für das Kind eins der gemeinsten Vorkommnisse. Hier liegt
nun die Sache gar so, dass die Kinder schon nach wenigen
Wochen Vorteile aus der erworbenen Kenntnis ziehen können,
die ihnen dann besser die Zweckmässigkeit der Benutzung von
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Muere Methoden mtr Emföhrung ins Verständnis gw^yvJJk. Karten» 33
Himmelsrichtungen beweisen, als alle wettläufigen Auseinan-
dersetzungen ; kommt dann nach erworbener Kenntnis und Fer-
tigkeit im Gebrauche für eine dem Erzählen gewidmete Viertel-
stunde die Geschichte von einem Mann im grossen Walde oder
im Nebel dazu, so ist die Angelegenheit aufs beste im Zuge.
Die Anweisungen, wie an Ort und Stelle die Himmelsrichtungen
gefunden werden, sind fiberall angegeben, sie laufen alle auf
Schattenrichtung (N) oder Sonnenmittagsstand (S) hinaus. Un-
brauchbar für die Schule ist natürlich der Polarstem.
Gar zu viele Umstände braucht man meiner Meinung mit
dem ersten Feststellen nicht zu machen, zuviel Hantieren des
Lehrers führt den jüngeren Knaben mit seiner noch mangel-
haften Konzentrationsfähigkeit leicht von der nidit selten un-
ansehnlichen Hauptsache zur Betrachtung von Nebendingen
ab. Wichtiger ist es, wenn es gelingt öfter und immer wieder
Knaben zum Feststellen der ungefähren Lage der Himmels-
gegenden an anderen Oertern, z. B. bei sich zu Hause zu
machen. Man hat das Wertvollste erreicht, wenn Knaben mit
Mitteilungen kommen, wie die : „Unsere Schlafstube liegt nach
Westen, denn gestern Abend schien die Sonne gerade hinein."
Nachdem man die Himmelsrichtungen in der Schulstube fest*
gelegt, die Wände oder Ecken nach ihnen benannt hat, bringt
man die Zwischenrichtungen; weiter gehe man aber noch nicht;
sie reichen aus, die Nebenrichtungen würden durch ihre Fülle
verwirren, später findet sich ihr Gebrauch leicht ein. Nun
aber übe man diese Richtungen auch wirklich ein. Das scheint
im allgemeinen für nicht nötig, vennutlich weil zu leicht, ge-
halten zu werden* Es ist es aber keineswegs. Liegen z. B. die
Wände der Schulstube parallel den Hauptrichtungen, so wer-
den diese von den Kindern wohl leicht und richtig gezeigt, nicht
aber die Zwischenrichtungen. Es herrscht durchaus das Be-
streben convergent in die Ecken zu zeigen (bei anderer Lage
ist es natürlich umgekehrt). Die Kinder hier zum richtigen Zei-
gen zu veranlassen, gelingt nicht ohne Mühe, gemeinsames pa-
ralleles Wandern, so weit es der Klassenraum gestattet, möchte
am ehesten helfen. Ein fernerer Uebungsgegenstand liegt in den
Beziehungen der Richtungen zueinander. Uns ist die Ver-
stellung recht geläufig, dass beim Blick nach Norden, Süden
hmter uns, Westen links, Osten rechts von uns liegt. Bei jeder
anderen Lage hört diese bequeme Orientierung sofort auf. Und
ZdlMihrift fBr pidafofbche P^cbologie noil Mliolailc. 3
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34
H. Füeker,
doch ist mit wenigen Wochen fortgesetzter Uebung und Erhal-
tung der Fertigkeit im weiteren Geographteunterricht es ebenso-
leicht zu erreichen, dass wir sofort wissen, NO liegt links von
uns, wenn wir nach SO blicken, SW rechts von uns. Wie nütz-
lich diese Fertigkeit ist, mag sich wohl auch noch später zei-
gen, beweist sich mir aber auch an der ungeschickten Hand-
habung, von Karten und Plänen der man gewöhnlich begegnet.
Die einfachste Form, die Karte immer mit den wirklichen Him-
melsrichtungen übereinstimmend zu tragen, die auch die weit-
aus nutzbringenste beim Wandern wäre, wird den meisten un-
möglich, weil sie Norden oben haben müssen. Auch
den Lehrern scheint es oft recht schwer zu werden, sich mit
Süden oben ]>€quem zu orientieren, was doch für sie bei der
Lage der Schüleratlanten die gegebene Lage ist, wenn sie
schnell im einzelnen aushelfen wollen. Also Einzel- und
Klassenübungen, je mehr und mannigfaltiger , um so besser!
,AN'i nn ich nach Nordosten blicke liegt links von mir
SW. u. s. w.", wagerechtes . seitliches Ausstrecken der
Arme ist hierbei sehr zu empfehlen. „Ich komme von Westen
und gehe nach Osten u.s.w., dies letztere besonders, um den
sonst fast unausrottbaren falschen Angaben wie der Fluss
fliesst von Westen nach Norden" vorzubeugen. Gleich hier aber
mit Nachdruck hervorheben, dass diese Uebungen sich zwar
durch Woche hinziehen und immer einmal wiederholt werden
müssen, aber nie einen grösseren Teil der Stunden einnehmen
dürfen, da/.u sind sie zu eintfjnig. Dasselbe gilt von allen fol-
gf-n len. Was sonst in diesen Stunden \orzunehmen ist, kann
hier nicht ausgeführt werden, docli wird ein kundiger Lehrer,
der anschauliche P^eimatskunde mit dem Ausblick auf spätere
geographische \^erwendung zu treiben hat, schwerlich in Ver-
legenheit konmien.
E.«; folgt nun der Uebergang auf die Karte. Diese ist für
den Lehn I die Wandkarte, für die Schüler ihre Tischplatte.
Die Metliode der l ei^ertragung ist. wie oft mit Varianten im
einzelnen vorgeschlagen und betrieben, im allgemeinen wohl
am besten die, dass man die horizontal gelegte Wandtafel so
dreht, dass beim späteren Aufhängen Norden obeii ist, und
dann von einer mittleren Stelle der Tafel aus die 4 Hauptrich-
tungen mit Kreidestrichen zieht. Wenn man einen Knaben auf
die Tafel stellt, ist das sehr gut. Ich empfehle seine Fussspu-
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Neuere Methoden mr EbtfBRrwig vu VcrtUmdmU geogrußk. Kartm. 35
Ten mit Kreide anzugeben und bei dem einen Fusseindruck etwa
noch den Eindruck eines Riesters zu markieren. Solche klei-
nen Scherzchen sind aus den verschiedensten pädagogischen
Gründen nützlich. Das Tafelbild würde also etwa wie Fig. i
aussehen. Genau dasselbe» was an der Tafel im grossen ge-
macht worden, machen nun die Kinder mit ihren Fingerspitzen
im kleinen nach. Dass ,,oben Norden» links Westen**» und spa-
ter »»unten rechts Süd-Osten** muss ihnen in Fleisch und Blut
übergehen. Daneben ist für Erhaltung des Zusammenhangs der
Welthimmelsrichtungen mit den Kartenhimmelsrichtungen im-
mer vrieder zu sorgen. »»Da geht es in der Welt nach Nord-
westen, da geht es auf der Karte nach Nortwesten** und ähnlich
lauten die anzustellenden Utbungcn. Nun folgt wohl auch eui-
mal die Herstellung einer Windrose, aber mit den einfachsten
Mitteln, meinem \'ürschhig nach mit Hilfe von Kniffen nach
Art der Kniffe die die Kinder für einen Papier- Vogel oder ein
Scgelschiffchen zu machen pflegen. Es sind immer genug Kin-
der da, die diese Kunst ausreichend besitzen. Nachher vervoll-
ständigen Blcistiftstrichc, die Namen der Himmclsrichtung^en
in Abkiirzungen und der eigene Name, der die Lage des Blattes
und damit Norden [iL->timmt. Das ganze wird kontroüert, ein-
gesammelt und zur nächsten Stunde ein zweites Exemplar von
derselben Beschaffenheit aufgegeben. Kunstwerke der iLltern,
die womöglich mit Zirktjl und Lineal hergestellt sind, finden
hierbei keine Gegenliebe. Die kindliche Windrose sieht also
wie i lg. 2 zeigt, aus. Die punktierten Linien bedeuten Kniffe.
Wichtiger als die Windrose, deren Wert hauptsächlich
dann liegt, dass sie Gelegenheit zu einer ersten häuslichen Ar-
beit giebt, ist das Einüben der Kartenhimmelsrichtungen in be-
36
Ntcher,
liebiger Anordnung. Hierzu zeichne ich die Tafel voller Pfeile
(Fig. 3), und lasse dann einen Knaben mit dem Schwamm eine
Sorte Pfeile z. B. ..die nach NO hcrauswisthen; die Klasse
nimmt an dem Gelingen der Saclie meist regen Anteil. Nach-
Fig. 2.
I'ig. 3.
dem das eiingf^ Male gemacht ist, kommen andere Ucbungen.
Ich zeichne eine in sich zurücklaufende Zickzacklinie (Fig 4)
und lasse nun meist im Chor die Knaben die Richtungen nennen,
die sie einschlagen müssen, also: ,,t. Westen, 2. Südwesten,
3. Norden u. s. w." Das ist leicht, schwere r wird es schon, wenn
es heisst, immer die hinten liegende Richtung zu nennen also:
„I. Osten, 2. Nordosten, 3. Süden u. s. w." Mülic machte es,
wird aber geleistet und ist sehr dienlich, wenn allemal die links
oder rechts liegende genannt werden muss, also: (für links)
„I. Süden, 2. Südosten, 3. Westen u. s. w '* Bei späteren Wie-
derholungen kann man wohl auch einmal „links vorn" oder
„rechts hinten" nehmen, also (für rechts hinten) „i, Nordosten,
2, Norden« 3. Südosten u. s. w." Das ist schon ziemlich schwer.
Neuere Methoden zur Etnßihrung ins Verständnis geograph. Karten. 37
macht aber auch sehr gewandt. In andern ähnlichen, alhnählich
sich entwickehiden Uebungen werden Linien als Grenzen, z. B,
Seilen eines benachbarten Platzes, Zaun eines Gartens ebenso
gut wie Ufer eines Sees, Rain eines Ackers, Grenze eines Lan-
des aufgefasst. Worauf es ankommt ist solche V urstellungen
2u sichern, wie die, dass eine Westgrenze stets von Norden
nach Süden, oder nordsüdlich verlaufen muss. An Zeichnungen
0 o
i
to
s
1
wie Fig. 5, werden dann Uebungen, wie „das ist eine Nord-
westgrenze, sie verläuft Südwest-Nordost*' vorgenommen.
Durch solche und ähnliche Uebungen glaube ich die erste
„Einleitung und Verständnis der Karten" ,,einleiien" zu sollen.
Ich betrachte sie als Uebungen, die auf geographischem Ge-
biet etwa dem Kopfrechnen oder Dekluüercn zu vergleichen
wären. Sie sollen bestimmte grundlegende Fertigkeiten ent-
wickeln, müssen mit einer gewissen Konsequenz durchgeführt
aber beileibe nicht zu sehr ausgeführt werdi-n. Sie inuner wie-
der einmal aufzunehmen, wenn auch nur für weiüge Minuten,
erweist sich als dienlich.
Digitized by Google
Die Ideale der Kinder*
Von
Job. Friedrich.
Ex{.iiii)la tr.iiuint! Dies ist ein alter Erzichungsgrundsatz,
den sowohl die einfache Mutter aus dem V'^olke als auch der
wissenschaftlich durchgebildete praktische Pädagüge zur Ge-
nüge kennt. Die Macht des Beispiels ist eine allseitig aner-
kannte Grösse; und es würde viel zu weit führen, auch nur einea
kleinen Teil jener Sentenzen hier anzuführen, welche die Wir-
kung sowohl des guten als auch des bösen Beispiels auf die
Jugend vor Augen führen.
Das Beispiel der verschiedenen Erziehungsfcikioreii, dns
von diesen teils bcvvusst, teils unbowusst dem Zöglinge grgcl'cn
wird, ist besonders zu Anfang der moralischen Erziehung wich-
tig. Schreitet die intellektuelle Entwirkluiig tU s Kindes vor-
wärts, <lass sich sein Denken schärft und sein lufahrungs-
krcis \ cr^rossert, so treten ihm eine Menge Persönlichkeiten
entgegen, die ihm in guter und böser Hinsicht Beispiele geben
können. Schon ziemlich frühzeitig erhebt sich das Kind auf
diesen Standpunkt und \v;ililt sich sein Ideal, dem nachzu-
streben, es sich mehr ode r weniger angelegen sein lässt. Nicht
nur die Biographiecn bedeutender Manner, sondern auch die
eigene Erinnerung belehren inis, dass jeder, wenn auch mit \ er-
schiedener Schärfe und Deutlichkeit, eine Ideal))('rs()nliclikeit
hatte, der er nahe zu kommen trachtete, sei es nun in intellek-
tueller oder moraUscher Sclbstvervollkommnuiig.
Es muss deshalb für Kinderpsychologie und Pädagogik,
für Etluker und Erzieher von grosser Wichtigkeit sein, die
Ideale der Kinder kennen zu lernen. Einesteils wird
dadurch ein Einblit k in die Entwicklung des Kindes gegeben,
andernteils wird man erfahren, in welcher Weise Erziehung
und Unterricht auf eine gute Ernte hoffen lassen.
Bis jetzt ist nur eine einzige derartige Untersuchung an-
gestellt worden. Die Jowa Society for Child-Study liess 213
Kinder der 6 oberen Klassen die Frage beantworten: „Wer
möchtest du sein? Warum?** Leider wurde das £rgebnis —
Digitized by Google
Die Jdtak der KMer.
39
wie es scheint — nicht recht ausgebeutet, denn die Mitteilungen
über dasselbe sind ziemlich dürftig. Ganz unabhängig von
dieser Untersuchung — ich lernte sie erst während der Aus-
führung der toieinigen kennen — veranstaltete ich eine Um-
frage nach den Idealen der Kinder. Die Frage lautete:
^»Welche Persönlichkeit ist dein Vorbild, und
warum ist sie es?** Es war eine selbstverständ-
liche Forderung, dass diese Frage, um Unklarheiten bei
den Kindern zu vermeiden, von Seiten der betr. Klassenlehrer
und -Lehrerinnen kurz erläutert wurde. Jedes Kind schrieb
auf einen Zettel seinen eigenen Namen tmd darunter die Be-
antwortung der gestellten Frage.
Die Untersuchung' sollte aiuii etwaige Eiiitiüsse des
Alters, des G e s c h 1 e c iu e s und der Konfession er-
kennen lassen. Folgende Tabelle wird nun die Verteilung
der Kinder nach Klassen angeben:
Tabelle 1.
Klasse
!
Zahl der
Kinder
Geschlecht
Konfession
Alter
(Durchschnitt)
VI.
54
Knaben
katholisch
11' t Jahre
VI
52
Mädclu-n
katholisch
desgl.
VI. 1
31
Miidchcn
protestantisch
desgl.
vn.
vn.
vn.
VII.
VII.
42
20
41
48
Knaben
Knaben
Knaben
Mädchen
Mädchen
katholisch
protestantisch
katholisch
katholisch
protestantisch
I2'/t Jahre
desgl.
desgl.
desgl.
desgl.
In der Darstellung der Ergebnisse werden wir uns an die
beiden Fragen halten müssen, und jede nach den oben ange-
*) Diese Zeilschrift; II. Jahrgang, Heft 2, Seite 135, 136.
**) Denen ich hiermit fQr ihre hfcundlicfae Mitarbeit botem danke.
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40
Joh. Friedtick,
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Ganze Summa ' 14
(aus I u. II) j
Summa Ii
VII a
Vllb
VII a
7a
7b
Summa I
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XX
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ar
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Digitized by Google
Die Ideale der Kinder,
41
gebenen Gesichtspunkten durchzugehen haben, um auf diese
Weise nicht nur eineu Beitrag zur Individualpsychologie, son-
dern auch zur allgemeinen Kinderpsychologie zu erhalten.
Ordnen wir nun die erhaltenen Gruppen nach ihrem
Grössenverhältnisse und drücken zugleich diese in Prozenten
aus, so^ergiebt sich folgende Reihe:
Tabelle 3.
Gruppe:
H.
i
C.
E.
D.
K.
B.
0.
A.
L.
M.
N.
F.
0.
Zahl
16
14
43
31
33
8
45
27
76
7
7
6
29
2
4,2
1
12.9! 9,3
1 1
9,9
2,4
13,5
8,1
22,8
2,1
1,8
8,7^
0,6
Es fällt sofort ins Auge, dass die Geschichte über ^/s
der vorbildliclien Persönlichkeiten lieferte ; naCh ihr kommt erst
der Religionsunterricht. Es zeigt sich hierin aufs deut-
liclibte die hohe Bedeutung des Gesrhichtsunterricbts als eines
wirklichen G e s i n n u n g s u n t e r r i c h t e s. Es ist deshalb nur
zu bedauern, dass er im Stundenplan mit einer Wochenstunde
abgefunden wird; für die moralische Bilduns: der Jugend wäre
eine intensivere Vertiefung des gesrbirluli< hon Stoffes nach
seiner sittlichen Beziehung hin sehr erwünscht. Durch den
dogmatischen Religionsunterricht, der im Anschlüsse an den
Katechismus erteilt wird, und vielfach nur in einem Auswendig-
lernen schwieriger Definitionen besteht, wird, wie unsere
Statistik zeigt, wenig für die sittliche Begeisterung des
Menschen geleistet. Dagegen bieten die Bibel (ahes und neues
Testament) und die Religionsgeschichte dem Kinde viele Per-
sönlichkeiten, die als Vorbild dienen können und auch dienen;
es wird sich deshalb die Frage, ob der Katecbisniusunterricht
nicht hinter die Biblische Geschichte zu treten habe, nicht so
ohne weiteres als Krt/erei abthun lassen. Wir meinen immerhin,
dass auch in den Religionsunterricht die Kinderpsychologie ein
Wörtchen darein reden dürfe.
Auffallend ist, dass die Umgebung des Kindes diesem so
wenig Ideale, denen es nacheifern könnte, liefert (nur 4,20/0).
Ks mag dies wohl daran liegen, dass die Kinder im allgemeinen
uiyiii^ed by Google
42
Jfoh, Friedrich,
scharfe Beobachter sind und meist mehr die Fehler als die
guten Seiten der mit ihnen in Berührung kommenden Persön-
lichkeiten sehen. Eltern und Lehrer sollten aus dieser That-
Sache viel lernen!
Um die Einwirkung von Geschlecht, Alter und Konfession
erkennen zu können, müssen wir Tabelle 4 betrachten.
Tabelle 4.
1
A.
B.
C
D.
E.
F.
G.
H.
I.
K.
L.
M.
N.
0.
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1. Knaben
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17
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11
3,3
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0,3
0
0
1
II.
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1
6. Klassen
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11
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5
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10
10
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0
0
4
1,2
0
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7. Klassen
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,0,6
21
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32
9.6
8
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7,2
1
0.3
6
1.8
43
12,9
3Ö
10,6
15
4,S
8
3
0.9
7
2,1
2
III.
1
Katholisch
^Zahl
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10,2
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19
5
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15
4,5
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11
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5
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0,3
1
0.3
29
8,7
6
1^
5,4
3
0,9
1
0,3
3
0,9
Bezüglich des Geschlechtes machen sich weniger Un-
terschiede bemerkbar in den Gruppen D, E, F, G und O; dage-
gen überwiegt der Anteil der Mädchen an den Gruppen A, B,.
C und K den der Knaben um ein Bedeutendes, Während z. B.
letztere in ihrer Umgebung gar keine vorbildliche Persönlich-
keit entdeckten^ nehmen erstere 4,2^/0 (also die ganze Gruppe)
Digitized by Google
Die U««ie der Kinder,
für sich in Anspruch. Besonders auffallend ist die Grösse der
Gruppe C (Heilige) bei den Mädchen; dies hat seinen Grund
unstreitig darin, dass das weibliche Geschlecht religiöser ver-
anlagt ist, und demgenias^ bei selbst gleichen Erziehungsfak-
luren bei ihm die Betonung des Religiösen schärfer hervor-
tritt als bei den robusteren Knaben. Das zartere weibliche Em-
pfinden mit seinen ms Sentimentale hinübergreifenden Aeusse-
rungen dt-s Seelenlebens fühlt sich naturgemäss mehr hingezo-
gen zu den auf \>rinnerlichung gehenden Bestrebungen der
Heiligen. Während (>s im männlichen Charakter liegt, sich
selbst inmier kraftvoller zu entfalten, findet die Eigenart des
Weibes schon frühzeitig ihre Befriedigung im Hingeben an
andere, an den Mitmenschen, in Ausübung der Nächstenliebe,
und im Hingeben an Gott, in der Religion. Hingegen finden
die Mädchen weniger Gefallen an den kraftvollen Gestalten
der Geschichte (8,70/0 und 3,3"o), wahrend gerade diese den
Knaben in erhöhtem Masse vorbildlich erscheinen (14,10/0 und
10,20/0). Dass die Miidclien auch in den Gruppen L, M und N
den Knaben nachstehen, bedarf wohl kaum euier Begründung.
Der Unterschied zwisrlien dem Anteil der VI.
Klassen und jenem der VII. K 1 a s s e n an den verschiedenen
Gruppen ist durchwegs kein so grosser, dass er einer verglei-
chenden Untersuchung bedart. Weim in den geschichtlichen
Partien die VH. Klassen stärker beteiligt sind als die VI.
Klassen, so hat dies seinen Grund unstreitig darin, dass die
letzteren das ganze Gebiet der deutschen Geschichte über-
blicken, ihnen also mehr vorbildliche Persönlichkeiten daraus
bekannt sind, als es ersteren nach Lage der Sache möglich ist.
Mit der fortschreitenden geistigen Entwicklung erweitert sich
eben auch der geistige Horizont; dazu thut dann noch der
Lehrplan sein übriges.
Nicht uninteressant ist das Verhältnis zwischen Katho-
liken und Protestanten. Mit Ausnahme der Gruppe K
überwiegt der prozentuale Anteil der Katholiken jenen der Pro-
testanten meist um ein Bedeutendes. Die einzige Ausnahme
hat ihren Grund — wie wir später sehen werden — in der mar-
kanten Gestalt Luthers, welcher von Protestanten vielfach ge-
nannt wurde. Dass die Katholiken z. B. die Heiligen bevor-
zugten, liegt in der Heiligenverehrung der katholischen Kirche
begründet, denn diese stellt ja mit Vorbedacht die Heiligen als
uiyiii^ed by Google
44
yoh, Briedrüh.
nachahmenswerte Vorbilder in religiösem und sittlichem Wan-
del auf. Auch der grosse Anteil der Katholiken an Gruppe G
lässt sich auf diese Weise leicht erklären. —
Nach diesen mehr allgemeinen Erörterungen wollen wir
nun die einzelnen Gruppen einer genaueren Betrachtung unter-
ziehen.
(iru})pe A: Personen aus der Umgehimg des Kindes,
bezw. solche, welche ihm persönlich bekannt suid.
Tabelle 5.
Kluse
Der
Vater
1
Die
Mutter
Die
Eltern
Die
Tante
Der
Schul-
rat
Der
Pfarrer
Die
Lehre-
rin
Der
Bi-
sdiof
Der
Onkel
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7b
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1
Sa.
' \
3 1
' i
' 1
1
1
3 i
' 1
1
1
Es ist höchst auffallend, dass an dieser Gruppe nur Mäd-
chen beteiligt sind und Ijcsonders eine Klasse stark vertreten
ist. Dass die Mädchen sich Vorbilder aus dem anderen Ge-
schlechlc wählen, tritt uns nicht bloss nicr entgegen, sondern
wird uns in anderen Gruppen noch vielfach in die Augen sprin-
gen. Demgegenüber greifen die Knaben sehr wenig Ideale
weiblichen Geschlechtes heraus.
Gruppe B: Personen nu^ der Lrktiirc. (Hierher wurden
auch jene Persönlichkeiten gerechnet, tiie dem Kinde durch Er-
zählung aus dem Munde des Lehrers bekannt wurden).
Ans dieser Zusammenstellung ersieht man, dass die Lektüre
entweder ungleichmässig und unsysteniati'^'-h gej)flegt und ge-
fördert wurde, oder dass die Lektüre nicht jene Gestalten auf-
wies, welche die Kinder zur Nachahmung reizten. Die Er-
zählung von dem durch seine Elternli lu -ich auszeichnenden
Rittmeister Kurzhagen steht im Lesebuche^ das die Schüler in
Üigiiiztiü by <-3ÜOgIe
Dü IdeaU der Kinder. 45
Tabelle 6.
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Klasse;
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1
1
1
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1
1
1
1
1
2
1
1
Händen haben; dass die sanfteren Mädchen sich ihn wähhen,
liegt Wühl auf der Hand. Natürlich fehlt auch nicht eine Figur
aus den zur Zeit von den Jungen verschlungenen Romanen
Karl Mays; ja, wir werden si)äter sogar noch sehen, dass dieser
Schriftsteller, der seine Geschichten alle in der Ich-form schreibt,
als ein V'orbild genannt wird.
Gruppe C; Heilige.
Tabelle 7.
KUnse
Mar-
gareta
Agnes
Aloy-
sius
An-
tonius
1
Blan-
dina
Chlo-
tilde
Elisa-
bcdi
Magda-
lena
Piiilo-
mcna
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VII b
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1
8
1
3
1
l
1
*) Darunter dn Israelitisches Midchen.
üigiiizeü by Google
46
»
fok, iriedrich.
Neben dem Einfluss des Geschlechtes und der Religion
macht sich in dieser Gruppe unstreitig der Klassenhabitus be^
meilcbar. Die Knaben wälüten keine einzige Heilige, dagegen
19 Mädchen (5,7 0/0) den hl. Aloysius; dies ist daraus zu erklären«
dass (dieser Heilige von der katholischen Kirche als ein Vor-
bild der Jugend aufgestellt ist und verehrt wird. Mehrmals
wurde auch der Namenspatron gewählt, was ebenfalls seine
Erklärung in den Institutionen der katholischen Kirche findet.
Gruppe D: Persönlichkeiten aus dem alten Testamente.
Tabelle 8.
Klasse *
Abraham
Adam
König
Ahab
>
es
Q
Prophet
Elisa
1
0
Joseph
König '
1 Hiskia
1
Macha- |
lüische
Mutter
Tobias
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Sa.
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1 2
Tabelle
9.
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Klasse
I
Stephanus
Martha
Vater des
verlorenen
Sohnes
Der ver- '
lorene Sohn
Anna j
Evangelist
Johannes
(/)
0
Maria
(Mutter Jesulj
Paulus
Petnis
Philippus
Via
1
2
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1
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2|
8|
12 1
2
1
uiLjiiizuü Dy Google
Die UtmU der Kinder.
47
Dass die durch ihre Geduld und Gottergebung hervor-
ragenden Persönlichkeiten eines Job und eines Joseph die
Kinder anziehen, ist leicht zu begreifen. Wie aber Adam, der
erste Mensch, zu einem Ideale gestempelt werden kann, ist nicht
gut einzusehen. Auch die Begründung seitens des betr. Knaben :
„Weil ihn Gott nach seinem Ebenbilde erschuf** macht die
Sache nicht plausibler. Vielleicht wäre es gelungen , den Kna-
ben zur Klarlegung seines Gedankenganges zu bringen; da
aber die Untersuchung einige Tage vor der Schulentlassung
stattfand, so war es meinerseits nicht möglich, dies Versäumnis
gut zu machen.
Gruppe E: Personen aus dem neuen Testamente.
Die kraftvolle Figur des Apostel Paulus ist 12 mal
als Vorbild genannt worden (3,6 0/0), und zwar nur von Schü-
lern der siebenten Klassen; dies findet seine Erklärung im Lehr-
plane. Auffallen mag, dass der Vater des verlorenen Sohnes
auch einmal angegeben wurde. Der betr. Knabe begründet
aber seine Ansicht sehr gut mit folgenden Sätzen : „Mein Vor-
bild ist der Vater des verlorenen Sohnes, weil er an seinem
<So1me recht gehandelt hat tmd ihn wieder aufnahm. Als dieser
draussen sein Gut mit Hurerei verschlungen hatte, kam er
wieder zu seinem Vater. Dieser aber nahm ihn gerne auf,
denn er dachte, er sei von den wilden Tieren gefressen worden.**
Gruppe F: Gott (Christus).
Tabelle 10.
Klasse |
Christus
Via
3
6a
2
6b
Vlla
Vlib
Vlla
7a
7b
1
Sa.
6
Es wäre vielleicht Christus etwas häuligcr als Vorbild auf-
geführt worden, wenn nicht in Klass« VII b von selten des
uiyiii^ed by Google
48
Joh. irieJtüh.
betr. Hrn. Lehrers den Schülern geraten worden wäre, die
Person des Heilandes nicht zu nennen. Es geschah dies in der
Absicht, etwas Abwechslung zu bringen. Ob diese Beein-
flussung sich als wirksam erwiesen hat, kann ich nachträglich
nicht erkennen ; aber selbst zugegeben, der Gcsiclilskrcis der
Schüler wäre dadurch verengt worden, so könnte dies doch
keinen Grund abgeben, die Antworten der [ganzen Klasse zu
verwerfen und sie bei der ganzen Arbeit unueachtet zu lassen.
Gruppe G; Personen aus der fränkischen Geschichte.
Tabelle Ii.
Klasse
Herzog
Oozbert
FQrstiiischof
Julius Edikr
von
Mespelbrunn
Via
1
I
6a
8
6b
Vlla
3
Vilb
Vlla
2
7a
7b
1
Sa.
1 1
15
Da der Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn
als katholischer Fürst und Bischof gegen die l'rotestanten vor-
ging, so wurde er — mit einer einzigen Ausnahme — nur von
katholischen Schülern als Vorbild bezeichnet. Ein protestan-
tisches Mädchen benannte ihn deshalb, „weil er ein grosser
Wohlthäter war."
Gruppe H: Personen aus der deutschen Geschichte.
Diese Gruppe spiegelt so recht den Lehrplan wieder, in-
dem jene markanten Persönlichkeiten, welche in das Lehrpro*
gramm der einsehsen Klassoi fallen, auch in diesen als Ideale
angegeben wurden. So werden in der VI. Klasse behandelt
Barbarossa, Friedrich der Schöne» Rudolf v. Habsburg, in der
VII. Klasse Bismarck, Andreas Hofer, Luise, Maria Theresia»
Max I., Wilhelm I. Trotzdem Hermann und Karl der Grosse
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Die IM* der XMer, 49
Tabelle 12.
KUsse
■=2
'S £
Bismarck
Friedrich der
Schöne
von Oesterreich
sc
•0:3
E 2
Kaiser
1 Heinrich 1.
1
fc
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C
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M
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Könipin Luise
von F'reussen
1
Kaiserin
Maria Theresia
Kaiser Max I.
Rudolf von
Habsburg
Kaiser
Wilhelm I.
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1
3
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1
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1
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1
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1 ö
*
Tabelle
13.
KUsse
König
Ludwig 1.
König
Ludwig II.
KaiscrLudwigl
der Bayer
Kurfürst
Max Joseph
Kurfürst
Max der Oute
König
Max IL
Herzc^
m
5
Otto von II
(/]
Prinzregent
Luitpold
Via
2
1
6a
6b
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1
1
2
I
4
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2
1
1
2
2
2
VII b
Vlla
2
2
1
4
3
4
7a
7b
3
!
Sa.
5
1
5 j
3
1
7
2
5
5
9
4
schon in der V. Klasse besprochen wurden, so ist doch die
Wirkung dieser Persönhchkeitcn noch l und 2 Jahre später zu
bemerken; besonders letzterer ist mit 29 Antworten (d. i. 8,70/0)
bedacht, ein Beweis von der ethischen Anziehungskraft dieser
Heldenfigur. Während die Knaben durchweg Männer sich als
Vorbilder wählten, erkoren 19 Mädchen (8,7 O/o) sich gleichfalls
solche, und nur 9 Mädchen (2,7 0/0) dachten an Frauen als
. Ideale. Es mag dies wohl darin seinen Grund haben, dass die
Zeitsdirift für pädagogische Psycliologic und Pathologie. 4
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50
Joh. Friedrich.
Mädchen im riosrhicht^untcri ichte zu wenig ideale Frauenge-
ätaJlen vorgcfuliri l:>ek()ninu'n.
Gruppe 1; IV-rsoiu-n aus der liayerischcn Geschichte.
Von den gewählten 45 Persönlichkeiten der Grupi)e I ent-
fallen 3s auf die siebenten Klassen; der kurz \orher behan-
delte Lehrstoff steht denniach noch im X'ordergrunde des In-
teresses und m ( iefühlsnähe. Otto von W'ittelsbach wurde in
der 6. Klasse besprochen; dass er in den siebenten Klassen
trotzdem noch 6 fron 9) Stimmen erhielt, zei^t, wie stark sich
seine durch Mut und ra])fcrkcit auszeichnende Persönlichkeit
dem Gedächtnis der Kinder einprägte.
Gruppe K : Persönlichkeiten aus der Religionsgeschichte*
Tabelle 14.
Klasse
Papst
Leo Xill.
Kaiser
Konstantin I.
1
' Luther
Bonifatius
Franben-
apostel
Kiiisn
Via
1
6a
3
1
3
6b
6
Vlla
1
2
VII b
5
Vlla
7a
7b
Sa.
3
»7
3
5
Es könnte vielleicht der Einwand erliol)en werden, die
sämtlichen Persönlichkeiten der Grupjie K seien ganz gut in
anderen Gruppen unterzubringen gewesen, z. B. Kilian in
Gruppe G, Bonifatius und Luther in Gruppe II. u. s. w. Dem sei
entgegen gehalten, dass die in Gruppe K vereinigten Vorbilder
durchweg- aus anderen Gründen gewählt wurden, wie die Per-
sonen der übrigen Gruppen: es trat hier, wie wir später sehen
werden, das religiöse Moment scharf in den Vordergrund.
So wurden I'ajist Leo XIII., Bonifatius und Kilian nur von
Kathohken erkoren, während Luther ausschliesslich von Pro-
testanten als Ideal aufgestellt ward. Beides ist leicht erklär-
ZMr Ideaie der Kinder.
51
lieh. Den Protestanten ist eben Luther als Gründer ihrer Kon-
fession eine ungleich s>Tnpathischere Persönlichkeit als er es
den Katholiken sein kann. Da die Verdienste Luthers in lite-
rarischer Hinsicht in der Volksschule nicht gewürdigt werden
können, so tritt eben allein die religiöse Wertschätzung ein.
Gruppe L: Künstler, Dichter» Schriftsteller.
Tabelle 15.
Klasw
Kart May
Theodor
Kömer
Erz-
giesscr
Miller
Mozart
Schwan-
thaler
SchiUer
Rjchaid
Wiener
Via
6a
:
6b
Vlla
VII b
Vlla
7a
7b
1
1
1
I
1
1
1
Sa.
1
2
• 1
1
i
1
Wer aus der geringen Zahl der in dieser Gruppe vereinig-
ten Persönlichkeiten der Volksschule einen Vorwurf machen
wollte, der kennt die thatsächlichen Verhältnisse nicht oder
zu wenig. Die künstle risclie Erziehung der Jugend wird allent-
halben — auch in den Mittelschulen — viel zu wenig beachtet.
Aber es ist erfreulich, dass besonders aus den Kreisen der
Volksschullehrer heraus der Ruf nach künstlerischer Erziehung
der Jugend zuerst und mit grösstem Nachdruck erhoben wurde.
(Siehe die sogen. Hamburger Bewegung in Sachen der Jugend-
schriften 1)
Gruppe M: Erfinder und Entdecker.
Für diese Gruppe ist durchweg der Lehr plan massge-
bend. £s ist auffäiUg, dass die Persönlichkeiten derselben nicht
hmge vor der Enquete behandelt wurden^ und dass es öfters
schwache Schüler waren, welche obige Persönlichkeiten er-
wählten. Die intellektuelle Armut verengte den Gesichtskreis
und so könnte man vielleicht von ,,Veriegenheitsidealen"
sprechen. \
4*
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52 y«** FHtiHek»
Tabelle 16.
Klasse
Kolum-
bus
Franklin
Ffiun-
noicr
Bolbold
Scbvm
fdder
Via
Aa
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3
—
—
I
—
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VII a
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VII a j
7a
7b
1
1
1
Sa.
3
1
1
1
1
Gruppe N: Feldherren.
Tabelle 17.
Klasse
Zryni
■
Blücher
Gottfried
von
Bouillon
TiUly
Via
6a
6b
VII a
Vllb
Vlla
7a
7b
1
2
1
3
Sa.
1
1 2
1
3
Nur Knaben wählten Feldherren. Der Kraft- und Macht-
wille, der sich unwillkürlifh mit dem Begriffe eines Kriegs-
mannes verbindet, schreckt naturgemäss das zartere Mäd-
chen ab.
Gruppe O: Andere Persönlichkeiten.
Cronje und Crüger, die beiden Helden der Buren, sind
den Kindern durch die Zeitungslektüre bekannt gewesen ; man
hätte sie also auch in Gruppe B unterbringen können. Die
Digitized by Google
Dk Ueale 4tr JCbubr,
53
Sympathie, die den um ihr Vaterland kämpfenden Buren all-
gemein entgegengebracht wurde, teilte sich auch der Jugend
mit. Dass ein Mädchen den Feldherrn Cronje wählte — ganz
emgegengesetzt den Resultaten der Gruppe N — hat seinen
Grund in der Eigenart des betreffenden Mädchens. Die Leh-
rerin schildert «es als eine lebhafte Schülerin, welche gern
und gut ttnnt und überhaupt mehr männliche Eigenschaft zeigt
als weibliche.
Tabelle 18.
KlasM
Cnmje
Biul Crfigar
Via
6a
6b
Vlla
Vllb
Vlla
1
7a
1
7b
Sa.
1
I
Nach der Zahl der S t i tn m e n , welche sich auf die ein-
zelnen Persönliclikeiten vereinigten, ergibt sich folgende An-
ordnung :
a) Je I Stimme erhielten: Cronje. Crüger, Zryni, Gottfr. v. Bouil-
lon, Franklin, Fraunhufer, Schwarz, Senefelder, May,
Miller, Mozart, Schwanthaler, Schiller, Wagner, Konstan-
tin I., Bonifatius, Heinrich I., Maria Theresia, Kaiser
Max I., Gozbert, Stephan us, Martha, der Vater des ver-
lorenen Sohnes, der verlorene Sohn, Philippus, Adam,
Ahab, Eleanzar, Elisa, die machabäische Mutter, die hl.
Margarete, der hl. Antonius, die hl. Mathilde, der hl. Mar-
tin, die hl. Magdalene, die hl. Philomena, K. Weissgerber,
Old Shatterhand, Baas, Hedwig (Teils Gattin), Hof-
reither, Lanke, Rosa v, Tannenburg, Schimmelmann, die
Stiefmutter (ohne Namen), Sixtus V., Tom, Trudehen,
Vater, Eltern, Tante, Onkel, Schulrat, Pfarrer, Bischof,
Kameradin; in Sa. 57 Personen;
54
jfoh, Friedrich.
Tabelle
Klasse
1
15
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a
CO
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:\'. Gastfreundschaft 1
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VII. Gehorsam 1
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XVI. Gross an Körper 1
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19
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-
1
—
—
1
12
—
4
1
—
2
~
8
1
—
2
Summa
1
77
1
3S
4
20
27
36
6
12
5
32
1
1
12
0,3
2,4! 23.1
,■
1
0,3
11,4
1,2
1.8
6,0
8,1
10,8
.,8
3,6
1,5
9,6
0,3'
0,3
3.6
1. 6. Klassen;
--. —
a) Zahl
1
5
25
1
26
2
5
13
7
15
4
10
2
8
1
1
a
6
b) "/o
0.3
1,5
7.5
0,3
7,8
0,6
1,5
3,9
2,1
4,5
1,2
3,0
0,6
2,4
0,3
0,3
1,8
II. T.Klassen:
a) Zahl
—
3
52
12
2
1
7
20
21
2
2
3
24
—
6
b)
—
0,9
15.6
3,6
0,6
0.3
2.1
6,0
6,3
0,6
0,6
0,9
7.2
—
1,8
Knaben:
a) Zahl
1
6
53
1
16
3
3
8
3
7
5
2
3
27
1
1
7
0,3
1,8
15,9
0,3
4,8
0,9
0,9
2,4
0,9
2,1 1,5
0,6
0,9
8,7
0,3
0,3
2.1
Midcbn:
a) Zahl
_
2
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1
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3
2
4
29
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10
2
5
5
b) ^'/o
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7,2
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0,3
0,9
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7.2 8,7
0,3
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0,6
1.5
KaÜioOken:
a) Zahl
1
7
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1
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3
6
14
27
17
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10
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0,3
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0,6
0,6
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•) Unter »nationaler Thätigkeit" ist die Förderung desVolkswohles (im weite-
sten Sinne) seitens der genannten K^enten und Fürsten zu verstehen. Der gewählte
Ausdruck maf vielleicht nicht so ganz exakt und eindeutig sein, aber er oezeich-
net die von den Kindern in diesem Betreff anscfebenen urfinde wohl am besten.
Digitized by Google
Die JdeaLi dir Kinder.
55
19.
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1 XXVI II. Sparsamkeit |
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XXXII. Relorni.itor 1
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1
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1
5
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4
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1
1
173
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3,0
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1,5
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2
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1
1
2
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1
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0,9
3,3
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0.3
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0,3
0,3
0,3
0,3
2,1
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2
3
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1
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0,3
1
1.2
0,J
0,3
\
0,3
1
**) fch gab die Tugenden so an, vie die Schölerantvoden lauteten*
Namen, Annrdniinji; und tinteihinp genügen selbstverständlich einer wissen-
schaftlichen tthik nicht. Die Tabelle verfolgt ja auch einen anderen Zweck.
Digitized by Google
56
b) je 2 Stimmen: Blücher, Körner, Max d. Gute, die M. Anna,
Eyatngelist Johannes, der hl. Joseph (Nährvater Christi),
Petrns, Hiskia, tobias, Klinke, Teil; m Sa. ii Personen;
c) je 3 Stimmen: tilly, Kolumbus, LeoXIIL, der hl. Kilian,
tlidwig^ d. Bayer, Friedrich d. Schöne, Andr. Hpfer,
Abraham, David, die hl. Elisabeth, die Mutter, die Leh-
rerin; in Sa. 12 Personen;
d) je 4 Stimmen; Prinzregent Luitpold, Rudolf v. Habsburg;
in Sa. 2 Personen;
c) je 5 Stimmen: Ludwig I., Ludwig IL, Max IL, Herzog Maxi-
milian; in Sa. 4 Personen;
fj je 6 Stimmen: Bismarck, Hermann, Wilhelm L, Christus, die
hl. Agnes; in Sa 5 Personen;
g) je 7 Stimmen: Kurfürst Max Joseph, Job; in Sa. 2 Personen;
h) je 8 Stimmen: Königin Luise, Maria (Mutter Jesu), die hl.
Blandina; in Sa. 3 Personen;
i) je 9 Stimmen: Otto v. Wittelsbach, Barbarossa, der ägyp-
tische Joseph; in Sa. 3 Personen;
k) II Stimmen: Kurzhagen; i Person;
1) 12 Stimmen: der Iii. Paulus; 1 Person;
m) 15 Stimmen: Julius Echter; i Person;
n) 17 Stimmen: Luther; i Person;
o) 29 Stimmen: Karl der Grosse; i Person.
II.
Die vorbildlichen Eigenschaften dieser Persönlichkeiten.
Die Kenntnis der vorbildlichen Persönlichkeiten allein
kann weder den Psychologen noch den Ethiker imd Päda-
gogen befriedigen. Da ein und dieselbe Person verschiedenen
Individuen aus verschiedenen (rründen Ideal sein kann, und
in gleicher Weise dieselbe Eigenschaft an verschiedenen Per-
sonen vorbildlich wirken kann, so muss es äusserst instruktiv
sein, diese Eigenschaften, vermöge deren eine Person eben
zum Ideal wird, zu wissen.
Ordnen wir nun die genannten Tugenden nach der Zahl
der auf sie gefallenen Stunmen, so erhalten wir folgende Reihe:*
Digitized by Google
57
1 .tlit
1
III
■ ■ ■*
2
V
3
X
4
XIV
5
IX.
VIII.
7
XX.
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( XVII
9
XXII
10
II.
1 1
XXXI
12
1 VII
\ X!.
13
\^ XIII.
/ XXI.
U
)
1 XXXII.
) XIX.
Tabelle 70,
ZOA
77
38
36
32
27
20
13
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10
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I je 5
je 4
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3,0
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3,0
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2,1
)je 1,8
}je 1,5
jje 1,2
No.
15
16
Onii)|ie
XXIV.
XXVIII.
I.
IV.
XV.
XVI.
XVtll.
XXItl.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXIX.
XXX.
XXXIII.
XXXIV.
XXXV.
le 2
}je Ofi
je 1
je 0,3
Ueber *^/r^ aller Stimmen fielen auf das, was ich ,,nationale
Thätigkeit" genannt habe. Wir sehen also auch hier den tiefen
ethischen Einfluss des Geschichtsunterrichtes, der sein Haupt-
gewicht nicht mehr auf Namen, Zahlen und Memorieren legi,
sondern — wenigstens in der Volksschule — die geschichtlichen
Persönlichkeiten in ihrem Wirken und Handeln in anschau-
licher Lebendigkeit den Schülern vorführt, so dass in Wahr-
heit Goethes Wort in Erfüllung geht : „Das Beste, das wir von
der Geschichte haben, ist die Begeisterung, die sie in uns
weckt." An zweiter und dritter Stelle erscheinen zwei Tugen-
den, welche den Kindern in dem Religionsunterrichte ins Herz
gepflanzt wurden: „Frömmigkeit (Heiligkeit)*' und „Glaubens-
festigkeit" ; aber beide zusammen erreichen nicht die Zahl der
Gruppe HL „Tapferkeit und Mut", zwei Eigenschaften, die
Lektüre und Geschichte oft lobend hervorheben und die ohne:
dies jedem Menschen sympathisch sind, rangieren an fünfter
Stelle. Nach ihnen kommt mit noch 6 o/o die „Keuschheit (Un-
Digitized by Google
58
jfoh. Inedncßi.
schuld)** ; dass diese so verhältnismässig wenig genannt wurde,
ist vielleicht auf das noch nicht vollständige Erfassen ihres
Wertes und ihrer Bedeutung seitens der Kinder zurückzuiiihren.
Tabelle 2l.
Klasse
Omppe
Zahl
Differenz
in «/•
VI.
VII.
III.
25
52
7,5
15,6
+ 8,1
— .
VI.
VII.
V.
26
. 12
7,8
3,6
+ 4,2
VI.
VII.
IX.
7
20
2,1
6,0
+3,9
VI.
VIL
XIL
10
2
3,0
0,6
+ 2,4
VL
VII.
XIV.
8
24
2,4
72
+ 4.8
VI.
VII.
XX.
1
12
0,3
3,6
+ 3,3
VI.
VII.
XXII.
0
10
0
3,0
+ 3,0
VL
VIL
XXXI.
0
7
0
2,1
+ 2,1
VI.
VIL
X.
15
21
4,5
6,3
+ 2,1
Von No. 6 ab werden die erhaltenen Zahlen und Prozente
so klein, dass man fast von einer Zersplitterung sprerhen
könnte. Aber immerhin wiire es ungerechtfertigt, die angege-
benen Tugenden als Zufallsmeinungen hinzustellen; die Indivi-
dualitäten der Kinder sind schon eben^^o mannigfaltig wie die
der Erwachsenen und ihre Beobachtung und Auffassung ethi-
scher Verhältnisse nicht minder scharf.
Die Ideale der Kinder,
59
Die hauptsächlichsten I^ntcrschiede, welche durch das
Alter bedingt sind, und in den Differenzen zwischen den
Summen der sechsten und siebenten Klassen zum Ausdruck
kommt» sind bei folgenden Tugenden zu finden.
Tabelle 22.
Ge-
schlecht:
Gruppe
Zahl
0/«
Differenz
in %
K.
M.
III.
53
24
159
7,2
4- R7
K
M.
V.
16
22
84
6,6
+ 1,8
M.
IX.
24
OQ
7,2
+ 8,1
K.
M.
X.
7
29
2,1
+ 6,6
K.
M.
XH.
2
10
0,6
3,0
+ 2,4
IC
M.
XIV.
27
5
8,7
1,5
+ 7,2
K.
M.
XX.
3
10
0,9
3,0
+ 2,7
K.
M.
XXXi.
0
7
0
3,1
+ 2,1
Der grösste Unterschied zu Gunsten der siebenten Klassen
macht sich geltend bei Gruppe III; es steht dies völlig in Pa-
rallele mit dem im i. Teile der Arbeit erhaltenen Resultate.
Hier wie dort ist es die Geschichte, welche dir alteren Kinder
mehr fesselt. Auch in Gruppe XIV. („Tapferkeit, Mut") wei-
chen die jüngeren Kinder den älteren um 4,8 0/0 zurück; die
körperliche Entwickelung mag den Hauptgrund abgeben für
diese Erscheinung. Ueberlegcn um 4,2 0/0 sind die sechsten
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60
Klassen den siebenten in Grappe V („Fxdmmigkeit, Heilig*
keif); ob wohl hier die Ursache zu finden ist in dem Um-
stände, dass ältere Kinder schon mehr im Getriebe des Lebeiis
stehen als jüngere?
Auch der Einfluss des Geschlechtes macht sich gel-
tend» wie uns aus Tabelle 22 zu ersehen ist.
Tabelle 23.
Kon-
Oruppe
Zahl
Diffomz
in %
K.
P.
II.
7
1
2,1
0,3
-f 1.8
K.
P.
Iii.
55
22
165
6,6
+9.9
K.
P.
V.
28
10
8,4
3,0
+ 5^4
K.
P.
VIIL
14
6
4,2
1,8
+ 2,4
K.
P.
IX.
27
0
8,1
0
+ 8,1
K.
P.
XII.
10
2
3,0
0,6
+ 2,4
K.
P.
XVII.
3
7
0,9
2,1
+ 1,2
K.
P.
XXXII.
0
4
0
1,2
+ l|2
Die Knaben sind um Z,7 0/0 bezw. 7,2 0/1» mehr beteiligt
in den Gruppen II (»»nationale Thätigkeit) und XIV. (,|Tapfer-
keit, Mut'*), Die Mädchen be^'onugen hingegen religiöse und
sympathetische Tugenden, wie Unschuld, Keuschheit, Glau-
bensfestigkeit, Treue, Fleiss, Elternliebe, Demut u. a. Diese
Differenzen zwischen den Geschlechtem sind so allseitig be-
cy Google
61
kannt, dass es nicht nötig sein wird, die psychologischen und
physiologischen iUrsachen hierfür zu wiederholen.
Auffallender Weise treten auch bei den Konfessionen
Unterschiede zu Tage. Da die Deutung hier besonders schwie-
lig ist, und man leicht zu schiefen Auslassungen kommen konnte^
so seien die diesbezüglichen Daten einfach wiedergegeben,
ohne dass besondere Schlüsse hieraus gezogen würden.
Weiter oben wurde schon einmal betont, dass emunddie-
selbe Persönlichkeit aus verschiedenen Gründen als Idealge-
stalt betrachtet werden kann. Zur lUustrierung dieser That-
Sache wollen wir die Person Karls des Grossen herausgreifen.
Derselbe wurde von 29 Kindern als vorbildliche Persönlichkeit
genannt. Die Gründe hierfür sind folgende :
1. Er sorgte für des Volkes Wohl, indem er Schulen er-
baute, Kirchen errichtete und die Dreifelderwirtschaft ein>
führte.
2. Dieser Fürst that vieles für sein Volk, für Schulen, Han-
del und Verkehr»
3. Dieser Kaiser machte sich den Vorsatz, seine Macht und
sein Land zu vergrössern. Nach Ablauf des Schuljahres will
ich auch darnach trachten, meinen Beruf zu vergrössern.
4. Schon als Jüngling gab sich Karl die Mühe, das Reiten
und FechSten zu erlernen. Er sah auf die Erziehung seiner
Kinder; die Söhne mussten reiten und mit auf die Jagd gehen.
5. Karl war nicht nur ein mäc^iger Beschützer der Kirche,
sondern auch ein weiser Herrscher und bekehrte mehrere Völ-
ker zum Christentum.
6. £r war so einfach und sparsam.
7. £r war ein Beschützer der Kirche und ein weiser
Herrsdier.
8. Er war ein Gründer der Schulen und Kirchen.
9. Wegen semer Frönunigkeit und Tapferkeit.
10. Weil er ein tüchtiger Regent war.
11. Weil er viele Klöster und Bistümer errichtete.
12. Er war ein tapferer Fürst.
13. Weil er fromm, tapfer und macht ig war.
14. Weil er gross und stark war und die Ordnung im Lande
aufrecht erhielt.
15. Er war ein tüchtiger Fürst.
16. Weil er das deutsche Reich ausdehnte.
62
yoh. trUdrich.
17. lir war ein tapferer Fürst.
18. Weil er eine grosse Gestalt hatte.
19. Er Hess seine Kinder in allen Sachen unterrichten und
gründete Schulen.
20. Weil er für das Christentum eiferte und dem hl. Vater
beistand.
21. Weil er ein frommer« fleissiger, tüchtiger^ sparsamer
und guter Regent war.
22. Er war ein braver König und hatte ein grosses Reich.
23. Weil er so edel, schlicht, tapfer, fromm und ein echter
Deutscher war.
24. Er hat sich ein grosses Reich erworben.
25. Weil er fromm, edel, tapfer und klug war.
26. Weil er ein braver, tapferer und sittsamer Mensch
war.
27. Er hat das Christentum beschützt.
28. Weil er einfach und tapfer war und damals das grösste
Reich hatte.
29. Weil er sehr sparsam und kühn war.
Das Vorbild, welches sich jemand wählt, steht in inniger
Beziehung zu seinem eigenen Charakter. Ein Musiker wird
sich einen Musiker, ein Staatsmann einen Staatsmann, ein Ge-
duldiger einen Geduldigen, ein Jähzorniger, der sich bessern
will, einen Sanftmütigen wählen u. s. f. Auch die Kinder ver-
fahren so. Die Beobachtungen, die der Lehrer über den Cha-
rakter eines Kindes im Laufe der Schulzeit machte, werden
harmonieren mit den Schlüssen, welche aus dem Vorbild eines
Kindes auf seinen eigenen geistigen Habitus gemacht werden
können. Zu diesem Zwecke ging ich mit den Lehrern die Ant-
worten der Schüler durch, und wir fanden so eine Zahl sehr
markanter Fälle, von denen mehrere mitgeteilt seien.
1. Ein Schüler wählte sich Karl den Grossen aus dem
Grunde, weil er eine grosse Gestalt hatte. Dieser Schüler ist
aber selbst der Grösste in der Klasse. Sein eigenes Charakter*
istikum übertrug er also auch auf sein VorbUd.
2. Ein Knabe schrieb: „Mein Vorbild ist Christus, weil er
so geduldig war." Diesem Knaben geht es nun zuhause recht
schlecht; er muss viel arbeiten und erhält dazu oft Schläge.
Auf diese Weise muss er sich selbst in der Geduld üben.
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Die Ideale der Kinder,
63
3. Zwei Knaben wählten sich den Fürstbischof Julius Ech-
ter von Mcspelbrunn, weil er die Protestanten aus dem Lande
vertrieb. Beide stammen aus sehr streng-katholischen Faroi*
lien; der Bruder des einen ist katholischer Geistlicher, der an-
dere ist Ministrant.
4. Derselbe Fürstbischof wurde von einem dritten Knaben
genannt, weil er das Juliusspi'nl errichtet hat. Es stellte sich
heraus, dass die Schwester des Knaben einmal in diesem Spi-
tale verpflegt wurde.
5. Ein als gewaltthätiger und wilder Bursche geschilderter
Junge schrieb : „Mein Vorbild ist Hermann der Cherusker, weil
er so gut die Kriege zu führen wusste."
6. Ein Mädchen, das für nicht so bescheiden gilt, wählte
sich die Mutter Gottes, wegen ihrer Demut und Bescheidenheit.
7. Zwei Mädchen wählten sich David; das eine deshalb,
weil er sich nicht fürchtete und den Goliath erschlug, Idas
andere, weil er so reumütig war. Ersteres stammt aus einer
etwas rohen Familie und ist selbst roh angelegt, letzteres wurde
in einer Diakonissenanstalt erzogen und ist fromm und religiös.
8. Ein sehr armes Mädchen schrieb: ,,Mein Vorbild ist
Tobias, \\v\\ c;i gegen die Aimen barmherzig war und die
Toten begiub."
9. Unter den Kindern, welche Kurzhagen seiner Ehern-
hebe wegen aufstellten, sind ein Knabe, dessen Mutter ihn ver-
liess, und der sich mm bei Pfltgeeilern befindet, und ein Mäd-
chen, dessen beide KUern tot sind.
10. Einem gemütvollen Mädchen gefiel besonders eine
Stiefmutter (Gruppe B), welche gegen ihre Stiefkinder recht
gut war. Die Eltern des Mädchens leben noch ; aber in seinem
Hause wohnte eine Stiefmutter, welche ihren Stiefknaben
schlecht behandelte.
11. Ein praktisch veranlagter Knabe, der als kleiner Aus-
läufer in einem Geschäfte sich einige Pfennige zu verdienen
weiss, wählte sich den Erzgiesser Miller; denn die Erzgiesserei
sei ein gutes Geschä;ft> bei dem sich viel Geld erwerben lasse.
Unsere Untersucuhng zeigt durchgehend die Macht des
Beispiels. In dieser Hinsicht brachte sie scheinbar also nichts
neues. Denn im allgemeinen war man ^ich in der Pädagogik
der Bedeutung des Beispiels völlig klar, und es gab Erziehungs-
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ytk. Medrtek.
lelunen, welche mit zwei oder mehr Seiten voU Sinnsprüchen aus
Bibel, Dichtungen und pädagogischen Werken den angehenden
Lehrern 'die Wichtigkeit des Beispiels vor Augen führten.
Durch die eingehende Darstellung der Resultate vorliegender
Untersuchung wird nun im eimeinen gezeigt, wie Persönlich-
keiten auf das Kind wirken, welche Tugenden anziehen und
in weicton Masse bei diesem Vorgänge Alter, Geschlecht, Kon-
fession und individuelle Eigenschaften beteiligt sind.
Man könnte in pädagogischen Kreisen vielleicht versucht
zu sein, zu fragen: Welche besondere pädagogische I^hre
ist aus dieser Üntersuchung zu ziehen? Dem mag entgegen
gehalten werden, was Ziehen s> nämlich, dass die eiqieri*
mentelle Psychologie keine Maschine sei, bei der maii auf der
' einen Seite einen psychologischen Versuch hineinwirft und auf
der anderen Seite ein pädagogisches Rezept erhält. Dochlasisen
sich immerhin folgende Behauptungen und Forderungen durch
unsere Untersuchung stützen :
1. Der Geschichtsunterricht ist ein Gesinnungsunterricht;
nach diesem Gesichtspunkte ist er zu retürrnieren und zu er-
teilen.
2. In der Religionslehre hat das Gemütbildcndc hinter das
Verslandesmässige zu treten.
3. Die Lektüre der Kinder ist sorgfältig zu prüfen und zu
überwachen.
4. Die Umg-ebung des Kindes soll sich beüeissigen, stets
ein gutes Beispiel zu geben.
5. Es verdient eine eingehende Ueberlegung die Furage,
ob sich in den oberen Schulst u Jen der Unterrichtsstoff nicht
der Eigenart der .Geschlechter anzupassen habe.
Für die erziehliche Wirksamkeit des Lehrers wäre es ge-
wiss recht vorteilhaft, die Ideale der Kinder seiner Klasse zu
kennen, namentlich in den oberen Jahrgängen konnte es seiner
Thätigkeit nur erspriesslich sein.
In diesem Sinne diene vorliegende Untersuchung zur An-
regung.
\ i
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Verein für Klnderpsychelo^le zu Berlin.
VII. Sitzung vom 17. Desember 1900.
Beginn; bi* Uhr. Vorsitzender: Herr Stumpf. Schri{ttührcr:
iierr 11 i r c h 1 a t i.
Nach einigen einleitenden Worten des Vorsitzenden hält Herr A. B a -
«insky den angekündigten Vortrag ,,Uehisr Suggestion bei Kindern".
Diskussion: Herr Leuchter: Stehen Erfahrungen fest, von wel-
chem Alter ab eine Autosuggestion angenommen werden kann, und von wel-
chem Alter ab man auf Kinder suggestiv einzuwirken vermag! Muss di«
Suggestion durch Worte geschehen?
Herr A. Baginsky glaubt, dass mit Sicherheit nicht viel jüngere
Kinder als von drei Jahren auf diese Weise beeinflusst werden können. Viel-
leicht aber Hesse es sich auch schon bei jüngeren Kindern nachweisen, da
ja schon Kinder im ersten Lebensjahre psj'chisch zu beeinflussen seien, wie
z. B. die GcwöIinunR scchsmonatliclier Kinder an Sauberkeit u. dergl. beweist.
Herr Leuchter: lit es als Suggestivwirkung auszulassen, wenn
der schreiende Säugling sich beruhigt, trotzdem er statt der Milehflasch«
den leeren Pfropfen bekommt! Dann wäre jedenfalls eine suggestive Ein-
wirkung schon sehr viel frilher möi^ich, als in drei Jahren.
Herr Stumpf würde diese Erscheinung als Suggestivwirkung be-
acichnen. Doch liesse sidi der Begriff der Suggestion schwer fixieren.
Her H e u b n e r: Die erste Rubrik der im Vortrag aufgeführten Falle
gehört in das grosse Gebiet der Hysterie. Ein geistreicher Neurologe der Neu-
2eit hat gesagft: hysterisclie Erscheinungen sind solche Erscheinungen, die durch
Vorstellungen bedingt sind. Atirh für den Begriff der Suggestion sind Vor-
stellungen erforderlich. Aber es giebt bewu^sle und unbcwusste Vorstel-
lungen. Das krankhafte Symptom kann auch durch unbewusste Vorstel-
lungen entstehen. Daher gestaltet sich die ätiologische Erforscbunf der
Hysterie der Erwachsenen und Kinder besonders schwierig. Redner ver-
weist auf die neueren Arbeiten von Möbius u. a. über dieses Gebiet. Aus
seiner cipenen Erfahrung teilt er zwei besonders instruktive Fälle mit. Der
erste betritlt ein Kind, das mit der Diagnose „Rückenniarkscrweitcrung"
in die Klinik eingclietert worden war. Es zeigte eine schlaffe Lähmung
beider Bdne und auch sonst genau die Ersdieinungen, die man bei dieser
schweren organischen Affektion zu finden pfiegt. Erst bei der elektrischen
Untersuchung stellte sich das Irrige der Diagnose heraus, indem der Knabe
atls dem Bette sprang und davonlief. Der Knabe war 9—10 Jahre alt. Formeln
man nun nachr der Ur«ache dieser rätselhaften Erscheinung, so stellt sich
folgendes heraus: Der Knabe war gestürzt und hatte Geschichten gehurt,
wie ein anderes Kind nach einem solchen Sturz unglücklich geworden war;
Zettschrift für pädagogische Psycliologie und Pathologie. 5
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66
iniolgcdcssen wurde bei ihm mit jedem Tage der Gang schlechter, bis zur
vollständigen Lähmung der Beine. Die erst bewusste Vorstellung sank danu
ins Unbewusste. Der zweite Fall betraf einen russischen Knaben, der be>
harrlich jede Nahrungsaubiahme verweigerte, also an einer sogenannten hyste-
rischen Anorexie litt. Als Ursache stellte sich heraus, dass der Knabe, der
mit einem reichlichen Fettpolster versehen war, deswegen von seinen Kame-
raden gehänselt und gehöhnt worden war. Da? ist freilich nur der aus-
losende Punkt, es muss vor allem eine PradispOMiion da sein.
Herr Th. Fla tau: Es handelt sich vor allem darum, den Begriff
der Suggestion zu präzisieren; denn es besteht die CSefahr einer unzulässigen
Verallgemeinerung dieses Begriffes. Der Begriff der Suggestion ist aas-
gegangen von der Hypnose; erst Spater wurde er auch auf Phänomene aus-
gedehnt, die atisscrhalb der Hypnose Ingen. Sieht man ab von den hyp-
noiden Zuständen, die ohne Einwirkung' cinc?^ anderen entstehen, so kann
man sagen, die Hypnose ist eine Einstellung einer Person unter solche Ver-
hiltmsBc, dass die Suggcstibilität der Person erhöht wird. Nun ist es freilich
sehr schwer, die psychischen Zustande zu analysieren, die bei Erscheinungen
auftreten, wie sie vom Vortragenden geschildert worden sind; denn es fehlt
uns die Kenntnis des Individuums vor der Krankheit. Zudem sind die
Erscheinungen der Suggestion ebenso wie diejenigen der Hysterie äusserst
vielgestaltig und unklar. Sofern die Suggestion bei der Erziehung in Betracht
kommt, handelt es sich dabei utn die künstliche Erregung von Lust- oder
Unlustgefählen, die an bestimmte Vorstellungen angdcnupft werden. So ist
die Beruhigung der Säuglinge zu verstehen, wenn sie den leeren Pfropfen in
den Mund bekommen. Im übrigen wäre es wünschenswert, den Begriff
der Siiggestimi noch schärfer zu fassen, so da'^s die täglichen Vorgänge des
Lebens und der Er/ichung nicht ohne weiteres daruiitir vw reihen smd.
Herr Münch daukt dem Vortragenden im Namen der Pädagogen
für die lehrreichen Ausführungen* Nur zu häufig sind die Lehrer geneigt,
Simulation anzunehmen, wo in Wirklichkeit krankhafte Erscheinungen vor-
liegen; ebenso wie die Militärärzte auch. Es gielu ja auch Lehrer, die viel
vom Unteroffizier an sich h ilcn und jedes Unwohlsein der Kinder zunächst
für Simulation halten. Die Seele <le< Kindes ist doch viel geheimnisvoller,
als es den .^n^chrin hat: daher heilst es. Vorsicht üben bei der Beurteilung
der Kinder. Liest njan die Darstellung der Kinderfehler, wie sie von Strümpell
und Koetzle und von Stolz (Charakterfehler der Kmder) gegeben worden sind,
so erscheint uns die Sache zunächst sehr schrecklich, aber in Wahrheit ist
es nicht so schlimm. \'ielo dieser Kinderfehler sind für uns nicht so sehr
Gegenstände des Tadels und des Absehens als vielmehr Probfeme, die uns
die .-Xuigaben der I'.r^iehung interessanter vuid bcfriedieender ^e^italtcn. Deno
nichts ist so fesselnd, als die Umbildsamkeit jugendlicher Menschen zu be-
obachten. Das Abnorme ist geradezu ein Stück der Poesie der Jugend für
die Pädagogen. Zum Schlüsse streift Redner mit einigen Worten die Schul-
arztfrage und weist an der Hand des vom Vortragenden gegebenen Beispiele?
darauf hin, wie nfitzlich und notwendig eine Belehrung der Lehrer durch
die Aerzte sei
Herr Kenisies: Am incre^'-antesten und zugleich der Er-
klärung am schwierigsten zugängUcli sind die psychosenen Störungen
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67
der Kinder, wie sie von Spitzner, dem Bearbeiter der zweiten Auf-
lage des Strümpeirschcn Buches, besonders eingehend dargestellt worden
sind. Es handelt sich um Störungen, die durch Vorölcllungen bedingt sind.
Beispiel: Ein Knabe, der seine Lektion kann, bleibt plötzlich stecken und ver-
wirrt sich. Wir wenden eine suggestive Behandlung an, indem wir hier nicht
Lust und Unlustgefühle erwecken, wie Herr Flatau meint, sondern Iruherc
Bewusstseinszustande hervorzurufen suchen. Es sind dies psychische
Störungen, hervorpcnifen und beseitigt durch p>\ elii>clie .\k(c.
Herr T Ii Flatau U ut diese Einwirkung für leicht verständlich, da
hier eine Siurung ausgeschaltet wird.
Herr Stumpf erörtert den Begrif! der Suggestion. Eine blosse
Erweckung von Vorstellungen ist noch keine Sufl^^tion. Vielmehr muss
man unterscheiden zwischen Vorstellungen einerseits und den Glauben an
das Vorgestellte andererseits; auf den letzteren Sachverhalt komme es bei der
Suggestion an. Hierdurch kann man auch Affekte und VVillensakte sugge-
rieren. Schwierig ist <'.ic Erklanmg, wie die Entstehung des Glaubens etc.
durcii Suggestion un'-^-' ' ieden werden kann von den auf noiinak- Weise ent-
standenen Ueberzeuguagcn. Im allgemeinen wird daran tcstzuiialtcn sein,
dass es sich um eine Entstehung auf „nicht-sachliche" Weise handelt Redner
erinnert z. B, an die Täuschungen, die in der Hypnose möglich sind. Dagegen
liegt keine Suggestion vor, wenn man einem Knaben gütlich zuredet, der
deprimiert ist, und ihn dadurch von seiner Verwirrung abbringt. Die Erweite-
rung des Begriffe«; der Suggestion, wie sie von Schmidkunz. Tardc u. a. vor-
genommen worden ist, hält Stumpf für fehlerhaft und missbrauchlich. Eine
scharfe Abgrenzung gegen andere Begriffe ist unbedingt erforderlich; die
Hervorhebung der nicht sachlich motivierten Entstehung der betreffenden
Erscheinungen sollte nur eine Andeutung in dieser Beziehung sein.
Herr Münch: Der Begriff der Suggestion wird ausserhalb Deutsch-
l.-inds viel weiter gc'asst, als b i im-. Das ist ein grosser Ucbclstand. der
sich übrigen? auch bei anderen liegriffen bemerkbar macht. Bei vielen
Schriftstellern wird a!s .Sim^esi lon jede EiTipHnnrnii},^ einer Vursicliung,
Stimmung etc. von einer Person in die andere angesehen. Hier ist eine
schärfere Bestimmung erforderlich.
Herr A. B a g i n & k y betont in seinem Schlussworte, auch er sei
gegen die Ausdehnung des Bcgrififes der Suggestion auf die Erziehung. Bei
dem Vorgange der Suggestion geschehe etwas besonderes: eine Einschrän-
kung yon Associationsvorsteltungen, so dass eine Vorstellung die beherr-
schende wird und die anderen ausgeschaltet werden. Diese Einschränkung auf
einen bestimmten Punkt und das daraus folgende Niederhalten aller übrigen
Vorstelhmgcn sei das Wesentlielie l)ei dem Vorganpe der Suggestion. Aller-
dings dürfe man dieses Prinzip nicht ausdehnen aui alle Vorkommnisse im
Leben und in der Erziehung. Bei ersterer will der Lehrer z. B. zumeist gerade
umgekehrt Associationen erwecken und verknüpfen. Vielfach wirkt übrigens
das Milieu so wunderbar, wie z. B. in Lourdes. da^s alle anderen Vorstellungen
dadurch ausgeschaltet werden. Suggestive Einwirkungen auf ganze \^^lker-
schaften und Völkerschichten sind wohl möglich; es handelt sich dabei um
voreingenommene Begriffe, die die Leute derartig gefangen nehmen, dass
5'
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68
kein« anderen Vorstellungen dagegen aufkommen können. So erklaren sich
die unbewusst geleisteten Falscheide in manchen als causes ceUbres behan<*
delten Prozesse, die oft viel Uns^lück anrichten. —
Schluss der Disktissioti Uhr.
Es folgt der zweite Punkt der Tagesordnung; Die Berichterstattung
des Vorsitzenden über das abgelaufene Vereinsjahr.
Der Vorsitzende giebt einen Rückblick über die Entwickelung des
Vereins in seinem ersten Lebensjahr, insbesondere über die Vortragsthemata,
und teilt mit, dass die Sitzungsberichte zusammengeheftet nebst einem Mit-
gliederverzeichnis an die MigHeder versandt werden sollen. Die Vorträge
aber sollen, naclidem sie gedruckt sein werden, in einem Sammelbande ver-
einigt den Mitgliedern zu dem Preise von 1 Mark zugänglich gemacht werden»
während sie an Nichtmitglieder zu einem höheren Preise verkauft werden.
Schluss der Sitzung: 9 Uhr 40 Min.
"St
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Sitzung vom 25. Oktober 1900. Vorsitzender: Proiessor Dessoir,
Schriftführer: H. Giering. — Vortrag des Herrn Dr. Turck
(aus Jena): IMe Psychologie des Genies in Goethes Paust
Tfirck geht aus von Goethes eigenen Definitionen vom Wesen des
Genies. Das eine Mal setzt Goethe das Genie gleidi der oProduktioiiakrafl".
das andere Mal gleich der „Wahrheitsliebe". Türck zeigt, wie die eine
Definition mit der anderen zusammenhängt: Nur der besitzt Produktions-
kraft und vermag: schöpferisch thätig zu sein, der infolge seiner Wahrheits-
liebe .,die wahre Beschaffenheit der Dinge" erkennt. Wer die Dinge nicht
sieht, wie sie wirklich sind, der bewegt sich in lauter Einbildungen und jagt
„Idolen, Trugbildern und Gespenstern" nach; er erkennt nicht die springenden
Punkte und weiss nicht, wo dteHdiel aninsetitti sind, um schöpferisdi wirksam
zu sein. Für Goethe ist aber auch Gott identisch mit der höchsten Produktion;-
kraft, und daher ist anch das Genie als schöpferisches Wesen ein .\usnuss der
Produktionskraft Gottes. So hoch aber aucli das Genie in «einer sclujpferischen
BetUätigung steigen mag, immer bleibt auch sein bestes Thun nur ein Hinweis,
ein Qeictmis» ein Symbol der höchsten Schöpferkraft Gottes, und darum
erklärt Goethe (Eckermann 2. Mai 1624): „Ich habe all mein Wirken und
Leisten immer nur symbolisch angesehen". Dem entsprechen auch die
Worte des cliorus mystictis nin Schluss des zweiten Teiles: „Alles Ver-
gängliche ist nur ein Gleichnis". Die Idee des Ewigen hebt also den
genialen Menschen immer wieder über die endlichen Grössen hinweg und
setzt ihn so in den Stand, immer wieder von neuem beginnen au können und
nie in seiner lebendigen Thäligkeit zu erschlaffen. Zahlreich sind die Stellen,
in denen dieser Ewigkeitsdrang und diese Schöpfersehnsuclii des Helden im
Faustgedicht betont wird. Die Wette des HHerm" mit Mephistopheles, wie
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SUsuHgsberkkie,
69
auch die Fausts mit dem Teufet, haben gletcbfalts zu ihrem Inhalt nichts
anderes als die Betonung der Zugehörigkeit Fausts, des produktiven Genies,
zum „Herrn", zu der ewigen Produktionskraft. Der Herr spricht die be-
stimmte Erwartung aus, dass es Mephistophclcs tiiclit gelingen werde, „diesen
Geist von seiner Urquelle abzuzith'n"'. Fanst druckt in meiner Wette dasselbe,
nur in anderer, negativer Form aus, indem er erklart, der Teufel werde ihn
nie dazu vermögen, an der eigenen, unvollkommenen Person oder an den
vergänglichen Gütern und Genössen dieser Welt unbedingtes Gefallen zu
finden, denn dann würde sich der Zusammenhang mit der ewigen Produktions-
kraft Gottes ve rlieren, FaMst würde am Stoffe kleben und, statt ein im eminenten
Sinne Tliatiger zu sein, ein Ruhender werden; er würde steh ..benihigt aul
ein Faulbett legen ". Statt in beständigem Schöpferdrang über jeden Augen-
blick, auch über den schönsten und kostbarsten immer wieder hinaus zu
streben, einem ewigen Ziele zu, wurde er den Augenblick verweilen heissen
und damit, aus dem Fluss des lebendigen Werdens herausgerissen, ein Fer-
tiger, Starrer und Toter sein, also das Prinzip des St.^rrcn. Toten und Leeren,
dessen Vertreter Mephistophelcs ist, als Herrn ancrkeiinen.
Faust bleibt in der That ein ganzes langes Leben hindurch bis kurz
vor seinem Tode das imduktive, eminent thätige Genie, das das Bdse nur
als Mittel zum Zweck benutzt. Im Liebesgenuss im Verkehr mit Gretchen, im
Schönheitsgenuss in der Verbindung mit Helena, im Thatengenuss in der
Schöpfung der Lebensbedingungen für ein ganzes Volk, immer ist l'avist der
„Werdende*", wahrhaft Aktive, der bei der innigsten Antcilnalimc doch
innnerlich niemals mit hincmgezogen wird in die Endlichkeit und Vergäng-
lichkeit der Erscheinungen; denn seinen Liebes-, SchÖnhcits- und Thaten-
genuss nimmt Faust nur als ein G 1 e i c h n i s , ein 5 y m b o 1 einer höchstes
unendlichen Liebe, Schönheit und Schöpferkraft So bleibt er, der „immer
strebend sich bemüht", im bestandigen Produzieren, und so kann der ewige
Teil in ihm, der mit der ewipren Produktions^kraft Gottes zusammenhängt, ge-
rettet werden, trotzdem er ganz zuletzt im Slerlien von der teuflischen Sorge
geblendet, von philisterhafter Furcht und lioifnung crfasst, seine Wette ver-
liert und in dem „letzten, schlechten, leeren Augenblick" die höchste Be-
friedigung zu finden meint. Weiter ausgeführt sind diese Ideen, zur Er-
klärung des Faustgedichts in der dritten und noch ausfuhrlicher in der vierten
Auflage von Hermann Türcks Buch- „Der ^retiiak Mensch" und 189f),
ferner in seinem Artikel .Die Bedeutung der Magie und Sorge in Goethes
, Faust'" im Goethe-jahrbuch 1''00, sowie in seinem Aufsatz »,Zwei der
grössten Menschenfeinde' und ihre Rolle in Goethes »Faust'* in Bühne tmd
Welt, Band HI, Heft 1 und 2 vom 1. und 15. Oktober 1900. Neu ist jedoch
in dem in der Psychologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag Türck's. dass
er von Goethes eigenen Definitionen über das Genie ausgeht und damit die
Erklärung des Faust verbindet.
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Berichte und Besprechungen.
L. W. Stern. U e b e r P y c h o 1 o g i e der individuellen
D ii i e r e n z e n (Ideen zu einer „diüerentiellcn Psychologie"). Schriften der
Gesellschaft für psychologische Forschung. Heft 12 (III. Sammlung). Leipzig.
Verbg von loh. Ambr. Barth, 1900. — VIII. u. 146 Seiten. Preis 4.50 Mk.
Wenn auch in vorliegendem Buche sich manches Bekannte findet, das
nur in formeller Hinsicht ein Neues ist, so wird es doch zu Jenen Werken
7u rechnen sein, welche neue Wege zeigen, neue Aufgaben stellen, und neue
Problenie dtn Im «rachern vorführen. Es will eine Psychologie der individuellen
Differenzen anbahnen und somit „das gewaltige Problem der Individualität"
zur Losung stellen. Dass diese Aufgabe „doppelte Besonnenheit und Kritik"
erfordert und dabei „grösste Langsamkeit im Vorwärtsschreiten geboten"
SS, bedarf kaum noch eines Hinweises.
Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte:
I. Wesen. Aufgaben und Methoden der dtfferentiellen Psychologie
(S. 1—40). — II. Ueber einige Gebiete seelischer DlfTerenziierung und ihre
experimentelle Bearbeitung: (S.40— 13"2,i. — III. BibIiograi)hie (133—146).
Uns interessiert hier besonders der I. Abschnitt, da er die grund-
legenden Gedanken der neuen Wbsenschaft giebt
Der allgemeinen oder generellen Psychologie, welche sich mit der
„schablDiiisiertcn Menschenseele" befasst. reiht sich als Ergänzung an „eine
differentielle Psyeliologic". Die Aufgaben derselben bilden eine Trias: ,,sic
betreffen 1. die Differenzen selbst. 2. ihre Bedinginigeii und ihre Aeusse-
rungen". Oder in Fragen: 1. Worin bestehen die Dift'ercnzen? (DifTerenzen-
lehre), 2. wodurch sind die Differenaen bedingtl (differentielle Psychophysik),
8. worin äussern sich die Differenzent (Symptomenlehre oder Diagnostik).
Das „theoretisch'ste" aber auch das „wissenschaftlich wertvollste" Problem
ist das erste dieser Dreiheit. Die sopen. praktische Menschenkenntnis ist
nichts weniger als eine wissenschaftlifhc Lehre von den psychischen
Differenzen. Von der psychischen Diticrcnzenkhre verlangen wir vieiraehr
folgendes: „Auffindung und Beschreibung der wirklich vorhandenen
seelischen Verschiedenheiten; Nachweis derselben als besondere Erscheinungs-
fonnen jener allgemeinen psychischen Elemente, Gesetze, Funktionen und
Dispositionen, die nn«; die generelle Psychologie kennen lehrt; Einordnung dei
psychi-M-lun Be-^cmtlerli-jilen in Typen; Untcrsucluing. wie aus dein Zu-
sanimentrcfTen gewisser einfacher Typenformen komplexere Typen entstehen;
schliesslich Einblick in das Wesen der Individualität, indem man sie als
Kreuzungspunkte verschiedener Typen betrachtet'' Bei der Bearbeitung dieser
Probleme ist stets zu beachten, dass die Verbindung mit <Ut allgemeinen
Psychologie gewahrt werde. ..Die laienhafte Anschauung, dass das Indivi-
duum X. gewisse ..Eigenschaften" hat, die Y. nicht besitzt, ist aufzugeben.'*
Die diiTerentieile Psychologie hat vielmehr nur das als „Eigenschaft" eines
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Berichte und Besprechungen.
71
Tilcnschen zu acccpticren, ,,wa'! sich als behuiKicrc Dascinsiorni, al$ „Varietät"
«incr generellen psychischen Eigenschatt ausweisen kann."
Ordnang in das flicfsende Durcheinander der seelischen Differenzen
Iringt der sehr wichtige Hilfsbegriff: der Typus. Nur der psychologische
Typus ist hier ins Aoge xtt fassen. „Diese Typen sind nun nicht streng
gegen einander abgegrenzte K!a<:scn, sondern bezeichnen in dem Kontinnnm
■der Variationsmoglichkeiten nur die Wellen^ipfel." Der Inbegritt mehrerer
<lerselben seelischen Funktion zugehöriger Typen sei als Typik bezeichnet.
Ein Individuum kann nicht unter einen Typus restlos eingereiht werden.
„In jedem Einzelwesen findet sich eine Mehrheit, ja eine Anzahl von Typen
vereinigt'* Von der Aufstellung und Beschreibung der Typen ist fortzu-
schreiten zu einer Untersuchung der Typenbeziehungen. Stehen die Typen
leJiKlich nebeneinander, so bilden sie einen Typenkomplex; sind sie aber
durcheinander bedingt, so stellen sie einen komplexen Tj'pus dar.
Das Problem der Individnalit.it i-;t die bocbste aber auch schwierigste
Aufgabe der Differential - Psychologie. In seiner Eigenart ist das
einzelne Individuum nicht zu erschöpfen, sondern nur zu charak»
terisieren. Es geht auch nicht in Gesetzmässigkeiten und Typen restlos
auf; es bleibt vielmehr iinmer ein in fachwissenschaftlichen Begriffen unaus-
<lrückbarer, imkla^sifizierbarer, inkommensurabler Wesenskern. „In diesem
Sinne ist das Individuum ein GrcnzbcKriii. den» die theoretische Forsclnmg
zwar üustrcben, den sie aber nie erreichen kann; es ist, so könnte man sagen,
die Asymptote der Wissenschaft,,. Wetm auch bei der Detailarbeit die
Metaphysik lieiseite zu lassen ist, so muss trotzdem die Differentialpsychologie,
wenn sie ins Weite dringen und in die Tiefe blicken will, sich mit meta-
physischen Ideengängen vertrauter machen.
Da die bislang üblichen Begriffe ,, normal" und „abnormal" zu vielen
Misfdcutungen Anla><; geben, so sind an ihre Stelle die feineren „typisch"
und ,, atypisch" 7x\ se tzen.
Die AI e t Ii ü d e n der jrenerellen Psychülo;j:ie sind auch die Methoden
der Ditferentialpsychologic. Es koninU demnach eine Sechszahl in Betracht:
1. die Selbstbeobachtung, 2. die Beobachtung anderer, 3. Verwertung von
Oeschichte und Poesie, 4. Kutturstudium, 5. die Massenprüfung oder Enquete
und 6. das Experiment.
ad. 1. Die Selbstbeobachtung lehrt uns höchstens unsere eigene Psyche
kennen, aber sie kann nie und nimmer zu einer differentiellon Psychologie
führen. Sie ist vielmehr ein ,.nie zu vernachlässigender Prüfstein für den
Wert diiferentiell-psycholo^ischer HrL;ebtiisse".
ad. 2. „Die Beobachtung anderer ist die natürlichste, und ich möchte
sagen, selbstverstSndlidiste Methode der Differentialpsychologie." Doch ist
es mit der grobkörnigen Beobachtung nicht gethan; „Schulung nicht nur in
intuitiver Menschenkenntnis, sondern in theoretisch-psychologischem Denken,
Beobachten und Deuten" ist unbedingt nötig. Sow ohl das normale Individuum
als auch der abnorme Mensch können der Beobachtung wertvollen Stoff
liefern.
ad. 3. Die Geschichte liefert durch Schilderung hervorragender Indt-
s'tdualitäten, wie sie in Geschichtswerken, Biographieen und Autobiogra"
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Berichte und BesßireAuitgeru
phieeii. Memoiren und iagcbüchcrn niedergelegt sind, der Differentialpsycho-
logie reichen Stoff. „Aber die Gefahren einer derartigen Heldenpsychologic
sind nicht zu verkennen, denn der Seelenforscher ist gezwungen, durch die
Brille des Hisloiikers und i oirensclireibers zu blicken, die Ja> Bild oft
färbt ut;d vcr7errt.'„ In noch h- liereiu J^Iasse ist grosse Vorsicht am Platze
gegenüber dem fingierten Iniiividuum" der diclitcrisciien Schöpfungen. „Aus
dichterischen Fhantastegcbilden wissenschaftliche Schlüsse ziehen, hiessc ge-
malte Kühe melken wollen!*' Die dichterischen Fiktionen „sind brauchbar,
ja unersetzlich nicht als Argumente, wohl aber als Paradigmata."
ad. 5. Die Massenprüfung hat, sofern sie auf einer schriftlichen Um-
frage an mögliehst viele (und oft p«;ycho!ogisch ungebildete) Personen fusst.
wenig Wert. Erst die Inanspruchnahme der Mitarbeit anderer geschulter
Fachmanner macht die Resultate von Enqueten brauchbarer.
ad. 6. Die wertvollste Methode der Differentialpsychologie ist ohne
Zweifel das Experiment, das ja auch in der yeiu r«. Ikn Psychologie schon
eine reiche Ausbeute geboten Imt. Das schon in iKr alli:cmeinen Psychologie
experimentell gewonnene Material wäre tininal in erster Linie auf sem«*
etwaige diiierentielle Ausbeute zu durcinnustern. Ferner sollten künftige
Forscher auf jenem Gebiete alle sich ergebenden Individualitätsunterschiede
sorgfaltig sammeln. Den „mental tests" (Seelenprüfungen) wie sie in Amerika
und Frankreich (hier von Binet und Henri) eingeführt wurden, ist wenig Wert
bcii-ume^sen. Stern nennt sie nicht nur „experimentelle Scheinprüfungen" son-
dern sogar ,,das Bertillonsche Folizcisysiem in p>.vchologischcm Gewände."
Auch die „lests", welche von Cattell, Münsterberg, Jastrow und Kräpeiin
vorgeschlagen wurden, sind nidit einwurfsfrei, wenn sie auch manches Wert-
volte und Anregende liefern. Gewarnt muss werden vor der vorzeitigen
praktischen Verwertung der Ergebnisse solcher Methoden. , .Arbeiten wir
ra.<itlos, aber ha«^t!o«i die theoretischen Probleme ans. der praktische Erfolg
wird dann, wenn seine Zeit gekommen i!>t. als ausgereifte Frucht vom Haunio
fallen: Der Diagno&is und Prognosis geht die Gnosis voran." „Nach allem
Gesagten hat also heute die methodologische Forderung für das differentielle
Experiment nicht zu lauten: kurze und gedrängte Früfungsserien, welche die
Gesamteigenart des Individuums charakterisieren, sondern: exakte Spezial-
untersuchungen, di<* prceij?net sind. Aiifschluss zu geben ülicr die Variations-
weisen und die typischen Erscheinungsformen bestimmter Einzelgebiete."
Im % Abschnitte des Buches werden an der Hand folgender Fragen:
1. „Welches sind die hauptsächlichsten Richtungen der indhnduellen
Differenziicrung seelischer Funktionen, 2. wie lässt sich das Experiment für
ihre Untersuchungen nutzbar machen?", nachstehende Gebiete durchgegangen,
wobei es an kritischen Bemerkungen und neuen Aufgaben nicht fehlt:
Sinnesempfindlichkeit, Anschauungstypen, Gedächtnis, Associationen, Auf-
fossnngstypen, Aufmerksamkeit, Kombinationsfähigkeit, Urteilen, Reaktions-
tpyen, Geffihle, das psychische Tempo» p^chische EnergetBc.
Der 8. Abschnitt bringt eine ssrstematiseh geordnete Bibliographie voi>
190 Nummern. —
Zum Schlüsse unserer Besprechung möchten wir dem Buche recht viele
Leser und der differentiellen Psychologie noch mehr Arbeiter wünschen,
Würaburg. Friedrich.
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Berichte und ßcsprechungm.
n
Heinrich W. Die moderne p h y s i o 1 u ij; i s c h c Psycho-
logie in Deutschland. Eine historisch-kniischc Uuiersuchung mit
besonderer Berückstchtigting des Problems der Aufmerksamkeit. 2., teil-
weist umgearbeitete und vergrösserte Ausgabe. Zürich, E. Speidel, 1689, 8*,
249 ScKten.
Im Vorwort zur ersten Ausgabe hat der Verfasser kurz sein Programm
niedergelegt. Er will nicht den vielen subjektiven >rcinungcn aiKkrcr eine
neue hinzuiugcn; er will vielmehr jene an einem objckiivciv Massstabe messen,
und als solcher schien ihm allein das Gesetz des psychophysichen Paralldis-
mus tauglich. Theoretisch hätten es alle modernen Psychologen anerkannt;
vne weit sie ihm praktisch tieu geblieben seien, das eben solle die Kritik
zeigen. Welche von den verschiedenen Spielarten dieses Gesetzes sich der
Verfa?^<^er zu eigen gemacht hat, das erfahren wir allerdings erst im Ver-
laufe der Untersuchungen.
Eine etwas allzu weit ausgreiiende üiniemmg gicbt uns in kurzem Ab-
riss die Geschichte der Psychologie vom Untergange der griechischen Philo-
Sophie bis zu G. Th. Fechner. Audi hier stdit dem Verfasser das Problem der
Aufmerksamkeit im Mittelpunkte des Interesses. Doch bleiben Bonnet und
Platncr ganz unerwähnt, ebenso Volkmann, während Drobisch und Waitz
mehr als lünt Seiten gewidmet sind.
Mit der Besprechung Fechners betreten wir das eigentliche Gebiet der
Untersuchung. Eine eingehende Darstellung des Weber-Fechnerschen Ge-
setzes und der von Fechner in die experimentdle Psychologie eingeführten
Methoden sagt uns kaum etwas Neues. Dagegen hätten Fechners Unter*
snchungcn über die Rolle der Aufmerksamkeit beim Wettstreite der Sehfelder
nicht mit Stillschweigen übergangen werden dürfen.
Seine gebührende Wiurdigung iindct Helmho'ltz. Dem Urteile
Heinrichs über G. E. Müllers Aufmerksamkeitslebre, sie sei „in ihrer Aus-
führung veraltet und daher unhaltbar", können wir jedoch nicht beistimmen.
Die Umarbeitung dieser Theorie durch A. Pilzecker erhält das Prädikat
„zu schematisch".
Der breiteste Raum ist. wie zu erwarten. W. Wundt eingeräumt; seine
Lehre findet wenig Gnade vor Heinrichs .\ugen. Seine Stellung zum
psychophysischen Parallelismus ist schwankend und undeutlich, tr geht an
die Untersuchung der psychischen Phänomene mit dem philosophischen Vor-
urteil, dass die Triebanlage das primäre jedes psychischen Lebens seL
Sehr gering schlägt Heinrich die Bedeutung der experimentellen Methoden
der Zeitmessung an. Mit Recht bekämpft er die Deutung, die Wundt den
Messungen 7U?aninicngeset?tcr Reaktionen gegeben hat und scbliesst sich
Munsterbergs Urteil über solche Zahlenwut an; doch hält er diese Periode
auch in der Wnndtsehen Schule für fiberwunden. Zum Schlüsse wird Wundta
Aufmerksamkeits^Theorie gewogen und zu leicht befunden.
Unter den Schülern Wundt.^; wird N. Lange an erster Stelle genannt,
von dem wir eine einheitliche Theorie der Aufmerksamkeit besitzen. Ent-
gegen der .\^^icllt Langes und einer Reihe Schüler Wundts, wie Pace, Eckenei,
Marbe, Lehmann stellt sich der Verfasser, auf eigene Untersuchungen gestutzt,
mit Munsterberg auf den Standptmkt, dass die Schwankungen der Aufmerk-
samkeit peripher, nicht central erregt seien. Gegenüber Wundts Theorie der
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74
BerkMt wtd BttpnchuHgen.
Aufmerksamkeit bildet die Langes wegen der grösseren Beräckstchtigang der
Assoziation einen Fortschritt; doch sind Langes Ansichten über die £nt<
stehung der Muskelcmpfindungcn mit den Forderungen der physiologischen
Psychulogie ebenso unvereinbar wie die Wundts.
Recht schlecht fahrt Kulpe, dessen Lehre wis^ciischaUhcli ohne Be-
deutung sei und origineller Gesichtspunkte entbehre. Sein Versuch, sich im
Gegensatz TO Wandt rein deskriptiv su verhalten» werde häufig durch die von
jenem überkommene rationalistische Betrachtungsweise durchbrochen, so auch
in seiner Behandlung der Aufmerksamkeit.
Als crfolprrcichen Bekämpier Wundts und seiner Schule nennt uns der
Verfasser Münsterberg, der, mit Wundts bester Waffe, dem Experiment, aus-
gerüstet, jenem zu Leibe gehe. Er habe es gewagt, aus den psychophysischcn
Gesetzen diejenigen Konsequenzen zu ziehen, die Wund! zu ziehen nicht wagte.
Doch auch er cnlK'eht nicht schwerem \'orwurf: In der Kritik liege seine
grösste Stärke, die Erklärungen für die Resultate seiner cis^enen ^*ersuchc
seien überall lückenhaft und oberflächlich. Der Versuch, mit liih'e der
Assoziationsgesetze das psychophysische Geschehen zu erklaren, sei ge-
scheitert. Heftig bekämpft Heinrich Münsterbergs Aufmerksamkeits-Theorie
und bespricht hier zugleich diejenige von Ribot, auf die sich Munsterberg
stützt. Danach soll die Aufmerksamkeit im wesentlichen ein Komplex von
Muskelempfindungen sein. Unbegreiniclierwci^e wird der gnnz ähnlichen
Lehre E. Machs tnit keinem Worte ).:edaclit. Wenn es endlich von der
Psychologie der Zckschatzung heisst, sie sei durch Münsterbergs Arbeit er-
klärt» so möchten wir dies sanguinische Urteil durchaus nicht unterschreiben.
Dass Th. Ziehen nicht auf Heinrichs Zustimmung rechnen kann,
leuchtet ein, wenn man sich an Ziehens Behauptung erinnert, dass es
psyrhische Vorgänge ohne materielle Grundlage gebe. Höchstens, meint der
Verfasser, dürfen wir die Existenz von psychischen Vorgangen behaupten,
für die wir kein physiologisches Korrelat kennen. Er verwirft Ziehens
Anschauungen über Erinnerungszellen tmd Erinnerungen ebenso wie dessen
prinzipielle Unterscheidung zwischen innerer und äusserer Assoziation, wo*
durch er auch 7\\ IT. Ilöidin^j in Gegensatz tritt. Von den vier Assoziations«
f^e-^etzen Ziehens verwirft Heinrich alle au«;ser dem ersten und folglich auch
die au; jenen aufgebaute Aufmerksamkeitslehre. Ziehen hat überdies die
sinnliche Aufmerksamkeit ganzlich vernachlässigt
Durchaus gerühmt wird allein Rd. Avenarius, dessen erkenntnis-
theoretische Untersuchungen auch für die Psychologie von hervorragender
Bedeutung geworden seien. Zwar gebe er nicht und wolle auch gar nicht
geben eine Theorie der Air'ri'erk^amkeit. doch fände sich bei ihm die des-
kriptierte Bestimmung fast aller ihrer einzelnen Bestandteile. Besonders wird
die Ausschaltung des Bewusstseins bei Avenarius gerühmt; wie nahe sich
dieses hier mit E. Mach berührt, scheint dem Verfasser entgangen zu sein.
An letzter Stelle finden wir eine, erst in der zweiten Auflage eingefügte
Besprechung Exners. Dessen phy<;iolngi';che r,rundannahmcn häh Heinrich
zum Verständnis der nervösen ErscheinunRen iur ausreichend: nur an dem
Begriffe der Hemmung, unter dem Exner zu heierogene Erscheinungen zu-
sammengefasst hat, könnte man Anstoss nehmen. Eine Erklärung der
psychischen Erscheinungen hat er nicht nachgewiesen, und er durchbricht die
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Berichte und Besprechungen.
75
Geschlossenheit der physischen Vorgänge, indem er den Wiilcnsimpuls neben
den physiologischen Erscheinungen als besonderen Faktor stellt; daraa leidet
auch seine Ertdänitig der Aufmerksamkeit
Zum Schlüsse fasst Heinrich seine kritischen Bemerkungen noch einmal
kurz zusammen und giebt seinen eigenen prinzipiellen Standpunkt, wie er ihn
im wesentlichen schon in seiner, 1899 erschienenen und an dieser Stelle be-
sprochenen Schrift: Zur Prinzipienfrage der Psycho1o(?je, niedergelegt htt.
Von den 2 W'egcu, Uic (i':^ Methode der Psyclioh^gie zu Gebote stunden,
verwirft er den von Cornelius gewühlten, der sich ganz aut die Anaiyse des
Selbsterlehten beschränkt; ihm scheint nur der andere gangbar: die Unter-
suchung des Mitmenschen. Der Mitmensch sei uns eben so objektiv ge*
geben, wie der Naturwissenschaft ihre Objekte, seine Aeusserungen machten
tins sein psychisches Leben verständlich. Uns scheint dieser Weg, von dem
auch Ilcinricli voraussieht, dass er als allzu physiologisch werde getadelt
werden, alles eher als Psychologie zu sein.
Beriin. O. Pfungst.
Alexander Bennstein. Die heutige Schulbanki'rage. 3. Aufl.
1900. Berlin, Buchhandl. der deutschen Lehrerzeitung (A. Zilessen).
Die 3. Auflage des Bennsteinsdien Werkes ist durch die Aufnahme der
in den letzten 2 Jahren bekannt gewordenen neuen Systeme, durch Einschaltung
neuer Abschnitte und Ergänzungen, sowie durch neue Abbildungen vermehrt
und an vielen Stellen verbessert worden. Sie bihlet jetzt eine möglichst
vollständige und recht übersichtliche Darstellung der verschiedenen Systeme.
Vorangeschickt werden die an eine brauchbare Schulbank zu stellenden An-
forderungen in hygienischer, pädagogischer und technischer Beziehung. In
einer Schlussabhandlung: „Ist die Schulbankfrage nunmehr getost?" nimmt
der Autor sodann selbst Stelluiig und giebt schliesslich ein Schema, wie man
sich zweckmässig über den Wert einer Schulbank unter Berücksichtigung aller
Gesichtspunkte ein richtiges Urteil bildet.
Im einzelnen möchten wir bemerken, das die lobenswerte Absicht
des Verfassers klar und übersichtlich zu sein, teilweise zu allzu kurzer
Darstellung geführt hat. So vermissten wir hauptsächlich bei den an eine
Schulbank zu stellenden Anforderungen eine Begründung derselben. Wir
widersprechen deshalb diesen Aenderungen nicht — sie sind ja auch allgemein,
anerk.-tnnt — , das Werk verliert dadurch aber an Wert für einen Anfänger,
der sich noch nicht mit der Frage bcsoh.tftiKt hat. Andcrer^^eits hat B. bei
<ier Besprechung der einzelnen Sy.steme bezw. Systemgruppen es vorzüglich
verstanden, das für die Beurteilung Wesentliche hervorzuheben, sodass dem
Leser ermöglicht wird, auch über ein ihm bisher unbekanntes System sich
schnell und sicher ein Urteil zu bilden.
Die l'Vage: „Ist die Schulbank frage nunmehr gelöst?" kann auch B.
nicht bejahen. Für ieden unbefangenen I-e«cr muss ja schon allein der
Umstand, dass vorher gegen 2'X> Systeme cliarakterisiert wurden, den Gedanken
nahelegen, keines derselben genüge allen Anforderungen, da sonst die
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76
Beriekte und Baprtchungtn*
übrigen mehr oder weniger überflüssig seien. B. glaubt insbesondere
nicht — und mir müssen ihm darin beistimmen — , dass die Schiilbankl'rage ani
ilem VV'cgc der grusstmoglichen Verstellbarkeil d< r liunk gelost werden wird.
Ans den verschiedensten Gründen kommt er zu dein Sohluss, dass die Ri tiig-
Bank bisher die praktisch verwendbarste sei. Is.icli unserem Geschmack be-
tont er die ökonomischen Gründe dabei allzusehr, wenn wir auch seinen
Ausführungen im wesentlichen Recht geben müssen. Wir finden es aber
durchaus berechtigt, wenn die Miinncr der Wissenschaft hauptsächlich die
hygienischen und piidagogischen Forderungen urgicrcn und sagen, dass für
den Nachwuchs unseres Volkes das Beste gerade nur gut prnui' ^oi. D:i«
Kcchnen und das Ab&lreiclicn von unseren Forderungen werden uil üehurdcn
und die Stadtviter auch ohne uns vornehmen.
Ueber das zum Schluss angegebene Schema für Bewertung einet»
Systems können wir kurz, hinweggehen. Für Pedanten, die gewöhnt sind,
aHe"; nach einem Schema zrihlcnmä??!? au^T-urechnen, scheint es uns «ehr gut
;insi^c(Iarht :^ti sein. Männer. Jic das F"ur und Wider mit ufiencni Kopl nach
allen Richtungen zu erwägen pilegen, werden es raeist entbehren können.
Fas»en wir unsere Meinung über die Abhandlung zusammen, so können
wir dem Verfasser nur danken für die klare Zusammenstellung der in Betracht
kommenden Fragen. Für viele — wir denken dabei beispielsweise an die in
n.'ichstcr Zeit zur Ansteif untj kon' inenden Schularzte, von denen vielleicht
mancher seit der üniversiialszeil die Frage ruhen Hess — wird die Schrift
ein willkommenes Mittel zur schnellen Orientierung sein.
Berlin. Dollhardt.
K. O. Beetz, Einführung; in die racclenic P.'-ych(iloj:jie
T, Teil: Allfi^enieine Grundlegung. (Ans: Der Bücherschatz des,
Lehrers, Heraiisn^enrebcn von K. O. Beetz, Bd. II). Osterwieck-
Harz, A. W. Zickteldt, 1900. 424 S. und 4 Taf.
Der Verlasser. Schuldirektor in Gotha, hat sich die dankenswerte
Aufgabe gestellt, in dem „Biicherschatz des Lebens' ein ,,\K'issen8chaftliches
Samnwlwwk nur inteUektnaUeD nnd mattrieUen Hebung das Lehrentandea«
zn schaJIbn. Zn dlMtm Zwadc« haben aich hervomgende Spezialgelehite
und ünlversitäteprofessoren — genannt werden im Prospekte Herr Schulrat
Polack und Hr Kant/^r Saueracker — unter seine Leitung gestellt, um in
rascher Folge das Gebiet der Somatoiogie und Psychologie, der Logik und
Ethik, der Beligion, Oeachichte und Mathematik, der Bieneiancht^ HtLhner-
pllege und ntionellen Landwirtechaft so bearbeiten; ein ITntenieihiiien, das
naeh der Versicherung dee Verlegen t^en Stwnpel der Gediegenheit in Jeder
Ee7:iehung an d^r Stirn trägt". Der erste Band dieses „BücherBchatzes"'^
enthält eiue Arbeit von Amuld Brass : „Bas Kind gesund und krank*^. Der
zweite Band enthält die vorliegende „Einftlhning in die moderne Psychologie**^
TOB dem Heranegeber aelbit; ein zweiter, spezieller Teil eoU die Fortaetnuij;
dieaea Werkea bilden.
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Beritkte und Betpredumgm,
77
Entsprechend den vielseitigen Interessen der modernen Lehrer, die
sich Ton der Psych' bis zur Hiihut^rpflege und omgekelirt erstrecken,
ist auch das Beetz'scko Werk, v.m VKinherein änssersfc vielseitig angelegt.
Es behandelt nicht nur die mudorue Psychologie in ihren allgemeinea
<}randlagen, wie otftii durch den Titel verlaitet werden konnte, »nronehmen,
•ondem soglrteh die Gfeacbioiite der Fiydiologie, die Fhttoeophle und tbre
Oeachichto, die Erkenntnistheorie, JCetephjsik. Schalhygiene, Anatomie and
Neurologie im Abriss; und zwar zu gleicher Zeit historisch — kritisch und
produktiv — orlf^inell. Wie Müuäterberg in Amerika sich veranlasst sah,
die T^hrerwelt vor einer allzu betriebsamen Beschäftigung mit der Psy-
chologie zu warnen, so wird auch uns ein wenig bange, wenn wir denken,
daae die Lehrerwelt Deatsehlanda in der yom Verfneaer InengnriMten Weiae
an dem Stndinm und den Foreohnngen dar Psychologie sich heteiUgen
könnte. Wehe der Psychologie, die auf diese Weise der eben entronnenen
Spekulation unrettbar wieder verfallen müsste; \ind wehe der Lehrerschaft,
die der verwirrenden Menge der Einzelantersuchnnrren hilflos und ratlos
gegenüberstände, uhuu die Möglichkeit, den lur sie allein wertvollen Kern
«HS der Uniiehl der naigebenden Hüllai hereneggichllen! Die modsnie
Fkycholegto mnss nach 2 Biohtangen hin betrechtet werden: elnmel ist ^
eine ^esiel^izfplin, der sich die exakte Erforschung der seelischen Er*
scheinnngen zum Ziele gesetzt K it und zu diesem Zwecke, wie jede natur-
wissenschaftliche Spezialdiszi})lin eigene Methoden und eigene Forscher be-
nötigt; sodann aber liefert sie die allgemeine psychologische Grundlage, auf
dw Jede WeltenfTaseong, Jede Wiaeeoschaft nnd jedee praktische Handeln
benÜMn aolL In dleaem letateren Stnne ist sie relstiT nnsbhingig von den
modernen, mit ICass irnd Zahl operierenden Methoden nnd ihren EigebnJaaen;
gewissenhafte Selbst- und Fremdbeobachtung haben von Jeher genügt, dieaer
Anfg^he gerecht zu werden, wenn anch dank der modernen PorschTing
euiige neue und präcisere Einsichten psychologischer Art gewi nni'n
worden sind. lüt daher unseres i:^rachteus ein Fehler, eine „Einlüiuuug
-ta dis B^foihblogle^ mit einer sold&en FBlle von nenen und nsoestea Eiuel>
nntecsnehnngen sn belasten, wie es dar Verfaaaer gethan hat. Welchen
Wert soll es haben, fUr denjenigen, dem mit viSlsr Hllhe die elementarsten
Omrifllrigen der Psycholog'ie beigebracht werden sollen, /nglriph flir Experi-
mente von öötr Martius. Axel Oehrn, Bettmann, A^rhaffeuburg, Amberg u. a.
darzustellen, die auf ganz spezieile Untersuchungsobjekte gerichtet sind?
Nicht einmal die eigentliche Sohnlpeychologie, z. B. die experimentelle
Festaetanmg der sweckaiisslgeo Anfainanderfolgs der Lahifleher, der Zahl
der Schulstunden, der Art des Tnmunterrichtes eto. dflrfle der Allgemeinheit
der Yolksschnllehrer zum selbat&ndig^n Studium anzuraten sein, da sie zu
Tiele Voraussetzungen inbezng auf wisseuschfifthvhe Vorbildung erfordert.
Wenn wir nach diesen prinzipiellen Eruüerungen auf das Detail der
Arbeit näher eingehen, so können wir einige allgemeine Bemerkungen nicht
imtsrdrttcksn. ZnnSchst eine derartige Flflchtigkeit nnd Oberflichliehtelt
der SchieCbweiae, wie in dem Torilegenden Werke, lat nna bisher in wlaaen-
schaftlichen Büchern noch nicht begegnet. Einige Beispiele für diese Be-
hauptung? S. 84 soll es heissen statt: Nutzen der experimentellen Methode
— Schaden derselben; S. 93 statt: Minuten — Sekonden; S. 110 statt:
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BcriikU und Bts^rcchungcn.
Psychoplivsik - l'hysiologie: S. 142 statt wis^enschaüiich — unwissen-
schaftlicli; S. 234 statt dialyßiert — analysiert; S. 302 statt epidemia (!) —
epithymia; S. 271 stAtt fiecht« — Links; S. 300 statt metapliysiscb —
empirisch; Br 322 Btatt Zeller — Spencer; S. 195 statt negativ — ▼egetaüv;
S. 252 statt Mejnert — Flechsig n. e. 1 Auch Yemnatalttingen wie ,4nfi-
nement" (S. 26 und 320); „anaJisieren" (S. 62); »parallisiereu" (S. 84); „Telo-
patliie" (S. 164); „Oxidutieir' S. '"»1: „Neuropla" (S. 247); „Rama communi-
cantes" (S. 2r»4't et«-, hiittcn mit geringer Mülie verTni<'tlen werden können.
Bine zweite Bemerkung bezieht tich auf die C^uelien, aus deucn Beetz seine
psychologischen Kenntaisae eehdpft Unter diesen figarieran an erster Stelle
W. Heinrich, Alhrecht Ran nnd Fr. Harms» 8 Namen, die wohl kein Fach*
mann zu den bekanntesten und zuverlässigsten zahlen möchte. Gleichwohl
zitiert Beetz ans den Werken die^^cr Autoren nicht nur lange Abschnitte,
sondern er iührt sogar die Theorieen anderer, uiiht weniger bekannter
Autoren, wie Wandt« Mtinsterberg, KtÜpe u. a. nicht nach ihren Original-
arbeiten, sondern nach d»a (^tatttk Jener an. Wo « aber sieh dain ver-
steht« Originalarbetten an zitieren, schreibt [w entweder die ^tel der Anf-
eätze der betrotlendcn Zeitschrift ohne Auswahl hintereinander ab, gleichviel,
ob es in den Kähmen der Sache passt oder nicht, wie z. B. bei Kraepelin's
PsvcKolopisf'hen Arbeiten, die er ftlr ein ,.Sammelwerk" hält; oder aber er
zitiert — wie z. B. bei der Aufiilirung von Stumpf — Universität« - Vor-
lesungen aus dem Jahre 1687, wie z. B. auf S. 153, loB, 192, 304, 322 etc
Wären Überhaupt Vorlesungen zur Publikation durch die Zuhörer bestimmt,
so durfte man dodi gerade hier die neueste F<nm Terlsngen.
Wenden wir uns nunmehr zu einer sachlichen Ucberslcht das Werkes.
In der ersten Abteilung versucht Beetz die „geschichtliche Grundlage der
Ps3'clu>logie" zn schildern fS. R — 123«. In Wahrheit freilich i.>t von
Psychologie nicht viel die llede, sondern vielmehr von einem kurzen Abrisa
der Geschichte der Philosophie, de? zudem sehr oberflfichlich gehalten ist.
Meist begnügt sich B.^ bei jedem Autor irgend eine SteUungnahme, meist
zn erkenntnistheoreti scheu und metaphysischen Problemen herauszugreifen
und dagegen in ziemlich unkritischer Weise zu polemitieren, ohne dass dio
p5>ychologiFehen Leistungen und Fortschritte ir^^eudwie nfthere Beleuchtung
finden. Aut diese Weise gelingt es dem Verfasser, Augnstin, Desourtes,
Spinoza, Leibniz, Kant mit je 2—10 Zeilen abzufertigen. Dass dabei auck
mangelhafte Aoffassangen unterlanfen, vorsteht sich von selbst; so wird
z. B. bei den Sophisten (S. 15) daa alte Ifi&rehen aufgewärmt, dass sie:
„unter Verabscheuung aller Arisc hannng den »Wortrealismns**, das seicht«
Paisonnement auf das ;!} Schild erhoben. SpitzfmJi^'keit, Wortgefeelit und
t^iilteiivteehfrei feierten ihre hi»ch8te Triumphe". Sollte «las nicht auch ein
wonig uacii der „Abrichtung" schmecken, die B. der heutigen Semiuar-
bildung zum Vorwurf macht? Etwas besser ist dfe moderne Psychologie
b^andelt. Neben d«r Herbart'schen Lehre, die eine eingehende Darstellnng
gefunden, ist auch F. £. Beneke nicht unerwülmt gehlieben. Als Vertreter
der .,Psvc!in]ng-e ohne Seele" werden Feuerbach, Ulrici und Lotze b^
sprochen. Einen breiten Kaum nimmt das Kapitel von der spezifisf hen
Sinnesenergie {S. 45— öö) ein. B. polemisiert hier in höchst unkritischer
Weise gegen den „pseudowissenschaftlichen Subjektivismus" Joh. Mlillers,
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Bcrkki* und Besprechungm.
79
dessen Änfffi«.?nng er in (otalem MissveTStändnis für absoluten Idealismas
hält. M:m <U'nkt': ein Joh. Müller als Vertreter des absoluten IdealismtLS,
als „unvernünftiger'^ Metaphysiker ! Aach Lotze wird in diesem Streite in
Grand itnd Boden diskutiert, niclit ohne Beiliilfe von Heinricli und Bau.
Der wahre Realisrnns beetdit nftmlich nach B. In der Auffaesnng, dass ,da»
Psychische in der Verlängerungslinie des Physischen liegt;" „der Ton als
eolfher besteht obiektiv": „flie objektive Qualität hat sich erst Ihr ent-
ejtrechendps Orprau gebildet;" u. a. a. 8t. (S. 336): ,.T7m das „T^'^g au
sich" scheren wir uns nicht — oder genauer gesagt, wir halten es lür einen
Widerspruch in sich; es existiert nicht**. Diese« einfache Verfahren, die
TVelt nnd alle ihre BKtsd m erU&ren, sieht eidi durch daa ganze Bach
hindurch.
£b fol^ die Darstellung der Psychophysik Fechncrs und der Lehre
des Herrn von He^nthoHz, nalürlieb stets gen:ü!-sen an der Kritik Heinrich's
und üau's. Pas [nächste Kapitel Vringt eine bieit angelegte Schilderung
(S. 62— S2) der "W'undt 'sehen Psychologie, die im ganzen nicht schlecht
geraten ist Die Schale TVnndt^s (8. 63^104) wird in eine physiologische
Biehtnng — Mttneterberg, Ziehen, — eine inychologisehe Biohtang ^ Gofes
Martina, Kraepelin and seine Sclifller, — und eine vermittelnde Eichtang,
— y T,Fir>"^e. Knlpe. Adolf llorwitz — gegliedert; eine Einteilung;, die an
Willkürliclikeit niclits zn wünschen übrig lüt^'-t. L)ieser Abschnitt ist nach
vielen Dichtungen zu tadeln. Statt die Ansicht der Autoren über i)8ycho-
logische Grnndiragen zn dtekntieran, werden einzelne, ganz netben^ehtlehe
Detailfragen, wie z. B. die l'rage der moaknlaren Eeaktioa, heraaagegriffen
und die Polemik dtt Autoren über solche Punkte näher ausgeführt. Die
Schilderung der Versuche aus dem Laboratorium Kraepelin's leidet an dem
gleichen Fehler: unwichtige Einzelheiten werden liervorp^ehoben, die Haupt-
fragen vei nachiut-bigt oder kurzer Hand mit einigen Worten diktatorisch
erledigt. Dass dabei der Ausdruck „Apperception", dessen Vieldeutigkeit
schon 80 viel Unheil in der Psychologie angerichtet bat, wie etwas allen
Lehrern Bekanntes und Gelünfiges öfters gebraucht wird, soll nur nebenbei
erwähnt werden. Die empirische Psyd&ologie der Gegenwart, als deren
Vertreter Brentano, Stumpf und Uphues genannt werden, wird im Gegen-
sätze zur Wnndi'schen Schule auf 2 Seiten abgehandelt, wiihrend der
Evolutionspsychoiogie (Romanes, Häckel) wiederum ein umfangreiches
Kapitel gewidmet ist. Die Stellangnahme B*8 zum psychogenetischen Prinzip
Ysihinger^s Ist hier wie an anderen Stdlen so unklar gehalten, dass man
nicht weiss, ob er für oder gegen dieselbe eingenommen isti Meist maclit
es den Eindruck, als stände er auf Seiten der Evolutionspsychologen, die
die psychische Entwicklung der Individuen auf die palaeopsychif^chen Er-
lebnisse unserer augebücheu Vorfahren zturückdatiereu ; nur bei der später
folgenden Besprechung der Vaihinger'schen Formel scheint er gegen V.
Stellung nehm«i zu wollen. S. 116 — 121 ist der Besprechung der ,,m76tl8diea
UntentrOmung«! in der Psychologie'* gewidmet. Die „Sphinx" und die
^JUvtoshlflten'S Du Prel, Ferdinand Maack, Paul Schröder und Rudolf Müller
werden ernstbMft besprochen nnd dem wissenschaftlichea Ausbau ihrer
Lehren eine gute Zukunft prophezeit. Es giebt wenii^'c Stelh'U des Bnclies.
in dem die völlige Kritiklosigkeit und der Mangel au wu>äenscbaitiicn~
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60
Berichte und Besprechungen.
philosophisclier Bildung des Verfassers ao krase zu Tage treten wi« hier.
F. Iluck wird «ta ein »Psjchophjäiker ▼on Ruf« «mpfolilsa; P. Schröder,
«In Karpfascher «u Leipxlg, wird dMigleielien gertthmt und seine Sclirift
über den » Leben amagnctismas' zur Lektüre empfohlen; nur bei R. Müller,
der alle wissenschaftliche Forschung ad absurdum ijefiihrt hat, dämmert
ihm die Erkenutnis auf, os kt'innte sich am Kti'le ilorh um eine Selbst-
täuschung handeln. Daäs ein solcher Uusinn in eiueoi Bache gedruckt
wird, das fttr YolksBclmnelirar besUmmt Ist, isb vm so bedaaerlielier, eis die
Seudke des Spiritismns mitnnter In dieami Kreisen besonders verlMreltet zn
sein scheintw
Der zweite Abschnitt des Werkes S. 124— r>Oi ist betitelt: „Begriff-
liche Grundle;^ung'*. Hier wird zuaächät die Fragü nach Form und Inhalt
der Psychologie aufgeworfen. Inhalt der Psychologie ist «das Werden und
Sein der Innmen Erlebnisse.« Was nnter Form der Fsjdiologie sn ver>
4lelien Ist, wird nur denjenigen elnleaehtend sein, die den Mtssbrsuch dieser
Schlagworte in vielen Kreisen kennen. Der docrmatische Materialismus wird
abgelohnt, nnter Hinweis auf dio Thataache der Willenserschoinungen. Die
Selbstbeobachtung gilt mit Recht alü die Uauptquelle der psychologischen
Erfonehnng, obwohl der Kampf gegen diese Methode eine etwas elngehendera
DusteUong Tecdlsnt hätte. Unter den sonstigen Methoden wird noch die
Hypnose und Saggestion nnfgaftthrt; doch sdhelnt der Verfasser Uber diesen
Gegenstand sich nur ans den Werken von Wundt, Lehmann, Dessoir,
Rudolf Müller und Jodl orientiert zu haben; eine Zusammenstellung, tlie für
die (^ueiienforschang des Verfassers typisch zu sein soheint. Das Kapitel
von der Bsdentung der Psychologie sohllesst mit den Worten: »Ist es ihr
(sc. der Psychologie) doch bereits gehingeo, das Problem der WUlenslreiheit
in einer direkten Weise sn lösen, und schon weiss sie die letzte und höchste
Fracke dt^r Staubgebomen, die Unsterblichkeit, wenigstens indirekt, nichts-
de&towt'iiiL'^er aber wissenschaftlich, positiv zu beantworten". Ana dieser
Behauptung geht zur Genüge hervor, dass Verfasser allen anderen staob-
gebomen Psychologen nm mehrere Nasenitngen voraos ist. üm die LSsong
dieser ProUeme beneidet Beferent den Verfasser.
Die dritte and ktsts Abteilung des Werkes enthält die „psychophy-
sische Grundle^ing der Psychologie". Ein erstes Kapitel "behandelt den
Leib; und zwar das Bewegniigssystem, — Knochen, Bänder, Muskeln, —
das Emährungssystem — Darm, Chylusgefässe, Blut — , die Atmung, das
Nervensystem Im aUgemsinen nnd das Nerrensystem im besonderai —
Auge, Ohr, die niederen Sinne, die Leitmigsbehnen, die nervösen Gentnal-
orgsne, Gehirn, Hückenmark, Nacnhim und Sympathicns. Diese g^nzlidi
laienhafte Darstellung eines so schwierigen und umfangreichen Gebietes
erscheint uns in einem jisychologischen Werke völlig überlliissig. Hätte
sich der Verf. noch auf die Sinnesiorgane und das centrale Nervensystem
beechrfinkt, so hAtte msn das noch annehmen können. Was soll aber die
Abhandlung der Knochen- nnd Bftnderleihre in 12 Zeilen, die Abhandlnng
des Muskelsystems in 1 Seite? Eigene Anschauungen zudem müssen auch
hier oft die Stelle der fehlendr-i Kenntnisse ersetzen. So behauptet %, B.
Verf., im Gegensätze zu allen medi/.mischen Lcliren S. 201: ,,Hypochon-
dfisdie nnd hysterische Menschen leiden an organiächen Störungen und
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Berichte und Besprechungen^
81
sind infolgedessen „nervös - oder psychisch krank.'* In dem Labyrinth ver-
mutet er ein „Coordmatiooäcentrum der Bewegungen" \ gemeint ibt nattLrlick
ein Sflgiilatloiisorgan. S. 239 behMi|itet er, jedes einMlneFeaerbtlndfll ebtes
Kenren eei ebi Aduenqrlinder, vrilhniid dl» Aenrte nur der einzdnen Pxi-
mitivfaser diesen Namen vindideren. Ans der Erenzong der NervenbahiMik
„erklärt e«' sich (S. 241), dass nervöse Schmerzen des linken Fugses h&nfig
von rechtsseitigen Kopfschmerzen begleitet stnd^; eine Eeobachtong, die
gewiss auf der Höhe der schulmeisterlichen Medizin eteht. Aui' S. 244 wird
die Bebaaptong aufgestellt, dass „die WJndongen (ee. deeOeliims) mit dem
Atter ea Zahl undSchftrfe zunehmen^, was wlOirend deeEtnanUebeiie bisher
noch nicht konstatiert werden konnte. Die Zirbeldrttee wurde nach 6.
lange als Sitz der Seele aufgefasst, „weil ihre Verletzung sofort den Tod
herbeiführt"; auch diese Einsicht ist neu und falsch. Sehr kühn int die
Voretellnnp (S. 250), dass luarkhaltige Kervenfaaem „in grosser Zahl über
die Oberfläche des Glehims ziehen^^ Die folgende Beschreibung des Bücken-
markes dflifto nnUer sein (& 252): ^J[Hm Rttokenmark ist eine Stole Ton
NeryfmmsBse, die im WirbeSksnal enfstoigt nnd sich sack noek hinter dem
Nechhim oder verlängertem Rflckenmarke ale schwacher Strang fortsetzt".
Von Bedeutung für die Neurologie erscheint die bisher völlig unbekannte
Einsicht (S. 253): „Der äympaüücus kommt allerdings ans dem verlängerten
Marke, ist also ursprünglich ein Himnerv'*. Ein altes, längst widerl^^
M&rchen hfttte sieh der Yeti, freilich sparen können. Er ssgt S. 252:
„Sckliesslleh sei >oek die Tkstseehe vermerkt, dass das Oeklm der Frsn
do^Jenigen des Mannes sowohl an Gewicht als an Feinheit der Stmktnr
nicht nnweeentlich nachsteht. Dieser Unterschied ist bereits in der Anlage
gegeben und lässt sich in keiner Weise ausgleichen. T>*^r .^FranenemancipAtion"
sind mithin von der Natnr selbst unbedingte Schüinken gesteckt".
Das zweite Kapicei dieses lehrreichen Abschnittes bespricht „die
psychophyaisehan Ersdisinnngen". Die von Dr. Brsas dem Verf. frennd-
Üdist znr alleinigen VerfOgong gestellte Illustration znr VeranschanUchong
dseBeflezTOfgangee (S. 259) ist nur soweit neu, als sie falsch ist; wenigstens
war es bisher unbekannt, dass in der Hirnrinde neben den Nervenzellen
die die Bewegungen auslösen, andere Nervenzellen «existieren, die die Wiliens-
akte vollziehen. Sollte hier nicht ein kühner Anaiogieschlusä zu dem Ver-
hältnis der Notare und Gerichtsvollzieher vorliegen? — Auf S. 263 werden
wir belehrt, dass „das verlängerte Mark der Ifittelpnnkt aller Reflex-
bewegnngen ist"; während wir bisher geglaubt hatten, dass es die Centren
der automatischen Bewegungen enthalte Eine sehlltaenswsarle Beobachtung
wird S. 269 mitgeteilt: „Uebrigens kann jtMl.«r normale Mensch an sich
erfaübren, wie sehr die Intelligenz vom Gehirne abhängt i>a es beispiels-
weise nach reichlichen und guten Mahlzeiten verhältnismässig blutleer und
abgskilhlt ist, sinkt die Klarheit des Bewnsstseins^ Die Polemik B.*s gegen
die Ldkallsstionstheorle Mnnk's erscheint gegenstandslos, da B. vor das be-
streUel^ was Münk nie bcüisaptet hatte, nämlich daas die Grenzen der einzelnen
Centren bei allen Tierklassen und zu allen Zeiten unverrückbar die gleichen
wären. Etwas schleierhaft ist die Erklärnnor der Entstehung der Apper-
ception (S. 278). Der Standpunkt, daas in der (iehimrinde nur Bewegungen
und Empündungen lokalisiert sein könnten, während die höheren psychischen
ZcHidbrift ffir |)i4a£ogische Psychulogie und Pathologie. 6
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82
Be*ichte und Bes prech u nffen .
Vorgänge materiell durch das System der As&ociationsfMerii bewirkt werden,
iBt uns dwohMiB sympatlusch; indenan Utte M ein» «iagalwBdierea B«w«lft-
fUmBcr b«diurft Die nmliuigrelelieii Oitete betr. die Avffunmg«» Stompl'»
über das Urteil und die unbewnssten SMleiiTcngÜDge sind uneingwoltrillkt
zu loben; die Kritik B.'s wäre dairpfrt^n sehr wohl entbehrlich gewesen.
Um zu beweii^n, daas das Rückenmark auch eine Art Bewusstsein besitzen
müsse, dJent folgende köstliche Argamentation (S. 319): ,,Da88 die seusorische
Bewegung in der GangUenxeUe des Bflckemmarkes tunbiegt, kann ana der
Kechimft nleht exUifart werden. Ei miifla ea jener Ecke efewM Sn^Jektlvce
eingesdialtet sein, das sich einerseits als Empfindung äussert, die von Innen
kommt, andererseits als Trie'>, in dem dir 'Direktive oder Abwehr nach
aussen liegt M'igen diese beiden subjektiven Werte iiuch noch so minimal
und dunkel sein, sie müssen vorausgesetzt werden, tun den Umschlag des
oeBtrtpetalen Vorganges in einem eentiifngalen m erUlien. J«bm BtirM
ftber iit bereite Bewuesteeln». Dan wir, wie anf S. 345 behuiptal wird,
in dw „BeharmnK" niar «inen anderen Ausdruck für Erhaltung der KrafI
oder für Energ-ieSquivalenz haben, dürfte jef!pTi Physiker ^vimder nehmOl*
Bei der i'rage der Vererbung besinnt sich der Verl. gegenüber den un-
kritischen Behauptungen Vaihinger's, dass die pädagogischen Beobachtungen
doelL WDbl nldit ni der auf etaier faliehen YonllgemeiiMraiig «ad ober-
fliohliehen Analogie fnasenden Lehre Toa der PtjehogeoJe paeeen wollen,
obwohl er an einer früheren Stelle (S. 114) «rklMxt hatte, daas Raum, Zeit^
Kausalität „als psjchogenetlsches Erzeugnis jener langen EntwieklmigsreUie
forterbend von Vater auf Sohn übertragen" seien.
Das letzte Kapitel des Werkes endlich behandelt den Zusammenhang
swtoohen Leib und Seele. B. bekimpft bier die monlaliiMbe AnffiMenng
dieeee Verhiltninee, wie sie Im Materlaliamne nnd BpIritaaMsmne anm Ana-
drucke gelangt, ebenso wie die dualistische AafCaaBong, an deren AeuBserungen
der Tdeftlifrmn« Creulinx, Mfllebranfhe, Spinoza, Tje!bnf7) nnd der peycho-
physiöche Parallelismus gezählt werden. Schon aus dieser wunderlichen
Einteilung geht hervor, wie unklar sich der Verfasaer über die verschiedenen,
von ihm «ehr lebhaft kritfaderten Weltenaobannngea Jet SptrltnaUBmoa
nad IdeaUamns z. B. adulnt ihm tonte mdme dtoae an sein, wenlgabeoa
tritt dieser Eindruck an verschiedenen Stellen seines Werkm hervor. Ja,
er deliniert sogar den Spiritualismus folp^endermaasen (S. 380): „Der Spiri-
tualismus behauptet, eine Materie und 2iiotwendigkeit ausser una existiert
gar nicht*. Der Unterschied zwiachen ericenntnis-theore tischen nnd mete-
phyatelieii l^blemea wdieiBt dem Yerf. eflbnbar nooib nfdit an^ieguigen
zu 8ein. Das Terklltaia des MateriaUsmua zum SpiritnaliBmus wird dnrbh
folgendes Bild veranschaulicht (S. 383): „Obgleich beide Weltanechanongen
von den denkbar grossten Gegensätzen ausgehen, so nähern sie sich doch
stetig nach der Mitte hin und treffen in den entgegengeseteten Enden
wieder saeammea'*. Diaeer iwetiiwnatiBchen Elastizität gegenüber versagt
die AafllHSuigAraft des B«f. SetaMo elgenea Staodpaiikt In dtaaer Rage
nennt B. Bealismns. Er verateilt darunter etamal die An£taflsnng, daaa
„Nerven prozPSFP in Bewussteeinarostände umschlagen", eine Anschauung, die
Eef, sonnt nur noi h bei Schlegel angetroffen hat; sodann aber die Behauptung,
dass neben der phjsiachen Cansalität eine innere freiheit bestünde, die
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BerichU und BtipndatngeH,
83
ihxmn Aafldruck in den Fhänomeuen de«:» Willens; fäade und die Brücke
swlkelMii der AnsBen- and Innenwelt darstelle. Dieser Standpunkt ist zwar
aklit nep, äbtr widi ▼<« -yoniherefat nicht » aoBakilttaloa, wieviele gamigt «ind,
■nzanehmen; indaam kitte «a aodb hier einer klarerem und eiztgekendaren
Beweialegung bedorft. So wie B. daa FrdbleB daistaUl^ ist es nickt
geeigTiet, alt« fest^ wurzelte T'^eberzeu -rangen omzostossen. Begnügt er
sich do^h miMBt, die „exakten" Porscher zur Beecheidenkeit zu malmen und
ihnen die Verkeixrtkeit ikrer Anackauungen „zn Gemiite zu iüiiren". Da-
naben laufen Tag» Aadeatungea Ton Bewatoem, indeon er behauptet, die
BtuBie faagiflfrtanpla&Yollaiif diaAnnenwalt, oder die kinaWacha Qaatheorlo
aal ^iün. Gebiet auf dorn Tä£bäk alkriii dar HjUeriallst, sondern der modem»
Mensch schlechtweg überzeugt ist, dass sich ihm die Natur in ihrem
innersten Wesen entblösae und in unmittelbarer Anschaulichkeit die natur-
notwendige Folge zwischen Lrsache und Wirkung vor Augen führe*'.
84^de das ganze Werk dee Verf. auch nur annähernd auf der Höhe dw
ScJilwmIttaa, wo auf die Bedeutung dea WiUena fttr die FKdagogik in aehr
nachdrtddlahar and veiatindiger Waiaa hingewieaen wird, to würde Bei
keinen Anstand nehmen, die Arbeit zu loben und zum Studium zn empfehlen.
So aber ist die Anfpi'abp zrwar, dip B sich gestellt hat, ©ine durchaus nütz-
liche und dankenswert«, die Ausftihrung aber in jeder Richtung schwächlich,
Üuchtig and verfehlt. Hoffentlich ündet sich auch in Deutechland bald,
ifia In iki^and vad ^-^W Snlly und Jamaa, «In Pliyohologa von J^aab,
d«r di0 Uttha nickt aehaat^ daa p^ehologlaoli« Wiaaen dar Gaganwart den.-
jenigeo zn vermitteln^ die daaaan nur AnattbnxigihTeeBenifea am dringendatm
bedürfen.
Berlin. L. HiraehUfl
Mitteilungen.
Bin Brief des Kaisers ü b e r S c h u 1 r e f o r in ,
den der Monardh ala Crins am 2. April 1885 aoia PMikteiii an dan Amtar lakter
Harfewig in DUaddciii, YerlMaar daa Bochaa „Worftn wir leiden" ge-
schrieben hatten gdiJigt jetzt an die Oeffentlichkeit. In dem Briefe heisst es:
„Was Sie dort aussprechen, das onterachreibe ich Alles Wort für Wort Ich
habe ja prlücklioherweise 21/.2 -Tfthre lang mich selbst überzeugen künueii was
da an unserer Jugend f^etr* \ ('lt wird! Wie viele Dinge, welche Sie anführen,
habe icii im Stüien bei mir bedacht. Nur um einige Sachen zu erwähnen»
von 21 Pkimanani, die maero XIaaaa alUte, trugen 19 Brillen, S davon
naaatan jedoch noch einen Kneifer yor die Brille stecken, wenn sie bia cur
Mal Mban wollten!
Homer, dpr hrrrürhp Mann, für den ich sehr geschwärmt, Horaz,
Demosthenes, dessen Kf ien ja jeden begeistern müssen, wie wurden die s-^e-
lesen? Etwa mit Enthusiasmus für den Kampf oder die Waü'en oder itjatur-
beachreibongen? Bewahral Unter dam Seatannaaeer daa grammatfkaliaelwn,
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84
Mitteilungen.
fa: atisierten Philologen wurde jedes Sätzchen geteilt, gevieiteilt. bis das
Skelett mit Behagen gefunden, und der allgemeinan Bewimderniig gezeigt
ward, In wie viel vendiledener Weiae oder kiU odw sonit to ein Ding vor
oder nadigeelellt warl Ee war zom. weinen I
Die Isteinischen und griechischen Aufsätze (ein rasender Unsinn), was
haben die für Mühe gekostet! Und was für ein Zeug kam da zum Vorscheinl
Ich glaube, Horaz hiitte vor Schreck den Ueist aufgegeben!
Fort mit dem Brabt! Deu Krieg auls Menaer gegen solche« Lehren!
]>iea STttem bewirkt, dase nnsere Jngmid die Syntax, dto Grammatik der
alten Sprachen besaer koint, ala die „oUen Griechen** selber, dais de die
sämtlichen Feldherren, Schladiten and flehladitenanfete 11 nicken der punischen
und mithridatischen Kriege auswendig weiss, aber sehr im Dunkeln sich
befindet über die Sclilachteu des 7 jährigen Kriegeö, geschweige der „viel
zu modernen'* aus „Oö" und „70 die sie noch nicht ganz „gehabt haben" ! 1 1
Wae nun den "EAtjjw betrifft, eo bin Ich anch der ganz bestimmten
Anaichtk daaa die Kaehmittagastnndexi frei sein mflsaten, ein für alle Mal.
I>er TaznnntBrrldit mflaate den Jungens Spass machen. Kleine ffindemis-
bahnen zum Wettrennen und recht natürliche Kletterhindemisse würden
vnn Wert Dann wftrde es sich sehr empfehlen, in allen ^tridten , wo
Militär li^t, alle Woche zwei- oder dreimal durch einen ünteroiiizier nach-
mittags die gesamte ältere Jugend mit Stöcken exerzieren und drillen zu
lasaeii; anstatt der albernen sc^nanntan Elasseaspaxiergänge (mit elegantem
Stöckdien, sdiwarxem Bock und CSigarre) üebongsmarsdk mit ^ bisdien
Felddlenet, wenn er auch In S^del und handfsete Flrllgel anasrtet, so
machen.
Unsere PriiiKiner - wir waren leider auch so — sind viel zu bla-sieit,
als dass sie sich eleu Kock ausziehen and sich keilen könnten 1 Wa» konnte
man auch anders von solchen Lentcken erwarten. Bsker guerre k ontranee
gegen dieses S^ateml Und ick bin gern bereit, Urnen in Ibrsn Be-
strebungen bekllflieh an sein! ich freue mieh, einen »Deatack« redendm
gefunden lu beben, der auch fest zafaset
Das Kind — eine Reformzeitscbrift für die Familien.
Prospekt.
Die Erziehung der Kinder von der Geburt bis zur Wahl des Berufes
ist imter den modernen Lebensverhältnissen und Lebensbedingungen eine
schwere und verantwortungsvolle Aufgabe für jede Familie und jeden mit-
wirkenden Eraieker nicht nnr am wirteekaftlidien Gründen, sondem vor
allem ans pidagogischen, medixlnisckea, aestbetisoken nnd etMsehem Ge-
sichtspunkten. Maogelt es doch heute noch eingestandenermassen den
meist-en Elt^^rn an einer hinreichenden Vorbildung selbst für die elemen-
tjirnt(?n Forderangen in dieser Richtung. TTeberliefening und instinkt-
massiges Verfahren müssen oft die Stelle der fehlenden Kenntnisse and
Fertigkeiten bei dmr Behandlung der Eindw ersetsen ~ com Sehadan dar
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Müteüungen,
95
Kinder! Wieviel Sorgen, schlaflose Nächte, Vorwürfe, könnten den Eltern
«np«rt werden, wieviel Leid. Reue tuid Verluste den Kindern, tun wie viel
wwtvdlM Mtttortal kOnnte da« geistig« und wbtwIiAfäiclw Kapital des
Volke« verznehrt werden — durch eine voUtCTnin euere Behandlong der
Kinderl
Wie Koll das Kind fj;e^«nndhpiHich ernährt, gekleidet und tiber-
wacht Wie lauge soll es arbeiten, spielen und sich er-
holen? Aul weichem Wege entwickeln wir seine Korperkräfte, seine
SinaeBorgane und seine geistigen FEKigkaltea? Wto gewinnen wir
EiafiaM »nf a«iB«ai Okarakter nad die epfttara Lebeosfttkmag? Wie
•etaen wir es in Verbindung mit dem bildenden und beglflckenden Qe!tt
von Kunst und Dichtung, wie gewöhnen wir es an die stillen Freuden der
Natur? Welche Lehranstalt soll es besuchen? Wie soll sich das Eltern-
haus zu den Anforderungen der Schule verhalten? Wie bertlcksichtigt
man die iadivfdaellen Anlagen der Knaben und Mädchen? Anf
wekskea Beraf beretteBi wir ale vor?
Eine richtige Antwort auf diese und viele MhaHfihe Fragen wird von
den Eltern nur in wenigen Fällen gefunden ; sie könnte jedoch für alle in
Betracht kommendeii Gebiete gegeben werden dnrcb ein harmoniflches Zu-
sammenwirken von Sacliverstindigeu — Aeizteu, Lehrern, Künstlern und
Vertretern praktischer Berul'sarten.
Eiae Zeltsdbrift mU aieh aaa die Aufgabe atalka, fttr e&mtliche Teile
der hifcnaUehen Enlelning, für Hygiene, üatanlekt nad Sdinl-Sialeliiiiig,
Spiel und TTatorhaltung der Kinder aller Lebensalter in gesunden und
kranken Tagen, ftlr ihre kiinptleriflche Bildung, sowie für die Bomfswahl
der ins Leben tretenden Jugend den Eltern fachmännische Weisungen an
die Hand zu geben und in durchaus volkstümlicher Weise über die ein-
achllgigen Verhältnisse nnd modernen Bestrebungen auf diesem Gebiete
fortlaufenden Bericht an eraMtaa. Ble luxflfc damit den Tielfudi geäussstteu
Wünschen des Publikums an dienen.
Um Zuschriften bitten
T)r F Kemsies, Dr. L. Hirschlaff^ W. Spohr,
Berlin NW., Paulstr. 33. Berlin W., Lützowstr. 8& b. Frledrichahagea b. Berlin.
„Die Kunst im Leben des Kindes**. Ausstellung im Hause
der Berliner Secession. März 1901. Berlin-Charlottenbturgj
Kantstrasse 12.
Das Komitee flberreicht folgende Mitleflimg: Immer lauter und dring-
Hcher wird das sdutsdchtige Verlangen, unser Dasein aus den wirren Kämpfen
der modernen Welt in eine Sphäre der Freiheit, Schönheit und Heiterkeit
emporzuheben. Wir fühlen, dass das deutsche Leben der Gegenwart mit uner-
träglicher Einseitigkeit vom Verstandesmässigen, Logischen. Exakten, von
materiellen Erwägungen und Interessen beherrscht ist, und dass es ernster
Arbeit kn Dienste des Aetthetischen, Kflnstlerischen bedarf» um unsere Kultur
einer bannonisciien Gestsltung niher zu Iflhren.
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a6 tmäkmgm.
Der Schwerpunkt unterer BUduag Ikgt im Wiesen. Neigt die deutsche
Eigeaan schon an sich mehr zum spckuUitiTen Denken als zum stnnlicfaen
Anschaueu, das die Voraussetzung alles Kunstichaffens und Kunetgeniessens
ist, so hat uns das abgelaufene Jahrhundert, dessf-n Ruhm in den beispiellosen
Thaten der Wissenachaft und der Tecliink beruht, auf djesem Wege noch
bestärkt. Gebieterisch tritt heute an uns die Forderung heran, das Gleich-
gewicht wiederherzustdien und dem künstlerischen Empfinden den Ranm im
Leben anzuweisen» der ihm gebührt.
Bei der Jugend müssen wir beginnen; denn die Jugend ist die Zukunft
Unser Schulunterricht scheint heute fast ausschliesslich nur e i n Ziel zu
kennen: den Verstand zu schärfen und Kenntnisse zu vermitteln. Die Er-
ziehung der Sinue und die Püege der Phantasie werden vernachlässigt Man
übersieht die eminente Bedeutung dieser Faktoren für das Leben. Man ver-
glast, daa Ihre Berncksichtigtuig die unabweisbare Voraussetzung für eine all-
seitige und befriedigende AnsbUdung der geiatigen Kräfte des heranwachsen-
den Menschen ist
Nur selten und schüchtern wagt sich noch die Behauptung hervor, dass
die Kunst ein zwar schöner, aber doch nicht unbedingt notwendiger und
darum leuten Endes vielleicht gar entbehrlicher Luxus des Lebens sei. Wir
wissen heute — und gerade die Wbsensdiaft hat uns diese Kenntnis verschafft
— » dass das Bedürfnis nach Ktmst zu den Urtrieben des Mensdien gehört
Die Welt ist uns nicht allein ein Produkt von Kräften und Gesetzen: wir
enipfindrn in MnsfTn schönsten und reinsten Stunden den Kosmrts, in dem wir
alini ij. a.ls ein gewaltiges, geschlossenes Ganzes, als eine unbcgrciiiicliL, l)e-
wundcrnswerte Schupiung der Natur, in den Werken der menschlichen
Kunst aber glauben wir den Abglanz der schd^eriscben Kraft der Natur
zu erkennen, und wir gemessen im Anschauen dieser Werke das be^udeendeb
aihnnngsvolle Gefühl eines Zusammenhangs zwischen uns und dem Welt-
ganzen. Es hat nie und nirgend Menschen gegeben, die nicht, mehr oder
weniger bewusst, ein tiefes Bedürfnis nach dem Gciuhl dieses Zusammenhangs
empfunden hätten. Es wäre eine schwere Unterlassungssünde der Padagugil^
wenn sie an dieser Thataache vorbeigehen wurde.
Am schltounsten steht es in unserer Sdiide, wie in unserm Leben, um
die b i 1 de n de Kunst Eine Erziehung des Auges, eine Schulung des Sehens,
die einen Genuss der Werke der Maler, der Bildhauer, der Architekten er-
möglicht, fehlt der deutschen Jugend. Wahrend Dichtung und Musik sich
wenigstens im Litteratur- und Gesangsunterricht ein bescheidenes Plätzchen
erobert haben, Ist die bildende Kunst daa Stiefkind des herrschenden Unter-
richtssystems.
Es hat gewiss in jüngster Zeit an Versuchen nicht gefehlt, dem Ver-
langen des Auges, dem Durst nach sinnlicher .\nscbauung, der im Kinde
vielleicht noch brennender ist als !m Erwachsenen, entgegeiiztikommen.
Man beginnt die Schuler mehr als bisher mit der Natur vertraut zu raachen,
imd man hat den Anschauungaunienrieht eingeführt, der das früher allein-
hecTSchende Wort ergänzen soll. Aber diese Versuche müssen Stückwerk
^i^i^, wenn ihnen nicht eine künstlerische Erziehung zu Hilfe kommt
Es wird vor allem nötig sein, den bestehenden Zeichenunter-
richt zu reformieren. Sein Ziel muss es sein, das Kind sehen zu lehren.
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87
in ilH„ ein- Fähigkeit aus.rü,ilden. die Gcgcnstiütde seiner Umgebung später
auch seiner Phantasie, nach ihr<rn Formen. Linien tinri Fnrhen festzuhalten.
in jedem Rinde lebt ein instinktives Verlanj?en zu dieser Beschäftigting der
Wuittch, das» WM es sieht» sich ntcfat durch das Wort, sondern auch durch
das BUd «1 verdeutlicheii. Es hudelt sich för den Lehrer hier darum, einen
vorhandenen Trieb n pBeRen, das Adge ffir die Erseheimingen der Welt, die
da^ Kind wahrnimmt, durch eine Anidtmig zum intensivereti Sehen sti
scliarten. also den mechanischen Zeichennriterricht, der bisher meist beliebt
war. durch einen kiinstJerischen zn ersetzen
Daneben aber muss das Kind unbedingt auch der Kunst seihst
sugefvhrt werden. Reformen der Zdehenunterrichumethode, die von ver-
schiedenen Seiten Torsesehlasen werden, 1c«anen ohne diesen weiteren
Schritt nicht zum Ziele fuhren. Lernt dss Kind dort, die Dinge der Natur
.^o scharf zu sehen, wie es vermag, so lernt es hier, wie die Künstler, die
bevorzuRten Menschen mit besonders ghlcklichen. über da«; pcwöhnliche Mass
entwickelten Augen die Natur zu sehen und aufzufassen. Es krnt das ge-
steigerte Sehen des Künstlers kennen, und nimmt durch stets erneuten
Hinweb mfihdos die Art des tefinstlerisehen Sehens in sich auf: wie der
Künstler die entscheidenden Züge der Wirklichkeit atwwiUt wie et. kraft
seiner Veranlagung, die Fülle der natürlichen Erscheinungen vereinbcht und
darum au«=druck^%roner wiedercicht wie er Linien. Formen und Farben nach
den in ihm lebenden Gesetzen der Harmonie zusammenstellt. Der Zeichen-
unterricht und die Einführung in den Genuss der Werke bildender Kunst
werden sich dadurch ergänzen. Wird das Kind durch die Anleitung zur
Beobachtimg der Natnr fähiger gemacht an der Kunst Freude an em-
pfinden, weil es so vorgehen lernt, wie der Künstler vorgeht, so wird es auf
der anderen Seite durch die Kunst für die Schönheiten der Natur empfäng-
licher wrrripn, weil p«: hier dtr WpI» mit drn feineren, da» Wesentliche herauB>
hebenden Augen des Kunstlers sehen lernt.
Von frühester Jugend an müssten diese Gedanken bei der Erziehung
des Kindes mitwirken. Es mfisstc bei allem, was man dem Auge der Kleinen
darbietet, soweit irgend mSgüch. darauf Bedacht genommen werden, dass es
nur Dln^e sind, die künstlerischen Anforderungen genügen können. Denn
so sehr las Auge durch da« Kanstlerische gebildet werden kann, so sehr karyi
CS durch Unkünstlerisches verbildet und auf falsche Bahnen geleitet werden.
Vor allem richtet sich naturgemäss der Blick auf das. was unmittelbar für das
Kind bestimmt ist. Die Bilderb ü c h e r müssen von dem Fluche des
Unkunstlerischen erlost werden, der heute auf ihnen lastet Die Aus-
stattung der Kinderzimmer muss, wo die materiellen Verhältnisse
es gestatten, sorgfältiger beobachtet werden. Und in der Schule muss
dem Kindt' die Möcrlichkeit gewährt werden, sich der Ktmst ru nähern.
Zahlreiche Aufgaben ergeben sich hier für die Zukunft, und ein
stattliches Programm wird man entrollen müssen, wollte man alle Punkte
aufzahlen, die hier in Betracht kämen. Vor aüem hat mm in jüngster
Zeit sein Augenmerk auf eine Forderung gerichtet die lautet: Kfinst-
lerischer Bilderschmuck in der Schule! Im Auslande, be-
sonders in England und in Frankreich, wo man allen jenen Problemen seit
langem eifrig nachgeht hat man mit praktischer Beherztheit diesen Punkt
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88
Mittaitmgat.
herausgegriffen. Und auch die einzige deutsche Stadt, wo die hier ange-
deuteten Fragen von Seiten der Kunstfreunde wie der Lehrerschaft er-
wogen worden sind: Hamburg, hat diesen Weg eingeschlagen.
Die Anachaaungabilder unserer Schulen — darüber verlohnt es kaum
zu sprechen — genügen den Anforderun^jeu, die hier gestellt werden müssen,
hei weitem nicht. Künstlerische- Hilder, die dem Gegenständlichen wie
der Pehrindhmgsart nach geeignet sind, aui das Empfinden des Kindes zu
wjrken, soiien in die Schule, zum Schmuck der Wände in den meist so
kahlen und wenig einladenden Räumen, und als Material für die Erzieher, um
die Zöglinge dem Kunstempfinden naher zu fuhren. Denn dies soll gelehrt
werden, nicht Kunstgeschichte: kein neues Fach, kein neuer Lehrgegenstand
soll in die Schule, keine neue Last, sondern eine Lust.
Die Folgen, die eine solche Einführung in die Kunst für die lieran-
warVisende Generation haben würde, la-.M n sich heute kaum übersehen. Sic
gehen weit über die unmittelbare Wirkung: Erziehimg zum Kunstgenuss und
rar erhöhten Naturfreude, hinaus. Die gesamte Ausbildo^ des Zöglings
wird davon Vorteil haben, »eine ganze Anschauung wird dadurch beeinflusst
werden, die Erweckung des künstlerischen Geschmacks, die als letztes Ziel
dabei vor Augen schwebt, wird auf sein späteres Leben wirken und ihm in
jedem Berufe, namentlich wenn er ein Handwerk irgend welcher Art er-
greift, zu Gute kommen. Doch auch die ethische Wirkung einer solchen
künstlerischen Anleitung soll man nicht vergesse«. Gerade die erzogenen und
geleiteten ^nne nnd der beste Schutzwall gegen ihren Missbranch, gegen das.
was wir gemeinhin tadelnd als „Sinnlichkeit" bezeichnen, weil uns das Gefühl
dafür abhanden gekommen ist. das^s es auch eine zum Hohen und Edlen
führende, ein sittliche Sinnlichkeit giebt.
Wir möchten diese Bestrebungen aufnehnaen und die Anregung dazu
bieten, dass sie weitere Kreise ziehen. Eine Atisstellung „D ie Kunst im
Leben des Kindes", die im Mirz dieses Jahres im Gebäude der Ber-
liner Secession stattfinden soll, wird in drei Abteihingen — .Künst-
lerischer W a n d s c h in u f k für Schule und Haus". ..Bilder-
buche r". und ,.D a s Kind als Künstler" — vorführen, was auf den
genannten Gebieten an brauchbarem Material für Deutschland und in erster
linie für Berlin — denn bei diesem Bemühen wird man stets am besten «die
heimatliche Besonderheit in Betracht ziehen — bereits vorliegt. Sie wird
ferner in einzelnen Proben aufzeigen, wie man im Auslande seit Jahren im
Dienste dieser Gedanken thätig war. Und sie will schliesslich und vor allem
auf Lehrer imd Eltern, auf Behörden und Freunde der Kunst und des Er-
ziehuugswescns und, nicht zuletzt, auf die Künstler anregend wirken.
Wir sind uns woM bewusst, dass mit der Veranstaltung einer solchen
Attsstdlung nur ein erster Schritt in einem weiten und vielfach noch uner-
forschten Lande gethan wird. Aber dieser erste Schritt muss einmal ge-
macht werden. —
Scbriftleitung: F. Kcmsici, Berlin NW., P.iulstr. 33.
Vertag von Herminn Walther, Berlin SW., Wllhclmstr 47.
Dmck von •Typographia", KnaiUuiid SebaiaMbiaco-DracIteici, BeriinSW., Friedridutt'. M.
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Zeitschrift
(Br
PädadOflUcte Psychologie
und
PatModie*
herausg^eben
von
Ferdinand Kemsies.
Jahrgang III. Berlin, April 1901. Heft J«
lieber kindliche Vorstellungen bei den äogeiu
Naturvölkern.
Vortrag im Verein für KinderpsydioiQgie am IS. Juni 1900.
Von
F. von Luschan.
Aus unserer allgemeinen Erfahrung von dem Parallelismus
ontO' und phylogenetischer Reihen hat sich bei den meisten
Gebildeten die Vorstellung entwickelt, dass die sogenannten
Naturvölker nicht nur im allgemeinen ein frühes Stadium der
Geschichte der Menschheit vertreten, sondern dass auch ihre
Psyche mit der unserer Kinder übereinstimme.
Dieser Vorstellung verdanke ich wohl auch die ehrenvolle
Aufforderung, hier in Ihrem Kreise über ein Thema meines
Wissensgebietes 2u sprechen. Wenn ich dieser Aufforderung
heute entspreche, so kann ich dies nicht ohne die schwersten
Bedenken thtm, und ich will vorweg gestehen, dass gerade die
Psychologie dasjenige Gebiet ist, auf dem die Völkerkunde
noch am allerweitesten zurück ist, und auf dem sie mit einer
grossen Menge von allgemein verbreiteten Irrtümern und völ-
lig verfehlten Vorstellungen zu kämpfen hat. Es liegt das natur-
gemäss in der besonders schwierigen Beschaffenheit zuverläs-
sigen Materials. Speere und Dolche zu sammeln, ist ja mein
wesenllicli schwieriger als das Fangen von Käfeni und Schmet-
terlingen, aber da^ richtige Erfassen eines psychologischen Vor-
ganges erfordert sehr viel mehr Zeit und Sprachkenntnisse,
alij der grossen Mehrzahl der Reisenden gegeben ist. In der
That finden wir die meisten .Angaben über religiöse Vorstel-
Zeitsdirift für pjUUgogitcbe Psychologie nnd Pathologie. 1
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90
F. von Luschan.
lungen« über Rechtsbegriffe und über psychologische Fragen
gerade immer in den Berichten von flüchtigen Reisenden, von
denen wir wissen^ dass sie kaum ein Wort der Landessprache
kennen und wir sehen andererseits, dass gerade die wirkUch
gewissenhaften und sorgfähigen Beobachter selbst nach jahre-
langem Aufenthah unter den Eingeborenen sich nur sehr re-
serviert über ihr geistiges Leben äussern. Viele moderne
Autoren, deren ganze Geschicklichkeit darin besteht, aus zwölf
Büchern ein dreizehntes zu machen, sind sich der Minderwertig-
keit einzelner ihrer Quellen nicht genügend bewusst gewesen,
und so sind jetzt viele Vorstcllvrgen zur „Psychologie der Natur*
Völker" allgemein verbreitet, die einer näheren Prüfung nicht
standhalten.
Wenn R. Martin seine Freunde von der Malayischen Halb-
insel „sorgenlos und zeitlos*' nennt, und wenn ein anderer die
Peru-Indianer als eitel bezeichnet, weil sie fünf bis sechs Stun-
den täglich auf ihre Toilette verwenden, so wird man ihnen
sicher beipflichten müssen. Wenn aber zum Beispiel Max Fried-
mann behauptet, dass Causa Vtätsf ragen den „Wilden" ganz
fremd seien, so fordert das den Widerspruch jedes kundigen
Ethnographen heraus. Wir wissen, dass gerade der primitive
Mensch einen viel grösseren Teil seiner Zeit über warum, wes-
halb, wieso, wozu, nachdenkt als wir, und wir können uns sehr
gut vorstellen, dass die Trugschlüsse, zu denen er dabei so oft
gelangt, nicht notwendig auf einer besonderen Schwäche des
Denkvermögens beruhen müssen, sondern viel eher auf Mangel
an Bildung zurückzuführen sind. Post hoc ergo propter hoc
stammt aber aus der Antike und würde also unbelenklidi zum
Beweis dafür herangezogen w^:rden können, dass auch einCul-
turvolk in Causalitätsfragen nicht immer zuverlässig entscheidet.
Bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Kenntnisse sind
allgemeine Angaben über psychologische Vorstellungen fast
immer bedenklich, und ich ziehe es daher vor, Ihnen heute einige
zuverlässig beobachtete Thatsachen mitzuteilen, die vielleicht
ein gewisses Interesse auch für Ihr Studiengebiet haben.
Zuvor möchte ich aber nodi darauf hinweisen, dass es nicht
angeht, so ohne weiteres von „Wilden" oder auch von „Natur-
vöÜcem** zu sprechen. Alle Bemühungen, irgend welche Kri-
terien zwischen Culturvölkem und „Wilden" zu finden, müssen
als völlig gescheitert betrachtet werden. Jeder neue Autor
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IMer kmdUAM VorttdlimgtH M den »gm. NaturvMem.
91
stellt da neue Grenzen auf und entdeckt neue Zwischenstufen.
■So hat man versucht aktive und passive Rassen zu unterscheiden,
dann hat Carus izwischen seine Tag- und Nachtmenschen noch
die „Dämmerungsmenschen" eingeschoben, und so die Mon-
golen zwischen die Europäer und die Neger gestellt.
Genau ebenso naiv und haltlos sind die Scheidungen nach
der Farbe nach der „Schönheit^, nach Reinlichkdt*), nach
der Moral, nach der Schamhaftigkeit, nach dem Mehr oder
Minder an Bekleidung"), nach dem Besitz oder dem Pehlen
der Schrift *X nach dem Vorkommen von Menschenopfern*) und
nach allerhand anderen Kriterien solcher Art.
Je besser wir jetzt diese Wilden" oder diese „Naturvölker"
kennen lernen, umsomchr sehen wir ein, dass es nirgends eine
( »renzc giebt, die sie scharf und sicher von den Kulturvölkern"
scheidet. Selbst der verhältnissmässig geringere Verkehr mit
der Ausscnvvelt, der uns im allgemeinen noch als das sicherste
Kriterium eines primitiven Volkcb erscheint, ist immer nur eine
relative, niemals eine absolute Eigenschaft.
Was den Wilden" am häufigsten vorgeworfen und immer
wieder von neuem als kindliche Eigens* Im tt angerechnet wird,
ist ihre ».Schwäche im abstrakten Denken." Wie eine solche
Ansicht entstehen kann, mörlite ich an einem Einzelfalle schil-
dern, der mir jüngst erzählt wurde:
Ein Sammler, ich sage nicht, dass es ein Landsmann von
uns war, hat einen Korb ergriffen und wünscht den einheimi-
schen Namen zu erfahren. Er fragt, da er die Landessprache
') Die dunkle Hautfarbe ist im wesentlichen als Schutzmittel gegen
Sonnenbrand zu betrachten und iiat mit der ethnischen Dignität nicht das
Oeriii£iBte zu sdiafleti.
^ Viele Banttt niniceit sich nach jeder Matzett sotigaitig die ZIhne mit
dner scharfen Bfliste. Wie viele deutsche und russische Bauern haben niemals
von einer Zahnbürste auch nur gehört! Die Mehrznbl der „Wilden" pflegt
täglich zu baden, während es viele Furopicr giebt, die sich niemals waschen.
Die alten Griechen (cfr. Herodot I. 10, ihurydides i. 6. 5 u. s. w.)
iraren stolz auf ihren nackten Körper und wussten, dass bei den Barbareo
eine Schande sei, nadct gesdien zu werden.
Man vergleiche die enorme Ueberzahl der Analphal)eten Qber die
Schreibkundigen z. B. in Russland und im Q^gensatze dazu das grossartige Ge-
dächtnis der meisten polynesischen Stämme.
5) Vor der Schlacht bei Salamis haben die Griechen drei gefangene
Perser, Ndtcn des Xerxes, dem Dionysos geopfertlü
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nicht genügend erlernt hat, in seiner eigenen Muttersprache
wie das Ding heisse. Sein Boy antwortet : „Das ist aus Stroh".
Darauf sagt ein Einheimischer: ,,Nein, das ist aus Binsen."
Einer von den beiden scheint also gelogen zu haben und jeder
erhält 25 Hiebe; (dann wird ein zweiter Ei,nheimischer herange-
schleppt, der erklärt, der Korb sei geflochten und erhält da-
raufhin auch seine 25 Hiebe. Dann erklärt ein anderer: Das
Ding sei ein Korb. Ein vierter erklärt es gehöre für Mehl, ein
fünfter, der Korb gehöre seinem Bruder, ein sechster, er wisse
nicht wem der Korb gehöre, der siebente, er verstünde nicht
was der weisse Mann wolle. Das Ergebniss dieser „wissen«
schaftlichen Untersuchung" sind zunächst also 200 Stockhiebe.
Dann notiert der Weisse in sein Tagebuch: „Das sind keine
Menschen, das sind Thiere." Der Schwarze sagt : „Der Mann
ist nicht ganz gescheut, dem müssen wir aus dem Wege gehn/*
Der Stubenethnograph aber schreibt: Der Neger ist durch
die Schwäche im abstrakten Denken ausgezeichnet.
Aber auch sehr angesehene Reisende sind in diesen Fehler
verfallen. Schon Spix und Martins klagen, dass es bei dem
Mangel an Uebung des Geistes der Indianer sehr schwierig sei,
über seine Sprache genügende Auskunft zu erhalten. ^Kaum
hat nnan angefangen ihn auszufragen, wird er ungeduldig, klagt
über Kopfweh und zeigt, dass er diese Anstrengung nicht auszu-
halten vermSge.*^
Auch Avd-Lallemand erzählt sehr breit und ausführlich, in
welcher Art er seine Sprachstudien bei einem Botokuden an>
stellen wollte, und schliesst, nachdem er den völligen Misserfolg
seiner Bemühung berichtet, wörtlich, er hätte sich mit tiefer
Wehmut davon überzeugt, dass es auch zweihändige Affen gebe.
Wenn wir heute diesen Bericht des einst sehr angesehenen und
viel gelesenen Reisenden genau zergliedern, kommen wir aller-
• dings zu einem etwas anderen Schlüsse: Der Botokude war
bescheiden, liebenswürdig und diensteifrig, der Europäer hoch-
mütig, thöricht und ungeschickt.
Ich selbst bin persönlich einmal Zeuge davon gewesen
wie ein „Gelehrter** von einem Kurden erfahren wollte, wie die
Abn'sche Phrase, „das Taschenmesser meines Bruders ist
schöner als der Apfel meines Vaters,** auf kurdisch laute. Mein
personlicher Eindruck war der, dass es sich auch in diesem
Falle nicht um eine Denkschwäche des „Wilden**, sondern um
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IMer Amdlicke VorsUllungcn bei den sogen. NaturvöUtem.
93
di« absolute Ungeschicklichkeit und Thorheit des Reisenden
handelte.
Wirklich lehrreich für den Zweck unserer Betrachtung
scheint mir das Z ä h 1 e n m sein; hier handelt es sich um wahre
Abstraction, um Abstraction von der Natur der zu zählenden
Dinge. Ein kluges kleines Mädchen, das Fritz Schultze, Dres-
den, beobachtete, war über zwei Jahre alt als es anfing, die Zahl
2 zu begreifen und von sich aus zu urteilen, dass man von zwei
Aepfeln und von zwei Puppen sprechen könne. £s dauerte
dann 4 — 5 Monate, bis es die Zahl 3 begriff und mit 2V2 Jahren
weniger zehn Tagen hatte es die Vier noch nicht in ihrer
Gewah.
Es ist mir leider nicht bekannt in wie weit derartige Be-
obachtungen an anderen europäischen Kindern angestellt wur*
den. Jedenfalls würden sie mir sehr wichtig und interessant
scheinen.
Von den sogenannten Naturvölkern aber besitzen wir an-
scheinend sehr ausgedehnte Beobachtungen über ihre Fähig*
keit zu tählod. Leider wbd dabei Wort und Begriff sehr oft
verwechselt. Besonders häufig geschieht das bei den Stämmen»
die angeblich nur bis zwei zählen können. Solche sind in Afrika
die Buschmänner, in Südamerika die Bakairi und manche an-
dere Waldstämme, in der Südsee die meisten Eingeborenen
von NeU'Holland. So zählen die Leute von Cap York:
1 . netat
2. naes
3. naes netat
4. naes naes
5. naes naes netat, u. s. w.
Deshalb kann man aber natürlich nicht sagen, dass sie
nur bis zwei zählen können, sowenig als man uns sagen darf,
wir zählten nur bis 10 oder bis 12, weil wir dann wieder von
vorne anfingen. Diese Völker haben eben ein Dualsystem, wir
haben ein Decimal-System, genau so wie andere Völker wieder-
um ein Quinar-System haben und einfach zählen: i, 2, 3, 4,
Hand, Hand i, Hand 2, Hand 3, Hand 4, 2 Hand. Am Orinoko
heisst II : eins am Fuss, 15 : ganzer Fuss, 16: eins am anderen
Fusse, 20: ein Mann, 21 : ein Finger an den Händen eines an-
deren Mannes. So entstehen Wortungdieuer^ die auch das Den-
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F. von LuuhaH,
ken in Zahlen sicher sehr erschweren, aber doch das Zählen
an sich nicht iinmöghch machen.
Uebrigcns scheinen auch wir P.uropäer ähnhch im zählen:
Die häufig wiederkehrende Angabe, fünf, quincjne, pente,
käme von Sanskrit pentscha Hand, ist zwar falsch, aber
acht, octo, heisst nach Geiger, dass zwei von zehn eingebogen
sind, genau wie das die Basuto ausdrücken, wenn sie acht
sagen wollen.*) Eben.so schreiben wir die römischen Zahlzeichen,
indem wir Finger malen: 1, II, III, IUI oder IV und V, wobei
V nur die Abkürzung für die ganze fünffingrige Hand ist und
X das Zeichen für zwei zusammengehaltene Hände.
Neben diesem Decimal-System haben sich in Westeuropa
noch Reste eines Zwanziger-Systems erhalten, so sagt man in
England manchmal threescore und fourscore für 60 und 80,
und im Französischen wird regelmässig bei 60 die Decimal-
reihe verlassen, indem man für 70, 60 und 10 sagt, für 80 vier-
mal zwanzig und lur 90 quatre vingt dix.
Dass sich auch bei den mdogermanischen Völkern die Fä-
higkeit grössere Zahlen zu denken, erst allmählich entwickelt
hat, scheint aus der Unähnljchkeit der Worte für hohe Zahl-
begriffe hervorzugehn. Eins und unus, drei und Ires, sechs
und sex stimmen überein, ebenso noch hundert und centnni, aber
nicht mehr tau.send und raille. So könnte es scheinen, dass äich die
Stammvölker bereits getrennt hätten, noch bevor sich die hö-
heren Zahlen cmvs ickelt hatten. Thatsächlich können wir die
F2ntwicklung ganz hoher Zahlen, noch heute direkt historisch
verfolgen. Homer zählte nur bis Tausend, Zehntausend waren
damals iMxa xihm^^ also zehn Tausend, genau wie noch heule
für uns. Das Wort ttvQioi haben die Griechen erst nach Homer
gebildet, ebenso wie das Wort MilHon erst seit 1494 Mirkommen
soll und die Römer dafür noch decies centena nuUia sagen
mussslen. Das Wort Milliarde ist erst 1830 aufgekommen und
das Wort Billion ist noch heute zweideutig indem man in
Deutschland darunter eine Million Millionen, in Frankreich nur
tausend Millionen zu verstehen pflegt. Die gleiche Zweideutig-
keit haftet dann natürlich auch den späteren Bildungen Trillion,
Quadrfllion u.s.w. an.
*) Wahndieinlicli fraUoh ist octo eine Dualform und als solche gleich
3 mal 4^
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Ueber ttndiühe VorsUllungen bei den sogen. Naturvölkern.
95
Damit zu vergleichen wäre auch die Höhe der Ziffern, die
von Kindern und von primitiven Völkern gebraucht wird, um
den Begriff unzahlig viel auszudrücken. Sie wissen, dass die
Römer sexcenti — sechshundert, sagten, wenn sie zahllos" mein-
ten. In ähnlicher Weise sprechen wir oft von „Tausend" und
nennen den Skolopender Tausendfuss". Dieses selbe Tier aber
nennen die Türken Kirk-.Ayak (Vierzigfuss). Ebenso bilden sie
Ortsnamen, wie Kirkagatsch, Kirkgedschid, Kirkkawak, Kirk-
kilisse, Kirkkiöj u. s. w., wo es sich um einen Hain mit vielen
Bäumen, um eine Gegend mit vielen Fürthen, um einen Ort
mit vielen Pappeln, um ein Dorf mit vielen Kirchen oder um
einen aus vielen kleinen Dörfern bestehenden Bezirk handelt.
Ebenso fleht auch ein türkischer Bettler den Segen Aiiah's
vienigtausendmal auf seinen Wohltbäter herab.
Dies vorausgeschickt, wäre nun zu fragen, wie weit zählen
überhaupt die sogenannten Nattirvölker ? Die Angaben, die
wir darüber erhalten, weichen weit auseinander und sind oft
sehr wenig vertrauenerweckend. Es ist möglich, dass thatsäch-
lich manche primitive /Stämme nicht sehr viel weiter zählen, als
kleine Kinder bei uns, aber irgend welche ganz positive ein-
wandfreie Angaben darüber liegen bisher noch nicht vor. Lich-
tenstein erzählt von' einem Kaf fernhäuptling, der sich am Abend
seine Herde vorbei treiben lässt und genau weiss, dass alle
400 Rinder einzeln an ihm vorbeigezogen sind, ohne dass er
bis 400 zählen könnte, ja ohne auch nur ein Wort oder einen
Begriff für diese Zahl zu haben. Heute wissen wir, dass dieser
Häuptling ganz sicher ein Wort für 400 gehabt hat, ob er aber
seine 400 Rinder einzeln gezählt hat, ist immer noch unsicher.
Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass ein kurdischer Hirte,
der sehr gut zählen konnte, seine Heerde niemals zählte und
ihre Stü kzahl nicht kannte, ja er wusste nicht einmal, wie viel
Rinder ihm aus den einzelnen Zelten anvertraut waren, und
konnte mir nur nach langem Nachdenken mitteilen, dass Hanife
16 und Hassan 3 Rinder halte. Er wusste nur, dass zu jedem
Zelte eine bestimmte Gruppe von Tieren gehörte. Ich möchte
den Mann deshalb nicht für schwachsinnig halten.
Ich selbst weiss heute nicht, wieviel Bücher ich besitze und
wieviel Bilder in meinem Arbeitszimmer hängen. Aber ich
nehme es sofort wahr, wenn eines meiner Bücher verstellt oder
eines meiner Bilder verhängt ist — soll ich deshalb der
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96
Schwäche im abstrakten Denken beschuldigt werden? Dann
würde es sehr viele schwachsinnige Menschen unter uns geben
und dann, aber nur dann dürfen wir auch den Lichtenstein*schen
Ama-Kosa-Häuptling und meinen kurdischen Hirten für un-
fähig erklären, abstrakt zu denken.
Ich will zum Schlüsse zwei Beispiele anführen, eines aus
der Südsee und eines aus Afrika, die beide auf typisch kind-
liche Anschauungen zurückgehen.
Die Maori eroberten einmal einen grossen Munitionstrans-
port der Engländer. Sobald sie die Art ihrer Beute erkannt
hatten, verlangten sie einen Waffenstillstand und beruhigten
sich nicht eher, als bis sie die gesamte Munition wieder in die
Hände der Engländer gebracht hatten. Das geschah in einem
der grössten und blutigsten Kolonial-Kriege, der je geführt
wurde Und warum? „Ja", sagten die Maori, als man sie über
den Grund ihres Vorgehens befragte, „wenn wir euch das Pul-
ver nicht wiedergegeben hätten, dann wäre der Krieg ja aus
gewesen."
Die Konde fühlten sich von einigen Europäern der Station
Langenburg am Nyassa gereizt; besonders war ihnen unan-
genehm, dass man sie, wahrscheinlich um sie zum Ankauf von
Stoffen zu veranlassen, einmal wegen ihrer Nacktheit verhöhnt
hatte. Sie beschlossen sich zu rächen, unternahmen einen
grossen Kriegszug und überfielen die Station. Alle Europäer
sollten lebend gefangen und entkleidet und ihr Leben lang
nackt wegen ihrer Nacktheit verspottet werden. Es war des-
halb nötig, die Europäer nicht zu verwunden, und so kam es
zu dem zugleich heldenmütigsten und thörichtesten Kampfe,
der je gekämpft wurde. Bei dem Versuche, die gut bewaffneten
Europäer lebend einzufangen, verloren hunderte von tapfern
Kriegern ihr Leben, wehrlos und widerstandslos, da sie von
ihren Waffen keinen Gebrauch machen wollten, um nur ja die
Europäer nicht zu verletzen.
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lieber Suggestion bei Kindern.
Vorintg, gdialtai im fioüiwr Vcrain ffir Kindop^ytliologteaiii 7. Dezember 1900.
Vo«
Adolf Baginsky.
Meine Damen und Herren!
Wenn ich es unternehme, vor Ihnen über Suggestion bei
Kindern zu sprechen, so bitte ich Sie von vornherein, an meine
Ausführungen nicht zu hoch gespannte Erwartungen knüpfen
zu wollen. Es kann nicht meine Absicht sein, Ihnen über diesen
schwierigen Gegenstand definitive Aufschlüsse zu geben. Ich
möchte nur versuchen, Ihnen über einige merkwürdige und
interessante Vorkommnisse aus meiner Praxis zu berichten, die
geeignet sein dürften, attf diese Fragen einiges Licht zu werfen.
Ich werde im Gegentheil dankbar sein, von Ihnen Aufschlüsse
über das tiefere Wesen solcher Vorgänge zu erhalten.
Wer Gelegenheit hat, häufiger am Krankenbette zu weilen
dem geht sehr bald die Erkentniss aüf , dass zur Ergänzung der
üblichen körperlichen Behandlung der Kranken eine seelen^
ärztliche Auffassung und Thätigkeit unbedingt nothwendig ist.
Früher freilich war man der Meinung, das kindliche Seelen-
leben sei gleich einem Spiegel klar und durchsichtig, so dass
man nur abzulesen brauche, wie die Eindrücke der Aussenwelt
in ihm sich widerspiegeln. Diese Ansicht ist wesentlich geän-
dert worden durch die pädagogischen und psychologischen For-
schungen der neueren Zeit. Was in der Seele des Erwachsenen
liegt, muss schon in der Seele des Kindes angelegt sein, da es
sich daraus entwickelt. Dalier ist die Seele des Kindes keines-
wegs wie ein klarer See, der unverändert widergäbe, was die
Aussenwelt auf ihn einwirken lässt. Allerdiiig;^ sind die Ufer
des See's anders gestaltet beim Kinde als beim Erwachsenen,
hier mehr eben und gleichförmig, dort mehr hügelig und ber-
gig; aber die Wellenbewegung, die Vorgänge selbst sind von
derselben Art beim Erwachsenen wie beim Kinde. Etwas Be-
sonderes, Neues kann also nicht hinzukommen; die ursprüng-
lichen Anlagen sind in ]>eiden Fällen die gleichen. .\us dieser
Auffassung vermögen wir mancherlei Verständniss für die Seele
des Kindes zu schöpfen. — Insbesondere haben die ])adagogi-
schen Studien der Neuzeit zur Erkenntniss der Fehler des Kin-
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98
Adolf Daginsky.
des gcfülirt ; und es ist eine umfangreiche Literatur darüber
/.usaniniengetragen worden. Ich erinnere z. B. an die grosse
Sammlung, die Strümpell über diesen Gegenstand veröffentlicht
hat. Wir sehen darin fast alle Fehler, die auch beim Erwach-
senen zum Ausdruck konunen, angelegt und vorkonmiend ; be-
greiflicherweise handelt es sich bei diesen Erscheinungen
keineswegs nur um harmlose Vorgänge ; vielmehr treffen wir
bei diesem Siuclium häufig auf VotTiange ernsterer Art, die
als eigentliche seelische Anonutlien auigefasst werden mü-scn.
Triebe und Leidenscliaften, bewusste und unbewusste Abweich-
ungen von dem sittlicli Ivichiigen, wie sie uns bei Erwachsenen
grell entgegentreten, w ir finden sie schon am Kinde in, wohl aiis-
geprägter Weise vor. So kommen denn Erfahrungen zum Vor-
schein, wie sie z. B. in den Mittheilungen des schwedischen
Arztes Abelin in Stockholm in einem interessanten Aufsatze
über idie sogenannten simulirten Krankheiten der Kinder
niedcH-gelegt sind. — Nehmen wir einen einzelnen der dort
veröffentlichten Fälle heraus:
Ein dreizehnjähriger Knabe« der angeblich an schweren
und schmerzhaften KrampfanffiUen litt» die mit völligem Starr-
krampf, mit Athemnoth, Clairvoyance und anderen schweren
psychischen Anomalien einhergingen, wird vor einer grösse-
ren Zuhörerschaft demonstrirt und dabei durch ein unver-
muthetes Kitzeln als Simulant entlarvt.
Wie sollen wir beim Kinde einen derartigen Vorgang erklär
ren? Bei Strümpell bt es vornehmlich der Begriff der Lüge,
und der Lügenhaftigkeit, der zur Erklärung solcher Vorkomm-
nisse herangezogen wird. Strümpell definirt das Lügen der
Kinder als eine falsche Darstellungsweise, ein Spielen mit dir
Unwahrheit oder aber als Selbsttäuschung auf dem Boden eineü
zügellosen Phantasie. In anderen Fällen wiederum soll es ent-
schuldbaren Motiven und Gefühlen, wie Zuneigung,. Abneigung
etc. entspringen. Dem dolus würde danach keine eigentliche
oder, zum mindestens keine erhebliche Rolle zufallen. Wenn
ich die Erfahrungen meiner eigenen Praxis überschaue, so bin
ich dem gegenüber mehr geneigt, zu glauben» dass bei diesen
Dingen der Begriff der Autosuggestion im Spiele sei. Es han*
delt sich darum, dass die Kinder sich selbst Vorspiegelungen
machen und dieselben in die That überführen. Um dies zu er-
läutern, will ich Ihnen einige Beispiele aus meiner Praxis an-
führen.
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Ueber Suggestion bei Kindern.
99
In einem ersten Falle handelte es sich um ein fünfjähriges
Mädchen, dass an nächtlichrn Anfällen \-on Krstickung Uli;
es wurde ins Krankenhaus aufgenommen, und ohne jede an-
dere Einwirkung, lediglich durch den Einfluss des Milieus des
Krankenhauses in wenigen Tagen geheilt.
Ein zweiter Fall betraf ein vierjähriges Mädchen mit Ver-
zerrung des Mundes, Speichelfluss und Versteifung der
Hände. Die Diagnose des Zustandes schien zweifelhaft; abez:
während es noch in der Beobachtung des Krankenhauses sich
befand, wurde es ohne jedes Zuthun geheilt.
Ein dreijähriges Kind, das an Schmerzen in den Gliedern
litt und ins Krankenhaus eingeliefert w,urde, war seit 24 Tagen
unfihig 2U geben. Bei der Binlieferung fanden sich starre
Beugestellungen beider Beine vor. Das Kind wurde mit dem
faradischen elektrischen Strome nur scheinbar behandelt und
nach wenigen Stunden geheilt. Offenbar handelt es sich hier
um einen suggestiven Einfluss des elektrischen Stromes.
Ein weiterer Fall betraf ein Ii jähriges Mädchen mit den-
selben Erscheinungen wie der vorige, zu denen sich aber ausser-
dem ein bellender Husten gesellt hatte: Der blosse Versuch
der Anwendung des elektrischen Pinsels mit ganz schwachem
Strome, genügte, um sofort eine dauernde Heilung herbeizu-
fiUtren.
Imnficbsten Fallehandeltessich um ein zwölQahriges Mäddien»
das mit Krämpfen eingeliefert wurde, die mit Bewusstseins^
Verlust einhergingen. Bei der Untersuchung stellte es sich her-
aus, dass das Kind in hohem Maasse erblich belastet war. Da
das Kind in seuiem Benehmen vielfach Uebertreibungen auf-
wies, wurde eine suggestive an sich wirkungslose elektrische
Behandlung eingeleitet, die in kurzer Zeit ohne jedes andere
Hilfsmittel zur Heilung führte.
Der sechste Fall betrifft ein 8 jähriges Mädchen, das seit
4 Jahren an Zuckungen in Armen und Beinen litt, gleichzeitig
mit anscheinend ausgeprägter Nackenstarre, die sich darin
äusserte, dass das Kind den Kopf scharf nach hinten Jegte. Das
Kind hatte auffallend reiches \md schönes Haupthaar. Schon
bei der ersten Untersuchung zeigte das Kind ein unverkenn-
bares Behagen und Wohlbefinden; die Zuckungen in Armen
und Beinen verschwanden, nur der Kopf wurde in der anorma-
len Stellung nach hinten festgehalten. Bei diesem Kinde ge-
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100
Adolf Jiagtttiky.
niij^te die einfache Drohung, dass das reiche Haar entfernt
werden tnüsstc» um mit den anderen auch diese Erschcmung
zu beseitigen.
In einem letzten F-^IIr t ndlich handelte es sich um einen
Knaben von lo Jahren, der bei augenscheinlich hysterischem
Wesen mit Lähmungen der Nackenmuskulatur und des
linken Beines in das Krankenhaus eingeliefert wurde.
Später trat noch eine Lähmung des linken Armes hinzu Wir
verabreichten dem Kinde einen Löffel L^ngarwein nm der Er-
klärung, dass es unbedingt helfen würde : dies genügte in der
That zur Heilung des Knaben, der nach kurzer Zeit gesund
entlassen werden konnte.
Fragt man sich, wie solche Zustände zu Stande kommen,
so ist es klar, dass es sich hierbei um voreingenommene Vor-
stellungen der Kinder handelt, die sie zur Ausführung bringen ;
sie erliegen dem Eindruck einer sich selbst gemachten Vor-
spiegelung. Dabei können die Erscheinungen einmal dadurch
hervorgerufen %vcrden, dass die Funktionen übertrieben und
gesteigert werden, durch liahnunj,^, wie man zu sagen pflegt;
oder aber anderseits durch Hemmung, wie z. B. bei Lähmungen
zu Tage tritt. Die Vorstellung des Nichtkönnens unter gewissen
Motiven wird dabei übertragen in das wirkliche Nichtver-
mögen. Beeinflussung der kortikalen Centren der Kinder be-
seitigt diese übertriebenen Bahnungen und Hemmungen und
führt sie zur Norm zurück. Diese Beeinflussung kann verschie-
dener Art sein: durch äussere Einwirkungen, Worte, Drohun-
gen, oder larvirte Einflüsse u. s. f. Dies ist das Wesen der soge-
nannten suggestiven Behandlung solcher Zustände; die Erfahr
rung lehrt hierbei, dass diese Kinder ausserordentlich sug
gestibel sind. (
Bei einer anderen Gruppe von Krankheitsformen liegen
die Verhältnisse wesentlich komplicirter. Bei der bisher ge-
schilderten Reihe von Kindern handelte ,es sich niemals um
physopathologische Processe, so dass bei denselben, falls sie su-
fällig gestorben wären, bei der Sektion nicht irgend welche
materiellen Veränderungen des Nervensystems würde gefun-
den worden sein.
Ganz anderer Art ist die andere Gruppe von Fällen. Bei
denselben liegen thatsächlich krankhafte Veränderungen yor,
oder wenigstens durchdringen sich physische und psychische
Anomalien.
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Ueber Suggestion bei Kindern.
101
Der eklatanteste Fall dieser Art, den ich in meiner Praxis
gesellen habe, betraf ein Mädchen von 7 Jahren, das angeblich
erschreckt worden war. Noch am selben Tage stellten sich
Zuckungen fast aller Glieder ein, die einen Veitstanz ähnlichen
Eindruck machten. Wie Sie wissen, handelt es sich bei dem
sogenannten Veitstanz, der Chorea, um Bewegungsstörungen
in den Gliedmassen, wodurch die Bewegungen etwas Unfreiwil-
liges» unwUlkürUch Ausfahrendes erhalten und incoordinirt weiv
4en. In schweren Fällen treten auch Sprachstörungen auf;
die Kinder können kaum Nahrung zu sich nehmen, nichts fassen
4Kler in der Hand behalten, und in einzelnen recht schweren und
hartnäckigen Fällen treten an den vorher bin- und hergeschleu>
derten Gliedern allmählich Lähmungserscheinungen auf. In
unserem Falle hatte das Kind die Sprache verloren, Fassungs-
vermögen und Theilnahme für die Umgebung eingebüsst ; auch
trat eine Lähmung der Nacken- und Rückenmuskulatur ein.
Das Aufrechthalten des Kopfes, ebenso das Aufsitzen war un-
m<|glich. Die Diagnose des Zustandcs war unklar; jede medi-
kamentöse Behandlung blieb ohne Erfolg. Untor solchen Ver-
hältnissen ging ich daran einen suggestiven Einfluss zu ver-
suchen. Die Weihnachtszeit stand vor der Thür, und mit ihr die
Bescheerung und der Besuch der Kaiserin Friedrich, die, wie Sie
wissen, die hohe Protektorin unseres Krankenhauses ist. Es
wurde dem Kinde eindringlich gesagt, die Kaiserin dürfe doch
ein solches Kind nicht sehen, und wenn das Kind in diesem Zu-
stande bliebe, dann könnte es auch die Weihnachtsbescheerung
nicht mitmachen. Dies stetig und eindringlich wiederholt, und
die damit verknüpfte Aufforderung sich aufrecht zu setzen,
brachte das Kind dazu, zunächst mittelst Festhaltens an den
Bettstangen aufrecht zu sitzen. Einmal begonnen, ging die
Besserung rasch von Statten. Zu unser aller Erstaunen kam
das Kind an dem Weihnachtstage aus dem Bett, stand auf und
liess sich bescheeren, als ob es nie krank gewesen wäre. Es
wurde im Januar geheilt aus der Anstalt entlassen. — Im März
desselben Jahres wurde es mit einem Recidiv ins Krankenhaus
.zurückgebracht. Gewitzigt durch die Erfahrungen, die ich mit
dem Kinde gemacht hatte, Hess ich es diesmal nicht ins Bett
bringen, sondern erklärte ihm energisch: dass ich wüsste, dass
es gehen und stehen könne. Nach wenigen Tagen konnte es
wiederum geheilt entlassen werden. — Idi habe später das Kind
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102
Adolf Itaginsky.
wiedergesehen, neuerdings mit schweren choreatischen Erschei
nungen. Diesmal handelte es sich n'u lu um eine Viorsjjiegclung.
sondern die Störung hatte einen organischen Charakter ange-
nommen, wie das glt-iclizeitige Auftreten einer rheumatischen
(jclcnk- und Herzerkrankung bewies. Gleichwohl war die erste
Attaque des Leidens rein suggestiv beseitigt worden.
Bei einem zweiten Falle, der ganz ähnli( he Lähmungs-
erscheinungen darbot, wurde eine ähnliche suggestive Wirkung
konstatirt : die Drohung, dass das Kind ins Krankenhaus müsse,
genügte, die Erscheinungen mr. emem Schlage zu beseitigen.
Es handelt sich in diesen It alien augenscheinlich um eine Ver-
quickung physopathologischer Vorgänge mit psychischen Er-
scheinungen, bri denen die Heilung durch rein psychische Ein-
flüsse zu Stande kunimt.
Um zum Versländniss solcher Erscheinungen vorzudrin-
gen, muss man in Erwägung zi^'hen, dass das Nervensystem
des Kindes etwas anders reagirt, als das des Erwachsenen.
Das Gehirn eines jungen Kindes ist noch nicht völlig aus-
gebildet, wie dies die erst allmählich fortschreitende Ent-
wicklung der markhaltigen Fasern beweist. Es findet sich
bei den Kindern eint- erheblich gesteigerte Erregbarkeit
und vor allein Refle.verregbarkeit ; die llemmungsfasern
sind noch nicht so ausgebildet wie beim Erwachsenen,
ebenso auch die Heniinuiigscentren. Aus dieser anato-
mischen Grundlage erklärt sich im Ganzen ein noch wenig ge-
festigter und gesicherter Ablauf der gesammtcn Seelenvor-
gänge. So ist auch erklärlich, dass noch eine geringere Aus-
bildung der Associationsreihen vorbanden ist, als beim Erwach-
senen. Es springen Reize von der einen auf die ^andei« Bahn
über und bringen skh zur Geltung, während sie beim Erwachr
senen niedergehalten werden. Endlich ist noch eines Faktors
zu gedenken» der die Unvollkonunenheit der kindlichen Psyche
bedingt : die Erinnerungsbilder sitzen noch nicht so fest und
sind nicht so verankert wie beim Erwachsenen, daher gehen sie
ineinander über und bringen Vorstellungen hervor, die beim
Erwachsenen nicht vorkommen.
Auf diese Weise kami man psychische Vorgänge der ge-
schilderten Art bei den Kindern verstehen. Die gesteigerte
Phantasiethätigkeit bringt eine Vermischung der Vorstellungen
hervor, die unausgebildete Hemmung bedingt die Uebertra-
gung desjenigen, was in der Phantasie entstanden ist, in die
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Ueber Suggestion (xi KtncUrn.
103
Wirklichkeit. Das, was vielfach als tadelnswcrthc Fehler aus-
.^rltgt wird, hat liäufig nur in dieser psychischen Unvollkom-
raenheit des Kindes seine Ursache: nicht mit voller Klarheit
und mit vollem Bewusstsein thun Kinder das Fehlerhafte, son,-
dern veranlasst durch ineinanderschwimmende und noch nicht
fixirte Vorsiellungen. -
Die Kenntniss dieser Thatsachen erleichtert das Vcrständ-
niss für die im Seelenleben des Kindes uns vielfach als abson-
derlich und befremdlich, ja als gefahrdrohend entgegen treten-
den Erscheinungen.
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Kritik der Associatiouseinteilun^en.
Voo
Johannes Orth.
Auf Veranlassung des Herrn Privatdozenten Dr. Marbe
beschäftigten sich vergangenen Sommer Herr Mayer und der
Verfasser im psychologischen Institut zu Wurzburg mit einer
experimentellen Untersuchung derjenigen Associationen, bei
welchen die Versuchsperson auf ein zugerufenes Wort mit einem
von ihr laut gesprochenen Wort reagiert. Die bei diesen Unter-
suchungen (welche nächstens in der Zeitschr. f. Psych, u.
Physiol. der Sinnesorg. mitgeteilt werden sollen) gewonnene
Einsicht in die Mängel der bislang vorliegenden Einteilungen
der Associationen führte zu nachstehenden Darlegungen.
In der Psychologie gehört der Begriff der Association zu
jenen, welche bei den einzelnen Psychologen in verschiedener
Bedeutung gebraucht werden. Man bezeichnet damit nämlich
I.) das Auftreten oder den Vorgang der Reproduktion, 2.) einen
Grund für diese, 3.) das Eintreten einer Verbindung beliebiger
Art von Bewusstseinsthatsachen (Empfindungen, Vorstellungen,
Gefühle) und 4.) endlich einen Grund für das Zustandekommen
solcher Verbindungen, oder mit Liebmann^) auf zwei Bedeu-
tungsgruppen gebracht, erstlich das „Zusammentreffen der ak-
tuellen Vorstellungen — Bewusstseinsthatsachen — im
Bewusstsein" und zweitens „das Aneinanderhaften der virtuellen
Vorstellungen — Bewusstseinsthatsachen — -) im latenten Zu-
stande." Wir ^Stessen also im Gebrauch des Begriffes Asso-
ciation in der neueren Psychologie gleich lut einen doppelten
Unterschied, eimiial zwischen Reproduktion und deren Beding-
ung, d.LS andere Mal zwischen Vorstellungen emersciis und
Bewusstseinsthatsachen verschiedener Art andererseits. Da
endlich bei manchen Schriftstellern die Bedeutung des Begriffes
wechselt, so ist Miss Verständnissen Thür und Thor geöffnet.
Wir selbst verstehen unter Association das Hervorrufen von
Bewusstseinsthatsachen durch andere.
>) Llebmaoo: Zur Amlytft der ViiUiciibfit 3. Aufl. 1900. S. 449.
^ Dis in PfereoÜieK stctoide Wort Ist in bddoi Fllten vom VerfuBer
dngesdiobai.
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Kntik der AisocUUknseinUüungcn.
105
Natürlich kann die Mehrdeutigkeit des Begriffes nicht ohne
Binfluss auf die Einteilung der mit ihm bezeichneten psychi-
schen That Sachen bleiben. Aristoteles schon stellte 4 Gesetze
für die Association auf, nämlich Aehnlichkeit, Kontrast, Gleich-
zeitigkeit und Succession, die nach der wenig gestützten Mei'
nung von Maass^) alle darauf hinweisen sollen, dass \'orstel-
lungen, die einmal im Bewusstsein beisammen waren, sich asso-
ciiercn. Inzwischen hat fast jeder bedeutendere Philosoph, son-
derlich der Berufspsycholog, eine neue Einteilung der Asso-
ciation gegeben, zumeist freilich bis in die jüngste Zeit nichts
anderes als eine Modifikation der aristotelischen Regeln. Da
man fast durchweg unter Association lediglich Verknüpfung
von Vorstellungen verstand, hat sich hiebei der verhängnisvolle
Irrtum eingeschlichen, als Einteilungsgrund die logischen Ver-
hältnisse der assocüerten psychischen Gebilde zu betrachten,
und gelangte so stets zu irgend einem logischen Schema, dem
die einzelnen Associationen bei der Mannigfaltigkeit der asso-
cüerten Vorstellungen oft nicht ohne Gewalt eingeordnet wer-
den konnten.
Dem Bedürfnbse nach Vereinfachung folgend, reduzierte
man jene 4 Gruppen von Associationen auf zwei, auf Verbin-
dung nach Aehnlichkeit und raumzeitlicher Berührung oder
Kontiguität, indem man die Associationen nach Kontrast als
Spezialfall von jener, die Aneinanderreihung nach Simultaneität
und Succession als Berührung in Raum und Zeit auffasste. Statt
von letzterer sprach man auch von äusserer Association und
stellte ihr die innere oder die nach Aehnlichkeit gegenüber.
Dabei jedoch blieb es nicht; sondern man vertrat sogar auch
entschieden nur eine Grundform der Association, entweder
die nach Aehnlichkeit (J. St. Mill, Bain)'^ oder die nach Be-
rührung (James Mill, W. James, H. Lotze)*). Unter den An-
hängern der letzteren gibt es einige Forscher, die auch von
der Berührungsassociation nur einen Teil gelten lassen wollen;
<) Maass: Veisuch Aber die Einbildungskraft Halle und Leipzig 1797.
Seite 325 ff.
^ l eher J. St MilU & Bains Stellung zur Associationseinteilung
verf^! R Wahle: Bemerkungen zur Reschreihung und Einteilung der Ideeo-
assodationen i. d. Vicrteljahrsschrift f. iss. f 'hilos. IX. S. 427 ff.
») J. Mill: Analysis etc. I. S. III. — W. James: Prindples of Psych.
1. S. $62 Anm. — H. Lotze: Grundzüge d. Psych. 4. AufL § 20 Sw 26.
Zriischritt für pidagpgitdie Psychologie nnd Pifliolo^. 2
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106
Johannes Orlk.
Munsterberg ^) naii I ch bn^ipri alle Associationen auf den Grund-
prozess der Gleichzeitigkeit, während Ward-) in der Successioii
die Grundform aller Asso< iationsphänomerx' sieht.
Uns interessirrrn besonders die Aibeiten, welche ihre Ein-
teilung aus experimentell gewonnenem Materiale ableiten.
Nachdem Galton^) die Aufmerksamkeit auf den zeitlichen
Verlauf der Associationen gelenkt und bahnbreciiende. wenn
auch infolge ihrrr primitiven VersuchsbfMÜngungen längst über-
holte Untersut luingen — . (er selbst war zugleich Experimentator
und Beobachter und bestimmte die Zeitdauer der Associationen
sehr ungenau) — veröffentlicht hatte, führte Tr.nitscholdt *) un-
ter Wundts Leitung die psychometrische Bestimmung der Asso-
ciationen weiter und gab dabei zwecks Vcrgleichbarkeit der-
selben eine eingehende Einteilung von ihnen.
Nun sollte man erwarten, dieselbe sei, wie sonst in der
Wissenschaft ül)lich, aus dem Gegenstande selbst heraus ge-
schehen, sie sei also psychologisch. Allein dem ist nicht so ;
denn Trautscholdt ordnet alle Associationen, als welche er die
Reproduktion eines Erinnerungsbildes durch eine beliebige
apperzipiertc Vorstellung bezeichnet, den vorhin schon er-
wähnten zwei Grundformen, nämlich der inneren und äusseren
Association, unter und teilt so nach den logischen Beziehungen
zwischen den einzelnen Vorstellungsinhalten ein ''). Innerhalb
der äusseren, auf Uebung und Gewöhnung gegründeten Asso-
ciation bringt er die Einteilung der associativen Verbindungs-
prozesse nach Simultaneität und Succession mit verschiedenen
Unterabteilungen. Die innere Association urofasst Vorstellungs-
verknüpfungen nach Ueber- und Unterordnung, nach Beziehung
der Coordination und nach Abhängigkeitsbeziehungen. Ausser
seiner Einteilung vom logischen Standpunkte — und gerade
desw^egen — macht er den weiteren Fehler, dass er von der
Erfahrung seiner Versuchspersonen völlig absieht und bei Ein-
') H. Münsferberg: Beiträge z. exper. Psychol. r. S. ll'sff. Die
Assoc «^ürcess. Voistellg. i. d. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg.
I. S. 100 ff.
*) J. Ward: Encyclopaedia Britannica, 9. ed., art. Fsychology. S. 60 col. 2 f.
^ Oalton: Psychometric experiments i Brain: V. II. 1879fflO.
*) Trautscholdt: Experimentelle Utitersucfaungeii Aber die Association
der Voistellungen; Philos. Studien, I. Bd.
•) Siehe Trautscholdts Einteilung!
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Kritik der AssonatifHieimteäungtn,
107
reihung der einzelnen Associationen in sein Schema sehr kon-
struiert. Er verhalt sich bei seinen Experimenten wie ein Phy-
siker; seine Zahlen sind ihm die Hauptsache, und auch hier
begeht er den Irrtum, viel zu viel zu messen.
Da auch die übrigen zu besprechenden Einteilungen der
Associationen entgegen unsrer Forderung nach psy<^hologischen
Gesichts})unkten für dieselben fast durchweg lugib< h sind, so
sei hier der Unterschied zwischen beiden Standpunkten kurz
erörtert. Wohl sind auch die Inhalte der Logik wie die Träger
der Inhalte jeglicher Wissenschaft Gegenstand der Psychologie;
denn ohne ein erfahrendes Subjekt könnte es keine Wissen-
schaft, also auch keine Logik geben. Aber die Weise, wie
Logik und Psycholoc^ie den gleichen Gegenstand betrachten,
ist grundverschieden. Die erstere fragt nach der Richtigkeit
oder Wahrheit der Bewusstseinsvorgange. Sie gibt uns also
die Regeln an die Hand, welchen unser Denken entsprechen
muss, wenn es auf das Prädikat ,.rirhng" Anspruch erheben
will, Sie hat es demnach nicht mit den Bewusstseinsthatsachen
an sich zu thun; das Bewussfsein i^^i nur der Ort, an dem die
für sie in Betracht kommenden Gebilde sich Imden. Anders die
Psychologie ! Diese fragt nicht nach dem „richtig" oder
., falsch", sondern nach der Existenz und eigenartigen Be-
schaffenheit aller Bewusstseinsthatsachen überhaupt, nach ihrer
Entstehung und ihrem thatsächlichen Verlaufe im einzelnen
Individuum. Sie ist eben die Wissenschaft von den Bewusst-
seinsthatsachen in ihrer Abhängigkeit von einem erfahrenden
Subjekte.
Demnach darf sich eine Einteilung der Associationen nicht
vom Boden der Erfahrung entfernen und sich ausschliesslich
auf die Verknüpfungsmöglichkeiten von Vorstellungen be-
schränken, wie dies zur Zeit noch vielfach geschieht. Femer
kann nur der thatsächliche Ablauf der Bewusstseinsvorgänge
Einteilungsgrund für dieselben sein und nicht logische Mo-
mente.
Etwas anders als Trautscholdt, aber auch nach logischen
Verhältnissen, teilt Kraepelin^) die Associationen ein, nämlich:
1) Kraepelin: üeber die Beeinflussung einfacher psychischer Voig^nce
durch einige Arzneimittel. 1892. S. 39.
r
108 yokamies Orth,
*
I. Aeusserc Association.
1. ) Association nach räumliclur und zeitlicher Coexistenz.
2. ) Association nach sprachHcher Reminiscenz.
3j Association nach Klangähnlichkeit,
II. Innere Association.
1. ) Association nach Coordination und Subordination.
2. ) Association nach prädikativen Beziehungen.
Unter sprachliclien Rcminiscrnzeii versteht er die Traut-
scholdt'sche Wortassociation (als Association successiver Schall-
eindriicke der Association nat Ii Succcssion uiuergeordnct). Die
prädikativen Beziehungen umfassen die nicht seltnen Fälle, wo
die Reaktion ein Urteil, eine Kii/enschaft oder Thätigkeit des
durch das Reizwort Bezeichneten enthält.
Eng an Kraepelin schliesst sich Gust. Aschaffenburg*) in
seiner Einteilung der Associationen an, doch führt er verschie-
dene ] >weitenmgen ein, wie aus seijnem nachstehenden Schema
ersichtlich ist.
I. Unmittelbare Association.
A. Reizwort dem Sinne nach richtig aufgefasst.
a) Innere Association:
1. ) Association nach Coordination und Subordination.
2. ) Association nach prädikativer Beziehung.
3. ) Kausalabhängige Association.
b) Aeuss^re Association.
1. ) Association nach räumlicher und zeitlicher Coexistenz.
2. ) Identitäten.
3. ) Sprachliche Reminiscenzen.
B. Reizwort dem Sinne nach nicht aufgefasst.
c) Reizwort nur durch den Klang wirkend.
1. ) Wortergänzungen.
2. ) Klang- und Reimassociationen.
«t) sinnvolle,
ß ohne Sinn.
1) O. Ascbaffenburg: Experimentene Shidien Ober Assoziation.
Kraepelins Psycho!. Arbeiten» I. Bd. 1896.
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Kritik dtr A4tociatioHseiMi*ilttng«H,
109
d) Reizwort nur reaktionsauslösend wirkend.
1. ) Wiederholung des Reizwortes.
2. ) Wiederholung früherer Reaktionen ohne Sinn.
3. ) Association auf vorher vorgekommene Worte.
4. ) Reaktionen ohne erkennbaren Zusammenhang.
II. Mittelbare Association.
In dieser Einteilung, die an Gründlichkeit nichts zu wün-
schen übrig iässt, fällt uns zunächst die Zweiteilung nach un-
mittelbarer und mittelbarer Association auf. Der Begriff der
mittelbaren Association ist schwankend. Scripture^j, dessen
unten angegebene Arbeit die Frage nach der mittelbaren Asso-
ciation in Fluss brachte, beschränkt die mittelbare Einwirkung
auf den Fall, wo ein unbewusstes Glied die Verbindung
zwischen zwei Vorstellungen vollzieht. Alle nun, die eine Nach-
prüfung dieser Thatsache vornahmen, wie Münsterberg, 2)
Howe,^) Smith,*) kamen zu negativem Resultate, und man thut
deshalb gut, bei dem Terminus mittelbare Asso( iation" an eine
Verbindung zu denken, bei weklier das die Verknüpfung stif-
tende Mittelglied zwar im Bewusstsein vorhanden ist, aber nur
,, dunkel apperzipiert" wurde^). In diesem Sinne ist der Begriff
auch bei .A.schaffenburg zu nehmen. Mit seiner Hauptteilung
der Association verfährt er psychologisch, denn als Einteilungs-
grund fungiert der Bewusstseinsgrad.
Sonst aber erfolgt die Klassifikation der VorsteUungs*
Verbindungen, und nur um diese handelt es sich für ihn,
unter logischen Gesichtspunkten; unterscheidet er ja nach
Wundt das Prinzip der associati\en l^ebung für die äussere
und das der associativen Verwandtschaft für die innere Asso-
ciation. Aus dieser Unterscheidung heraus greift er auch
Wahles Kinteilung an, der als Grundformen der Association
die nach Berührung oder Contingenz und die nach Aehnlichkeii;
•) Scripturc: Ueber den associativen Verlauf der Vorstellungen. Pbilos.
Studien. VII.
^ Mansterberg: Beitrige z. cxpcr. Psychologie, Heft IV, 1893.
^ Howe: American Joarml of P^diolog. Bd. VI. & 28^246^
«) Smith: Zw Rag» der mittelbifeiiAflsoctttioii. DisMrtition, Leipzig 1894.
s) Wundt: Sind die Mitglieder dner mittelbtzcn AsBodation bevtisst
oder unbcvfij«:?*' phi! Studien X.
') Wahle: Bemerkungen zur Beschreibung und Einteilung der Ideen-
associationen. Vieiteljahrsschrift f. w. Philos. 1885.
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110
ychannes Orth.
betrachtet und erstercr auch jene Fälle zurechnet, wo tiic sich
associicrcnden „Bewusstseinsthatsarhen" im Verhält-
nis vom Ganzen zum Teil oder umgekehrt stehen, und wo eine
Relaiion von Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel etc. sich
findet.
Die sich bei Aschaffenburg ergebende Schwi* i i^kcit, eine
scharfe (»rcnze zwischen Subordination als Vorstute zum Sub-
sumtioTisurteil und prädikativer Beziehung zu ziehen, zeigt in
hellem Lichte die Schwäche logischer Gliederung für Hewusst-
seinsvorgänge, und die dort vorgebrachten Ausführungen
Aschaffenburgs könnten in jedem Lehrbuch der Logik stehen.
Trotz seiner aufgewandten Sorgfalt kann nicht immer zuge-
geben werden, dass die Einreibung der Associationen gelungen
sei, und mit vollem Rechte bemerkt in dieser Angelegenheit der
Verfasser, man müsse gar oft die Auffassung der Beobachter
zu Rate ziehen. Nur ihut er das bloss m zweifelhaften Fällen
und zwar erst nach Tagen oder gar noch längerer Zeit, wo der
Beobachter aucli nicht mehr genau über seine damaligen psychi-
schen Vorgange unterrichtet sein konnte.
Was endlich die Gliederung nach sinngemässer Auffassung
des Reizwortes oder dessen Nirhterfassung betrifft, so geht der
Autor ganz w ie Trautscholdt \ on der irrigen \'orausset?ung aus,
dass das Zustandekommen einer .Association in erster Linie
von dem Bewusstwerden des Inhaltes der Reizwörlc r abhänge,
und auch in solchen Fällen, die er unter B zusammenfasst (Reiz-
wort dem Sinne nacti nicht aufgefasst), meint er nur. .,das> du*
Reaktion keine Anhaltspunkte für inhaltliche Heziehung zum
Reizwort erkennen lasse, niclu aber, dass neben der gebildeten
Reaktion und unabhängig von ihr ni( ht doch das Reizwort anf-
gefassst sein kann.** Deshalb erklärt er auch die Reaktionen
unter d als fehlerhaft ; denn es sei \ on vornherein zu erwarten,
.,dass die i n e i n c m R e i z w o r t e 1 i e g e n d e V' o r s t e 1 1 u n g
in der Reaktion irgendwie zur Geltung kommt."
Münsterberg,*) den bei seinen Versuchen die Frage nach
den nächstliegenden Associationen und nach den individuellen
Unterschieden in der Beziehung gewisser logischer Begriffs-
Verhältnisse leitete, gruppiert seine Reizworte nach ihrer gram-
matischen Form. £r liess von 12 Personen auf je 200 zugerufene
1) HQnsterberg: Beitiige z. exp. PlsychoL Heft IV. 1892.
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ATrütfl der A*$odatiimatiHUäamgen.
III
Substamiva. loo Adjcktiva und loo Vcrba associn rr n und er-
hielt so 4800 Associationen. In Zwischenräumen \ on mindestens
3 Monaten Hess er auf dieselben Reizworte von 4 Personen
noch je 3 mal reagieren, bekam also wieder 4800, im ganzen
demnach 9600 Associationen.
£s ergab sich als Einteilung:
I. Reizwort ein Substantiv.
a) Reaktionswort ein Substantiv:
1. ) Ueberordimng,
2. ) Unterordnung,
3. ) Nebenordnung,
4. ) kausalabhängige Associationen.
b) Reaktionswort ein Adjektivum.
c) Reaktionswort ein Verbum.
1. ) das gegebene Substantiv war als Subjekt gedacht
(Blume— blühen).
2. ) Substantiv stand in indirekter Beziehung (Koffer—
reisen).
11. Reizwort ein Adjektivum. Hiebei werden 5 Gruppen un-
terschieden, z. B. :
a) Das zugerufene .Adjektiv wurde als Eigenschaft eines
Gegenstandes oder Zustandes gedacht (laut — stuuuui
laut — rufen; einig — Deutschland) u. s. w.
III. Reizwort ein Verbum, wobei 6 Fälle in Betracht kommen,
z. B.:
a) Substantiv als Subjekt gedacht (quälen — Physiologie)
u. s. w.
VoiUg unstatthaft bei Untersuchung der indi\ idiiellen l^n-
tcrschiede ist ein Ausschalten von gewissen Associationen, und
mit Recht wendet sich Aschaffenburg in dieser Beziehung gegen
Münsterberg. Dieser scheidet nämlich von den auf Substantive
als Reizworte gebildeten Associationen 3 Gruppen, zusammen
etwa 5«Vo, aus: i.) was den Charakter individueller Zufälligkeit
trug, 2.) Verbindungen mit dem Charakter äusserlichcr Schall-
associationen und 3.) die identischen Vorstellungen. Diese un-
gerechtfertigte Ablehnung genannter Gruppen kann doch wohl
nur von der Voraussetzung aus erfolgt sein, dass die durchs
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112
ythtmitet Orth,
Reizwort verursachte Enipfindung und \\ ahruehmungs\ orstel-
luug eine in jenem enthaltene V'orsteUung auslösen müsse, mit
welcher sich eine andere associieren könne, und das freilich
trifft z. B, bei Ceder-Leder nicht zu, wenigstens lässt sich Der-
artiges nicht nachweisen.
Die Einteilung der oben erwähnten substantivischen Asso-
ciationen nach XJeber-, Unter-, Nebenordnung und kausaler Ab-
hängigkeit ist wieder auf die inhaltliche Beziehung der Vor-
stellungen gegründet, also- rein logisch und mithin zu verwerfen.
Wenn Münsterberg als charakteristische Typen intellektueller
Physiognomie den Ueber-, Neben*, Unterordner gewinnt und je*
dem eine gewisse grammitakalische Form eigen sein lässt, so-
dass beispielsweise der Ueberordnung die Neigung parallel
geht, zum Substantiv ein Vei1>um zu associieren, für welches das
Substantiv Subjekt ist, oder zum Verbum das Subjekt zu ergän-
zen, so macht er Schlüsse, die durch sein Material durchaus nicht
genügend gestützt sind, Abgesehen davon, dass sie uns über die
psychischen Vorgänge überhaupt keinerlei Aufschluss geben.
Am meisten entspricht unseren Forderungen Th. Ziehen,^)
der entschiedene Verdienste um eme psychologische Einteilung
der Associationen hat, obwohl auch hier noch gar manches zu
wünschen übrig bleibt.
Zunächst unterscheidet er , .springende Associationen", z. B.
Rose — rot, bezeichnet Vj — Vo. und „Urteilsass()( iationen", z. B.
e Rose ist rot; bczeic hnetVi -"—"-^ V^, ein Vorgehen, das des-
wegen als ungeniigend und äusserlich angesehen werden muss,
weil hier ja nur die sprachliche Form, nicht aber der Ablauf
der Bewusstseinsthatsachen in Betracht kommt. Nach unseren
Erfahrungen kann recht wohl eine Urteilsassociation im Zie-
hen'schen Sinne vorliegen, sich aber nur als springende dem
Versuchsleiter in der sprachlichen Reaktion bemerkbar machen.
Weiter stellt er Verbal- und Objektassociationen einander
gegenüber xmd versteht unter letzteren die inhaltliche Ver-
knüpfung von Vorstellungen, unter ersteren dagegen dit nur
durch den Schall vermittelten ohne nachweisliche innere De*
Ziehungen. Da er nicht logisch, sondern psychologisch einteilen
Tb. Ziehen: Die Ideenassociation des Kindes. 2 Abhandlungen.
1898 und 1900. lo der Ssmmlmig von Abhandlungen ans dem Ocbicle der
|)ldaf . Rqfchologie und Physiologie;
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Kritik der AssociaHotudniniluttgen.
113
will, so geht er von den Sinnesgebieten, aos, welchen eine Em-
pfmdung angehört, z. B.
s = sprachlicher Natur,
p Empfindung,
a — akustisch.
Nach seiner Meinung soll die durch das zugerufene Reiz-
wort bewirkte E* wieder erkannt werden, und so die Gehörvor-
stellung V a im Gefolge haben. Au diese soll sich die Objekt-
vorstcllung V, schliessen und an sie eine andere Objcktvor-
steiiung Vo assoLiativ sich anreihen, so dass er zur Bezeichnung
einer Obiektassociation Vi — Vt braucht, dagegen mit Vi
die Verbalassociation belegt, z. B. „Schlacht — Macht" oder
„Bett — wird niil II geschrieben.**
Das wäre ja ganz schön, wenn die Sache sich nur wirkhch
so verhielte. Ziehen mac ht hier den Kapitalfehler, zu glauben,
dass für die Übjektabsociaiion immer erst die Bedeutung
des Reizwortes (Vj) zur Auslösung des Reaktionswortes
(V.>) fiihre und bei der Verbalassociation sie Ii stets ein Wie-
dererkennen des Klangbildes zwischen Reiz- und Re-
aktionswort scluebc. Dem widerspricht jedoch die von uns ge-
wonnene Erfahrung.
Schon a priori muss zugegeben werden, und darauf weisen
auch Ziehens Ausführungen in seinem Leitfaden^) hin, dass bei
der Verbalassociation nicht notwendig auf E \ sich V \ einstellen
muss, sondern V a sich unmittelbar an E l schliessen kann.
Ferner wird genau zwischen Indi\ idualvorstellungen, d. s.
solchen, die zeitlich und räumlich bestimmt oder unbestimmt,
jedoch gesetzmässig eindeutig einander zugeordnet sind, und
Allgemeinvorstellungen unterschieden, deren „Individualkoeffi-
zienten unbestimmt und einander nicht gesetzmässig eindeutig
zugeordnet sind." Demnach gibt es für die springende und
Urteilsassociation 4 Verknüpfungsgruppen:
1.) Reine Individualassociation:
i Vi — i Vs
i Vi ^ iV».
>) Th. Zi ehen: Leitfaden der physiolog. Ptychologie; S. 17. 5. Aufl. 1900.
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114
yokmmn Orik
2. ) Individual-Aligenieinassociaiion :
iVi — ocVt
iVi -^^^ o«Vi-
3. ) Allgemein-lndividuaiassociation :
coVi — iVi
ooV» iVi.
4. ) Reine Allgemeinassociation :
00 V I '■•^-"'^ 00 V
Die Individualvorstellungen sind bald einfach, d. h. einer
Empfindungsqualität, bald zusammengesetzt, d. h. mehreren
Empfindungsqualitäten entstammend. Sofern die einfachen Vor-
stellungen zu einer zusammengesetzten Individualvorstellung zu>
sammentreten, nennt Ziehen jene Partialvorstellungen, diese
aber Totalvorstellungen, und es ergeben sich für die Associa-
tionen sodann folgende 9 Gruppen.
1. ) Eine einfache iV weckt eine einfache iV. :
aj homoscnsorielle Vorstellungsverknüpfung,
z. B. grün — g:clb.
b) heteroscnsurielle Voröteilungs Verknüpfung,
z. B. weiss — süss.
2. ) Totalisierende Vorstellungsverknüpfung, d. h.
eine einfache iV. weckt eine zusammengesetzte
iV. und zwar:
a) eine zusammengesetzte iV., deren Partialvorstellung
sie selbst bt, z. B. grün — Wiese.
b) eine zusammengesetzte iV., deren Partialvorstellung
sie selbst nicht ist, z. B. grün — ^Zucker,
3. ) Partialisiercndc V'ürstellungs\ crkiiüpfung, d. Ji.
eine zusammengesetzte i V'. weckt eine einfache
iV. und zwar:
a) eine einfache i V., welche zu ihren Partialvorstellun-
gcn gehört, z. B. Wiese— grün.
b) eine einfache i V., welche nicht zu ihren Partialvor-
stellungen gehört, z. B. Zucker — schwarz.
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Kritik der Associationsein teilungen .
115
4.) Eine zusiunDH ngeseizte W. weckt eine andere zusam-
mengesci/i ' \\ . und zwar:
a) eine zusammcngcst-tzte iV., welche in ihr als (zusam-
nicngestn/tf ) Partialvorstellung enthalten ist, 2, B.
Wiese — Biunie.
bj eine zusammengesetzte iV.. in welcher sie selbst als
(zusammengesetzte) Partialvorstellung enthalten ist,
z, B. Blume — Wiese,
c) eine zusammengesetzte i \ welche in keinem Partial-
verhäitnis zu ihr steht, z. B. Wiese — Stadt.
Für die Verknüpfung der Allgemeinxorstellungca lassen
sich dieselben Fälle nachweisen, desgleichen für die Ver-
knüpfung von Individual- und Allgemein Vorstellungen und um-
gekehrt.
Vorstehende allerdings nach psychologischen Gesichtspunk-
ten erfolgte Einteilung krankt, wie sofort in die Augen springt,
an der oben erwalmien Meinung, dass stets eine Vorstellung
m i t einer \' o r s i c 1 1 u n g sich associiere. Um über diese Ver-
hältnisse Klarheit zu bekonunen, muss unmittelbar nach der
Reaktion die Versuclispcrson über ihre pers()nli(-hen Krlebni^^c
im Ans( hhiss an das Reizwort bis zum Aussprechen des Reak-
tiunswones eingehend Aufschluss geben. Nun hat zwar Ziehen
die von ihm \er\\c'ndeten Kinder befragt, doch beziehen sich
deren Angaben fast ausschliesslich auf die Bestimmung einer
Vorstellung als Individul- oder Allgemeiiivorstellung. Nur in
z w e i f e 1 h ;! f t ( 11 Fällen mussten die Schüler auch über die
etwaigen bnmebmodalitäten .A^ussagen machen. Wann aber ist
ein Fall zweifelhaft? Kann uns nicht etwas als selbstverständ-
lich erscheinen, im Kinde sich aber trotzdem anders abspielen?
Trotz aller Versicherungen Ziehens, dass die Angaben der
Kinder \öllig verlässig seien, müssen diese doch stark ange-
zweifelt werden ; denn nach unserer Erfahrung ist es schon dem
Erwachsenen, wieviel mehr dann aber erst dem Kinde, unmög-
lich, seine Bewusstseinsvorgänge bei Associationen jedesmal
völlig erschöpfend zu beschreiben, und gerade auf die subjek-
tiven Bestimmungen kommt bei einer psychologischen Eintei-
lung alles an. Ein Schüler z. B. associierte: „Löwe — Tiger".
Bei „Lowe" dachte er zunächst an nichts Bestimmtes^ bei „Tiger**
sofort an die Beschreibung einer Tigerjagd, welche er zuhause
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yokoHMes Orth,
gelesen, erst nachträglich fiel ihm auch das Gedicht „Der Lö-
wenritt" ein = q<5 V i — i Va- Nach den Schülerangaben wäre
aTizunehrnen, (hiss ihm erst die WortvorsteHung Tiger" und
hernach im Ansrhlusse daran die Erinnerung an eine Tiger-
jagd auftauchte. Dann wäre nicht «^Vi — iVj. sondern c/^ Vj—
o^Vo zu setzen. Die Erklärung, beim Hören des Wortes „Löwe"
iiiL nic hts BestnnnitcN gedac ht zu haben, Jässt die Frage offen,
ub überhau])t eine V, ausgehist worden sei, und man könnte
deshalb mit Fug und Recht obige Association auch als Verbal-
associatiou bezeichnen, also E * = V.
Endlich erscheint uns die fast regelmässig auftretende Be-
merkung der Schüler, ,, dachte an . . . — z, B. Turm — hoch;
dachte an den hiesigen Turm — durchaus nicht genügend, sun-
d( rn allen möglichen Deutungen Raum lassi nd. War dieses
„Denken" unnnllelbar an das Reizwort geknüpft, ging es dem
Reaktioiiswort parallel, bestund es in einer optischen Erinne-
rung?>\orstellung oder war etwas nirht naher zu Bestinnncndes
im Bcwusstsein ? All diese Momente müssen Berücksichiiguiig
finden, und der letzte Punkt veranlasste uns zur Einführung
eines neuen lerminus, nandich des Begriffs der „üewusstseins-
läge."
Trotz aller Vorzüge gegenüber früheren Versuchen erweist
sich also Ziehens Einteilung als noch mangelhaft.
In jüngster Zeit hat auf dem gegenwärtig viel bebauten
l'elde der Untersuchung a^sociativer Verknüpfung Wreschner'-)
gearbeitet. In vielen Punkten fordert er unseren Widerspruch
heraus, und seine Arbeit entfernt sich wieder weiter von unse-
rem Ideale associativcr Einicilung. Er will den Einfluss der
Idiotie auf die Association bestimmen. Zwar verzichtet er auf
eine eigene F^inteüung, sich im ganzen an die von Ziehen hal
tend, und damit gelten auch die an dieser gemachten Aus-
stellungen für sie, allein seine Ausführungen bedürfen noch be-
sonderer kritischer Beleuchtung.
Charakteristisch bei ihm ist die Einheit des Reizes, d. h.
seine 142 Reizwörter verwendet er an jedem der aufeinander
folgenden Versuchstagc an einer Patientin ; er bedient sich also
1) Wreschner: Eine experimentelle Studie über die Association in einem
Falle von Idiotie. A\\g, Zeitschrift ffir Psychiatrie und psychisch-gerichtliche
Medizin v. Orasbey, Krafft-Eblns etc. 1900. S. 241^339.
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KriUk der Assottationseinleihtn^cn.
117
der Wiederholungsmethode. Er glaubt, so das V'erhältnis der
Fixation von Associationen in pathologischen Fällen zu nor-
malen bestimmen zu können, macht aber keinerlei Versuche,
diese bei Normalsinnigen» zu ermitteln. Als Reizmaterial braucht
er 46 Eigenschaftswörter in 10 Gruppen nach den Arten der
smnesphysiologischen Wahrnehmungen, 2. B. 1.) Licht und
Farbe, 2.) Ausdehnung und Form, 3.) Bewegung etc., und zwar
an 8 Versuchstagen, femer 48 Substanti\a und Interjektionen
(Konkxeta) in 8 Gruppen, z. B. 1.) Teik des menschl. Körpers,
2.) Gegenstände aus der unmittelbaren Umgebung im Zimmer
etc., an 7 Tagen und endlich nochmals 48 Substantiva und Inter-
jektionen (Abstrakta) wieder in 8 Gruppen und an 7 Tagen,
z. B. I .) Traurige Vorstellungen, 2.) freudige etc., sodass sich im
ganzen 8x464-2x7x48=1040 Versuche ergaben.
Zunächst ist die Gruppierung der Reizwörter nach der sin-
nes-physiologischen Wahrnehmung zur Ermittelung des Ver-
haltens des Schwachsinns „zu den verschiedenen Stufen des
menschlichen Intellekts" als verunglückt zu betrachten. Ausser
der Annahme, dass nur Vorstellungen sich associieren,
muss auch die Voraussetzung einer Konstanz der Associationen
zurückgewiesen werden; denn nur wer diese annimmt, kann
das Verhalten der Idiotie zu den Stufen normalen Intellekts in
obiger Weise festzustellen versuchen. Schon Münsterberg^) hat
diese Konstanz verneint und nur eine Konstellation von Vor«
Stellungen als für die jeweilige Association massgebend bezeich-
net. Diese ist aber in erster Linie abhängig von Erziehung,
Lebenskreis, Beruf, kurz vom sozialen Milieu der Versuchsper-
son, und darin wurzelt zum guten Teile die individuelle Ver-
schiedenheit der Menschen. Das aber übersieht Wreschner
völlig, sonst hätte (&r, um seine an der Idiotin gewonnenen Re-
sultate mit den an Normalsinnigen gemachten Erfahrungen
vergleichen zu können» doch Gesunde aus dem gesellschaftlichen
Kreise seiner Patientm auf ihre Associationen unter denselben
Bedingungen untersuchen müssen. Letzteres geschah nicht,
drum war nicht zu vermeiden, dass manche Fehl- oder gering-
wertige Associationen auf Rechnung des Schwachsinns gesetzt
wurden, während die mangelnde Vertrautheit der Volkskreise
mit der durchs Reizwort bezeichneten Vorstellung zur Verant-
*) Mflnsterberg a.a.O.
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118
Johannes Orth.
wortung zu ziehen gewesen wäre. Darnach ist ebenfalls seine
Behauptung m werten : ..Die Q)ualität der Reaktion wird um so
minderwertiger, je höher die des Reizwortes ist.**
Auch die Einordnung der Asssociationen leidet unter der
Nichtkenntnis der seiner Patientin vertrauten Vorstellungen, die
er im Reizwort voraussetzt. Drum konstruiert Wreschner hier
offenbar gar oft, z. B. Löwe— Wild — der Idiotin lag aber doch
gewiss ,»wild'* näher — , konnte er ja von dem einzigen Mittel,
dies zu verhüten, Von der Erfahrung der Versuchsperson, infolge
ihrer Idiotie keinen oder doch nur äusserst beschränkten Ge-
brauch machen und deren Mitteilungen bloss mit Vorbehah ver-
werten.
Die von Ziehen vorgeschlagene Einteilung endlich erfuhr
durch Wreschner eine Verschlechterung. Die Verbalassociation
zerfällt ihm in Wortergänzung, wenn der angehängte Teil den
Sinn des Wortes ändert, in Flexion, wo das nicht der Fall ist,
und in Klangassociation. Innerlialh der homosensoriellen und
totalisierenden Objektasso( iation — daneben wird noch Thätig-
keitsassociation erwähnt — unterscheidet er Verknüpfung nach
Kontrast, Aehnlichkeit, prädikativer, wesentlicher und unwe-
sentlicher Bezieliung. Daher konmu er denn trotz Zielien glück-
lich da wieder an, wogegen dieser sich gewendet hatte, näm-
lich bei der logischen Eijiteihmg. Seine Gliederung erweist
sich mithin als ein Gemengsei, aus \ orgefundenen psycholo-
gischen und lügischen Gesichtspunkten geboren, und damit ist
dieselbe gerichtet.
Aus Vorstehendem dürfte zur Genüge erhellen, wie not
eine rein psychologische, von den gerügten Mängeln freie Ein-
teilung thut. In der Absicht nun, die Associationen nach ihren
Eigentümlichkeiten zu gruppieren, kamen die beiden £xperi'
mentierenden (Herr Mayer und Verfasser) auf Grund eines um-
fangreichen Materials, gewonnen durch Versuche, bei denen
sich die Reagenten selbst während des associativen Vorganges
beobachteten, zu einer neuen Einteilung^} derjenigen Associa-
tionen, bei weichen der Beobachter auf ein zugerufenes Wort
mit einem von ihm gesprochenen Wort reagiert.
>) Näheres sidie Mayer & Orth: Zur qualitativen UnteisudiURg der
Association. Zeitsdir. t Plsychol. u. Phydol. der Sinnesofg. 1901.
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Kritik der AaociationseintcüungeH.
119
Diese Associationen zerfallen
entweder:
a) in solche ohne eingeschobene Bewusstseinsvorgänge,
b) in solche mit eingeschobenen Bewusstsdnsvor-
gängen, die sich ihrerseits wieder nach Zahl und Art
der eingeschobenen Bewusstseinsvorgäuge oder nach
deren Gefühlsbetonung gliedern lassen;
oder:
a) in solche ohne begleitende Bewusstseinsvorgängc,
b) in solche, bei welchen mit dem Reizworte beglei-
tende Bewusstseinsvorgänge ablaufen,
c) in solche, bei welchen mit dem Reaktionsworte be-
gleitende Bewusstseinsvorgänge ablaufen,
d) in solche, bei welchen mit dem Reiz- und mit dem
Reaktionsworte begleitende Bewusstseinsvorgänge
ablaufen.
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Die Kunst im Leben des Kindes.
Programm der Ausstellung im Hause der Berliner Secession.*)
Ostern 1901.
I
Künstlerischer Wandschmuck für die Schule und im Hause.
Vm
Fritz Stahl.
Das Bild, das an der W'and der Schulstube
h'ängen soll, hat sehr verschiedenartige Aufgaben zu er-
füllen, Aufgaben, die man in irgend einer Reihenfolge auf-
zählen muss, die aber ihrer Bedeutung nach durchaus gleich-
wertig sind. Es soll schmücken, dazu helfen, das kahle,
charakterlose Schulzimmer in einen freundlichen Raum von
bestimmtem individuellen Gepräge zu verwandeln, und da-
durch das Kind gewöhnen, einen solchen Schmuck
durch die Kunst als einen unentbehrlichen Be-
st an dt eilseinerUmgebungzu betrachten. £s soll
weiter den höheren Zweck jedes Kunstwerkes er-
füllen, durch die Schönheit und Kraft in Linie
und Farbe, die sich der vertieften Betrachtung offenbaren,
AugeundSeelezuerfreuen, und dadurch die ^Empfangs-
fähigkeit des Kindes für Natur und Kunst, seinen Geschmack
wecken xmd veredeln. Es soll endlich auch durch seinen
Inhalt wirken, den Kreis der Anschauung erweitern durch
die Darstellung von Dingen, deren Kenntnis das Leben ihm
vorenthält, oder vertiefen durch die Darstellung der ihm ver-
trauten Dinge in künstlerischer Form, oder seine Phantasie
wecken durch die bildnerische Vorführung von Stoffen, die
ihm bekannt sind, oder seinem Verständnis nahe liegen, \on
den Gestalten und Ereignissen der Bibel, der Sagen und der
Märchen, der Gedichte und der Lieder.
Wir können in unserer Sammlung fast keine Blätter auf-
zeigen, die diesem Ideal vollständig entsprechen. Es ist in
Deutschland fast noch nichts für diesen Zweck ausdrücklich
*) Der sugehörige Katolog ist im Verlage Seemann, Berlin, erschienen.
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Dte Kunst im Leben des Ktnäes.
121
geschaffen worden, und in den Blättern, die im Ausland c;e-
schaff' n sind, bleibt nicht nur in den Stoffen und in der Kmptüi'
dung, sondern auch in der Art des Ausdruckes immer etwas
Fremdes, so dass ihre direkte Verwendung, wenn überhaupt,
nur mit grösster Vorsicht statttmden kann. Trotzdem ist sehr
viel unmittelbar Brauchbares da, und eine Verlegenheit um
Blätter wird die Emfuhrung de? Bildes in die Schule nicht
aufzuhalten brauchen. Zugleich wird den \'erlegern und Künst-
lern sich deutlich herausstellen, was gebraucht wird ; dass die
deutsche Kunst das Bedürfnis befriedigen kann, daran ist nicht
2U zweifeln.
Die Blätter des Auslandes weisen auf die Technik hin, die
man als das ideale Ausdrucksmittel für den Zweck bezeichnen
darf : die Lithographie in P'arben. Sie nimmt diese Stelle ein,
Meil sie eine schöne dekorative Haltung und zugleich doch
auch eine feste Zeichnung ermöglicht, und dabei das Blatt zu
einem niedrigen Preise liefern kann.
Die Technik steht bei uns, wie die Blätter der Karlsruher
Maler zeigen, durchaus auf der Höhe; schade nur, dass diese
Blätter zum grossen Teile zu klein sind, um durch die Schul-
. Stube hin wirken zu können. Weshalb die ausländischen Blätter
zumeist nur als Anregung gelten können, ist oben schon an-
gedeutet worden. Es ist zunächst einmal selbstverständlich
durchaus notwendig, von unserer Landschaft und unserer
Phantasiewelt auszugehen, und dann sind sowohl die Fitzroy-
blätter, die aus England stammen, wie die Blätter der Fran-
zosen zu ausgesprochen auf das nur Dekorative zugeschnitten.
Den Bildern von Riviere, die künstlerisch ausserordentlich
schön sind, fehlt gerade durch ihren vornehmen gedämpften
Ton für unser Gefühl das Heitere, Festliche, das man dem
Wandschmucke für die Räume, in denen Kinder leben, wün-
schen sollte. Die englischen Blätter fallen leicht ins Plakat-
artige und haben zudem eine Kühle in der Empfindung, nament-
lich bei religiösen Stoffen, die bisweilen geradezu verletzt und
alles andere eher ist, als kindlich.
Stoffkreis und Ton, wie sie dem Schmuck der deutschen
Schule entsprechen, werden am besten durch die Arbeiten der
älteren deutschen Meister gegeben, die ja freilich wieder der
Farbe ermangeln und deshalb die Aufgabe des Schmuckes
nicht ganz erfüllen. In erster Linie handelt es sich dabei um
ZdtKlirift f8r pldagoKbel» Ptydiolosle niid Pkdiotogtc. 3
122
FrU9 SMl.
die Vergrösseningen aus der Bilderbibel von Schnorr von
Carolsfeld und aus verschiedenen Werken von Ludwig Richter.
Da gehen tiefe Empfindung und poetische Auffassung mit edler
und anmutiger Form Hand in Hand. Diese Blätter, die um
wenige Pfennige zu haben sind, sollten in keiner deutschen
Schule und, wie man gleich hinzufügen kann, in keinem deut-
schen Hause fehlen. Gerade dass sie ihre Stoffe der Bibel
und dem Volkslied entnehmen, macht sie so wertvoll und vor-
bildlich.
In ähnlichem Sinne schaffen unter den Lebenden Hans
Thoma und Wilhelm Steinhausen, die auch die Farbe heran-
ziehen, und deren Blätter, trotzdem sie in den billigen Aus-
gaben etwas klein für den Zweck sind, als musterhaft gelten
dürfen.
Die Wirklichkeitskünstler sind zunächst fast gar nicht ver«
treten. Das Beispiel der Karlsruher zeigt aber, was sie werden
leisten können. Es ist vielleicht von einer Wichtigkeit, die
weit über den Rahmen unserer Bewegung hinausgeht, dass
die deutsche Kunst wieder einmal vor eine ganz bestimmte
Aufgabe gestellt ist. Namentlich, weil es sich nicht nur um
die Schule handelt, sondern die Kinder sehr bald das Bedürf-
nis nach guter Kunst auf das Haus übertragen werden.
Noch vor einem muss von vornherein gewarnt werden,
vor dem Gedanken, der leider bei uns nicht ausgeschlossen
erscheint, dass es hier, wo es sich um ,,\ olkstiimlichc" Kunst
handelt, mit oberflächlicher Arbeit gethan sei. So lange die
Führer der Bewegung Einfhiss haben, wird jedenfalls der,
Grundsatz gelten, dass nur das Beste gut genug ist.
Sachliche Klarheit, Sicherheit und Reiz der Zeichnung sind
unumgänglich. Dass sie sich mit der raffiniertesten Schönheit
der Farbe vertragen, das zeigen die japanisclien Farbenholz-
schnitte, die als ein unerreichbares Ideal vor uns stehen. Sie
sind dekorativ und zugleich wissenschaftlich exakt.
Neben den Blättern, die eigens für den Zweck des Schul-
schmuckes gcbchaffen werden, wird man, auch wenn ihre Zahl
noch so gross werden sollte, niemals die Reproduktionen der
grossen Meisterwerke der Vergangenheit und der Gegenwart
entbehren kunncn. Wenn sie auch nicht im eigentlichen Sinne
schniiicken, wenigstens die pliotographischen nicht, so erfüllen
sie die wichtige Aufgabe, den Smn für grosse Kunst zu wecken
Die KuHst im Letttn 4ts Kmdu.
123
und das Niveau festzulegen. Aus diesem Grunde, und weil
sie sofort zur Verfügung stehen, ist den Reproduktionen ein
grosser Raum in imserer Ausstellung verstattet worden. Wir
haben dabei auch teurere Blätter berücksichtigt, wie die far-
bigen Ausgaben der Firma Trowitzsch & Sohn, der Vereini-
gung der Kunstfreunde", die Photogravuren der Firma Braun
& Co., der „Photographischen Gesellschaft" und der , .Photo-
graphischen Union", weil, sobald Staat und Stadt die An-
regung aufnehmen, auch für jede Schule die paar Htmdert
Mark verfügbar sein werden, um einige davon zu erwerben.
Die Wandbilder von E. A. Seemann zeigen übrigens, dass
sich auch bei billigen Massenauflagen durchaus Musterhaftes
bieten lässt. Die kleinen Reproduktionen nach Stichen und
Radierungen, die zu dem schönsten Besitz deutscher Kunst
gehören, sind hinzugefügt worden, weil man sie wohl in Seh-
höhe der Kinder anbringen und sie so der intimen Betrachtung,
die sie verlangen, zugänglich machen kann. Die ausgezeich-
neten Blätter der Reichsdruckerei und des Hauses Obemetter
geben voll den Reiz der Originale.
Zu den Forderungen, die erhoben werden müssen, gehört
auch, dass das notwendige Anschauungsmaterial der Schule
einen künstlerischen Zug bekommt, mit der entsprechenden
Sachlichkeit ästhetischen Reiz vereint. Dieser Punkt ist des-
halb besonders wichtig, weil, ganz abgesehen von unseren Be-
strebungen, derartige Blätter von allen Schulen fortwährend
gebraucht werden, ihre Herstellung aber leider ganz in den
Händen von Handwerkern liegt, und sie deshalb verderblich
für die künstlerische Erziehung der Jugend wirken. Wir geben
die Blätter von C. Koch, auf denen in höchst reizvoller Welse
die Blumen unserer Landschaft, wie sie in den Jahreszeiten
nebeneinander vorkommen, dargestellt sind; diese feinsinnigen
Studien werden sich leicht auch in dekorativ wirksame Bilder
übertragen lassen.
Für das Kinderzimmer kommen im ganzen ähnliche Dinge
in Betracht wie für das Schulzimmer. In Deutschland ist inso-
fern zunächst die Auswahl für das Haus leichter, als sich hier
ohne Bedenken die Blätter verwenden lassen, die für die Schule
etwas zu klein sind. Einen sehr günstigen Einfluss werden
die Lehrer ausüben können, wenn sie das englische Systenn
annehmen, den Kindern geeignete Blätter als Fleissprämien
3*
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124
J^rili Stahl.
ZU geben. Auf diesem Gebiete wird die Ausstellung vielleicht
am unmittelbarsten wirken, da sie den Ehern, die schon den
Wunsch nach dergleichen Schmuck für die Kinderstube em-
pfunden, aber im besten Glauben nach den süsslichen Oblaten
gegriffen haben, die unsere Bazarc anbieten, den rechten Weg
weist.
Es entsteht nun die Frage, in welcher Weise die verfolgten
Zwecke durch eine l' nterweisu?ii; mit dem Wort gcfcirdert wer-
den können. Es wird das im einzelnen wolil miiner von der
Individu Uit ar des Lehrers und von seinem V'erhältnis zu den
Scliuk.Tu abhängen. In einem Teil der Lclircrhchaü l-a das
Verständnis für diese Ideen schon so weit gtlördert, dass die
Lehrer begonnen haben, sich selbstthätig mit der nötigen Unter-
weisung für ein besseres Verständnis der Kunst vorzubereiten,
das ja natürlich die notwendige Grundlage für ein Eingreifen
ist. Der andere Teil wird zu gewinnen sein. Einige allgemeine
Gesichtspunkte sollen nun vor allen Dingen aufgestellt werden.
Jedenfalls ist nicht die Rede davon, dass etwa ein neuer
Lehrgegenstand in die Schulen eingeführt werden soll. Im
Gegenthcil, es muss alles vermieden werden^ was diese Bilder
als Gegenstand eines Unterrichts, als Lehrmittel im gewöhn«
liehen Sinne erscheinen lässt. Gerade ein Hauptpunkt des
Programms, dass eben die Bilder als ein selbstverständlicher
Bestandteil des Zimmers erscheinen sollen, lässt von einer sol-
chen Behandlung dringend abraten. Die Bilder sind eben da,
werden den Kindern vertraut werden, und werden wie jedes
Kunstwerk, wenn sie oft und scharf angesehen werden, auch
von selbst zu den empfänglichen Augen und der empfäng-
lichen Seele des Kindes 2U sprechen beginnen. Die erste An*
regung des Lehrers wird am besten dahin gehen, den Kindern
nahezulegen, selbst Fragen über die Bilder zu stellen. Das
Kind ist jedem Menschen gegenüber und namentlich dem
I^hrer, wenn er sein Vertrauen besitzt, sehr fragelustig. Die
Erfahrungen, die wir in den volkstümlichen Kunstausstellungen
mit Leuten aus dem Volke gemacht haben, die ja schliesslich
der bildenden Kunst auch sehr naiv gegenüber stehen, haben
gezeigt, dass es einen ganz besonderen Reiz für sie hat, nicht
irgend etwas über ein Bild zu hören, sondern gerade das, was
sie wissen möchten, und damit ist auch immer der beste Aus-
gangspunkt gegeben, und vor allen Dingen und unter allen
Umständen das Interesse gesichert.
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Dk Kmut im LAm dts KMes,
125
Will der Lehrer, nachdem den Kindern das Bild somit all-
gemein vertraut ist, ihm eine eingehendere Aufmerksamkeit
sichern, so wird es sich empfehlen, dafür vielleicht eine Stunde
zu wählen, in der Sprech- oder Schreibübungen gemacht
werden sollen, die sich ausgezeichnet an solche Blätter, wie wir
sie denken, anknüpfen lassen. Es wird zunächst darauf an-
kommen, das Kind das Bild roh beschreiben zu lassen, einfach
auf das Stoffliche hin, und durch Fragen die Sehschärfe immer
mehr und mehr zu vertiefen. Dabei wird es sich von selbst er-
geben, dass auf die Natur hingewiesen werden muss und auf
ein Vergleichen mit den Beobachtungen draussen. Bilder, die
eine Geschichte erzählen, oder eine Fabel darstellen, werden
auch Gelegenheit geben, über den Gesichtsausdruck und der-
gleichen Beobachtungen anstellen zu lassen.
Die schwierigste Aufgabe wird darin bestehen, auf die
eigentlich künstlerischen Reize aufmerksam zu machen.
Wir haben die Absicht, im Laufe der Ausstellung unserer-
seits Versuche mit Kindern anzustellen, um den Lehrern zu
zeigen, wie wir uns vom Standpunkte der künstlerischdi Be-
trachtung aus eine solche Unterhaltung mit den Kindern vor-
stellen, und sie werden vielleicht daraus mancherlei Anregung
für sich selbst gewinnen. Aus eigener Erfahrung kann ich
jedenfalls die Behauptung wagen, dass das Mass des Verständ-
nisses bei den Kindern sehr unterschätzt wird. — Kinder be-
obachten sehr scharf, oder haben doch wenigstens die Fähig-
keit, sehr scharf zu sehen, wenn sie nach einer bestimmten
Richtung hin angeregt werden, und sie werden die Bildbetrach-
t\mg als eine Abwechselung gegenüber Gegenstand und Art
des sonstigen Unterrichtes ohne Zweifel mit Interesse erfassen.
Die ästhetische Betrachtung wird am wenigsten der Unter-
stützung durch das Wort bedürfen, sondern es wird im wesent-
lichen darauf ankommen, den Instinkt zu wecken. Wird das
Auge an gute Farbenharmonieen gewöhnt und an originelle
Farbtöne, so wird es von selbst allem HässHchen und Trivialen
gegenüber sich ablehnend verhalten. Eine ausführliche Be-
trachtung dieser Qualitäten des Kunstwerkes wird nur dann
nötig sein, wenn den Kindern die Abweichung von der Natur
zum Besten künstlerischer Wirkung auffallen sollte.
In jedem Betracht sehen wir den wichtigsten Erfolg unserer
Ausstellung in der Anregung, die sie giebt. Diese Zeilen sollen
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126
dem Zwecke dienen, die Punkte zu zeigen, auf dtt es ankoinmt
ttnd die wir dem Nachdenken imd (kr Erörterung aller Be-
teiligten empfehlen. Wir werden die Gelegenheit bieten, solche
Diskusstonen in der Ausstellung selbst zu führen. Vor allem
möchten wir gerne die Kinder selbst kommen sehen, denn ihr
Verhalten wird uns am besten zeigen, was für Kunst sie
brauchen.
IL
K&fistlerische Bilderb&chtr.
Vm
Wilhelm Spohr.
Die ersten Anregungen künstlerischer Art erhält das Kind
durch das Bilderbuch. Wir sind in Deutschland in Bezug
auf diesen Punkt noch wenig gewissenhaft. Hier hätten wir
Mittel, eine richtige Empfänglichkeit für die Eindrücke der
Welt im Kinde auszubilden, ihm die Fähigkeit zu verschaffen,
sich zu verschliessen oder zu öffnen am rechten Orte und zu
rechter Zeit, durch Schönheit einzuwirken, dass neue Schön-
heit hervorgehe, Gradheit, Takt, Selbstbewusstsein in ihm zu
erziehen. Denn so wirkt edle Kunst, alles Schöne und Grosse
im Leben auf den Menschen. Und das Kind ist noch williger,
wir haben es oft in der Hand, ihm beglückende Richtung zu
geben. Wir sollten fortan diese Möglichkeit ausnutzen, wir
sollten sie suchen. Wir werden sie leicht finden. Denn Pfad>
finder sind uns in anderen Ländern voraufgegangen, und auch
in Deutschland wandeln neuerdings Künstler bcwusst die Bah-
nen der künstlerischen Erziehung der Jugend. Wir vermögen
eine Auswahl von Bilderbüchern alter und neuer Kunstrich-
ttmg zu treffen, welche das Bedürfnis nach Farbe und Form
befriedigen, und wo es nicht vorhanden, es erziehen können.
Es handelt sich nicht um einen Luxus. Künstlerisch füh-
lende Menschen empfinden es tief, dass hier die ganze
Menschenerscheinung in Frage kommt, dass mit der geordneten
Erziehung seiner Sinne das Glück des Menschen und die Wider-
standsfähigkeit gegen vieles ihm Schädliche begründet wird,
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Die Kunst (m Lebtn de* Knute*.
127
dass der Lebensgenuss und die Vitalität im weiteren Sinne
erhöht wird. Es würde zu weit führen, zu schildern, was xcr-
ehrte Führer des Volkes als Ziel des Weges der künstlerischen
Erziphnng erschaut haben. Ein V^ersuch hat jeden beglückt.
Zu solclien Versuchen an sich selbst und am Kinde anzureizen,
dem schon Verlangenden Greifbares zu bieten, dient diese Aus-
stellung. Bilderbücher werden oft geschenkt. Den Schenken-
den das Gewissen zu schärfen, dass sie nicht wahllos zugreifen
auf dem Markte der Biiderbücher, lieber ein paar Groschen
mehr ausgeben, die sie anderswo vielleicht ohne Bedenken ver-
sclikudern — dazu möge die schöne Sammlung der Bilder-
bücher beitragen.
Die SammlunL'^ die das beste Material der in Betracht kom-
menden Länder enthält, ermöglicht eine Vergleichung des
Schaffens der verschiedenen Länder auf diesem Gebiete. Es
sind vertreten Deutschland, England, Frankreich, Schweiz,
Italien. Nordamerika und Japan. Eine flüchtige U eberschau
belehn uns st hon, dass England das klassische Land für das
spezifische Bilderbuch ist. Noch h(")her muss England in dieser
Schätzung steigen, wenn wir bedenken, dass die ausgestellten
englischen Bücher noch leicht in der Anzahl hätten erhöht
werden können, ohne dass man das Niveau herabdrückte. Da-
bei ist die Zahl der hier ausgestellten englischen Bücher grösser
als die der deutschen. Auch Frankreich bietet hervorragende
Erscheinungen, und seilest das allgemeine Niveau des Bilder-
büchermarktes S( heint nicht so tief zu stehen wie in Deutsch-
land. Japan kenru zwar das spezifische Kinderbuch nicht oder
erst seit kurzem, aber die Erfahrung und das wenige, was
unsere Ausstellung an Wandschmuck, Bilderbüchern und
Bilderbogen darbietet, lehrt uns, dass in diesem Lande der
klassische, alle ansprechende Stil gefunden wurde und dass
Pflanzen, Tieren und Menschen in ihrem Ausdruck und den
beiden letztgenannten besonders in ihren Bewegungen eine
fabelhafte Charakteristik gegeben worden ist, was alles in der
\'erbindung mit der klugen Farbenwahl geeignet sein muss,
den Japanern fort und fort eine künstlerische Kultur zu sichern.
Mögen wir Occidentalen dies nicht mit voller Liebe aufnehmen
können, bewundern müssen wir es, und müssen nach der Voll-
kommenheit streben, den Japanern vielleicht gleiche Bewunde-
rung ablocken zu können.
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128
WakOm Spokr,
Weil das Kind charakteristisch sieht, weil es Charakte-
ristik in den Bildern verlangt, müssen wir bedacht sein, dies
Vermögen und diesen Wunsch zu erhalten und zu retten, und
von diesem Gesichtspunkte nahm ich Veranlassung, der Japaner
besonders zu gedenken. Wie sieht es in Bezug auf Cliarakteri-
stik bei uns auf dem Bilderbuchniarkt aus? Ucbel. Und die
Kunstbediirftigen haben auch kein W-rständnis für Charakteri-
stik; viele Eltern sehen die Charakteristik anstrebende Kunst
der Busch,- Meggendorfer, Oberländer, Kreidolf mit einer ge-
wissen prüde-ethischen Befangenheit an, und mit dem Worte
„Karikatur" wird dies ausgeschaltet. Was ist aber diese Kunst
anders als eine hervorhebende, mit starken Lichtern arbeitende,
Dchari charakterisierende, gut sehende und gut wiedergebende
Kunst? Das Kind sieht gar nicht die Uebertreibung so sehr wie
wir, es hat sie in gewissem'Grade nötig, damit es erfasse, was
es erfassen soll. Aus diesem Grunde werden verständige Päda-
gogen die Zeiciuiuii:; l>usch's würdigen, und auch seine \'erse,
die die gleiche Charakteristik erreichen. Sie werden natürlich
sorgsam auswählen. Und sie werden mit solcher Kunst dem
Kinde die wunderbare und notwendige Ueberlegenheit des Hu-
mors schenken. Aber der verständige Erzieher wird, wie zur Form
so auch zur Farbe mit Bewusstsein Stellung nehmen. Auch
sie muss im allgemeinen charakteristisch und bekenntnisscharf
sein, Halbtüne, Schattierungen, allerhand subtile i arben-
mischungen sind für das klcnie Kind untauglich, und abgc-
gesehen davon, dass dies ihm wogen der mangelnden Erfahrung
der Sinne nichts sagt, es hindert das Kind an dem Erkennen
dessen, worauf es ankommt. Darum taugen für das Bilderbuch
einfache Rej)r()dukti<)iien von Staffeleibildi rn und sonstigen
für den Druck nicht geschaffenen Werken in den seltensten
Fällen, höchstens da, wo die spezifische Eigenart eines be-
wusstcn Koloristen mit den zu stellenden Anforderungen kor-
respondiert. Diese Erwägungen lassen erkennen, dass erst der
modernen Kunst, die in diesen Dingen nach bewusster Erkennt-
nis strebt, gelingen kann oder konnte, das rechte farbige Kinder-
hilderbuch zu s( baffen. In England schuf sie es, in Deutsch-
land dürfen wir die Eösung erwarten, nachdem die Künstler,
die Technik und das 1 ul^likum hier und da zu erkennen gegeben
haben, dass sie hier ihre Rolle erkannten.
Wir müssen uns gegen die tausend und abertausend
Die Kunst im Lelxn des Kindei,
129
schlechten Produkte auf dem Bilderbiichermarkt durch die ent-
schlossene That wenden. Die Künstler durch ihr Schaffen, die
Kunstvermittler durch ihr Eintreten für die Sache, das Publi-
. kum, die Eltern und Erzieher vor allem durch den Kauf und
die Weiterempfehlung von nur guten Büchern. Wer es noch
nicht weiss, sei darauf aufmerksam gemacht, dass schon seit
Jahren, ausgehend von Hamburger Lehrern, in Deutschland
die Jugendschriften-Prüfungsaiisschüsse der deutschen Lehrer-
schaft sich mühen, neben guter Jugendlektüre dem guten Bilder-
buch Achtung zu verschaffen. Man merke auf zu Weihnachten;
da sind Verzeichnisse zu haben, die nur gute Bücher enthalten.
Ich habe mich diesem Streben angeschlossen und will den im
vorigen Jahre unternommenen Versuch, Künstlerischem grös-
sere Verbreitung zu Weihnacliten zu verschaffen, in diesem
Jahre noch kräftiger wiedcrholeti. Es sei um der Sache willen
gestattet, dass ich die Besucher der Ausstellung auf dieses
Streben aufmerksam mache und sie als Mitarbeiter aufrufe.
Man möge sich durch Wort oder That bemerkbar machen.
In den folgenden Sätzen möchte ich die Anforderungen,
die an ein gutes Bilderbuch zu stellen sind, kurz zusammen-
fassen :
Nur wirkliche Kunst ist brauchbar; spezifische Kinder-
kunst giebt es nicht; zu Kunst, die auf einen kindlichen Ton
gestimmt ist, muss auch der Erwachsene ein geniessendes Ver-
hältnis gewinnen können; Kunst, die dem Erwachsenen als
kindisch und läppisch erscheint, ist keine Kunst und auch für
das Kind zu verwerfen; erste Frage muss bei einem Bilde
sein, ob es künstlerisch ist; ist es dieses, so ist es brauchbar,
falls nicht der Inhalt oder die Darstellungswebe dem Begriffs-
kreisc des Kindes durchaus fern liegt; wenn auch Bilder mit
deutlich sexuellem Bezug nicht brauchbar sind, so darf bei
der Auswahl doch nicht Prüderie im Spiele sein; das Nackte
ist nicht ohne weiteres ausgeschlossen, im Gegenteil wird der
Erzieher, der sich auf seine weise Hand verlassen kann, in
ihm das beste Mittel gewinnen, die geschlechtliche Unbefangen-
heit beim Kinde zu erhalten; äusserst wichtig für den Aus-
wählenden ist CS, dass er darauf sehe, dass die Bilder „kräftige
Umrisse, energische Farben" zeigen, dass sie nicht „charakter-
los, weichlich, süsslich, kraftlos" sind; selten werden Bilder
geeignet sein, welche entweder unbestimmte Farbentöne zeigen
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130
ITiBlgfm ^r.
oder ungeordnet vielerlei Farben neben einander vereinigen;
entschiedenes Blau. Rot, Grün, wie es e:ute Künstler gegen-
einander abgetönt zu geben wissen, in grossen Flächen neben
einander gesetzt, abgegrenzt durch energischen Kontur, sind
am meisten erzieherisch; neben guter Charakteristik steht voll-
wertig die S( hunheit gebende Kunst, das heisst mutige Schön-
heit, tiefe, seelische, fornioriginelle, nicht konventionelle IMode-
kuplt r^i hönheit, welche in Grund und Boden zu verdammen
ist. in allem ist natürlich die Altersstufe des Kindes zu be-
rücksichtigen. Immer wird das Bild einen Zweck erfüllen, wenn
es charakteristisch ist, oder wenn es Grösse und Kraft atmet,
oder durch die Gewalt der Farbe reizt und bildet, oder wenn
rs zu milder Farbensymphonie gestimmt ist — welche l)eiden
AntOrderungen die Walter Crane'schen Bilderbücher wechselnd
erfüllen — oder wenn es dui< h Schönheit zu Schönheit er-
ziehen \ermag, und wenn es den Aufwärtstrieb durch ästhe-
tische Mittel anreizt.
Die Auswahl wurde in der Hauptsac iie durch strenge ästhe-
tische Anforderungen bestimmt. Dot h ist zu sagen, dass dem
engsten subjektiven Geschmack nicht Geltung gelassen wurde,
namentlich da, wo es sich wie bei dem ,, Struwwelpeter" um
noch umstrittene Dinge handelt. Da es in Deutschland in Bild
und Text einwandfreie Bücher sehr wenige giel)t, so wurde
zu Gunsten guter Bilder dem Text gegenüber oft ein Auge
zugedrückt. Die \erehrte Frau Ebner-]',scheni)ach hat z. B.
im ..Hirze])rinzchen" einen unbedeutenden, süs^lichen, mora-
lischen l ext geliefert . Wcährend die Bilder und die Blumen-
einfassungen von Rollt i t Weise, wenngleich auch ein wenig
süsslich, das Stilgefühl beim Kinde wohl zu heben \ ermögen ;
auch technisch bedeutet das Buch eine Anstrengung des Ver-
legers, die wir zu ermutigen immer Anlass nehmen müssen.
Einen Hinweis wegen der resoluten Farbengel)ung \ erdient
das Thumann'sche Buch, als einzige , »moderne" Bü( her sind
Ruprecht II, Fitzebutze und Kreidolf's Blumenmiir( hen hervor-
zuheben, die einen kühnen Versuch bedeuten, aus dem kon-
ventionellen Schlendrian herauszukommen. Das muss vnn
Herzen ermutigt werden. Welche guten älteren Sachen wir be-
sitzen, zeigen die au( h in der Drucktechnik das deutsche Mittel-
mass uberragenden Bilder \ on Fröschl's , .Goldene Zeilen" und
„Kleinmichei's „Ferienreise". Als einziges Buch mit Bildern
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Die Kunst im Leben des Kimdes.
131
m Autotypie in der Sammlung figuriert Heck*s „Lebende Bilder
aus dem Reiche der Tiere'*, welches wahrhaft überraschende
Aufnahmen von den Tieren des Zoologischen Gartens in guter
Reproduktion zeigt.
Bin besonderer Hinweis gelte den Crane'schen Bilder-
büchern in der englischen Abteilung. Er bedeutet die höchste
Vollendung. Da ist in Form und Farbe alles bedeutend; phan-
tasievolle dichterische Schöpfungen sind diese Bilder. Und
wenn das auch spezifisch englischen Charakter trägt, so würde
ich doch die Verbreitung der Bücher in Deutschland wichtig
finden. Findet sich kein neuer Verleger, der jetzt doch besser
vorbereiteten Boden finden würde ? Denn früher wurden schon
einmal deutsche Ausgaben gemacht, so von ). F. Schreiber in
Esslingen vor sehr langer Zeit. Unsere Sammlung enthalt
die deutsche Ausgabe von „Beauty and the Beast" bei
Schreiber. Der Verleger war mit dem Erfolge sehr unzufrieden
und machte keine weiteren Versuche. Das war freilich vor
20 bis 25 Jahren. Ich kann mich nicht enthalten, eines echten
Schwabenstreiches Erwähnung zu thun. Im Buche befindet
steh ein Bild mit dem Interieur eines Schlosses, wo man auf
einem Wandgemälde eine Eva mit nacktem Oberkörper er-
blickt. Die „prüden Engländer'* nahmen nicht Anstoss daran.
Der deutsche Verleger, der das Bild als Titelbild wählte, zog
der Eva ein Hemd in modernem Schnitt an. Sonstiger Ge-
schmacklosigkeiten sei nicht gedacht. Das eine genügt, um
den Tiefstand des künstlerischen Niveaus in Deutschland zu
kennzeichnen. — Randolph Caldecott ist ein grosser und liebens-
würdiger BUderbuchkünstler. Man sehe, um sein Zeichnen
beurteilen zu können, nur seine schleichenden Katzen I Und
dann seine überaus lebenswarmen farbigen Bilderl — Die
Greenaway, obwohl schon veraltend, steht doch noch künst-
lerisch über fast allem, was wir hier in Deutschland haben.
— Die Sammlung zeigt noch viele Künstler, die ausserordent-
lich bedeutend sind, ohne dass wir in Deutschland auch nur
ihre Namen kennen.
Frankreich bietet Beachtenswertes. Job z. B. hat im „Na-
pol^n** ein Werk geschaffen, über das zu viel zu sagen wäre,
um überhaupt davon anzufangen. Auch der Text ist kolossal,
schlagend. Monvel's eines Buch ist deutsch: „Der gute Ton**;
vorzüglich, nur der parfümierte Text von „Gertruds Vetter**
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132
IVäketm Spokr.
ist nicht zu empfehlen. Der Katzenkünsiler Steinlen ist auch,
vertreten.
V^on der Schweiz ist mir bestehendes Bedeutendes nicht
bekannt geworden.
In Italien sieht es im Kraistlerischen wüst aus. Die aus-
gestellten fünf Bücher waren das Ikste, was unter 36 vor-
liegenden Bänden zu finden war. Intcre. ?,aiit ist, dass das
grosse Werk Amici's ,.Cnore" als Jugendicktüre gegeben wird.
Von Amerika gicbt es viel Burleskes, das häufig roh ist
und uns abstösst. Man begreift nicht, warum das gerade etwas
für Kinder sein soll ! Die Produktion, welche wir darbieten, hat
mehr Aehnlichkeit mit dem Englischen.
Auf Japan wurde schon hingewiesen. Obwohl das Vor-
gezeigte gar nicht als höchste Kunstäusserung des Landes
gelten kann, zeigt es doch die charakteristischen Vorzüge der
dortigen künstlerischen Kultur. — Reizend sind die Kinder in
ihren Spielen auf den Bilderbogen.
UI.
Das Kind als Künstler.
Von
Otto Feld.
Indem das Kind als Künstler bezeichnet wird, soll natürlich
nicht etwa der Anschein erweckt werden, als würden die vor-
geführten Bethätigungen kindlichen Gestaltungstriebes Kunst-
werken gleich gestellt« Enthalten auch die ersten Daistellungs-
versuchc des Kindes wesentliche Momente jenes künstlerischen
Triebes, dem wir die reifenden Werke der bildenden Kunst
verdanken, so steht, von anderem abgesehen, bei dem kind-
lichen Künstler Wollen und Können doch in einem zu starken
Missverhältnis, als dass von seinen „Malereien** als von Kunst-
werken gesprochen werden könnte.
Dem Kinde freilich genügen die krausen Linien, mit denen
die ungeübte Hand auf das Verlangen nach Darstellung
reagiert, zunächst vollständig; ihm selbst bedeuten die Zeichen
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Die Kunst im Leben des Kindes.
133
das, was, dem Drängen seiner Phantasie folgend, sein Dar-
stellungstrieb zu gestalten %vünschte. Beobachten wir doch,
dass schon in den ersten Anfängen des Zeichnens das Kind
seine Darstellungen auf seine Weise gegen uns zu verteidigen
sucht, wenn es bemerkt, dass wir die Bedeutung seiner zeich-
nerischen Symbole nicht verstehen wollen oder nicht verstehen
können. Seiner lebhafteren Phantasie sind jene selbsterfun-
denen Andeutungen eine Darstellung. Bald aber sehen wir
die geübtere Hand geschärfterer Beobachtungsgabe dienst-
fähiger. Sind die dargestellten Formen aucli jetzt natürlich
noch kindlich unbeholfen, sie suchen doch das Wesentliche
hervorzuheben. £s wird allmählich auch das Bestreben deut*
lieh, Individuelles wiederzugeben; charakteristisch erscheinen-
des Detail wird angebracht, die Absicht seiner bewussten Dar-
stellung tritt immer klarer zu Tage, bis, häufig genug, das
Miss Verhältnis zwischen Wollen und Können dem kleinen
Künstler zum Bewusstsein gelangt ist oder — schlimmer noch
— durch den Spott der „Erwachsenen" zum Bewusstsein ge»
bracht wird, und ein reicher und reiner Quell kindlicher Freude
versiegt, ein Schatz von Beobachtungsmaterial, dem Erzieher
wie der Wissenschaft gleich wertvoll, bleibt ungehoben.
Denn v\ ie diese Zeichnungen dem sorgsam beobachtenden
Auge des Erziehers wertvollen Aufschluss zu geben vermögen
über des kleinen Schöpfers Eigenart, bieten sie ein reiches
Studienmaterial über die Besonderheit kindlichen Phantasie*
lebens und kindlicher Auffassungs- und Gestaltungskraft, dem
Psychologen wie dem Pädagogen gleich willkommen. Ueber
die krausen Linien fort mag es der Psychologie gelingen, wert-
volle Einblicke in die Tiefe kindlichen Seelenlebens zu thun,
in dessen vergleichsweise einfachen Regungen sie Aufschlüsse
erhoffen darf für die verwickeiteren Aeusscrungen reifen
menschlichen Geistes. Der wissenschaftlichen Pädagogie nun
gar wird die Gelegenheit zu einem Blick in die Kinderseele er-
wünscht sein. Hat sie doch längst erkannt, wie nur das sorg-
fältigste Studium des lebendigen Objektes Hoffnung geben
kann und gedeihliches Vorwärtsschreiten.
Vor allem aber werden diejenigen aus den Bethätigungen
kindlichen Kunsttriebes willkommene Anregung schöpfen,
denen das schwere und verantwortungsvolle Amt anvertraut
ist, die künstlerische Erziehung des heranwachsenden Ge-
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134
Oä» Skid.
schlechte?; zu leiten, und denen deshalb eint nnmcr zweck-
nuissigcre Ausgestakung dieser Abteilung des Erziehungs-
plancs ein Gegenstand ernster Sorge und regen Strebens ge-
worden ist.
Die grosse Bedeutung des künstlerischen Unterrichts wird
heute kaum noch an irgend einer Stelle emstlich bestritten
werden. Dass neben der Ausbildung des Verstandes die Pflege
sinnlichen Anschauungsvermögens nicht femer so vernach-
lässigt werden darf, wie dies durch lange Zeit geschehen ist,
fordert neben der Gerechtigkeit, die eine harmonische Aus-
- bildung aller Kräfte des menschlichen Geistes verlangen mussi
— die Zweckmässigkeit. In einer Zeit, in der ein mächtiger
Aufschwung der Naturwissenschaften, ein erbittert gewordener
wirtschaftlicher Kampf, die Fähigkeit „unmittelbaren anschau-
lichen Denkens** viel dringender noch als frühere Tage for-
dern, wird es eine wichtige Aufgabe der Erziehung sein müssen,
auch nach dieser Richtung den Zögling für den Lebenskampf
zu rüsten. Man höre die Klagen der Universitätslehrer über die
Unfähigkeit ihrer Schüler im Beobachten. Virchow hat fest-
gestellt, „dass jede Generation Studierender weniger geschult
ist, ihre Sinne zu gebrauchen, dass die Fähigkeit der Beobach-
timg, welche dem natürlichen Menschen innewohnt, durch die
gegenwärtige Art des Unterrichtes geschwächt wird*'. Man
erwäge, was es bedeutet, wenn ein Mann von so vielseitiger
Erfahrung, wie A. Lichtwark, sagt: „Im industriellen Wett-
kampl der Völker wird auf die Dauer der Nation am besten
fahren, über deren Produkte zu Hause die grösste Anzahl er-
zogener Augen richtet."
Es darf an dieser Stelle ein längst gehegter Wunsch aus-
gesprochen werden, dass nämlich von berufener Seite eine
. wissenschaftliche Behandlung der Frage nach dem Froduktions-
wert der Kunst endlich einmal vorgenommen werde. Wer mit
diesem Gegenstande noch nie sich beschäftigt hat, wird er-
staunen über die ungeheuren Werte, die die Kunst und das
von ihr Leben empfangende Kunsthandwerk, sowie einige In-
dustrien, die mehr oder weniger unmittelbar der Kunst ihr
Dasein verdanken, alljährUch erzeugen. Vielleicht werden
Zahlen hier nicht nur beweisen, sondern auch bewirken; viel-
leicht wird dem Nationalökonomen gelingen, was Künstlern
und Kunstfreunden bisher nur unvollkommen gelungen ist;
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Die KtmU im Leben des Kittdef
135
vielleicht werden praktische Gründe erfolgreicher sein als ideale
Forderungen« und massgebende Stellen werden einsehen, dass
die lange schon erwogenen Reformen des künstlerisch^erzieh-
licben Unterrichts» die die Voraussetzung einer gedeihlichen
Entwickelung künstlerischen Sinnes im ganzen Volke sind,
kräftiger angefasst werden müssen, als es bisher geschehen.
Wer aber in unserer praktischen Zeit noch geneigt ist,
auch andere Forderungen, als mit Zahlen bewertbare, gelten
zu lassen, wird sich sagen müssen, dass wir kein Recht haben,
über der Pflege des Verstandesmässigen die Ausbildung künst*
lerischer Anschauungsfähigkeit zu vernachlässigen und sp alle
die, denen die Gunst zufälliger Umstände nicht zu Hilfe kommt,
jener schönsten und reinsten Freuden, der Freude an Natur,
der Freude an den Werken bildender Kunst zu berauben I Denn
der Mensch, dessen Auge nicht erschlossen ist für die tausend-
fältigen Reize der Erscheinungswelt, ist arm und beklagens-
wert. Gleicht er doch fast dem Blinden, der einen reichge-
schmückten Palast bewohnt und nun freudlos umherirrt unter
den Schätzen, die ihm gehören, und die er doch nicht besitzt.
Wie kunstblind, wie naturblind weite Kreise unseres Volkes
sind, sieht mit Erschrecken derjenige, der Gelegenheit zu sol-
eben Beobachtungen hat. Er sieht es mit doppeltem Schmerz,
wenn er dabei bemerken mu9s, wie stark in gewissen Kreisen
das Verlangen nach solchen Freuden ist.
Dass die Anschauungsfähigkeit der Kinder der Grossstadt
verkümmern muss bei dem Mangel an Naturanschauung, untegr
dem sie leiden, ist nicht zu verwundem. Eine Umfrage in
den öffentlichen Schulen Berlins bei Kindern von mehr als
6 Jahren ergab, dass 70 0/0 keinen Sonnenaufgang resp. Sonnen»
-Untergang gesehen hatten, 75 <Vo keinen lebenden Hasen, 64 ^
kein Eichhom, 53 0/0 keine Schnecke, 87 <^/o keine Birke, 59
kein Aehrenfeld, 98 0/0 keinen Flusse 82 (yo hatten nie eine
Lerche gehört. In Boston wurde ermittelt, dass von Kindern
im Alter von 4 — ^8 Jahren 77 0/0 nie eine Krähe gesehen hatten,
65 <yo nie eine Ente, 57 <yo keinen Spatz, 50 0/0 keinen Frosch,
20 <Vb keinen Schmetterling, 66 0/0 keine Brombeere, 61 0/0 kein
Kartoffelfeld, 75 0/0 wussten nicht, welche Jahreszeit war, und
das in einer Stadt mit zahlreichen freien Plätzen und Parks.
Auch in solchen erschreckenden Zuständen muss und wird
ein geeigneter künstlerischer Unterricht Wandel schaffen.
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136
Otto Fetd.
Ueber die Richtungen, nach denen dieser Unterricht zu
reformieren ist, liegt ein reiches und zum Teil höchst beach-
tenswertes Material vor. Der Raum verbietet es, hier auf diese
ausserordentlich schwierige Frage ausführlich einzugehen. Wer
sich für dieselben interessiert, findet Hindeutungen auf die
einschlägige Litteratiir in dem beigefügten \''erzeichnis.
Eines aber steht fest: Soll der Zeichenunterricht seinen
Zweck erfüllen, so muss vor allem jene „Methode" ver-
schwinden, die Gemüt, Phantasie und Fassungsvermögen leer
ausgehen lässt. Das Streben nach „schönen" Schülerausstel-
lungen wird unnachsichtlich unterdrückt werden müssen. Auf
da'^ Fertigmachen" kommt es nicht an, sondern auf das Sehen-
lernen, das Richtigsehcnlcrncn, darauf, dass die Persönlich-
keit nicht einem System zum Opfer falle; Uebung des Formen-
gedachnisses und Uebung der Hand zur Wiedergabe gewon-
nener Eindrücke oder Phantasievorstellungen wird zweck-
mässig angestrebt werden müssen. Wie der neue Zeichen-
unterricht im einzelnen auch gestattet sein wird, unter allen
Umständen wird er auf die Beobachtung der Natur be-
gründet sein müssen. —
In einer Entwickelungsperiode, in der das Kind, was seine
eigenen unbceinflussten Zeichnungen beweisen, die stärkste Ein-
drucksfähigkeit für die Erscheinungen der sinnlichen Welt be-
sitzt, darf man ihm nicht statt des Brotes — Natur, den Stein
— Schema geben wollen. Mit den „schönen" Vorlagen muss
das Mathematische, das Ewig Ii cgrifi liehe aus dem Zeichen-
saal verschwinden ; hier wenigstens sollten des Kindes Augen ge-
übt werden, nicht sein Verstand, sein Können, sein Wissen.
Es muss vor allem auch gleichzeitig mit dem Sinn für die Form
der vorhandene starke Sinn des Kindes für die
Farbe gepflegt werden.
Alle diese Forderungen ergeben sich von selbst, wenn man
einsieht, dass ein zweckmässiger Zeichenunterricht anknüpfen
muss an die Erfahrungen, die über die natürliche Begabung
des Kindes für Farbe und Form gemacht sind. Nach dieser
Richtung dürften die Aeusserungen kindlichen Darstellungs-
triebes in der Abteilung »Das Kind als Künstler'* als Studien-
material willkommen sein.
Es wird beobachtet werden können, wie dem Kinde Gegen-
stände aus seiner Umgebung die erwünschtesten Objekte für
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Die Kunst tm Leben des Kmdk*.
137
seine Darstellung sind, üebereinstimmende Untersuchungen
stellen fest, dass Mensch und Tier mit besonderer Vorliebe
von dem Kinde gezeichnet werden, das Geometrische und Orna-
mentale aber fast gänzlich unbeachtet bleibt. Nach einer Be-
obachtung von Lukens enthielten von 1232 Zeichnungen von
Kindern unter 10 Jahren 75 <yo Darstellungen der Menschen,
2 <yi> geometrische Figuren und Ornamente.
In der Art der kindlichen Darstellung wird ein ganz be-
stimmter Entwickelungsgang verfolgt werden können, stufen-
weise fortschreitend von der Wiedergabe eines subjektiven
Bildes durch eine Art symbolischer Darstellung bis zum zeich-
nerischen Ausdruck eines Beobachtungsrcsuluites. Das gilt für
Menschen- wie Tierdarste ilung. Besonders interessant sind die
Zeichnungen nach Erzähltem. Sie bind ,,L'iri schlagender Be-
weis für die lebhafte Art und Weise der Betrachtung, die das
Kind für alles Gegenstiindlu lic hat, und für die KraU und
Ueppigkeit seiner lebhaften riianiasie" und auch ein Beweis
für die Unbefangenheit und den Mut. mit dem das Kind nichts
seinen Darsiellungen für unerreichbar hält. Diese beiden
Kigenschaften ihm zu bewahren, muss die erste und wichtige
.Aufgabe sein. Sie werden am Kinde zerstört, sowie wir ihm
eine Methode — unsere Methode aufzwingen wollen. „Wir
müssen den Weg nach den Leistungen des Kindes einrichten,
nicht nach denen der Erwachsenen'*, sagt Cooke in seinen
Anregungen für einen iNeuen Lehrgang. Lassen wir das Kind
auf den unteren Stufen nur ruhig zeichnen, was es zu zeichnen
verlangt, Menschen, Tiere, Gcschichtsillustrationen, Beobach-
tetes und Ciesehenes. „Das Kind liebt die Freiheit. Lasst es
naturlich arbeiten, weiches Material benutzen, frei und schnell
ausfuhren, die Ausführung wiederholen, so wie es spielt. Spiel,
nicht Geometrie ist der lebendige, freie, schöpferische Aus-
druck seiner eigenen schöpf en.schen Kraft — die Grundlage
aller schönen Künste." —
Indem wir dem Kinde auf dieser Stufe möglichst freien
Raum zur Entwickelung lassen, werden wir uns doch fragen
dürfen, welche seuier natürlichen Fähigkeiten wir etwa zunächst
in zwangk>ser Anregung zu fördern hatten. Wir haben die
starke Beobachtungsfähigkeit und den BeobachtungswiUen des
Kindes bemerkt.
ZriiffhrWt ftr nUhwiitlirhr PincMiMie Md PMMkwic. 4
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188
OUo Feld,
Der Hammer, den das Kind zum ersten Mal gebrauchen
lernt, die Bürste, die es selbst handhaben darf, sind neu zu
entdeckende Reiche. Mit Auge und Hand werden sie ein-
gehend untersucht. Ein Gang in den Garten und in die Tischler»
Werkstatt, besonders aber die kleinen häuslichen Beschäftigun-
gen, zu denen das Kind so willig ist, weil sie ihm Gelegenheit
bieten, sich zu bethäligen, geben reiches Beobachtungsmaterial
und Anregung für den Darstellungstrieb des Kindes. Mit
Freude und Dankbarkeit wird es die gebotene Anregung auf-
nehmen, aus der Fülle des in eigener Thätigkeit Beobachteten
einiges darstellen zu dürfen. Auf die künstlerischen Resultate
aus solchen Darstellungsversuchen kommt es dabei natürlich
gar nicht an. (Wie deutlich übrigens das Wesentliche erfasst
und wiedergegeben wird, lehren die betreffenden Zeichnungen
unserer Abteilung). Eines wird durch diese Hebungen sicher
erreicht. Das Kind, das selbst eine Bürste gehandhibt, trägt,
durch Auge und Hand vermittelt, ein Erinnerungsbild des
Gegenstandes mit fort. Indem es den Gegenstand zu zeichnen
versucht, muss es sich (natürlich unbcwusst) anstrengen, dieses
Erinnerungsbild möglichst kräftig zu gestalten. Da aber jeder
vernünftige Gebrauch unserer geistigen und körperlichen
Organe diese Organe kräftigt, wird durch solche Arbeit die
bildnerische Erinnerungskraft des Kindes gestärkt werden ;
seine Fähigkeit, zu beol)acht'jn, ist gesteigert, sein Wunsch,
zweckmässig zu beobachten, (unbewusst) angeregt.
Jeder, der einmal aus dem Gedächtnis zu zeichnen versucht
hat, weiss, wie viel schärfer man einen Gegenstand beobachtet,
dessen Form man einmal nach dem Erinnerungsbild aufs Papier
zu bringen versucht hat. Dasselbe trifft natürlich beim Kinde
zu. Die Bürste, die das Kind aus dem Gedächtnis zu zeichnen
versucht hat, wird bei der nächsten Beobachtung viel schärfer
ins Auge gefasst. Der Beobachtungswille wird angeregt —
die Beobachtungsfähigkeit gesteigert, eine gewisse Uebung der
Hand, dem Willen zu folgen, nebenbei erreicht.
Dass so ohne cjuaholle Methode wichtige Erfolge erzieh
werden, ist ohne weiteres klar. Ein weiteres erziehliches Mo-
ment tritt hinzu. Durch solche künstlerische Thätigkeit findet
das Wort „Bürste" eine wichtige Ergänzung durch das selbst-
gefordertc Bild. Das Wort wird lebendig. Der Begriff findet
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Dif Ximsi im LOem des KMea,
139
in der sinnliclien Vorstellung, die erzeugt worden ist, eine ge-
sunde Grundlage.
Solchen von den Kindern mit Freuden gern angestellten
Uebungen entstammen die Zeichnungen der Abteilung I, A.
a unserer Ausstellung. Es sind Kinder von 2V2— 8 Jahren,
von denen die Zeichnungen gefertigt sind. Wir sehen, wie
sehr die kleinen Künstler auf das Wesentliche losgehen, wie
verhältnismässig gut die Arbeiten gelingen. Die meisten der
Zeichnungen sind im Zeiträume von 5 - -15 Minuten entsianden.
Die Kinder wissen sofort, wenn sie di*; l.rlaiibiiis zum Zeichnen
bekommen, was sie zeichnen sollen und smd erfüllt von ihrer
Aufgabe.
Das Pestalozzi-FröbcMlaus, dem wir das Material ver-
danken, hat das grosse Verdienst, diese Uebungen im Volks-
kuidergarten und in zwei Schul k lassen bei u^^ eingeführt zu
haben. In (Gruppen von 10 -15 KiiKlern wird Gelegenheit zum
Erleben und freien Schaffen geboten. Spaziergänge im Freien,
Besuche bei Handwerkern, Tier- und Pflanzcnpflege, Hilfe-
leistungen bei hauswirtschaftlichen Arbeiten vermitteln den
Kindern möglichst in familuTihaiii r Weise einen Reichtum von
Vorstellungen, die auf klarer Anschauung und eigener Erfah
Tung beruhen. Mit und durch diese Uebungen wird die Em-
pfindung für die Natur und ihr Wesen, für den Zusammenhang
alles Seienden, für Schönheit und Gemeinsamkeit als kostbare
Gabe fürs Leben geboten. Denn es ist vor allem das Streben
der Leitung des Pestalozzi-Fröbel Hauses, in naturgemässer und
individueller Erziehung die (iemütsausl)ildung der Kinder zu
fördern. Und diese Zeicheiiübungen sind durchaus geeignet,
nach allen diesen Richtungen mitzuwirken.
Was die An."^talt hier giebt, kann natürlich auch die Mutter,
die Erzieherin leisten. Geluirt doch zu solchen Uebungen nichts
als ein Blatt Papier, ein Bleistift und — freilich auch das Ver-
ständnis dafür, dass die oft geschmähten ,, Schmierereien" des
Kindes durchaus niclu so zwecklos" sind, wie sie dem un-
kundigen Auge erscluMiuMi wollen. Haben sie zunächst den
schönen Zweck, dem Kinde das Glück der Bethätigung künst-
lerischen Gesialtungsbetriebes zu gewähren, so kann, wie wir
sehen, dieses Zeichnen, wenn es zur rechten Zeit in obigem
Sinne angeregt wird, ein unschätzbares Erziehungsmittel
werden.
4*
1
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140
OtU> Feld.
So dürfen wir hoffen, dass auch den nicht berufstnässigen
und doch berufenen Erziehern — den Eltern — die Darbie-
tungen unserer Abteilung Anregung geben. Die »»sinnlose
Zeichnerei" dürfte doch vielleicht manchem, so betrachtet» unter
einem anderen Gesichtspunkt als dem des komischen er-
scheinen. So heiter uns auch oft diese kindlichen Schöpfungen
stimmen dürfen, sind sie doch echte und rechte Aeusserungen
der befreienden Naivität des Kindes» jener holdseligen inneren
Schönheit, die aus Kindesaugen uns so beglückend entgegen-
leuchtet; wir dürfen dem Ernst nachsinnen» der hinter diesem
heiteren Spiel verborgen ist.
Lernen wir von den Kindern — dann wollen wir sie be-
lelirenl
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Verein Ifir Kinderp^chologie zu Berlin.
L Sitzung vom 4. Januar 1901.
Vorsitzender: Herr Stumpf.
Schriutiihrer; Herr H i r s c h i a i t.
Um 8)4 Uhr eröffnete der Vorsitzende die Sitzung mit einer kltnen
Ansprache. E» folgte der Vortrag des Herrn Kcmsies:
„Ueber Gedächtnisuntersuchuiigen an Schutern". IL Teil.
Der Vortrag wird in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden.
Diskussion.
Herr Möller: Wenn es gilt, die Chancen für die einzelnen Arten des
Lernens zu untersuchen, so muss man vor allem die Thatsache berücksich-
tigen, dass die Kinder bis znm 7.-<8. Lebensjahre wesentlich akustisch lernen
und daher akustisch weit besser vorgebildet sind, als visuell. Das Kind
lernt ja schon vor dem Eintritt in die Schule Gebete und Lieder und legt
so in seinem Gehirne akustische Eindrücke fest. Auch im ersten Schuljahre
wird wesentlich ;iku«^tisch gelernt, sodass das akustische Lernen von vorn-
herein einen Vorsprung hat gegenüber der visuellen Lernmethode.
Herr Bärwald «iderqMrteht dem Vorredner darin, dass das akustische
Lernen bei der Einübung von Vokabeln geübt werde. Das ist durchaus
nicht der Fall, vielmehr wird dabei zunächst visuell gelernt. .Aus seiner
persönlichen Erfahrung bei Gelegenheit der Sprachstudien nach Berlitz'scher
Methode möchte Redner übrigens gleichfalls die Resultate des Vortragenden
bestätigen. Die Frage sei nur: wie sind die geringen Erfolge der kombinier-
ten Methode zu erklären?
Herr Kemsies: Gegen Herrn Möller spricht die Erfahrung beim
Schuler Schmits, der optisch so sehr viel besser lernt als akustisch. Das
kombinierte Verfahren zeigt ganz gute Resultate, aber keine besseren als
das akustische. Das liegt wohl darrjn d:\«;s ausser dem Sehen und Hören
noch das Mitsprechen und verschiedenes andere dabei in Betracht kommt.
Herr Möller möchte gegen Herrn Bärwald seine Behauptung aui-
recbt erhalten, dass die Kinder bis xa 8 Jahren nur akustisch lernen, da
das VokabeULemen ja erst viel qnter eintrete.
Herr Stumpf fragt an, warum bei den Versuchen nicht lauter sinnlose
Wörter gewählt wurden, sondern ein sinnloses Wort verbunden mit einem
sinnvollen Worte. Dadurch werde die Sache komplizierter gemacht. Es
lässt sich doch denken, dass es Menschen gicbt, die Wortvorstellungen in
geringem Masse. Sachvorstellungen dagegen sehr gut behalten. Es dürfte
doch besser sein, diese Komplikation durch die Methode auszuschliessen.
Herr Kemsies wollte die Methode möglichst der Praxis annähern, so-
dass man Folgerungen für die Schule daraus ziehen könnte. Die Forderung.
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142
Sttntngsierü^.
zwei sinnlose Wörter zu verknüpfen, übersteigt überdies meist das Ver>
mögen der Schüler. Auch in anderer Beziehung wäre dies Verfahren wenig
vorteilhaft, weil die Worte, die von den Schülern verstümmelt oder nur teil-
weise behalten werden, aus den Reproduktionen nicht wiedererkannt werden
könnten. Ein solches Korrumpieren der Worte tritt auch bei normal veran-
lagten Schülern sehr häufig ein.
Herr Stumpf: Als Methode der Kontrolle des Wiedergebens ist
wohl immer da^ Niederschreiben angewendet?
Herr K e in s i e s: Nach jeder DarbieturiK wurde aufReschricben, was be-
halten war. Das ergiebt allerdings keine rein visuelle Methode, aber auch
wenn die Methode nach dieser Richtung hin abgeändert wird, sind die Resultate
die gleichen.
Herr Stumpf: Hat nicht die Metbode der Reproduktion einen Ein*
fluss auf das fVhnltrn?
Herr K e m i> i e > Das ist nicht untersucht worden. Die Untcr-
suchimgcn müssen nacii dieser Richtung noch vervollkommnet werden.
Herr Bärwatd: Die Lay'schen Versuche prüfen die Korrektheit des
Bebaltens» sind also nicht zu vergleichen mit denen des Vortragenden.
Das Resultat derselben ist, dass die Korrektheit beim visuellen Gedächtnis
»grösser ist als beim akustischen. Das ist leicht verständlich, weil die Art
der Wahrnehmung cme korrektere ist. Das widerspricilt nicht der Schluss-
folgerung des Vortragenden.
Herr K e m s i e s: Die akustische Methode bat mit der Reehtschreibong
nicht» SU thtm, sodass die SchlUMfolgenmg, die Lay aus seinen Versuchen
für die grössere Güte des optischen gegenüber dem akustischen Gedächtnis
zieht, unberechtigt ist. Auch die Resultate meiner Versuche weichen von
denen Lay's ab, was verschiedene Gcünde hat, die der Redner im einzelnen
kurz skizziert
Herr Stumpf dankt dem Vortragenden und wünscht Gluck für die
Fortführung der Untersuchungen.
Schlttsa der Sitsung 9 Uhr 35 Min.
IL Sitzang vom 1. Februar 1901. Beginn 8'/« Uhr.
Vorsitzender: Herr Stumpf.
Schriftführer: Herr Kern sie«.
Herr Hirschlaff bilt den angekündigten Vortrag:
..Ueber die Furcht der Kinder".
Diskussion.
Herr Stumpf knüpft an die Schlussworte an und frag^ inwii^m «ü»
Unterricht in der Psychologie eraiehlich auf Kinder im Sinne des Vor-
tragenden einwirken könne; um den Aberglauben su vermindern, balle er es
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143
für wichtiger» zunächst in die Beobachtung und Erklärung der ftusaeren
Naturvorgänge einzuführen.
Herr ö 1 1 e r schlics<?t sich dem an und verlangt, dass man in der
Physik den natürlichen Zusammenhang alles Geschehens hervorhebe, ausser-
dem eine grosse Summe von Kenntnissen vermittle.
Herr F 1 a t a u sieht keine neuen Thatsaciien, die daiiir sprächen« eine neue
Eniehungsmethode anxuwenden. Fnrcht komme bdcanntiich oft so anstände,
dass ein einzelnes Erlebnis sich im Individuum festsetze und eine gleichartige
Reaktion hervorrufe: Lampenfieber der Künstler, Bodentcheu der Pferde.
Die Furcht sei deshalb mehr und mehr aus der Erziehung verbannt, während
sie früher prophylaktisch gezüclitet wurde
Herr H i r s c h 1 a i f erwidert, dass der naturwissenschaiilichc Unterricht
änsaertt wichtig für die Bekämpfung des Aberglaubens und der Furcht sei,
du» er aber im modernen Schulsystem genügend ausgebildet sei, ohne die ge-
wünschten Resultate schon herbeigeführt zu haben. Er halte daher eine
Kenntnis der Grundzüpe des psychischen Geschehens in unsenn Falle für
clv ri <) wertvoll wie z. B. die Kenntnis der logischen Gesetze ftir das folge-
richtige Denken.
Herr Stumpf geht auf die Frage nach der Vererbbarkeit der Furcht
ein und glaubt, dass der Vortragende sie wohl nur auf Grund seiner Definition
der Furcht verneint haben könne. Denn es scheinen ursprüngliche Dis-
positionen vorzukommen, so dass infolge von ersten Eindrücken sofcwt Furcht
ausgelöst wird.
Herr Rauh hält nicht eine spezielle Furcht, wohl aber die Furchtsam-
keit für vererl>l>ar. Der Vortragende habe in der Definition das intellektuelle
Moment zu scharf betont, daher schUge er sdiliesslich als Remeditmi eine
psychologische Schulung vor. Die Furcht wurzele jedoch im Willendeben.
Durch Nachdenken über die Phänomene der Psyche werde der Wille schwächer
und apathischer, statt widerstandsfähiger. Die Praxis der höheren Schule
könne sich von psychologischen Belehrungen nichts versprechen.
Herr F 1 a t a u ist der Meinung, dass der Vortragende die grosse Be-
deutung einzelner Erscheinungen, denen das intellektuelle Moment fehlt,
infolge seiner Definition der Furcht nicht genügend gewürdigt habe. Das
Zusammenhhren beispielsweise rühre aus angeborenen oder erworbenen Dis-
positionen her.
Herr H i r s c h 1 a f f will nur jene Form der Vererbungslehre abgelehnt
sehen, die die Inhalte der kindlichen Furcht für übertragbar hält, dagegen
sei die körperliche Grundlage der Furchtsamkeit wahrscheinlich vererbbar. Das
intellektudle Moment habe er deshalb hervorgehoben, weil die typische
ausgebildete Furcht es aufweist. Was die Behandlungsmethode angehe, so
erinnere er an die Erfahrungen der nervenärztlichen Praxis, in der die
Psychohygiene und Psychotherapie mit Erfolg gegen Angstzustände u. dergi.
angewendet würden; gerade das intellektuelle Moment spiele hier die \laupt-
rolle. Herrn Flatau erwidere er noch, dass das Zusammeniahren in das Ge-
biet des Schreckens und nicht der Furcht gehöre.
ScUusa der Siuung Uhr.
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SUtitHgaSeriekte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Vortragsplan für das Sommerhalbjahr 1901.
25. April 1901. Dr. Otto Abraham: Ueber das absolute Tonbevnsst-
s«m. Ein Beitrag tur Tonpsychologie.
9. Mai 1901. Dr. Ferdinand Kemsies Die Entwickelung der päda-
gogischen Psychologie im 19. Jahrliundcrt.
iJ3. Mai 1901. Dr. Otto Gramzow: Die Wandlungen Nietzsches, psy-
chologisch betrachtet.
6. Juni 1901. Frits Mauthner: Zur Geschicbl« der Vernunft.
90. Juni 1901. Dr. Karl Gumperts: Die Stellung des Hypnotisraus
in der Religionsphiloscq>hie der alten Inder.
4. Juli 1901. Dr P.ii!l MoeUrr Die Bedeutung der Kombinations-
thätiglceit für die geistige Entwickelung.
Die .Sitzungen der Psychologischen Gesellschaft werden gewöhnlich
an zwei Donnerstagen jedes Monats im Hörsaal des Botanischen Instituts,
Dorotheenstruse 5, abgehalten und beginnen um 7 Uhr. Castweise Teil-
nahme ist sweimal im Jahre gestattet.
Die Tagesordnung wird regelmässig in der Vossischen Zeitung, in
der Paedagogischen Zeitung, in den „Berliner Anzeigen" des Herrn Grosser
und am schwarzen Brett drs Psychologischen Instituts angezeigt. Die
einzelnen Sitzungsberichte werden fortlaufend in der Zeitschrift für päda-
gogische Psychologie und Pathologie abgedruckt und den Mitgliedern tur
VerlOgung gestellt. Ausserdem erhalten die Mitglieder die ,,Scfarifteo der
Gesellschaft für psychologische Forschung."
Alle Anfragen und Mitteilungen sind zu richten an den derzeitigen
Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Dessoij-, Berlin W., Goltzstr. 31. Ueber
die Bedingungen der Mitgliedschaft erteilen die Satzungen Auskunft.
(Semesterbeitrag 4 M.)
Berichte und Besprechungen.
BIfitter für Knabenarbeit. Organ des Deutschen
Vereins für Knabenhandarbeit etc., herausgegeben von
DircHtor Dr. Pabst : l eipiig. Verlag von Frankenstein
und Wagner. Jahrgg r.»iX)
In Bezug auf die Stellung des Handfertigkeitsuntcrncht£> im Lehr- und
Eniehungsplan äussert sich F. Hucppe, Professor der Hygiene an der
UnivcrBität Prag, in einigen Leitsätzen dahin, dass sowohl aus psycholo-
gischen und hygienischen Gründen als mit Rücksicht auf die socialen Be-
dürfnisse dieser Unterricht ergänzend und vermittelnd zu den übrigen Lehr-
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Berichte und licsprechungen.
145
fächern himuireteii müsse Du- modt-rne Schuir srhickt sich an, die Eur
schalen, die ihr noch in l'orm <ler übertriebenen Wertschätzung klassischer
Studien und der deduktiven Behandlung der Unterriditsstoffe ankleben,
endlich absustreifen; man verlangt überall lebendige Anschauung und in-
duktive Methoden. Man stellt ferner die Bildung des Charakters und des
Körpers gleichwertig neben die Bildung des Hcistes. Daraus ergeben sich
die Forderungen, <Liss der Handfertigkcitsunterrieht als Turnen der Hand
am Werkzeuge zum Turnunterricht und aU L'cbuiig des Sehorgans zum
Anschauungs-, man könnte hinzuHlgen Mal-, Zeichen-, Geometrie-, natur-
kundlichen Unterricht ergäniend hiniutrete, überhaupt als bethätigender
Unterricht der S i t z s c h u 1 e eingefügt werde. Ein richtig betriebener
Handfertigkcitsunterrieht ist, weil bei demselben die Befriedigung des kind-
lichen Thatigkeitstriebes mit Her Erziehung zur Gcsrhirklichkeit, Ordnung
und Selbstbeherrschung Hand in Hand geht, em wichtiges Mittel zur Cha-
rakterbildung. Er wirkt hygienisch, indem er durch seine Eigenart die
geistige UebcaMrdung bdcämpfen hilft. —
In dem Aufsatze „Der Handfertigkeitsunterricht auf der Pariser Welt-
ausstellung 1900" führt uns Pabst in die Ausstellungsräume der Stadt Paris,
die bei der Durchführung des seit 1882 in Prankreich obligatorischen Hand-
fertigkeitsunterrichts am weitesten vorgeschritten sein dürfte. Der Kinder-
garten bringt Papier- und Kartunarbeiten, sowie zierliche und geschmack-
voll kolorierte Thonformarbeiten. Die Volksschule (Ecole primaire) be^
acfaiftigt sich mit Ausschneiden -und Faltubungen in Karton und verschieden-
farbigem Papier im AnschUiss an den Zeichenunterricht Darauf folgen
Werkstattarbeiten, die in einem Atelier angefertigt sind 1'1"> \*olksschulen
haben vollständige ICinnchrungen für Hobelbank und Eisenarbeil. \'oii
Holzarbelten sind ausgestellt : regelmässiges Dreieck. Viereck, Sechseck.
Achteck, Verzierungen, Holzverbindungen ; die Eisenarbetten bestehen aus
Draht, Stahlband und Blech. In den 6 Mittelschulen von Paris (Ecole*
municipalcs sup^rieures) giebc es technische Kurse, die sich mit der Her
Stellung physikalischer und chemischer Apparate beschäftigen, Handels
kurse, die Kartenskizzen produzieren u. <; w. Ots Lehrerseminar <Frole
normale d'Auieuil) hat hervorragende Leistungen aufzuweisen, die jedoch
sämtlich einen technischen Cltarakter tragen. Neben vortrefflichen Holz-
Verbindungen und Eisenfeilübungeo, geschickt ausgeführte Dreharbeiten,
prachtvolle Eisentreiberden und vor allem ausgezeichnete Modellierarbeiten.
Vasen und andere verzierte Gegenstände, wie man sie bei uns wohl in Kunst-
g-ewerbeschulen. aber nicht in Seminaren sucht ; daneben auch Modelle von
S'-h'j!hänken, .St.iffeleien und .nnderen (Geraten Die Meinung, dass die
wissenschaftlichen Leistungen der Seminare durch einen so intensiven Hand
fertigkeitsunterricht geschädigt würden, wird durch die anderweitigen Re-
sultate der französischen Seminare gründlich widerlegt. Hervorzuheben sind
endlich noch die künstlerischen Zeichnungen und Handarbeiten der Pariser
Kunstgcwcrbcschu!e fEcole d'application des beaux nrts ä l'industrie).
Von der Ausstellung des franzosischen Unterrichtsministeriums erwähnen
wir die Handarbeiten der Gymnasien; ausser den üblichen Holzvci bindungen,
Eisen- und Drechslerarbeiten besonders Drahtmodelle geometrischer Kitrper
und femer Modelle für Projektionslehre u. a. —
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BeridUe und Bies/reektmgim.
Trotz so mannigfacher Anerkennung dieses Unterrichtsiwciges im Aus>
lande sowohl von Seiten der Theoretiker nl«? Praktiker als auch der behörd-
lichen Instanzen will der Handfertigkeitsunterricht Ix-i uns in Deutschland
nicht heimisch werden und hat eine Reihe von Widerstanden tu uberwmdeu.
Der Vorsitzende und unermüdliche Vorkämpfer des Deutschen Vereins für
Knabeohandarbdt hat sich daher neuerdings veranlasst gesehen, einen Frage-
hogen SU versenden, der folgende Punkte enthält :
1. Welcher Ansicht über den Knabenhandarbeitsunterricht begegnet man
nach den dort jjemachtea Erfahrungen bei den verschiedenen Gcwerbe-
ttoibcnden, sowie bei Ausübenden und Kennern der bildenden Künste
und zwar
a) im Handwerk? b) in der IndiMrie? c) im Kunatgen^be? d) in
kunstverständigen Kreisen?
2. Erkennen dieselben an, dass der Handarbeitsunterricht ein Mittel ist«.
bei den Knaben eine geschickte Hand, ein geübtes Auge, praktiachisn
Sinn und Interesse für werkihatige Berufsarten zu erzielen?
3. Bevorzugen sie bei der Aufnalune von Lehrlingen solche Knaben, die
eine Schülerwerkstatt mit Erfolg besucht haben, oder sind sie misstrau-
iaeb, das« Tieltoieht die Knaben mandwa tedinftch Paliebe tieb ange*
eignet hätten, oder sich vielleicht einbildeten, sie seien schon teilweise
ausgebildet ? Im Falle letzteres zuträfe : ist dann diese Anncfat Vorurteil
oder gründet sie sich auf gemachte Erfahrungen?
4. Würdigen du- (Gewerbetreibenden den Knabcnhandarbeitsunterrirht als
ein Mittel, das kaufende Publikum zu einem besseren Verständnis für
gute Handarbeit su eriiehen und insbesondere auch dent Wert künst-
Imscher Handarbeit su erkennen?
f). Welcher Betrieb des Knabenhandarbeitsunterrichts -- in selbständigen
Schülerwerkstätten wie bisher, oder im engeren Ansthluss an Zeichnen,
Raumlehre, Anschauungsunterricht u s. w. — dürfte zur !>reichung der
angedeuteten günstigen Wirkungen desselben geeignet ersiiicincn?
Sofern sich unsere Leser für die Sache interessieren, bitten wir Antworten
an Herrn Direktor Pabst gelangen zu lassen! —
R. Gaupp. Ursachen und Verhütung der Nervosität
der Frau. Vortrag. 24 S. Breslau 1900.
Eine prasise Definition des Begriffs der Nervosität im engeren Sinn giebt
es nicht. Ein ahnormer Zustand des NervensyAems, auf dem manche Ner-
vetileiden erwachsen, der aber selbst noch keine eigcntliclie Krankheit dar
stellt: (it steigerte Reizbarkeit, grössere Erschöpf barkeit bei kurperlichea
und geistigen Leistungen , Mangel an Stetigkeit und Konsequenz
im Denken . Fühlen und Wollen. Die Nervosität des Weibes unter-
scheidet sich nicht wesentlich von der des Mannes. Der Verfasser
entwirft ein allgemeines Bild mehrerer Typen weiblicher Nervosität.
Als wichtigste Ursache des Leidens betrachtet er die ererbte An-
lage, die sich schon in der Kindheit oder in den Entwicklungsjahren bcmeri^»
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Btriektt und Bup^ttkungen.
147
bv macbt. In d«r Regel müssen jedoch kdrperlichef Krankheiteii oder go-
mfitUche Sdiädigungen als auslösende Faktoren hinzutreten; psychische In*
fektion spielt auch eine Rolle. U ebcrarbeitung und Not des Lebens sind
nur bei der weiblichen Arbcitcrschait als Ursache anzutreffen, die Frauen
höherer Stände leiden mehr an einem Mangel ernsterer Thätigkeit und an
AtoMMOnle. Die Neiwosität der Frau läsat sich auch nicht verhüten, da die
Anlage dam nicht beseitigt wertlen kann, doch bssen eine gute kdrpeilichi*
und geistige Eniehung, Gewölnung an ernste Arbeit, sweckmassige Eniäh-
nmg ignd Lebensweise sie nicht sur Entwicklung und Ausartung gelangen.
Th. Ziehen. Leitfaden der physiologischen Psycho-
logie in 15 Vorlesungen. Mit 87 Abbildungen im Text
5. Auflage. Jena 1900. G. Fischer.
Zunächst für den Psychiater bestimmt» hat sich der Charakter des Leit-
fadens seit der ersten Auflage (1890) erheblich geändert; so dass er in seiner
jetzigen Foptn auch für den Naturwissenschaftler und den psychologisch
interessierten Pädagogen eine geeignete Einführunj^ in die physiologisck-
psychoiogischen Pipbleme bietet. Nicht zum mindesten durch die lichtvoll«
Darstellimg, die instruktive Anordnung und Gruppierung des Stoffes» did
«shlreichen Litteraturangaben. Die Kapitel Qber Entstehung der Sinnes-
empfindungen aus den Reisen liringen die neuesten Untersuchungen und
Theorieen zur Geltung. In Bezug auf das Vorstellungsleben vertritt der Ver-
fasser mit Consequcnz den Standpunkt der Assoziationspsychologic und vor-
wirft die Apperceptionslehrc, namentlich in jen«-r Fassung, die ihr VVundt
gegeben hat. Seine Ausfuhrungen besitzen grosse Ucbcrzeugungskraft, da
sie wichtige Einwände tewie entgegenstehende historische und moderne
Mdnungen berü^ichtigen und su Widerlegen suchen, klingen jedoch in dem
Kapitel fiber das Wiedererkennen und die Ideenassociation allzu dogmatisch;
der Leser möge sich an dieser Stelle erinnern, .dass e? sich meist um eine
Uebersetzung von Bewussiseinsthatsachen in die physiologische Zeichen-
sprache handelt.
Folgendes ist der Inhalt der 15 Vorlesungen: 1. Aufgabe und Inhahs-
übersicht. 2. Empfindung, Assoziation, Handlung. 3. Reiz, Empfindung.
4. Gssehnseks*! Gemchs^ Bcrfibrungs«, Temperatur- und Bewegungsempfin-
dnnfen. 6. Gdifineropfiadungen. 6. Gesichtsempfindungen. 7. Die zeitlichen
Eigenschaften und der Gefühlston der Empfindungen. 8. Empfindung, Er-
innerungsbild, Begriff. 9, Der f>fiihKton der Vorstellungen, Affekte. 10. Das
Wiedererkennen und die Idi < n i so. inion. 11. Schnelligkeit der Ideen-
assoziation, Urteil und Schluss. 12. Aufmerksamkeit, willkürliches Denken,
das Ich, Gedächtnis. 18. Krankhaftes Empfinden und Denken, Schlaf, Hyp
nose. 14. Handlungen, Ausdrucksbewegungen, Sprache. 15. Wille, all*
gemeine Schlussfolgerungen. —
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148
BeriM» und Bcfpre^ungat,
£. Rzesnitzek. Zur Frage der psychischen Entwick-
lung der Kindersprach e Breslau 1899. A d e r h o 1 1. 0,90 Blaik.
In dieser Inaug.-Dissenation hat di-r Verfasser, das in verschiedenen
europäischen Sprachen vorliegende Material über du- Kntwirkelung der
Kir»dersprache geordnet zusammengestellt. Die Beobachtungen von Sigis-
mund. Prcycr, Compayr^, SuUy, SchuHze werden in Verbindung gebiacbt
mit den sprachpsycbologischen Erklärungen von M. Malier, W. Humboldt,
Lazarus und Stcinthal. Der Verfasser betrachtet seine Schrift als Vorarbeit
au einer Untersuchung über die Emwickelung der Sprache des taubstonuiMn
Kindes.
G. A. Colozza, Psychologie und Pädagopik des
Kinderspiels. Mit einer Einleitung von N. Forneil i. Aus
liein Italienischen übersetzt, sowie durch Zusätie und
Anmerkungen ergänst v. Chr. Ufer. Altenburg. O. Bonde.
1900. 272 S. (Bd. II der Internationalen Pädagogischen
Bibliothek.)
Kaum haben wir den ersten Hand der internationalen pädagogischen
Bibliothek ,,Die Entwickelung der Kindesseele von Gabriel Compayr6" in
der trefflichen deutschen Uebersetzung von Chr. Ufer kennen gelernt, so
werden wir noch in demselben Jahre mit einem sweiten nicht minder inter-
essanten und lehrreichen Werke überrascht. Mit der Wahl desselben hat
Ufer entschieden einen glücklichen Griff gethan und kommt gerade damit
zur Zeit, um die in Deutschland noch auf und abwogenden Meinungen
über die Fröbelsache zu klären. Man lernt hier Fröbcl in einem andern
historischen Zusammenhange kennen, als wir uns gewöhnt haben, ihn zu
betrachten, nicht als Jünger Pestalonis, der ein neues ABC der Anscbau- •
uQg und Bethätigung aufstellt, sondern alt letstcs Glied einer langen Reibe
von Pndagngikern, an deren S[)itzc Plate und Aristoteles sich befinden.
Wir werfen mit Colozza-üfer einen Blick in die Geschithte des
Spiels imd sehen, wie es von alters her in der Jugenderziehung angewendet
und gewürdigt wurde, bei Griechen und Rdmem. Durch die asketischen
Anschauungen der Kirchenväter unterdrüdct, kommt es etat wieder im Zeit-
alter der Renaissance su Ehren. Von Italien gdicn die neuen Erziehungs^
ideen aus und verbreiten sich allmählich dLirrh Frankreich. F.ngland und
Deutschland. Je mehr wir uns der Neuheit nähern, desto genauer wird
das Spiel vom pädagogischen Gesichtspunkt aus studiert, sodass man sagen
kann, „Fröbel war mit seiner Theorie des Kinderspiels nur einer von den
Männern, dii man als Repräsentanten bezeichnet und sein Gedankengebäude
mehr das Erzeugnis der Zeit als des einzelnen Menschen". Madame Necker.
B.isf-dow, Nieineycr. Guts Muts, Rosmini, Kam, Schiller, Goethe sind die
Vorläufer Fröbcls.
Die Zettgenossen FrSbeb begannen bereits Untersuchungen über die
psychischen Bedingungen und Wirkungen des Spieto ansustellen» die die
Hauptgesichtspunkte spaterer Focscfaungen in nuce enthalten. Schiller nahm
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BtridUe und Bttptwcktmgstn.
H9
den Gedanken Kants, dass das Spiel derselben Thäügkeit wie das Schöne
aMamine, auf und machte den Spieltricb /um Errenger df"; Schönen.
Dieses Spielen tritt dann ein, wenn der Mensch das, was 2ur Leibesnahrung
und Noidurft gehört, besitzt. Dieser vermutete Zusammenhang zwischen
Notdurit und Arbeit, Reichtum und Spiel gilt heute als allgemeiner Satt.
Neoere Foncber haben jedoch gesägt, dass man noch verschiedene andere
Bedingungen für das Spiel annehmen muss Jedes Spiel verlangt auch
einen gewissen Grad von Intelligenz, wie durch vergleichf-nflr Beobachtung
der höheren und niederen Tiere festzustellen ist. Ein fcrncirr Beweggrund
sind Gefühlselemcntc, die besonders in Gemeinschaftsspielcn sich geltend
machen. Das Spiel wird bald dieser, bald jener seelischer Aeusserung als
Focm angehören, ohne indessen sich mit ihr vollständig tu decken. Nach*
ahmimgstrieb, vererbte Tendensen, aesthetische Elemente, die Phantasie in
ihren verschiedensten Leistungen verbinden sich hier in der mannigfaltig-
sten Weise.
Das Spiel erscheint daher als eine einheitliche, alles durchdringende
Lebensmacht, ja ais der eigentliche Lebenszweck des Kindes. Nach Groos
giebt die Natur durch die Eiutichtnng ehier besonderen Jugendzeit bei
Tiefen und Menschen Gelegenheit sur Einübung unfertiger Anlagen. Die
Spide sind gewissennassen nicht Nachahmungen und Nachübungen . son
dem Vorahnungen und Vorübungen für das Leben. Diese prophptische
Bedeutung der Spiele voll erkannt und in 1er Erziehung der ersten Kind-
heit umfassend verwertet zu haben, ist das grosse Verdienst Fröbcis.
Die Erörterung über das Spiel in pädagogischer Hinsicltt geht von
dtaer geschichtlichen und psychologischen Basis aus und wird lu einer
Kjridk des bestehenden Spielvetfshrens in den Kindergärten, die aber für
deutsche Verhältnisse nicht immer zutreffend ist, im Übrigen auch die geisti-
gen Fähigkeiten der meisten Kinder überschätzt. — s-
Bulletin de l'Institut psychique international, fonde le äOJuia
1900. Siege social provisoire: 19, rue de i Univcrsitc, a Paris.
Das vorliegende Heft berichtet über die Gründung ein'T Sorietc
internationale de l'Institut psychique, die am 30. Juni v. j. m Paris voll-
zogen wurde. Dem Gründungscomitd gehören an aus Frankreich: d'Arsonval,.
Btfgson, Bemheim» Flammarion» Piene Janet, Li£beanlt, Li^geots, Marejr,
Raymond, Ribot, Riebet, Tarde u. a.; aus England: Barret, Ferrier, Lloyd-
Tuckey, Bramwell, Sidgwick, Sully u. a. ; aus Amerika: Baldwin, James;
.ms anderen Ländern: Exner, Floumoy, Lombroso, Metschnikoff, Orhorowict^
^oiovovo, van Gebuchten u. a. m. Aus Deutschland ist als ettuigcr Vertreter
der Psychologie v. Schrendc-Notzing erwähnt. Liest man die Grundsätze,
nach denen das Progranun des su gründenden Institutes auljgestdlt werden
soll, wie sie von Pierre Janet, Mascart u. a. in dem vorliegenden Hefte
geschildert werden, so bekommt man den fatalen Eindruck, dass neben den
Arbeiten der Psychologie und angrenzender Disziplinen wie der Psycho-
(heraphie, der pädagogischen tmd forensischen Psychologie u. s. f. in erster
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Reihe die occulten ,,Wissenschaften" gepflegt werden sollen« wie der animale
Magnetismus, die Telepathie, Hellsehen, Mediumität etc. ; ein Eindruck,
der noch \ cr' i irkt wird durch die Namen Aksakoff und Myers, die ebenfalls
als Mitglieder des Comit<5 de Patronage aufgeführt werden. Das wäre
nach unserem Dafürhalten stark bedauerlich. So wünschenswert es ist, dass
die psychologischen Arbeiten jeder Richtnng nach Kräften unterstützt würden
durch Einrichtung von Bibliotheken, Laboratorien etc., so überflfissig ist «s,
den mystischen Studien, die schon von selbst in den Köpfen \ieler unwissen-
«^rhnftlirher und kritikloser Mens hen zu überwuchern streben, noch weitere
Hih'skrafte zuzuführen. Es wird sich /eigen, ob das neue Institut den An-
forderungen der absoluten Vorurteilslosigkeit und exaktesten Wissenschafi-
lichkeit, die es an seine Mitglieder stellt, gerecht ni werden vermag. Das
Organ des Institutes wird unter anderem übrigens auch eine vollständige
Bibiiograpliie aller die Psychologie betreffenden Arbeiten bringen; ein Unter-
nehmen» dessen Durchführung sehr nutzlich wäre
L. Uirschlaff, Berlin.
Mitteilungen.
Aeusserungen zur Reform der höheren Lehranstalten.
Cultusminister Dr. Studt im Preussischen Abgeordnetenhaus: "
Ich will dem Hause gleich bei Beginn der Beratung über die Mass-
nahmen berichten, die die I^ntorriclitsverwaltung zur Dorchfühiung des aller-
höchsten Erlasses über die Reform der höheren Srhul^'n /u ergreifen gewillt
ist. Die l 'ntcrric lits-Verwaltung steht völlig auf dem Hndcn dieses Er-
lasses. Man liai vielfach gemeint, er entspreche nicht memer vollen üeber-
Beugung. Ich habe den Ertass aber gegengezeichnet, und ich hätte nidht die
Verantwortung übernommen, wenn ich nicht völlig einverstanden mit ihm
gewesen wäre, wenn ich nicht der festen Zuversicht wäre, dass seine Durch-
führung unserer Schule und unserem gesamten Vaterlande zum Heil ge-
reichen werde. Es ist weiter vielfach geglaubt worden, es sollen nun alle
drei Arten neunklassiger höherer Lehranstalten als gleichwertig angesclien
werden und eine Ergänzung nur in so weit in Frage kommen, als das
Universitätsstudium es erfordert. Zugleich ist darauf hingewiesen worden,
dass der humanistische Charakter des Gymnasiums gewahrt werden soll. Bei
dieser Gelegenheit möchte ich den Irrtum berichtigen, als ob das Vorrecht
des humanistischen Gymnasiums in betreffs des I^niversitätsstudlums von
jeher in Prcussen Rechten*» gewesen sei. Das Gymnasial Abiturium ist erst
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts eingeführt worden. Erst nach län-
gerer Emwickelung wurde durch das Reglement vom 4. Juli 1834 das
Reifezeugnis vom Gymnasium für die Zulassimg zum Studitmt verlangt. Wenn
nun nach dem Erlass auch das Reifezeugnis vom Realgymnasium und von
der Oberrcalschuie zum Universitätsstudium berechtigen soll, so werden
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^iainit nur die bisherigen Beschränkungen aufgehoben« indem der Erlass
an die alten pteussbchen Traditionen anknü[>ft Die Frage, inwieweit eine
Ergänzung der auf der Schule erlangten allgfiiii-inen Bildung durch Special-
kenntnissc für die einzelnen Berufszweige erfordt-rlich ist, ist für di«; Theo
logen bereits beantwortet, bei denen die Kenntnis des Lateinischen und
' Oriediiscben in demselben Umfange wie bkher gefordert werden muss.
Das Gleiche gilt ffir einselne Fächer der philosophischen Fakultät. Für
die Erwerbung der Spezialkenntnisse nach Abschluss des Schulunterrichts
Icommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht, zunächst das System der
bisherigen Ergänziuigsprüfung, sodann die Einrichtung besonderer Vorkurse
auf der Universität, schliesslich der Weg, es den cuiztlneri Studenten, zu
Überiassen, wie sie sich die erforderlichen Spezialkenntnisse erwerben wollen.
Die Einrichtung von akademischen Vorkursen ist mit grossen Schwierig-
keiten verknüpft. Es wird sich auch empfehlen, die Er^mungsprilfung, wo
sie nicht schlechterdings unentbehrlich ist, einzuschränken. Für die Theo
logen wird sie noch beizubehalten sein, dagegen werden wir fiir die philo-
sophische Fakultät den dritten Weg tinschlagen Der \'()rwurf. tlass ich
allzu langsam mit der Reform vorginge, ist ganz unberechtigt. Die Zeit,
asitdera der altsrhüdiste Crlass an midi ergangen ist, reichte nicht aus, die
schwierige Frage weiter vorwärts xu bringen. Den Eltern, die jetst noch
in Ungewissheit sind, kann ich nur raten, sich nach denjenigen Bestimmungen
zu richten, die bisher schon gelten, soweit nicht neuerdings zur Ausführung
des allerhöchsten Erlasses anderweitige Bestimmungen innerhalb meiner Zu-
ständigkeit erl.issen worden sind.
Icli komme nun zu Nummer 2 des Erlasse? Es handelt sich dabei
um eine Verstärkung des Unterrichts im Lateinischen an den Gymnasien.
Es sollen nur wenige Stunden hinzugefügt werden, aber die Verstärieung
wird sur Erreichung des gesteckten Zieles genügen. Auch an den -Real-
gymnasien soll eine Vermehrung des Lateins um wenige Stunden Platz
greifen.
In Nummer 3 des Erlasses werden verschiedene Aenderungen im
Unterricht an sich empfohlen, die nicht nur in Fachkreisen, sondern auch
hf\ den Eltern allgemeine Zustimmung gefunden haben. Multum non multa
heisst hier der Grundsatz. Den Realgymnasien soll Gelegenheit geboten
werden, neben dem Latein besonders die modernen Sprachen zu pflegen,
den Oberrealschiilen die modernen Sprachen und die Mathematik und allen
Anstalten Religion und Deutsch. Dasselbe gilt von dem vierten Punkte, der
Aufhebung der Zwischenprüfung für den einjährigen Dienst. Auch die Reife-
prüfung an den Nii htvollanstnlten soll durchgreifend geändert werden. Es
soll hier eine gewöhnliche \'ersctzungsprüfung l'lat/ greifen. Nummer h des
Erlasses bezieht sich auf die Lehrplanc der Altonaer und Frankfurter Re-
formgymnasten. Die Versuche damit sollen künftig auf breiterer Grundlage
fortgesetzt werden.
Das sind im wesentlichen die Gesichtspunkte, nach welchen die Un-
terrichtsverwaltung in voller Uebereinstimmung mit dem genannten Erlasse
die im Jahre 1892 eingeleitete Reform der höheren Schulen weiter zu führen
gedenkt. Wir rechnen dabei auf die bewährte Pflichttreue und Verständnis*
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152
M tfteüungefi.
volle Hingebung Uer Lehrerschaft, und ich will hoffen, Ua^ es uns mit ver-
einten Kräften gelingen wird, die Reform tum Segen des Vaterlandes durch-
zuführen.
Bei den Verhandlungen der Schulkonferenz, über die jetzt
der umfassende Bericht erschienen ist, spielte auch die Frage
des gemeinsamen lateinloscn Unterbaues eine sehr wesent-
liche Rolle.
Der vom U n t e r r i c h t s m i n i s t e r i u nt daruln-i autgcMeihc Leit-
satz lautete:
„Es ist, wenn überhaupt, so doch jedenfalls lor Zeit nicht ratsam^
einen gemeinsamen Unterbau für die drei Arten der höheren Lehranstalten
durch den Hoginn mit dem Französischen und Hinaufschiebung des Lateini-
schen einzurichten. Indessen wird einer «weckenlsprechcnden Weiterführung
des damit in Altona, Frankfurt a. M. und anderen Orten gemachten Ver-
suchs, namentlich in Besug auf Realgymnasien, nicht entgegengetreten
werdesL"
Gegen die Worte „namentlich in Bezug auf Realgymnasien*' erhob der
kürzlich verstorbene Berliner Realgymnasialdirektor Dr. Schwalbe cnt-
* schiedenen Einsprucii, weil die Realgymnasien keineswegs reformbedürftiger
seien als das Gymnasium. '
Wenn schUeadich die Frage sich doch für den Frankfurter Verweh
nemlich günstig ttdlte, so war dies die Folge eines Eingrdfens der MiUtir*
und Finanzverwnitnng. In der ,, Kreuz Ztg." heisst es darüber:
Sowohl der (leneralinspekteurdesMilitär Kr/iehungs-
und Bildungswesens als der Kommandeur des Kadetten«
korps spr&chen nicht bk» für Zulassung, sondern für allmähliche Erweite-
rung, ja für allgemeine Einführung der Frankfurter Lehrpline, beule mit
Benifung auf das Gutachten des Dirdctor Ziehen, das den Konfefcmnil'
gliedern zugänglirh gemacht worden war, wie die ^um entgegengesetiten
Resultat gelangenden des Geh. Rats Kubier und des Professors Harnack. Den
Ausgang nahtn Frhr. v. F u n c k von der Beobachtung, dass im Kadetten-
korps tuid d>enso in den Realgymnasien, an deren Lehrplan sich ja das
Koips anschliesst, die Ergebnisse des franaosischen und des lateinischen Un-
terrichts gleicher Weise unbefriedigend seien; er erwartet die notwendige
Besserung für beide Lehrfächer von dem Beginne mit dem l'ranzösischen.
Dieselbe Einrichtung wünscht er dann auch auf die Gymnasien übertragen,
besonders auch mit Rücksicht auf die Schüler, welche nur xwei Drittel derCym-
losialklassen durdinuichen. Frhr. v. Seckendorff betonte, wie wün-
schenswert es sei, dass das Kadettenkorps nach der Einführung des Lehr-
plans des Rcformrealgyninasiunis j'ii h! in einer von wenigen Anstalten ge-
teilten Sonderstellung verbleibe, und fügte Wünsche be/üglirh der wissen-
schaftlichen und pädagogischen Ausbildung von Lehrern tur die modernen
Framdsprachen hinzu. Geh. O.-F.Rat Germar sprach sodann im Auftrage
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153
de< Finanzministers speziell über das dringende Verlangen von Eltern an
klein« rcn Orten oder auf dem Lande, ihre Kinder möglichst lange bei sich
zu behalten, ein Bedürfnis, das sich ungleich besser durch die Reformschul-
«fSanbation befriedigen lane, ebenao, wie das Bedürftüs kleinerer Städte,
neben ikrem Gymoasiiun oder RcalgymiMsiimi Jaleinleee Reahchulknne at
haben.
Darauf wurde folgcndr Resolution angenomnien:
Es ist zur Zeit nicht ratsam, einen gemeinsamen Unterbau für die
drei Arten der höheren Lehranstalten durch Beginn mit dem Französischen
und Hinaufrückung des Lateinischen allgemein einzunchten. Indessen wird
einer nredBentqirechenden Weitexfülirung det damit gemachten Venocl»
nicht entgegenziitEeten und eine allmähltclie Erweiterung desselben
SU fSrdern sein.
Den letzten Worten entspricht der kai-^erliche Erlass, wonach der
Versuch auf breiterer Grundlage erprobt werden möge, wo die Voraus-
«etsnagen für diesen Versuch zutreffen.
Ein Schulmann kritisiert den KeformetUwurf im „Berliner
Tageblatt" zif^mlich abfallig:
Nach allem, was man bisher in betreff der beabsichtigten Aende-
ningen auf dem Gebiete des höheren Schulwesens gehört hat, soll es im
weseadichen — beim Alten bleiben. Den beiden realistischen höheicn '
Lehranstalten wird die ehrenvolle Anerkemiung n^esprochen, dtms sie gldcli'
falls ihren Zöglingen eine allgemeine Geistesbildung gewähren; die Be-
rechtigung 711 akademischen Studien aber unterliegt für ihre Zöglinge nicht
viel gerin;^L-ren Beschrankungen als bisher. In Bezug auf den Bildungsgang
des Gy mnasiums sind keine Veränderungen von wesentlicher Bedeutung ein-
getreten. Es ist xwar allgemein der Gnmdsats aufgestdlt, es solle jede Schul-
ymmg ihren eigentOmlichen Charakter bestimmter lur Gdtung bringen.
Für das Gymnasium kommt derselbe jedoch hauptsächlich nur soweit rar
Anwendung, als drr Inteinische l'ntcrricht in drrt mittleren und o"l>eren
Klassen um je eine Stunde vermehrt wird, und zwar zu Gunsten des gram-
matischen Pensums. Wer die Abneigung kennt, die auf Seiten der bchuicr
jerade gegen diesen Teil des Umerricbts auf den beseichneten Stufen vor*
herrscht, srird dieser „Errungenschaft", die in Kreisen der klassisdien Philo-
logen mit Genugthuung begrüsst wird, im Sinne der gymnasialen Jugend nur
sehr geteilten Beifall zollen. Dass hierin eine stärkere Betonung der eigen
tümlichen Bildungsaufgabe des Gymnasiums 7u erkennen sein solle, wird
nur der begreifen, welcher weiss, was für eine Koilc der Begriff der for-
malen Schulung auf dem Gebiet des ' höheren Schulwesens spielt. Man
weist den formalistischen Ldirf&chem Grammatik und Mathematik die Be-
^lentung su, dass sie den Sdililem «ne allgemeine Geistesgymnasik bieten,
did sie au Jeder Art von geistiger Arbeit befähige. Die häufig wiederkehrende
Frfrihningsthatsache, dass junge I.eute, die auf der Schule gute Gramma-
tiker oder Mathern;itikpr w:?ren nicht imstande smd, ihre juristische Prüfung
2u bestehen, und uingckchit d i scharfsiimige Juristen als Schüler wenig
Zeitschrift für pädagogische Psycholugic und PdliatSftei ^
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154
AlUUütingcn.
in Grammatik und Mathematik leisteten, wird völlig ausser Acht gelassen.
Ebenso wenig trägt man den Ergebnissen der Psychologie Rechnung, denen
zttfolge die auf einem Gebiete erworbene Fähigiceit sich nur auf verwandte
Gebiete, aber nicht auf völlig andersgeartete überträgt, so dass die Beherr-
schung grammatischer und mathematischer Formen keineswegs auch die
Bewältigung irgend eines Sachgebietes verbürgt. Man bleibt bei der einmal
herkömnüichen Behauptung, der Grammatik und Mathematik wohne ein
fbrmalbildender Charakter bei> und verstärkt deshalb den Unterricht in der
lateinischen Granunatik, während man den mathematischen wenigstens un*
verkürst in seinem tusberigen Umfange bestehen lässt.
Eine bedeutsame Aenderung hat das Griechische in Bezug auf
das ihm gesteckte Bildungsziel erfahren. Dasselbe soll nicht blos w^ie bisher
durch Vorführung klassischer l.itteraturwerke als ästhetisches, son-
dern aucii als kulturgeschichtliches BilUungs mittel Ver-
wertung finden, indem den Sdiölem an der Hand eines zu diesem Zweck
bearbeiteten Lehrbuches Proben des geistigen Schaffens Altgriechenlands
auf den verschiedensten Gebieten dargeboten werden, um ihnen so die grund-
legende Bedeutung der griechischen Kultur für die unserige nachzuweisen.
Dieser Gedanke hat bekanntlich den Professor v. Wilamowiti-Möllcndorf zum
Urheber. Man beabsichtigt mit einer dahingehenden Forderung offenbar,
dem griediischen Lektüreunterricht, der so leicht auf übermässige Betonung
des Formellen, eine vorwicgmd sprachlichgrammatische Texterklärung ver-
fällt, mehr g c i s t bildenden Inhalt zu geben, indem man einen umfang-
reichen, allen niuglirhcn Kulturgebieten entlehnten Lektürestoff in den l In-
kreis der Behandlung zieht. Nicht recht ersichtlich ist es allerdings, warum
die Untm^isung auf diesem Gebiete sich an griechische Urtexte anschliessen
vXLi die sachttch«! Mitteilungen, die bezwecken, den Sch&iem die Bedeutung
der Leistungen des Griechentums für die Kulturarbeit der Gegenwart klar
SU legen, könnten ohne Nachteil auch in Gestalt eines allgemeinen
kulturgeschichtlichen Unterrichts in deutscher Sprache er-
folgen. Immerhin ist der Gedanke einer derartigen planmässigen kultur-
geschichtlichett Würdigung des griechischen Altertums neu, und man wird
den Erfolg abwarten müssen, der zeigen wird, ob die Lehrer den hiermit
gestellten hohen Anforderungen in Bezug auf Beherrschung des kulturge-
t-chichtlichen Materials gewachsen sind, und ob es gelingt, den Schülern,
deren geschichtlicher Sinn meist noch wenig entwickelt ist, die Bedeutung
der auf manchen Gebieten b^cheidenen Anfänge der Kulturentwickelung
für den' weiteren Fortgang und endlich die höchsten Leistungen klar su
machen. Wesendiche Gebiete der griechischen Kultur wurden auch schon
im Rahmen des gegenix rirtigen nvmnasiallehrplans berücksichtigt. Man denke
an die quellenmüssige Lektüre philosophischer Schriften Piatos, die sich nun-
mehr, was entschiedenen Beifall verdient, auch auf dessen Republik, Buch I,
erstredeen soll, an die Beiehnmgen aus der Poetik des Aristoteles, die sich
an die Lektüre griechischer und deutscher Dramen anschliessen, die umfang*
reiche Lektüre griechischer Dichter, Redner und Schriftsteller. Die heutiu«
tage auf höheren Schulen behandelte Geometrie ist ja im Grunde nur eine
in etwas andere Form gebrachte Behandlung der Lehren Euklids auf diesem
Gebiete
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MitUÜuHgm,
i55
Im T''ebrigen konnzeichnet sich die jüngste Schulreform durch ciiit-n
Mangel an neuen, f r u r Ii t b a r e n Gedanken. Es sind meist
äusseriichc Gesichtspunkte, die ihr zu Grunde liegen, vor allem
die Bereclitigungsfrage.. Dan auch in dieser Benehui^ wenig neues
SU Tage gefördert worden ist, habm wir schon hervorgehoben. Dagegen
hat man Icetner der von der neueren Pädagogik erhobenen Forderungen Rech"
nung getragen, die dahin gehen, dass der Unterricht grundsätzlich in den
Dienst der Menschenbildung treten und hiernach Auswahl und Be-
handlung des Lehrstoffes sich richten solle, dass der heranwachsenden Jugend
die Ansatie zu einer höheren Lebensauffassung geboten werden,
daaa der Unterrichtsstoff der Jeweiligen Altersstufe kongenial sein müsse
u. s. w. Der letztere Grundsatz insbesondere bleibt unberücksichtigt, wenn
man den Zöglingen der oberen Klassen, statt ihnen geistige Nahrung zu
bieten, zumutet, wieder in ausgedehnterem Masse lateinische Grammatik zu
treiben. Es fehlt an einer Einrichtung, der die Aufgabe zufiele, Fragen wie
die der Möglichkeit einer formalen Geistesbildung klarzustellen, was recht
eigentlich Sache von Fachpcofessuren ftr Pädagogik und Didaktik sein
würde. Premsen gehört zu dot wenigen Knlturstaat«», die es su einer der-
artigen Einrichtung noch nicht gebracht haben. Die Pädagogik bedarf wie
'Vdes andere Wissensgebiet einer dem allgemeinen Kulturfortschritt ent-
sprechenden Fortbildung. Die vor einigen Jahren gegründeten (jymnasial-
senünare verhaken äich in dieser Beziehung konsuiniercud, nicht produ-
zierend; sie können daher eigene Professuren für das bezeichnete Fach ketnes»
falls ersetzen. Ebenso wenig vermögen die ehrenamtlichen, einseitig auf
praktische Pädagogik beschränkten Honorarprofessuren, die an zwei preussi-
sehen Universitäten seit kunem bestehen, einen Ersatz für die mangelnden
Fachprofes suren zu bieten.
Das leitende Prinzip unseres höheren Unterrichts ist und bleibt:
formale Schulung, die leider so leicht in einen blcissen, alles Interesse
an geistiger Arbeit ertötenden Drill ausartet. Freilich war bei der Zu«
sammensetzung der zur Beratung der Schulreform berufenen Konferenz
kaum ein anderes Ergebnis zu erwarten. Dieselbe bestand, soweit sie fach-
männische Mitglieder umfasste, fast durchweg aus Anhängern der herkömm-
lichen formal-gelehrten Bildungsweise, denen in keiner Weise durch Ver*
treter neuerer pädagogischer Riditungen, die das erskhlidie Moment der
Jugendbildung mehr betont wissen wollen, das Gleichgewicht gehalten wurde.
Mit der Frage der Zulassung von Realschulabiturienten
zum Studium der Medizin beschäftigte sich die Berliner Me-
dizinische Gesellschaft.
Auf Grund eines Kommissionsberichtes wurde über folgenden Antrag
verhandelt:
..Die Berliner Medizinische Gesellsdiaft erklärt es für notwendig,
dass das Zeugnis dcrReifc von einem humanistischen Gym-
nasium auch fernerhin Vorbedingung der Zulassung zu den ärztlichen
Prüfungen bleibe." *
5*
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156
Muuüungen.
Als Gründe wurden angeführt, dass die Kenntnis der klassischen
Sprachen für den Arzt dringend notwendig sei, ferner dass durch die Zu-
iMMUig der Reabchukibitiaieiitea der Zudnng tum MedinnstiuHura noch
stärker sein «nd die für die Ausbildung der Aente vorhandenen Universitäts-
einrichtungen, die schon jet« vielfach ungenügend wären, alsdann gänzlich
Tinmretchend sein würden. Dadurch würde die Ausbildung der Aerzte Schaden
erleiden. Zu diesem Antrag hatte alsdann der Vorstand der Gesellschaft noch
folgendes Amendement hinzugefügt:
».Die Geselbdwft s|»kht zugleich ihren Wunsch dahin aus, dass
die Zuhosung der Reabchulabitorienten zu den medislDischen Studien
nur unter denselben Bergungen gewfthrt werde, wddie fttr Ju<
r i s t e n und Theologen vorgeschrieben werden."
Im Laufe der Debatte machte sich die Auffassung geltend, dass es
ein grosses T^nrerht sein würde, die medizinische Fakultät hinsichtlich der
Vorbildung der bei ihr zuzulassenden Studenten anders zu behandeln als die
Schwesterfakultäten der Rechts» und Gottesgelahrtheit. Diese Ausnahne»
ttelhing der medizinischen Fakultät würde nur sur Herabdruckung der sozialen
Stdlung des Arztes führen. Gleiche Vorbedingungen zu allen Fakultäten
müssten gestellt werden. Wolle man alle Arten der höheren Schulen hin-
sichtlich der Zulassung ihrer Abiturienten zu allen Fakultäten gkichwentg
behandeln, dann müsse man auch überall danach verfahren und ificht
der medizinischen Fakultät allein zumuten, sidi mit einem Real«
»chulreifczeugnis zu begnügen; denn dadurch schaffe man ja eben wieder
eine l Ungleichheit in der Bewertung jener höheren Schulen. Schliesslich
wurden beide Anträge angenommen. In einem ähnlichen Sinne hat sich
auch, wie uns aus Halle gemeldet wird, der dortige Verein der Aerzte
ausgesprochen. Dieser Verein hat eine Immediateingabe an den
Kaiser und eine Petition an den Bundesrat zu richten beschlossen,
dahingehend, dass den Abiturienten der Realgymnasien nur dann das Studium
der Medirin zugänglich ZU machen sei, wenn dies auch für alle übrigen
Studien erlaubt werde. (Berliner Tagebl.)
Der Kultusminister Dr. Studt hat sich in einem an einen
Verein ,,Mädchengynina^iinn*' üingst erlassenen Bescheide über
die Errichtung von Gymnasiaikursen für Mädchen folgender-
massen geäussert:
..Die F.ingabe vom 5. Oktr>hfr v. Js betreffs Errichtung eines neun-
klassigen humanistischen Mädchcng> ninasiums in N.. habe ich nach allen
Seiten einer erneuten und sorgfältigen Prüfung unterzogen. Ich erkenne die
selbstlose Absicht des Vereins, denjenigen Mädchen, welche sich akademnchen
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Mttteüungen,
157
Studreii V i<!men wollen, die Gelegenheit zu guter und gründlicher X'orbildung
zu gefahren, gern an, vermag mich aber davon, dass der geeignetste Weg
hicmi die Gründung eines humaiustisclieii Vollgympasimn« sei, um lo weniger
SU ftbtneugra, ab gerade jetit in Verfolg des AUerliBclMten Erlasses vom
98. November v. Js. auf dem Gebiete des hfiheren Schulwesens Wandlungen
sich vorbereiten, welche die Voraussetzungen, von denen die Eingabe des
Vereins ausgeht, in wesentlichen Punkten als hinfällig erscheinen lassen.
Auch beruht es auf einer Verkennung des Wesens und der Bestimmung der
bestehenden GymnasiaUnme HIr Mädchen» wenn der Verein ihnen die Auf«
gäbe ittweisen will, mit ihren Schfilerinnen in vier oder fünf Jahren den
neunjährigen Lehrgang des Gymnasiums zu durc^u ü' n. Ihre Aufgalie werden
sie viflnu-hr darin zu erkennen haben, die beiden Bildungsgänge in orga-
nischen Zusanunenhang zu setzen und auf Grund der allgemeinen Bildung,
wie die höhere Mädchenschule sie zu gewähren vermag, in einer Leliriorm,
die dem Verständnisse erwachsener Mädchen entspricht, ihre Schülerinnen
ztt den Zielen des Gymnasiums zu fähren» nicht in der Art einer Presse für
die Reife|»tifttng, sondern in geordnetem, methodisch fort*
schreitendem Lehrgange, der naturgemäss auf diejenigen Gebiete
sich konzentrieren wird, welche neu an die Schülerinnen herantreteiL
Ich vermng daher die Genehmigung iwr F.röffnung einer Gymnasial-
sexta und cnur Gymnasialtertia für Mädchen in N. zu Ostern d. J. nicht
zu erteilen.
Dabei verkenne ich keineswegs, dass dem höheren Unterrichte der
Mädchen im Laufe der Jahre neue Aufgaben erwachsen sind, und dass die
gegenwärtige Lehrordnung der höheren Mädchenschuten, lunächst wenig-
stens die der höchstentwickelten Anstalten, einer zcitgciniissen Fortbildung
fähig und bedürftig ist. Ich bin aber überzeugt, dass die höhere Madchen-
schule, die, den Bedürfnissen folgend, im wesentlichen ohne behördlichen
Zwang und ohne Prüfungsdruck, als freie Bildung sieb entwickelt hat, allge-
mda als Einheitsschule und als Grundlage für weitere Bildungsgänge, welcher
Art sie auch seien, erhalten bleiben muss, und dass es ein verhängnisvoller
Irrtum wäre, sie ihrem eigentlichen Berufe zu entfremden, und von dem
Bedürfnisse und den Neigungen einer beschränkten Minderzahl die Bildungs-
einrichtungen für die grosse Mehrheit der Mädchen abhängig machen zu
wollen,"
Mit RuckMcht auf den Mangel an Volksschullelnri n ist
die amtliche Nachweisung über die l requenz der Seminare
und PräparandenanstaUen der Monarchie von Interesse.
Im Wintersemester llMXt/i'.KJl sind die staatlichen Schul -
lehrer- und Lehrerinnen-Seminare von 11,477 Zöglingen (77
mehr, als im Sommersemester 1900) besucht worden. Nach dem Etat sollte
sich die Frequens auf 11^ belaufen, so dass die Wirklichkeit den
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Etat um 141 übertraf. Die staatlichen Präparandenan'
stalten waren im Wintersemester 1900/1901 von S774 Zaglingen (Iii mehr,
als im Sommersemester 1900) besucht. Narh dem Etat sollte sich die Fre-
quenz auf 24&5 belaufen, sodass in Wirklichkeit 319 Zöglinge mehr
vorhanden waren, als im Etat vorgesehen. Aus diesen Zahlen ist ersicht-
lich, dass der Besuch der Seminare und Präparandenanstaltcn sich im
Wintersemester gesteigert hat, und dass demgemäss auch Aussicht auf allmäh-
liche Beseitigung des Volksschullehrermangels, der sich nach den Aeusse-
rungen des Kultusministers auf löOO Personen belief, vorhanden ist.
Bcseiti^^rung des Religionsunterrichtes
aus den Schulen? Pfarrer Bauer in Gro.ss - Mückwar
nennt in der „Christi. Welt" die übliche Pädag;ogik eine
„Peitsch- und Zuckerbrot - Methode des körjterlichen und geistigen
Knufifens von hinten und der Berechtigungen von vorne, erffült mit eiiwm
Sohranben- und Zangengeist, der selnoi Stola darein aetzt, Dinge an* den
Sehfliem henmaanfragen, die nie in Ihnen waren, nnd efeh deslialb genötigt
sieht, die Autworten (der Kinder) schon, in die Fragen (der Lehrer) zu ver*
stecken imd sich und andern etwas vorzumachen";
..einen Anscliannnfrsnnterricht, der alle Anachaunngen durch Begriffe
ersetzt und unter Begrilieu erstickt";
„einen Natnrwissenschaitsnnterricht, in dem die Kiuder gewaltsam
Ton der Natur entfernt werden";
„einen Deutschunterricht, in dem ein armes Gedicht so lange erklärt
wird, bis poetische AtiafttintiMg und künstlerische Emptindong zum Teufel
sind, und die öde. <:rrat)c Schn1<]ual aus ihm lieraoagrinst, wie ans allem,
was die Schule bisher angefaaet hat.*'
„Weim ich konservativ oder siumiuisch wäre, forderte ich in der
Schale iwei Stunden wSchentUcdi ScafaUsmna» von einem Stwlsldeniokrateii
zu geben, nur mit der Verpfliehtnngt die approbierte^ pidagoglaeheMetiiod«
anSttWenden. Hau würde staunen, wie das helfen würde!'*
Diese Unterrichtsmethode verekelt die l^eli^non.stun'len.
.,in deren sokratischer Luft kein Gelieimiiis mehr atmen kann, in
denen alles höchste und tiefste platt gefragt wird."
„Man zerbridit sich den Kopf darüber, weshalb Luther so unpopulär
unter uns geworden ist. Weil jedes Wort seines Katechlamna .... vom
Schulekel trieft. Unsere Synoden enolittpfen sich in YorsehlSgen, wie dem
Volke die Religion zu erhalten sei. Zu erhalton is;t da nichts mehr;
aber wer sie sie wieder ins Volk bringen will, der befreie sie einmal vom
Schulzwang . .
„Aber" so bchiiesst der Mann, „die l''reuude der lieligiou hleibeu
dabei: mehr Religion in der Schnlel Je mehr der Schulnnterrieht ona die
Bflligion ▼erdirbt, deato mehr davon mttasen wir haben I Die Masse mnss
es wieder einbringen.'*
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159
Der HeraiLsgeber d«r „GhiliUidieii Welt^' «Uirt, er aet eiv
ichroeken derttber» wte tM Zjmttmmnng die Loeiiiig de« FCMrren Bener
gefunden hübe.
Bibelkritik und R e Hg i o nsiinterri c h t. Ueber
dieses Thema sprach auf der Hauptversammlung des Evange-
lischen Vereins der Provinz Sachsen Professor Dr. Kautzsch-
Halle Dabei begründete er nach der Päd. Ztg. folgende Satze:
1. Die von Tag zu Tag sich vergrössemde Kluft zwischen den wirk-
Hohen — nicht bloss angeblichen •- Tlesaltaten der Bibel Wissenschaft einer-
seitB und dem landläufigen Betrieb des Religioufiuuterrichts auf allen Stufen
anderseits begründet einen Notätaud, der driugeud nach Abhilfe ruft.
3. Auf «Uen Stufen dee Beligionsuxkterrtehto bto nr obeceten hlnanf
ist die BOgeneante blbUadie Kritik niemalB Sdbetewaek, eondeni immer nur
Mittel zum Zwecke, sofern einerseits durch sie das VerständolS des Schrift-
inhalts im einzelnen, andrerseits daa Verständnis der Offenbarungsgeschichte
im ganzen gefördert wird. Nach diesem Grundsatz ist auch zu beuiesisen,
in welchem Umfange die Ergebnisse der litteraturgeschiditlichen Forschung
mitztttellMi aiud.
3. Die Gtfahr einer Verwirrung der Gemtttor oder ger eines Aerger-
nisses schwindet in dem Messe, als die Unterweisung von einer ohristileliMi
Persönlichkeit ausgeht, welche die wahren Glaubensinteressen von irgend
^vplr}\en kritischen Ergebnissen unberührt weiss, und bei der kein Zweifel
lie^iehen kami, doss es ihr nicht um das Zerütöreu, iioadem um das Erbauen
zu thun ist, und weiter in dem Motise, als zwischen Thatsachen und Hpyo-
fhesen untersdiieden wird. LetEterss ergiebt von selbst die Notwendig-
keit dsfis der ITntwweisende des Feld bis xu dnem gewissen Grade wirk-
lich beherrscht.
4. Die untere Stufe, also in der Hauptsache die gesamte Volksschule,
kann einer direkten Heranziehung der Kibelkritik so gut wie völlig entraten,
dagegen nicht einer Verwertung ihrer Ergebnisse. Letztere erfuigt a} durch
die Attswslü derjenigen gesdilcbtllchen Absdinltte, die »nf Grund der sltsn
Quellen Uber den wirklichen Gesdhicihtsverlsuf bertehten« b) durch die voll-
ständige Ausscheidung dessen, was der theologischen Reflexion und Theorie
der späteren Quelle angehört, c) durch eine solche Beleuchtung de^ religiösen
Inhalts, die so viel als möglich sowulü inbetreü' des GottesbegriÜ's wie der
Ethik und der universeilen Bestimmung der Keligion die Ergäuzungübedtirf-
tigkeit und den lediglich vorbereitenden Charakter der altteetunentUchen
Offenberungsstnfe erkennen lehrt.
5. Auf der mittlem Stufe, d. h. etwa in den mittlem Gymnasial-
klassen und den entsprechenden Klassen anderer Ajistalten, einschliesslich
der untern Sominarklassen, kann bereits eine unumwundene Darlegung des
Thatbestandes, u. a. auch eine Unterweisung über das Wesen des Mythus
und der Sage, stattiindeu, natürlich immer mit sorgfältiger Berücksichtigung
des in dem «weiten Lsitssti ausgesprochenen Ksnons und des bei den
Schttlem vorsnsgssetsten Verständnisses.
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160
6. Auf dar öbwwtwi Gfaifo (Obigymaslnm ti. a. w., oben« Wimiiiar
fetettt «ibh m dmt ntiktlMi MitteiloDg 4« Thatbettaadae die Einfülinui^
in diejenigen allgemeinen Geetchteptinkte, ohne deren richtige Erfassang
«in vollbewn^tes Yerst&ndniB und Beurteilen des Thatbestandea anii)ö<n^lich
ist. Zn diesen Geeichtspankten gehören vor allem drei gpezifische Chai akte-
ilstika der altteetamentUchen litteratxxr, uJüulich ihre so gut wie ausschliebs-
lich leligiöee Tendenz^ der Hangel des Begrifik llttarariflohen fifgentoms
und der igfSbatlMg iiÜMilMnd«n Bedeatoog dar Haggadah und das lUdnach.
Zur Frage des erd- und völkerkundliclien Unter-
richts veröffentlichte die deutsche Kolonialxeitung nachstehende Mit-
teitang: In Antfillinuig der von der vorjilir^eii Hanptversammlung io
Strasibarg gefassten Rcsoludm — betreffend Verroehning der Lehratfihle
für Geographie und Völkerkunde auf den Universitäten und den
icchnischen Hochschulen sowie Erweiterung des geographischen
Unterrichts in den vorbereitenden höheren Lehranstalten — und
mit Rücksicht aul den von der Abteilung Zoppot auf der diesjährigen Haupt-
versammlung in Koblenz geäusserten Wunsch, dass auch in den niederen
Schulen unsere kolonialen und maritimen Bestrebungen mehr als bisher
berfidesiditigl werden mochten, sind seitens des Pkisidiums der Deulschctt
Kolonialgesellachaft entsprechende Anträge an die Unterrichtsverwaltungen
der deutscfien Bundesstaaten gerichtet worden. Das Ergebnis der bis jetzt
eingegangeneu Antworten lässt sich kurz dahin zusammenfassen, dass von
allen Seiten die angeregten Fragen eingehende Würdigung cnahren haben,
die beafigtichen Erwägungen aber sum Teil noch nicht zum Abschloss ge-
langt sind. An dar Univeraitit Berlin aind Indeaaen bereio awei neue
Lehrstühle für Völkerkunde errichtet, für Kiel steht die Begründung einea
solchen unmittelbar bevor, und auch für die technisclien Hoch-
schulen in Danzig, Aachen und Hannover sind geographische Professuren
in Aussicht genommen. Eine Ausdehnung des Geographie Unterrichts auf den
Gymnasien und Realgymnasien erscheint in einzelnen Bundes-
staaten entbehrlich, weil dort die Geographie schon jetzt ausgiebig gepflegt
wird; in anderen wird davon eine Ueberbürdung der Anstalten befürchtet.
Becfiglith der niederen Schulen endlich stimmen sämtliche, bis jetzt
eingegangenen Antworten darin überein, dass der Unterricht in der Geographie
schon auf die deutschen Kolonien — zum Teil mit Vorliebe — erstreckt wird.
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•
Bibiiotheca pMO'-psycholo£;ica«
Von O. Pfungst.
I. Allgenittlne Psychologie.
Aars, Kr. B. R. Analyse de i'idie <)e J* mwmle. CbrisUaai«, J. Dvbwad,
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Accinelli. Fr. Del tempcraniento. Unione med. ital , IHOO, IV, 19, 146.
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Sdiriftleftung: P. Kern sie s, Berlin NW., Piulstr. 33.
Verlas von Herminn Walther, Berlin SW.. Wilbdmstr 47.
OFBck von «T y p o g r a p h U", Kunst- and Scttmftidiinai-DniciBnti. Berlia SW., Friedridütr. 16.
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Zeitschrift
Dir
Fä(ladOdHcl)e P$y(l)oloaie
und
Patl)olOdie.
Herausgegeben
von
Ferdinand Keinsies und Leo Hirschlaff.
Jahrgang III. Berlin, Juni 1901. Heft 3.
Qedächtnisuntersuchungen an Schülern.
Von
F. K e m s i e s .
III.
Der französische Rechenkünstler Inaudi ist imstande, eine
längere Reihe von Zahlen als gehörte Laute im Gedächmis
aufzubewahren und mit ihr Rechenoperationen vorzunehmen,
wenn sie ihm einmal entweder vorgesprochen oder geschrieben
vorgezeigt wird; im letzteren Falle pflegt er sie leise durchzu-
lesen mit deutlicher Bewegung der Artikulationsorgane. Wir
Hessen ihn im Psychologischen Jnstitut der hiesigen Univer-
sität eine Zahlenserie von 18 Stellen einmal taktmassig
laut lesen, und fast jedes Mal konnte er die Zahlen
sofort richtig wiedergeben; selten kamen Umstellungen vor.
Wir legten dabei eine Versuchsanordnung zu Grunde, die J.
Cohn*) in seinen experimentellen Untersuchung^ über das
Zusammenwirken des akustisch -motorischen und des visuellen
Gedächtnisses beschreibt. Die Versuchsperson sitzt vor einem
Schirm, in welchem ein durch Luftdruck zu öffnender Moment*
verschluss angebracht ist. Den Ball hält der Versuchsleiter
in der Hand und öffnet den Verschluss, nachdem er ein ver*
abredetes Zeichen gegeben hat. Es wird nun in Sehweite das
Objekt sichtbar: Drei Reihen Ziffern ä 6 in ein karriertes Netz
eingetragen (Taf. I). Gelesen wurde in 10 Sekunden schnell
^) Ztschr. fiir j^chologie und PIqrsiologio der Sinnesorgane. Bd. XV.
Zdtackrift für pMnoglidie Psyebologie aiid PailialOKie. 1
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172
JP. Kemnts»
hintereinander nach dem Takte eines Metronoms, das 180
Schläge in der Minute machte, 80 dass auf jede Ziffer 0,56 Sek.
entfielen. — Inaudi fasste immer drei aufeinander folgende
Stellen zusammen. Er las sie in französischer Sprache, be-
hielt auch die französischen Laute und gab das Behaltene in
deutscher Sprache an. Für die Reproduktion, die leicht von
statten ging, verbrauchte er ca. 10 Sekunden. Diese Leistung
konnte keine der unten angeführten Personen auch nur im
entferntesten zu Wege bringen.
Taf. I.
4
1
8
0
9
5
9
3
0
l
7
4
2
1
r .
8
Wir Hessen ihn darauf 3 Reihen von Buchstaben (Kon-
sonanten') ä 4 einmal in derselben Weise durchlesen und
aus dem Gedächtnis wiederholen, auch ihre Stelltmg im Netz
bezeichnen; jeder letzte Buchstabe einer Reihe wurde beim
Lesen betont. L reproduzierte nur 4 Buchstaben von 12 und
gab an, dass er sie kls optische Zeichen vor sich habe, wahrend
er Z ah 1 e n niemals in dieser Form behalten habe ; auch setzte
er jene öfters an eine falsdie Stelle, vergl. Taf. II u. III. Er
machte jedoch schnelle Fortschritte, wie ein anderes Beispiel,
siehe Taf. IV und V, zeigt.
T«f. n.
gelesen :
Tai. m.
J. behält:
r
h
q
f
r
1
n
z
1
b
1
b
8
d
m
e
n
Taf. iV.
Taf. V.
J. behilt:
q
f
C
j
8
k
g
d
t
P
m
Ii
q
f
c
1-^
k
h
Tif . VL
K behält:
r
n
f
1
m
c
Taf. VIL
K. behilt
q
c
j
1
m
T*f. VUL
Sch. behilt:
r
M
f
s
n
z
Taf. IX.
Sch. behUt:
q
8
c
j
t
m
u
P
M. behilt:
f
h 1 b
Tal-. XL
M. behilt:
*) Vergl. J. Cohn L c
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173
Wenn man diese Gedächtnisleistungen Inaudis mit denjeni-
gen von drei anderen Versuchspersonen vergleicht, so kommen
ihm in Bezug auf Quantität des Behaltenen K, u. Sch. (Tai.
VI — IX) gleich, während M. (Taf. X — XI) ersichtlich zurück-
bleibt ; in Bezug auf Korrektheit des Behaltenen übertrifft er
in 1 af . V sie sämtiicli. K. erinnert sich in Taf. VI u. VII
ausser den angegebenen Buchstaben noch dreier Oberlängen,
die er durch Striche ]:)ezeichnet. M., der ausserordentlich
akustisch veranlagt ist, schreibt die Buchstaben, deren Stel-
lung er niciii anzugeben vermag unter das Netz. Sch., der
ebenfalls Akusiiker ist, macht mehr Umstellungen als I. u. K.
Aus dem verschiedenen Verhalten Inaudis — ob akustisch
oder visuell — beim Einprägen von Zahlen- lesp. Buchstaben-
serien nach derselben V^ersu< hsanordnuug < rgiebt sich bei ihm
eine beträchtliche Differenz tür die Quaniiiai des Bclialtenen.
Das führte auf den (ledanken, ob nicht jede Person bei ver-
schiedenen Objekten mfolge wechselnder Beteiligung der
Sinnesgebicte de^ Auges und Ohres, wobei zugleich Begabung,
Uebung und Interesse zum Ausdruc k kotiimen, oder auch l)ei
demselben Objekt nur durch Anwendung möglichst einseitiger
Lernmelhoden (akustisch oder visuell) vers( Inedene Leistungen
nn Behalten erzielen werde. Nach einer grosseren Anzahl von
Versuchen mit den ver.-.chiedensten Personen, Lernobjekten
und Lern verfahren gelangten wir zu der Ueberzeugimg, dass
es \"ersuchs|)ersonen giebt, die sich ein geeignetes Lernobjekt
je nach der \oi wiegenden Beteiligung des einen oder anderen
Sinnesgebietes mit wechselnder Leichtigkeit, Festigkeit und
Korrektheit ein/u})rägen vermögen.
Um nur einiges hier anzuführen, so hallen wir Personen,
die laf. II oder IV' schon nach 3 Darbietungen fehlerfrei her-
sagen konnten, die dagegen eine ebenso angelegte Tafel mit
einfachen geometrisrhen Figuren, spitzen und stumpfen Winkeln
nach I3 und iiiclii W iederholungen nicht aufzeichnen konnten.
Umgekehrt gab es Personen, die zur Erlernung von Taf. 11 stets
9 Wiederholungen brauchten und für das I igurenschema auch
nicht viel mehr. Jene wurden von uns als akustisch, diese als
visuell betrachtet.
V\iv pädagogische Zw e( ke schien es nützlich, Massenunter-
suchungen in Schulklasscn mit Wortrciiieii als Lernmaterial
anzustellen. Solciie Versuche fanden statt in IV, U Iii
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174
W. Kmties.
und U II einer Oberrealschule, als Einprägungsstoff wurden
10 nach bestimmten Gesichtspunkten aiisgewählte lateinische
Vocabeln mit Bedeutungen benutzt. Aus den Resultaten, die im
Jahrgang 1900, Heft 1 und 2 dieser Zeitschrift veröffentlicht
sind, sei hervorgehoben, dass das Lernen nach dem visuellen
Verfahren durchschnittlich geringere Leistungen als nach dem
akustischen, bezw. kombinierten ergab ; der Unterschied betrug
ca. 10 f>,o in Bezug auf Qualität und Quantität des Behaltenen.
Da aber eine Schülerklasse mehrere Typen aufweist (vergl.
'es Verfassers Untersuchungen zur Arbeitshygiene der Schule*)
so gestatten jene Resultat-Zahlen allenfalls Schlüsse auf die
Methodik der Unterrichtsfächer, weniger jedoch auf die Ge-
dächtiiisciualitäten unserer Schüler; hierfür sind Einzelunter-
surhungcn an Schülern erforderlich, die sich auch auf exak-
terer Basis ausführen lassen. Einige Beiträge in dieser Rich-
tung sollen Uli folgenden nnigeteilt werden.
An Stellr der 10 lateinischen \'okaüL'iri wurden 10 zweisilbige
sinnlose Wörter bcstrlirnd aus je 3 Konsoiiaiiien und 2 Vo-
kalen resp. Diphthongen xcrwindet ; jedes ..Fremdwort" erhich
eine zweisilbige dcuL-^che Bedeutung, du' keine lauilirhe Aehn-
lichkeit iiiit ihm besass. Es lag nah(\ aucli statt der Bedeutungen
sinnlose Wortgebilde zu wabh n. doch erwiesen sich die sinn-
vollen deutschen Wörter wertvoller. Da sehr häufig die sinn-
losen Wörter stark \ crslüininelt oder modifiziert wiedergegeben
werden, bo sind sie schwer wiederzuerkennen, wenn nicht
daneben ein bekanntes Wort als liidikaior auftritt. Die Be-
deutungen bilden gewisserniass n das Skelett, das leichter und
korrekter behalten wird und den Frenidworiein als Stütze dient.
Beispiel eines Lemstückes.
1. lümsi
2. aipaf
3. edbor
4. emok
0. tOgMI
achtbar
Kutscher
Ueblich
Flaache
i>, vagul
7. kögri
8. f(S(lok
9. rafus
10. gdkol
neulich
sebalMA
Nacht»
Schmiede
Bonnig
Die Darbietungsart war akustisch, visuell oder kombiniert;
bei der ersteren wurden die Wörter vom Versuchsieiter vorge-
') Reuther und Reichard. BerUn 1698.
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175
sprechen, bei der zweiten in grosser Druck- oder Rundschrift
gezeigt, bei der dritten gezeigt und gleichzeitig vorgesprochen.
Doch wurde die Concentration der Aufmerksamkeit mehr als
früher in die Versuchsanordnung einbezogen und ferner die
beiden Sinnesgebiete des Auges und Ohres strenger isoliert,
im Gegensatze zu Cohns Anordnung, der die verschiedenen
Sinneagebiete des Gedächtnisses in ihrem Zusammen-
wirken untersuchte und eine Ablenkung der Aufmerkt-
keit anstrebte.
Bei der akuaiisclicn Art Hessen wir die Srhüler in
einem vor störenden (Geräuschen gesrbütztcii Zinip.ier mit
geschlossenen Augen sitzen; bei der \iMu-lleii wurden ihnen
die Wörter im Dunkelzininur als helle rrans{)arentc auf
einer geräuschlos rotierenden Scheibe nach einander vorgeführt;
jedes Wort wurde erst sichtbar, wenn es die Lichtquelle er-
reicht hatte, \or der es einige Zeit verweilte. Das Vorsprechen,
der Vocabeln sowohl als die Drehung der Scheibe übernahm
der Versuchsleiter, da mechanische Vorrichtungen, wie der
Phonograph für den ersten oder ein Uhrwerk für den zwei-
ten Zweck sich nicht als hinreichend geeignet erwiesen; der
Phonograph reproduziert die sinnlosen Wörter nicht deutlich
genug und ein in Gang befindliches Uhrwerk bringt leicht
störende Geräusche hervor. Dagegen übte sich der Versuchs-
leiter in kurzer Zeit gut darauf ein, nach der Fünftelsekunden-
uhr zu sprechen, resp. die Pappscheibe ruckweise zu drehen,
sodass die Darbietungszeit in engen Grenzen variierte, und die
Oscillationen keinen Etnfluss auf das Resultat erkennen Hessen.
Die beiden Methoden srhit lu n (Iciii X'crsuchslf i ici acqui-
valcnt zu sein: Die X'ocabeln wurden successiv dai geboten ;
nach jeder r'errc-jnioii einer Wicabel fand eine kleine Ruhe-
pause für Auge und Ohr statt. .Nach dcrselljcn wurde ent-
weder das .\uge oder das Ohr in Anspruch genommen.
Das visuelle \ erfaliren wnr im Vergleich mit dem gewöhnlichen
Lernen durch wiederholtes Durchlesen insofern begünstigt, als
das Transparent die Aufmerksamkeit stark auf sich 7.0g. ähn-
iirh das acustischc \'et fahren insofern, als i^ei ge^. lilossenen
Augen eine starke Concentration vorhanden war. Den Ton-
hohenunterschieden beim Hören entsjjreehen die verschiedenen
Buchstabengestaiien beim Lesen. Es wurden auch einige V er-
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176
F» Jümsies,
suche mit farbigen Transparenten gemacht, die Resultate wichen
jedoch nicht nennenswert von den andern ab.
Die Darbietungszeit hatte bei den Massenversuchen i sec.
pro Silbe betragen, sie wurde jetzt um das Zustandekommen
von Associationen möglichst auszuschliessen, auf 0,5 sec. ver>
kürzt, sodass ein Lernstück in 20 sec. einmal vorgeführt wurde ;
doch wurde es, wie früher 5 Mal hintereinander dargeboten»
demnach 100 sec. dafür angesetzt (continuierliches Ver-
fahren).
Die Reproduktion geschah schriftlich. Da stets einige Se-
kunden verstrichen» bis der Schüler am Schreibtische Platz
genommen hatte, und da femer die Vocabelreihe in ihrer gc
gebenen Folge, d. h. die ersten zuerst niedergeschrieben wer-
den s<^lten, so kamen hier nicht die primären Gedächtnis-
bilder, sondern wiederholt unbewusst gewordene zum Vorschein.
Die behaltenen Wörter wurden nach 9 Gesichtspunkten ausge
zählt: I. Summe der behaltenen Wörter, 2. Zahl der richtig
mit einander verknüpften, 3. der falsch verknüpften, 4. der
unverknüpften Fremdwörter, 5. der unverknüpften Bedeutungen,
6. der synonymen Bedeutungen, 7. der Umstellungen gegen die
ursprüngliche Reihenfolge. 8. der fehlerhaften Reproduktionen,
9. der nicht wiederzuerkennenden Wörter.
In einer zweiten, lehrreichen V'crsuchsserie wurde das Lern*
stück der Versuchsperson so oft \ orgeführt und von dieser nach
jeder Darbietung reprcKluziert, bis sämtliche Vokabeln zum
ersten Male in erkennbarem Zustande, wenn auch nicht korrekt
wiedergegeben waren, die Zahl der notwendigen Wiederholun-
gen notiert (discontinuierliches Verfahren). Die
Auswertung geschah wie vorhin. Die erste Methode hat
den Nachteil, dass noch einige Zeit nach der Repro-
duktion Wörter, resp. Wortfragmente im Gedächtnis der
Versuchsperson auftauchen können, die bei der Auswertung
nicht mehr Reachumg finden. Dagegen leidet die zweite Me-
thode an tlem Uebelsiand. dass es zuweilen zvveifelliaft ist. ob
ein Wort schon als erkennbar angesehen werden kann oder
nicht. Die erwähnten Nachteile treten indessen in praxi weniger
hervor, als in der Theorie: die Ergebnisse beider Bestuuniungs-
methoden stehen in i-linkl inj; nnt i inancler. Das continuierliche
X'eriahren erscheint einheitliche! und markanter als das dis-
kontinuierliche, bei dem nach jeder Darbietung die Akte de»
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O; >
H ^
> 00 —
00 -o CM
>Ä
CO
CO
cn
behaltene
Wörter
richtig
verknüpft
falsch
verknüpft
unvcrkn.
Fremdwörter
unverkn. Be-
deutungen
synonyme
Bedeutung
Umstellun-
gen
fehlerhafte
Reprod.
ungenannte
Wörter
1
1
palum Freunde
molbü heiter
sogud fühlen
teköm gestern
folud Thräne
zawid Stühle
lupar adlig
matul reizen
korbü weilen
pefat Bücher
19,2 sec.
palum Freunde
molbü heiter
sogud fühlen
teköm gestern
polud Thräne
sawid Stühle
mopal adlig
reizen
korbü weilen
pefat Bücher
20,2 sec.
i ^
palum Freunde
molbü heiter
sogud fühlen
teköm gestern
folud Thräne
adlig
reizen
sabid Stühle
korbü weilen
prfat Bücher
18,8 sec.
palum Freunde
molbQ heiter
fühlen
teköm gestern
Thräne
zabid Stühle
adlig
reizen
korbü weilen
pefut Bücher
19 sec.
M
palum Freunde
morbü heiter
teken gestern
zabid Stühle
adlig
reizen
korbü weilen
pefat Bücher
2U sec.
palum Freunde
heiter
reizend
korbü weilen
pefat Bücher
20,4 sec.
palum Freude
zorbQ reizend
i
1
pefat Bücher
22 sec.
Ii
Ii
f ' «M* c« <•$ ^ id >d od OS e
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178
F, Kemäes.
Tabelle
I
29. 4. 1S99
Vi
II
5. 5. 1699
m
21. B. 1899
IV
20.9. 1899
W, W, Wa
behaltene "Wörter
richtig verknüpft
i«l8ch verknüpft
unverkn Fpcmdw.
Unvprkn i^cflf*iit
5 12 14 20
Z lU \i £\)
2
1
112
12 18 20
tu ID £\i
2 2
5 12 16 18 l'O
2
1
■»
9 13 14 20
/L 1A 1A 'H\
•j
1
3 4
synonyme Bed.
Umstellungen,
lAlerliafte Reprod.
tuigcn. Wörter
12 13
4 3 4
1
2 2 3
2 2 1
1 1
12 13
3 3 4 S 3
1 1
1
2 3 2 1
3 3 3 4
1 4
sec.
durchschnittlich
91 •>
23 22,4 24,5
23,3
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3. & 1899
•kastlich:
XI
29. S. 1899
XII
13. 9. 1899
behaltene Wörter
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ttuvtrkn. Beöeut.
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Umstellungen
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NiedcrsrhrcibcTi> und des Knisiiinens sich « insc hieben, wodurch
das Gelernte schneller bcicstigt wird; dennoch liefert dieses
die interessanteren Ergebnisse.
In Bezug auf die Zeitlage der Versuche ist noch zu er-
wähnen, dass sie stets am Nachmittage zwischen 4 und 6 Uhr,
meist nach Beendigung der Schularbeiten stattfanden.
Mehrere Versuche mit akademisch gebildeten Personen im
Alter von 25 bis 35 Jahren nach der discontinuierlichen akus-
tischen und nach der visuellen Lemmethode ergaben ohne vor-
Digrtized by Google
GedäihinisunUrsuihungen an Schülern.
179
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visuell:
VI
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21. 9. 1899
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angegangene Uebung annähernd dassclbr Resultat: 6 — 7 Dar-
bietungen (nebst Reproduktionen) Ijis zur ersten vollständigen
(jedoch nicht immer fehierfreienj Wiedergabe.
Beispiel für akustisches Lernen: (Tabelle A.)
Dr. Scb. 33 Jahre elf. 20. 4. 99 ebenda 6 Uhr. Das LenistOck
wird nach der 7. Wiederholung (W^ volltliadig und fehlerfrei auf*
geschrieben*
Personen wie diese, die visuell und akustisch sich wenig
unterscheiden und nach ihrer eigenen Aussage ein ^^leichtes" Ge-
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L'msteüungcn
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ungen. Wörter
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182
F. JSümsiei.
dächttiis besitzen, wollen wir bei den folgenden Fallen als
Masstab (Typus A] betrachten. Sie gebrauchen also ca. 6 Wie-
derholungen zur Aneignung des obigen Lemstückes. Wir ver-
gleichen mit ihnen verschiedene* Untertertianer und Quartaner
der Oberrealschule« deren Gedächtnis z. T. bessere, z. T.
schlechtere Beschaffenheit zeigt. Zunächst einen Schüler
Schm. aus U III im Aker von 15 Jahren; es wur-
den im Laufe von Jahren 25 Versuche mit ihm angestellt
(vgl. Tabelle B), von denen die Mehrzahl den letzten
3 Monaten angdiörte. Bei dem diskontinuierlichen visu-
ellen Lemverfahren (nach jeder Darbietung schriftliche Re-
produktion) bemerken wir lein sprungweises Vorwärtsschrei-
ten. In Versuch II, V u. VI ergiebt die erste Reproduktion
über die Hälfte der Vocabeln und schon nach der 2. Wieder-
holung ist fast das ganze Lemstück praesent, sodass eine 3.
Wiederholung nur noch eine relativ unbedeutende Lücke aus-
zufüllen hat. Dieses Verhalten wird besonders durch Versuch
V illustriert, wo nach W^ bereits 18 Wörter richtig mit ein-
ander verkimpi t vorhanden sind. In den anderen Versuchen
erzielt er dieselben Leistungen erst nach i oder 2 Vorstufen.
Der durchschnittliche Zuwachs an Wörtern aus den ersten Ver-
suchsserien beträgt 5,5. Bei Dr. Sch. dagegen nur 2,9. Bei dem
continuierlichen Verfahren, das erst nach fünfmaliger Dar-
bietung des Stückes eine schriftliche Wiedt^rgabe forderte, ynrd
die ganze Lemaufgabe von Schm. sofort bewältigt (VII, VIII).
Ganz anders fallen die acustischen Versuche aus. Hier
findet ein allmähliches Fortschreiten statt, und zur Erler-
nung (l' T 10 ^'ocabeln sind 4 — 6 Wiederholungen in disconti-
nuierlicher Darbietung erforderlich; die durchschnittliche Zu-
nahme beläuft sich auf 4 Wörter. In 6 Versuchen nach der
continuierlichen Methode (XIV — ^XX) gelingt es ihm niemals,
die 20 Wörter zu behalten, das Maximum war *Vi4' dem
Combi nierten Verfahren schliesslich (IX) sind nur wie oben
3 Wiederholungen nötig.
Akustisch kommt Schm. demnach dem Typus A nahe.
Wir wollen ihn wegen seiner specifisch visuellen Fähigkeit
als Typus B bezeichnen und sein Gedächtnis zugleich wegen
der geringen Zahl notwendiger Wiederholungen ein „sehr
leichtes" nennen.
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GtäächtttinuUtrsuckungm an Schülern.
183
Für die Kniwickelung di< :>cs Ty pus kann vielleicht in Be-
Uacht kuiumen, dass der Knabe seine Spraclifertigkeit erst
sehr spät erlangt und daher optische Eindrücke bevorzugt
hat. Seine Leistungen in der Schule waren stets gering^.
mit einziger Ausnahme der mathematischen Fächer, in denen
er meist genügte. Ausserhalb der Schule erwies er sich als
eine ges( hi» kte und praktisch veranlagte Natur. Seine geringen
1 Ol tbchritte bedingten schUesslioh seinen Abgang von der Lehr-
anstalt.
Den Gegensatz zu diesem Schüler und einen eigenen Typus
C bildet nun der Uniertertianer Selu, mit dem zu derselben
Zeit 25 Versuche stattfancli-n.
Visuell discuntinuierlich uerden durchschnittlich 8.2 Wie-
derholungen bis zur Beherrschung der Vocabehi gebraucht oder
2,4 Wörter pro Wiederholung behalten, arustisch discontinuier-
lich dagegen 5,2c; Wiederholungen oder 3.8 Wörter pro Wieder-
holung. Dort ein schrittweises Vorgehen, nur gelegentlich
Sprünge, deren Ergebnis erst befestigt werden muss ; hier ein
etwas lel)hafteres Tempo, etwa wie bei Srhm. Verglichen mit
Typus .\ bleibt Sehz im visuellen Lernen zurück, im acusti-
schen übertrifft er ihn aber: in der Schnelligkeit der Auffassung
kommt er ihm gleich, besitzt also ein „leichtes" Gedächtnis.
(ForteetsEong foJgt.)
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Zur
Methodik und Kritik der Ergograplieii-Messttiigen.
Von
Leo Hirschlaff.
Im Jahre 1890 beschrieb Mosso') einen Apparat, Ergograph
genannt, der geeignet sein sollte, den Verlauf der Muskeler-
müdung am lebenden Menschen auf graphischem Wege zu
' studieren. Insbesondere behauptete Mosso, dass die mittelst des
Apparates gewonnene Curve, das sog. Ergogramm, bei geeig-
neten \"ersuchsbeding^ngen Aufschluss geben könne auch über
die Ermüdung nach geistigen Anstrengungen. Seitdem sind
eine Reihe von Arbeiten erschienen, die, wie z. B. die Unter-
suchungen von Maggiora-), Lombard*), Kraepelin*), Rf)ssii»),
Zoth- ' . 1 ix y->l Scheffer*«), Desirde-') u. a. m.^*) den Einfluss
somatischer Faktoren, wie B. der Nahrungsaufnahme
und des Hungers, der Blutzufuhr, der Temperatiu-, ver-
schiedener Arzneimittel u. dergl. festzustellen siu hton; während
Keller-'), Kemsies^), Binet und Henri"), u. a. das Ergogramm in
psychologischer und pädagogischer Hinsicht auszunutzen unter-
nahmen, indem sie den Einfluss der geistigen Thätigkeit, z. B.
der Schüler, auf den Verlauf der Ergographen-Curve studierten.
AUe diese Untersuchungen haben relativ wenig Beifall ge-
funden, z. T, mit Recht, z. T. auch, wie wir im folgenden
nachweisen möchten, mit Unrecht. Was zunächst die rein
physiologische Bedeutung des Mosso'schen Apparates anbe-
langt, so wird dieselbe u. E. mit Recht von den Physio-
logen strengerer Observanz gering geschätzt. Ein Apparat,
der, wie wir unten sehen werden, nicht gestattet, einen einzel-
nen Muskel und seine Leistungen isoliert zu studieren, kann
niemals Anspruch darauf erheben, zu exact physiologischen
Untersuchungen herangezogen zu werden. Zudem besteht ein
Bedürfnis in «dieser Beziehung nicht, da alle in Betracht kommen-
den Fragen am präparatorisch isolierten Tier-Muskel einwands-
freier studiert werden können. In der That sind daher auch neue
Einsichten physiologischer Natur durch die Ergographen-Unter-
Digitized by Google
Zur Mttkodät tmd KHUk 4er Mrg^gntpktnM^ftmgm, 185
suchungen bisher nicht zu Tage gefördert worden, während
die Muskel-Physiologie mit Hilfe exacterer Methoden schon
seit langem in dem Besitze einer grossen Reihe wertvoller Er-
kenntnisse sich befindet.
Ganz anders steht es um die psychologische Bewertung des
Ergographen. Freilich, an Exactheit und Eindeutigkeit der
Resultate lässt der Mosso*sche Apparat selbstverständlich auch
auf diesem Gebiete das Gleiche zu wünschen übrig. Aber,
um es kurz zu sagen : es giebt keine psychologische Experimen-
tal-Methode» die an Exaktheit auch nur annähernd die Zuver*
lässigkeit der physikalischen und physiologischen Unter-
suchungsmethoden erreicht ; ja, es kann nicht einmail; eine experi-
mentell-psychologische Methode von dieser Exaktheit geben.
Der Grund für diese Thatsache ist in der komplicierten Be-
schaffenheit des lebenden menschlichen Organismus und zumal
in der verwickelten Struktur der menschlichen Psyche zu fin-
den. Es ist eben generell unmöglich, irgend eine somatische
oder psychische Erscheinung im lebenden Organismus so zu
isolieren, dass der mannigfaltige, jeder exacten Berechnung spot-
tende Einfluss der übrigen Lebensbedingungen aus dem Spiele
bliebe. Wer aber auf Grund dieser Einsicht die experimentelle
Psychologie a limine ablehnen wollte, würde trotzdem sehr thö-
richt handeln, ebenso thöricht etwa, wie ein Künstler, der seine
Kunst aufgiebt, weil er zu der Ueberzeugung gelang^ ist, dass er
niemals die Vollendung eines Rafael oder Beethoven erreichen
könne. Freilich, etwas schwieriger und umständlicher wird es
wohl immer sein, zu psychologischen Erkenntnissen zu ge-
langen, a^ls etwa zu physikalischen oder physiologischen Er-
gebnissen. Während es in den genannten Wissenschaften nur
eines einzigen einwandsfreien Experimentes bedarf, um eine
Thatsache von gesetzlicher Bindung festzulegen, wird es auf
dem Gebiete der Psychologie inuner einer grossen Fülle von
Beobachtungen und Experimenten, einer möglichst grossen Viel-
seitigkeit der Methoden und einer äusserst vorsichtigen Dis-
kussion der Resultate bedürfen, um die Aufstellung einiger
Thatsachen und Gesetze zu ermöglichen. Daher der relative
TIefotand tmd die telative Unsicherheit der bisherigen psycho-
logischen Forschung.
Gehen wir von diesem allgemeineren Gesichtspunkte an
die Kritik der Ergographen-Messungen zu psychologisch-päda-
Digitized by Google
186
Ixo Hirschlag,
gogischen Zwecken heran, so werden wir zwei Gruppen von Eiiv
wänden zu unterscheiden haben, je nachdem sich dieselben
auf die Technik der Anwendung de-. Eigographen oder auf die
mechanisclie und psychologische Ausdeutung des Ergogram-
mes beziehen.
Nach Mosso's ursprünglichen Angaben sollte die Isolierung
eines Muskels einer der Hauptvorzüge seines Ergographcn sein.
Diese Behauptung ist falsch, da sie ohne Berücksichtigung: der
anatomischen Verhältnisse der Handmuskeln aufgestellt \<.
Seit den klassischen l ntt rsuchungen Duchenne's'^) vom Jalire
1855 wissen wir, dass „die willkürliche Zusammenziehung eines
jeden Muskels — mit alleiniger. Ausnahme der Ausdrucksbe*
wegungen des Gesichts — immer von der unwillkürlichen,
oder besser instinktmässigen Ccntraktion eines anderen Muskels
begleitet wird/* Dabei handelt es sich teils um eine Combination
ähnlich wirkender Muskeln, teils um eine Synergie der Anta»
gonisten, deren gleichzeitige Contraktion die feineren Abstufun-
gen in der Zusammenziehung der willkürlichen Muskeln er-
möglicht. Ausserdem steht es seit Duchenne fest, wie in jedem
Handbuche^) der Anatomie nachzulesen ist, dass die Verhält-
nisse der Beugung und Streckung der Finger nicht so ganz
einfach sind, wie Messe und mit ihm Kraepelin u. a. zu
glauben scheinen, dass nämlich die Flexoren die Beuger, die
Extenseren aber die Strecker der Phalangen seien. Vielmehr
ist die von Duchenne festgestellte und seitdem immer wieder
bestätigte Sachlage folgende : zur Beugung der Grundphalange
der Finger dienen die beiden Mm. interossei dorsales et volares
in gemeinsamer Aktion, unterstützt von den Mm. Itunbricales;
die Streckung der Grundphalange besorgt der M. extenser digit.
cemmun. Die Beugung der Mittelphalange leistet der M. flexor
digitorum sublimis; ihre Streckung die Mm. interossei. Die
Endphalange endlich wird von dem M. flexor digitorum pro-
fundus gebeugt, von dem M. extenser digitorum communis und
den Mm. interossei gleichzeitig gestreckt. In ausführlicher
Weise sind diese Verhältnisse in letzter Zeit noch einmal von
H. £. Hering'^) und Robert Müller^<^) dargelegt worden.
Es fragt sich nun, ob diese Aufklärung der Sachlage die
Brauchbarkeit des Ergographen zu Ermüdungsmessungen illu-
sorisch macht. Wir glauben, nein. Dass der Ergograph nicht
gestattet, einen einzigen Muskel isoliert zu ermüden, ist, wie
Digitized by Google
Zur MeOiod& und KriUk dar Srg»gra^km-BUa$ungm» X97
bereits oben bemerkt, zweifellos ein Uebelstand, der seine An-
wendung für den Physiologen, dem ganz andere und viel ge-
nauere Methoden zu diesem Zwecke zur Verfügung stehen,
ausschliesst. Der Psychologe freilich, der auf die Untersuchung
der lebenden Muskeln innerhalb der normalen Continuitäts-
verhahnisse angewiesen ist, muss sich hier, wie so vielfach,
einer durch die Sachlage gebotenen Resignation ergeben und
sehen, wie weit er mit dieser unvollkommenen Methode, natür-
lich stets in Combination mit anderen Methoden und Erwagunr
gen, kommt. Die Forderung MüUer's vollends, dass es notwen-
dig sei, dass jeder, der sich mit dem Ergographen beschäftigt,
eine genaue anatomische Kenntniss der Muskulatur der Hamd
besitze, halten wir für zu weitgehend. Denn im Grunde ge-
nommen ist es für die ErgebnislSe der Ermüdungsmessungen
äusserst gleichgiltig, wie die Muskeln heissen, die zu dem Ex-
perimente benutzt worden sind, sofern nur immer die gleichen
Muskeln ermüdet Mrerden.
Ein weiterer Einwand, der in dieses Gebiet gehört, stützt
sich darauf, dass ausser den geniannten- Muskeln auch noch
eine grosse und uncontrollierbare Zahl anderer Muskeln bei den
Bewegungen, die der Ergograph aufzeichnet, mitwirken. Dieser
Einwand scheint ims von R. Müller in etwas übertriebener Weise
betont worden zu sein. Neben dem M. fleacor dig. sublimis sollen
nach diesem Autor der M. flexor digitorum profundus, der M.
brachiaüs internus, die Mm. triceps und biceps, ja sogar die
Muskeln des Schultergürtels und die Rotatoren der Wirbelsäule
in einer jeder Berechnung entzogenen Weise zum Zustande*
kommen des Ergogrammes, besonders in seinen letzten Teilen,
beitragen. Hiergegen möchten wir geltend machen, dass solche
Mitbewegungen der Vorderarm- und der höher gelegenen Mus-
keln wohl möglich sind, dass sie aber durch 2 Umstände in ziem-
lich vollständigem Masse ausgeschaltet werden können : erstens
durch die Art der Fixation des Vorderarmes im Apparat, sodann
aber durch die Uebung der Versuchspersonen. Dass die Fixation
des Vorderarmes, wie sie von Mosso ursprünglich angegeben
wurde, durchaus unzulänglich ist. wird jedem klar sein müssen,
der solche Versuche eiinnal an sich selbst ausgeführt hat. Schon
Kraepeliii liat sich infolgedessen veranlasst gesehen, einige
zweckmässige Modifikationen in dieser Beziehung anzubringen.
Das Gleiche liabtu Biiu i und X'aschide-^) versucht, indem sie
ZdtsdiriH für pädagogische Psychologie und Pathologie. 2
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188
Leo tiirschktf.
eine aus zwei Gliedern bestehende Fingerhülse construierten,
deren erstes Glied an der Unterlage befestigt wurde, während
das vordere zweite sich in einer Chamier*Vorrichtiing gegen;
das erste bewegte. In der bisher vollkommensten Weise aber
bat Kemsies diese Fehlerquelle verringert, indem auf seine
Veranlassung der Fixationsapparat des Mosso'schen £rgo-
graphen im Berliner psychologischen Institut eine durch-
greifende Umwandlimg erfuhr. Kemsies^) sagt darüber:
„das Fixierbrett, welches bei Mosso eine schiefe Ebene
ist, wurde horizontal gelegt mit einer leichten Neigung nach
vorn. Unterarm und Hand werden m I'ronation darauf befes-
tigt, dadurch ist die Tendenz derselben, nach hinten auszu-
weichen und die Widerständ" zurückzudrängen, in die entge-
gengesetzte \ erwandelt, gegen die vorderen vollkommen un-
verrückbaren Widerstände, welche durch die angeschraubten
Hülsen dargelK)ten sind, zu drücken. Die Drelmngsachse des
Mittelfingers hat nunmehr bei den KontraklioAcn eine iden-
tische räumliche Lage. Ferner wurden die Metallhülsen für
Zeige- und Goldfinger u\ zwei Halbrinnen zerschnitten, welche
durch je 2 verschiebbare Ringe zusammengehalten werden und
für jede Fingerweite verwendbar sind. Der Mittelfinger besitzt
eine gleiche Hülse, an deren Spitze die das Gewicht haltende
Schnur befestigt ist, die Beugung des Mittelfingers vollzieht
sich daher nur in dem Fingergrundgelcnk, der \usschnitt des
Fixierbrettes ist für diesen Finger angemessen erweitert."
Durch diese Einrichtung, rlie eine Verbesserung der von Krae-
pelin angegebenen MoUii ikationcn darstellt und die R. Müller
gänzlich unbekannt geblichen zu sein scheint, gelingt es, in viel
höherem Masse, als früher, unzwcckmässige Mitbewegungen
der übrigen Muskulatur auszuschalten. Nebenbei mag bemerkt
werden, dass auch die Fixation des Unterarmes, die sonst ledig-
lich durch 2 — 3 passend angebrachte Gurte besorgt wurde,
bei den Experimenten von Kemsies durch einen kräftigen
Druck des Experimentators auf das Handgelenk der Versuchs-
person unterstützt wurde. Dazu kommt aber noch ein zweiter
Gesichtspunkt. Jedermann weiss, dass unzweckmässige Miibe-
wegungen jeder Art durch l^ebuug unterdrückt werden können.
Während der Anfanger im Klavierspiel ni( In inu-.iandc ist, den
vierten Finger isoliert kräftig zu beugen und zu strecken,
bringt der Geübtere dies ohne weiteres zustande; ebenso wie
Digitized by Google
Zur MUMik umd KriHk Otr Brgvgf^fkm'iUmmgm. 189
der Anfänger im Fechtunterrichte seine Hiebe nicht vne er-
forderlich aus dem Handgeleiike« sondern mit dem ganzen
Arm, womöglich unter Mitbeteiligung der ganzen Rücken-
und Beinmuskulatur schlägt. In dem gleichen Sinne gelingt
es auch, bei Ergogiaphenmessungen die erforderlichen Be-
wegungen lediglich mit den kurzen Handmuskeln auszuführen,
sobald eine ausreichende Uebung der Versuchsperson voraus-
gegangen ist Kemsies hat für seine Untemuchungen. auch
diesem Gesichtspunkte ausdrücklich Rechnung getragen, in-
dem er hervorhebt: „Ausserdem kamen nur solche Schüler
für die Messung in Betracht, welche nach einer Uebungszeit
Reflexbewegungen gut zu unterdrücken vermoditen, sodass
eine eindeutige periodische Kontraktion des Mittelfingers er>
folgte."
Wir kommen zu der zweiten Gruppe von Einwändoi, die
sich auf die Ausdeutung des Ergogrammes beziehen. Es sind
im wesentlichen 2 Fragen, die hier zu diskutieren sind : i) wo
ist der Sitz der Ermüdung, deren Abbild das Ergogramm dar-
stellt ? 2} wekbe Schlüsse gestattet das Ergograimm in bezug auf
die zu prüfende geistige Arbeitsleistung, oder, allgemeiner aus-
gedrückt, in bezug auf die die Ermüdung verursachenden
Faktoren?
Die erste Frage, die den Sitz der durch den Ergographen
angezeigten Ermüdung betrifft, lässt drei Möglichkeiten der
Beantwortung zu : die Ermüdung kann in den Muskeln, in den
Nerven und im Centraiorgane lokalisiert sein. Dass die Mus^-
keln Sitz vcm Ermüdungserscheinungen sind, ist seit Ed. We-
ber'^) und J. Ranke'^) von zahlreichen Beobachtern festgestellt.
Wir wissen genau, dass im thätigen Muskel gewisse Ermüdungs-
stoffe, darunter in erster Reihe die freie oder die in sauren
Salzen gebundene Phosphorsäure und die COg, sich anhäufen^
während die Aufnahme des O vermindert ist. Noch in neuester
Zeit sind diese Verhältnisse eingehender studiert worden von
Ganicke*2)^ im ermüdeten Muskel ausserdem auch den
Wassergehalt bis zu 11 0/0 gesteigert, den Gehalt an festen
Bestandteilen aber um c. 1,5 verringert fand, während der
N-Gehalt und die Quantität der calorischcn Energie unver-
ändert blieben. Es ist demnach zweifellos, dass auch im Krgo-
gramme die Muskelermüdung eine Rolle spielt. Was die Er-
müdung der Nerven anbelangt, so galt derselbe früher als un-
V
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190
Z09 mnehl^.
eimüdbar. Heutzutage steht dagegen fest'^), dass eine andau*
emde, übermässige Erregung des Nerven ohne entsprechende
Ruhepausen zunächst Ermüdung des Nerven und weiterhin Er-
schöpfung desselben hervorruft. Gleichwohl ist von Weden^^*),
Beinstein, Bowditch u. a. nachgewiesen worden, dass der Nerv
im Vergleich zu dem Muskel viel langsamer ermüdet. Für die
Ergographenmessung kommt daher die Ermüdung des Nerven,
wie auch R. Müller mit Recht hervorhebt, kaum in Betracht;
ebenso wenig wohl auch die Ermüdung der Nervenendigungen,
über die Genaueres noch nicht bdcannt ist.'^) Es bleibt übrig,
die Ermüdung der Centraiorgane zu diskutieren. Hierüber sind
erst in allemeuester Zeit sichere Aufschlüsse erlangt worden. So
hat Verwom**) kürzlich gezeigt, dass die Erscheinungen der
Ermüdung und Erschöpfung am Rückenmark des Strychnia-
lro6ches deutlich experimentell nachlwteisbar sind; und zwar
setzen sich die Erscheinungen gerade wie beim Muskel aus
2 Componenten zusammen: i) aus der Wirkung der Zerfalls-
prodidcte des Eiweissmoleküles^ 2) aus dem Mangel an neuem
Material (hauptsächlich an Sauerstc^f)* Für die Hirnrinde liegen
neue Untersuchungen von Pugnat^^) und Guerrini^^) vor. Beide
Autoren haben an Hunden, die in einer Rotatkm3vorrichtung
gezwungen waren, ohne Ruhepause 64 — 93 km hintereinander
bis zur völligen Erschöpfung zu laufen, und dann durch Bul-
busstich getötet wurden, Nissl-Färbungen der Hirnrinde vorge-
nommen und als Folge der Ermüdung der motorischen Him-
rindenzellen eine mehr minder ausgeprägte Chromatolyse der
Nissl'schen Körperchen, sowie verschiedene Veränderungen
des Zellkernes und Verlagerungen des Kernkörperchens nach-
gewiesen. Daraus scheint hervorzugehen, dass jedenfalls auch
das Centrainervensystem bei der Entstehung des Ergogrammes
beteiligt ist. Weuig tens möchten wir die Möglichkeit einer
solchen BeteUigung auch innerhalb der kurzen Zeit, die zur Auf-
nahme des Ergogrammes erforderlich ist, nicht ohne weiteres
von der Hand weisen, wie Müller gegen Mosso es zu thun ge-
neigt ist.
Es erhebt feich nun die Frage, inwiefern durc^ diese Ueber-
legungen die psychologische Bedeutung des Ergogranunes
tangiert wird. Wir meinen wiederum : nicht im geringsten. Es ist
für den Psychologen ztmächst irrelevant, wo der Sitz der durch
den Ergographen aufgezeichneten Ermüdung zu suchen ist,
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Zur Methode und Kritik der Er gographtn- Messungen.
191
sofern sich nur eine causale und vor allem eine zablenmässige
Beziehimg zwischen dieser Ermüdungskurve und der vorausge-
gangenen geistigen Arbeit nachweisen lässt. Ebenso irrelevant
ist es unter der gleichen Voraussetzung, ob in dem Ergogramme
der etwaige Anteil der centralen und der peripheren Ermüdung
sich abgrenzen lässt, wie R. Müller es verlangt. Verfrüht er-
scheinen uns jedenfalls die Versuche von Kraepelin, Oseretz-
kowski und Jotcyko'^'), die die im Ergogramm verzeichneten
Hubzahlen auf die Zustände des psychophysischen Central-
organes, die Hubhöhen dagegen auf die Zustände des Muskels
beziehen zu können glaubten. Zu so detaillierten Schlüssen be-
rechtigen die bisher vorliegenden Versuchsergebnisse wohl dorh
noch nicht» solange die principiellen Fragen, die zur Kritik
der Ergographenmesstmgen in Betracht kommen, noch so wenig
geklärt sind.
An dieser Stelle muss nunmehr eines Einwandes gedacht
werden, der hauptsächlich von französischen Autoren gegen die
mechanische Ausdeutung des Ergogrammes gerichtet worden
ist. Binet, Henri, Vaschide und Joteyko haben die übliche Aus:
rechnung der am Ergographen geleisteten Arbeit aus dem Pro-
dukte von Kraft und Weg bemangelt. Sie heben mit Recht
hervor, dass der erste Centimeter der beim Heben eines Ge-
wichtes geleisteten Arbeit mechanisch durchaus nicht gleich-
wertig ist dem zweiten und dritten Centimeter u. s. f. Auf dieser
Erwägimg, die ja auch Fick veranlasst hat, seinen „Arbeits-
Sammler** zu construieren, beruht der Vorschlag von Binet und
Vaschide, anstelle des gewöhnlichen Gewichts-Ergographen
einen Feder-Ergographen zu benutzen, wie er von diesen Auto-
ren beschrieben worden ist. Wir halten diesen Vorschlag durch-
aus der Beacbtimg wert.
Somit kommen wir zu dem letzten tuid wichtigsten Teil
unserer Erörterungen: gestattet das Ergogramm einen zuver-
lässigen Schluss auf die Faktoren, die sein Zustandekommen
verursacht haben? Hierbei sind zwelfUnterf ragen zu berücksich-
tigen, von denensichdieersteauf die zu prüfende Arbeit, die aiv
dere auf die etwa vorhandenen Nebenwirkungen anderer Fak-
toren bezieht. Was den ersten Punkt anbetrifft, so leugnet Meu-
mann^^), dass zwischen der geistigen Ermüdung und der Ver-
minderung der Muskelleistung irgend welche Proportionalität
bestehe. Als Beweis für diese Behauptung, die er in seiner be-
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192
Leo Htnchlaß.
kannten und schon von anderer Seite genügend gewürdigten
Manier vorbringt, die zu seinen eigenen Leistungen in einem
peinlichen Missverhältnisse steht, führt dieser Autor an, dass
der Ergograph oft noch keine Ermüdung zeigte, „wenn der
BIutdnu:k bisweilen bei seinen Versuchspersonen nach zwei-
bis dreistündiger Arbeit auf ein Minimum sank, so dass man
förmlich von Herzschwäche reden konnte" ; femer beobachtete
er, „dass nach anstrengender geistiger Arbeit die Muskel-
leistung am Ergographen bisweilen grösser war als vor der
Stunde**. Dagegen fand Meumann, dass die dynamometrische
Messung, vor allem aber die Veränderung des Blutdruckes,
des Pulses und der Atnning ein viel zuverlässigeres Kenn-
zeichen der Ermüdung darbieten. Beginnen wir zunächst mit
der Kritik dieser letzten Behauptungen. Nach unserer persön-
lichen Erfahrung, die sowohl an luis selbst» sowie an einiei^ Reihe
von 6 — 8 anderen Versuchspersonen gewonnen wurde, ist das
Dynamometer zu Ermüdungsmessungen völlig unbrauchbar. Ne-
ben rein technischen Erwägungen, deren Ausführung hier zu viel
Platz beanspruchen würde, geht dies schon aus dem Umstände
hervor, dass die normalen Schwankungen der dynamome-
trischen Angaben nicht selten lo kg überschreiten, während
die Ermüdungswerte nach geistiger Arbeit meist unter diesem
Fehlerwerte bleiben. Noch unbegreiflicher aber ist uns die
Behauptung, dass „in der Veränderung des Blutdruckes, des
Pulses und des Atems der Versuchsperson das zuverlässigste
Kennzeichen der geistigen Ermüdung" gelegen sein soll. Es
giebt keine schwankenderen und labileren Lebensäusserungen
in unserem Organismus, als die genannten Veränderungen:
jede Bewegung, jede Veränderung der Körperhaltung und
-Lage» jede Schwankung der äusseren und der Körper-Tem-
peratur, jeder Wechsel der Emährungsphase, der Aufmerk-
samkeit, der Stimmung, jede Erwartung und Spannung, ja
sogar bis zu einem gewissen Grade die WillkUr der Versuchs-
person und unzählige andere Einflüsse mehr, sind imstande,
nicht unerhebliche Schwankungen gerade dieser Verhältnisse
hervorzubringen, Schwankungen, die sich wegen ihrer grossen
Labilität imd ihres steten Ineinandergreifens jeder Be-
rechnung imd jeder Controlle entziehen müssen. Ausser-
dem ist der Umfang der Sch'wankungen, die nach einer
geistigen Anstrengung etwa constatiert weiden können,
durchaus nicht grösser, als der Umfang der vorher auf-
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2br UetkoSik t$mi Xnttk der ErgographtnrMusumi^.
193
getühiien normalen und in jotlem Augenblicke des Lebens
wirksamen V'ariauuriea. Geradezu lächerlich e!s( Iieint es aber,
wenn Meumatin Isehauptet, „nach 2 — 3 stündiij:* r geistiger Ar-
beit bei seinen \ ( rsuchspersonen ein solches Minimum des Blut-
druckes gefund( 11 zu haben, dass man förmlich von Herz-
schwäche reden konnte". M. E. hätte daher Mcumann mehr
Veranlassung, vor seinen eigenen als etwa vor den Kemsies-
Wagner 'sehen Krmüdunt;Miu*ssungen zu „warnen". Jedenfalls
aber sind die Schliisse, die Meumann aus dieser Feststeilung
auf die Unzuverlässigkeit der Ergographenniessungen zieht,
völlig unzutreffend, um so mehr, als die Blutdruckmessung
am lebenden Menschen bisher weder mit dem v. Basch srlK ii
Sphygmomanometer, noch mit dem Gärtner'schen Tonometer,
noch mit den von Marey, Messe u. a, angegebenen Apparaten
exartr Resultate ergiebt.
Um die Frage, ob zwischen der voraus «gegangenen Arbeits-
leistung und der ereographischcn Ermudungskurve eine con-
stante Rezidiuii;; Ix steht, positiv entscheiden zu können, sind
theoretischr Ii.rwagungen nach unserer Auffassung weniger ge-
eignet als di( thatsächlichen Experimente. Nach den von Mosso,
Maggiora. Lombard, I reves'^), Keller. Kraepelin, Kemsies u. a.
gelieferten Exp>erimenten kann es nun gar keinem Zweifel
mehr unterliegen, dass durch geistige .^.rbeit die Ergogra-
phen-Curve beeinflusst wird. Ob aber diese Beeinflussung stets
in dem gleichen Sinne erfolgt, gleiche Versuchsbedingun|gen
naturlich vorausgesetzt, und ob vor allem diese Zusammenhänge
eine zahlenmässige Beziehung aufweisen, diese Frage muss>
auch heute noch mit aller Vorsicht beantwortet werden. Wenn
zunächst hier noch der Einfluss anderer etwa mitwirkender
Faktoren, die das Ergogramm beeinflussen könnten und die
unten nähere Besprechung finden werden, ausser Be-
tracht bleiben soll, so wurden zur genaueren Entscheidung
der obigen Frage, wie schon Tümpel^') vorgeschlagen
hat, Parallelversuche notwendig sein, bei denen die zu prü-
fende geistige Arbeit genau gemessen und von Zeit zu Zeit
durch £rgographen-Aufnahtnen ^er Stand der körperlichen
Ermüdung aufgezeichnet werden roüsste, während die geistige
Ermüdung aus der Qualität und Quantität der fortlaufenden
geistigen Arbeit erschlossen werden könnte. Solche Parallel-
versuche, bei denen die geistige und körperliche Ermüdung
gleichzeitig festgestellt würde, dürften am ehesten Aufschluss
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194
Leo HÜrscht^t
darübergeben, ob diese beiden Phaenomene einander parallel
laufen und ob eine zahlenmässige Beziehung zwischen beiden
besteht. Aus den bisherigen Versuchen kann man nur die
Wahrscheinlic hkeit einer sol( hen Beziehung folgern. Als Vor-
aussetzung für solche Messungen erscheint uns dabei, dass es
gleichartige Thätigkeiten sind, deren Ermüdungswert gegen
einander abgewogen werden soll. Nicht angängig dagegen ist es,
wie es z. B. Bum^s) und Kemsies thun, kcirperliche und geistige
Arbeiten ergographisch zu vergleichen und die gewonnenen
Curven in Uebereinstinmiung zu setzen. Denn wie auch immer
die theoretische Erklärung der Mu-keiennüdung infolge geisti-
ger Arbeit ausfallen möge, so viel steht fest, da-ss die Muskel-
ermüdung in diesem Kalle eine indirekte und darum völlig un-
vergleichbar ist mit der direkten Muskelernmdung mfolge
körperlicher Arbeit. Denn wenn ich t. B. durch Hanteln meine
Arme direkt ermüde, so kann die na( hher gewonnene Ergo-
graphencurve unmöglich mit dem gleichen Rechte als Index
meiner Gesainmi leistungsfähigkeit angesehen werden, wie etwa
nach einer rem geistigen Anstrengung. Diese Schwierigkeit
ist auch von Tümpel in einleuchtender Weise hervorgehoben
worden. Daher möchten w-ir auch die vf)n K( insies aus seinen
Ergographenme^'^un gen gezogenen Schlüsse, so vorsichtig die-
selben im allgenieiüen gehalten sind, doch nur für diejenigen
Messungen anerkennen, die geistige Anstrengungen betreffen,
nicht aber für diejenigen Resullate, die sich auf körperliche
Arlu'Utii, wie Turnen, Singen und Zeichnen, be/ieln n Es ist
eine besondere, und keineswe;js !< k ine Aufgabe, die Ergebnisse
der direkten und der indirekten Ermüdungsm» ssungen. wenn
wir so sagen dürfen, mit einander zu verf^Icichen. ledenfalls
dürfte es unerläjslich sein, zu diesem Zwecke eine Vielheit von
l -ntersurhungsmethoden zur Anwendung zu bringen, da aus
einer einzigen, sei es körperlichen, sei es geistigen Unter-
suchungsmethode, wie auch aus allem Vorstehenden hervor-
gehen dürfte, niemals bindende Schlüsse für alle Arten der
Arbeitsleistungen gezogen werden können. Die \'rrhältms«c
liegen demnach bei weitem verwickelter, als man früher anzu-
nehmen geneigt war, da es keine einzige Untersuchungsmethode
giebt, die uns einen sicheren Index für den Stand der momen-
tanen Gesammtleisttmgsfähigkeit an die Hand geben könnte;
und zwar schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil diese
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Zur JdeÜtodik und Kritik der Ergograpken'Messutigen.
195
Gcsammtleistungsfähigkeit überhaupt keine einfache Grösse ist,
sondern sich zusammensetzt aus einer Reihe keineswegs stets
parallel laufender Faktoren. Näher auf diese Fragen einzu-
gehen, ist hier nicht der Ort.
Es bleibt übrig, noch den Einfluss der physiologischen Ne-
benbedingungen zu erörtern, die das Ergogramm beeinflussen
können. In dieser Beziehung möchten wir R. Müller Recht
geben, wenn er sagt, dass die normalen Schwankungen der
Ergographen-Curve noch nicht genügend erforscht sind. Zwar
haben Maggiora und P. Lombard, Broca und Richets»), Patrizi^o),
Manca^^), Zenoni^-) u. a. bereits em ziemlich grosses Mate-
rial über diese Frage zusammengetragen, indem sie die
Veränderungen der Ermüdungskurve bei verschieden grosser
Belastung, bei verschiedenem Tempo und verschiedenen Er-
holungspausen, infolge lokaler Einwirkungen auf die Muskula-
tur und im Gefolge von Schlafen, Wachen und Fasten, endlich
bei verschiedener Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Luftdruck
eingehender studierten. Indessen ist hier noch eine grosse
Reihe von Untersuchungen erforderlich, um über alle diese
das Ergogramm beeinflussenden Faktoren völlige Klarheit zu
verschaffen, zumal bei den meisten der bisher vorliegenden Ar-
beiten die oben berührten technischen Schwierigkeiten ausser
Acht gelassen worden sind. Insbesondere für schulhygienische
Untersuchungen scheint es uns erwünscht, mehr als bisher den
concurrierenden Einfluss der Kleidung, der Ernährung und der
Schlafverhältnisse einerseits, sowie andererseits der kosmisch-
tellurischen Verhälmisse, der Witterung und Temperatur,
Tages- und Jahreszeiten etc. zu berücksichtigen imd ev. geson-
dert zu studieren.
Wir möchten nach alledem glauben, dass es wohl möglich
ist, auf Grund von Ergographen-Messungan zu eiragermassenr
gesicherten Ergebnissen zu gelangen, falls man alle oben kurz
berührten 'Schwierigkeiten berücksichtigt. Jedenfalls dürfte die
Methode in der Hand kritischer Experimentatoren wohl ge-
eignet sein, neben anderen Methoden in ergänzender Weise
zu dem Studram des psychologischen Ermüdungsproblemes her*
angezogen zu werden. Die bisher vorliegenden Untersuchiiii£^
freilich erscheinen noch wenig geeignet, als Grundlage Ärhul-
hygienischer Forderungen zu dienen.
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196
Leo mnchlai.
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musculaire. Ann. psychol. V, p. 1—64. 1899.
**) cf. auch: Benedicenti: Ergographische Untersttdningen über Kaffe^
Thce. Mate, Guarana und Coca. Untersuchungen zur Naturlehre des
Menschen von Moleschott XVI, I. — Tavernari: Ricerche intomo all'
azione di alcuni nervini s«l lavoro dei muscoli affaticati. Riv. speritn. di
freniatr. XXIII, p. 102 ff. 1897. — G. E. Partridge: Studies in the
Psycbology of Alkohol. Americ. Jonm. of Pqrchol. XI« p. 818—876.
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Mo-;<;ri: Action des principcs activc^ de la noix de Kola aar la contraction
musculaire. Arch. ital. de Biol. XIX, p. 941. 1P03.
cL A. Rollett: üeber die Veränderlichkeit des Zuckungsvcrlaufes quer-
gestreifter Muskeln bei fortgesetzter periodischer Erregung und bei der
Erholung nach derselben. Pflug. Ardi. 64, p. 607—668. 1896,
**) cf. C. G. S a n t e s s o n : Einige Betrachtungen über die Ermüdbarkeit der
motorischen Nervenendigungen und der Muskelsubstans. Skand. Arch.
f. Fhysiol. V» p. 394-406. 1895.
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Einige Worte über die
Beibehaltung der sogen. Versetztingsprfifungen.
Von
Ktrl Lftscbhorn.
Die Ansichten über den Wert und die Zwedcmässigkeit
der sogenannten Veraetzungsprüfungen gehen weit auseinander.
Der Berichterstatter über das Thema auf der zweiten poimner-
schen Direktoren-Konferenz (vergl. Erler : Verhandlungen der
Direktoren-Versammlungen in den Provinzen des Königreichs
Preussen S. i8) erklärte, dass alle Gymnasien der Provinz den
Nutzen schriftlicher und mündlicher Versetzungsprüfungen
anerkannten» und die siebente preussische Direktoren-Konferenz
nahm mit grosser Majorität die These an, dass die schriftlichen
und mündlichen Versetzungsprüfungen empfehlenswert, doch
ihre Ergebnisse nicht ausschliesslich massgebend seien, wo-
gegen auf der ersten schlesischen Direktoren-Konferenz (a. a.
O. S. 225) ebensoviel Meinungen für als wider die Einrichtung
laut wurden, so dass man daselbst zu gar keinem Ergebnis in
der streitigen Frage gelangte. So bestimmt denn auch die In-
struktion für die Direktoren der Provinz Sachsen vom 2. Mai
8 00 (vgl. Wiese II S. 175) dass es dem jedesmaligen Er-
messen des Direktors ahheimgestellt bleiben müsse, ob er
besondere Versetzungsprüfungen abhalten lassen wolle oder
nicht. Im allgemeinen haben wohl die pommerschen und preu-
ssischen Direktoren das Richtige erkannt, abgesehen davon,
dass erstere die Einrichtung für den Direktor unentbehrlich
halten, (a. a. O. S. 18) und letztere laut Angabe bei Erler,
S. 40 meinen, dass die Versetzungsprüfungen dem Lehrer für
sein Urteil eine Art Ergänzung bieten und zur Gewinnung!
eines endgültigen Urteils beitragen sollen. Zwar kann man esf
nur billigen, wenn am Schlüsse des Schuljahres, wie nach der
Erledigung längerer in sich abgeschlossener Unterrichtsab-
schnitte von jeher üblich war, ohne irgend welche besondere
äusserliche Veranlassung methodisch und mit Besonnenheit
Wiederholungen angestellt werden, aber das massenhafte Repe-
tieren zur Versetzungsprüfung, wodurch der Schüler meist nur
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200
Löschkom.
hin- und hergehetzt und dem Mechanismus leicht Thür und
Thor geöffnet wird, erscheint im hohen Grade verwerflich und
ist von manchem bedeutenden Schulmann, wie von dem 1868
verstorbenen Provinzial-Schulrat Heiland (vgl. darüber W.
Herbst. Karl Gustav Heiland. Ein Lebensbild. Halle, Buch-
handlung; fl( ^ Waisenhauses. 1869, S. 75) oft und mit Nachdruck
namenthch bei Abiturientenpriifungen gebrandmarkt. Das Ur-
teil des Lehrers über die Kenntnisse des Srtmlers und seine
Leistungsfähigkeit kann durch ein Versetzungs Extemporale
keineswegs berichtigt werden, muss v ielmehr schon vor Beginn
der allerdings auf jeden Fall beizubelialn nden Versetzungs-
prüfung unbedingt trsistehen, da die Verletzung als Ergebnis
des ganzen in einem Jahre verflossenen Sehullebens zu betrach-
ten ist. Es ist daher bei der Beurteilung der Reife oder Nicht-
reife der ganze Mensch bezüglich seines Betragens und seiner
Forts( hruu ins Auge zu fassen und manchmal ein Schüler,
der in der schriftlichen oder mündlichen Prüfung nicht be-
friedigt hat, immer noch zu versetzen, wenn seine Klassen-
leistungen in den Hauptfächern während des zurückgelegten
Schuljahres wenigstens im ganzen genügt haben. Die Schüler
wissen an jeder Art von Schulen genau, was Haupt- und NebeiK-
fächer sind, doch müssen sie auch in letzteren wenigstens Fleiss
gezeigt haben und immerhin ein bestimmtes Mass von Kennt-
nissen auch in ihnen besitzen, jedenfalls ist gänzliche Unwissen-
heit auch in irgend einem Nebenfache, zumal wenn sie mir auf
Unfleiss beruht, nicht zu dulden. Die rein technischen Fächer,
also Zeichnen, Singen und Turnen haben für die Versetzung
selbstverständlich gar keine Bedeutung. Der Direktor wird na-
türlich aus einem derartigen Examen nie und nimmer ein richti-
ges Bild von dem Stande der ganzen Klasse erhalten, sondern
dasselbe nur durch häufiges Hospitieren in den Klassen, also
durch eigene Anschauung, nebenbei durch Heftrevisionen ge-
winnen können. Man wird daher der auf den Direktoren-Kon-
ferenzen in Pommern (a. a. O. S. 18) und Schlesien (S. 225)
vorgebrachten Auffassung, wonach der Direktor durch die
Versetzungsprüfungen einen summarischen Ueberblick über die
Leistungen der Anstatt, sowie über die Zweckmässigkeit der
Methoden, Lehrmittet und des Unterrichtsplanes erhalten soll,
nicht ganz beipflichten. Sehr häufig tritt femer der Fall ein,
dass ein Schüler, den man nach seinen KlassetiOeistungen für
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Dk BeMk^imnf der $9gm, V*nelnmg^*üfimgtH.
201
reif zu halten geneigt ist« insbesondere in der mündlichen) Ver-
setzungsprüfung sich viel unwissender zeigt, als man nach seinen
bisherigen Leistungen oder nach dem Residtate des schrift-
lichen Examens hätte erwarten sollen. Vollends unrichtig aber
ist esj wenn auf der genannten schlesischen Konferenz behaup-
tet wurde, die Versetzungsprüfungen waren imstande, dem
Schüler eine Ueberzeugung von der Gerechtigkeit der Ent-
scheidung der Lehrer zu geben. Es müsste schlimm um eine
Anstalt stehen, wenn die Schüler von der Gerechtigkeit des
Lehrerkollegiums erst durch die Prüfung überzeugt werden
müssten und nicht schon von jeher davon überzeugt gewesen
wären. Gerade das Gegenteil würde man erreichen, wenn man!
obigen Gedanken in den Schülern zu erwecken suchte, da man»
wie gesagt, der Versetzungsprüfung alleindurchauskeine
entscheidende Bedeutung für das Aufrücken beilegen
darf. Sehr wichtig ist dagegen der auf den Direktoren-Konferen<
zen nur selten, aber von Schmid, Encykk>pädie, IX, S. 673 um
so mehr betonte Nutzen der Versetzungsprüfungen, die den
guten wie den schwächeren Schüler gleichmässig veranlassen,
zur rechten Zeit die gehörige Geistesgegenwart zu zeigen. Ge-
prüft und zwar sowohl schriftlich als mündlich soll in ihnen nur
werden in den für jede neun- bzw. sechsklassige Anstalt allge-
mein als solche geltenden Hauptfächern, also beim Gymnasium
und Progynmasium im Lateinischen und Griechischen, im Real-
gymnasium und der Realschule im Französischen und Eng-
lischen, in der Ober-Realschule in Mathematik, Physik und
den beschreibenden Naturwissenschaften, in allen diesen An-
stalten ausserdem in der Mathematik, und in der Ober-Real-
schule noch in den beiden neueren Sprachen. Man soll sich
jedoch hiermit nicht begnügen, sondern auch in der münd-
lichen Prüfung einige umfangreichere Fragen aus der Ge-
schichte und Geographie, aber keine aus dem Gebiete des
deutschen Unterrichts stellen. Das Deutsche soweit es auf höhe-
ren Schulen getrieben wird, eignet sich als unsere Muttersprache
zu Prüfungen am allerwenigsten, auch liat man bei allen Teilen'
des schriftliclicn und mündlichen Examens reichlich Gelegen-
heit, die Fertigkeit der Schüler im deutschen Ausdruck zu
erproben, und die deutsche C/ranimatik lässt sich namentlich
in unteren und mittleren Klassen sehr leicht mit der Prüfung-
in den iremdeii Sprachen durch Vergleicliung der beiderseiti-
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202
Löschhom,
gen grammatischen Regeln verbinden. Die Versetzungsprüfung
beschäftigt sich naturgemäss am eingehendsten mit denjenigen
Schülern, deren Aufrücken in die nächst höhere Klasse noch
zweifelhaft ist, während die, welche vom Fachlehrer für be-
stimmt reif oder unreif erklärt sind, zwar nicht ganz übei^^angen
werden dürfen, schon um nicht vor der Versetzung mdirekt
eine Entscheidung auszusprechen, aber doch nur vorübergehend
berücksichtigt zu werden brauchen. £s wird daher praktisch er*
scheinen, vor Beginn der Prüfung ein nach den Klassenleistun-
gen aufzustellendes schriftliches Verzeichnis aller Schüler mit
den Bezeichnungen: „reif, zweifelhaft, unreif" für alle Fächer
unter Berücksichtigung des Klassen- und Lebensalters bereit zu
halten und es nach Beendigung des Versetzungsexamens durch
die nötig gewordenen Zusätze zu ergänzen, worauf die Ver-
setzungslisten dem Direktor überreicht werden. So ist alles
für die Versdtzungs- Konferenz, die ganz kurz vor Schluss des
Schuljahres stattfindet, vorbereitet. In dieser ist natürlich
zunächst den Lehrern der betreffenden Klasse eine beratende
Stimme einzuräumen, doch wird man auch die lücht direkt be<
teiligten Lehrer keineswegs von der Beratung ausschliessen,
da nicht selten jeder, wenn auch nur zufällig, in der Lage sein
kann, irgend welche für die Versetzung wichtige Bemerkungen
über einen Schüler zu machen. Nur in besonders schwierigen
Fällen werden auch die Lehrer der nächst höheren Klasse zu
befragen sein, während unbedingt berechtigt zur Abstimmung
allein der Direktor und die Klassenlehrer sind. Selbstverständ-
lich können schwächere Leistungen, sogar in einecn oder mehre-
ren Hauptfächern, durch besonders gute in einem anderem
Hauptfache aufgewogen werden, wie es von jeher bei den alten
oder nieueren Sprachen einerseits und der Mathematik andrer,
seits geübt :ist. Ja jetzt, wo die neuesten Lehrpläne in Kraft
getreten sind, wird man noch mehr als früher angehalten, beim
Schüler den gamen Menschen, nicht seine einzelnen Seiten an-
zusehen. Die sich bei den Versetzungen ergebenden Schwierig-
keiten können nach Schmid, Bncyklopädie IX S. 671 nur durdt
den pädagogischen Takt der Lehrer gelöst werden, und
man wird unbedingt Schüler versetzen köimen, obwohl sie
die Reife nicht in allen Gegenstanden, ja selbst nicht in mehreren
Hauptfächern Bitzen, wenn sie anders durch ihren Fleiss und
ihre sittliche Tüchtigkeit die unzweifelhafte Gewähr dafür
bieten, dass sie das Versäumte mit Erfolg nachholen und so
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Die Beibehaliung der sogen, yenettungsprüßingm.
203
in der neuen Klasse mit fortkommen werden. Ganz ausseror-
dentliche Schwierigkeiten bereiten endlich die Schüler dem
Lehrerkollegium, die zweimal den Kursus durchgemacht haben,
aber wegen mangelnder Fähigkeiten oder wegen Unfleisses
auch nach zweijährigem Aufenthalte in der Klasse noch nicht
für reif zur Versetzung haben erklärt werden können und sich
dabei noch in einem vorgerückten Lebensalter befinden. Hier
muss ganz genau erwogen werden, ob die Eltern nunmehr
aufzufordern sind, ihre Söhne von der Anstalt vvegzunehincii
oder ob man noch einen letzten Versuch mit solchen Schülern,
machen darf, indem man sie bedingungsweise versetzt, aber
nicht als blosse Hospitanten in der neuen Klasse betrachtet,
sondern aufmerksam während des ersten Vierteljahres des
neuen Schuljahrs beobachtet, ob sie sich in den neuen Verhalt-
Dissen zusammennehmen und die erheblichsten Lücken in ihrem
Wissen und Kitemen auszufüllen bemühen. Ist dies der Fall,
so wird man sie ruhig in der neuen Klasse lassen, misslingt
aber dieser letzte Versuch, so müssen die Eltern unnachsichtlich
angehalten werden, sie von der Schule fortzunehmen und ge>
gebenen Falls einem praktischen Berufe zuzuführen. Eine Her-
abdrückung der staatlichen Forderungen kann man darin nicht
erblicken, muss vielmehr unbedingt anerkennen, dass die Schule
nunmehr alles für das Wohl des betreffenden Schülers ge-
than hat.
ZeUtdirifl «r pUifogiMlw Pkydiotogle fuA PMhetogl«.
3
Was soll das Kind lesen?
Von
Hahs Limmer.
Lernen bedingt Uebung, Gelemthaben Anwendung: das
Kind, das ksen lernen soll, muss sich häufig drin üben,
das Kind, das lesen gelernt hat, will seine neuerworbene
Kenntnis auch anwenden. Interesse und Nachahmungstrieb ver-
langen es so: das Interesse erwächst aus der Uebung selbst,
der Nachahmungstrieb wird geweckt durch das Beispiel der
Erwachsenen, die das Kind umgeben. Wie stark auch das
Lesebedürfnis der Jugend ist, dafür hat A. Rüde gelegentlich
einmal ein charakteristisches Beispiel gegeben : er hat berechnet,
dass in den Jahren 1885 bis 1887 allein 1381 Jugendschriften
neu erschienen sind Aber streng ist zu scheiden zwischen den
Büchern, die dem Kinde in der S c h u 1 e vorgelegt werden, und
den Schriften, die es zu Hause für sich liest. Jene sind eigens
präparierte, stets kontrollierbare Lehrmittel jn der Hand des
Lehrers, diese geiioren mit zu den ..verborgenen Miterziehem",
wie Herbart sie nennt : das Kind liest, was es gerade findet,
immer ohne Wahl, aber liäufig mit Schaden, wenn ihm gerade
nichts Gutes zur Hand konmit. Das Buch, dem das Kmd zu Hause
sich widmet, ist nicht nur eine Macht, es ist eine Gross macht,
die uns je nach unserer Politik ihr gegenüber nützen, aber
auch gewaltigen Schaden zufügen kann : wir müssen sie unseren
Zwecken dienstbar machen, weim sie ihnen nicht zuwider-
i a u 1 e n soll.
Was also soll das Kind lesen? - Das ist die Frage. Es
handelt sich, wie schon angedeutet, uni die Ii au. s liehe Pri-
vatlektüre des Kindes, aber dennoch reden wir stets von
dem Schulkind: ,,Kind" heisst für uns hier nur das Kind
kurz nach dem Eintritt in die Schule bis ziun Austritt aus der-
selben, oder, um auch die Zöglinge höherer Lehranstalten ein*
zubegreifen, das Kind etwa vom 8. oder 9. bis 14. oder i sJahreA)
1) Schüler höherer Lehranstalten nehmen etwa vom 11. Jahre an eine
andere Entwickclung als die Zöglinge der Volksschulen: es treten ihnen die
Schätze der antiken Litteratur gegenüber. Von der Privat lektüre aber
sind diese besser anszusdülcsseii, da in ihnen zn vid M yUiologisdies und
Ktdturhistorisclies TOtkommt, zu dessen Erkliniog der Lehrer notwendig ist
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IVW M das XM lesenf
205
Warum die untere Grenze gezogen wird, das ist leicht zu ver-
stehen, ist doch das Lesen lernen die natürliche Bedingung
für das Lesen können, muss doch also das Kind zunächst
einmal mindestens sein erstes oder zweites Schuljahr hinter
sich haben, ehe es sich häuslicher Privatlektüre zu widmen
vermag. Etwa mit dem 14. oder 15. Jahrel aber entzieht es
sich nicht nur der Aufsicht der Schule, indem es diese verlässt,
sondern mehr oder weniger auch der Aufsicht des Hauses, der
Eltern: der Knabe kommt in die Lehre, das Mädchen tritt in
den Dienst, oder beide beginnen doch wenigstens als „Kon-
firmierte", die „Sie" genannt werden müssen, ihre eigenen Wege
zu gehen.
So bedingt es sich aus praktischen Gründen, warum wir
eigentlich nur in der Zeit vom 8. bis 1 5. Jahre tieferen Einfluss
auf die Lektüre des Kindes besitzen, und warumi wir uns hier
auf die schulpflichtige Jugend — Knaben sowohl wie Mädchen,
die ja im schulpflichtigen Alter so ziemlich auf demselben Ni-
veau gehalten werden — zu beschränken haben. Aber wir
werden sehen, wie wir indirekt die Lektüre auch der reiferen,
selbständigeren Jugend, ja die Lektüre während des ganzen
Lebens unsere Kinder beeinflussen können.
Was soll das Kind lesen? — wir müssen leider zunächst
fragen : was soll es n i c h t lesen ? Alljährlich um die Weihnachts-
zeit beginnt in unseren Zeitungen das bekannte anmutige Spiel
der Empfehlung zahlreicher , Jugendschriften". Nichts wird ge-
tadelt, alles gelobt, und jedes der „kritbierten" Werk6 erhält
ein schmückendes Beiwort, wie „lehrreich", „vortrefflich für
die Jugend geeignet", „Herz und Gemüt bildend", „die. Vater-
landsliebe weckend", „von echt christlichem Geiste getragen".
Diese ganze schier unabsehbare spezifische „Jugendlitteratur"
kann hinwegg( fc^t werden durch ein Wort Theodor Storms,
der da sagt : „Wenn du für die Jugend schreiben willst, so darfst
du nicht für die Jugend schreiben." Der Ausspruch klingt para-
dox, enthält aber eine tiefe pädagogische Weisheit. Es sind
alles Tendenzschriften, die er trifft, Schriften, die in
poetischer Form — sei es in Prosa oder in Versen — Belehrung
und Veredelung des Kindes anbahnen wollen oder anbahnen
zu wollen vorgeben, die also die Dichtung sozusagen zum Ve-
hikel von Bestrebungen machen, die mit ihrem innersten, eigen-
sten Wesen nicht die mindeste Berührung mehr haben. Die
3*
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206
Htm ZÜHmtr,
Dichtung hat hier also keinen künstlerischea Zweck mehr,
und da dieser der einzige ist, den sie ihrer Natur nach haben
kann und darf, überhaupt keinen Selbstzweck mehr : sie ist zur
Dienerin fremder Mächte geworden, pädagogischer, ethischer,
kirchlicher Mächte. Dieser Erniedrigung der Dichtkunst ent-
spricht auch die Frucht derartiger litterarischer Produktion.
Wie gäbe sich wohl ein wirklicher Dichter dazu her, seine
Muse einzuzwängen in fremdes Joch? Nein, es sind Stümper
und minderwertige Skribenten, die solche Tendenzjugend-
schriften meist dutzendweise fabrizieren, und die mit ihren völlig
unkikistlerischen, einer mageren Begabung mühsam abge-
quälten y,Dichtungen" der künstlerischen Erziehung der
Jugend, die doch aus pädagogischen wie aus sozialpolitischen
Gründen so sehr notwendig ist, geradezu einen Riegel vor-
schieben. Die Belehrung, die in derartigen Machwerken
dargeboten werden kann, — ein bischen Geschichte vielleicht
oder Geographie ^ wird dem Kinde in der Schule von be-
rufenerer Seite zu teil, gründlicher, zusammenhängender, syste^
matischer und vor allem in besserer Auswahl, und von der so-
genannten Veredelung darf man am Ende sogar ehie Schä-
digung fürchten. Denn fast alle Tendenzschiiften stellen der
Jugend moralische Typen vor Augen, wie es sie im wirklichen
Leben überhaupt nirgends giebt, engelretne Musterknaben und
komplette Taugenichtse : aus der Lektüre solch verlogener After-
moral ergeben sich urteilslose Dummköpfe oder Heuchler.
So ist unser Resultat bis jetzt nur ein negatives : keine Ten-
denzschriften, keinen Missbrauch der Dichtung im Dienste
moralischer oder religiöser Mächte, keine aufdringlichen Be-
tefarungs- und Veredelungsversuche durch spezifische Jugend-
Schriften 1 Aber darin sind wohl alle einig, dass die Privatlektüre
des Kindes unter allen Umständen einen erzieh-
lichen Einfluss auf den jugendlichen Leser ausüben soll
und muss. Wir sind genötigt, auf das Gebiet der Philosophie,
genauer, der Psychologie, hinüberzutreten, um zu positiven Er-
gebnissen weiterzuschreiten. Glücklicherweise handelt es sich
zuvörderst um Dinge, die leicht zu begreifen sind, um Fragen,
deren Lösung nicht zweifelhaft sein kann: ein Blick auf die
Verhältnisse, wie sie bei den Erwachsenen liegen, wird
uns aufklären. Will man nämlich die letzteren in ihrer Ge-
samtheit, will man das Volk erziehen, so hat man von drei
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IVoj JoU äoi Mmd iestnf
207
Seiten auf sein Innenleben einzuwirken. Man wendet sich l. an
das Unterhaltungsbedürfnis und sucht mit seiner Hilfe
die Geschmacksbildong zu heben, 2. an den natürlichen
Wissenstrieb und erstrebt mit dessen Befriedigung eine
weite Verbreitung nützlicher Kenntnisse, 3. an die
jedem Menschen innewohnenden ethischen und religiö-
sen Anlagen und dient damit der Pflege von Sittlich-
keit, Religiosität und Vaterlandsliebe. Die eben an
geführte Reihenfolge (Geschmack, Kenntnisse, Sittlichkeit etc.)
ist dabei nicht gleicchgültig. £s ist — vor allem auf statistischem
Wege — erwiesen, dass das Volk am leichtesten für Unter-
hakendes zu erwärmen ist. Dem Interesse für dieses folgt in
zweiter Linie das Verlangen nach Belehrung, während eine
direkte Einwirkung auf ethischem und religiösem Gebiete nur
mit grösster Vorsicht gewagt werden kann.
Fragen wir uns nun, wie man diese Ergebnisse der Wissen-
scfaaft auf die Jugendlektüre anwenden kann, wie man sich
zur unterhaltenden, belehrenden und um einen kurzem Aus-
druck zu gebrauchen — zur veredelnden Jugendlitteratur zu
stellen hat, so muss der Verfasser dieses Aufsatzes gestehen,
dass hinsichtlich der belehrenden und der veredelnden Jugend-
litteratur wenigstens für ihn die Sache zur Zeit noch durchaus
nicht spruchreif ist. Dass freilich das Belehrende streng von
dem Unterhaltenden zu scheiden ist^ dass man nicht versuchen
soll, dem Kinde etwas Unterhaltendes direkt nur deshalb' vor-
zusetzen, um ihm in dieser Form Belehrendes unterzuschieben»
das gilt auch ihm für ausgemacht, und Einzelheiten} sind
auch sonst schon geklärt, z. B. dass unter den belehrenden
Schriften die Biographieen einen breiten Raum einnehmen
müssen, weil sie — die Schilderung jedes Lebend hat ja doch
einen Stich ins Romanhafte — sich von allem Belehrenden
dem Unterhaltenden am engsten anschliessen, darum auch
von aUem Belehrenden am liebsten gelesen werden und
überdies pralctische Beispiele unausgesprochener l.ehren
vor Augen führen, also in hohem Grade erzieherisch
wirken. Aber die wichtigste aller hier in Betracht
kommenden Fragen, die Frage: sind in d«: populärwissen-
schaftlichen Littemtur für Erwachsene genügend viele Schriften
belehrenden Inhalts vorhanden, die anch der Fassungskraft
des Kindes entsprechen, d. h. genügt für die Jugend eine Aus-
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208
Sims Zmnur.
wähl aus dem \'oi luuidenen oder müssen durch besondere
Jugendschriftsteller besondere Jugendschrilti n belehrenden In-
halts geschaftcii \srr(it'n? — diese Frage lasst sich eben noch
lange nicht bcaniwoiten. Man ,agt zwar allgemein, für die
Naturwissenschaften lägen eine Folge \ on deren Authchwung
im 19, Jahrhundert — genug für die Jugend geeignete populär-
wissenschaftliche Darstellungen in der Erwachsenen-Litteratur
vor, während für Geographie und Geschichte ein Eingreifen
der Jugendschriftsteller erforderlich wäre, aber etwas Binden-
des Uesse sich hierüber nur auf Grund einer umfassenden in-
duktiven Untersuchung ausmachen, und die ist bis jetzt noch
nicht geleistet, kann auch nur in jahrelanger Durchforschung
der einschlägigen Erwachsenen-Litteratur geleistet werden.
Noch weniger spruchreif ist zur Zeit die Frage der ver-
ede Inden Jugendlitteratur. Hier wagt der Verfasser dieses
Aufsatzes überhaupt nur eine Bemerkung mit Sicherheit aus-
zusprechen, die nämlich, dass man dem Kinde moralische Wert-
urteile nicht fix und fertig vorlegen, sondern sein eigenes mora>
lisches Urteil wecken soll. Wie es vom wissenschaftlichen
Denken gilt, dass es zwar allgemein als Streben nach Erkennt-
nis und Wahrheit aufgefasst wird, dass aber diese Erkenntnis
und diese Wahrheit in hundert verschiedenen Köpfen hundert-
fach verschieden aussehen, so kann es, dasselbe auf das mora-
lische Gebiet übertragen, sehr wohl als möglich hingestellt
werden, dass einmal das Kind in dem fix und fertig geprägten
Urteil des Buches ein Urteil findet, das dem seiner Eltern ganz
oder teilwebe zuwiderläuft. Dann gerät es in emen Widerspruch
zwischen zwei Autoritäten, es kann diesen Widerspruch nicht
entscheiden, es tändelt also darüber hinweg, und das führt zu
moralischer Oberflächlichkeit im allgemeinen. Hier vielleicht
am ehesten würde sich dann das vielbestrittene Wort Herders
bewähren: „Ein Buch bat oft auf eine ganze Lebenszeit einen
Menschen gebildet oder verdorben." Tritt das Buch dagegen
absichtlich nicht autoritativ auf, überlässt es die Gewinnung
des moralischen Urteils dem jugendlichen Leser selbst, so ist
die geschilderte Gefahr natürlich vermieden. Aber das ist nur
eine Frage aus vielen anderen, die als Probleme vor uns auf-
schiessen, wenn wir über die veredelnde Jugendlitteratur nach-
denken, und vor allem kann auch hier der wichtigste Punkt
gegenwärtig wiederum nicht entschieden werden: genügt eine
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iVas soU das Kmd Uienf
209
Auswahl aus der Erwachsenen- Litteratur, oder müssen wir be-
sondere jugendschriftsteiier aufrufen zu verantwortungsvoller
Thätigkeit ?
Vielleicht ist es praktisch von keiner allzu grossen; Bedeu*
tung, dass wir hinsichtlich Belehrung und Veredelung noch
so wenig sichere Pfade zu gehen vermögen : Werke aus diesem
Gebiete stehen dem Leseb^ürfnis der Jugend, wie wir gesehen
haben, ja femer und werden darum auch viel seltener begehrt
als unterhaltende Schriften. Was aber diese betrifft, 90
haben wir festen Boden unter den Füssen, und der Fortgang
unserer Untersuchungen wird uns auch praktische Resultate
vermitteln.
Wenn wir das Kind in seinem Verhältnis zur Lektüre be*
obachten, so fällt uns schon bei oberflächlicherer Prüfung
dreierlei auf. Ehe das Kind noch lesen gelernt" hat, regt sich
in ihm bereits eine Art litterarischen Unterhaltungsbedürfnisses,
indem es die Mutter beständig quält, ihm Geschichtenl zu er-
zählen. Sobald es dann selbst zu lesen vermag, reisst es alles,
was ihm an Gedrucktem irgend in die Hände fällt, ohne Wahl,
ohne Skru{>el an sich, und häufig genug erkennen wir an ihm die
Auswüchse der ungezügelten „Lesewut**. Aber drittens lässt es
sich ebenso gern, wie es sich Lektüre sucht, von uns mit
Lektüre versorgen, und hier ist der Punkt, an dem wir ein-
setzen können, um die Unterhaltungslektüre der Jugend er-
zieherisch zu beeinflussen, zum Erziehungsmittel zu machen.
Wir lernen aber aus der eben besprochenen Beobachtung
des Kindes in seinem Verhältnis zur Lektüre noch mehr. Was ist
es denn für Litteratur, die sich das Kind zusammensucht, um
seinen Lesehunger zu stillen? Sind es etwa spezifische Jugend-
Schriften? Die wird es freilu:h auch lesen, sobald es sie findet,
aber doch — ^ücklicherweiset — nur zu Weihnachtenr oder
zum Geburtstag einmal erhalten, sich gelegentlich von einem
Freunde leihen u. s. w.: viel näher liegt ihm die Zeitung des
Vaters, das Leihbibliotheksbuch der Mutter, kurz, die £ r w ac h -
8enen-<Litteratur, und jedenfalls ist es unerhört, zu be-
haupten, das Kind lege ein besonderes Verlangen nach
spezifischen Jugendschriften an den Tag: es liest, wenn es
nach ihm geht, was es von den Eltern und überhaupt von den
Erwachsenen gelesen sieht. So webt es uns also für die Unter-
haltungslektüre durch sein eigenes Verhalten hin auf den Satz,
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210
üfinw Mtmmtr,
ZU dem wir schon im ersten Teile unserer Untersuchung von
einer anderen Seite aus gelangten: keine besonderen
uiiicrhahenden Jugendschriften, sondern Auswahl aus der
Erwachsen en-Litteratur! Konnten wir diese Forde-
rung für die belehrende und die veredelnde Litteratur nicht oder
doch nicht mit Sicherheit aufstellen, so liegt der Fall bei der
Unterhaltungslektüre ganz anders. Welche Fülle von Erzäh-
lungen, Novellen, Romanen, Dramen, Lustspielen, Sdzien u.
s. f. in der deutschen wie in der ausländischen Litteratur, die
im Original und in guten Uebersetzungen auch dem Kinde dar-
geboten werden können! Wie verhältnismässig leicht ist bei
diesem Reichtum die Auswahl I Wie viele Namen fallen uns
gleich bei flüchtigem Nachdenken ein : Defoe, Swift, Andersen,
Kömer, Schiller, Bumett, Eberhard, Habberton, Hauff, Bren-
tano u. s. f.l Auch die berühmten Grimmschen; Märchen sind
ja ursprunglich für die Erwachsenen und sogar für gelehrte
Zwecke gesammelt und doch ein geradezu klassisches Kinder-
buch geworden.
Die Frage, ob für die litterarische Unterhaltung der
Jugend ieine Auswahl aus der Erwachsenen-Litteratur genügt,
ist also ohne weitere Untersuchung induktiver Natur zu be-
jahen, und es ist nur festzustellen: Wer soll diese Auswahl
treffen? und Wie soll sie getroffen werden?
Die erste dieser Fragen ist unschwer zu beantworten. Wir
erinnern uns daran, dass das Kind die Mutter quälte, ihm
Geschichten zu erzählen und so für sein litterarisches Unter-
haltungsbedürfnis zu sorgen, dass es die von den Eltern ge-
lesenen Bücher auch seinerseits zur Hand nahm, sobald es sie
fand, und sobald es damit gegen kein ausdrückliches Verbot
verstiess. Wer ist im Hause so viel um das Kind wie die Eltern ?
Wer hat so sehr ein Recht und die Pflicht, das Kind zu beauf-
sichtigen, wie sie? Wem folgt es, wenn es überhaupt folgsam
ist, so gern wie den Eltern? Es ist kein Zweifel, dass diese
in erster Linie berufen sind, die für ihr Kind — und gerade für
ihr Kind, das doch niemand so gut kennt wie sie — geeig^te
Unterhaltungslektüre aus der Erwachsenen- Litteratur auszu-
wählen. Dass sie zu diesem Zwecke selbst manches gelesen
haben müssen, ist klar: die Vorbcdinpimg der Kinderlektüre
ist die Eltemlektüre, und darum hat auch für den Volkspäda-
gogen vor der Frage: „Was soll das Kind lesen?" im letzten
L.iyui<.LU Oy VjQOQle
Was sott das KM leatnf
211
Grunde die andere zu stehen: „Was soll das Volk lesen?*' In
Anbetracht der Thatsache jedoch, dass die Eltemlektüre
äusserer Umstände wegen nicht immer ausgedehnt genug
ist und sein kann, um dem Kinde ausser dem ewig klassischen
Robinson, den Grimmschen Märchen und einigen anderen be-
rühmten Büchern dieser Art ausreichend vielen sonstigen Lese-
Stoff zuzuführen, haben es eine Reihe Pädagogen und auch
mehrere Vereinigungen von Lehrern, Volksfreunden u. s. w.
unternommen, den Eltern bei der Auswahl der für Kinder ge-
eigneten Unterhaltungslitteratur behilflich zu sein, indem sie
Listen von Büchern aufstellten, die auf ihre Verwendbarkeit
für die Jugend von ihnen geprüft wurden. Jeder Buchhändler
wird dem Vater oder der Mutter ohne weiteres mehrere solcher
Veneicfanisse namhaft machen können, am besten aber wendet
man sich an den Hamburger Jugendschriftenausschuss (Vor-
sitzender: Fritz von Borstel, Hamburg, Malzweg). Aus dessen
Arbeit ist unter anderem auch ein Verzeichnis hervorgegangen,
das aus der bekannten billigen Sammlung „Meyers Volks-
bücher** alle für die Jugend passenden Heftchen — eine reiche
Anzahl — heraushebt und übrigens durch die Verlagsanstalt
(Biblk>graphisches Institut in Leipzig) kostenfrei zu beziehen ist.
Trotz solcher Beihilfe aber ist es gewiss nicht nutzlos, den
Eltern im folgenden direkte Winke über das Wie der von
ihnen selbst zu treffenden Auswahl zu geben. Dass ein Buch,
soll es für die Jugend geeignet sein, nichts Anstössiges ent'
halten darf, braucht nur im Vorübergehen erwähnt zu werden,
und ebenso muss es von den Eltern vorausgesetzt werden, dass
sie Anstössiges ohne weiteres herausfinden und von ihren Kin-
dern fernhält«! würden. Eine zweite Regel aber ist die : Zwinge
Deinem Kinde nicht auf, was Dir selbst keinen poetischen Ge-
nuss bereitet! Die unterhaltende Privatlektüre des Kindes darf
nicht als eine Arbeit empfunden werden wie die Lektüre in
der Schule; wofür das Kind nach Deiner eigenen Meinung
kein Interesse zeigen kann, das gieb ihm nicht in die Hand,
und wofür es, sei es selbst gegen Dein Erwarten, thatsächlich
kein Interesse zeigt, das lass es ruhig wieder bei Seite legen.
Dass die Lektüre des Kindes dessen Fassungskraft wie
überhaupt das Niveau seines ganzen psychischen Zustande!
nicht übersteigen darf, braucht eigcntlicfa ebenfaUs gar nkbt
besonders hervorgehoben zu werden: jedermann weiss, dass
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212
Hans Zimmer.
das Kind im Vergleich zum Erwachsenen eine geringere Er-
kenntnisfähigkeit, ein ru( kständiges GeÜihlslebcn, einen schwä-
cheren Willen besitzt. V on diesi-m Gesichtspunkte aus sagt z. B.
Wolgast sehr richtig: „Ein Ftuillctun für die Jugend giebt es
nicht; was seine Seele ist, Witz und Geist, ist dem kindlichen
Sinne nicht gemäss." Aber man muss anderseits auch nicht
allzu ängstlich sein; wo bliebe der Fortsrliritt, wenn in einem
Buche dem Kinde \on vornherein alles xerständlich wäre?
Neben dem Klaren muss auch minder Klares und Unklares
stehen, Gedankenreihen, die für das Kind Probleme ent-
halten, und die es darum anregen zum Nachdenken und zur
Selbst thätigkeit. ! . • ♦
•« Dasselbe gilt nun auch vom ethisc hen und aestheti-
sehen Wert der unterhaltenden Jugendlektüre ; auch hier lautet
diei Parole: anregen! Wir haben schon erfohren, warum
diejenigen Bächer vom Kinde femgehalten werden müssen, die
ihm moralische Werturteile fix tmd fertig vorsetzen, und jetzt
fügen wir dem die positive Forderung hinzu: lass Dein Kind
selbst urteilen, versuche es mit ihm, ob es nicht selbst
gegenüber den Handlungen, von denen es liest, den richtigen
sittlichen Standpunkt einzunehmen vermag) Du brauchst dich
nicht zu scheuen, deinem Kinde ein Buch in die Hand zu geben,
weil darin auch Missethaten geschildert werden : das Schlechte
wirkt, wenn es nur deutlich und nicht als Gegenstand der Be-
gierde gezeichnet ist, abstossend auf die Kinder ein. Romane,
Novellen und überhaupt alle Arten „Geschichten" sollen ein
Abbild des thatsächlichen Lebens sein, wenn das Kind aus
ihnen wirklich Lebensverhältnisse beurteilen lernen soll, wahr
sein, nicht wahr im Sinne realistischer Detailmalerei, sondern
psychologisch wahr, innerlich möglich. Auch Märchen, Fabeln
und Sagen können das sein, und danmi sind sie durchaus nicht
dem jugendlichen Leser grundsätzlich vorzuenthalten. Keine
Gefahr, dass das Kind sie für ob jekt i v wahr hält : gerade das
Kind weiss besser als wir, was Phantasie ist ; denn die Thätigkeit
der Phantasie ist ihm ja vom Spiele her doppelt vertraut. Der
jugendliche Leser soll aber aus seiner Unterhaltungslektüre vor
allem auch andere Verhältnisse kennen lernen, als in denen
er selbst lebt ; gieb darum dem Knaben vornehmer Eltern ab-
sichtlich häufig Erzählungen aus niederen Ständen und umge-
kehrt — das Resultat wird eine wahrhaft humane Bildung sein.
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fFas toU dtu Kind lesen f
213
Wir fassen jetzt den Kern der eben entwickelten Gedanken
noch einmal in schärfere Worte . es kommt nicht darauf an,
bestimmte, fertige moralische Werturteile durch die Unter-
haltungslektüre in das Kind zu legen, sondern die Fähigkeit,
selbst zu luteilen, nicht darauf, dass das Kind in der Jugend
möglichst viele g^te Bücher liest, sondern dass in ihm für
später der Sinn für g^te Litteratur geweckt wird. Und das ist
das Mittel, um noch für die Zukunft bestimmend auf seine Lek-
türe einzuwirken, wenn es schon längst die Schule und das
Elternhaus verkissen hat. Denn ist ihm in der Zeit vom 8. oder
9. bis zum 14. oder 15. Jahre der Sinn für gute Litteratur
geweckt worden, so wird der junge Mann imd das junge Mäd-
chen auch ganz von selbst nur noch nach guter Lektüre gpreifen,
wenn sie längst nicht mehr unter dem direkten Einfluss der
Eltern stehen. Genau so aber verhält es sich auch mit der ästhe-
tischen Seite der Frage: wer von Jugend auf daran gewöhnt
worden ist, formvollendete Vers- imd Prosadichtungen zu lesen,
der wird in gereifterem Alter keine Indianergeschichten imd
Hintertreppenromane begehren — die Fähigkeit und damit
das Verlangen, poetisch zu gemessen, müssen durch die
Jugendlektüre gebildet werden; die Anlage zu litterarischer
Genussfähigkeit ist in jedem Kind< vorhanden.
Eng zusammen mit dem ästhetischen Moment hängt die
Frage nach der Form der Darstellung, aber sie lässt
sich mit wenigen Stichworten erledigen: reines Deutsch, mög-
lichst wenig Fremdwörter, Anschaulichkeit und Klarheit 1 Die
letztere vor allem muss verlangt werden, weil sprachliche Schu-
lung zugleich eine Gedankenschule ist : wer immer nur logisch
gebaute, klare Sätze liest, der wird bald auch selber logisch
denken und reden lernen.
Wer die Forderungen und Ratschläge, zu denen wir durch
unsere Erwägungen gelangt sind, genauer überdenkt, der wird
leicht zu der Ueberzeugung kommen, dass sie für keinen Vater
und keine Mutter etwa besonders schwer zu befolgen sind«
Jeder trägt den Massstab dafür sozusagen in der eigenen Brust,
jeder braucht nur unbefangen auf die eigene innere Stimme
zu hören — die wird ihm sagen: das ist interessant, das ist
unanstössig, das ist Idar geschrieben u.$.f. Wir können also
hier schliessen, denn unser Thema ist erschöpft, aber wir wollen
doch noch eine Warnung nicht unerhoben lassen: eine Ge-
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214
Hans Ximmer,
fahr nämlich könnte sich leicht aus der Ht tol^uiig eines unserer
Ratschläge ergeben. Was deinem Kmde nicht interessant
ist, das lass es weglep:en, sag^ttMi wir oben, ahier jetzt fügen wir
warnend hinzu : gieb ihm aucli ki ine n 1 ! z u interessante Lektüre
in die Hand. Alle Lektüre hat immer eine gewisse Tendenz zur
Ungeselligkeit ; wer liest, der mag von seiner Umgebung nicht
gestört sein, wer etwas für ihn sehr interessantes liest, wird
sogar leicht recht unwillig werden, wenn andere Menschen mit
anderen (iedanken dazwischenfahren. Im Interesse der Kr-
ziehung und namentlich der elterlichen Autorität muss das beim
Kinde unbedingt vermieden werden ; sobald du also siehst,
dass sich dein Kind in ein Buch „verrennt", so musst du es ihm
genau so gut entziehen, wie wenn es sich mit ihm langweilt.
Vor allem ist dafür zu sorgen, dass zweierlei unter der Privat-
lektürc des Kindes nicht leidet : die Schularbeiten und die körper-
liche Ausarbeitung auf dem Spielplatz, im Garten, in Wiese
und Wald.
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Ueber eine wenig
beaclitete Gefahr der Prügelstrafe bei Kindern.
Von
Albert Moll.
Ueber den Wert der Prügelstrafe im allgemeinea ist im
Laufe der letzten Jahre viel geschrieben mid gToredet worden.
Es wurde von einzehien auf die Notwendigkeit hingewiesen, be-
sonders für solche Verbrechen, die eine rohe Gestnntmg be*
weisen, die Prügelstrafe wieder festzusetzen. Es würde zu wnt
führen, an dieser Stelle hierauf genauer dmugehen. Hier will
ich nur einige besondere Gefahren erörtern, die die Prügel-
strafe in der Schule leicht im Gefolge hat.
Es kann keinem Zweifel unteriiegen, dass zur Aufrechthal-
tung der Zucht in der Schule Strafen notwendig sind, da die
Kinder auch sündige Menschen und nicht engelsreine Wesen
sind. Die Disziplin wird gerade in neuerer Zeit vielfach unter-
graben. Allerlei Einflüsse, die ausserhalb d^ Schule stattfinden,
tragen hierzu bei. Idi erinnere an die öffentliche Erörterung
der Ueberbürdungdfrage, die einigen Schülern als bequeme
Entschuldigung erscheint, wenn sie aus Faulheit das Arbeiten
unterlassen. Von den Eltern und auch sonst im Hause hören
die Kinder Aeusserungen, die die Autorität der Schule schä-
digen : sie müssten zu viel lernen, hätten zu viel häusliche Auf-
gaben zu erledigen u. a.; während aber angeblich die Zeit zu
den Arbeiten für die Schule fehlt, finden Eltern kein Unrecht
dabei, dass zwölfjährige Mädchen und vierzehnjährige oder jün-
gere Knaben Tanzstunden haben, an Kinderbällen teUnehmen
oder sonstwie in unnützer Weise die Zeit hinbringen. An allen
Defekten, an allen Krankheiten ist nach einer oft wiederholten
Meinung nur die Ueberbürdung in der Schule Schuld. Mir ist
es bdcannt geworden, dass Schüler, um ihre Ueberbürdung zu
beweisen, in der Schule absichtlich zu gähnen anfingen und
andere Ermüdungssymptome absichtlich zur Schau trugen.
Jedenfalls braucht die Schule um so mehr Mittel, die Dis-
ziplin aufrecht zu erhalten, je mehr diese durch feindliche Ein-
flüsse ausserhalb der Schule gelodtert wird, und dass die
Strafen als Abschreckungsmittel entbehrlich sind, wird scfawer-
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216
Aldcrt MM,
lieh behauptet werden können. Sicher ist auch, dass körper-
hche Züchtigungen oft viel wirkungsvoller sind als Tadel. Nach
sitzen. Strafarbeit u. s. w. Wenn diese milderen Strafen keinen
Erfolg herbeifiihren, wird man jedenfalls das Recht zur Züch-
tigung nicht ohne weiteres bestreiten dürfen. Es wird allerdings
behauptet, dass körperliche Strafen das Ehrgefühl untergraben.
Ich glaube aber, dass diese Gefahr überschätzt wird, und dass
man hier mit doktrinären Einwanden vorsichtiger sein sollte.
Es giebt Schüler, bei denen zur Abschreckung körperliche Züch-
tigung wünschenswert ist. Wenn man hier die Verletzung des
Ehrgefühls befürchtet, so hat man nur den Ausweg, diese
Schüler dauernd aus der betreffenden Schule zu entfernen. Hei
der Dreistigkeit einzelner Schüler gegen ihre Lehrer sind einige
solort erteilte Ohrfeigen vom pädagogischen Standpunkt das
beste Mittel. Sic wirken sicherer als ein iknges hochnotpein-
Üches Verfahren.
Wie so oft im Leben kollidieren aber auch hier nieiniache
Interessen miteinander, und es kann nicht bezweifelt werden,
dass bei allen Vorteilen, die für die Erziehung aus der Prügel-
strafe hervorgehen mögen, die grössten Bedenken wenigstens
gegen die Art erhoben werden müssen, wie sie gewöhnlich aus-
geführt wird. Ich will nicht von den Verletzungen sprechen«
die thatsächlich oder leicht durch die Prügelstrafe herbeige-
führt werden. Durch Ohrfeigen sind mehrfach Trommelfell-
zerreissungen entstanden, neuerdings wurde sogar eine Bauch-
fellentzündung auf Züchtigung zurüdi^eführt.
Ich möchte auf eine andere Gefahr hinweisen, die der
Ptügelstrafe innewohnt; ich meine den gefährlichen Einfluss
auf das Geschlechtsleben. Dass Schmerz und geschlechtliche
Erregung in gewissen Beziehungen zueinander stehen, ist be-
kannt. Es giebt Leute, bei denen ein sinnlicher Reiz auftritt,
sobald sie Schmerzen bei anderen beobachten; es giebt aber
auch Leute, bei denen der eigene Schmerz mit einem sinnlichen
Genuss verknüpft ist, so paradox dies auch erscheinen mag.
Die Gefahr der Prügelstrafe ist in dieser Beziehung eine drei-
fache.
Betrachten wir die erste. Es sind Fälle beobachtet worden,
wo Lehrer , resp. Erzieher lediglich um sich sinnliche Erregung
zu schaffen, ihre Zöglinge schlugen. Ich selbst hatte vor einiger
Zeit Veranlassung, im Auftrage der Staatsanwaltschaft einen
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
IHt Gtjahr der Prügelstrafe bei Ktndem.
217
derartigen Fall vor Gericht zu begutachten ; es konnte keinem
Zweifel unterliegen, dass der Betreffende seine Stellung als Er-
zieher dazu benutzte, sich unter dem Vorwande der Bestrafung
einen sinnlichen Reiz durch Prügeln der Zöglinge zu verschaffen.
Allerlei Vorwände wurden hierzu genommen I Bald wollte er
den Mut und den Charakter der Zöglinge erproben, bald war
es eine Verfehlung, für die er sie schlug. Ein anderer Mann
mit solcher Neigung bat einmal das Prügeln eines Knaben da-
mit motiviert, er wolle für ein grösseres pädagogisches Weiic!
feststellen, wieviel Schläge ein Knabe vertragen könne. Wenn
bei einem Erzieher eine derartige Anlage besteht, ist zu be-
fürchten, dass die Strafe in ganz ungerechter Weise angewendet
wird da dann nidit die Verfehlung des Zöglings, sondern der
Wunsch des eigenen sinnlichen Genusses das Motiv bildet. Auch
das weibliche Geschlecht stellt ein nic ht geringes Kontingent
dieser Fälle. Besonders ist aus England wiederholt berichtet
worden, dass Erzieherinnen imd Pensionsinhaberinnen aus rein
sinnlichen Gründen die Prügelstrafe gegenüber ihren weiblichen
Zöglingen anwendeten. Annoncen, die man von Zeit zu Zeit
findet, wo irgend eine Erzieherin Zöglinge zur strengen Er-
ziehung sucht, sind in dieser Beziehimg verdächtig. Ueberhaupt
ist die Neigung zur Grausamkeit beim weiblichen Geschlecht
mitunter vorhanden. Die Geschichte bietet zahlreiche Beispiele.
Ich erinnere an die alte Römerzeit, wo sich nach vielfachen
Berichten die Römerfrauen der grausamsten Strafen gegen-
über den Sklavinnen bedienten; ich erinnere an Ameri-
kanerinnen, die in qualvollster Weise junge Negersklaven züch-
tigten; ich erinnere an Katharina von Medici und an Katha-
rina IL Dass manche Grausamkeit dieser Frauen mit dem Ge-
schlechtstrieb zusammenhängt, ist wahrscheinlich.
Eine zweite Gefahr Hegt in dem Umstand, dass manche
Schüler in dem eigenen Schmerz ein Mittel zum sinnlichen
Genuss erblicken. Diese Gefalir scheint besonders bei Schlägen
auf das Sitzfleisch vorzuliegen. Hieraus ergiebt sich erstens
die Möglichkeit, dass einzelne Schüler absichtlich Unrecht thun,
um sich der Prügelstrafe auszusetzen, zweitens die Gefahr, dass
eine künstliche sinnliche Erregung geschaffen wird.
Weit bedenklicher scheint mir eine dritte Gefahr, nämlich
die, dass durch die Prügelstrafe das Geschlechtsleben bei man-
chen Schülern vorzeitig geweckt wird. Es giebt Fälle, wo die
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218
Aikeri MM.
Betreffenden aus irgend einem Grunde körperlich gezüchtigt
werden und hierbei die erste sinnliche Erregung empfinden. Es
sind mir Fälle bekannt, wo dies im Alter von sielien bis acht Jah-
ren, ja noch früher, geschah. Welche b( i]klu lu n I olgen dieses
frühzeitige Erwecken des Geschlechtslebens hat, braucht nicht
erwähnt zu werden, ja es ist nicht ausgeschlossen, dass eine dau-
ernde Erkrankung im Geschlechtsleben stattfindet, wenn in
dieser immerhin abnormen Weise die ersten geschlechtlichen
Erregungen hervorgerufen werden. Bekannt ist es, dass Jean
Jacques Rousseau, wie er in seinen ..Bekenntnissen" mitteilt,
sein perverses Fühlen auf solche Züchtigung in der Kindheit
zurückführte.
Man wird aus dem X'orangehenden erkennen, wie grosse
Gefahren die Prügelstrafe vom medizinisi hcn Gesichtspunkt
darbietet, wenn auch, wie ich zu Anfang betonte, ihre Bedeutung*
als Erziehungsmillel nicht bestritten werden soll. Bei einer sol-
chen Kollision wird es nicht leicht sein, eine allgemeine Ent-
scheidung zu treffen. W^ürde eine ärztliche (icfahr der Prügel-
Strafe in allen Fällen oder in einer üi)erwiegenden Zalil von
Fällen bestehen, so würde sie als Erziehungsnuttel natürlich
ganz beseitigt werden müssen. Da man aber im allgememeR
nicht voraussehen kann, wann sie solche (jefahr herbeiführt, wird
man wenigstens versuchen müssen, die Strafe so /.u gestalu ii,
dass möglichst wenig ungünstige Folgen aus ihr liervorgehen.
Soweit meine Beobachtungen reichen, scheinen mir gerade
Schläge auf das Sitzfleisch die allergrösste Gefahr zu bieten.
Vielleicht könnte eine V^erminderung derselben schon dadurch
erreicht werden, dass man grundsätzli( h diese Art der Züch-
tigung verbietet. Es scheint, dass Schlage, mit einem Rohr-
stock auf die Hand gegeben, in ärztlicher Beziehung am wenig-
sten bedenklich sind, obwohl ich nicht glaulje, dass die Möglich-
keit der sinnlichen Erregung hierbei ganz ausgeschlossen ist.
Auch die Gegenwart all. r Zöglinge bei der Züchtigung eines
Schülers führt Gefahren herbei. Sie soll ja zur ."Abschreckung
geschehen, und ich erinnere an den Fall des Potsdamer Waisen-
hauses, der in neuerer Zeit spielte, wo gleichfalls in Gegenwart
aller Schüler die Züchtigung vollzogen wurde. Hier muss be-
tont werden, dass der Schmerz anderer die sinnliche Erregung
der Zuschauer zu wecken vermag. Es sei deshalb auf dieses
Bedenken hingewiesen. (Ebenso will ich bei dieser Gelegenheit
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Die Gefahr der PfügeUtraft hei Kindern,
219
betonen, dass die Leichtfertigkeit, mit der Eltern ilire Kinder
den Todesqualen der Schlachttieie beiwohnen lassen, auf das
Entschiedenste bekämpft werden muss. da hierbei gleichfalls m
manchen Fällen die ersten sinnlichen Erregungen stattfinden,
ganz abgesehen von dem verrohenden Einfluss, den solclie
Szenen auf ein Kindergemiit ausüben müssen.).
Ferner sei darauf hingewiesen, dass man jüngeren Lehrern
und solchen mit aufbrausendem Temperament das Recht zur
I'rügelstrafe möglichst nehme und dass man es nur reiferen
Männern einräume. Die genannten Gefahren werden daim
wenigstens wesentlich \ermindcrt werden.
Endlich berücksichtige man, dass nicht nur eine Üeber-
bürdung der Schüler zu vermeiden ist, sondern auch eine solche
der Lehrer. Diese haben einen ungemein schweren Beruf, der
ihnen in neuerer Zeit durch mancherlei Agitationen noch schwie-
riger gemacht wird. Die UeberfüUung der Schulen, die allzu
grosse Ausdehnung der Unterrichtszeit führt den Lehrer sehr
leicht dazu, in objektiv ungerechter Weise bei der Anwendung
der Prügelstrafe zu \erfahren, und deshalb predige man nicht
nur den Lehrern Geduld, mit der sie angeblich die Schüler am
besten erziehen könnten, sondern man gewähre ihnen ( lelegm-
heit, Geduld zu üben. Dies wird am besten dann geschehen,
wenn man auch die Lehrer in jeder Weise vor einer ri-ljerbür-
dung schützt. Nicht mit l>losscm Tadel, nicht mit poltern<len
und planlosen Agitationen würde man Missständen abhelfen,
sondern nur damit, dass man die W'etre prüft und einschlägt,
die zur Beseitigung derselben führen können.
ZettsdirlR für pUicocbdie Psydiolosie md P»tholQsie. 4
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Verein für Kinderpeychologie zu Berlin.
III. Sitzung vom 3. Mai 1901.
Vorsitzender: Herr Stumpf.
Schriftführer: Herr Hir schlaf f.
Um 8)4 Uhr eröffnete der Vorsitzende die Sitzung mit einer kurzen An-
sprache. Nach einigen geschäftlichen Mitteilungen folgte der Vortrag des
Herrn Direktor Dr. Jessen:
Die Erziehung zur bildenden Kunst.
Der Vortrag wird in extendb in dieser Zeitschrift abgedruckt werden.
Diskussion:
Herr Münch spricht dem Vurtragenden den Dank besonders von selten
der Pacdagogen für seine lehrreiclien Darlcgtinpen aus. Vieles sei ihm neu
gewesen und vie!?-- habe ein lebhaftes Echo in ihm geweckt. Dass die
Farbe bisher das Stictkind im Schulunterrichte gewesen sei« habe er auch
schon empfunden. Indessen Farbe und Linie mussten sich ergänzen, und
so das Gefühlsmasstge mit dem Begrifflichen sich vereinigen. Was die
Hoffnung betreffe, dass unsere ersten Künstler für das vuin Vortragenden
geschilderte Ideal eintreten würden, um das künstlerische Bildungsmaterial
für die Jugend zu veredeln, so sei es doch zweifelhaft, ob dies der Fall sem
werde. Vielleicht werde es hier ebenso gehen, wie auf dem Gebiete der Dicht-
kunst, wo zwar nicht gerade die ersten Künstler, wohl aber doch Künstler^
naturen, deren Interesse und Begabung speziell auf den Unterricht ge-
richtet wären, sich der betreffenden Aufgaben mit Nutzen tmterzogen hätten.
Jedenfalls sei es notwendig zu konstatieren, dass zwischen dem Kunstunter-
richte und dem Fachunterrichte die Beziehungen noch fehlen; oder viel-
mehr, dass die bisher allein bestehenden Beziehungen,, die mathematischen
Zeichen, bekämpft werden müssen. Hier liege ein grosses und offenes
Arbeitsgebiet vor, auf dem noch viele Fäden gesponnen werden könnten. Be-
sonders gefreut habe er sich , dass die Geometrie imd die Symmetrie von
dem Vortragenden bekämpft worden seien. Das ewige Ornament sei ebenso
schädlich, wie im Sprachunterrichte die ewige Grammatik. .'\uch in Bezug
auf die künstlerische Ausgestaltung der Schultjobaude stimme er d-'m Vor-
tragenden durchaus bei; leider Irabe Bcrlm m dieser Beziehung nicht die
führende Rolle übernommen. Auch in Paris sei es z. B. sdilecht damit
bestdl^ besonders in den Hochschulen, die ja auch hier möglichst kümmer-
lich ausgestattet sind. Es wäre sehr wohl möglich» statt der Gips-Ornamente
und -Modelle echtes Material für den Kunstunterricht zu bcschafTen. Xeu
war der Vorschlag, das Gedachtnis/cichncn in den Unterricht einzuführen.
Zuerst hat dieses wohl Paul jacombe in Frankreich vor 2 Jahren vorge-
schlagen. Dan man beim Zeichen-Unterricht zn sehr an die Schulaus-
Stellungen denkt, sei entschieden ein grosses Unrecht Die Kunstgeschichte
aus der Schule gänzlich zu verbannen, würde ihn schmerzen; besonders in
Verbindimg mit der Kulturgeschichte sei sie sehr schätzenswert Freilich
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ÜiltungsberuhU»
221
müä&e sie in der richtigen Weise gegeben werden; ebenso wie bei der Xaiur-
geschichte komine es auch hier daraui au, wie sie betrieben wird. Im
übrigen könne die ästhetische Erziehtuig des Menschen niemals einen Ersatz
bilden für die ethische Erziehung; so altmodisch dieser Standpunkt sei, nehme
er doch keinen Anstand, ihn hier ausdrücklich zu vertreten. Trotzdem er-
kenne er an, dankenswerte Anregungen durch den Vortrag empfangen zu
haben. Nur brauchten die Bo^tr«*hnn5^en nicht auf das Kind beschränkt zu
werden; auch die Vcrschicdcnlicii der iicdunnissc der Kinder auf den ver-
schiedenen Altersstufen müsse berücksichtigt werden.
Hvrr A. Baginsky: Der Vortragende hat die Frage bezüglich des
Farbensinnes der Kinder aufgeworfen und das Verhältnis der Altersstufen
dazu erwähnt Nach den Erfahrungen am Krankenbette müsse er be-
haupten, dass schon vor dem dritten I.ebensjahre die Kinder die Farben
erkennen. Man müsse nur die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Farben
lenken: dann erkenne man, dass die Kinder schon frühzeitig, schon im
ersten Lebensjahre, zwischen wei«;s und gelb, z. B. zwischen einer goldenen
und silbernen Taschenuhr unterscheiden. Was sodann die Frage des Unter-
richts betreffe, so habe er erst kürzlich Gelegenheit gehabt, in Holland, im
Zoologischen Garten zu Amsterdamt hierüber Erfahnmgen zu sammeln.
Dort sah er nämlich zwei Knaben von 4 und S Jabrai, beide mit kleinen
Skizzenbüchem versehen, im Garten umhergehen. Der eine von ihnen
zeichnete einen Bullen im Grase liegend, und zwar geradezu in meisterhafter
VVei<ie. Die Verwandten der Knaben, die darüber interpelliert wurden. l>e-
hauptcten, das könnten die Kinder dort alle, da sie von Anfang an lernten,
nach der Natur zu zeichnen. Im deutschen Schutunterricht vermissen wir
dies; es wäre aber äusserst wünschenswert, wenn man auch bei uns all-
mählich anfinge, die Kinder zur Natur zu führen. EndUchr ist CS i^nz über«
ra<,chcn(l. was die Kinder aus sich heran*? zu schaffen vermötrcn, wenn man
sie sich selbst überlässt. Z. B. in der Keknnv Ii >zcnz von Krankheiten pro-
duzieren die Kinder Ueberraschendes an Zeichnungen. Die Kaiserin Friedrich
selbst war einige Male erstaunt über solche Zeichnungen, wo die Kinder im
Krankenhause mit dem Blaustift Berge, Thäler, Tiere aus der Erinnerung
heraus geschaffen hatten. Was die von dem Vortragenden aufgestellten
Thesen anbelange, so müsse man jedenfalls das Naturell der Kinder beobachten
und demgemäss individualisieren. Sympathisch berührt habe ihn vor allem die
Forderung des Vortragenden, die Kinder nach echtem Material, nicht nach
Pappe und Gips, zeichnen zu lassen.
Herr J e s c n dankt für die freundliche Beurteilung und Ergänzung des
Gesagten. Ob die Kiuisilcr Stets das Richtige für die Kinder treffeu werden,
ist in der That zu erwägen: den wahren Kinderkünstler haben wir freilich
noch nicht, in dem Sinne etwa, wie es Ludwig Richter in der früheren Zeit
gewesen. Die Kunstgeschichte soll thatsachlich nicht gänzlich ausgerottet,
aber doch wesentlich beschränkt und modifiziert werden. Im übrigen denkt
niemand daran, eine ästhetische Erziehung an Stelle der ethischen setzen
7U wollen. Die Kunst i^t nur ein Element, das mehr als früher berücksichtigt
werden soll, eine Konkurrenz um ethischen Momenten ist ausgeschlossen;
eher dürfte das Gegenteil der Fall sein.
4*
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222
Sitzungsbcrühle.
Herr Stumpf weist auf die unv^chcurc Bedeutung- Jcr anperci^trn
Fragen auch in sozialem Sinne hin. Auf diesem Gebiete mussicn die
Theoretiker von den Praktikern lernen. Der Farbensinn der Kinder sei
schon nach kurzer Zeit voll vorhanden, nur Aufmerksamkeit und Benennung
seien anders als beim Erwachsenen. Mit dem dritten Jahre ist der Mensch
im wesentlichen fertig in Bt-ziip: nnf än«;?orp Wnhrnchmunf^cn ; nur die feinere
Au5f!eutunp schreitet noch fort. Aufgabe der künstlerischen b>7iehnng^ ist
ts-, mit dem Vollen anzufangen, nicht mit dem Abstrakten; an das Konkrete,
Nächstliegende mussten die Beziehungen angdcnüpU werden. In diesem
Punkte seien die modernen Psydiologen in völliger Uebereinstimmung mit
den Kunstbcstrcbinigm. Frappiert habe ihn die Wahrnehmung, das die
alten Griechen, die die Bcdeutnncr der Mtfjik und der Dichtkunst für die Er-
ziehung so hoch stellen und ausführliche Vorschriften zur Ausbildung der
Jugend in dieser Richtung geben, von der bildenden Kunst faist schweigen.
Waren sie uns in der Kunst selbst voraus, so wollen wir bestrebt sein,
sie wenigstens in der Erziehung zur Kunst zu übertreffen.
Schluss der Sitzung 10 Uhr.
Berichte und Besprechungen.
A. W r e s c h n c r , Dr. p h i 1. et med.; Eine experimentelle
StudicuberdieAssoziationincinc in Falle von Idiotie.
(Aus der Psych iatr. Klinik zu Giesscn.) Allg. Ztschr.
f. Psychiatrie u. psy ch.>gerichtl. Medizin. Jahrg. 1900»
Seite 241--<339.
Im Anschlüsse an seinen Lehrer R. Sommer (Lehrb. d. psycho-pathol.
Untersuchungsmethoden» 1899 S. 341 ff.) stellt sich Wreschner in vorbe-
zeichneter Arbeit die Aufgabe, „in methodischer Weise das Verhatten des
Schwachsinns 7it den verschiedenen Stufen des menschlichen Intellekts zu
verfolgen.'' Zur Erreichung seines Zieles lasst er eine Patientin auf zuge-
rufene Wörter durch ein von ihr gesprochenes Wort reagieren und riickt
bei Betuteilung der so erhaltenen Assoziationen zum erstenmale das Mass
der hierbei geleisteten Geistesarbeit in den Vordergrund des Interesses.
Als Reizmaterial dienen ihm die von Sommer (a. a. O. S. 341 ff.) zu-
samrnrngcstellten, fast das gesamte psychische Leben umfassenden Wolter,
niimlich 4ö Adjektiva. die sich auf die mancherlei Arten der sinnesphysio-
logischen Wahrnehmung beziehen und in 10 Gruppen geordnet sind —
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ßerkhU^ und JHesprechungcn.
223
1. Licht tind Farbe-. 2. Ausdehnung und Form, 3. Bewc(?ung, 4. TaNt'inn,
5. Temperatur, 6. Gehör, 7. Geruch, 8. Geschmack, 9. Schmerz- und Gemein-
geiühl, 10. Aesthetische Gefühle — , temer 48 Substantiva konkreten Inhalts
in 8 Gruppen — 1. TeOe des menschl. Körpers, 2. Gegenstände aus der
unmittelbaren Umgebung im Zimmer, 3. Gegenstände der weiteren
Umgebung in Haus und Stadt, 4. Gegenstände aus dem Gebiete
von Erde und Welt, o. PflanzHche Objekte, G. Lcbendig^c Wesen,
7. Glieder der Familie. 8. Verschiedene Gesellsehaftsschiehten und endlich
wieder 4^ Substantiva abstrakten Inhahs oder inicrjcktioncn m 8 Gruppen
1. Traurige Vorstellungen, 2. Freudige Vorstellungen, 3. Interjektionen (Gc-
, fühlsausdrucke), 4. Stimmungen und Gemütszustände, 5. Gebiet des Willens,
6. Gebiet des Verstandes, 7. Bezeichnungen für BewusstseinsEustände, 8. So-
ziale Beziehungen. Die .Anwendung dieses Wortmaterials geschah nn bc7w.
7 verschiedenen, nu i^t nicht unmittelbar nebeneinander liegenden Tagen nach
der sogen. ,,VViederholungsmethode", d. h. an jedem Tage wurde das
gesamte Reizmaterial eines der 3 Bogen verwendet, und so ergaben sich
8X46+2X7X48 = 1040 Versuche, die sich durch die Einheitlichkeit des
Reizes charakterisierten. Gegenüber Sommer, der seine Reizworte stets in
•IirstllKn Folge verwendete, hielt sieb \N'r. mit Aufnahme der ersten Ri-ihe
nicht an die Reihentolge der Wmtt r. um 'lo ..den FJntluss der Autcinander-
iclge von mehreren inhaltlich verwandten Kcizworun und einer Festlegung
der Reihenfolge bei der Patientin auszuschliessen/^
Die Zeitmessung erfolgte mittels eines Metronoms.
Das gewonnene Material wurde nach vier Gesichtspunkten bctraclitct,
nämlich nach Qualität, Dauer, F.influss der Wiederholung oder Fixation
und nach dem Einflüsse der Uebung.
Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich im ganzen iolgendcr-
njassen formulieren:
1. Die Qualität des Reizwortes hat tiefgehenden Einfluss auf die
Assoziation.
2. Die lautlichen verhalten sich zu den inhaltlichen As5oziati<)nen l»ci
den nach Sinnesgebicten geordneten Adiektiva 1:3.8. bei den Konkrt^ia
1 : 0.7 und bei <icn Ahstrakta allein 1 : 0.4 oder 1 : 0.2iT bti Einbeziehung
der Interjektionen. Daraus folgt die qualitative Abnahme der Reaktionen
bei Zunahme der Qualität des Reizwortes.
3. Bezüglich der Qualität der Reaktionsworte uberwogen die Adjektiva;
es verhielten sich: Adjekt. : Subst. : Verb. = ö:.:!.
4. Gewohnheit und Beruf sind von bedeutendem Einflüsse auf die Wahl
des Reaktionswnrtcs. le geläufiger das Reizwort ist, desto mehr wird eine
femlicgende. qualitativ hochstehende Reaktion gesucht.
5. Jedes Reizwort hat eine subjektive Qualität, d. h. eine gewisse innere
Beziehung zum R^^nten, die auf die Assoziation nicht ohne Einfluss ist.
6. Die femliegende .Assoziation beansprucht eine längere Dauer, wenn
es sich um Reaktionen auf ein und dasselbe Reizwort oder wenigstens auf
die nrimüehe Gruppe von Reizwörtern handelt, daficfjen eine uin so kür/ire
auf Grund der W rtraulhcit mit den Reizwörtern bei qualitativ verschiedenen
Gruppen, je mehr da> Reizwort infolge seiner subjektiven Qualität zu fem-
liegenden A. führt.
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224
Btrichu und Aspreoktingm,
7. Neben den genannten beiden Faktoren ist auch die Ucbung von Ein-
fluss auf die Dauer der A.
8. Je weniger vertraut das Reizwort war, um so grösser war der ver-
kürzende Einflus» der Uebung.
9. Ein weiterer Einfloss der Uebung bestand in einer Verbesserung der
Qualität der A
10. Die Fixation einer einmaligen A. zeigte sich nur ausnahmsweise in
auftällifirer Wci^e
11. Je hoher die subjektive Qualität des Reizwortes stand, desto geringer
erwies sich die Fixation.
12. Diese hängt viel mehr von den zeitlichen Zwischenräumen ab als von
der Zahl der Wiederholungen.
Wie ersiclrtlich, gewiss eine stattliche Reihe von bemerkenswerten Re-
sultaten! Leider aber müssen diese in mehrfacher Hinsicht angefochten
werden.
Zunächst erweisen sich die Voraussetzungen Wr.'s zur Qualitätsbe-
stimroung der A. als falsch. Er nimmt als sicher an, dass das Reizwort die
in ihm fixierten Vorstellungen in seiner Versuchsper.son auslöst; denn ohne
diese Annahme wäre die Gruppierung des Reizmaterials nach sinnesphjsio-
Jogischen Gebieten von \T)rnlKrcin wertlos. Nun haben aber neuere Untcr-
stichunpen, 7. B. von Marbt. ergeben, dass diese Vorau«;set7ung durchaii«; irrig
isl. mithin innss attoh die Anordnung der Reizwörter in obiger Weise als
verfehlt bctrachici werden. Zwar macht schon Sommer (a. a. O. S. 338)
gegenüber Ziehen einen ähnlichen Einwand; allein er wird dadurch nicht
verhindert, selbst die von Wr. beibehaltene Gruppierung zu geben.
Weiter hat Wr. im grossen und ganzen zur qualitativen Wertung seiner
gewonnenen A. ausser diesen selbst jijnr kein rnvcrlassiges Ililfsniittel : denn
seine Patientin kann er kaum /u Rate ziehen, und er tbut dies auch witnder-
seltcn. Wie kann er dann aber auch nur mit einiger Sicherheit inhaltliche und
äussere A., ganz abgesehen von den feinen Unterschieden, die er diat*
sächlich macht, bestimmen? Wie andernorts schon nachgewiesen, kann eine
qualitative Einordnung nur durch allergenauestie Selbstbeobachtung der
Vcrsuchsi)erson während des Assoziationsvorganges erfolgen. Zwar will
Wr.. eine Nt>neintcilung der .A... als r. Zt. aus^icbts- und daher wertlos, ver-
meiden: soicni er aber die TcrminoloKic Ziehens, Aschaffenburgs und anderer
acccptiert, bringt er thatsächlich doch eine neue Einteilung der A., und
diese muss. als aus heterogenen Bestandteilen aufgebaut, Abweisung finden.
Einige Beispiele mögen die Anfechtbarkeit der qualitativen Analyse Wr.
zeigen. Schw r Tinte, weiss Sehnec. grün-Gras (S. 253) sind ihm Objekt-
,T>s.iziat!or<*n (iewiss liegt du sc Restimmung nahe, wer aber kann ver-
btimen. (la^-; hier wtrklieli inhaltliche Beziehungen bestehen und nicht
vieilciclit bloss A. verbaler Natur (nach Ziehen» vorliegen? Blau-Papier
kann auch durch einen Sinneseindruck vermittelt sein; denn die Versuchs-
person hatte vor sich eine blaue Mappe liegen. S. 276 wird sauer^Milch als
totalisierende Objektassoziation und S. 288 T.unge-Leber als homosensorielle
A. (möglicherweise auch Klangasso^iation» erklärt. Näher aber liegt i"
beiden Fallen der Ciedanke an äussere A.: denn ..saure Milch" ist ebenso
wie „Lunge und Leber" eine dem Volke .sehr geläufige Vorstellung, und
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225
zumal „Lunge und Leber" wird in Volkskreisen ausschliesslich im Sinne der
A?chaffcnburg'schen spracliliclicii Reminiszenz gebraucht: denn häufig hört
man sagen, jemand huste, dass man glaube. Lunpc und Leber gingen mit
heraus. Hier liegt oitenbar eine uralte Alliteration vor.
Diese Beispiele, die sich sehr vermehren Hessen, sprechen doch für die
tinxttreichende Begründung der unter 1 und 2 aufgeführten Behaiq»ttmg«ft
über die Qualität der A. Bei anderer Betrachtung wurden sich wohl andere
Resultate ergeben. Ebenso müsste Punkt 9 über Verbesserung der Qualität
einer Rcvi'^ion unterzogen werden. Wie übrigens eine Qualitätsbe';'?en3ng
vorliegen soll, wenn die Assoziation Kopf-Schmerzen am letzten Versuchs-
tage eine Aenderung in Kopf-Kopfweh erfährt (S. 289), ist nicht einzusehen.
In den A. der Idiotin kommt die Qualität der Reizworter schwerlich
vem Aosdmdce, sondern wohl musschltesslich der Grad der Vertrautheit
mit den einzelnen Wörtern. Man kann also aus den vorliegenden A. auch
nicht ..auf das Verhalten de^ Srhnarli'^inns zu den verschiedenen Stufen des
menschlichen Intellekts" Schlüssen, umsoweniper. als Wr. Versuche mit
NorniaUinnigen zum Vergleiche nicht anstellte und die normalen Versuchs-
personen Sommers a. a. O. S. 346 f. nicht dem Lebenskreise der Patientin,
sondern akademischen Kreisen angehörten und auch nicht mit der Wieder-
holungsmethode, sondern nur an demselben Reizmaterial untersucht wurden.
Ganz eijjrentüinlich berührt es, zu sehen, was für A. Wr. als Klang- und
als mittelbare A. aui'führt. Nach Sommers Vorgang a. a. O. S. ^87 rechnet
er zu den erstercn auch solche Fälle, wo nur einige Laute mehrerer Wörter
übereinstimmen. Wie man aber dazu kommen kann, für die A. Treppe- ^
putzen. Haus-hoch (S. 292|, Lunge-Leber (S. 288), die Ktangähnlichkeit
in Anspruch zu nehmen, und Bürger- Wurzel fS. 307) direkt als Klang-
assoziaticm zu bezeichnen, erscheint unergründlich.
Glatt-weich (Patientin .sagt: Papier ist weich. S. Jo-jI, Spiegel-.schön (Be-
gründung: Spiegel glänzt schön, S. 291), Hass-heftig (Mittelglied hastig,
S. 317), Bauer- die Mauer wird gebaut (Mittelglied bauen. S. 305) werden als
mittelbare A. angegeben, ein Missbrauch dieses Begriffes, der geradezu jede
A. als mittelbar zu benennen erlaubt.
Endlich hat Verfasser verhängnisvolle Fehler bei Ermittelung der Wieder-
holunjf^chancen zwecks Feststellung etwaiger Fixation der A. bei der
Wiederholungsmethode begangen. Qualität und Dauer sollen fibcr diese
Frapre Anfschhiss geben. „Dort berechneten wir die durchschnittliche Aluahl
der verschiedenen Reaktionen aut ein Reizwort und bezogen sie der Ver-
gleichbarkeit wegen stets aut 100 Falle, um so die Chancen zu erhalten,
welche eine jede einmalige A., hat, unter 100 Wiederholungen desselben
R ei;' Wortes wiederzukehren." (S. 248.) Demnach dürfte sich beispielsweise
die Sache so gestalten:
8 Reizwörter an 8 Tagen gebraucht = 64 A.
Darunter sind 30 (in Wirklichkeit 31) verschiedene, unter I0(» Nennungen
der Reizwörter also
30 . 100 15 . 100
— = = 1500 : 32 = 47 verschiedene A,,
t>4 32
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226
Berichte und Besprechungen,
mithin V? gltiche, folglich Wiederholungschancfn 53% Was aber ergibt
Mch bei \\ r Ganze 27% (S. .?>lt. Nach langem Suchen fand sich auch
hicTiur der Sclilussel. Wr. berechnete:
Die 30 verschiedenen A. komn: ii auf 8 Reizwörter,
100 verschiedene A. „ ., 1 „
8 . lOU 8 . 10
= = 80:3 = 27 V..
30 3
Ein Grund für diese Berechnung lässt sich nicht ersehen, aber durch
ergibt ^\ch das S. --A angegebene Resultat. Eine Nachprüfunp ?;ämt-
licher Berechnungen Wr.'s über die Wiederholungschancen nach eben ange-
führtem Muster lieferte 19 Uebereinstimmungen und nur 6 Abwetchnngen
— eine Berechnung wurde als überflüssig unterlassen (Aesthet Gefuhiel.
Diese Zahlen sprechen doch gewiss dafür, dass die Berechnungen that-
s:uhh"oh in dicker merkwürdij^rn Weise angr<;tel!t wurden. Nach vorliegender
Au!\'.ilK- mu---tc' bestunmt werden, wie oft eine A. Au--icht hnt ..unter ]<>0
Wiederholungen desselben Reizwortes wiederzukehren." In der Losung aber
werden die Reaktionen, nicht die Reizwörter, auf 100 Fälle bezogen» mithin
das gerade Gegenteil vom Beabsichtigten vollführt. Daneben werden auch
noch statt der gleichen die verschiedenen A. berücksichtigt. Mithin müssten
unter Vnrnussctzung der richtigen Bestimmung des Prozentsatzes 27 */•
nicht als Chancen für die Wiederkehr, sondern für die Nichtwiederkehr gelten,
für jene also 73 7«, was nach vorstdienden Darlegungen ja auch ntdit richtig
sein kann. Auf die 2 Reizwörter unter „Aesthetische Gefühle" erfolgten auf
je 8 Nennungen je 8 gleiche Reaktionen, ein Ergebnis, das Wr. mit 100 V«
Chancen der Wici-iirkr-hr angiebt. Nach seinem Verfahren wäre aber die
(liesliczupliclu- BereciiiiunK geradezu unmöglich, da ja die 2 Reizwörter
überhaupt keine verschiedenen Reaktionen ergaben.
Die zur Entscheidung der Frage nach der Fixation gewonnenen Zahlen
sind demnach wertlos, ja sie zwingen zu ganz falschen Folgerungen.
Um die Dauer der A. der Lösung der aufgeworfenen Frage dienstbar
7U machen, wurden die einzelnen Gruppen bei der Betrachtung zeitlich
halbiert, die durchschnittliche Dauer der Wiederholungen in beiden Hälften,
beispielsweise in je 4 Tagen, berechnet und Dvv. II von Dw I subtrahiert
War die positive Differenz ziemlich beträchtlich, so musste in der Regel
auf das Vorhandensein einer Fixation geschlossen werden, wofür dann auch
die WicderholunKSchanccn zeugten. Ein richtiges Bild konnte nur durch
Zusainmetihalten beider Ergebnis.se entstehen, und darum ist es doppelt Ije-
dauerlich, dass die Berechnungen crstcrcr Art prinzipiell verfehlt sind und die
zweiter Art anscheinend Rechenfehler zeigen, wenigstens stimmt gleich das
erste betreffende Resultat nicht.
Als verunglückt muss zum Sdilnsse noch der Gedanke bezeichnet werden,
in einem Falle von Idiotie das Problem der Fixation infolge der Wieder»
holungsmethode lösen zu wollen. (Gedächtnis!)
Trotz dieser bedeutenden Fehler, welche die gefundenen l£rgel)iiisse «e-
wahig beeinträchtigen oder gar in Frage stellen, mus» die von Wr. in den
Vordergrund gerückte Frage nadi dem Masse von geistiger Arbeit bei den
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BeritkU und Jiesprcckungen.
227
Assoziationen und nach dem Grade etwaiger Fixation als sehr wertvoll
anerkannt werden. Auch lässt sich nicht verhehlen, dass nach der
methodologiächen Seite die Studie einen schönen Schritt vorwärts bedeutet.
Wfirzburg. Job. Orth.
H. K r o c 1 1 : Der Auibau der menschliclien Seele. Eine psychologische
Skizze. Leipzig, W. Engelmann. 1900. 8*. 398 S.
Angeregt durch den Kampf der Geister auf dem Psychotogenkongrease
vom Jahre 189G in München hat der Verfasser, Sanitätsrat in Strassburg i. E.,
in der vorlicf^endcn Ski/.zc- sriiu-, .uif der Büchner-Hacckel'schen Welt-
auffassuiiK basierenden AnscliauuiiKen inbetrefF der menschliclien Seele
niedergclegL Nach einer Reihe kurzer, aber sehr ubersichtlich und anschau-
lich gehäkelter anatomischer und physiologischer Vorbemerkungen bespricht
der Verfasser zunächst die Reflexcentren in der Hirnrinde und die zeittiche
Entwidcelung der Reilexe, in der Annahme, dass alle Lebensvorgänge, auch
alle psychischen ErschciriunRcn, auf Reflexe zurückzuführen sind. Das
folgende Kapitel behandelt das Wc«?en und den Wert der Sinnesbilder, wobei
hervorgehoben wird, dass die Dinge praeexistieren und dass die Sinnesorgane
und das Gehirn sich unter ihrem Einflüsse gebildet haben. Der Ausbau der
Bewusstseinsneurone und die übersichtliche Darstellung ihrer Energie bildet
den Inhalt des VIL Kapitels. Hier wird das Wesen des Bewusstseins er-
läutert, das nach dem Verfasser ebenso wie das Gedächtnis an bestimmte
N<-Tirf>ne sTeknüpft ist und sich allni.iliiich. der Markreife der Nervenfasern
entspffciiend. entwickelt. D\>- ( iedaclitnisljilder «ind nacli ilmi Spannkraite,
die in den Ganglien der liirnrmde auigespeicheri aiiid, der Wille ist das
Produkt der Arbeit des Intellekts und des Gefühls. Denken, Ffihlen tmd
Wollen beruhen demnach auf anatomisch gesonderten Neurongruppen. Warum
auch nicht! Sodann wird die Entwickelung der Sprache dargdegt und die
Hirnrindencentren. die 7\\ ihrem Zu^standckomnicn zusammenwirken müssen,
aufgeführt. Nach ernipren I'emcrkuiiLjt ii ulxr das Unbewu-^stc und den Traum,
der durch Abwesenheit des „urteilenden Bewusstseins' entsteht, folgt die Be-
sprechung der Entwidcelung der Dmkbarkeit, t. e. der Vorgänge in den
Bewusstseinsneuronen. Der Abwechslung halber werden die verschiedenen
Faktoren, die am Zustandekommen des Intellekts erforderlich sind, als da
sind: Sinneswahrnchmung, Gedächtnis- und Vorstellnn^^sthätiKkeit nicht
nebeneinander, sondern über einander in den verschiedenen Schichten der
Hirnrinde lokalisiert. Die Schwierigkeiten der Bcgrittsbildung werden sehr
anschaulich geschildert und auf die mannigfachen Fehlerquellen des begriff"
liehen Denkens so eindringlich hingewiesen, dass man sich versucht fühlt,
die gewonnenen Einsichten zur Prüfung der in der vorliegenden Abhandlung
aufgestellten Behauptungen anzuwenden. Mit einem kühnen Sprun^^e schlie^'^en
sich an diese Darlecrnng: ziemlich unvermittelt einige Gedanken iiber lir-
ziehnnj? tuul üiier humanistische und realistische Schulung an. Das eliie
Kapitel behandelt die Vorgänge in den Gefühlsncuronen. Die Entstdiung
der Lust- und Unlustgefuhle wird zurückgeführt auf den Kraftekreislauf.
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228
BerkhU und Bttpretktmgtn.
welcher von der Muskulatur au?;gcht. Die tcleotoiri^che Auffassung der Ge-
fühle wird hier, wie auch prinzipiell an anderen Stellen, abgelehnt. Die
Idee wird definiert als „ein zum Angenehmen verklärtes, auf eine höhere Stuic
gestelltes VorsteUungs- oder Gedankealnld". Bei der Attseimmdersetzung
der Idee des Schönen, ebenso wie bei der Schilderung der Etitstehang des
religiösen Gefühles haben wir Gelegenheit, die reichen und vielseitigen Kennt-
nisse des Verfas<:ers auf th'esen Gebieten zu bewundern. Im XII. Kapitel
werden die Vorgantre in <ien Willensneuronen näher ausgeführt und, wie m
der ganzen Abhandlung« ohne jeden Beweis die Behauptung notiert: die
Willensneurone sind die Gedächtntsneurone ffir das Ichbewusstsein. Das
ethische Wollen beruht nach dem Verfasser auf einer durch Lust- und Unlust-
gef^le hervorgerufenen, vom Ichbewusstsein ausgehenden, psychischen Selbst*
Steuerung, die hauptsächlich durcli s<^ziale Hemmungen nümählich auf eine
höhere Stufe gestellt wird. Die Freiheit des Willens beruht — merkwürdig
genug für den materialistischen Standpunkt des Verfassers — aui der Fähigkeit
des geordneten Denkens. Das y<Mr1etzte Kapitel behandelt die Stdrucgen im
Aufbau und die Vorgänge beim Abbau der Seele. Hier werden u. a. die
Probleme der Psychiatrie, ebenso wie die Rätsel des Hypnotismus im Hand-
umdrehen gelöst. Die Tierseele bildet den Gegenstand des Schlusskapitels.
In einein Rückblicke wird die rastlose Bewegung des ..Kraftstoffes" noch
einmal als Urquell alles äusseren, wie seelischen Geschehens dekretiert.
Zur Kritik der Arbeit seien wenige Worte gestattet. Auf dem Gebiete
der Naturwissenschaften, ebenso wie auf dem Gebiete der Kultur- und Kunst-
geschichte sind die gediegenen Kenntnisse des Verfassers durcliaus anzuer-
kennen. In der Psychologie und Philosophie dagegen verhält er sich wie
ein Laie, der ohne Kenntnis der einschlägigen Forscbimtren den Problemen
dieser Geisteswissenschaften durchaus fremd gegenübersteht und daher geneigt
ist, über die Schwierigkeiten derselben mit einigen Schlagworten zur Tages-
ordnung überzugehen. Da diese Schlagworte zudem der ebenfalls gänzlich
laienhaften Bfichner-Haeckerschen Afterphilosopbie entnommen sind, so
können wir ims l^ei aller Anerkennung der Einzelkenntntsse des Verfassers
auf vielen Gebieten, sowie der fliessenden Diktion und des glänzenden Stiles,
von dieser Skizze weder einen Vorteil für die Wissenschaft noch eine Be-
lehrung für den fernerstchenden oder einen Gcnuss tur den eingeweihten Leser
versprechen.
Berlin. L. Hirschlaif.
Educational R <■ \ i e w edited by Nichol. Marray Buth, Professor of
Philosophy and Education in Columbia University. Rushway, N. J. and
New-York 1900.
Die Educational Review legt glänzendes Zeugnis ab für den Aufschwung»
den das Erziehungswcsen in den Vereinigten Staaten nimmt. Sie behandelt
die mannigfahigsti ii Fragen, allgemeine philosopliische Auseinandersetzungen,
besonders mit der deutschen philosophischen Pädagogik von Herbart und
Froebel, besondere Fragen der Organisation des Unterrichtes in Amerika,
Darlegungen des Standes der Erziehung in anderen Landern, in erster Linie
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Ar&kte und Be^wwdkungm.
229
in Dentsdlland, aber auch in Frankreich, England und Italien, methodische
Fragen jeder Art. Bücherbc-sprcchungcn iind Biblioprraphiecn.
Die Aufsat/e sind diirclr\vfg gediegen und lehrreich. Sie zeigen, wie das
amerikanische Erziehungswesen der Ausdruck einer besonderen sittlichen
und geistigen Kultur ist, die sich in Anlehnung an die deutsche, aber doch
selbstSndig tmd eigenartig enwickelt hat. Diese Fragen werden u. a. be>
sprechen in den Aufsätzen von J. Welten (A syntbtsis o( Herbart and Froebel,
Sept. l^<'»rt). Joseph Lee fMünsterberg on the new educationl. Thomas
Davidson (Educatir)n ;is world-building. Nov If'OO», J. W. Howerth (An ethttic
view of higher education). Von den Auisätzen, die das deutsche Schul-
wesen behandeln, sind besonders lesenswert eiiwr von LiMlwig l^reck (Re-
form of secondary education in Germany, Sept. 1900 und der von Eimer
E. Brown (German Higher Schools, Nov. 1900). Die Zeitschrift ist auch für
den deutschen Pädagogen sehr anregend, es geht durch sie ein frischer, jugend-
licher Zug, der wohltlniend ah-^ticht gegen den zu weit gehenden Spezialismus
und die Methodenkunstelei, die bei uns oft zu sehr überwuchern.
Myslowitz 0.*S. • Phil. Aronstein.
Mitteilungen.
Die unerwachsene Bevölkerung Berlins nach der
Volkszählung 1895.
Die kürzlich vom Statistischen Amte der Stadt Berlin ver-
öffentlichten Ergebnisse der am 2. Dezember 1895 in Berlin
veranstalteten Volkszahlung ergab in Bezug auf die unerwach-
sene (unter 15 Jahren) Bevölkerung folgende Resultate:
L
1. Die tmerwadbsene Bevölkerung nach dem Geschlecht und
den einzelnen Lebensjahren gesondert:
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230
JiiiUeäuHgm.
Alter von
?-? Jahren
Mtiml. Geschlecht
1 Weibl. Geschlecht |
Personen
Anzahl
in )
gedrückt
Anzahl
in Ol *
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gedrficict
iTianni.
Oeschl.
mehr
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13 987
144
10-11
13 620
1 14 098
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11—12
13 302
6
13 604
302
12—13
12920
13304
5"/io :
384
13^14
12 800
13473
6
673
14—15
12826
6«/,
13 469
643
Summt
221691
225 187
269
3785
Aus dieser AtifsteHung ersieht man :
1. dass dai weibliche Gcbchlecht zahlreicher als das männ-i
liehe war, es überragte nämlich das männliche um 3496
(3785 — 289) Personen,
2. dassfastin iedeni Lebensjahredasweiblichct lesclilechtüber-
wiegt, nur 111 dem 10., b. und 6. Lebensjahre lUach der Anzahl
abfallend geordnet) wurden 144, 108 und 37 Knaben
mehr gezählt als Mädchen,
3. dass sieh der grössere Ueberschuss an Mädchen in den
höheren Lebensiahren konstatieren Hess, es würden sich
/.. B. die Lebensjalire nach dem Ueberschuss abiaÜend
folgendermassen ordnen :
Lebensjahre .
|14
15 1 11
! 13
3 12U.5! 7
4
1 1 2
1 1
9
Udxrschuss .
|673
643 1 478
384
311 j 802 1 286
187
1 140 i 51
1«
2. Die 1894 und 1895 geborenen Kinder nach Geburtsmona«
ten und Geschlecht.
*) Der Prozentsatz ist hierbei auf die Summe der Personen des minnlidieti
{ftsp, weiblichen) Geschlechts bezogen.
UIQliI
Mitteäungai.
231
Mannliches üeschlcclu
1 Weibliclics üesdilccht
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1894
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Dezember . .
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•
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So*)
■)
1 •
Aus dieser Tabelle ersieht man, ciass Kinder beider Ge-
schlechter im Jahre 1895 mehr als im Jahre 1894 geboren wur-
den, nur zwei Monate (Januar und Februar) bilden bei den
Knaben eine Ausnahme.
Ordnet man die Monate nach den Geburten abfallend, so
ergiebt sich die Reihenfolge:
Koaben:
1894:
Januar, Dezember, Juli» November^ August, Oktober, Marz,
September, April, Februar, Mai, Juni;
1895:
Oktober, September, November, August, Juli, Mai, Juni,
Januar, März, April, Februar, (Dezember).
Mädchen:
1894:
Dezember, August, Juli, September, Januar, November,Ok*
tober, März, Mai, Februar, Juni, April.
*) Dies sind die Anzahlen der Oeburten nur vom 1. Dezember 189S.
**) Dies sind die Anaüilen der Geburten nur vom 1. Dezember 1894.
232
189«:
Oktober, November, August, September, Juli, März, Mai,
Januar, Juni, April, Februar, (Dezember).
3. Die am 3. bis 31. Dezember geborene Bevölkerung
unter 15 Jahren) nach Geburtsjähren und Geschlecht,
Ocbcrai
2. — 31. De-
zember
Männliches
Oeidikdit
Weibliches
Geschlecht
mehr
minnlidie
a!s
weibliche
mehr
weibliche
ils
männiiche
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1336
1305
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1327
11
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5
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1196
5
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1134
1174
40
1885
1157
1095
62
1884
1100
1151
51
1863
1120
1050
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1882
1079
1110
31
1881
1086
1068
18
1880
1055
1123
1 ~
68
Aus dieser Aufstellung ergiebt sich ein sehr überraschendes
(und originelles) Resultat, nämlich dass in den Jahren mit un*
gerader Jahreszahl in der Zeit voro^ 2, bis 31. .Dezember die
männhchen Geburten zahlreicher sind als die weiblichen, und
demnach entsprechend in den Jahren mit gerader Jahreszahl
die weiblichen Geburten vorherrschen, nur im Jahre 18^4
kamen in dieser Zeit (2. — 31. Dezember) mehr Knaben als
Mädchen zur Welt.
FeniLi kann man aucli ein ständiges Zunehmen der Ge-
burten beiderlei Geschlechts mil den Jahren bemerken,
Tl.
Die unter einjährigen Kinder ruich der Ernährungsweise.
Die Kinder im ersten Lebensjahre nach der Emährungsweiscp
dem Geschlecht und Geburtsmonaten :
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Männl. Geschlecht
Weib!. Geschlecht
Ueberhaupt
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1
50
7*
1132
3557
III.
Blinde, Taubstumme und Geisteskianke.
Die in Bcrlm und die ausst rhalb geborenen Ciebrechlichen
nath dem Geschlecht, Ahers-Jahrfünften (mit Tieiiiiuug der
ersten fünf Geburtsjahre), sowie die ausserhalb geborenen nach
der Zuzugszeil :
Die mit * bezeichneten Zahlen (Ernihningswdse unbckaiuit) tiad in den
bcCreffcudni HiuptaJilcn mit cothalicii.
234
ißttätungien.
I. Blinde.
Zttzugszeit
Männliches Geschiedit
der
ausserhalb
Geborenen
189:^.
' -■-
1S94
^ ■
DO
= D.
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1885]81
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P'
k.
i«
m
c
geborene Bertin er
i 1894
-1 = 1893
O ^ 1892
-£ = 1S')0 fi6
«( unbck.
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1
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1
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überhaupt
gd>orene Berliner
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a S 1891
^ g 1890/86
1 1 1885 81
t* unbek.
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1
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1
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235
2. Taubstumme.
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236
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*) bedettlet: dabei 1 g^iiieskr. und tautet
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237
IV.
Die mit Freiheitsstrafen Belegten nach Zahl dieser Be-
strafungen, dem Geschlecht und den einselnen GebrntsjabroL
AAännliches Ocschledit
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Bestrafte
Straf mündige
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14 543
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15
53671
Berlin. H. du Bois.
Die Schnhreform hat zu einer groescn Zahl von Scdififten
VefanUuMning gegeben, i» 4«n«a TFabdattB* in mmmm Mhenn Sehnl»
wesen erörtert und Vorschläge za dercfi Abhilfe gemacht werden. Die
hygienische Seite — eine der bedeutsamsten und fnlfrrn^rhwcrstcn — i'Jt nicht
genog p'ewürdiKt worden. Vom mediiinischcn Standpunkt unterzieht Dr.
Th. Benda*) die neae Schulreform einer eingehenden Betrachtung. Die Ab-
schaffung des EinjährigenexameiM» das in maiicherlei Hhnicht h6diflt oadi-
*) Im Kletneo Jovrad, No. flk
5*
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238
MUUäungm.
teiltg auf die Entwickdung des jugendtichen Organismus einwirkte, wird
von ihm gebilligt; ebenso erschienen ihm die Mtstnihmen. welche zu einer
zweckmässigeren Stutidenvcrtc-ilung und Verlängerung der Pausen führen,
gerechticrtigt und notwendig.
Dagegen erhebt er seine Stimme gegen die geplante Vermehrung des
Lehrstoffes.
„Da soll das Lateinische wieder um drei Stunden wöchentlich vermehrt,
da ?oM mehr Geschichte. Geoj^raphie und Zeichnen gclrieben werden, da soll
in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie) die praktische Seite mehr ge-
übt werden, da soll vor allem — eine bedeutende Mehrbelastung — von
Untersekunda an eine neue Sprache, das Englische, — obligatorisch werden.
Der Wegfall des französischen Unterrichts von dieser Klasse ab ist durchaus
keine Ausgleichung; die Mühe, eine bereits erlernte Sprache weiter zu be-
treiben, steht tn keinem V'erhiiltnts zu der Mühe, eine neue Sprache 7U er-
lernen. .Auch durch die geplante Vermehrung des TurnunternclUa wird bei
der grossen Arbeitslast keine Entspannung, sondern eine weitere Belastung
herbelgefOhrt werden, da, wie durch Ermfldungamessnngen von faehminnladier
Seite längst festgestellt ist körperliche Anstrengung die geistige Ermüdung
erhöht und nicht, wie man früher glaubte, ihr entgcicrcnarbeitet.
Es ist ja klar, dass alle diese neuen Forderungen durchaus den Be-
dürfnissen des modernen Lebens angepasst sind. Gewiss wäre es wünschens-
wert daas eine Wdtspra^e. wie das Englische, den' ihr gebnhrenden Platz im
Unterrichtsplan einndime; gewiss sind erhöhte Kenntnisse in der Ge-
schichte und besonders der Geographie wichtig für den modernen Menschen:
gewiss wäre es ru wiin-rln-n. wenn Physik und Chtmie gründlicher und
praktischer Retricben wurden, der Wert des Zeichenunterncht"! ist allg^cmcin
anerkannt u. &. w. Weshalb eine Vermehrung des lateinischen Unterrichts
eiatrelen soll, ist für den Laien unverständlich, da ein neunjähriger Unter-
ridit mit wöchentlich 7 bis 6 Stunden exklusive der häuslichen Arbeiten
für jeden Nichtphilnlogen mehr als ausreichend erscheint. Wenn nach
einem so intensiven Studium noch so ungenügende Resultate erzielt werden,
dass man eine Steigerung für nötig hält, so muss der Fehler wo anders liegen.
Bei dieser Erhöhung der Anforderungen ist aber ein Faktor unberüdc-
•khtigt geblieben, der doch die höchste Beachtung verdient nnd bei allen Er>
wägungen über das Büdnngsziel der Schule in erster Reihe stehen sollte. Es
ist die«: die Aufnahmefähigkeit des jugendlichen Gehirns.
Wie der Komponist die Leistungsfähigkeit und Eigenart des Instruments
kennen muss, für das er komponiert, wie vom Künstler und Handwerker
„Materialkenntnis" verlangt wird, so muss der Sdiulmann vor allem die
Leistungsfähigkeit seines Materials kennen. Und diese Leistungs-
fähigkeit ist durch die bisherigen .Anforderungen be-
reits weit über das Mass des Zulässigen hinaus in An-
spruch genommen worde n."
Bcnda streift dabei die Ueberbürdungsfrage ; sie hat 3 Ge»ichtspunkte:
geistige Ueberb&rdung. körperliche Ueberbfirdung und Ueberiadung des
jugendlichen Gemüts mit nervenschädigenden Eindrücken aller Art —
,,Wcnn man nach den Ursachen der Ucberhürdung fragt, "^o muss r'hen
die Unterschauung der Leistungsfähigkeit des Materials als Hauptgrund
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
MüteüuHgen,
239
bezeichnet werden. Thatsächlich liegt das geistige Niveau der grossen Mehr-
heit der Schüler viel zu tief für die heutigen Anforderungen. Dnzti kommt,
dass auf die individuelle Veranlagung keine Rüeksicht genommen wird. Wieviel
Erwachsenen ist es gegeben, von wenigen hervorragenden Geistern abgesclien,
sieb fnr verschiedene Wissensgebiete zu interessieren, geschweige denn darin
etwas an leisten. Von dem Sch&ler der höheren Lehranstalten aber wird ein
gleichmässiges Wissen auf den verschiedensten Gebieten verlangt; ein jeder
muss, ob er dazu befähigt ist, oder nicht, sich an den Schönheiten der Ur-
sprache erfreuen, grammatische Finessen lebender und toter Sprachen
studieren, mathematische Probleme lösen, geschichtlich und philosophisch
denken, naturwissenschaftlich beobachten etc.; er soll eine ungeheure Fülle
von Detailkenntnissen aus den verschiedensten Gebieten in sein Gedächtnis
aufnehmen.
In der Wissen sc Ii aft zeigt sich heutzutage allgemein eine Tendenz zum
Spezialisieren, während es natürlich wünschenswerter wäre, wenn jeder
Einzelne die ganze \Vi.>;senschatl umfassen würde. Es ist dies jedoch
praktisch unmöglich, weil jedes Wissensgebiet eine solche Ausdclniung an-
genommen hat« dass der Einzelne es beim besten Willen nicht n^ir be-
herrschen kann. In der Schule aber soll der Schüler eine grosse Anzahl
von Wissensgebieten umfassen, obgleich auch diese andauernd gewachsen sind
Tind in Zukunft immer weiter wachsen werden. So wird man früher oder
spater an der Grenze des Möglichen angelangt sein. Denn es ist falsch zu
glauben, dass man den Geist bis ins Unendliche anspannen kann, weil seine
Ermüdungserscheinungen nicht so deutlich zu Tage treten, als die des Körpers.
Wenn der ermüdete Geist immer weiter zur Arbeit gezwungen wird, kommt
es zu einer Uebermüdung, und eine solche fuhrt schlieslich zu krank»
haften Zuständen des Nervensystems.
Man sollte nicht vergessen, dass schon jetzt sich unter den Schülern
der höheren Lehranstalten, wie statistisch nachgewiesen, bis zu öOVo erblich
Belastete, also in der Widerstandsfähigkeit ihres Nervensystems Geschwächte,
befinden. Von der anderen Hälfte der Schüler wird ein gewisser Teil durdi
die Arbeitslast^ durch die fortwährenden Erregungen, wie sie die Schulzeit
besonders für die wenig Begabten und nicht mit dem nötigen Phlegma Aus-
gestatteten mit sich bringt, ebenfalls in seiner Nervenkraft geschwächt.
Diese« Fiwas nervös sein"' sollte aber krin sv. .'gs. wie es hcut/ntagc üblich
ist, leicht genommen werden. Kann auch unter günstigen Umstanden das In-
dividuum vor schweren Nerveostörungen bewahrt bleiben, so leidet es dodi
meistens lebenslang an neurasUienischen Beschwerden, die wohl geeignet
sind, das Lebensglück zu zerstören; was aber noch viel schlimmer ist, die
Nachkommenschaft des Betreffenden wird bereits erblich belastet, d. h. in der
Widerstandskraft geschwächt, geboren.
So sehen wir auf der einen Seite die Anforderungen stetig wachsen, auf
der anderen Seite die Nervenkraft stetig abnehmen. Wohin soll das führent
Im friedlichen Wettstreit der civilisierten Nationen wird schliesslidi diejenige
Nation den Sieg davontragen, die ihre Kraft und Gesundheit am besten be-
wahrt hat und als köstlichstes Gut ihrer Nachkommenschaft hinterlässt. Bilden
die Schüler der höheren Lehranstalten auch nur einen geringen Bruchteil des
Volkes, so sollen sie doch dereinst dessen Führer sein; ihre geistige und
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240
Mttttiiimgm.
körperliche IntaWthrit ist daher inr das ganze Volk vun Bciicutung, Ist Eng-
land etwa in der Kultur zurück, obgleich seine Kinder so viel weniger lernen
und so vid mehr Zeit für Spiet und Sport verwendeilt
Dm Hauptsiel der Schule musste die Anregung <ks Wiaienattiebes eehi,
während heutzutage durch das übermässige Einpfropfen der Wissensdrang
oft geradezu erstickt wird und der Srhnlrr froh ist, wenn er nach dem
Abiturientenexamen die verhasstcn Bücher, die Werkzeuge seiner Plage für
immer bei Seite werfen kann. Der Wissensdtirstige kann ja im späteren Leben
SO ttneoditdi viel an positivem Wissen erwerben« wahrend bei mangehMlem
Inietasse diese so mühsam und oft mit Daransetzung der Gesundheit er*
worbenen Kenntnisse bald fast gänzhch vergessen sind. Die Schule müsste
sich als Prinzip setzen ,,nil nocere", vor allem nicht schaden. Und dieses
Schadigen tritt bereits viel früher ein, als man nach den heutigen Begriffen
von Udierbfirdung ansttntbmen pflegt.
Der Begriff der Ueberbürdung wird au eng gefasst. Eine soldie ist
bereits vorhanden, wo dem Schüler der Genuas des Lebens verkümmert wird«
auf da«; die Jugend ein mindestens "^o grosses Anrecht hat. als irgend ein anderes
Leben&alter. Heutzutage wird es als „Luxus" angesehen, wenn die Kinder
freie Zeit haben, die sie ja doch nur zum „Unfugmachen" benutzen, während
doch diese freie Zeit für ihre normale körperliche und geistige Entwickduag
so unbedingt nötig ist.
Gegenwärtig liegen die Dinge so. dass man dem Kinde nicht Zeit gönnt,
sich auszuschlafen, in Ruhe zu essen, ja nicht einmal seines Leibes Notdurft
zu verrichten. (Siehe Schulanfang um 7 Uhr.) Non scholae, sed vitae discimus,
lernt jeder Gymnasiast Heutatrtage aber scheint es iast, als ob die Sduile
Selbstzwecfc und nicht eine Vorbereitung für das Leben wäre, das doch
neben der „allgemeinen Bildung" in erster Linie einen kräftigen, widerstands-
fähigen Kf<ri)(T und einen frischen, klaren Kopf verlangt.
Eine Herabnimderung der Forderungen thut vor allem not. Eine solche
konnte aber leicht dadurch herbeigeführt werden, dass nun wirklich, wie in
dem Erlass angeordnet wird, multum statt des bisher üblichen multa gekhft
wird. Eine gründliche Entlastung der oberen Klassen, die deren am meisten
bedürfen, würde jedoch erst dadurch er/ielt werden, da"NS man dieselben
in eine Zwischenstufe zwischen Schule und Universität umwandelte, und zwar
dergestalt, dass nach Abschluss der allgemeinen Vorbildung mit zwei Sprachen,
die jeder Art von hdhwer Lehranstalt geradnsara wäre, die Vorbereitung für
das erwählte Fachstudium anfinge."
Im weiteren weist Verfasser noch darauf hin, dass eine Verkleinerung
der Klassen, welche jetzt durr-li chnittlich .tus ."»O—r,!) Schülern bestehen,
wesentliche Vorteile in hygienischer Be/.iehung zur Folge haben wurden.
Auch wäre es zweckmässig, wie schon Eulenburg*) bemerkte, wenn der
Schule ein Redit zustände, körpertidi oder gdstig Unfähige vom Unter^
rieht gänzlich aussnschliessen.
Zum Schlttss fordert Beoda ^mehr Licht und mehr Freiheit" für unsere
Jugend.
Berlin. H. Koch.
*} Eulenburg, Die Scfauläberbfirdung vom nervenarsUichen Standpunkt
Ztschr. f. Pädag. Psyeh. u. Pathologie L Heft 4.
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MitUtiungttt,
241
Mitglieder des Deutschen Vereins fiir Schulgesundheits-
pfiege haben in Berlin folgenden Aufruf eriassen:
Die geddhlicbe tmd glfickliche Entwickdttog unseres Volkes ist an die
gesunde Gestaltung unserer Jugend gelcnfipft. Daram haben alle auf die
Hebung des Volkswohles gerichteten Bestrebungen bei der Jugend den Hebel
anzusetzen. Die häusliche Erziehung der Kinder gesundhettsgcm^ss m ge-
stalten, wird vielfach durch die sozialen Verhältnisse verhindert; Einfluss
auf dieselbe kann nur in beschränktestem Masse geübt werden. Anders dort,
WO, wie in der Sehule, tinter der Einwirkung des staaüidten Zwanges, Ge-
meinde und Staat die Kinderwelt wenigstens in einem bestimmten Zeitmaise
in ihre. Obhnt ndimen. Hier kann es gelingen, durch zwedcmiisige Ein-
nchtiin(i<>n tmd «orcr<=amf T bcrwachung Nachteilen vorzubeugen und ent-
standene Schaden zu beseitigen.
Theoretisch sind die Grundlagen der Schulgesundheitspflege durch die
Mitarbeiterschaft hervorragender Kräfte aus allen Beruiskrcisen, insbesondere
aus denen der Aente und Lehrer, festgestellL Ihre praktische DurchHUirung
steht indes noch weit aus. Noch sind trotz der vidfaehsten Bemühungen
die äusseren Einrichtungen der Schulen recht sehr verbesserungsbedürftig;
Bauart, Beleuchtung, Heizung, Lüftung, Reinhaltung der Schulen, Be-
schaffung normaler Subsellien sind noch nicht in wünschenswerter Weise
gefördert; aber auch die Schulpläne und die Ausgestaltung des Unterrichts
harren selbst in dem Rahmen der gesetzlichen Vorschriften der Verbesserung;
vor allem harrt die so wichtige Frage der gelegen Ueberbfirdung unserer
Schttlittgend der endgittigen Losung. Auch die ärztliche Ueberwacbung der
Schule ist erst eben in Angriff genommen. Haben in früherer Zeit nur
einzelne hervorragende Männer auf allen diesen Gebieten gearbeitet und ihre
Stimme erschallen lassen, so wenden jetzt immer weitere Kreise den ver-
bessernden Bestrebungen ihr Augenmerk zu. Was uiis liierbei fehlt, ist die
Centralisation dieser Bestrebungen, um durch dieselbe den sich ergebenden
Forderungen der Schulgesnndheitspflege nachdrücklidist Geltung zu ver-
schaffen und dieselben endgiltig zur Erffillung zu bringen.
Einen solchen Centralpunkt soll für Berlin der neu zu begründende
Verein für Schulgcsundhcitspflege schafiFen. Ein Erfolg ist
umso mehr zu erhoffen, als dieser Verein trotz der Selbständigkeit, die die
Eigenart der Berliner Verhältnisse verlangt, nicht isoliert steht, sondern
innerhalb des Verbandes des „Allgemeinen Deutschen Vereins für Schul-
gesundhdtspAege" wirken wird und auf diese Weise ein gemeinsames Vor-
gehen aller Gleichgesinnten in ganz Deutschland gewihrleistet ist
Wir ridlten an alle, denen das Wohl des heranwachsenden Geschlechts
am Herzen lieget, die Interesse an der gesundheitlichen Reform der Schule
nehmen, die Bitte, sich uns anzuschliessen und jeder in seinem Kreise für
die gute Sache zu wirken.
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242
Die Mitteilung der „Nat.-Zig." über die Zulassung der
O b c r r eals ch ul - A b i t u r i en t e n zum Studium der
Medizin war von einigen Provinzblättem in Zweifel gezogen
worden.
§ 5 des unter dem 14. Dezember v. J. vom Grafen Posadowsl^ vorse«
legten Entwurfes, eine Bekanntmachang über die Approbation als Atzt, be-
sagte nämlich ;
„Der Meldung (um Zulassung zur ärztlichen Vorprüfung) bind in Ur-
schrift beizufügen: 1. Das Zeugnis der Reife von einem deutschen
humanistischen Gymnasinm oder von einem deutschen Realgymnasium, bei dem
nach Befinden des Bundesrates für das Lateinische durch Stundenplan und
Unterrichlsbctrieb die Erreichung des Lehrzielcs eines deutschen humanisti-
»-chen Gymnasiums gesichert ist. Das Reifezeugnis eines sonstigen deutschen
Kealgymnasinniä uder emer deutschen Oberrealschule bedarf der Ergänzung
durch Abkgung einer besonderen Reifeprüfung im Lateinischen an einer der
vorgedachten Anstalten."
Dagegen lautet der diesem er t [ rechende f 6 der vom Bandesrat be-
schlossenen Bekanntmachung folgetidcrmassen:
,,Der Meldung ist beizufügen das Zeugnis der Reife von einem deutschen
humanistischen Gymnasium uder vun emem deutschen Realgymnasium ~
Das Zeugnis der Reife von einem humanistischen Gymnasium oder Real-
gymnasium ausserhalb des Deutschen Reiches darf nur ausnahmsweise als
genügend erachtet werden (§ 05).
Diese scheinbare Streichung der Ergänzungprüfung für Oberrealschul-*
Abiturienten wird nun in der „Kreuzztg." erklärt.
Nach den Beschlüssen des Bundesrats handdt es sich lediglich um das
Zeugnis der Reife von einem humanistischen Gymnasium oder von einem
deutschen Realgymnasium. Ein solches erwirbt in Preussen auch derjenige
Oberrealschulabiturient, der sich an einem nvmna';ium oder an einem Real-
gymnasium der vorgeschriebenen Ergänzungspruiung unterzogen hat. Diese
erstreckt sich nach der preussischen Prüfungsordnung an den Realgymnasien
nnr auf das Lateinische; wer sie hesteht, hat die mit den Reifezeugnissen
der Realgymnasien verbundenen Berechtigungen erwwben, das ihm er-
teilte Zeugnis ist ein an einem Realgymnasium erworbenes, in jeder Be-
zicb'jnp vollwertiges Reifezeugnis.
Anders läge die Sache, wenn in dem Beschlüsse des Bundesrats auch
der Nachweis der Teilnahme am Unterrichte eines Gymnasiums oder eines
Realgymnasiums gefordert wurde. Davon hat aber bisher nidits verlautet
Uebrigens ha^ wie wir mit Bestimmtheit versichmt zu können gianbea,
der Bundesrat in seinen Beschlüssen ausdrücklich mit der Möglichkeit ge-
rechnet, dass ein von einer Oberreal 'schule erworbenes Reifezeugnis in Ver-
bindung mit dem Zeugnisse über das Bestehen einer Ergänzungsprüfung als
dem Reifezeugnis eines Realgymnasiums gleichwertig betrachtet wird. In der
von ihn beschlosseoen Bekanntmachung befindet stdi nimltdi andi eine
BcMifflmtmg des Inhalts, dass denjenigen, die vor Ablegung der Reifeprüfung
an einem Gymnaaiam oder Realgymnasinra das Zeugnis der Reife an einer
MüUüungen,
243
latcmlosen Voüanstalt erworben haben, die unmutelbar nach dieser ersten
Prutung bis zur Erwerbung des Reitezeugnisses an einer lateintreibenden
Vollanstalt auf das Universitätsstiidium verwandte Zeit gans oder xitm Teil
auf die für die Zulassung zur ärztlichen Prüfung verbindliche fünfjährige
Studienzeit angerechnet werden kann.
Wie die „Nat-Ztg." hinzufügt, bedeutet diese Aenderung eine Er-
leichterung für die Obcrrealschul-Abiturienten. Mit der Ergänzungsprüfung
waren die Oberrealschul-Abiturienten bisher lediglich auf die Gymnasien ange-
wiesen, so dass sie also im Lateinischen und Griechischen die Reife eines
Gymnasial-Abitunenten nachzuweisen halten. Jetzt aber, da das Reiiezeugnis
der Realgymnasien ebenfalls zum Studium der Medizin berechtigt, genügt es,
wenn die Oberrealschul-Abiturienten die Ergänznngsprufung für Real«
gymnasien, also nur im Lateinischen ablegen.
Gegenüber einer neuerdings aufgetauchten Ansicht, dass die neuen Lehr-
pläne für die höheren Schulen noch nicht erschienen seien, und die Reform
des höheren Schulwesens zu langsam betrieben werde, machen die ..Berl. Pol.
Nachr." darauf aufmerksam, dass über die Einführung der neuen Lehrpläne
der höheren Schulen bereits unter dem 3. April d. J. der nachstehende Erlass
des Kultusministers ergangen ist:
„Im Verfolg des Erlasses vom 4. IJezeinber v, J. be«;tirnme ich hiermit,
dass die dem königlichen Provinzial-Schulkolltgmin im Eniwuri zugefertigten
neuen Lehrpläne der höheren Schuten mit Beginn des bevorstehenden Sommer-
halbjahres in Kraft treten. Das Königliche Provinzial-SchulkoUeginm hat
dteserhalb ungesäumt das Erforderliche zu veranlassen.
Soweit durch die Einführung der neuen Lehrpläne Mehrkosten ent-
stehen, sind diese bei den Staatsanstalten für die Dauer der laufenden Etats-
periode thunlichst aus Anstaltsmitteln zu bestreiten. Es wird dies voraus-
sichtlich um ?n eher anhängig sein, als es sich im allgemeinen nur i:m Deckung
weniger L' nterrichtsstunden handelt; event. wurden andere minder dringende
Ausgaben einstweilen zurückzustellen sein. Glaubt das Königliche Provinzial-
Schnlkollegittm gjeidiwohl Im ehuelnen Falle der Udierweismig von Mitteln
aus CentraUonds nicht entraten zu können, so ist das Bedürfnis hierzu für die
betreffende Anstalt unter Beifügung der für die Etatsentwurfe vorgeschriebenen
Berechnung des Bedarfs an Lehrkräften näher darzuthun. Das Gleiche gilt
iür die unter Staatsverwaltung stehenden nichtstaatlichen Anstalten sowie
ferner bezüglich der vom Staate und von anderen gemeinschaftlich zu unter-
haltenden Anstalten. Reichen bei sonstigen nichtstaatlichen Anstalten die
Anstaltsmittel zur Bestreitung des Mehraufwands nicht aus, so sind in erster
Linie die Unterhaltongspflichtigen zur Aufbringung des Fehlbetrages anzu>
halten.« Die Geirährung von Beihülfen aus Staatsfonds würde erst dann in
Frage kommen können, nachdem seitens des zuständifren Herrn Regierungs-
Präsidenten die bestimmte Erklärung abgegeben worden ist, dass die be-
treffende Gemeinde zur Uebernahme neuer Leistungen für den vorliegenden
Zweck nicht imstande ist.
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244
MUUüuHgen.
Etwaige hiernach zu stellende Anträge wegen Bewilligung neuer Zuschüsse
aas Centralfoods sind mir mittels Sammelberichts — getrennt für staatiiche
und nicht staatliche Anstalten — bis zum 1. August d. J. stt unterbreiten."
Dem Erlasse sind tabellarische Zusammenstelltingen der neuen Lehrpläne
beigefügt
Die Provinztalschulkollegien sind vom rnterrichtsminister davor hc-
nachrichtigt worden, dass sie die in der Rundverfügung vom 13. April 18i)9
vorgesehene Ermässigung der PHichtstundenzahl auf 22 Stunden wöchentlich
forbm auch zu Gunsten derjenigen Oberlehrer mit einem Besoldungsdienstalter
von nur 18H und mehr Jahren eintreten lassen können 'welchen die feste Zulage
nicht gezahlt wird.
Der Kultusminister hat in einer Rundverfügung an die königl. Re-
gierunpen die Au'^hildung der Seminaristen imd der Volksschullehrer zur
freiwilligen Krankenptlege im Kriege angeregt. In den Provinzen Ostpreussen
und Schleswig- Holstein ist aui diesem Gebiet bereits Erspries^liches ge-
leistet worden; es haben sich daselbst die Kreisverbände der Genossenschaft
behufs Ausbibldnng der Lehrer zu freiwilligen Krankenpflegern im Kriege
unter Zustimmung und Begünstigung seitens der Regierungen mit den Volks-
schullehreren unmittelbar und auch mit den Lehrerinnen in V^crbindung setzen
können. Ein gleiches Zusammengehen würde sich auch für die übrigen
Regierungsbezirice empfehlen. An allen Lehrerseminaren der Provit» Ost-
preussen ist ein jähriicher Vorbereitungskursus ffir die freiwillige Kranken-
pflege eingerichtet. An denjenigen Seminaren, an welchen bereits «ne Schluss-
prufung nach vollendetem Kursus -\hprh-iUen werden konnte, erwiesen sich die
Erfolge des Unterrichts als recht anerkennenswert.
Jugend.
Die Einführung einer einheitlichen Rechtsehreibung für das Deutsche
Reich Ist nach Mitteilungen eines Mitgliedes der Kommission für Raeht-
schreibiing, des Direktors Duden in Hersfeld, von denen dieser Tage auf
der rweiten Hauptversammlung des Allgemeinen deutschen Vereins für
Schulgesundheitspflege in Wiesbaden, Professor Müller- Frankfurt Kenntnis
gab, bald, wahrscheinlich sdion binnen Jahivilrist su erwarten« Ausserdem
ständen die Schweis und Oesterrdeh den deutschen Absichten freundlich
gegenüber, so dass auf den Anschlnss audi dieser Länder gerechnet werden
dürfe.
uiyiiizcü üy LiOOQle
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Diack von .T jr p o g r 1 ph 1 a<, Ktuut- und Setiii»idilncn*DnKlieid, Berlia SW., PrMrIdnIr. l«
uiyiii^ed by
Zeitschrift
für
PädadOdiicbe IP$ycl)olod!e
und
Herau^egeb«n
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
Jahr:gaiig III. Berlin, August 1901. lieft 4.
Die Entwiclciunj: der Geiiirnphysiologie im
XCC Jahrhundert»
Von
Heinrich Sachs.
Vortrag, gehalten in der psychologischen Gesellschaft zu Breslau
am II. Dezember 1899.
(Mit 3 AbUlduifm.)
Meine Herren!
Gestatten Sie mir das ursprüngliche Thema des für den heutigen
Abend bestimmten Vortrages etwas einzuschränken. Ein Vortrag
über die Entwicklung der Lehre von der Physiologie des gesamten
Centrainervensystems in dem verflossenen Jahrhundert wäre unge*
fähr dasselbe, wie ein Vortrag über das Centrainervensystem über-
haupt. Eine soldie Darstellung würde entweder gar zu lange Zeit
in Anspruch nehmen, oder es erforderlich machen, die einzelnen
Thatsachen in allzu gedrängter Kürze wiederzugeben. Abgesehen
aber von dieser Ueberfülte des Stoffes hat ein grosser Teil des aus'
gedehnten Gebietes kein psychologisches Interesse.
Ich will mich auf die Darstellung dessen beschränken, was den
Zwecken dieser Gesellschaft allein förderlich erscheint, nämlich auf
denjenigen Teil des Centrainervensystems, den man mit einem ge-
wissen Recht als den „Sitz der Seele" bezeichnen kann, insofern
für uns wahrnehmbare seelische Eigentümlichkeiten an das Vor-
handensein und das Funktionieren dieses Teils gebunden sind.
Zrtt«chrifl für nSdaeot^sche Psydioloeic nnd Pathologie. ^
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256
Bämrkk Sachs.
Im Laufe des JahrhundcTts schränkte sich der als psychisch be-
deutsam bcuachtete Teil des Ccntralncrvensystems nicht unerheb-
lich ein. Während im .\inan^ noch tlas gesamte Gehirn als wichtig
für die seelischen Funktionen angesehen wurde, blieb schliesslich
als „Seelcnorgan" nur ein Bruchteil des Gehirns» das Grosshirn,
übrig, der jüngste Erwerb in der aufsteigenden Tierreihe, ver-
schwindend auf den untersten Stufen der Wirbeltierwelt» alle
anderen Gehimtetle fiberragend und verdeckend bei dem höchsten
Wirbeltiere, dem Menschen.
Im (iehirn hat man den Sitz der Seele schon in sehr früher
Zeit gesucht. Bereits im Jahre 580 a. Chr. n. hat Alkmäon das Bo-
wusstsein in das Gehirn verlegt. Freilich bei den eigenartigen Vor-
Stellungen, welche man sich über das Wesen der Seele machte, kann
es nicht Wunder nehmen, dass über den eigentlichen Sitz derselben
innerhalb des Gehirns die seltsamsten Anschatiungen laut witrden.
Diejenigen, die die Seele als ein rauiuloses und daher ^unUi-
förmi^es W'esen betrachteien, sahen als ihren geeignetsten Wohn-
ort den imgefähren Mittelpunkt des Gehirns, die Zirbeldrüse an,
von wo man sie in die verschiedenen Teile des Gehirns oder auch
des übrigen Körpers Ausflüge unternehmen Hess.
Eine andere Lehre erkannte der Seele eine hift artige Be-
schaffenheit zu und liess sie dementsprechend in den Hohlräumen,
den Ventrikeln des Gehirns residieren, deren vollständige Füllung
mit Flüssigkeit man noch nicht erkaiinl h^iUe.
Wenn ich hier so ganz empirisch und laienhaft von einem
..Sitz" der Seele spre che, so brauche ich Ihnen nicht auseinander-
zusetzen, dass die psychischen Erscheinungen als solche, als sub-
jektive, einen bestinunten räumlichen Sitz nicht haben. Ueberall.
wo hier von räumlichen Beziehimgen der Seele, de.«; lk wusstseins,
der Empfindungen etc. die Rede ist. ist immer nur an diejenigen
nuchani.schen. moleculären \ organgc zu tlenkcn, die wir jederzeit
als gleichzeitig mit Bewusstsein auftretend annehmen. Indessen
habe ich in Ihrem Kreise nicht n Uig, näher auf diese liier schon
öfter besprochene Frage einzugehen.
Das Jahrhundert beginnt — wenn wir uns nicht sklavisch an
die Jahreszahl binden — mit dem ersten Versuche, eine Lokali sation
einzelner Seelenvermögcn vorzunehmen. Es war im Jahre i/«/^
als G a 1 1 mit seineu Anschauungen hervortrat und die Lehre vo.l
der Phrenologie der üeffentlichkeit unterbreitete.
^ed by CjOOQie
Dk Emiiaitklmtg der GMn^l^äthgm im XUL, JahrkimderU 257
Der wesentliche Inhalt der von Galt aufgeteilten und von
seinen Schälern zum Teil weiter ausgebauten Lehre ist folgender:
Die gesamte geistige Thätigeit zerfällt in esne Anzahl von
Unterabteilungen, einzelne geistige Vermögen sehr verschiedener
Wertigkeit, deren Gall 27 aufstellte. £s handelt sich dabei um
einzelne nach bestimmten Richtungen gehende Triebe und Be-
strebungen, um Charakterdgenschaften, um das Auffassungsver-
mögen der verschiedenen Sinne, um Denkvermögen. Die Unter-
scheidungen, die Gall und seine Schüler hier machen, muten uns
zum Teil recht seltsam an. Neben Eigenschaften, die wir uns als
lokal begrenzt zum mindesten vorstellen können, wie dem Gesichts-
sinn, dem Farbensinn, dem Ortssinn, dem Ton^nn, finden wir
andere, denen wir von vornherein eine bes<Midere Lokalisation ab-
sprechen zu müssen glauben, weil sie eine eigenartige Entwicklungs-
richtung des ganzen geistigen Lebens darstellen, wie z. B. die
Selbstachtung, die Vorsicht, das Wohlwollen, oder gar das Ge-
wissen und die Idealitat.
Das Gehirn zerlegte G a 1 1 in eine Reihe von Unterabteilungen,
umschriebene, von einander unterschiedene Centren, sogenannte
„Organe*'. Jedes dieser Organe ist der Sitz eines der angenom-
menen Seelenvermögen. Die einzelnen Organe können bei ver-
schiedenen Menschen sehr verschieden gross sein; der ver-
schiedenen Grösse eines jeden Organs entspricht die verschieden
starke Entwicklung des dazu gehörigen „Smnes" oder Seelenver-
mögens.
Die Form des Schädels richtet sich nach der Form des Gehurns.
Dort, wo eines der „Organe" des Gehirns, also jener umschriebenen
Centren, starker entwickelt ist, muss es demnach zu einer um-
schriebenen Starkeren Hervorwölbung des Schädels kommen.
Mithin ist man imstande, aus der genaueren Untersuchung der
Form des Schadeis auf die mehr oder minder starke Entwicklung
der einzelnen Gehirnorgane und damit auf die Charaktereigen-
schaften eines jeden Menschen einen Schluss zu ziehen.
GaU stellte seine Centren nicht willkürlich oder auf Grund
irg^end welcher Theorie zusammen, er baute vielmehr seine Lehre
empirisch auf. Er untersuchte eine grosse Anzahl von Köpfen
lebender Mensclicn und von Schädeln Verstorbener, deren geistige
Eigenschaften er iiacli Möglichkeit kennen zu lernen sich bestrebt
hatte, und auf Grund seiner zahlreichen Beobachtungen glaubte er
die Bedeutung jedes einzelnen Gehimteils feststellen zu können»
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258
Heinrich Sachs.
Die nebenstehende Xachbildung einer phrcnologischen Büste,
welche aus den Grundzüg-en der Phrenologie von X o e P) ent-
noninu n ist, mag Ihnen über die Art der einzcliu n ..Siniu "' uiul ihr*»
Verteiluiit:: auf die Gehirn- bezw. Schädelobertiucae enie genauere
Vorstellung geben.
Eine Abart der Phrcnolog:ie versuchte C a r u s') im Jahre
1841 unter dem Namen der Cranioscopie zu begründen.
C a r u s ging von dem Satze aus, dass der Schädel nur
eine Fortsetzung des Rückgrats sei und aus drei Schädelwirbehi
bestehe, die mit einander zur Schädelkapsel verschmolzen seien,
jedem dieser Schädelwirbel entspräche ein Teil des (ichirns imd
zwar dem vorderen Schädelwirbel das Grosshirn, dem mittleren die
\'ierhugel und dem liinteren das Kleinhirn. In die Hemisphären
des Grosshirns verlegte Carus das Vorstellen und Erkennen und
die Einbildung, in die Vierhügel das „Gefühl vom Zustande des
eigenen Bildungslebens (Gemeingefühl)" und das Gennit, in das
Kleinhirn endlich das Wollen und Begehren und die Fortbildung
der Gattung. Somit entspräche dem Erkennen das Vorderhaupt,
dem l'uiilcn das Mittelhaupt und dem Wollen das llinLci"liau[)t.
Es sei mithin nur nötig, diese einzelnen Abteilungen des Schädels
genau zu messen, um zu erkennen, ob bei einem Menschen die
Intelligenz, das Gemüt oder der Wille mächtiger entwickelt sei.
Zu dieser Zusammensetzung des Schädels aus den drei Schädel-
wirbeln kommen dann noch die knöcherne Umhüllung der beiden
wichtigsten Sinnesapparate, die Augenhöhle und das Felsenbein (der
Sitz des inneren Ohres) hinzu, deren Entwicklung ebenfalls von
Bedeutung einerseits für die Form des Schädels, andererseits für
4ie geistige Individualität des Menschen sei. Der ,^ugenmensch**
sei offener, mutiger, in äusserliches Leben rascher eingreifend,
leichter zu unterrichten und sich selbst leichter orientierend; ihm
komme ausserdem besondere Anlage zur Zeichenkunst, Architektur
und Plastik zu. Der „Ohrenmensch" sei mehr ins Innere gekehrt,
im guten Sinne nachdenkend, zu gottlichen Dingen mehr gewendet,
poetischer, im üblen Sinne furchtsam, horchend, faul, verheim-
R< Noel, Esq. Gmndzüge der Phrenologie oder Anleitmig'
cum Studium dieser Wissenschaft, dargestellt in 5 Vorlesungen. Dresden
und Leipzig. Amoldi 1843.
-) Carl Gustav Carus. Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich
begründeten Cranioscopie (Schädellehre). Stuttgart 1841. Bala.
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Dit Eniwüklung der Gehimphj>siologie im XJX, Jahrhundert. 259
liebend und talscher Mystik und Scluvärnicrei zugeneigt; er besitze
eher Anlassfe zu Sprachen und Musik.
Ferner nahm C a r u s an, dass es einen Unterschied aufmache,
ob die einzelnen Teile des Schädels. V'ordcrhaupt. Mittelhau))l und
Hinterhaupt mehr in die Höhe oder in die Breite ausgedehnt seien.
Fi(.l.
Die grössere Höhenausdehnung bedeute eine grössere subjektive
Energie des dem Gehirnteile zugehörigen Seelenvermögens, die
grössere Entfaltung nach den Seiten dagegen eine mehr objektive
Richtung der entsprechenden geistigen Fähigkeiten. So sei die
Stirn des Denkers, des tiefsinnigen Philosophen mehr nach beiden
Seiten gewölbt und breit, die Stirn des rein gegenständlich (also
objektiv) auffassenden Künstlers dagegen mehr in der mittleren
Gegend gewölbt und nicht beträchtlich breit.
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260
iümrüh SaJis.
Auf Grund derartiger Antiahmcn versuchte dann Carus. die
Lokalisation einzelner Sinnr d a 1 1 s , die er als nicht unrichtig an-
erkennen zu müssen glaubte, m der Richtung seiner Darstellung zu
erklären.
Zur Erläuterung seiner eigenen Anschauungen g^ebt Carus
unter anderem folgende Beispiele. Klein^'s ^^>rderhaupt, massiges
Mittelhaupt und stark entwickelte^ Hinterhaupt; die Individualität
ist sehr von Begierden beherrscht und ausser stände, dieselben zur
besseren Ueberlegung zu leiten f N'cgerschädel). Fin !>reites Mittel-
haupt, massiges Vorderhaupt, dürftiges Hinlerhaupt: vorherr-
schend das Bedürfnis des Essens und Trinkens, aber weder In-
telligenz noch Willenskraft, um sich durch Thätigkeit und Arbeit
die Bedürfnisse zu verschaffen (Verbrcchcrschädel).
Vereinzelt ziehen sich ähnliche Anschauungen noch in die
neuere Zeit hinein. So hat vor einigen Jahren ein französischer
Autor das Grosshirn als Sitz der Intelligenz und das Kleinhirn als
Sitz des Gemüts aufgestellt. Noch in allerneuester Zeit hat
Möbius den Versuch gemacht, ein eigenes Rindenfeld und eine
entsprechende Vorvvölbung des Schädels als bedeutungsvoll lür die
Anlage zur Mathematik hinzustellen.
Abgesehen von diesen Spätlingen haben die phrenolog^schen
Ideen noch nicht ein halbes Jahrhundert geherrscht. Sie besitzen
für uns nur noch historische P.cdeutimg. Zunächst hat, wie schon
erwähnt, die neuere Wissenschaft die unterhalb des Grosshirns
liegenden Hirnteile, also insbesondere die Vierhügel und das Klein-
hirn ihrer seelischen Bedeutung entkleidet. Man hat im Kleinhirn
lediglich ein Organ für die Erhaltung des Gleichgewichts und
sonstige rein der zweckmässigen Ausgestaltung der Bewegungen
dienende Funktionen kennen gelernt. Die Vierhügel haben wir,
insbesondere bei den Tieren, als Sitz komplizierter automatisch-
reflektorischer Vorgänge erkannt, während ihre Bedeutung beim
Menschen erheblich in den Hintergrund tritt und gegenüber der
Wucht des Grosshirneinflusses verschwindet.
Es erübrigt sich, die zahlreichen Fehler und Schwächen der
kurz vorgetragenen phrenologischen Systeme klar zu legen und ein-
gehender zu besprechen. Die Hauptschwäche der Call sehen
Lehre liegt in der fehlerhaften Auffassung der Eigentümlichkeiten
des Seelenlebens. Die Carus sehen Ideen sind rein theoretisch
ausgeklügelt. Immerhin aber erscheint es doch recht bemerkens*
wert, dass schon mit dem Beginn des Jahrhunderts die Anschauung
DU Entwicklung der Gtkirnph ysioiogi« im XIX. Jahrhundert. 261
lebendig wurde, dass nicht nur das ganze Gehirn dem ganzen
Seelenleben diene, sondern dass einzelnen Teilen des Gehirns engere
Beziehungen zu einzelnen Teilen der geistigen Thatigkeit zukämen.
Dass die Lehre von der Lokalisation in einer so primitiven Form
erschien, kann gegenüber dem geringen damaligen Stande wirk-
licher Kenntnisse nicht Wunder nehmen.
Die Call sehe Lehre dürfte mit dem Beginn der zweitem Hälfte
des Jahrhunderts als vollkommen beseitigt anzusehen sein. Den
ersten schwersten und entscheidenden Streich dagegen führte be-
reits im Anfang des Jahrhunderts der französische Physiologe
F l o u r e n s , der erste, der experimentell an das Tiergehirn heran-
ging und mit dem Operationsmesser dessen Eigenschaften zu er-
gründen suchte.
F 1 o u r e n s nahm Vögeln einzelne Teile des Gehirns fort und
untersuchte, wie sie sich nach glücklich überstandener Operation
verhielten. Er unterschied bei seinem Vorgehen vier grosse Ab-
teilungen des Nervensystems und zwar das ausserhalb der Schädel-
höhle im Kückgratkanal gelegene Rückenmark und im Gehirn
selbst das Kleinhirn, das Mittelhirn und das Grosshirn. Seine ersten
Versuche ergaben ihm folgendes Resultat: Einfache Bewegungen
werden mit Hilfe des Rückenmarks ausgeführt, vom Kleinhirn
werden dieselben zu ganzen Bewegungsreihen geordnet, das Mittel-
hirn hat Beziehungen zum Auge^ das Grosshim endlich ist der Sitz
der Intelligenz, des Wollens und Fühlens» also der psychischen
Eigentümlichkeiten.
Diese Resultate bestehen auch heute noch zu Recht. Mit ihnen
war die Lehre von der psychischen Bedeutui^ aller anderen Him>
teile ausserhalb des Grosshirns beseitigt.
Flourens ging sodann einen Schritt weiter. Er wollte
durch weitere Versuche feststellen, inwieweit sich einzelne Unter-
abteilungen der genannten grossen Abschnitte von einander in
ihrer Funktion unterschieden. Er trug deshalb das Grosshim
schichtweise ab, indem er bei einer Reihe von Tieren von vom,
bei einer anderen von hinten, bei einer dritten von oben Himteile
entfernte.
Er sah bei seinen Vögeln überall das nandiche Resultat. Je
mehr er vom Grosshirn abtrug, umsomehr gingen die Tiere in den
Aeusserungen ihres WoUens und Fühlens zurück, bis diese letzteren
nach völliger Fortnahme des Grosshims vollkommen geschwunden
waren. Dabei war das Resultat genau das gleiche, von welcher
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262
lleinrüh Saths.
Si ite immer F 1 o ii r e n s die Fortnahme von Gchirntcilcn begann.
Wenn er nur einen verhältnismässig kleinen, aber sonst beliebigen
Teil des Grosshirns zurückliess, so beobachtete er, das^ seine \ er-
suchstiere allmählich die verloren gegangenen psycliischen Fähig-
keiten wieder gewannen.
Aus diesen Untersuchungen zog P 1 o n r c n s den Schhiss,
dass alle Teile des Grosshirns einander gleichwertig seien,
und dass, wenn auch nur ein kleiner Bruchteil des Gehirns zurück-
blieb, die meisten Fähigkeiten des Geiiirns sich wieder einstellteu.
Damit waren die Anschauungen über die Physiologie des
Grosshirns, welche unter den Physiologen in der ersten Hälfte des
Jahrhunderts geherrscht haben, bereits im Beginn desselben test-
gelegt und, wie es schien^ unwiderleglich experimentell begründet.
Als besonders bedeutungsvoll hob sich aus den F I o u r e n s sehen
Lehren der Satz hervor, dass alle Teile des Grosshirns einander
gleichwertig seien und imstande seien, sich gegenseitig zu ver-
treten.
In gewissem Sinne bedeutet die Fiourens sehe Anschauung^
gegenüber der Ga 11 sehen Lehre einen Ruckschritt. Wie wir
sehen werden, stellte sich später heraus, dass Fiourens, indem
er die LokaHsation innerhalb des Grosshirns leugnete, Unrecht
hatte, dass der Grundgedanke der G a 1 1 sehen Lehre dagegen, die
Verschieden Wertigkeit der einzelnen Teile des Gehirns, wieder zu
seinem Recht gelangte. Aber es musste der auf einem an sich
richtigen Grunde aufgestellte fehlerhafte Bau zunächst wieder voll-
ständig abgerissen und bis in die Fundamente zerstört werden, ehe
an ein der Wirklichkeit mehr entsprechendes Gebäude gedacht wcrr-
den konnte. Die falsche Flourenssche Lehre musste mit der
falschen Call sehen Lehre auch den berechtigten Grundgedanken
derselben vernichten.
Somit ist in den Namen Call und Fiourens bereits im Be-
ginn des Jahrhunderts der Streit gegeben, der dann den grossten
Teil desselben ausgefüllt hat, der Streit über die Frage, ob das
Grosshim ein einheitlich konstruiertes, in allen seinen Teilen gleich-
wertiges Organ sei, oder ob den einzelnen Teilen desselben be-
sondere Funktionen zukämen.
Die weiteren Phasen dieses Kampfes heften sich an die Namen
B r o c a und Trousseau, Goltz und Münk. Der Streit hat
schliesslich zum Siege der lokaUsatorischen Auffassung, der Lehre
von der Verschiedenwertigkeit der einzelnen Grosshimteile geführt.
^ kjui^uo i.y Google
Dü EnlwkUung der GchimphjfsioUtgie im XIX. JahrhunderL
263
Die F 1 o u r c n s sehe Lehre hat Jahrzehnte lang die Wissen-
schaft vollständig beherrscht. Die Reaktion dagegen kam aus der
Medizin. Der französische Kliniker und pathologische Anatom
B r o c a war es, der zuerst mit Glücic einen zweiten Weg verfolgte,
den Funktionen des Gehirns näher zu kommen, nämlich den Weg
der klinischen Beobachtung kranker Menschen und der darauf-
folgenden pathotogischen Untersuchung des aus dem Schädel
herausgenommenen Gebims. '
Dass die rechte Grosshirnhemisphäre .der linken Körperhalftc
entsprach und umgekehrt, so dass Schädigungen einer Grosshirn-
hemisphäre eine Lähmung der entgegengesetzten Körperhälfte her-
beifukrten, wusste man schon seit längerer Zeit.
Im Jahre 1861 erschien die bahnbrechende Arbeit B r o c a s^)
über die „Aphemie", eine eigenartige, als solche schon früher be-
kannte Störung der Sprache. Die von dieser Sprachstörung be-
troffenen Individuen verstanden alles, was man zu ihnen sagte, sie
konnten auch alle zum Sprechen nötigen Muskeln bewegen, waren
aber trotzdem nicht in der Lage, auch nur die einfachsten Worte
hervorzubringen, obwohl sie selbst genau wussten, was sie sagen
wollten. Man bezeichnet diese Krankheit jetzt als motorische
Allste. B r o c a fand nun bei seinen Sekttonen, dass in all diesen
Fällen ein ganz bestimmter Teil des Gehirns entweder allein er-
krankt, oder doch mit betroffen war, nämlich das hintere Drittel der
unteren Stirawindung der linken Grosshirnhemisphäre, eine Hirn-
partie, welche man dann später zu Ehren des Entdeckers der
Aphasie als „Brocasche Windung** bezeichnet hat (Fig. II. 4.).
Mii dieser Verütientlichung stellt sich Broca in den direk-
testen Gegensatz zu den bisherigen Untersuchungen über die
Funktion des Gehirns und fand naturgfemäss in Frankreich sehr
energischen Widerspruch, insbesondere seitens des grossen
Klinikers T r f) u s s c a u.*) Der Genannte mnsstc allerdings zu-
gehen, dass die Angaben Drocas für eine grössere Reihe von
Fällt n passtcn, fand aber < m andere Reihe von Fällen mit Sprach-
störungen, bei denen die angegebene Gegend des Gehirns sich hei
der Sektion als unversehrt herausstellte, und erklärte daraufhin die
') B r r a. Sur le siege du langagc artictjlc. avcc deux obscrvations
d'apheniie - Bulletins de la sociele anatomique 2e, seric, t. IV, 1861.
*)TrousscHu. Medicini«( lu' Klinik des Hötcl - Dieu: Paris-
Deutsch von L. Culmann. II. Band. Wurzburg. Stahel.
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264
Heinrich Sachs.
Meinung H r o c a s für irrig. Es hat sich indessen gezeigt, dass
Broca Rerht hatte, und dass die h'ähigkeit, sich in Worten zu
äussern, an das Intaktsein der nach ihm genannten Windung ge-
bunden ist.
Es ist ganz lehrreich, die vorhandenen Ausnahmen von der
Regel zu betrachten, welche mit dazu betgetragen haben,
Trousseau irre zu führen. Es .geht aus einer solchen Be-
trachtung hervor, wie leicht Beobachtungen nicht ganz sorgfältiger ,
Art imstande sind, das Urteil zu BLtschen. Die eine Ausnahme ist
folgende: Bei jeder stärkeren Affektion des Gehirns, bei jedem
grösseren Blutaustritt in die linke Gehirnhälfte (sogenanntem
Schlaganfall) ja, wenn es sich um eine sehr schwere Erkrankung
handelt, selbst schon bd einer Läsion der rechten Gehirnhälfte
kommt es ausser zu einer Lähmung der gegenüberliegenden KÖr-
perhälfte zu den Erscheinungen der motorischen Aphasie; die
Broca sehe Stelle scheint gegen alle schädigenden Einflüsse be-
sonders empfindlich zu sein. Bleibt der Kranke am Leben, so nimmt
der nur in seiner Funktion behinderte, aber nicht vernichtete Teil
des Grosshirns seine Thätigkeit wieder auf, und es findet sich in
kurzer Zeit die Sprache wieder ; stirbt der Kranke jedoch in der
ersten Zeit der Erkrankung, so stellt sich das Faktinn heraus, dass
jemand bis zu seinem Tode an motorischer Aphasie gelitten liai,
Lui(i dennoch bei der Sektion die B r o c a sehe Windung sich unver-
sehrt zeigt. Es folgt also aus diesen Beobachtungen nicht, dass
die fragliche Windung mit der Spraciic nichts zu thun habe, son-
dern nur, dass bei einem sehr heftiger. Angriff die Funktion des
ganzen Gehirns und damit auch diejenige der B r o c a sehen
Windung leidet, auch wenn keine direkte Zerstörung dieser Win-
dung stattgefunden hat. und dass nur die Zeit bis zum Tode zu
kurz war, um die Wiederherstellung der Funktion zu ermöglichen.
Eine zweite Ausnahme findet man bei Linkshändern. Während
beim Rechtshänder die Fähigkeit, zu sprechen, ausnahmslos an die
linke Grosshimhemisphäre gebunden ist« kommt diese Funktion
bei Linkshändern der rechten Gehirnhälfte zu. Der Linkshänder
erkrankt deshalb an motorischer Aphasie, wenn seine rechte
untere Stimwindung zerstört ist, und behält die Fähigkeit, zu
sprechen oder erlangt sie wieder, wenn die eigentliche Broca sehe
Windung in der 1 i n k e n Hemisphäre der Vernichtung anhetmge^
fallen ist.
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Dü iunt-wicidimg der G ehim physioiogu im XIX. Jahrhunderl.
265
Die sonst von Trousscau beigebrachten zahlreichen Fälle
von Aphasie beziehen sich auf andere Arten von Spraciistörungcn.
Mit der von H r u c a gefunilenen Thaisache war die
F 1 o u r e n s sehe Lehre als falsch erwiesen. Es war jetzt mit
absoluter Sicherheit festt^estellt, dass eine bestinunle seelische
Fähi^i^keit an die normale Fimktion einer bestimmten umschriebenen
Region der Grosshirnrinde <;ebuntle;i isl. und dass diese Fähigkeit
von keinem anderen Teile des Grosshirns übernommen werden
kann. Damit war der Grundsatz der Lokalisation der einzelnen
Funktionen im Grosshirn erwiesen, und es konnte nur eine Frage
der Zeit sein, wann es geUngen würde, auch für die übrigen Teile
des Gehirns in analoger Weise die zugehörigen Funktionen fest-
zustellen. Es ist dann auch späterhin auf dem Wege der klinischen
Forschung nach dieser Richtung hin viel geschehen.
Inzwischen wurde von anderer Seite her und nach einer dritten
Richtung hin der Versuch gemacht, in die Funktionen des Gross-
hirns einzudringen, und zwar mit grossem Erfolge.
Während früher alle Versuche, durch auf das Grosshirn un-
mittelbar einwirkende Reize eine Reaktion desselben herbeizu-
führen, gescheitert waren, so dass die schon von Aristoteles
aufgestellte Behauptung von der Gefühllosigkeit des Gehirns nicht
bezweifelt wurde, gelang es im Jahre 1870 Hitzig und F r i t s c h
durch elektrische Reizung des Grosshirns bestimmte Bewegungen
hervorzurufen. Die beiden Forscher legten durch Abtragung des
Schädeldaches an Tieren und zwar an Hunden einzelne Teile des
Grosshirns frei, reizten die einzelnen Partieen durch aulgelegte
Metallplättchen mittelst des faradischen Stroms eines Induktions-
apparates und fanden so ganz lokal umschriebene Punkte, von denen
aus sie bestimmte Körperbewegungen hervorzurufen imstande
waren. Es traten je nach der Lage des gereizten Punktes Be>
wegungen des ganzen Vorderbeins oder des ganzen Hinter-
beins und zwar der entgegengesetzten Körperhälfte ein.
Analog dem Befunde der Kliniker zeigte sich die rechte
Grosshlmhemisphäre der linken Korperhälfte zugehörig und
umgekehrt. Die Versuche wurden später mannigfach wiederholt.
Englische Physiologen operierten besonders an Affen, unter
anderem sogar an dem — recht kostspieligen — Orang Utang, dem
menschenähnlichsten Affen. Endlich sind auch an Menschen der-
artige Versuche gemacht worden und zwar zu diagnostischen
Zwecken, wenn es sich darum handelte, den Sitz einer Geschwulst
266
Heinrich >ai-ks.
in der Gehirnntul< . dcrcii La^r im Gehirn man ans den klinischen
Bcobachtungc:! hatte bestimmen können, nnn auch bei der Opera-
tion am blos^i^clc'f^ten Geliirn genau festzustellen. Man kann näm-
lich beim Menschen nicht g-iU ein grösseres Stück der Schadcl-
kapsel entfernen ; man hat nur ein kleines Stückchen der Hirn-
oberfläche vor sich und kami sich deshalb an den sonst den Wei^
zeigenden Furchen des Gehirns mcht orientieren. Da giebt dann
die Reizung mit dem taradi sehen Strom mit grosser Genauigkeit
die Stelle an» an welcher man sich gerade befindet.
Im Laufe dieser Versuche hat sich eine bemerkenswerte That-
Sache herausgestellt. Bei niederen Tieren und selbst noch bei den
niederen Affen gelang es, durch faradische Reizung bestimmter
Punkte der Grosshimrinde Bewegungen ganzer Extremitäten«
Beugung und Streckung des ganzen Hinterbeins oder Vorderbeins
hervorzurufen, nicht aber einzelne Qiedabschnitte zu bewegen.
Beim Orang-Utang dagegen und noch deutlicher beim Menschen
konnte man Bewegungen einzelner Gliedabschnitte^ ja sogar solche
einzelner Finger hervorrufen. Es hat sich also eine um so feinere
Lokalisation im Grosshim nachweisen lassen, je höher ein Tier in
der Stufenreihe der Entwickelung steht.
Der nächste Schritt in der Bereicherung unserer Kenntnisse
stammt wieder aus der Klinik. Im Jahre 1874 fügte VV e r n ic k e
der bis dahin allein genauer bekannten B r o c a sehen Form von
Sprachstörung drei weitere Aphasieformen hinzu und suchte für die-
selben die Lokalisation im Grosshim zu bestimmen. Die wichtigste
dieser neuen Sprachstörungen ist die sogenannte sensorische
Aphasie. Die davon befallenen Kranken vermögen spontan zu
sprechen^ sie hören auch nachweislich durchaus gut, sie verstehen
aber trotzdem nicht, was man zu ihnen sagt, als wenn man in einer
fremden Sprache zu ihnen spräche, und sie bringen das, was sie
selbst sagen, nicht richtig heraus, sie vertauschen einzdne Silben
innerhalb des Wortes, sie setzen Silben zu ganzen falschen Wörtern
zusammen und kommen im äussersten Falle dahin, dass sie ein voll-
kommenes Kauderwelsch hervorbringen. Dabei bemerken sie
selbst garnicht, dass sie falsch sprechen und können im einzelnen
Falle sehr ungehalten sein, wenn man sie nicht versteht. Man be-
zeichnet diese Art des Falschsprechens mit dem Namen der
Parai^sie. Die Unfähigkeit, die gehörten Worte richtig zu ver-
stehen, hat man mit dem Namen der Worttaubheit belegt. Wort-
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Di*: EttCifuHung (Lt <j dhtm J>hysialogie tm XIX. Jahrhundert. "iJol
tanbluit und Paraphasie zusaniincn sind die Kennzeichen der sen-
sorischcn Aphasie.
W c r n i c k e land mm. (las> in dcrartig'en Fällen eine bestimmte
Stelle des Gehirns lädiert ist und zwar der hni<e Schläielappen,
£2renauer che Unke obere Schläfevvindung in ihrer hinteren Partie
(Fig. II. 5«).
PiK.3.
Somit war eine zweite Stelle im Gehirn festgelegt, deren Ver-
letzung ganz bestimmte klinische Krankheitserscheinungen hervor-
treten Hess.
Im Laufe der weiteren Untersuchung fand man auf diesem
selben Wege der klinischen Forschung und nachfolgenden Sektion
des Gehirns für eine ganze Reihe weiterer Stellen der Grosshirn-
rinde Beziehtmgen zu bestimmten Funktionen des Körpers. Die
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268
/Mttrkk Sacks»
Centren für die Bewegungen und Empfindungen der einzelnen
Glieder Hegen in einem breiten, ungefähr in der Mitte des Gehirns
von oben hinten nach unten vom verlaufenden Streifen (den Centrai-
mnduttgen). Hier findet man zuoberst das Centrum für das Bein,
darunter das Centrum für den Arm und noch weiter unten dicht
nach oben und hinten vor der B r o c a sehen Windung das Centruni
für die Gesichtsbewegungen der entgegengesetzten Körperhälfte
(siehe Fig. II, i— 3.)»
Femer hat sich — vor allem aus klinischen Beobachtungen
ergeben, dass im Hinterhauptlappen ein Centrum für das Sehen
vorhanden ist. Dieses Centram liegt also am weitesten nach hinten
im Gehim im Gegensatz zu den Anschauungen der Phrenologen,
welche den Gesichtssinn unmittelbar hinter dem Stimbein suchten
(Fig. III, 7).
Wenn man die X^ge der einzelnen Centren zu einander be-
trachtet, so erkennt man, dass dieselben ungefähr entgegengesetzt
den Organen des Körpers liegen. Im Gehim findet man das Bein
zuoberst, das Gesicht zuunterst, das Auge hinten ; ferner entspricht
die rechte Hemisphäre der linken Körperhälfte, sodass eine voll-
ständige Umdrehung in Bezug auf die Lage zwischen Körper und
Gehirn stattfindet.
Während so auf dein (iebiete der klinischen und pathologisch-
anaiomischen Forschung ein immer tieferes Emdringen in die
Mechanik des liirnbaus ermöglicht wurde, kam es auch zu Fort-
schritten auf dem Wege der zuerst m Angriff genommenen Methode
von F 1 o u r e n s.
Die Versuche, das ganze Grosshirn eines Tieres oder Stücke
desselben zu entfernen, knüpfen sich im wesentlichen an die Xanitn
zweier Forscher, des Strassburgers Goltz und des Berliner
Münk, l'.eide gingen aniänglich in sehr verschiedenartiger Weise
gegen das Grosshun vor und kamen infolgedessen zu ganz ent-
gegengesetzten Resultaten.
Goltz') versuchte zimächst mit gmber mechanischer Gewalt
das Gehim zu zerstören. Er bohrte in den Schädel seiner Versuchs-
tiere an zwei verschiedenen Stellen Löcher und lies"; einen starken
Wasserstrahl hindurchströmen, durch welchen naturgemäss ein
grösseres Quantum des Gehirns fortgespult wurde. Er fand die
gleichen Resultate bei seinen Tieren, an welcher Stelle er immer
*) Die verschiedenen Abhandlungen in P f 1 ä g e r's Ardnv.
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Die Entwicklung der Gehim^ysiologie im XJX, Jahrhundert,
269
die Löcher bohrte, und schloss daraus, analog den Eryfebnissen
F 1 o u r c n s", dass die einzelnen Teile des Grosshirns einander
gleichwertige seien.
M u n k ) dagegen nahm vorsichtig Teile der Schädeldecke
fort und entternie mit dem Messer ganz umschriebene Ilirnsiücke
unter möglichster Schonung der Nachbarteile; dabei bekam er,
je nach der Partie lies Gehirns, welche er entfernte, gänzhch ver-
schiedene Resultate.
Goltz hat sich schliesslich der Münk sehen Untersuchunj^s-
methude atischliessen müssen ; s(^bald er anfing mit dem Messer
vorzugehen, änderten sich auch seine Ergebnisse, sodass er schliess-
lich zu ähnlichen Folgerungen kommen musste wie M u n k. Wenn
er auch noch bis zum heutigen Tage die Annahme, dass die einzelnen
Territorien an der Gehirnobcrflachc ahnlich wie die Bezirke einer
Landkarte von einander getrennt seien, ablehnt, so musste er doch
zugeben, dass in der i hat den einzelnen grossen Regionen des Ge-
hirns verschiedene }'"iniktionen zukämen.
Aus der grossen Mehrzahl der Versuche interessieren uns zu-
nächst diejenigen, welche insbesondere Goltz und sein Schüler
Schräder^) anstellten, und welche tlarauf hinausgingen, Tiere
des (Iro^shirns möglichst ganz zu berauben, wennschon diese Ver-
«luche historiscli dem Versuche, einzelne Teile des Grosshirns zu
i iiüernen. folgen. Sehr a d e r arbrilcte insliesomlerc an I-Voscheu.
sowie auch an Tauben und Falken. Der unendlichen Mühe, Geduld
und Geschicklichkeit des Strassburger Professors ist es aber auch
gelungen, bei einem Hunde das Grosshirn vollständig zu entfernen
— es ging sogar noch ein Teil des Mittelhirns mit verloren — und
diesen Hund i8 Monate lang am Leben zu erhalten.
Bei diesem Hunde hat sich nun folgendes herausgestellt: Der
Hund besass alle seine Bewegungen. Jede etwas kralligere Be-
rührung der Haut beantwortete er mit einer Bewegung des Kopfes,
die darauf abzielte, den unangeneimicn Gegenstand von dt i Ilaui zu
entfernen, wennschon diese Bewegungen nicht die Geschicklichkeit
eines normalen Hundes zeigten. Der Hund war ferner nicht blind
— wenigstens wandte er bei sehr plötzlich einwirkenden und
energischen Lichtreizen den Kopf zur Seite; endlich reagierte er
auch auf sehr unangenehme und laute Scfaallreize» war also nicht
*} Sitzungsberichte der Königlich preussiscben Akademie der Wissen-
schaften.
7) Pflüger's Archiv.
270
ttnnrith Saeks,
völlig taul). Dabei ist hervorzuhol)en. dass dieser Tlund nicht
allein des Grosshims beraubt war, sondern dass auch ein Teil seines
Mittelhirns der Zerstöriin|^ anhcinigetaüen war, sodass die An-
nahme nicht gänzlich ausgeschlossen erscheint, dass er bei guteni
Erhakcnsein des letzlgenatnitcn Gehirnteils vielleicht noch besser
srehört und ß:i-sehen haben w ürde, da das Mittelhiru zum Hör- und
Sehvermögen bes(jndcre Beziehiuigen besitzt.
Was aber diesen Hund von einem normalen Hunde unter-
schied, war, dass ihm vollkommen das Verneigen fehlte. Eindrucke
die zu verschiedenen Zeiten eingewirkt hatten, mit einander in Ver-
bindung zu bringen. Er hatte nicht nur seine Erfahrungen, die Er-
imierung an alle iruheren Dinge, völlig verloren, sondern auch die
Fähigkeit: neue Erfahrungen zu sammeln. So wurde der Hund an
jedem Tage zu hestiinniter Zeit aus seinem Käfig herausgehoben,
um gefiitter* ru werden, und jedesmal beantwortete er das Heraus-
nehmen nni einem formlichen Wutanfali, indem er sich mit allen
Extremitäten gegen das Herausheben sträubte und um sich biss.
Er gelangte ofTenbar nicht wieder dazu, das Herausnehmen aus
dem Käfig mit der darauf folgenden Fütterung in Verbindung zu
bringen. Zu fressen hatte der Hund allmählich wieder gelernt,
nachdem er lange Zeit hatte gefüttert werden müssen: er frass
später, sobald man ihm den Kopf in den Futternapf gesteckt
hatte, frass anfänglich schnell und gierig, allniählich langsamer,
bis er schliesslich, nachdem er sich den Magen vollkommen gefällt
hatte, mit Fressen aufhörte.
Aehnlich wie der Goltz sehe Hund verhielten sich die von
Schräder ihres Grosshirns beraubten Tauben. Während Münk
bei seinen Versuchen gefunden hatte, dass Tauben, denen er den
Hinterhauptsteil des Grosshirns entfernte, völlig blind wurden und
auf Lichtretze nicht reagierten, und, wenn sie auch — in die Höhe
geworfen — zu flattern anfingen, doch an jeden Gegenstand im
Zimmer anstiessen, kam Schräder zu ganz andern Resultaten.
Nachdem bei seinen operierten Tauben die erste Betäubung von
der Operation vorüber gegangen war, gingen und flogfen dieselben
in einer Weise, die den sicheren Gebrauch der Augen erkennen
liess. Sie kletterten über ihnen im Wege stehende Gegenstände
hinweg; sie flogen, wenn man sie auf einen etwas erhöhten Gegen-
stand gesetzt hatte, auf und mit absoluter Sicherheit durch das
Zimmer, etwa auf einen Usch oder die Lehne eines Stuhles : dabei
zogen sie den Tisch dem Stuhle vor Es konnte gar keinem Zweifel
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Dü Entwicklung der GtHmpi^sioiogu im XiX. Jahrhundert. 271
unterliegen, dass sie ihre Ge«ichUeindrücke für ihre Bewegungen
aul das AUergeschickteste verwerteten. Dabei ergab die genaueste
mikroskopische Untersuchung des Gehirns der getöteten Tauben,
dass in der That nichts mehr von Grosshtrn, mithin auch nichts mehr
vom Sehcentruni desselben vorhanden war. Eine genaue Beob-
achtung dieser Tauben zeigte, dass ihnen alle diejenigen Hand-
lungen fehlten, die an irgend ein Erinnerungsvermögen gebunden
sind. Sie kletterten über eine ihnen im Wege befindliche Katze mit
derselben Gleichgültigkeit hinweg, wie über einen Klotz, hatten
keine Furcht vor dem Netz, mit dem sie eingefangen wurden, und
welches unversehrten Tauben immer sehr unangenehm erschien,
und zeigten auch keinerlei Anzeichen von Zuneigung oder Vertraut«
hdt mit denjenigen Personen, welche sie warteten und fütterten. Sie
frassen auch nicht von selbst ; auch der Futternapf war ihnen nichts
anderes, als ein den Raum erfüllender Körper.
Je weiter abwärts man in der Tierreihe steigt, um so auffiUliger
ist eSr wie wenig scheinbar das Grosshim für die Existenz und
Leistungsfähigkeit eines Tieres zu bedeuten hat Vom Frosch
glaubte man früher, dass er, wenn man ihn des Grosshtms beraubte,
regungslos auf der Stelle liegen bleiben und verhungern müsste.
Auch hier war es Schräder, der das Gegenteil zeigte. Er nahm
einer Anzahl von Fröschen das Grosshirn weg und sperrte sie^
nachdem sie sich von den unmittelbaren Folgen der Operation er-
holt hatten, mit anderen unversehrten Fröschen zusammen und
setzte sie unter genau die gleichen Verhaltnisse. Er fand nicht den
geringsten Unterschied. Grosshimlose Frösche fingen um sie
herumsurrende Fliegen mit derselben Geschicklichkeit wie unver-
sehrte, sie fingen genau zu derselben 21eit an zu schwimmen, wenn
man sie auf einer verschiebbaren Platte ins Wasser versenkte;
Sperrte Schräder eine Anzahl von Fröschen unter eine grosse
Drahtglocke, welche oben eine Oeffnung besass, so suchten die
Frösche zum Teil durch Springen, zum Teil durch Klettern die
Oeffnung zu gewinnen; dabei fand sich hinsichtlich der Zahl der
springenden und der kletternden Frösche und hinsichtlich der Ge-
schicklichkeit des Entwischens nicht der geringste Unterschied
zwischen den grosshirnlosen und den dieses Organ noch besitzen-
den Her^.
Wenn Schräder daraus schliesst, dass ein Unterschied
zwischen Fröschen mit und ohne Grosshirn überhaupt nicht be-
stehe, so dürfte hier doch wohl ein Fchlschluss vorliegen, der aus
ZdUcfarift für pädagogische Psychologie und Pathologie. 2
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272
dem Mangel einer sozusagen individuellen Beobachtung hervorgeht.
Denn auch Frösche zeigen deutliche Anzeichen eines Erinnenings*
Vermögens, wie schon daraus hervorgeht» dass dieselbeh in Gegen-
den, in denen sie viel gestört werden, sehr scheu werden und den
Menschen nicht an sich herankommen lassen, dagegen in einsamen
Gegenden ohne grosse Mühe zu fangen sind.
Es geht aus allen diesen Untersuchungen hervor, dass das
Grosshim nicht nötig ist, um Bewegungen zu machen und die Be-
wegungen nach gegenwärtigen Sinneseindrucken zu regulieren und
ihnen genau anzupassen, dass dasselbe dagegen ein Organ der Er-
fahrung, des Gedächtnisses ist, welches die vergangenen Eindrücke
aufbewahrt und sie zu beliebiger späterer Zeit wieder in das Ge-
triebe der Bewegungen hemmend oder fördernd eingreifen lässt.
Während so die Strassburger Versuche mit einer Reihe anr
derer, z. B. den Versuchen von Steiner an Fischen, die Be«
deutung des Grosshims als Ganzes klarlegten, sind es insbesondere
die Versuche von Münk gewesen, welche die Bedeutung der
einzelnen Teile des Grosshirns bei Tieren festzustellen suchten. Ich
will Ihnen die Ergebnisse der Münk sehen Untersuchungen kurz
vorführen :
Münk leg^e bei seinen Versuchen besonderen Wert darauf,
die Grenzen der einzelnen Grosshirncentrcn genau zu bestimmen
imd immer nur ein einzelnes Ccntrum, dieses über m(')glichst voll-
ständitf zu entfernen. Er fand, dass nach Entternung^ einer g^nz um-
schriebenen Hirnregion aus jedem Hinterhauptslappcn bei Hunden
oder Affen die Tiere völlig blind erschienen. Obwohl der periplierc
Sehapparat vom Auge bis zu den unteren Centren vollkommen
intakt war, und nur die Hirnrinde selbst an umschriebener Stelle
fehlte, konnten die Hunde die vom Auge stammenden Eindrücke in
keiner Weise mehr für ihre Bewegungen verwerten ; sie machten
den Eindruck vöUiger liiindlieit. Diese Hunde unterschieden >ich
von anderen durch Erkrankung oder Verlust der Augen bhnd ge-
wordenen Hunden noch dadurch wesentlich, dass sie selbst in be-
kannten Räumen nur sehr mangelhaft sich zu orientieren lernten,
dass sie in ihnen nicht ganz geläufigen Räumen stets die Schnauze
zum Tasten zu Hülfe nahmen und z. B. niri^iaU eine Treppenstufe
hinuntergingen, wenn sie nicht den Boden der nach>U'n abzutasten
vermochten, während ein periphcr-blindcr Hund in kürzester
Zeit sich in ihm bekannten Räumen von einem sehenden Hunde
fast garnicht unterscheidet.
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Die EHtuneBunf 4er GeMrmßhytioUigie im XIX. Jtäithundert, 273
Wenn Münk aus der ihrer gesamten Ausdehnung nach fest-
gestellten Sehsphäre nur einzelne Stücke herausschnitt, fand er,
dass in dem Gesichtsfelde des operierten Tieres einzelne Partien
ausfielen, dass in demselben neue mehr oder minder grosse „blinde
Flecke" entstanden. Schnitt er seinen Hunden die am weitesten
nach vom gelegenen Teile der Sehsphäre fort, so wurde die obere
Hälfte der Netzhaut blind, und die Hunde konnten dann nicht mehr
sehen, was auf dem Fussboden vor sich ging und senkten den Kopf
nach Möglichkeit. Schnitt Münk die am weitesten nach unten
gelegenen Teile der Sehsphäre fort, so geschah das Umgekehrte.
Die Hunde sahen nur noch, was ganz unten vor sich ging und hoben
deshalb die Köpfe hoch in die Höhe; sie suchten unter allen Um-
ständen den Rest ihres Sehvermögens nach Möglichkeit zu ver-
werten. Beim Affen zeigte sich besonders deutlich, dass nach
Entfernung der rechten Hälfte des in der rechten Hirnhemisphäre
gelegenen Sehcentrums, die rechte Hälfte der rechten Netzhaut blind
wurde, bei Entfernung der linken Hälfte der rechten Sehsphäre die
rechte Hälfte der linken Netzhaut und dementsprechend bei
Operationen an der linken Sehsphäre. Nach dem Herausschneiden
einer grösseren in der Mitte der Sehsphäre gelegenen Stelle fiel das
centrale Sehvermögen aus. Die Hunde sahen nur noch was in der
Peripherie ihres Gesichtsfeldes vor sich ging. Bei dieser letzt-
genannten Operation, der Entfernung: der der Stelle des deutlichsteu
Sehens ents])recliondeii Ilirnpartie zciß^tcn sicli aber noch andere
g.iiiz merkwürdig^c Erscheinungen die iiunde sahen jetzt noch
ganz dcuthch und konnten ihre ( iesichtsempfiiuiungun nocli gut
für ihre lU^wegungen verwerten, sodass sie nirgends anstiessen ; ein
so operierter Hund kannte aber die Bedeutung aller Dinge, die er
unzweifelhaft sah, nicht mehr. Er fand nicht mehr den Weg die
Treppe hinauf und hinunter, er ging an dem Futternapf vorbei,
ohne ihn als schieben zu erkennen, er scheute nicht mehr vor der
Peitsche zurück, er war mit einem Worte das geworden, was man in
der Klinik als seelenblind bezeichnet; er sah die Gegenstände, al)er
er erkannte sie nicht. Der Hund lernte aber wieder erkennen; war
er erst einmal die Treppe hinauf gegangen oder gezogen worden,
war ihm einmal die Scimauze in den Futternapf gesteckt worden,
oder hatte er wieder einmal die Peitsche zu kosten bekommen, so
erkannte er alle diese Gegenstände wieder. Was er aber noch nicht
wieder kennen gelernt hatte, das blieb ihm dauern d verborgen.
Dabei war es ganz gleich, ob der Hund gleich ins Helle kam, oder
2*
4
274 äemtieh Sachs.
ob er längere Zeit nach der Operation im Dunklen gehalten wurd.:.
Man hätte sonst denken können, dass es nur «ner gewissen Zeit
zur Erholung bedurft hatte, und dann die Erinnerung von selbst
wieder gekommen wäre; aber die lange Zeit im Dunklen gehaltenen
Hunde mussten ebensogut wieder alle Dinge kennen lernen, wie
die bald nach der Operation ans Licht gebrachten.
Münk schloss aus seinen Versuchen, das cum Sehen zwei
Dinge gehören. Der Hund müsse die Dinge sehen, und er müsse
ausserdem ein Erinnerungsbild eines einmal gesehenen Gegen-
standes behalten. Münk nahm an, dass es im Gehirn und für
das Beispiel des Sehens speziell in der Sehsphare zwei verschiedene
Arten von Nervenzellen, Wahmehmungs- und Erinnerungszellen
gäbe, dass also mittelst einer Art von Zellen das Sehen zu Stande
käme, während in anderen Zellen der Rinde des Sehcentrums die
Erinnerungsbilder, je eines in einer Zelle, aufgespeichert würden.
£r nahm des weiteren an, dass für diese Aufspeicherung zunächst
solche Zellen benutzt würden, die der Stelle des deutlichsten Sehens
entsprachen, und dass deshalb nach dem Herausschneiden dieser
Stelle auch die in den Zellen lagernden Erinnerungsbilder gewisser-
massen mit herausgeschnitten würden, und dann erst wieder neue
Erinnerungsbilder in anderen erhalten gebliebenen Zellen gebildet
und angelagert werden müssten.
Aehnliche Verhaltnisse wie für das Auge fand Münk für das
Ohr. Die Entfernung einer bestimmten grösseren Rindenpartie
aus jedem Schläfelappen, oder auch nur dieselbe Operation an
einem Schläfelappen bei Zerstörung des gleichseitigen Ohres machte
den operierten Hund taub, sodass er auf Gehörseindrficke über-
haupt nicht mehr reagierte. Schnitt Münk dagegen nur eine be-
stimmte, in der Mitte dieses Centrums gelegene Stelle fort, so hörte
der Hund wohl noch, hatte aber alles das vergessen, was er früher
mit dem Gehörten in Verbindung gebracht hatte, wie z. B. die Be-
deutung der Worte „gieb Pfote", „mach schön**, „leg dich" u. s. w.
Auch jetzt musste der Hund die Bedeutung dieser Worte wieder von
neuem erlernen.
Ferner schnitt Münk die Centren für die einzelnen Glied-
niassen heraus, die den von Hitzig^ gefundenen elektrisch er-
regbaren Punkten entsprachen. Er umgrenzte auch hier mit mög-
lichster Genauigkeit ein Vorderbein-, ein Hinterbein-, ein Rumpf-,
ein Xacken-, ein Auj^cnbewcgungs-Centruni.
Wenn M u n k l)ei einem Hnnd z R. das Centruiii für das eine
Vorderbein vollständig entfernt hatte, trat zwar keine Lähmung
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Ute Entwicklung Jt^r üehimpiiyüologie im XIX. Jahrhundert. 275
des betreffenden Beins ein; der Hund konnte noch mit allen
vier Beinen laufen. Aber es stellten sich doch auffallende Defekte ein.
Der Hund lühite noch, wenn man ihn an der betreffenden Pfote
kniff oder etwa eine Klemme an dieselbe ansetzte. Während er
aber über eine ähnliche Behandlung jeder anderen Pfote sehr un-
gehalten war und nach dem störenden Finger biss oder die Klemme
mit grosser Sicherheit mit dem Maule erfasste und entfernte, inter*
essierte ihn das Drücken an der durch die Operation in ihrem
Centrum betroffenen Pfote nicht; er sah höchstens etwas nach der
gereizten Stelle hin oder bewegte den Kopf ein wenig. Die auf-
gesetzte Klemme war ihm sichtlich unangenehm, und er machte
allerlei unruhige Bewegungen, kam aber nicht dazu, wie an einer
andern Pfote die Klemme mit dem Maule zu entfernen. Brachte
man die Pfote aus der bequemen Lage heraus und legte sie recht
unbequem Hn, so Hess der Hund dieselbe ruhig liegen; stellte man
den Hund auf einen Tisch, der eine Art Versenkung hatte, eine
Fallthür, so zog er jede andere Pfote sofort in die Höhe, wenn sie
auf der hinuntergehenden Fallthür stand, die angegriffene Pfote
dagegen Hess er ruhig mit hinuntergehen. Auch beim Laufen
zeigte sich eine gewisse Unsicherheit; der Hund setzte die be*
troffene Pfote schief auf, nitschte oft mit derselben aus etc. Der
Hund vermochte auch die betroffene Pfote nicht als Hand beim
Festbalten eines Knochens oder beim Hervorholen eines Gegen-
standes zu gebrauchen.
Münk schloss aus allen diesen Resultaten, dass der Hund
mit dem zur Pfote gehörigen Centrum auch die Lage-, Bewegungs-
und Tastvorstellungen der betroffenen Pfote verloren habe.
Aehnliche Resultate erhielt Münk bei der Exstirpatton der
anderen Centren. So drehte sich ein Hund, dem er das Rumpf-
centrum an einer Seite fortgeschnitten hatte« niemals kurz nach
dieser Seite herum, sondern stets nach der anderen.
Hatte Münk ein Rindenfeld nicht vollständig entfernt, son-
dern einen kleinen Rest übrig gelassen, so fanden sich nach und
nach die verloren gegangenen Fähigkeiten wieder ein.
Es ist andern Forschem nicht gelungen, die Munkschen
Experimente mit gleichem Resultate nachzumachen. Wenn Goltz
einem Hunde die ganze motorische Region fortschnitt, fand er doch
nach einiger Zeit eine Wiederkehr der verloren gegangenen Fähig-
keiten auf der entgegengesetzten KÖrperhälfte. Diese Wiederkehr
lässt sich sehr verschiedenartig erklären. Auch für den Men-
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276
/femrich Sachs»
.sehen ist die Kreuzung zwischen Gehirn und Körper keine voll-
ständijBfe. Eine Reihe von Bew cgungen wie die Atmung, die Mund'
bewegungcn, die Augenbevvegungen u. a. können von jeder Gross-
hirnhälfte für beide Körperhälften bewirkt werden; bei anderen
Bewegungen wirkt eine Grosshirnhälfte zwar vorzugsweise auf die
entgegengesetzte, aber doch zum Teil auch auf die gleichseitige
Körperhälfte. Es wäre darnach sehr wohl möglich, dass auch beim
Hunde nach Verlust der einen Grosshirnhemisphäre die andere bis
zu einem gewissen Grade einträte.
Schliesslich hat auch Goltz wenigstens soviel zugestehen
müssen, dass die vordere Grosshirnhälfte mehr Beziehungen zu den
Bewegungen, die hintere mehr zu den Empfindungen, insbesondere
den SinnesempAndungen habe. Die Ergebnisse der klinischen
Untersuchung über die Bedeutung der einzelnen Centren stützen
durchaus die Resultate der Münk sehen Forschungen, soweit die
Centren im allgemeinen ihrer Lage und Begrenzung nach in Be-
tracht kommen.
Eine besonders bemerkenswerte Beobachtung hat Goltz an
seinen Hunden gemacht, wenn er denselben entweder beide vordere
Quadranten, oder beide hintere Quadranten des Grosshims
wegschnitt. Die Hunde, denen Goltz die vordere Himpartie
wegschnitt, wurden bösartig, die der hinteren Himabschnitte Be-
raubten dagegen gutmütig. Goltz giebt keine Erklärung für
diese eigentümliche Charakteränderung; eine solche Hegt indessen
nahe. F.s ist natürhch nicht so, dass die Gutmütigkeit im Vorder-
hirn, die Bösartigkeit im Hinterhirn läge, vielmehr entbehren die
des Vorderhirns beraubten Tiere der Geschicklichkeit ihrer Be-
wegungen, während ihre Sinnesorgane scharf geblieben sind ; sie
können ihren Intentionen nicht nachkommen, und es ist daher be-
greiflich, dass sie über ihre eigene T"'^ngeschickltchkeit ärgerlich wer-
den. Die des Hinterhirns beraubten Tiere dagegen befinden sich im
vollen Besitz ihrer Geschicklichkeit und können daher den geringen
Eindrücken, die sie überhaupt von aussen bekommen, sich voll-
ständig anpassen.
Dass derart iq-e ^^ersuche so ^^chwierig sind und so verschieden-
artig i^ede'jtet werden koimten. hnt mehrfache (iründe. Zunächst
sind dieselben an sich sehr schwierig, und man muss eine lanciere
Zeit der Vorbereitung daran wenden, um nur die Operationen
richtig auszuführen. Es ist ein Unterschied, ob jemand sich, wie
M unk, ein Menschenleben fast ausschliessHch mit derartigen
^ed by CjOOQie
Die ErtimkUimg dtr Gt/umptynohgie im XIX. yahrkumänt. 277
Versuchen beschäftigt hat, oder ob derselbe als .Xiiiaiiger an solche
heraiigt ht. Ferner ist die Deutung der Rcaullute sehr schwierig.
Es ist niiiuiiUr schon bei krausen Menschen gar nicht leicht, die
beobachteten Erscheinungen richtig zu deuten, unisoueniger bei
Tieren, die über ihr Inneres irgend welche Auskuntt nicht zu geben
vermögen. Schon bei einem etwas weniger gebildeten Menschen
die Grosse und Form des Gesichtsfeldes zu bestimmen, ist nicht
immer leicht, geschweige denn bei einem Hunde, bei dem man diese
Bestimmung nur daurch machen kann, dass man ihm eine Anzahl
von Fleischstuckchcn auf den iioden streut und nun darauf achtet,
welche er nimmt, und welche er liegen lässt.
Insbesondere die Deutung, welche Münk den Erscheinungen
der Seelenblindheit bei seinen eines umschriebenen Stücks der
Seh Sphäre beraubten Hunden gegeben hat, erscheint doch recht
zweiielliait. Die Auffassung. il;iss man einem Hunde mit dem
Centrum gewissermassen die Frnnierungsbilder fortschnitte, ist eine
etwas grobe, mechanische, und sie erklärt nicht einmal die Fr-
scheinungen. Wenn man sich tragt was dazu nötig ist. damit ein
Hund vor der Peitsche zurückschrecke, findet man, dass dazu drei
Dinge gehören. Der Hund nmss eine Erinnerung an die Peitsche
haben, er muss ausserdem eine Erinnerung an die früher damit
bekommenen Prügel haben, und beide Erinnerungen müssen in
der Seele des Hundes miteinander in Verbindung stehen. Ins
Anatomische übersetzt würde das lauten : es muss in der Sehsphäre
ein Erinnerungsbild (d. h. eine molekuläre Veränderung, deren
psychisches Korrelat das Erinnerungsbild ist) der Peitsche sich
befinden» ferner in einer anderen Region des Gehirns, etwa seinem
Rumpfcentrum ein Erinnerungsbild an die früher erlittene Züch-
tigung und den damit verbundenen Schmerz, und diese beiden
Centren müssen durch eine Nervenbahn, eine Assoziationsbahn,
niit einander verbunden sein. Wird die Bahn Peitsche-Schmerz
an irgend einer SteUe unterbrochen, so wird der Hund vor der
Peitsche nicht mehr zurückscheuen. Nun wird die Peitsche am
deutlichsten mit dem Mittelpunkte der Netzhaut gesehen ; von der
entsprechenden Stelle der Sehsphäre aus werden also vorzugs-
weise Assoziationsfasern in Thatigkeit gesetzt, oder wie man sagt,
aasgeschliifen, welche zum Erinnerungsbüde des gefühlten Peit-
schenschlages führen. Schneidet man also diese bestimmte Stelle
fort, so ist damit die Bahn Peitsche-Schmerz unterbrochen; es
thüssen nun erst andere Assoziationsfasem ausgeschliffen werden,
278
Hthtfi^ Sacks.
welche aus den Seitenteilen des Sehcentrums kommen, damit die
Bahn wieder letstun^hig: wird.
Auch diese Aiiffassung' ist noch eine rohe und sicher nicht
völlig (k-n Thntsaclu-n entsprechende. Ich kann indessen anf eiue
genauere I^ariegung in dem Rahmen dieses Vortrages nicht ein-
gehen, da uns eine solche viel zti weit führen würde. Ks kam mir
nur darauf an. fcsl zustellen, da^s die M unk sehe Deutung der Er-
gebnisse seiner l ntersuchungen an Tieren nicht in allen Punkten
richtig sein kann. Die hervorragende Bedeutung der l^xperinientc
selbst wird durch die nian-^elhatte Deutung im einzelnen natürlich
iiiclit im gering.stcn verringert.
Während die Physiologen in der beschriebenen Weise weiter
arbeiteten, ist die Klinik nicht stehen geblieben, hat uns vielmehr
eine ganze Reihe weiterer Resultate geschenkt. Dass für den Men-
schen die Lage der Ccntrcn für Anne. Beine. Gesicht. Auge und
niir festge.stcllt wurde, habe ich schon erwähnt. Man hat eine
Reihe weiterer Beobachtungen gemacht, welche .-Xnaloga zu den
Sprachstönmgen der Aphasie darstellen und sich auf denselben
Bahnen bewegen, wie die Ergebnisse M u n k s an seinen operierten
Hunden. Man hat nach Zerstörungen im Gebiete der Sehpharc
oder deren Nachbarschaft eigenartige Symptomenbilder beobachtet,
wie z. R. die sogenannte Seelenblindheit, bei welcher die betroffenen
Menschen gerade wie die M u n k sehen Hunde die Gegenstande
wohl sehen, aber die gesehenen nicht erkennen, oder die sogenannte
optische .Aphasie, bei der der Kranke den Gegenstand sieht und
erkennt, nur seinen Nanu-n nicht findet, während ihm dieser Name
sofort einfällt, wenn er den Gegenstand betastet oder ein von den-
selben ausgehendes charakteristisches Geräusch (Klingeln einer
Glocke) hört. Auch auf diese Dinge genauer einzugciicn fehlt die
Zdt
Mit einigen Worten will ich noch auf die neueste Phase der
Gehirnanatoniie eingehen die F 1 e c h s i g sehen .Anschauungen
am Schlüsse des Jahrhunderts. Ks ist nicht ganz leicht über
Flechsig zu berichten und zwar deshalb, weil in der schon
ziemlich stattlichen Anzahl von Veröffentlichungen F 1 e c h s i g s
in den letzten jähren sein ."^t.indijunkt sich regelmässig von einer zur
anderen geändert hat. sodass man niemals mit Sicherheit sagen
kann, welches eigentlich Flechsigs gegenwärtige Anscliauung
sei ; und die Erfahrung hat gezeigt, dass Flechsig sehr unan-
cd by CjOOQie
Die Entwicklung der Gthirnphysiologii: ü/t XJX. Jahrhundert.
279
genehm wird, wenn man etwa Statt von seiner letzten von seiner
vorletzten Publikation spricht.
Der wesentliche Kern der Anschauung F 1 e c h s i g s ist fol-
gender: Er unterscheidet zwei grosse Gruppen von Hirnrinden-
feldern. Die eine Gruppe steht in Beziehung zu den Organen des
Körpers ; das sind die Frojektionscentren. Zwischen den ein^^elnen
Projektionscentren liegen andere, noch ausgedehntere Felder, die
Associationscentren, welche mit dem Körper keine direkte Ver-
bindung haben, und in welchen die höheren geistigen Leistungen
vor sich gehen. Flechsig suchte in den einzelnen grossen Fel-
dern von einander getrennt die Persönlichkeit, die Tntcllip;'enz, das
geniale künstlerische Schaffen etc. In späteren Veröffentlichungen
wuchs die Zahl der Felder immer mehr, sodass sie jetzt etwa 40
beträgt. Flechsig erklärt z.B. die Thatsache. dass die Affen
nicht sprechen können, daraus, dass ihnen sein Feld 23 und 39 (es
können aber auch andere Nummern sein) fehlt.
Alle diese Anschauut^n Flechsigs entbehren völlig der
zureichenden Grundlage und haben von keiner ernsteren Seite Be-
stätigung oder Zustimmung gefunden.
Blickt man noch einmal auf die Entwicklung des Jahrhunderts
zurück, so findet man ewischen Beginn und Ende gewisse überein-
stimmende Momente. In der Lehre der Phrenologen, wie der
modernen Physiologie zerfällt das Gehirn in eine Anzahl von Feldern
verschiedenartiger Funktion. Während aber von Galt und seinen
Nachfolgern bestimmte komplizierte Eigenarten der Seele in be-
stimmten Himteilen gesucht wurden, lokalisieren wir jetzt nur die
allerelementarsten Funktionen, das grobe Material, aus welchem
erst das psychische Leben entstehen soll, und wir sehen als das
Wesentlidiste nunmehr nicht die Oberfläche des Gehirns an, son-
dern vielmehr die Verbindung aller Teile des Gehirns unter ein-
ander durch die in der Tiefe des Gehirns liegenden Assoziations'
fasern. Diese alle Teile der Hirnrinde unter einander verbindenden
Fasern und ihr Zusammenwirken geben den unzähligen Kom-
binationen des Geisteslebens die anatomische Grundlage*
Zwischen beiden Perioden fand sich die Zeit, in der man das
Gehirn ab ein Ganzes betrachtete, dessen einzelne Teile einander
völlig gleichwertig seien.
So steht unsere Spezialwissenschaft gegenwärtig wieder ge
Wissermassen an demselben Punkte der grossen Spirale, in der sich
alle Wissenschaft entwickelt, nur eine Etage höher, und wir könnten
■
2^0 Hemridi Sachs.
im Laufe der weiteren EnUvicklimo nun wieder zu dem Punkte kom-
men, an dem wir unsere ^nze Lokalisationslchrc als eine Täuschung
ansehen und die Erscheinungen der Lokalisatiou nur dadurch be-
ding^ finden, ilass die von der Peripherie kommenden Fasern an be-
stimmten Punkten des Grosshirns endigen, so dass die beobachteten
Erscheinungen gar nicht von der Verletzung des Grosshirns, sondern
von der Verletzung der zu- und abführenden Fasern abhingen.
Indessen ist es nicht wahrscheinlich, dass die Entwicklung
nach dieser Richtung weiter geht. Vielmehr ist zu erwarten, das»s
beide einander bekämpfenden Anschauungen von der Bedeutung
des Gehirns und seiner Teile sich in bestimmter Weise vereinigen
lassen. Die Wrhälluisse sind eben nicht so einfach, wie die eine
oder die andere P'artei, die Unitarier und die Lokalisten. wie sie
druch Goltz und Münk vertreten waren, es sich vorstellen:
anderenfalls wäre es j^ar nicht verstandlich, dass zwei Forscher
von der hervorragenden Bedeutung der beiden Genannten ans
einem analog^cn Rcnbacfitunq^sinaterial geradezu entgegengesetzte
Schlüsse hätten herausziehen können.
Wahrscheinlich sind eben nur, wie oben schon angedeutet, die
allerelementarsten Dinge, die groben Empfindung^en, in den ein-
zelnen Partien des Gehirns lokalisiert; dagegen bedarf es selbst
zu einer einfachen psychischen Leistung des Zusammenwirkens
aller Grosshirnteile, wie das in einfachster Form schon aus dem
früher angeführten Beispiele des vor der Peitsche scheuenden
Hundes hervorgeht. Indem durch die alle Teile des Gehirns
untereinander verbindenden Assoziationsfasern die gesamte Hirn-
rinde in ein einziges und einheitlich arbeitendes Ganze zusammcn-
gefasst wird, wirkt die Verletzung eines einzelnen umschriebenen
Gebietes auf alle anderen Teile ein und ist so imstande, die Funk«
tionen aller anderen Teile, d. h. des ganzen Gcliirns zu schädigen.
Auf diesem Wege dürfte sich im Laufe der Zeit aus der Ver-
bindung der beiden entgegengesetzten Standpunkte eine Auffassung^
herauskrystallisieren, welche allen Teilen gerecht wird und auf einer
höheren Entwicklungsstufe unserer W^issenschaft aus den dem An-
scheine nach einander unvereinbar gegenüber stehenden Beob-
achtungen und Anschauungen ein einheitliches Gebäude ent-
stehen lasst.
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üedächtnisuntersuchungen an Schülern.
Von
F. K e m s i e s.
IV.
Die aufgestellten Typen B und C dürfen nicht ohne weiteres
mit visuellem und akustischem Typus identifiziert werden ; denn bei
jenen handelt es sich um eine leichtere Aufnahme von Gesichts-,
resp. Lautbildem unter gleichen Bedingungen, während das kon-
stante Hervortreten der betr. Gedächtnisbilder in verschiedenen
geistigen Vorgängen das hervorstechende Merkmal der letzteren
ist; es könnte wohl auch vorkommen, dass gerade die schwerer
eingeprägten Bilder dauernder haften und vorherrschend würden.
Ob also Typus B stets auch ein visueller T)'pus ist, bedarf noch
einer weiteren Prüfung.
In beiden Gcd.ichtnisarten bringt die kombinierte Me-
thode kein pc:^t( igertes Ergebnis, doch ist ans den ZaliU n ersicht-
lich, dass die bessi re sensorischeAnlage prävaliert. Tlicoretisch Hesse
sich noch ein Ty])ns aufstellen. l»ei dem durch das Zusammenwirken
dos visuellen imd des akustisch-motorischen Gedächtnisses bessere
Resultate erzielt würden als durch das einsinnige Lernen. In der
That wurde er bei mehreren Schülern angetroffen, vgl. Tabelle D.')
Wir zählen im diskontinuierlichen Verfahren bei dem Unter-
tertianer Naum. visuell 5 — 7, akustisch 7 — 9, kombiniert aber nur
4 Wiederholungen, (l^'in Typus A unter diesen Umständen aufrecht
zu erhalten, ist die Annahme erforderlich, die sich bei einigen Ver-
suchspersonen verifizierte, dass hier die Zahl der notwendigen
Wiederholungen für alle drei Lemweisen dieselbe ist.)
*) Die Tabellen enthalten nicht sämtliche Versuche, die angestellt
limr<1en, die ersten 3 bis 5 sind überall fortgelassen. In Tabelle C Versuch XIV
gehören die unter ühlerh. ReprrMj. angegebenen Zf»h!en eine Zeile hoher
zu Umstellungen, die unter ungcn. Wörter angeführten eine Zeile höher
ni fehlerh« Reprod.
282
P. Jümsies,
Der Schüler Sehz. (Tabelle C) gilt als normal befähigt, er hat
in allen Unterrichtsgegen ständen gciiugende. z. T. gute Censuren
aufzuweisen und ist in regelmässigrer Folge jährlich eine Klasse
aufgeruckt, sein Lebensalter beträgt 13 Jahre. Dassdbe lässt sich
von Naum. sagen, der mit ihm gleichaltrig ist. Die ersten drei
Beispiele bestätigen demnach die öfters hervorgehobene That-
sache, dass ein hervorragendes mechanisches Gedächtnis neben
allgemeiner geringer Begabung einhergehen kann wie bei Schm.,
dass jedoch zur Erzielung ausreidiender Kenntnisse auf mehreren
Gebieten nicht nur „Verstand*'» sondern auch ein leidliches Gedächt-
nis Erfordernis ist.
Ob die sensorische Eigenart des Gedächtnisses mit tieferliegen-
den Eigenschaften der Versuchsperson zusammenhangt, oder ob
sich die Unterschiede in der Begabung im Laufe der weiteren Ent«
Wickelung ausgleichen, dafür fehlt es leider gänzlich an Beob-
achtungen. Dagegen ergab sich wiederholt ein gewisser Zusammen-
hang zwischen schwerem Gedächtnis und sonstiger Leistungsl^hig-
keit der Person.
Ein schweres Gedächtnis bildet für den Ablauf der
geistigen Prozesse eine fortwährende starke Hemmung, die
sich leider auf keinerlei Weise ausschalten lasst. Der Quartaner
Mart. bietet einen derartigen Fall, vgl. Tabelle E. Er ist ein
massiger Lerner nach dem kombinierten diskontinuierlichen Ver-
fahren, da er 7 — 9 Wiederholungen braucht, er lernt schwer nach
dem visuellen und sehr schwer nach dem akustischen Verfahren,
indem er mit W,« nur bis % der Versuchsarbeit erledigt. M. ist
15 Jahre alt, er hat stets zu den schwächsten Schülern seiner Klasse
gehört und trotz dauernder Nachhilfe durch Privatlehrer und fort-
laufenden Repetitionen kein sicheres Wissen in irgend einem Gegen"
Stande erworben. In der Tabelle fallen zunächst die starken
Schwankungen der Gcdächtnisleistung auf. Die wechselnden
Ergebnisse bei verschiedenem Verfahren wurden von allen Versuchs-
personen auf individuelle Verschiedenheiten in der Konzentrations-
fähigkeit bezogen ; die Oscillationen bei derselben Methode wurden
dagegen als normal betrachtet, sie betrugen in der Regel nur
2 Wiederholungen (mit einzijjfer Ausnalimc des \''ersnchs 1 in Tabelle
C. v,o am Schlüsse 3 Wiederholungen zum Einprät;en der letzten
Vokabel n«>ti<^ sind). M. hat ^r'.sscro r|uantitati\e DitiV-rcirz-'n , <lie
vielleicht von einer öfteren Unfäliigkeit, die Aufmerk-
samkeit zu konzentrieren, herrühren.
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286
F. Ketnsies.
Charakteristisch ist ferner die grosse Zahl der unver-
knüpften Bedeutungen, bis zu 6 in i Reproduktion, der
Umstellungen, fehlerhaften Reproduktionen und der unge-
nannten Wörter; die letzteren sind bis zur Unkenntlich-
keit verstümmelte Fremdwörter, aus denen erst <^anz allmählich
fehlerhafte und schliesslich korrekte Wörter hervorgeiien. Diese
Inexaktheit in der Auffassung tmd Wiedergabe fremdartiger
Lautkomplexe ist ein fernerer Mangel des schweren Wortgedacht-
nisses, der einen tiefen Einfluss auf die Qualität der höheren
Prozesse ausüben dürfte. Alle Faktoren wirken dahin, dass das
bereits Gelernte nicht immer iestgeiialten werden kann, dass die
Fremdwörter nieder korrumpiert werden — oder ganzlidi aus
dem Bewusstsein entschwinden, also ein rückläufiges
Lernen zuweilen eintritt.
Tabelle F führt diese Verhältnisse in noch ausgeprägterer Weise
vor. Der Schüler Hard., im gleichen Alter wie der vorige und sein
Klassengenosse, gehört zu den schwächsten Elementen der Schule ;
dennochist sein Arbeits- undZettaufwandfürdieSchularbeiten enorm.
Bei ihm ereignete es sich wiederholt, dass er die am Abend gelernte
und vorzuglich vorgetragene Lektion am nächsten Morgen nicht
mehr beherrschte und infolgedessen einen Tadel wegen Trägheit
erhielt, er, der unzweifelhaft fleissigste aus der ganzen Anstalt. Dass
ein Schüler von solch geringer Begabinig nicht in eine höhere Lehr-
anstalt gehört, und dass er zuweilen an schweren geistigen Depres-
sionen litt, sei nebenbei bemerkt.
RückläufigesLernen tritt deutlich ein in den Versuchen
II, IV, V, XV, XVIII. und zwar nicht infolge einer plötzlichen Zer-
streutheit oder äusseren Ablenkung, sondern veruracht durch E
m ü d u n g. Das Erlemen von lo Vokabeln übersteigt die momentane
Leistungsfihigkeit der Versuchsperson; denn sie gelangt nur bis
zu einem bestimmten Punkte, von welchem ab das Vergessen das
Neulemen überwiegt. An einigen Tagen (XV, XVI) wird in den
ersten 4 — 5 Wiederholungen ein energischer Vorstoss gemacht,
der die zur Verfügung stehende Energie aber so vollständig ab-
sorbiert, dass sofort ein langsames Abbröckeln des Gelernten ein*
tritt ; an andern Tagen (I, III, XVI) rückt H. langsam aber stetig
bis Wio vor, das Endergebnis ist jedoch wechselnd, und das Lenmel
wird nicht ein Mal erreicht. Dieser Fall erscheint pathologisch.
Die Inexaktheit im Lcrnprozess ist ausserordentlich gpross.
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Gedäe^mistuU*rsiickungm m AAiUm*.
287
Wenn wir die Zahl der Umstellungen, fehlerhaften Wiedergaben
und ungenannten Vokabeln für loo gelernte Wörter unter Be-
rücksichtigung sämtlicher Reproduktionen berechnen, so erhalten
wir sehr charakteristische Zahlen für die einzelnen Lemer: die
geringsten Prozentsätze bei den beiden besten Schülern Sehz. und
Naum. (C und D), einen erhöhten Satz, insbesondere für ungenannte
Wörter,, bei dem vorzüglichen Lerner Schm. (B), schliesslich sehr
hohe Zahlen, speziell wieder der ungenannten Wörter, bei Mart.
und Hard. (£ und F).
Tabelle
€
B
P
0,'
1 0
%
7o
•/•
Umstellungen
9,1
8,2
5,6
22,7
32.7
fehlcrh. Repr.
17,3
15,6
16,9
21,4
23,0
ans. Wörter
M
1,6
1,4
20,0
12,0
Auf welche Weise kommen die „ungenannten" Wörter zu
Stande? Liegt hier ein Mangel des Sensoriums, der Aufmerksam-
keit oder des Gedächtnisses vor, oder spielt bereits Kombinations-
thätigkeit mit? Wenn sich diese Fragen auch nicht sofort be-
antworten lassen, so beansprucht doch die in den Zahlen liegende
Thatsache unsere volle Würdigung ; sie führt uns vielleicht auf den
ersten Anfang einer pädagogischen Diagnostik. —
Um Vergleichs material zu gewinnen, wurden noch mit
drei jüngeren Kindern Versuche angestellt, die in Tabelle G vor-
gefüiirt sind. Der Ouintaiior K. K., II Jahre alt. wird als hin-
reichend bcfahij^L anpreschen, denn er lainint einen der ersten
Klassenpiai/.e ein; der Sextaner K. F., ebenfalls ii Jahre alt,
gilt als mangelhaft begabt ; endlich der Scptiinaner D. K., 9 Jahre
alt, als nicht unbefähigt. In Rezup auf Schnelligkeit des Lernens
sowohl als aucli auf Korrektheit gebührt K. K. der erste Platz
unter den dreien, er übertrifft auch bei weitem die Quartaner
Mart. und Hard. und kommt den Untertertianern gleich. Mit den
beiden Quartanern kann sich si\<;ar noch der Septimaner messen,
obwohl bei ihm die Zahl der fehU rhaften Reproduktionen gross ist.
Schlechter fällt dap^cf^en der Lernprozess bei K. F. aus, im ersten
Versuch ist die Zahl der ungenannten Wörter, im zweiten die der
ZeHichrift fir pUagogbcfae Pqrcbolocie und Pifliolocie. 3
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W, W, W, W4 w, w, w, w, w»
II
2.a noi
W, W, W, W4 Ws w.
behaltene Wörter
richtig verknüpft
falsch verknüpft
unverlm. Frendw.
imverkn. Bedeutung.
2 4 10 10 9 12 15 17 20
2 4 10 6 6 12 14 16 20
2
1 1
12 11
3 6 B 15 18 20
2 4 8 14 18 20
1 2 1
synonyme Bed.
Umstellungen
fehlerhafte Reprod.
ungen. Warter
1
2 112
12 3 3
1
K.
T
W, W,W,W«W5 W«W, W,W,W,u
tisch:
F.
TT
3. 8. 1801
W.W.W.W.W.W.WfW.W.W,.
behaltene Wörter
richtig verknfipft
falsch verknüpft
unvcrkn. Fremdw.
unverlm. Bedeutung.
1 6 b 8 10 10 9 9 14 13 13
446 8 668 8 10 10
2 2 2 2 6 2
1 1 1
2 2 2 1 2
4 5 6 7 10 12 12 12 11 14
4 4 6 6 8 12 12 12 10 14
2
1
1
synonyme Bed.
Umstellungen
fehl'Mi..-i''tt Prprod.
ungen. Wörter
2 2 1
1121 21222
3 2 2 1 2 3
2343777755
1 1
a k tt 8 t
D.
I
25. 7. 1901
WiW,w,W4W, W.W, \v;\v ,
lacht
K.
IT
WiW,W,W«W» W.W7 WbWbW»,
behaltene Wörter
richtig verknüpft
falsch verknüpft
unverkn. Fremd r
nnverkn. Bedeutung.
2 2 3 4 6 8 8 10 12 13
2 2 2 4 6 8 8 10 12 12
1
1
2 4 5 6 9 10 11 15 16 18
2 4 4 6 8 8 10 14 14 18
2
1 1
2 1 1
synonviTir Bed.
Umstellungen
fAtehifte RQirod.
tugen. Wörter {
1112344566
1 1
3
1 2 3 1 2 2 3 4 4
cd by CjOOQie
GtäddUMisuntersuckunfeH m Scküiem,
291
fehlerhaften Reproduktionen beträchtlich, sie erinnert stark an die
Tabellen £ und F, so dass die Prognose für diesen Schuler un*
günstig ausfallen dürfte.
Aus den vorgeführten Beispielen nach der einen oder andern
Richtung allgemeine Sätze oder pädagogische Forderungen abzu-
leiten, wäre verfrüht ; sie sollen z. Zt. nur eine Matenal-
sammluiig vurstellen, die der Vermehrung sehr bedürftig ist, in-
dessen enthalten sie schon einen Beitrag zur Feststellung des
„Durchschnittsschülers'', jener Fiktion, mit der in der Pädagogik
fortwährend gerechnet werden muss.
Denn die Lchrziele einer jeden Anstalt, die Lehrstoffverteilung
auf die einzelnen Klassen, die täglichen Arbeitspensen, aber auch
die Unterrichtsmethodik sind auf einen fiktiven Durchschnitts-
schüler zugeschnitten, der gewiss bei jedem Lehrer und jedem
Unterrichtsgegenstand ein anderes Aussehen trägt. Seine wirk-
lichen Züge in jeder Klasse an der Hand der zu Tage tretenden
Leistungen zu beobachten, fällt zwar dem betr. Klassenlehrer zu,
doch dürfte eine psychologische Analyse mittels genauerer Metho-
den manche feineren Differenzen und Abstufungen ergeben, die
nicht unwichtig waren.
Kann man z.B. nach dem Ergebnis der jährlichen Klassen-
Versetzungen in den höheren Lehranstalten nicht die Vermutung
aussprechen, dass die Arbeitspensen und der Arbettsmodus dem
dritten Teil oder gar der Hälfte der Schüler nicht angepasst sind,
und dass für diese ein langsameres Tempo bei vermehrter Klassen-
zahl oder andere Methoden vorteilhafter sein würden? Wie
könnte das einwandsfrei festgestellt werden?
Bei jedem von der Norm abweichenden Fall mfissten psycho-
logische Untersuchungen stattfinden, die in diagnostischer, prog^
noatischer, ev. therapeutischer Hinsicht zu verwerten waren. Aber
auch die „Norm" selbst ist heute noch ein pychologisches Problem.
4^
Digitized by Google
Ueber die Aufnahme der Schüler in die unterste
Klasse hdherer Schulen.
Von
Karl LÖtehhorn.
Es erscheint beifallswert und ist auch von der 6. preussischen
Direktoren-Konferenz einstimmig gebilligt, dass die Schulaufsichts*
behörden das vollendete neunte Lebensjahr als Normaljahr für den
Eintritt in die Sexta ansehen. Vorausgesetzt wird dabei eine ge*
wisse Geläufigkeit im Lesen und Schreiben deutscher und
lateinischer Druckschrift, natürlich auch eine vollständige Ueber«
Windung der mit diesen Lehrgegenständen für Kinder anfänglich
fast stets verbundenen Schwierigkeitoi, ferner Fertigkeit, Diktiertes
ohne grobe orthographische Fehler nachzuschreiben, und Sicherheit
in den vier Grundredinungsartenr früher auch einige Vorkenntnisse
in der Religion, d.h. Bekanntschaft mit den unentbehrlichen Ge-
schichten des alten und neuen Testaments. letztere Bestimmung
wird in der Praxis wohl nirgends mehr ausgeführt, abgesehen da*
von, dass der Lehrer, seitdem der Religionsunterricht nicht mehr
obligatorisch ist, rechtlich nicht einmal befugt ist, Kenntnisse
in der biblischen Geschichte von einem in Sexta neueintretenden
Schüler zu verlangen. Dazu kommt, dass wenigstens in allen
Elementarschulen die biblische Geschichte thatsächlich in solcher
Ausdehnung getrieben wird, dass eher zu viel als zu wenig gelernt
wird, und die Kenntnisse jedes aufzunehmenden Sextaners, der von
einer solchen Lehranstalt kommt, in diesem Gegenstande umfang-
reicher sind als sie zu sein brauchen. Ja, es kommt oft der Fall
vor, dass der Neueintretende schon das ganze Pensum der Sexta
und Quinta in Religion kennt, ehe er nur eine Stunde Religions-
unterricht in Sexta einer höheren Schule selbst genossen hat. Es
empfiehlt sich daher diese Forderung ganz fallen zu lassen.
Schwieriger ist die Sache bei der Aufnahmeprüfung im Deutschen
und Rechnen, zumal die Rezipienden vielfach eine wesentlich ver-
Digitized by Google
Die Äu/nakme der SeJUUer in unlersU Kiaue höherer Sehtäen, 293
schiedene Vorbereiumg hinter sich haben. Die einen kommen,
was freilich jetzt bei dem beabsichtigten Eingehenlassen aller der-
artigen Schulen immer seltener wird, von einer mit einer höheren
Lehranstalt verbundenen Vorschule, die anderen von einer Volks-
schule, d. h. Dorf-, Stadt- oder Bürgerschule, deren Lehrplan in den
drei nnteren Klassen ziemlich übereinstimmt, und die dritten sind
durch Privat-Unterricht vorgclaldet. Schon dieser äussere Um-
stand ersciiwert das Urteii über die Schüler und namentlich die
strenge Durchtührung der Aufnahmebedingungen sehr, (nites
und ausdrucksvolles Lesen kann nicht verlangt werden, /nnial in der
Dorfschule vielfach darauf nicht genug geachtet wird und dies erst
in den unteren Klassen der höheren Schulen gelernt werden soll,
dagegen ist jeder Knabe unnachsichtlich zurückzuweisen, der nur
mühsam zu lesen imstande ist. Bei den Schwierigkeiten der neueren
Orthographie dürfte es sich wohl empfehlen, wie auch schon v. Gru-
ber, ,.l'e])er die veränderte Stellung und Bedeutung des lateinischen
Unterrichts auf Gymnasien." Programm des Gymnasiums zu
Stralsund. 1864» 7 wollte, vom Schüler die Fertigkeit zu verlangen,
ein Diktat, in welchem keine ungewöhnlichen Worte vor-
kommen, ohne grobe Fehler nachzuschreiben, von ihm auch zur
Erprobung der technischen Fertigkeit einige Zeilen Schönschrift
zu fordern, natürlich unter Benutzung von Linien. Als Normal-
alter wird das neunte Lebensjahr betrachtet, was keineswegs aus*
schliesst, dass man einen befähigten und gut vorgebildeten Knaben
bestimmt auch dann in Sexta aufnehmen wird, wenn er erst im
Laufe des Schuljahrs, am gewöhnlichsten wohl im Laufe des ersten
Vierteljahrs desselben, das neunte Lebensjahr vollendet. Hierauf
gehen die in dem Ministerial-Erlass vom 30. Juni 1876 stehenden
Worte : „in der Regel*\ Kinder von normaler geistiger und körper-
licher Entwickelung können ruhig, ohne sich zu sehr anzustrengen,
ihre Schulzeit mit sechs Jahren b^innen» indem sie in diesem Alter,
wie schon Hirzel in Schmids Encyklopadie des gesamten Er«
ziehungs- und Unterrichswesens I, S. 307 mit Recht hervorhebt,
so viel Wissbegierde, Beschaftigungstrieb, Phantasie und Form-
sinn, endlich eine solche Empfänglichkeit des Gedächtnisses zeigen,
dass der gelinde Anfang einer ernsteren Beschäftigung, einer etwas
anhaltenden Spannung der Aufmerksamkeit, einer unbewusst
waltenden Geisteszucht naturgemäss zu sein scheint.
Nach vollendetem fünften Jahre, ja zuweilen noch früher
pflegen Kinder, auch wenn sie, wie es naturgemäss ist.
Digitized by Google
294
gern spielen, mit X'orlicbc siundcjilang auf der Rcclua-
latel zu kritzeln. Zahlen und Buchstaben, die man ihnen
vorschreibt, nachzumalen und kleine Rechenaufgaben im Kopfe
zu lösen, weshalb es nicht angezeif^t erscheint, wie manche
Pädagogen vor'=rhlagen. das zurückgelegte siebente Lebensjahr als
das Normaljahr für den Eintritt in die Volks- oder Vorschule einer
höheren Lehranstalt anzusehen, atu allerwenigsten mit der >chon
wiederholt vorgebrachten Begründung, dass zwei in einer zwei-
klassigen Elementar- oder Vorschule zugebrachte Jahre zur Vor-
bereitung für Sexta ausreichten. h>st steht dagegen, dass selbst
mir massig begabte Schüler, vorausgesetzt, dass sie sich allmalilich
und sicher fortschreitend entwickeln, ohne grosse Anstrengungen,
namentlich ohne irgendwie mit vielen häuslichen Arl)eiten ultcr-
häuft zu werden, die zur Aufnahme in die Sexta erforderlichen
Kenntnisse erlangen. An Zeugnissen wird man bei der Anmeldung
von jedem in Sexta Neuaufzunelimenden nichts weiter als einen
Impfschein, einen T^uf- bezw. Geburtsschein und ein Zeugnis, am
liebsten ein Abgangszeugnis von der von ihmbisher besuchten Schule
oder dem Privatlehrer, dessen Unterricht er zuletzt genossen, vcr*
langen, zumal die Ausführung der Ministerial-Verfügung vom
30. Juni 1876« wonach die Vorlegung eines ordnungsmässigen Ab-
gangszeugnisses der entlassenden Schule gefordert wird, in der
Praxis nicht selten auf grosse Schwierigkeiten stösst. Bekanntlich
sind die von Volks-, besonders Dorfschulen ausgestellten Abgangs-
zeugnisse fast immer so inhaltsleer, dass man in ihnen nur sehr
selten eine genaue Charakteristik des Schülers findet^ ja Volks-
schulen sind zur Ausstellung eines Abgangszeugnisses nicht einmal
unbedingt verpflichtet. Die von einzelnen Privadehrem, nament-
lich Kandidaten der Theologie oder Geistlichen, ausgestellten Zeug-
nisse brauchen, seitdem das Privatschul- und Privaterziehungs-
wesen der staatlichen Beaufsichtigung unterstellt ist, nicht mehr
mit demselben Misstrauen angesehen werden, wie ehedem ; jeden-
falls enthalten sie oft eine genauere Beurteilung des SchfUers, als
man sie von einer Volksschule erlangen kann. Was die Ministerial-
Verffigung vom 30. Juni 1876 betrifft, welche dem Direktor das
Recht zugesteht, einem Schaler, dessen Abgangszeugnis einen er-
heblichen Tadel ausspricht, die. Aufnahme zu versagen, so wiid
man sie wohl nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anwenden
können, zumal selbst Verwiesene oft noch sehr besserungsfähig sind
und sich spater thatsachlich oft bedeutend gebessert haben. Gnt
. Kj by Google
Die Aufnahme der Üchüler in die unterste Klasse höherer Schulen, 29S
wird man dagegen Ihun. im geschil<1erten Falle ^tet.s Erkundigungen
einzuziehen und den Schüler, dessen Abgangszeugnis einen erheb-
lichen Tadel enthält, vorerst nur bedingungsweise aufnehmen, d. h.
seinem Vater oder Vormund eröffnen, dass Rückfall in den alten
Fehler den sofortigen Ausschluss des Schülers zur Folge haben
würde. An zahlreichen, in kleineren Orten gelegenen Anstalten ist
es Sitte, dem Vater oder Vormund des Neuaufzimchmenden eine
von der Aufsichtsbehörde genehmigte Schulordnung einzuhändigen
und von ihm die Unterschrift eines auf der letzten Seite derselben
abgedruckten Formulars, wodurch er die Verbindlichkeit der Schul-
ordnung für seinen Sohn oder Mündel anerkennt, ausdrücklich zu
fordern. Diese von der sechszehnten westfälischen Direktoren-
Konferenz (Erler, Verhandl. S. 79, 80) gebilligte Anschauung hat
viel für sich, vorausgesetzt allerdings» dass sie nicht als rein
juristisches Kontraktsverhältnis, sondern vielmehr als Ausdruck
eines gewissen Vertrauensverhältnisses aufgefasst wird. Anderen-
falls wäre sie verwerflich.
Digitized by Google
Ueber die Furcht der Kinder«
Vortrag,
(gehalten imVerctnfürKinderpsychologiezuBerlin
am I. Februar 1901.
Von
Leo HirsehlAff.
Meine Damen und Herren!
Wenn das Studium der kosmischen Phaenomene, die Er-
forsdiung des künstlerisch vollendeten Aufbaues des Weltalls unsere
Seele mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt und geeignet er«
scheint, jenes geheime Bedürfnis unseres Herzens zu stillen, das
uns antreibt, uns als Glieder eines atiumfassenden Ganzen zu fühlen,
so liegt der Reiz der Beschäftigung mit den psychischen Er<
scheinungen vielmehr in der Möglichkeit, in das Getriebe der
erforschten und ^kannten Faktoren absichtlich und werkthatig
einzugreifen und es nach den Forderungen der normativen Wissen-
schaften umgestaltend zu veredeln. Von jeher galten die Ge-
mütsbewegimpen, die Affekte, die Leidenschaften als derjenige
Teil des Seelenlebens, auf den sich eine solche Korrektion des
natürlichen Geschehens vornehmlich zu richten habe. Hatten
doch schon die alten Stoiker das Ideal der djra9^Fta ausgebildet,
des Erhabenseins über die Leidenschaften der Seele, das allein die
sittliche Freiheit des Menschen bedingt. Freilich, in der moderiK-n
Wissenschaft ist von einer solchen Bekämpfung der Leidenschaften
wenig zu finden. Die Bcsclireibnnp: derselben und die Analyse
ihres Wesens und Entstehens tiimmt einen breiten Rauni ein auch
innerhalb der modernen Wissenschaft und bildet eines der inter-
essantesten und meistbesprochenen Probleme. Aber darüber hinaus
reicht es selten. Tout comf)rendre, c'est tout pardonner, scheint
die unverbrüchliche Losung der modernen Psychologie zu sein,
soweit sie der Pacdagogik, der Ethik, den forensischen Wissen-
^ed by CjOOQie
Ueber die gitrcht der Kinder.
297
Schäften zu Grunde gelegt wird. Nichts ist verkehrter und un-
heilvoller als dieser Standpunkt. Sei es, dass er veranlasst worden
durch die vielfach verteidigte Lehre von der Konstanz des
Charakters, oder durch das unglückselige Dogma der Vererbung
und unaufhaltsamen Degeneration, sei es durch die naiv
mechanistische und deterministische Richtung unseres Denkens,
die der momentanen Ueberschätzung der exakten Naturwissen-
schaften, insbesondere der Entwicklungstheorie zu danken ist, —
wir müssen alles aufbieten, um diesem verhängnisvollen Irrtum
mit aller Macht entgegenzutreten. Der Erkenntnis des thatsäch-
liehen Geschehens soll die Fruchtbarmachung der gefundenen Ge-
setze auf dem Fusse folgen; die Kinderpsychologie im weitesten
Umfange des Wortes soll die Fundgrube weiden ffir den Aufbau
einer wissenschaftlichen biologischen Paedagogik.
Wenden wir diesen Gesichtspunkt auf die Lehre von der
Furcht der Kinder an, so werden wir von vornherein Stellung
nehmen müssen gegen die vielfach verbreitete Auffassung, als sei
die Furcht der Kinder ein fatales Erbteil der Seele« das der\inbe-
wussten Erinnerung an das gefahrenreiche Leben unserer Alt-
vorderen entspringt. Wir werden vielmehr zeigen können, dass
es sich um eine fundamentale, äusserst wertvolle und zweckmässige
Reaktion des Seelenlebens handelt, deren Uebertreibung lediglich
krankhafte Erscheinungen hervorzurufen vermag.
Zu diesem Zwecke freilich müssen wir weit ausholen. Wir
müssen uns die Frage vorlegen, mit welchen Methoden es gelingen
mag, die Gemütsbewegungen der Menschen wissenschaftlich zu
erforschen. Wir müssen eine Definition der Furcht versuchen,
ihre Grade und Arten, ihre Gegenstände und die Möglichkeit ihres
Auftretens, ihre Beziehungen zur Konstitution, zum Lebensalter
und zum Geschlecht, ihre Folgeerscheinungen und endlich ihre
Entstehungsbedingungen untersuchen. Erst dann werden wir in
der Lage sein, das Wesen der Furcht richtig erfassen, ihre Ver-
hütung anstreben und ihre paedagogische, ethische und soziale
Bedeutung richtig würdigen zu können.
Die Methode der Erforschung der Gemütsbewegungen kann
entweder eine physiologische oder eine psychologische sein. In
physiologischer Beziehung wird man untersuchen müssen, welche
Veränderungen die Atmung, die Herzthätigkeit, die Pulskurve, die
motorische Kraft und die Blutfülle der verschiedenen Organe unter
dem Eindrucke der Gemütsbewegungen erleidet. Sind doch diese
298
Veränderungen die charakteristischen Begleiterscheinungen der
Affekte» wenn sie auch keineswegs ihr eigentliches, innerstes Wesen
darstellen. Auf diesem Wege ist besonders Mosso vorgegangen,
dem wir auch direkte Untersuchungen am lebenden Gehirn hei
Personen mit Schädeldefekten verdanken. Hier erhebt sich frei-
lich eine Schwierigkeit, die die Hervorrufung der Affekte betrifft.
Was man an Tieren in dieser Beziehung: durch brüske Bewegungen
oder durch Abfeuern eines Flintetischusses oder V^orhalten von
Nahrung und dergl. erreicht, ist doch wohl zu primitiv, nm eine
allgemeingültige Uebertragung auf das komplizierte Seelenleben
des Menschen zuzulassen. Dieser Schwierigkeit hat Vogt dadurch
zu begegnen versucht, dass er die Gemütsbewegungen durch ent-
sfirechende Suggestionen in einem hypnotischen Zustande der
Versuchspersonen hervorzurufen und zu untersuchen unternahm.
Diese Lösung des Problemes wäre immerhin annehmbar, wenn
nicht die durch Suggestion hervorgerufenen Gemütsbewegungen
der Hypnotisierten, wie ich aus vielfacher eigener Erfahrung be-
haupten muss, gar zu sehr Zerrbilder und schauspielerische Nach-
ahmungen der vrahren Ereignisse wären. Wenn aber Vogt vollends
versucht» auf objektivem Wege Gemütsstimmungen hervorzurufen,
indem er seinen Versuchspersonen tönende Stimmgabeln von
wechselnder Höhe vorhält, oder ihnen Salz- oder Zucker-Losungen
zu schmecken giebt, indem er gesetzmässige und allgemein gültige
Beziehungen zwischen diesen einfachsten Empfindungen und den
Gemütsstimmungen statuiert, so vermögen wir ihm auf dieses Ge-
biet nicht zu folgen, weil wir seine Grundvoraussetzungen nicht
billigen können.
In psychologischer Hinsicht bieten sich zwei Methoden zur Er-
forschung der Gemütsbewegungen dar: die Methode der Frage-
bogen und die souveräne Methode der Psychologie» die Methode
der Selbstbeobachtung und Reflexion. Die Methode der Frage-
bogen ist in neuerer Zeit auf das Problem der Furcht von Binet
und Stanley Hall angewandt worden. Wir werden von den Re-
sultaten dieser Forscher, die sich freilich weder durch Exaktheit
noch durch Ausgiebigkeit vor der einfachen Beobachtung aus-
zeichnen, unten Notiz zu nehmen haben. Um Ihnen einen konkreten
Begriff von der in Frankreich und Amerika jetzt sehr beliebten
Methode zu geben, will ich Ihnen den Fragebogen Binet? kurz
schildern. Er cnrliili folgende Fragen; i. Unter welcher Form
und unter weichen Umständen haben Sie das Gciuhi der Furcht
Digitized by Google
Ueö<r äü Jsurcht der Kinder.
299
bei einigen Ihrer Zöglinge beobachtet? 2. Welches sind die
physischen Zeichen der Furcht, die Sie bemerkt haben? 3. Wie
ist das Verhältnis der furchtsamen Kinder zu den lucht-furcht-
^men? 4. Wie sind die gesundheitUchen Verhältnisse derselben
(körperliche Entwicklung, Gewicht, Muskelkraft, Alter, Geschlecht)?
5. Wie ist ihre Intelligenz beschaffen ? 6. Wie ist ihr Charakter be-
schaffen? 7. Unter welchem Einfluss entwickelt sich das Gefühl
<ler Furcht bei den Kindern ? Durch die Eltern, durch ansteckendes
Beispiel» schreckliche Erzählungen etc. ? Welches ist der Einfiuss
<! - Alters, der religiösen Erziehung, der Umgebung (Stadt und
Land)? 8. Kann man ein furchtsames Kind heilen und wie ist es
zu behandeln? — Dieser Fragebogen wurde an 250 geeignete
Personen, meist Anstaltslehrer, Seminardirektoren u. s. f. ver-
sendet; HO Fragebogen wurden vollständig und in brauchbarer
Weise beantwortet und bilden die Grundlage einer Analyse der
kindlichen Furcht, die Binet im 2. Bande der Ann^e psychologique
unternimmt. Ein anderer» viel ausführlicherer und detaillierterer
Fragebogen, der zu einer Serie von Enqueten gehört, mit deren
Hülfe in Amerika sämtliche Probleme der Psychologie, gewisser-
massen in kondensierter Form» gelöst werden sollen» wurde von
Stanley Hall an Eitern, Lehrer» Schulvorsteher und dergl ver*
sendet; die eingelaufenen Antworten, die das Material von 1701
Personen, meist unter 23 Jahren, enthalten, wurden von Hall zu
einer umfangreichen Studie über die Furcht im 8. Bande des
American Journal of Psychology» leider in wenig wissenschaftlicher
Weise verarbeitet. Ein dritter Fragebogen endlich» der der gleichen
Serie angehört, der sich aber nur zum Teil auf das Problem der
Furcht, und zwar auf die Furcht vor Krankheiten und vor dem
Tode bezieht» diente Colin A. Scott als Grundlage einer Arbeit»
die auf der Analyse von 129 Fällen basiert. Obwohl aber» wie Sie
sehen, die statistische Methode auf diese Weise ein äusserst um-
fangreiches Material zu stände bringt» so ist doch der Wert dieses
Materiales ein recht geringer; beruht doch im letzten Grunde
jede Aussage der beteiligten Personen lediglich auf derselben Quelle
der Selbstbeobachtung und Reflexion, die von jeher als die eigent-
liche Quelle der psychologischen Forschung gegolten hat. Die
grossen Zahlen erwecken in uns nur die Illusion der Exaktheit;
in Wirklichkeit ist eine gute Beobachtung, von einem zuver-
lässigen und geübten Beobachter stammend» mehr wert als
1000 weniger sorgfältige Aussagen.
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300
Leo Hinchla^.
Bevor wir aber auf die Ergebnisse dieser und einiger auucreii.
unten zu erwähnenden Forschungen eingelien, müssen wir einen
Augenblick bei der Definition der Furcht verweilen. Ein Altckt
oder eine Gemütsbewegung ist nach der grundlegenden Definition
Stumpfs ,,ein passiver Gefuhlszustand, der sich auf einen beurteilten
Sachverhalt bezieht'" ; passiv in dem Sinne, dass er sich auf etwas
Seiendes, Gewesenes oder Künftiges, nicht aber auf etwas Sein-
soUendes bezieht. Wesentlich in dieser Definition ist die Betonung
eines intellektuellen Momentes als Teilerscheinung jeder wirklichen
Gemütsbewegung, insofern in den komplexen Zustand, den wir als
Gemütsbewegung bezeichnen, nicht nur Gefühle, sondern vor
allem X'orsiellungen iind Urteile als wesentliche Faktoren ein*
gehen. Die moderne Lehre der Sensualisten, wie sie von James»
Lange, Ribot, Spencer, Bain u. v. a. vertreten wird, hat diesen
Anteil der intellektuellen Vorgänge an den Gemütsbewegiiiigen
geleugnet, und die Affekte als das Rewusstwerden der körperlichen,
vasomotorischen und muskulären, Veränderungen definiert, die
wahrend einer Gemütsbewegung in uns vorgehen. Diese Behaup*
tung hat sonderbarer Weise so zahlreiche Anhänger und so wenige
Gegner gefunden, dass es notwendig erscheint, sich etwas ein-
gehender mit ihr zu beschäftigen. Zwei Behauptungen sind es. die
der sensualistischen Lehre von den Affekten zu Grunde hegen:
I. das eigentliche Wesen des Affekts ruht in den körperlichen Ge-
meingefühlen, wie den Veränderungen der Atmung, des Herz-
schlages, der Blutverteilung, der Darmbewegungen, Muskelem-
pfindungen etc., die die ältere Lehre ledi^ich als Folgeerscheinungen
und Ausdrucksformen des Affektes auffasste; 2. die genannten
körperlichen Veränderungen gehen dem Affekt auch zeitlich voraus,
so dass wir nicht sagen dürfen: wir weinen, weil wir traurig sind,
sondern vielmehr, wir sind traurig, weil wir weinen; nicht, wir
haben Herzklopfen, weil wir uns freuen, sondern, wir freuen uns,
weil wir Herzklopfen haben; nicht, wir zittern und erbeben, weil
wir uns fürchten, sondern vielmehr wir fürchten uns, weil wir er-
beben und zittern. So paradox diese Behauptungen erscheinen, so
enthalten sie doch einen wahren Kern. Gevfiss spielen die körper-
lichen Veränderungen, die unser Organismus während einer Ge-
mütsbewegung erleidet, eine grosse und wichtige Rolle; aber das
Wesen des Affektes wird dadurch keineswegs erschöpft, ebenso-
wenig, wie ein Bild von Rubens als eine Summe von Farbenklecksen
oder eine Beethovensche Symphonie als ein Gewirr von Schall-
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tUUr du Furcht der Kmdtr^
301
wellen erschöpfend definiert werden kann. Ein voll ausgebildeter
Affekt enthalt, wie wir auch bei der Furcht sehen werden, stets
Vorstellungen und Urteile als wesentlichen Bestandteil; nur bei
den sog. instinktiven Affekten der Kinder und Tiere, die aber
auch deshalb psychologisch ganz anders zu werten sind, als die
Gemütsbewegungen der Erwachsenen, tritt das intellektuelle Mo-
ment teilweise in den Hintergrund. Die zweite Behauptung der
James-Langeschen Theorie bezieht sich auf die chronologische
Reihenlolge der Faktoren, die eine Gemütsbewegung ausmachen.
Halten wir uns an ein Beispiel, das uns weiter unten noch aus-
führlicher beschäftigen wird. Bei der Errötungsangst, einem der
qualvollsten krankhaften Zustande, tritt wie Pitres und Regis be-
haupten, zuerst eine Gefässerweiterung, und sodann erst die Idee
des Errötens auf. Pitres und Regis fähren für diese Behauptung
zwei Beweise ins Feld: t. soll beim plötzlichen Auftreten der Krise
infolge eines unerwarteten Eindrucks erst die Vasomotorischen und
die Herzerscheinungen, dann erst der Gedanke des Errötens ein-
treten; 2, könne der Kranke, wenn die atmosphärischen Verhält-
nisse, z. B. wie bei der Kälte, dem Erröten zuwider sind, an das
Erröten denken, soviel er wolle, ohne dass es in Wirklichkeit ein-
tritt; ein Beweis, dass der Gedanke allein nicht genüge, um das
Erröten hervorzurufen. Beide Beweisgründe sind nicht stichhaltig.
Beim plötzlichen Erschrecken tritt zweifellos zuerst ein Zusammen«
fahren und eine Veränderung der Herz- und Gefassnerven-Aktion
ein, bevor eine Vorstellung zum Bewusstsein gelangt; indessen
handelt es sich hier um eine rein physische Reaktion, nicht um
einen Affekt. Zum Affekt wird dieser Vorgang erst dadurch, dass
zu der physischen Veränderung der Gedanke des Errötens hinzu-
tritt und nunmehr ein Bestehenbleiben oder sogar eine Ver-
stärkung der vasomotorischen Erscheinungen hervorruft. Aber
auch der zweite Beweisgrund ist hin31Ug, der auf der Unfähigkeit
der Idee beruht, das Erröten zu produrieren, wenn die atmo-
sphärischen Bedingungen nicht gegeben sind. Denn dass die
Idee an und für sich nicht das Wesen des Affektes darstellt, sondern
nur im Verein mit dem Gefühl der körperlichen Veränderungen,
ist selbstverständlich und niemals bestritten worden; sie wird, crst
zum Affekt, wenn ihre Gefühlsresonanz stark genug ist. um die
charaktcriuischen iniurtn und äusseren Folgeerscheinungen zu
veranlassen. Daher sagt die Behauptung: von Pitres und Regis
nichts anderes, als dass der Affekt nur emirctc, wenn bestimmte
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Lea Hirschlaff.
äussere Bedingungen gegeben sind, was freilich nicht bcainllen
zu werden braucht. Mit anderen Worten: wir bleiben bei der
älteren Auffassung stehen, wonach der Affekt die Ursache der
Ausdrucksbewej^ungen und nicht ihre Folge ist. Aber wir müssen
andererseits unumwunden zugestehen, dass die Ausdrucksbe-
wegungen entschieden geeignet sind, dem Affekte erst seine
charakteristische Färbung, Intensität und Dauer zu verleihen, in-
dem sie auf das ursprüngliche Gefühl wie in einem Kreisprozesse
zurückwirken und es zu seinem vollen Umfange ausgestalten. Unter
den neueren Autoren hat ausser Stumpf auch Soury diesen Stand-
punkt in lichtvoller Weise vertreten.
Versuchen wir nunmehr, die Furcht selbst zu definieren. Nach
den übereinstimmenden Erklärungen der Autoren von Aristoteles
an bis auf die neueste Zeit verstehen wir unter Furcht ein Unlust-
gefühl, welches sich gründet auf die Erwartung einer drohenden
Gefahr. Wir unterscheiden also, konform der oben gegebenen
Definition der Gemütsbewegungen, auch hier einen körperlichen
Faktor, das Unlustgefühl. welches bei bestimmter Intensität zu
charakteristischen Ausdrucksbewegungen Veranlassung giebt ; und
einen primären, seelischen oder intellektuellen Faktor, die Vor*
Stellung einer bevorstehenden Schädigung. Zu tmterschciden von
diesem Affekt sind einerseits der Schrecken, andererseits die Furcht*
samkeit. die Schreckhaftigkeit und der Abscheu. Unter Schrecken,
Entsetzen etc. verstehen wir nicht, wie Kant sagt, eine plötzlich
erregte Furcht, sondern vielmehr eine physische Reaktion, ein Zu-
sammenfahren, eme Bestürzung oder Betäubung über einen plötz-
lichen, unerwarteten, meist starken und unangenehmen Eindruck;
es fehlt also dem Schrecken das für die Furcht charakteristische
intellektuelle Moment des Voraussehens der Gefahr. Unter
Furchtsamkeit verstehen wir eine dauernde Gemütsverfassung, die
den Träger zur Furcht geneigt macht ; unter Schreckhaftigkeit da-
gegen eine Eigenschaft der körperlichen Konstitution, die zum
häufigen Erschrecken disponiert. Endlich haben wir noch des Ab-
scheus als einer verwandten Erscheinung zu gedenken. W^r be-
zeichnen damit ein mit einem Unlustgefühl verknüpftes Abwehr-
streben, welches entweder instinktiv, oder bewusst auf ein bestehen-
des oder drohendes Unlustgefühl gerichtet ist. Auch hier feUt
demnach das intdlektuelle Moment entweder gänzlich, oder, wenn
es vorhanden ist, so unterscheidet es si^h qualitativ durch die Ab-
wesenheit des Gedankens an die Gefahr als einer drohenden
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Utixr du FufdU der Kmder,
303
Schädigung des Individuums. Diese Definitionen werden ihre Be-
deutung erweisen» wenn es sich darum handelt, die sog. Furcht der
Kinder im ersten Lebensjahre zu untersuchen; leider versäumen
es die meisten Schriftsteller, die Begriffe, mit denen sie operieren,
genügend schar! zu praezisieren.
Wir kommen zu den verschiedenen Graden der Furcht. Je
nach der Intensität der Furcht, aber nicht etwa nach der Intensität
der gefürchteten Unlust unterscheiden wir als leichteste Grade der
Furcht die Besorgnis und das Bangen, als höhere Grade die
Angst und das Grauen ; in moralischer Beziehung auch die Scham.
In das Gebiet der Furchtsamkeit gehören die Bangigkeit, Be-
klommenheit, Aengstlichkeit, Blödigkeit und Schfichternheit, sowie
4ie moralische Schamhaftigkeit und die Feigheit. In das Gebiet
des Schreckens gehören Verwirrung, Bestürzung, Betäubung, Ent-
setzen, Schauer und Schauder, Grausen und Verzweiflung. Die
Schreckhaftigkeit endlich ist eine Unterart der allgemeinen Em-
pfindlichkeit ; der höchste Grad des Absehens wird als Ekel be-
zeichnet, während die geringeren Grade unter dem Namen der Ab*
netgung geläufig sind. Alle diese Definitionen freilich werden
von dem Sprachgebrauche und von den Schriftstellern nicht so
scharf innegehalten, als es im Interesse der Verständigung er-
wünscht wäre.
Nachdem wir die Grade der Furcht besprochen, müssen wir
ihre Arten und Formen kennen lernen. Aristoteles sagt, indem er
über die Tapferkeit spricht, die nadi ihm ein Mittleres zwischen
der Furcht und der Vergangenheit ist : „Man fürchtet zwar jedwedes
Uebel, wie z. B. die Schande, die Armut, die Krankheit, den Mangel
an Freunden, den Tod; allein die Tapferkeit bezieht sich nicht
auf all diese Uebel; denn einiges davon soll man fürchten; hier
ist das Fürchten schön und das Nicht-Fürchten schlecht, z. B. bei
der Schande. Wer diese fürchtet, ist sittlich und schamhaft; wer
sie nicht fürchtet, unverschämt. Auch ist derjenige nicht feige,
welcher die Misahandlung seiner Kinder oder seiner Frau oder
den Neid oder ähnliches fürchtet. Auch der Tapfere wird das
Fürchterliche so fürchten, wie es sich gehört und wie es die Ver-
nunft ertragen kann. Gefehlt wird hierbei dann, \venn man da sich
furchtet. \vü man es nicht soll, oder nicht so, wie man es soll, nicht
dann, wann man es soll oder in sonst einer Weise nicht, wie es sein
soll". Wir haben ciminncii einen Unterschied zu machen zwischen
<ier noiiii.iicii iiivl der krani<iiaftcn I'^ircht, zwischen der physischen
Zeitscluift für pädagogiKhc P»ycbolosie und Pathologie. 4
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304
Za» Hiisckiaß.
uiul iler moralischen Furcht. Die normale Furcht, die der Franzose
als crainte bezeichnet, ist, nach ßinct der Gefahr angemessen und
niitzlich. da sie die Gefahr vermeiden oder beseitigen lehrt. Die
krankhafte F;ircht. i)ciir, ist daj^cj^'en der Gefahr unangeme>.sen,
indem die (jefahr entweder nur in der Einbildung^ besteht oder so
unwahrscheinlich ist, dass es th«")richt ist, mit ihr zu rechnen: sie
beraubt den Träger der Geistesgegenwart und Irr \'f rteidigungs-
mittcl. In Bezug auf die sittliche Wertung der i urchi müssen wir
die niederen von den höheren und feineren l^irmen unterscheiden.
Zu den letzteren gehören die Ftirclu vor (iott, vor Schande, vor
Unwissenheit, vor Misserfolg in den iiDchsten Lebensidealen u. s. f.
\on diesem allgemeinen Gesic1its])unkte betrachtet, ist die Furcht
eine der wesentlichsten und fundamentalsten Eigenschaften der
menschlichen Seele ; es giebt niemanden ohne Furcht, und es soll
nieniandin ohne P'urcht gel)en. Em feiner Unterschied muss
hier noch angemerkt werden: man trenne die h'urcht vor dem
Unsittiiclien und die Scheu vor dem Unsittlichen. Man kann das
sittlich Schlechte meiden aus Scheu vor dem Unsittlichen, indem
man letzteres in sich als böse und unrecht und unwürdig eraciitet
und deshalb von sich weist : matr kann es aber auch meiden aus
Furcht vor dem Unsittlichen, weil man tlie üblen Folgen fürchtet,
die (las P.i«se für uns herbeizuführen vermag. Wenn die Scheti
vor dem Sclücchten das wünschenswertere Motiv unserer Hand-
lungen ist, so mag die Furcht vor dem Schlechten im praktischen
Lehen das häufigere sein. Wir werden es im folgenden haupt-
.siichlich mit den niederen, physischen und zumeist mit den krank-
haften I'^iruica der Furcht zu tlnui hal)en : wir werden jedoch nicht
versäumen, in unserer Schlussbetrachtung auf diese Erörterungen
zurückzugreifen, da sie uns allein in den Stand setzen, die Aufgaben
der Erziehung bezüglich der Furcht sowie ihre ethische und soziale
Ucdeutung zu würdigen.
Wir gehen über zu den Gegenständen oder den Objekten der
Furcht, von I.enhossek. ein älterer Schriftsteller, dem wir eine
vorzügliche JOarstellung des menschlichen Gemüts verdanken, teilt
die Gegenstände der Furcht in 5 Reihen, je nachdem sie : a) unsere
morahsche Realität (Achtung, Ehre, Freiheit) zu beschränken;
b) unsere Rechte und unser Eigentum anzugreifen; c) unserem
Körper durch Schmerzen, Krankheit oder Verstümtnehin^ nach-
teilig zu werden; d) unser Leben zu vernichten, oder aber c) an-
deren Personen, die zu uns in näherer Beziehung stehen, auf irgend
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OMrr die Fu*€ki der Kmder,
305
eine Weise Nachteil zu bringen drohen. Die modernen Forscher
gehen mehr in das Detail ein. Binet, der die Gegenstande der
Furcht als unzahlig bezeichnet, teilt dieselben ebenfalls in 5 Gruppen
ein. £r fuhrt auf: a) die Furcht vor der Dunkelheit und Nacht,
vor dem Unbekannten und Mystischen, vor den Masken, der Ein«
samkeit, den Gespenstern, dem schwarzen Mann, dem Schornstein-
feger, den Wölfen etc.; gemeinsam ist dieser Gruppe die Vor-
stellung des Unbekannten, b) Die Furcht vor heftigen Geräuschen,
wie Donner, Schuss, Knallen eines Champagnerpfropfens ; das Ge-
meinsame dieser Gruppe bildet nicht die Vorstellung dner Gefahr,
sondern meist nur diejenige einer Erschütterung durch einen hef-
tigen, unangenehmen Sinneseindruck, c) Die Furcht vor kleinen
Tieren. Ratten, Spinnen etc., vor Klüt und Leiden ; hier ist der
( "harakter der Abwehi und des Absehens der gemeinsame (Srundzug.
d l Die übertriebene hurclit tuier nur entfernt möglichen (Jefalir, /.. B.
die Furcht, auf der Stras«:e einem Tktrunkcücn 7.\\ begegnen, oder
von einem Hunde angefallen zu werden, die Furcht vor Dieben unter
dem Bette oder in den Spinden etc. ; hier spielt die Phantasie und die
Urteilsillusion die entscheidende Rolle; endlich e) die Furcht infolge
Erinnerung eines schrecklichen Ereignisses, z. B. die Furcht vor
dem Ueberfahrenwerden, vor Operationen, vor dem Ertrinken, vor
Angriffen u. s. f.
Eine noch mehr ins einzelne gehende Darstellung der Gegen-
stände der Fnrclit giebt Stanley Mall in seiner oben erwähnten
Studie. Ihm wurden von 1701 Personen 6456 Fälle von Furcht be-
schrieben, die sich im ganzen auf 298 Gegenstände bezogen. Er
Stellt seine Ergebnisse in umstehender Tabelle I zusammen.
Wenn wir diese Ergebnisse überblicken, so dürfen wir vor
allem eine prinzipielle Bemerkung nicht unterdrücken. Die Be-
zeichnung der aufgezählten Objekte als Gegenstände der Furcht
ist im Grunde eine ungenaue. Nicht der Donner und nicht die
Dunkelheit, nicht die Ratten, die Reptilien oder die Rauber bilden
den eigentlichen Gegenstand der Furcht der Kinder, sondern viel-
mehr die Unlust, die sich an die Wahrnehmung, Vorstellung oder
Erinnerung dieser Gegenstände knüpft. Diese Unlustge fühle, die
an die Objekte geknüpft sind und die sehr wohl zu unterscheiden
sind von den Unhistgefühlen, die die Furcht selbst konstituieren,
hängen aber ledigHch von unserer Schätzung der Dinge ab; sie
sind nicht objektive Eigenschaften der Dinge, sondern subjektiven
Werturteilen entnommen, die wir an die Gegenstände zu knüpfen
d06
TabeUe L
HimmelsertcheinuiijK«!!. Tiere.
Dooacr und Büts
603
Reiytiliea
483
Heftiger Wind
143
Haustiere
268
Cjklone
67
Wilde Tier«
206
203
i^orcuiciu
ivftkzcn una nunuc
tw
Koowten
VQgM
91
NeDM
16
i486
o 1 ri ■■ III
atunne
14
Finsternisse
14
Feuer
36S
Extrem heisses Wetter
10
WasMT
205
Extrem kaltes Wetter
8
PrHlHKeil
996
627
Fremde Personeo
436
Dunkellnit
432
Räuber
153
Gespenster
203
Schreckhafte Tfittne
109
589
Eiosamkeit
SS
Tod
299
799
Kranklwit
241
540
pflegen. Diese Verknüpfungen
sind jedoch vielfach
zutalligL-r
Natur; sie unterliegen
keinen allg
cmein gültigen Gesetzen. Daher
ist es ziemlich müssig,
, alle diejenigen Gegenstände zu
sammeln,
woran sich Unlustgefühle der Kinder und infolgedessen
Befurch-
tungen anknüpfen können. Wichtiger wäre es zu untersuchen,
warum sich gerade zu den einen Gegenständen die Unlustgefühle
assoaieren, zu den anderen nicht. Zur Lusung dieser Frage werden
wir unten noch einiges beizutragen haben. An dieser Stelle sei
nur darauf hingewiesen, dass diese Gründe teils aus der Natur der
Gegenstände, teils aus der Erfahrung herzuleiten sind, die wir mit
diesen Gegenständen gemacht haben.
Betrachten wir nunmehr die Beziehungen der Furcht zur
Konstitution der Kinder, zu ihrem Geschlechte und zu ihrem
i^ebensalter. Die körperliche Konstitution der Kinder, die an
jbertriehener Furcht leiden, wird übereinstimmend als schwächlich,
kränklich und nervös geschildert. „Die Schwäche erzeugt Furcht
und die Furcht erzeugt Schwäche", sagt Musso in seiner vortreflP-
lichen Monographie der Furcht. Die troistige Konstitution der
Kinder weist nach Binet kein bestimnUes Verhältnis auf. Die
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ütiber die Furcht der Kinder.
307
Furcht findet sich bei den intelligenten Kindern ebenso häufig wie
bei den nnintelligenten; selbst bei idiotischen Kindern hat sie
Voisin niemals vermisst. Nach Binets Untersuchungen waren von
77 Kindern mit aiisgcj>rägten Furchterscheinungen 30 über dem
Durchschnitt der Intclhgenz, 24 unter dem Durchschnitt, während
23 in der Mitte standen ; so dass ein bestimmtes Verhältnis zur
geistigen Entwickhmg der Kinder nicht statt liat. Indessen dürfte
es schwer sein, diese Frage auf statistischem Wege zum Austrag
zu bringen. Was den moralischen Charakter der Kinder anbelangt,
so fand Binet bei denjenigen, die zur Furcht geneigt waren, Sanft-
mut und Schüchternheit ais fast konstante Charaktereigenschaften
ausgeprägt, während alle übrigen Charakterzüge keine Ueber-
einstimmung auhviesen. Die Beziehungen der Furcht zum Ge-
schlecht der Kinder sind von Staley Hall genauer untersucht worden.
£r fand bei 500 Knaben 1106, bei der gleichen Anzahl Mädchen
1765 Fälle von Furcht. Im einzelnen verteilen sich diese Fälle auf
die verschiedenen Gegenstände der Furcht wie Tabelle II seigt:
TabeUe II.
weibl.
minnl.
veibl.
minnl.
Donner und BUts
230
155
Anhöhen
40
43
Personen
190
129
Gewissen
40
38
180
133
Lim
36
10
DnikdlMit
171
130
LobemHy bcigrabni
Tod
103
74
werden
33
5
Haustiere
96
S7
G^eost&nde der Ein-
Kalten und Miuse
75
13
bildung
24
23
nsekten
74
53
Ertrinken
20
19
Geqwnster
72
44
Wdken
15
4
Wind
61
35
Einsamkeit
15
4
WeltunttriMig
63
U
Plitse
14
3
Waaser
53
62
Meteore
13
6
Räuber
48
33
Schüchternlwt
S
9
Ma<;chinea
47
31
Zauberer
"7
Blut
44
14
Lächerlichkeit
6
1
Es ist interessant, aus dieser Tabelle zu ersehen« dass, wahrend
alte übrigen Gegenstände von den Mädchen mehr gefürchtet wer-
den als von den Knaben, das Wasser und die Anhöhen bei den
Knaben häufiger als Gegenstände der Furcht erscheinen, und vor
allem die Schüchternheit bei den Knaben relativ und absolut häufiger
ist als bei den Mädchen ; ein Verhältnis, das auch wohl durchaus
der Erfahrung entspricht.
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308
Leo mneU«$,
Die Beziehungen der Furcht zum Lebensalter der Kinder
teilen wir zweckmässigerweisc in zwei Abschnitte: der erste utn-
fasst das erste Lebensjahr, der zweite die folgenden Lebensjahre
vom zweiten angefangen. Um mit dem letzteren zu beginnen, so
giebt die Tabelle III von Stanley Hall Auskunft über die Ver-
teilung der Furcht auf die einzelnen Lebensalter der männlichen
und weiblichen Kinder:
Tabelle III.
Die Furcht der Kinder nach dem Lebensalter.
Jahre
männlich
Durchschnitt
weiblich
DurckidMitt
0-4
! 36
1,76
74
4,89
4—7
144
1,54
176
2,44
7^11
104
3,56
227
4^
11—15
140
3,69
127
6^
15-18
72
2,40
38
10,67
18—26
&0
2^5
29
♦,31
S. S.
S24
2,94
671
4,62
Wir ersehen daraus, dass bei den Knaben die Mehrzahl der
Befürchtungen zwischen dem 4. und 7. Lebensjahr gelegen ist,
und dass nach der Pubertät sogleich ein starker Abfall der Zahlen
erfolgt. Bei den Mädchen liegt das Maximum dagegen in den
Jahren 15 — 18, vielleicht weil zu dieser Zdt die Phantasie am
meisten rege ist. Was die Verteilung der einzelnen Gegenstande,
der Furcht über die verschiedenen Lebensalter anbelangt, so
nehmen mit zunehmendem Alter ab: die Furcht vor Meteoren,
Wolken, Blut, Weltuntergang, Hexen und die Scheu vor Fremden.
Dagegen nehmen mit zunehmendem Alter zu: die Furcht vor
Donner und BHtz, Reptilien, Räubern, Gewissensbissen und vor
der Einwirkung übernatürlicher Wesen. Während der Pubertäts-
zeit zeigen eine Steigerung, um nachher wieder abzufallen: die
Furcht vor Winden, Dunkelheit, Wasser, Haustieren, Insekten,
Gespenstern, Tod und Krankheit. Eine Reihe anderer Befürch-
tungen bleibt dagegen stets in gleicher Starke bestehen.
Ueber das Auftreten der Furcht innerhalb des ersten Lebens-
jahres der Kinder liegen eine Fülle von Beobachtungen vor, die
freilich durchaus nicht mit einander übereinstimmen. Während
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Ueber die Furcht Oer Kinder,
309
Darwin, Mosso und l'reycr beispielsweise das Auftreten der Furcht
schon innerhtilb der ersten Lebenstage oder Lebenstnonate bc-
liaiij)ten und daraus den Schluss ziehen, dass die Furcht den Kindern
angeboren und ererbt sei, stehen v(ni älteren Schriftstellern Carus
und Tiedeniann, von neueren Sully und Compayrc auf dem Stand-
punkte, dass erst auf (irund einer allmählichen Fortcntwicklunj^ aus
ursprunglichen Reaktionen das (n fülil der Furcht in der kindlichen
Seele sicli ausbilde. Um diese Streitfrage zu entscheiden, werden
wir zunächst den 1 Beobachtungen etwas näher treten müssen. So
bemerkte z. 1>. Darwin, dass sein Knabe im Alter von 2 Jahren
und 3 Monaten beim Besuche eines zoologischen Gartens Furcht
zeigte beim Anblick gru^ser. i ingesperrter Tiere, die er nie gesehen
hatte : und er führt diese Erscheinung auf Vererbiuig zurück, da
unsere wilden Vorfahren gezwungen waren, diese todbringenden
Geschöpfe zu fliehen. I'reyer konstatierte, dass sein Kind bereits
von der 7. Woche an bei jedem stärkeren Geräusche zusammenfuhr
und die Hände erhob; schon vom 2. Lebensjahre an reagiert das
Kind mit Augenblinxeln, wenn man ein Licht in die Nähe seiner
Augen bringt, während ein Schliesscn der Augen bei
grösserem Lärm oder wenn man versucht, dem Kinde mit
dem Finger ins Auge zu fahren, von ihm erst am 60. Tage
beobachtet wurde. Die Furcht vor dem Meere, vor dem Unbe-
kannten, vor dem Fallen und vor allem vor Tieren scheint l^reyer
ebenfalls erblirli zu sein, weil sie auftritt, bevor das Kind dies-
bezügliche Erfahrungen gemacht hat. So bemerkte er bei seinem
Kinde im 9. Monat die Furcht vor einem kleinen Hund, während
Sully die Furcht vor Tieren schon in der 14. Woche ausgebildet
fand. Im 18. und 19. Monat lachte das Kind Preyers über Donner
und Blitz ; beim Anschlagen eines Glases zeigte es im 16. Monate
Furcht, während es im 3. Monat keine Furcht dabei gezeigt hatte,
u. s. f. Dagegen bemerkt Carus: „Ein Kind kann sich noch nicht
und kann sich nicht eher fürchten, als bis es vorher a) Hindernisse
fühlen, b) darüber erschrecken, c) sich ohnmächtig fühlen, d) seine
Kräfte kennen und messend mit fremder Gewalt vergleichen, e) die
Zukunft ahnden konnte. Der Gebrauch des Gesichts und noch
mehr des Gehörs macht es zwar schon stutzig, aber noch nicht
furchtsam". Daraus geht zur Evidenz hervor, dass es steh um
einen Definitionsstreit handelt, wenn man das Auftreten der Furcht
in den ersten Lebenswochen behauptet oder leugnet. Führt man
die Reflexbewegungen der Kinder, den Schrecken oder den
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f
310 Leo HtruMaff.
instinktiven Abscheu, den sie vor manchen Dingen zeigen, auf
Furcht zunick, so sind die Behauptungen Darwins und Prcyers
gerechtfertigt; thut man das nicht, und wir werden es auf
Grund unserer vorausgegangenen Erklärungen nicht thun
dürfen, so lallt damit die Lehre von der erblichen Furcht-
samkeit. In diesem Sinne haben sich SuUy, Compayre und
Stumpf ausgesprochen. Auch Dietrich Tiedemann, der Begründer
der Kinderpsychologie, der bereits im Jahre 1787 die erste und
zugleich noch heute bei weitem die beste Beobachtung der Ent-
wicklung eines Kindes von der Geburt bis zum Alter von 2 V, Jahren
veröffentlichte, äussert sich in dem gleichen Sinne : „Wenn man
den Knaben", sagt er, „auf den Armen haltend^ von einer unge-
wöhnlichen Höhe schnell herabliess, bestrebte er sich, mit den
Händen sich fest zu halten, um nicht zu fallen, und sehr hoch ge-
hoben zu werden war ihm unangenehm. Vom Fallen konnte er
noch keinen Begriff haben, also war die Furcht wohl weiter nichts
als bloss mechanischer Eindruck von der Art, wie ihn auch Er*
wachsene bei steilen ungewöhnlichen Höhen empfinden, etwas dem
Schwindel ähnliches*'. Und an einer späteren Stelle: „Bei der Er-
innerung liegt allemal Vergleichung zu Grunde, und es ist allemal
ein unvollkommenes Urteil darin verborgen". Halten wir dem-
nach an unserer eingangs gegebenen Definition der Furcht fest,
wonach ein Urteil zum Zustandekommen dieses Affektes notwendig
ist, so werden wir vielleicht folgende Stufen in der Entwicklung
der kindlichen Furcht annehmen dürfen. Das erste ist die rein
mechanische Reflexbewegung, z. B. das Schliessen der Augen, oder
das Zittern der Neugeborenen und die Unterbrechung der Atmung,
das Schreien, Weinen etc., das von Perez bereits für eine
Aeusserung der Furcht gehalten wurde. Das zweite Stadium wurde
gekennzeichnet sein durch das ebenfalls noch rein physische Er-
schrecken, sowie den instinktiven Abscheu gegen gewisse Gegen-
stande und Eindrücke. Hierher gehört nach Sutty beispidswetse
der Reflexschrecken beim Hören eines starken Lautes, sowie die
Abneigung gegen fremde Personen und unbekannte Gegenstände,
vielleicht auch die Scheu vor der Dunkelheit, die nach Sully auf
einer physischen Abneigung beruht. Erst im dritten Stadium ent-
steht durch Hinzutreten von Assoziationen. Vorstellungen, Er-
innerungen. Urteilen aus dem physischen Schrecken und Abscheu
der bewiisste Abscheu und die eigentliche Furcht. In welchem
Tempo die Entwicklung dieser drei Stadien vor sich geht, hängt»
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Ü<ber die Furcht der Kinder,
311
wie Preycr richtig bemerkt, lediglich von der Behandlung der
Säuglinge ab. Darüber später mehr. Für jetzt nur noch die eine
Bemerkung, dass das zweite Stadium der Entwicklung der Furcht
auch beim Erwachsenen noch bestehen bleibt und sich von dem
dritten Stadium der bewussten Furcht häufig nur schwer und
künstlich abgrenzen lässt, z. B. in der Furcht vor starken Ge«
rauschen, vor manchen Himmelserscheinungen, vor dem Meere
und vor kleinen Tieren. Als Resümee dieses Abschnittes lehnen
wir also die Lehre von der Erblichkeit der lüircht ab ; jedoch wer-
den wir gezwungen sein, bei Gelegenheit der Erklärung der Aus-
drucksbewegungen und bei der Besprechung der Furcht der Tiere
auf diesen Punkt noch einmal zurückzukommen.
Wir besprechen nunmehr die Wirkungen der Furcht auf den
kindlichen Organismus. Was zunächst den Gesichtsausdruck der
Furcht betrifft, so heben Darwin und Spencer als besonders
charakteristisch das Stimrunzeln und die Vergrösserung der Augen
hervor ; Mosso fügt als wichtiges Kennzeichen noch die Erweiterung
der Pupillen hinzu. Die ausführlichste Beschreibung des Gesichts-
ausdruckes der Furcht sowohl wie der Furchtsamkeit hat Mante«
gazza in seiner Fisonomia e Mimica geliefert; er weist u. a. auf die
Aehnlichkeit der Wirkung der Furcht und der Kalte auf den Ge-
sichtsetndruck hin. Die körperlichen Ausdrucksbewegungen der
Furcht sind: Herzklopfen, Beklemmungsgefühl, Unregelmässigkeit
der Atmung und der Blutzirkulation, das Schreien und Weinen,
das Erbleichen oder Erröten, die Gänsehaut, der kalte Schweiss,
das Strauben der Haare, die gesteigerte Dannperistaltik, die un-
ruhigen und inkoordiniierten Bewegungen, das Zittern der Glieder,
das Streben zu fliehen oder die Gefahr abzuwehren, endlich in den
höchsten Graden der Furcht die komplette Lähmung oder Er-
starrung der Körpermuskulatur, Krämpfe, Verlust der Sprache und
des Bewusstseins ; in selteneren Fällen die unfreiwillige Entleerung
von Harn und Stuhl. Was die Häufigkeit dieser Ausdrucksbe- •
wegungen anbelangt, so ordnet Binet sie in folgende Reihe ein:
Flucht, Schutzsuchen bei andern, Abwehrgesten ; Schreien, Zit-
tern, Blässe, Erweiterung der .Augen, Aufhebung der Atmung,
Herzklopfen, Weinen ; Unbcweglichkeit. Verlust der Sprache, Ohn-
macht. Hartcnherj^. ein eifriger Vertreter der James-Langeschen
Theorie der Affekte, ^icbt nach der Hätificrkcit des Auftretens
folgende Ucbersicht : i. das Reklemmuiig.-^gcfuhl, das Gefühl des
Stillstandes der Atmung, der Zusammenschnürung des Brustkorbes
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312 ^ mna»Ui$,
und des Erstickens; 2. das Herzklopfen, das Getülil der Be-
schleunigung und Verstärkung der Herzthätigkeit ; 3. der Schauder,
die Gänsehaut, der kalte Schweiss ; 4. die Spasmen der Eingeweide
und der Blase. Indessen fügt er hinzu, dass diese Reihenfolge viel-
fache Ahwcichungen erfährt infolge der Besonderheit der Indivi-
dualitäten und der dadurch bedingten elektiven Reizbarkeil be-
>iinnnter Organe ; so dass im Grunde genommen „chacun a peur
ä sa fa(;<ur . Hall hat die Häufigkeit der einzelnen Ausdrucks-
bewfgnngen der Furcht statistisch festgestellt und folgende Er-
gebnisse erhalten: 73 mal Anschmiegen oder Unterkriechen, meist
bei Mädchen; 70 mal Schwäche- und Lähmungserscheinungen;
58 mal Zittern oder Schlottern der P.cinc ; Erstarrung in 50. Er-
blassen in 44, Veränderung der Atmung in 43. Herzklopfen u. s. f.
in 42 Fällen; Schweissausbruch 28 mal, Krämpfe ebenso häufig;
Uebelkcit in 21, vorübergehende Blindheit, Taubheit oder Gefühl-
losigkeit in 1 1 Fällen ; Neigung zum unwillkürlichen Harn- und
Stuhlabgang in 3 Fällen. Bei ganz jungen Kindern hat er lautes
Schreien am häufigsten angetroffen.
In Bezug auf seelische Folgeerscheinungen der Furcht giebt
ßurckhardt Trübung des Bewusstseins, Verminderung der Urteils-
kraft und Schwächung des Willens an. v. Lenhossek hebt ausser-
dem die Herabsetzung der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses,
in der Sphäre des Gemüts eine depressive, traurige und düstere
Stimmung hervor.
Haben wir in solcher Gestalt die Erscheinungen der Furcht
kennen gelernt, so müssen wir uns die Frage vorlegen^ wie sind
diese Ausdrucksbewegungen zu verstehen und zu erklären.
Hierüber sind mannigfache abweichende Meinungen laut geworden.
Soweit die Erklärungen physiologischer Natur sind, haben sie für
uns geringeres Interene. Ob das unwtUkürliche Harnlassen au£
eine Zusammenziehung der Muskeln zurückzuführen ist, welche die
Austreibung des Harns aus der Blase zu versehen haben, oder
vielmehr auf eine Erschlaffung der Schliessmuskeln, ist eine relativ
* nebensächliche Frage. Im allgemeinen werden wir Mosso zu-
stimmen können, wenn er sagt, dass durch die starke Erregung der
Nervencentren infolge der Furcht zunächst ein vermehrter Blut-
zufluss zum Gehirn als Aus^eich der durch die Gemfitsbewegong
gesetzten Ernährungsstörungen stattfinde, wodurch den peripheren
Organen das Blut entzogen wird; während bei heftigeren Ein-
wirkungen eine Störung der Harmonie des Zusammenwirkens der
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Ueber die Furcht der Kinder.
313
Nerven-Impulse statt hat, die sich in unzweckmässigen Bewegungen,
Zittern und dergl. kundgiebt. Dies alles ist jedgch nur eine Be-
schreibung der physiologischen Grundlagen des psychischen Ge>
schehens. Von grösserer Retkiitung ist die entwicklungstheo-
retische Würdigung der Ausdrucksbewegungen der Furcht. Sind
sie zweckmässig oder zweckwidrig? Sind sie auf die Gewohn-
heiten und Erfahrungen unserer Altvorderen zurückzuführen, oder
nicht? Haller und Darwin finden das Zittern infolge von Furcht
unnütz und unzweckmässig, ebenso wie alle anderen Erscheinungen
der Furcht, da sie nicht auf die Erhaltung des Fürchtenden ge-
richtet sind, sondern vielmehr auf dessen leichtere Vernichtung.
Mantegazza dagegen findet das Zittern höchst dienlich» indem es
strebt, Wärme zu erzeugen und das Blut, welches unter dem Ein-
flüsse der Furcht zu sehr zur Erkältung neige, zu erhitzen. Wir
halten die ganze Fragestellung für falsch: eine teleoI<^;ische Auf-
fassung jeder Einzelheit des Naturgeschehens führt nur zu un-
fruchtbaren Erörterungen und Absurditäten. Ebenso halten wir es
für irrig, wenn Duchenne de Boulog^e behauptet, die Gesichts-
muskeln sind von der Natur geschaffen, um unsere Gemut^e-
wegungen auszudrucken. Wir geben vielmehr Mosso cecht, der die
Veränderungen des Gesichtsausdruckes infolge der Gemütsbe-
wegungen auf die Kleinheit imd Beweglichkeit der Gesichtsmuskeln,
auf ihren häufigen Gebrauch, ihre Nähe zum Gehirn und auf das
Fehlen der Antagonisten zurückführt.
Es erübrigt sich die Frage: haben wir nötig, zur Erklärung
der Ausdrucksbewegungen auf die Erlebnisse unserer Vorfahren
zurückzugehen? Um einige Beispiele zu zitieren: Spencer erklärt
den Ausdruck der unangenehmen Gemütsbewegungen folgender-
massen: Ursprünglich bei Tieren und Menschen entstanden unan-
genehme Eindrücke beim Anblicke eines Feindes und waren in-
folgedessen verbunden mit Angriffsbewegungen zum Kampfe;
daher noch heute die Ausdrucksbewegungen bei tmangenehmen
Gefühlen. Das Sttmrunzeln beispielsweise ist zurückzuführen auf
das Bestreben^ rasch und scharf zu sehen, um im Kampfe mit dem
Gegner Erfolg zu haben. Mit Hilfe des beliebten und so oft miss-
brauchten Schlagwortes des Ueberlebens des Passendsten ist damit
die Selektionstheorie der Furcht festgelegt. Noch weit spekulativer
geht Stanley Hall vor: nicht nur die Ausdrucksbewegungen der
Furcht, sondern die Furcht selbst ist nach ihm zurückzuführen auf
unbewusstc Erinnerungen palaeontologischer oder, schöner ausge-
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314
Im Hinchlaf
drückt, archaesthetischer oder palaeopsychiacher Erscheinungen.
So erklärt Hall z. B. die Furcht vor grossen Zähnen, die sich viel-
fach bei Kindern Anden soll, zugleich mit dem Küssen und der Liebe
in folgender, klassischer Weise: ,,Der Eintritt in den Nahrungs-
kaiial muss Gegenstand der höchsten Furcht gewesen sein, wo
immer das Gesetz herrschte, zu essen und gegessen zu werden. Ein
ursprüngliches Element in dem Reiz des Küssens mag die gegen-
seitige Zusicherung tmd Bürgschaft gewesen sein, dass jetzt an
Stelle der höchsten Furcht die Liebe herrsche. Das abstossende
ElemeiTt mag ursprünglich starker gewesen sein als die Anziehung.
Der Reiz des Mundes sowohl wie der Zähne, jetzt so gross für
Liebende, muss sekundär gewesen sein, und das Interesse an all
seinen Bewegungen, Gestaltungen und Formen mag entstanden
sein aus der allmählichen Ueberwindung dieser von Alters her
begründeten Furcht." Aehnlich begründet Halt die Furcht der
Kinder vor Fellen und Pelzwerk durch den Hinweis auf die Zeiten,
wo unsere wilden Vorfahren mit den Tieren noch in innigerer
Gemeinschaft lebten als jetzt, resp. wo sie selbst noch haarig
waren. Die Furcht der Kinder vor Lehrern, Aerzten, Schutz^
männem und Chinesen vrird zurückgeführt auf eine Erinnerung an
die Zeiten, wo der Krieg aller gegen alle herrschte. Die Furcht
vor dem Wasser, vor heftigen Winden, vor Anhöhen und vor dem
Fallen beruht auf den instinktiven Spuren der Seele, die der Zeit
entstammen, wo unsere Vorfahren in der See lebten und deren
Stürmen ausgesetzt waren. Der Widerstreit zwischen der alten
Liebe zum Wasser und der alten Furcht vor dem Wasser, die an
die Zeiten erinnert, wo unsere Vorfahren das Meer verliessen, auf-
hörten, Amphibien zu sein und ihr Heim auf dem Lande suchten,
ist noch jetzt in jeder normalen Seele lebendig. Da aber die
Frauen in seelischen Erinnerungen konservativer sind als die
Männer, und infolgedessen die ursprüngliche Liebe zum Wasser
die spater bei den Landbewohnern auftretende Furcht vor dem
Wasser bei ihnen überwiegt, so ist noch heute ihre beliebteste Art,
sich freiwillig den Tod zu geben: das sich Ertränken. Aber die
Argniiientation Halls macht bei diesen Entdeckungen noch lange
nicht Halt. Er will die Wcisniannschcn Biophoren und die
Micellen Naegelis in die Psychologie einführen; wie die chorda
dorsalis der Embryonen sich fortentwickelt zur vollständig aus-
gebildeten Wirbelsäule, so sollen die Erinnerungen des phylo-
genetischen Seelenlebens sich ontogenetisch fortentwickein zu den-
Uelxr die Furcht der Kinder,
315
ausgebildeten psychischen Phaenomeiieii. Die Furcht ist ihm, wie
<]as Salpa, eine Cossile Meerespflanze, eine typische Form des
lossilen Seelenlebens. Er fordert eine Erziehung des Keitnplasmas,
obwohl er sich dahin resigniert, dass diese geringen und allmäh-
lichen, aber unaufhörlich wirksamen Einflüsse des palaeopsychi-
sehen Lebens viel stärker sind, als die stärksten Einwirkungen plötz-
licher und vorübergehender Art im gegenwärtigen Seelenleben. Und
uro den Schlussstein des Ganzen nicht zu vergessen: HaU kennt
sogar den anatonuschen Sitz all dieses achönea, cryptoooStischen
Wissens: es sind die Basalganglien. Oh, diese armen Basalganglien I
Was immer die wissenschaftliche Mythenbildung zu ersinnen ver>
mag in Bezug auf unbewusste und fossile Elemente unseres Seelen-
lebens, es wandert unbarmherzig in die Basalganglien» nachdem die
Zirbeldrüse und der Balken dieses Amtes feierlich entbunden sind.
Die Beis|ttele für diese köstlich naive Beweisführung,
könnten ohne Mühe in infinitum vermehrt werden: es mögen die
angeführten genfigen. Sind sie doch ein unerfreuliches Zeichen,
wie weit die Phantasiethatigkeit derjenigen sich zu versteigen ver-
mag, die noch heute dem extremen Darwinismus huldigen.
(Fortsetzung folgt.)
316
Berichte und Besprechungen.
W. A. Lay, Methodik des naturgcschichtl. Unterrichts
und Krifik der Reformbestrebungen auf Grund der
neueren Psychologie. Karlsruhe 1899. XVI und 123 S.
brosch. M. 2,50.
Das Buch erschien als zweito, veränderte Aut'layc bereits- lf^99. Da
manche der darin erörterten Fragen neuerdings in den Vordergrund ge-
treten sittd, dflrfte noch jetxt der Hinweis auf Lays Arbeit gerechtfertigt sein.
Lay ist Lehrer der Naturwissenschaften und Geographie am Lehrer-
seminar in Karlsruhe und hat als solcher der Methodik dieses Unterrichtes
und den Reformbestrebungen seine Aufmerksamkeit ständig zugewendet
Er hat dabei den Eindruck gewonnen, dass die vorhandenen methodischen
Schriften „nur ein mehr oder weniger buntes Gemenge von oberfläclili h
oder garnicht begründeten gelegentlichen Ratschlägen darstellen, die das
ganze Gebiet des menschlichen Bewusstseins TÖUig übersehen. Man fatst
wohl die Natar, aber nicht auch die Seele des Sch&lecs als einheit-
lichen und werdenden Organismus auf.** Deshalb will Verf. ,,aus
den Grundthatsachen der Biologie und neueren Psychologie" „auf psy-
choloR^isch - et bischer Grundlage" „bisher übersehene mt*tho-
dische Grundsätze ableiten", die den naturwissenschaftlichen Unterricht erst
„iu einem allseitigen und intensiven Bildungsmittel gestalten, das sich
jedem anderen, die Sprachen eingeschlossen, getrost an die Seite stellen kann."
Bei der Darstellung der Grundlagen des Seelentebens hat er L.
Wundts niysiologische Psychologie su Grunde gelegt. Zur Illustration
dieser Ausfühnmgen analysiert er dal Begriff „Rose" und sucht die Be*
Ziehung der darin vrrkniipften sinnlichen und sprachlichen Vorstellungen
durch eine Ski/^r der .Siniics( cniren 7M verdetitlirhen.
Auf Grund diiser Betrachtungen stellt L. für die Bildung der An-
schauimg folgende Forderungen auf: 1. Beobachtung und Versuche müssen
stets Grundlage und Ausgang des natorgeschichttichen Unterrichts bilden. —
2. Man tbuss alle Sinne üben. — 3. Alle in Betracht kommenden Eindrüdce
der Naturkörper müssen nicht bloss percipiert, sondern auch appercipiert
werden. - 4. Form, Farbe, GrÖ5se und alle andern ICinenschaften eines
jeden cin^^elneri Trils eines (Jbjekls inuss der Lehrer gesondert nachein-
ander, aber jede Eigenschatt von der ganzen Klasse zugleich auflassen
lassen; dies wird veranlasst dtircb logisch, psychologisch und sprachlich
korrekte Fragen oder Aufforderungen. — 6. Jede wichtige neue Anschauung
muss durch Vergleibhung eingeführt werden, d. h. der Schdler muss ver-
1 e i c h c n d auffassen. - 6. Die räumlichen Anschauung'en müssen, so
weit immer nur möglich, vom Lehrer vor den AuRcn des Schülers durch
schematische Zeichnimgen dargestellt werden; der Schüler zeichnet sie nach
und muss veranlasst werden, sie auch aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Bei
der Auffassung der Formen, bei ihrem Festhalten und bei ihrem Wieder-
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Berichte und Bexfredkungen,
317
erzeugen haben die Bewegungsvorstellungen hervorragenden An-
teil; ihnen isi daher besondere Sorgfalt zuzuwenden. 7. Es ist bei der
hohen Bedeutung der Anicliaiuing nötig, dass das beste An>.ciiauungs-
mittel, d. i. das Naturobjekt in seinen natürlichen Eigenschatlcn und Be-
xiehungeu inmitten der freien Natur, viel als nur roögUch, benutzt werde. —
Diese Forderangen werden sicherlich allgemeine Zustimmung finden.
Es wäre von grossem Nutzen» wenn alle Naturwissenschaftler so sorg-
fältig wie Lay die Grundlagen dieses Unterrichtes prüften und sich be-
s<•t1<^•r^i von dem grossen Nutzen des schematischen Zeichnens
überzeugten. Die von deiiiaelben \ eriasser herausgegebenen Skuzensamm-
iungen (Verlag Otto Ncmntch, Karlsruhe) duntea auch den L.ehrern an
höheren Unterrichtsanstaiten willkommen sein.
Dagegen erscheint dem Ref. das Buch für Studierende, sumal für
Schüler eines Lehrerseminars nicht in der richtigen Form abgefasst
zu sein. Nach der Einleitung glaubt man es mit gänzlich neuen Ideen an
thun zu haben; dabei hat die vom V'crf. vertretene Richtung längst in
niederen inid hötiercn Schulen Beachtung gefunden und ist schon vor Lay
vieliach und m objektiverer l""orni dargestellt worden. Uass es ut
Deutscliland cntc ganze Reihe weit verbreiteter methodischer Lciiuden giebt,
dass von mehreren Seiten der Versttch efaier „einheitlichen Gesaltting des
gesamten naturkundlichen Unterrichtes" gemacht und z. T. bereits wieder
aufgegeben ist, erfahrt der Leser nicht
Mit Recht erwartet man heute auch von dem seminaristisch gebildeten
\'nlksschullehrer, dass er an dem Ausbau der Naturwissenschaften und der
L nttrrichtsmethodik erfolgreich mitarbeite. Dazu muss er jedoch schon im
Seminar durch historische Einführung zu kritisichem Denken
erzogen werden. Ein Schulbuch braucht nur Thatsachen zu enthalten,
der Student und der Seminarist muss jedoch erfahren, auf welche Weise
und von wem diese Thatsachen gefunden worden sind. Wenn ein Lehrer
und Verfasser eines Lehrbuches es für nötig hält, seinen Lesem die von
ihm selbständig gefundenen Ideen zu kennzeiclinen, so muss er auch die
Namen der Methodiker nennen, auf deren Schultern er steht. So h.itten
v<jr allem genannt werden müssen Low, Vogel, M u 1 1 e n ii o t t ,
Lüddecke, Land^berg, die Lays Forderungen längst theoretisch
entwickelt und praktisch durchgeführt haben.
So erfährt man bei den Ausführungen über die verschiedenen Arten
des schematischen Zeichnens im naturgeschichtlichen Unterricht (S. 19—28),
dass es „verhältnismässig neu sei und erst von wenigen Methodikern ge-
fordert ?ei." In Schulprog^rarnnv^n und Direktorenverhandlunpen ist seit
Jahrzehnten diese Frage fortwahrend diskutiert worden. Al.s Verfasser der
Samn)iung „schematische Zeichnungen" hätte Lay doch auch auf die in
Deutschland weit verbreiteten Skizzensammlungen von Vogel-Ohmann
(Berlin bei Winckelmann) und von Spitz (Baden) hinweisen und zu der
vom Zeichenlehrer Grau (Stade 1892) gegen das erstere Werk eröffn^en
Polemik Stellung nehmen müssen.
Bei den Retrachtungen über die Rildunp der Einsicht «nd dir Pflege
des Gemütes, besonders des religiösen Interesses durften nicht nur Ver-
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318
ßcrichU und Besprechungen.
irrungen genannt werden, die sich dieser und jener Methodiker hat zu Schuldca
kommen lassen. Aus der reichen Litteratur hierüber heben wir besonders
den von O. Vogel entworfenen Lebrplan für Naturbeschreibung (Königtt.
Realgymnasium Berlin 189i) hervor.
Den Handfertigkettsunterr icbt erwähnt L»]r nur kurz
und macht ihm unxeitgemasse Vorwurfe. Seit langen Jahren hat die Me<
thüdik dieses UnteiTtchtes eine Vertieftmg erfahren, in dem von Lay ge-
wün'^chten Sinne vor allem durch Franz Hertel (Zwickau). Letzterer
erstrebt seit etwa 30 Jahren in diesem Unterricht?* die ..praktische Durch-
luhrung des didaktischen Prinzips des Darsteliens der im Unterricht er-
worbenen Anscliauungen" und hat zu diesem Zweck das Formen, das
plastische Nachbildoin einfacher Naturobjekte als Minteosivsteo An-
schaunngsunterricht" (Gera liKH) bei Tb. Hofmann) empfohlen, an den sidi
erst das Zeichnen anzuschtiessen hat. Dass auch andre Nationen auf diesem
Gebiete sehr thätig sind, zeigt die kürzlich erschienene Studie von
H Brendel über den ..Handfertigkeitsunterricht in englischen Volks-
schulen" (Zürich 1P01>. der seit langen Jahren auf das Innigste mit dem
Sachuaterriclit der Schule verknüpft ist.
Gr. Lichtert'elde. Karl Pappenheim.
Tb. Ziehen: Ueber die Beziehungen der Psychologie tur
Psychiatrie. Rede» gehalten bei dem Antritt der ord.
ProfossnrfiirP^iyrhiatrieander Universität IMrecht
am 10. Oktober UKK) Jena, Gustav Fischer. 1900. 32 S.
In lichtvoller und anschaulicher Weise setzt der verdien5;tvol!e Fonsrhcr
in dieser Rede die Beziehungen der Psychologie zur Psychiatrie auseinander.
Da er selbst zu den hervorragendsten Förderern dieser Beziehungen zahl^
wird es nicht wunder nehmen, wenn er über diese schwierigen Frageo,
insbesondere über die Ergebnisse dieser Bezit Hungen etwas enthusiastischer
sirh -iu-^-^nn als dem nnt^cn1)H( klioben Stande der experimentellen Psycho-
logie ■ •!Us]iri< lit. Wenigstens durfte der unbefangene Leser dieser Kode
sich kaum des Emdruckes erwehren können, dass die von Z, selbst hervor-
gehobene Hauptgefahr des ,,schabkMienhaften Schemattsierens und des
pseudoexakten Zahlensammelns** von den Bearbeitern dieses Gebietes bisher
durchaus nii In immer vermieden worden bt.
Theoretisch ist gewiss nichts wahrer, als dass eine wissenschaftliche
P«;vrhjatrie einer exakten Psyrhnlot^ie 7um Fundinunto bedarf; daran k.inn
gar nicht gezweifelt werden in jiraxi freilich liegen die Verhaltnisse bei-
nahe umgekehrt. Die Psychiatric ist die ahcre Wissenschaft, die eme grosse
Fülle empirischer Thalsachen aufgestapelt hat und auf Grund dieser That-
Sachen zwar beileibe nicht allen, aber doch immerhin einigen, und gerade
den praktisch wichtigsten Problemen gegenüber cinigermasscn sich abzu-
finden vermag. Die experimentelle Psychologie dagegen ist noch sehr jung:
weniger durch die Zahl der Jahre, auf die sie zurückzublicken vermag, als
vielmehr — wir gestehen es mit schwerem Herzen — durch die Unreife
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Beticiut tmä Besfrcchungm.
319
und Unsicherheit ihrer bisherigen, „exakten" Methode und Ergebnisse. Noch
sind die Thatsachen auf dem Gebiete der experimentellen Psychologie sehr
dünn gesäet, leider sogar noch um ein erhebliches dünner ab die Amahl
der Schulen« die sich um diese ».Thatsachen" gruppieren. Sollte das nicht
etwa der wahre Grund sein, weshalb heute noch die Mehrzahl der Psychiater,
ebenso wie die Mehrzahl der Pädagogen, bei denen die Verhältnisse ja
ganx analog Hegen, der Entwickelung der modernen Psychologie und ihrer
Uebertragung auf die äpezialwissensc haften teilnahmslos und zum leii femd-
lich gegenid>er stdwtt?
Dazu kommt noch eine andere Schwierigkeit, die auch 2. in «einer
Rede streift. Die wenigen gesicherten Ergebnisse, die die moderne Psycho*
logie aufzuweisen vermag, sind von den bestgeschulten Beobachtern gewonnen,
über die wir verfügen. Es ist doch wohl nocli iiTimrr eine unerlässlic he
1 urderung auch m der modernen Psychologie, eine i'urdcrung, du; trotz
aller 2Lahlen imd Experimente, trotz aller kuuipluieneii graphischen und
elektrischen Hilfsmittel sich niemals wird umgehen lassen: die Uebung in
der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung. Wenn aber diese schon bei den
Psychologen von Fach so schwierig erscheint, dass im gründe genommen
jeder etwas anderes in sich findet, welche Hoffnung besteht da. dass die
iknsteskranken jemals zu solcher Höhe der Selbstbeobachtung und der ge-
nauen Beschreibung des innerlich Wahrgenommenen sich werden auf-
schwingen können, dass auf die^m Fundamente eine psychologische Psy<
chiatrie sich wird aufrichten lassen?
Doch genug der Zweifel. Uebersdien wir einmal an der Hand des
kundigsten Führers Z., welche Beziehungen der modernen Psychologie zur
Ps. chiatrie bisher thatsärhlich vorliegen, oder doch wenigstens für die
Zukunft wiinsrhenswi rt ocli-i sog.ir notwendig sich erweisen.
Auf dem Gebiete der Kmpfindungen begnügte man h bisher mit
der Feststelhing der etwa vorbandetMn Senstbilititsstörungen, sowie der
Ausfallserscheinungen innerhalb der einseinen Sinnesorgane. Z. verlangt dazu
noch eine Bestimmung der Reizschwelle, wie sie mit den feinsten Methoden
der Psychologie möglich ist. Gewiss würden die Eigclmissc solcher Unter-
suchungen an sich sehr interessant sein; aber praktischen Nutzen für die
Psychiatrie hatten sie nach keiner Richtung hm. Die normalen .Schwan-
kungen der Sinnesempfindlichkeit sind zweifelsohne äciton innerhalb der
sog. Breite der ' Gesundheit so beträchtlich, dass nicht aus den feinsten und
allerfeinsten, sondern- vielmehr nur aus grösseren und gröberen Abweichungen
i^endwelche suverlässigen Schlüsse auf den Geistesmstand eines Menschen,
gesogen werden dürfen.
Zur Erforschung der Empfindungsstörimgen. wie sie in den liallu-
cinaiiunen und Illusionen der Geisteskranken vorliegen, gicbt Z. einige
nütsliche Winke, die die Psychiater gewiss dankbar anerkennen werden^
soweit sie nicht auch früher schon Allgemeingut der Wissenschaft gewesen
sind. Indessen halten sich diese Winke durchaus im Rahmen derjenigen
Prüfungsmethoden, deren sich die Psychiatrie seit alters her bedient.
Auf dem Gebiete der Vorstellungen handelt es sich nach Z. 1"! um
eine Inventaraufnahme des \ orsteüungsschatzci» der Geisteskranken; 2)
um die Prüfung der Fähigkeit zum Ncucrwcrb der Vorstellungen. Der
Zetttduift für pädagogische Psychologie und Psttolocie. 5
320
Berichte und Besprechungen,
erste Gegcnstaiul ist wiederum theoretis* Ii sehr intet t ssant, /uinal Z. in einer
ausführlichen Anmerkung die von ihm m dtc^em Zwecke angeuandtc
Methode genau beschreibt; praktisch ist bei diesen, auch von Rieger, Krä-
pelin» Sommer und deren SchüJer vielfach angestellten Versuchen noch nicht
das fn rirtgste herausgekommen, was über die vorher bereits vorhandenen
Kenntnis '.' i psychiatrischen Wissenschaft hinausreicht
Du- Prütung der sog. Merkfähigkeit, d. h. der Faiiigkeit zum Neu-
erwerb \oi\ Vorstellungen ist wohl stets (.egenstand der psychiatrischen Lnlcr-
suchung gewesen. Auch hier gilt jcduch, was wir bereits oben ausführten,
dass für die psychiatrische Diagnose und Prognose nur die gröberen Störungen
dieser Fähigkeit in Betracht kommen, die auch ohne Anwendung experimen-
tell-psychologischer Methoden sich in genügend exakter \\'eise feststellen
lassen. Ganz abgesehen davon, dass experimentcll-psychologisrhe Methoden
von irgend welcher Bedeutung m dieser Hinsicht noch gar iii> ht \ urliegen.
Die von Z. angeführten Untersuchuiigsmethoden der Aufmerksamkeit
und des Wiedererkennens sind noch so schüchterne Anfange einer „Experi-
mentalmethode*', dass wir furchten mussten, sie bei genauerem Zusehen in
nichts zerrinnen zu sehen. Gehen wir deshalb zu der Bestimmung der Ge-
scliwindij^keit des X'orsulhmgs.iblaufes über. ..Man ruft dem Kranken ein
Wort zu und fordert ihn auf, die erste ihm emfailende Vorstellung laut
auszusprechen." Die Zeit, die zwischen diesen beiden Momenten vergeht,
giebt — natürlich in Tausendstelsekunden gemessen — ein Mass der Ge-
schwindigkeit des Vorstellungsablaufes, Damit sich diese Behauptung be-
wahrheitet, ist vor allem eine gute Portion vcm Gutwiltigkeit und Verständ-
nis von Seiten der Versuchspersonen erforderlich. Bei Geisteskranken dürften
•diese Eigenschaften kaum in dem gewünschten Masse vorhanden sein
Die experimentelle Untersut hung der ( Gefühle und Gefühlsioiie :st
bisher noch nicht einmal in der normalen Psychologie gelungen, geschweige
denn bei krankhaften Störungen dieser Seelenfunktionen.
Relativ am genauesten erforscht sind in der modernen Experimental-
Psychologie die sog Reaktionszeiten. Indessen auch hier ist eine Ueber^
tragung dieser Methoden in die Psychiatrie unmöglich, weil, wie Ref. aus
eigener Erfahrung weiss, selbst beim bestges« Kulten Beobachter die Schwii-risr
keiten der exakten Feststellung der Reaktionszeiten bisher noch nicht in
einwandsfreier Weise überwunden sind. Daher können wir Z. mchi zu-
stimmen , wenn er sagt , die Prüfimg der Reaktionsseiten sei in solchen
Falten von unschatsbarem Werte, in welchen die körperliche Untersuchung
nicht ausreiche, mit Sicherheit zu entscheiden, ob z. B. eine unheilbare
Dementia paral>*tira oder eine heiihare Nervosität vorliegt. Wir behaupten
dagegen: der Arzt, der auch nur iti seinem eigenen Innersten selbst eine
Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf Dementia paralytica steht, wetin eine \'er-
änderung der Reaktionszeiten nadiwebbar ist, ohne dass die überaus cha-
rakteristischen und leicht feststellbaren körperlichen Symptome dieser Er-
krankung vorliegen, macht sich der gröbsten Fahrlässigkeit schuldig. Z.
selbst würde eine solche Gewisseiüosigkeit sicherlich niemals b^ehen.
Hiermit schliesst die Uebersicht der Ergebnisse und .Anregfungen, die
aus der Diskussion der Bcziehunj^rn der rs\ r liologie und Psyiluatric na- h
Z. hervorgehen. Das Resultat ist doch wohl ein sehr durüiges. l hatsachen
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Bericht* und Btsprechungen.
321
lu'gen überhaupt mx Ii nicht vor. Die Hoffnungen und Aussirhtf>n. die sirh
eroffnen, erwiesen sich der Kritik gegenüber wenig standhaft. Was bleibt
übrig? Die Psychiater werden besser thun, die EntwicUung der eben in
den ersten, wenn auch noch so vielversprechenden Anfängen begriffenen
modernen Psychologie noch eine Zeit lang wohlwollend abzuwarten, ehe
sie den Versuch gutheissen, die vorläufig noch etwas unsicheren Ergebnisse
solcher Forschungen in die empirisch gesicherte psychiatrische Wissensrhnft
ohne weiteres zu übertragen. Dieser Standpunkt i<it hoffentUch ebenso
weit entfernt von einer Unterschatzuiii; der modernen experimentellen Psy-
chologie, wie von einer Geringachtung der Leistungen Z.'s auf diesem Ge-
biete, mit dessen Bestrebungen wir uns vielmehr principiell eins wissen.
Er ist lediglich geboten durch die Absicht einer gerechten und kritischen
Würdigung der gegenwärtigen Sachlage. L. Hirschlaff, Berlin.
Karl Richard Löwe: Wie ersiehe und belehre ich
mein Kind bis zum sechsten Lebensjahre? Für
Eltern und £ r z i e h e r. H a n n over und Bertin. 1898.
Carl Meyer (G u < t ^ %■ P r i o r). 152 S.
Die populär gehaltene Schrift wendet sich an Eltern und Erzieher,
die praktischen und gewissenliaften Ratschlägen zugänglich sind. Das
Buch will nicht einen Beitrag zur Erziehungswissenschaft liefen, ist vieU
mehr aus der Praxis hervorgegangen und ordnet alle Auseinandersetsungen
der Hauptfrage unter: „Was habe ich su thun, dass mein Kind diejenige
Bildung erlangt, welche ich \hm von Herzen wünschen muss?"
Von dem Gedanken ausgehend, dass nur in einem gesunden Köry^er
sich ein gesunder Geist entwickeln kann, hat Löwe in der Einleitung
einen kurzen Abschnitt: „Vom körperlichen Wohlbefinden des Kindes",
vorausgeschickt, um sich dann „der naturgemässen, vernünftigen und guten
Erziehung'* ~ zuzuwenden.
Dieser Teil hat vier Abschnitte:
I. Die sittliche Bildung des Kindes (S. 9— 2K), die
\'erf.Tsser als die erste und schwerste .Aufgai^e der Kitern und Krzieher
bezeichnet, bei der leider von diesen zu oft wissentlich oder unwi^hentUch
gefehlt wird. — Sie umfasst Erziehung zum Gehorsam, Erziehung zur
Wahrheitsliebe und Charaktergründtmg.
II. Die geistige und körperliche Bildung des
Kindes bis zum Sprechenlernen (S. 28 — 54).
Wie entwickelt sich der Verstand des Kindes? Kann ein Kind \or
Beginn des Sprechcnlernens eine nennenswerte geistige Bildung besitzen.^
Danach regeln sich die Hauptforderungen für die Erziehung bis zum
Sprechentemen.
III. Das Sprecheniernen (S. 64—71). Recht beachtenswerte
Anweisungen werden den Eltern in diesem Kapitel erteilt; wie z. B. am
leichtesten nnd wirks.nmsten etwaigen Spra< lifehlern vorgebeugt und ab-
geholfen werden könne, wie der l'ebergang vom Sprechen einzelner Wörter
ZU kleinen Sätzen sich am zweckmässigsten vollzieht etc.
6^
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322
W . Die Erziehung des Kindes nach dem Sprechen-
lernen (S, 71 — 147). Dirsrr hei weitem umfangreichste Teil des Buches,
der für das 4. — 6. Lebensjahr bestimmt ist , beschäftigt sich mit : den
Beiidiungen des Kindes zu Gott» dm Naturbeobachtungen, den Beziehungen
zu den Mitmenschen. Seine Arbeit beschliesst L. mit einer Reibe allge*
meiner Ratschläge. Sie mögen auch an dieser Stelle titiert werden:
.,1. Versieh nichts im Anfange; in der Erziehung ist jeglicher Anfang
folgenschwer.
2. Fordere nicht mehr vom Kinde, als in seinen Kräften steht; fordere
auch nicht so viel, als es mit Mühe vollbringen kann; fordere nur SO vidt
dasB es der Forderung mit Freudigkeit nachkommen kamt. Bei Eltern wie
bd Kindern darf es nicht am guten Willen und am freudigen Thun fehlen.
3. In der gesamten sittlichen Erziehung hüte dich vor Aufnahmen,
wie vor einem Unheile. Bleibe deinen (irundsätzen treu unter allen Um-
ständen. Behüte das Kmd vor dem Thun deä Falschen, Schlechten und
Bösen. Behüte es vor allem schädlichen Umgange.
4. In der geistigen BUdung und Kräftigung, in der Ausbildung des
Verstandes gehe sehr langsam und bedächtig vor. Warte ruhig, bis das
Kind eine Sache begriffen hat ; bei der geistigen Arbeit schadet jedes
Drängen und Hasten. Beobachte dabei stets, ob das Kind mit der .\ngelegen-
hcit sich gern beschäftigt. Ist das nicht der Fall, so ist sein Geist noch
nicht kräftig genug, oder Du hast ihm die Sache nicht leicht genug gemacht»
oder es sind Störungen vorhanden, die Du erst vorüber lassen musst. Uebe
in der Bildung des Wissens keinen Zwang aus.
5. Gehe bei allem Lernen stets von der wirklichen Anschauung aus,
und gehe niemals über den Gegenstand hinaus, welchen das Kind vor steh
hat. Bilde den Verstand des Kindes niemals durch blosse Worte, sondern
allemal zuerst durch das Betrachten und Untersuchen des wirklichen Gegen-
standes.
n Sorge füi häufige Wiederholtmg in einer Weise, welche dem
Kmde angenehm ist.
7. Vergiss nie, dass das Kmd nicht lange bloss geistig tbätig sein
will, sondern dass es hauptsächlich körperlich tbätig sein will. Ver-
binde so viel als möglich die geistige Thätigkeit mit der Thätigkeit der Hand/*
Der wanne und ansprechende Ton des Buches, Vermeidung von Fremd-
wörtern und fachwissenschaftlichen Ausdrücken, sowie gemeinverständliche
Darstellung sind \'orzu^'c, die die Schrift allen Eltern, die sich über ihre
Erziehungsaufgaben rasch informieren wollen, empfehlen.
Berlin. H. Koch.
Rudolf Pcnzig, Ernste Antworten auf Kinderfragen.
Ausgewählte Kapitel aus einer praktischen Päda-
gogikfürsHaus. 2. Aufl. Berlin 1899. DümmlersVerlag.
Mit dem Ende des S. Lebensjahres beginnt das Kind seine Wissbe-
gierdc durch Fragen zu äussern, die sich auf die verschiedenartigsten Dinge
beziehen, von Vorgängen des alltäglichen Lebens bis in die tiefsten meta-
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Benchlc und Besprechungen,
323
physischen Probleme hinein. Jetzt bildet es sich seine ersten Vorstellungca
von Natur und Welt, Leben und Tod, Gott und Schöpfung und denkt
über sein Verhalten gegen Eltern, Geschwister, Dienstboten, Mitmenschen,
Tiere a. a. nach. Damm ist es von grösster Wichtigkeit, den Ueinen
Frager in richtiger Weise zu belehren und nicht bnrsch zurückzuweisen.
Nun werden aber Modus und Inhalt der kindlichen Begnffsbildung durch
die Welt- und Lebensanschaiiung, sowie durch die Kenntnisse des Erziehers
so stark beeinflusst, dass das spätere Leben noch viellach Spuren davon
aufweist. Eben deshalb, suchen religiöse, sodalpoUtische, ethische Neuerer
diesen Boden zu bearbeiten.
So ist auch das vorliegende Buch von einem bestinunten ethisch-
pädagogischen Standpunkt geschrieben, der nicht überall auf den Beifall
weitester Kreise rechnen dürfte. Pädagogisch kann man einwenden, dass
eine frühreife rationalistische .')enkweise erzeugt wird; der poetische Schieier,
der die kindlichen Anschauungen wohlthätig bedeckt, wird schnell gelüftet,
um den kleinen Denker auf der Bahn der Begriffe fortsufübren; i^^idwo
muss natürlich Halt gemacht werden. Es ist schwer, immer eine Grenze
anzugeben, bis zu welcher der Erzieher in der Darstellung der wirklichen
Verhältnisse gehen soll; Penzig wnmt vor Bequemlichkeit und Prüderie,
er Ulli sogar nach Roussenus und Basedows Rezept den Vorgang der
Zeugung und den Geschlechtsunterschied — wetin auch in vorsichtiger Weise
— behandehi, wie «s neulich E. Stiehl in den neuen Bahnen voige-
schlagen hat.
Die Sittlichkeit des Kindes soll nicht auf dem Boden der Gewöhnung
allein angestrebt werden, sondern es müssen auch die Gründe für das
Sollen und N'ichtdürfen hinzutreten : niclit instinktives Pflichtgefühl, sondern
forma! Ingtundet und losgelöst von religiösen Beiniischungen. Beherzigens-
wert ist, was der Verfasser über die Entwickclung der ersten Rechtsbegriffe
bei Kindern sagt, über die Einschärfung des Satzes, dass Gewalt unter
kdnen Umständen, niemals imd nirgendwo Recht schafft. Nicht minder
die Beobachtungen und praktischen Ratschläge in Bezug auf das Verhalten
der Kinder gegen ihre l^mgebiing. im Hause, in der S<:luile und in der
Natur, in Bezug auf Kinderlügen u. v a . worin Ref. mit P. vorzüglich
Übereinstimmt. Wir glauben daher dem Buche die besten Empfehlungen
auf den Weg geben zu dürfen, es wird oft belehrend, stete aber anregend
wirken. Der Preis von 2,80 Mk. dürfte kein Hindernis für seine An-
schaffung sein, -s.
(
i
324
Die "wissenschaftliche L e i t U U g der bisher von dem
küfitiich verstorbenen Kreisschulinspektor Dr. Gustav Fröhlich in Sankt
Johann herausgegebenen „Klassiker der i aJagogik" (Verlag der G. F. L.
Gressler'schot Schutbuchhandliing in Langensalza) hal Dr. Hant Zimmer
in Leiptig übernommen. Die Sammlung umfasst bis jetzt SO Binde; mit
dem 21. Bande beginnt also die Wirksamkeit des netten Henmsgebers.
„Geisteskrankheit unter den Lehrerinnen*
Ist der Titel eines Aufsehen erregenden Aufsatzes, den Professor Zimmer
soeben in der ^christlichen Welt" veröffentlicht hat Er berichtet» dass ihm
beim Besuch verschiedener Irrenanstalten aufgefallen sei, dass p,verhältnis>
massig viele und ernst erkrankte Lehrerinnen unter den Geisteskranken
sich befanden." Diese Beobachtungen g^ibcn Professor Zimmer Veran-
lassung, eine Umfrage bei samtlichen Irrenanstalten in Deutschland Oester-
reich, der Schweiz und Kussland zu veranstalten, die zwar nicht vun alicn.
jedoch von einem grossen Bruchteil beantwortet ist Das Resultat ist,
dass auf 80 bis 90 weibliche Gebteskranke eine Lehrerin kommt Da in
^«issen nach der letsten Zählung auf je 350 Frauen eine angetteilte
Lehrerin entfällt, so ergiebt sich, dass die psychische Gefährdung der Lehre-
rinnen viermal so k'ros ist als sie nach dem Durchschnitt der Friuen-
gcfährdung sein würde. Noch schlimmer steht es mit den jungen Mädchen,
die in der Vorbereitung zum Lehrerberui stehen. Diese sind nach der
Ansicht des Professors Zimmer etwa zehnmal so sehr psychisch gefährdet,
als die Frauen überhaupt Der genannte Autor erklärt weiter: ^Wenn
Telephontstinnen und Verkauferinnen nervös werden, so nimmt das nicht
Wunder; denn ihre Thätigkeit findet keine Resonanz im Fraucngeraut
Aber wenn die Lehrerinncnthätigkeit. cK r N atur der Sache nach so recht
dem Fraucnjfcmüt entsprechend, durch dies oder jenes Unzweckmässige
in Vorbildtmg und Ausübung gefährdet wird, dann giebt es allerdings viel
zu denken."
Individuelle Erziehung. Bei dem überraschend grossen
Interesse, das speziell die Mütter im allgemeinen für die geistige Ausbildung
der Töchter haben, möchte ich gerne ein Schriftstück, das mir durch Zufall
in die Hände kam, der Oeffentlichkeit übergeben, damit dn kleines Bei-
spiel lehrt wie systematisch die Eigenart der Kinder ruiniert wird. Es
handelt sich um eine schriftliche Arbeit, die ein Kind in der siebenten
Klasse einer i rivatschulc eines Vororts von Berlin gemacht, imd um die
Korrekturen, die die Lehrerin darin angebracht
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325
Das Kind schrieb:
7. Mai 1901.
Die VValdbäumc:
In einem Laubwalde ist es gemütlich und traulich, die Baume stellen
weiter auseinander als der Nadelwaid. In den Laubwald strömt mehr Licht
hinein als im Nadelwald.
Die Lehrerin korrigiert:
In einem Lanbwalde Mt der Eindrndc auf uns ntelir wohlUraeiider
und traulicher, die Bäume stehen wegen der breiten Kronen vereinzelter,
als «m Nadelwaldc. so dass mehr Licht und Luft in den Laubwald hinein-
strömen kann, als in den Nadelwald.
Abgesehen von dem klassischen Comparativ, den die Lehrerin an-
gewendet, ist natürlich ilir Bericht korrekter als der des Kindes, doch war
sie eigentlich nur berechtigt, wirkliche Sprachfehler zu verbessern, und hatte
die P dicht gehabt, den Versuch des Kindes, sich nach eigenem Empfinden
auszudrücken, zu respektieren. Wären doch Eltern und Lehrer schon so
weit, dass sie die Eigenart eines Kindes als etwas Köstliches ansähen und
nicht immer nur die dreimalheilige Schablone kultivieren würden. J^y.
(D. W. a. M.)
In der diesj.ihrigcii Tnpfttnpf des Vereins für Kinderforschunj;
in Jena wurden eine Keilie interessanter Vorträge gehalten» von
denen wir iolgendes hervorheben:
Zunächst wurde auf Grundlage einer Arbeit des Würzburger Chi-
rurgen und Orthopäden Prof. H o f f a über die medizinisch-päda-
gogische Behandlung gelähmter Kinder verhandelt. Es
kommen bei Kindern zunächst Lähmungen vom Gehirne aus vor. die durch
eine wahrend der Geburt eintretf-nd«- Blutung in die Gehirnhäute entstanden
sind. Das Kind bringt die Lähmung mit auf die Welt. Dazu gesellen sich
plötxlich eintretende halbseitige Lahmungen, die nach den einen in der
Entzündung der grauen Himsubstanz, nach anderen in der Verstopfung
von Gelassen im Gehirn ihren Grund haben. Andere Lähmungen gehen
\<>n krankhaften Veränderungen im Rückenmark aus; wiederum andere von
Erkrankungen der peripherischen Nerven. Hoffa geht die verschiedenen
Arten der Lähmungen bei Kindern darauf hin durch, in wi'' weit es mögltch
ist. sie durch ärztliche uu'l pädagng^ische 13ehandlung zu bessern. Insbe-
sondere verweilte er bei denjenigen Lähmungen, die von krankhaiten Ver-
änderungen im Gehirn ausgehen. Er zeigt, wie hier durch pädagogische
Arbeit viel zu erreichen ist, wie insbesondere durch Erziehung und Uebung
auf die Herabminderung des Schadens in der Auffassung und an der Spraye
hingewirkt werden kann« zumal wenn Lehrer und Arzt hier gemeinsam
arbeiten. Hervorgehoben wird von anderen, dass auch bei den Lähmtmgen,
die von Störungen im Rückenmark ausgehen, diirrh Uebung und Erziehunf?
Erfolge zu erreichen sind. Es folgten Erörterungen über sog. psycho-
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326
Muteüungen.
pathischc Kinder. Dazu erstattete der Erziehungsiiupektor der Idioten-
anstalt in Dalldorf bei Berlin, Piper, den Bericht Naeh seiner langjährigen
Beobachtung stellt er hier zwei Hauptgmppen auf. Er unterscheidet psycho-
patbisc!u Kinder mit moralischen Defekten anf der Grundlage von Scbwach>-
'^\r\\\ und solche mit ganz einseitiger Begabung. Bei den Psychopathien
der k't^tpren Art spiele die Erblichkeit eine grosse Rolle. Dagegen wird ein-
«eworten, dass die Bedeutung der Vererbung im allgemeinen sehr über-
schätzt werde.
Von allgemeinem Interesse ist ein Vortrag des Jenenser Professors der
Irrenheilkunde Dr. Binswanger über Hysterie im Kindesalter.
Einleitend cnirurt Binswanger die Geschichte der Krankheit» von dem Namen
aiisjrehend. !.r zeigt, dass die in der Namengebung ausgesprochene An-
nahme von der Ursache der Krankheit, Hysterie bedeutet dem Worte nach
„Mutterwcli". irrig ist; dass man vielmehr schon lange \\<. is<. dass die Hysterie
ein allgemeines Nervenleiden ist, das sich in den verschiedenartigsten Stö-
rungen des Gefühls und des Bewegungsapparates und der psychischen
Thätigkeit ausspricht. Die Anschauungen gehen allgemein dahin, dass die
Hysterie in einer gesteigerten Erregbarkeit der Nervenzellen der Grösshim-
rinde ihren Gnmd hat. Früher meinte man, die Hysterie sei due Krankheit
ausschliesslich des weiblichen Geschlechts. Jetzt weiss man aber, dass sie
sich auch beim männlichen Geschlecht findet. Bei Kindern beiderlei Ge-
schlechU kommt sie vor. Die Hysterie der Kinder hat eine hetrachiliche
Verbreitung. Schon deswegen wäre es erwünscht, dass Eltern und Erzielter
sich über das Wesen der Krankheit unterrichteten. Aber noch aus einem
andern Grunde, nämlich ueil bei richtiger Kenntnis der Krankheit Lehrer
nnd Erzieher mit Erfolg eingreifen können Hysterische Kinder werden
allzu oft von den Eltern und Erziehern durchaus falscb behandelt. Sie crehen
auf das Empfinden des kranken Kindes allztisehr ein. Hat sich da< Kind
weh gethan, so wird es bemitleidet. Das ist falsch. Man muss ihm die
Schmerzensempfindung „ausreden" und durch das Beispiel ihm zeigen, dass
es seine Empfindungen ubertreibt. Zu diesem Vorgehen im Einzelfalle
muss die planmässige gesundheitsmässige Erziehung zum Zwecke der Herab-
setzung der nervösen Erregbarkeit hinzukommen. Zur richtigen Erziehung
eines hysterischen Kindes gehört nicht nur Ver^tändni-^. sondern auch
Willenskraft. Hysterische Mütter sind hysterischen Kmdern gegeniibcr
machtlos.
Letzter Gegenstand der Verhandlung war die S c h u 1 a r z t f r a g c.
Prof. Leubuscher, Deecrnent für Medixiiialwesen im sachsen-metnin<
genschen Ministerium, schilderte den gut organisierten schulärztlichen Dienst
in seinem Bezirke. Es sind in Sachscn-Meiningen Schulärzte sowohl für
die Volksschulen als auch für die höheren Unterrichtsanstalten angestellt.
Ihre Zahl ist so hoch bemessen, dass eine jede Schtile wenigstens zweimal
im Jahre ärztlich geprüft werden kann. Bei der Dienstanweisung für die
Sei ulärzte ist d^auf Bedacht genommen, ihre Thätigkeit so abzugrenzen,
dass sie in den Arbeitsbereich des I^hrers nicht übergretfeq. Vielmehr ist
darauf hingezielt worden, dass Lehrer nnd Schularzt gemeinsam für die
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MUttüungm.
327
Schulhygiene thätig sindL Die Schulärzte senden Berichte an die Medizina!-
alitetlung des Ministerium? ein. Die Bearbeitung dieser Berichte hat eine
neue Seite erkennen lasstu. von der aus die Scluilarzttrage wichtig ist. Die
Unursuchiung grösserer Reihen von Schulkindern giebt neue Aufschlüsse
über dk Haafi^rkeit von bestimmtem Krankheiten in einzelnen Gegenden.
Man gewinnt neue Betträge zur »»geographischen Pathologie''.
Neue Bestimmungen über clic zweite Lehrerprüfung, dk
Prüfung der MittelschuUehrcr und der Rektoren trifft ein Erlass
des Ministers Studt» der wohl als ein Ergebnis der im Kultus*
ministerium abgehaltenen Konferenz über die Lehrerbildung an-
zusehen ist:
Diese neuen Prüfungsordnungen treten, soweit die zweite Lehrer-
prüfung in Betracht kommt, schon am 1. Januar und für die übrigen Prü-
funpren am 1. April int">2 in Kraft. Die bezüglichen Hi-^herigen Prüfungs-
ordnungen, enthalten in den vom Minister Dr. Falk unter dem lo. Oktober
1872 erlassenen „Allgemeinen Bestimmungen , werden aulgehoben. Be-
züglich der zweiten Lehrerprüfung sind die wesentlichen Neuerungen fol-
gende:
Das Militardienstjahr bleibt für die Zeit» in der die Prüfung abzu-
legen ist» ausser Berechnung. Die bisher mit der Meldung zur Prüfung
einzureichende schriftliche Arbeit über ein pädagogisches Thema fällt weg»
ebenso du: bisher besonders geforderte I'robeschrift und Probezeichnung.
Dem Meldeschreiben ist eine Angahe beizulegen, in welchem Fache der
Bewerber sich besonders weitergebildet, und mit welchem pädagogischen
Werke er sich eingehender beschäftigt hat Der Kreisschulinspektor hat
der Meldung einen Bericht darüber anzuschUessen, welche Schulstellen der
Bewerber verwaltet, in welchen Klassen und in welchen Fächern er unter»
richtet» und wie der Lehrer sich nach Massgabe der Revisionen im Schul«
dienst bewährt hat. Wird die Zulassung zur Prüfung versagt, so sind dem
bctreflFcndcn I. ihrer die Gründe hierfür zu eröffnen. Das Provinzialschu!-
ko'.icgium bestimmt unter möglichster Berücksichtigung der ausgesproclienen
Wunsche da»; Seminar, an den» die Prüfung abzulegen i?t. Rc^ondi-'s
betont wird, dass die Prüfung nicht den Zweck hat, festzustellen, ob die Be-
werber das in der Entlassungsprüfung nachgewiesene Wissen in den ver-
schiedenen Lehrfächern noch besitzen, sondern es ist ihre Aufgabe, die
Tüchtigkeh des zu prüfenden Lehrers für die Verwaltung eines Schulamtes
zu ermitteln. Während der schriftlichen Prüfung ist statt der tMsherigen
drei Klausurarbeiten nur eine solche über ein pädagogisches Thema inner-
halb vier Sliinflen anzufertigen Dir .\nfgal>e für die abzulegende Lehr-
prtil)r i>t imter „ihunlichster Berücksichtigung der Klassen und Fächer"',
in denen der Lehrer bisher unterrichtet hat, zu stellen. Bei zweifelhaften
Ergebnissen, oder wenn der Ausfall der Lehrprobe im Widerspruch steht zu
328
XhtL'itungen.
dem Zeuffnisse über die unterrichtlichen Leistungen des Bewerbers. kaniT
die Prüfungskommission eine zweite Lehrprobe aufgeben. Wahrend der
mündlichen Prnfunn i?t einzugehen auf die Geschichte dc< Untcrriclit?. auf
die Unternchi!»- und Er/a luing^ifhrc und auf die Schulpraxis, besonders
auch auf die im Bezirk geltenden Schulverordnuiigon. Auf das positive
Wissen ist nur nalicr einzugehen, wenn der Gang der Prüfung hierzu be-
sonders Anlass gietit. In das auf Grund der bestandenen Prüfung erteilte
Zeugnis der Befähigung zur endgiltigen Anstellung als Lehrer im Volk»-
Schuldienst sind die in den einzelnen Prüfungsgegenständen erlangten Prä-
dikate nicht aufzunehmen; sie dürfen ihm aber in besondcfef Anlage bei-
gefügt werden. Eine Wiederholung der Prüfung ist frühestens nach Ablauf
eines halben Jahres pestattet.
Mit der Tendenz der Neuerung, die zweite Prüfung nicht als ein
W lasensrigorosuui, sondern als eine Feststellung der pädagogisch-praktischen
Befähigung des Lehrers für den Schuldienst anzusehen, wird man sich ein-
verstanden erklären können. Dieser Charakter der Prüfung hat natürlich
auch die Erleichterungen wie den Fortfall der Meldungsarbeit und die Be-
schränkung der bisherigen drei Klausurarbeiten auf eine tm Konsequenz,
die in Lehrerkreisen zweifellos mit Beifall begrüsst werden werden.
In der neuen Verordninig des KulUisniiiiisUTS uIkt dit- Lehrcr-
prüfiinj^cn werden \\Wr die Prüfungen der Mittelscliullchrer fol-
gende Bostinummf^i-n gotroltcn:
Die wiciitiK^t*' Acndrrunpf an den \\)r>chrntcn über diese Prüfung
besteht in einer beträchtlichen Vermehrung der Fächer, in denen der Be-
werber nach eigener Wahl sich prüfen lassen kann, und in einer Erhöhung
der in jedem einzelnen Wissensgebiet gestellten Anforderungen, namentlich
in den naturwissenschaftlichen Fächern. Für die Prüfung der Lehrer an
Mittdschulen sind fortan stets zwei der nachbezeichneten Fädier zu wählen:
1. Religion (evangelisch oder katholisch): 2. Deutsch: 3. Französisch; 4.
r.nKli^ch; 5. Geschichte; <> Erdkunde: 7. Mathematik; 8. Botanik und
Zoologie; Physik und Chemie nebst Mineralogie, Im unterrichtlichen
Intere^ve sind die in der Prüfungsordnung besonders genannten Verbin-
dungen von je zwei Fächern zu berücksichtigen. Die Prüfung dari in den-
selben Fächern nur einmal, und zwar frühestens nach Ablauf eines Jalires,
wiederholt werden. Die Prüfung im Lateuilschen tritt nicht mehr an die
Stelle eines anderen Prufungsgegenatandes, jedoch ist Bewerbern, die eine
Lehrbefähigung im Lateinischen zu erlangen wünschen, die Gelegenheit
dazu geboten.
Die Prüfungsgebühr ist von 12 auf 20 Mark erhöht worden. Die
Erhöhung der Gebühren gilt auch für die Ordnung der Prüfung der Rek-
toren, die im übrigen nur Mcuerungen untergeordneter Art aufweist.
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SdifffUdtmirr P. Kcnstei, BeriJii NW., Paatotr. SSimd L. HincbUf t. BcrttaW.. Utsowtlr.asb.
Verlag von HrrmannWalther, Verlagsbuchhandl., O. m.b.H., Ba-IinSW., Kommandan«cn<.tr 14.
Drnck von .T / p o g r a p b i a-, Kontt- nnd SctunasdUneo-Dnickerd, Berlin SW., f ricdficfattr. 16
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Zeitschrift
flr
und
Heniisgcgdien
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlafi.
Jahrgaog IIL Berlin, Oktober 1901. Heft
üeber Zensurprädikate*
Von Karl LdBchhorn.
In den „Neuen Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik",
1876. II, S. 369, ist von einer babyi^ ni^chcn Verwirrung in der
Sprache der Zeugnisse die Rede, die sich von jeher und besonders
früher dann am deutlichsten gezeigt hat, wenn ein Schüler infoige
Versetzung oder Verzug < der Fltrrn eine in einer anderen Provinz
gelegene Schule zu besuchen genötigt war. Freilich ist schon seit
längerer Zeit hierin eine kleine Besserung eingetreten, da wenig-
stens in allen preussischen Provinzen im allgemeinen folgende Zeug"-
nisnummern der Beurteilung der Schuler m Bezug auf Aufmerksam-
keit, Fleiss und Leistungen zu Grunde gelegt zu werden pflegen:
1. sehr gut,
2. gut,
3. genügend,
4. nicht ausreichend,
5. ungenügend,
mit den Zwischenstufen 7i im ganzen (ziemlich) gnt tmd '/« im
ganzen (ziemlich) genügend. In manchen Provinzen heisst aller-
dings 3 befriedigend, 4 mittelmässig oder mangelhaft und werden
gar keine Zwischenstufen zugelassen. Auch kommt es nicht selten
vor, dass man gut als erste Zenstu: annimmt und als 2 befriedigend,
als 3 mittelmässig, das überhaupt schwer unterzubringen ist, be*
aeidmeti von sonstigen, mehr oder weniger üblichen Ptidikaten
ganz zu gescfaweigen. Im allgemeinen wendet man aber mit Recht
meist fünf Grundnummem an.
ZdlMhrifl ffBr fildagQgfiebe Piydiolosk and Pittiologie. 1
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336
SM Utekk*m.
Zunächst ist es unrichtig zu gkinbcn, dass bessere als gute
Leistungen ein Schüler nicht aufziuvtistn vermag; sie kommen
doch, wenn auch sehr selten, thatsaciilich vor. Das Prädikat ..vor-
züglich'* wird heutzutage schwerlich noch irj^^end jemand zu ge-
brauchen geneigt sein, da von vorzüglichen i^eistungcn fast nie
gereckt werden kann und man mit Recht vor Uebertreibungeu in
Ausdrucken des Lobes schon durch den Referenten der 7 preussi-
scben Direktoren-Konferenz (Erler, Verhandl. S. 2) gewarnt wird.
Die zuerst angeführten Bezeichnungen festzuhalten wird sich
unter allen UnritaTulen empfehlen, was nicht .lusschliesst, dass
dieselben zuweilen zw-ecks näherer Begründung des Urteils durch
kurze Zusätze, welche in der Zensur tj'lcich hinter das Prädikat /m
stellen sind und sich namentlich auf die in oberen Klassen oft un-
gleichen schriftlichen und mündlichen Leistungen in den alten und
neueren Sprachen, sowie im Deutschen beziehen werden, erweitert
werden können. Doch sind an dieser Stelle keineswegs Angaben,
die unter die mit Recht vielfach benutzte Rubrik : „Besondere Be-
merkungen" gehören» anzubringen. Was als besondere Bemerkting
anzusehen ist, muss dein Takt des Ordinarius und des Direktors
uberlassen bleiben ; ganz allgemeine Regeln lassen sich darüber
nicht aufstellen. Jedenfalls passen dahin etwaige im Viertel- oder
halben Jahre vorgekommene schriftliche Tadel und Bestraf ungcti.
d. h. nur, wenn sie sich auf gfröbere Verfehlungen beziehen, nicht
wegen jeder Kleinigkeit erteilte Rügen und namentlich Mitteilungen
über gewisse schwache Seiten, die bei den wenigsten Schülern ganz
fehlen, über mangelhafte Fähigkeiten, vermissten Fleiss in dem oder
jenem Fache und Warnungen für die Zukunft, besonders zu Weih-
nachten, wie die im Königreich Sachsen sogar amtHch vorge*
schriebene EröiEnung, dass die Versetzung zu Ostern nur bei be-
sonderer Kraftanstrengung möglich oder trotz anerkennenswerten
Fleisses wegen zu schwacher Begabung leider ganz ausgeschlossen
sei. Alle im Klassenbuche verzeichneten Noten nehme man jedoch
keineswegs unter eine besondere Rubrik atif^ da nicht alle Tadel
auch in den Augen der Eltern und Schüler gleich schwer wiegen.
Bekannt ist, dass manche Lehrer den zu tadelnden Schüler selten
und nur nach reiflicher Ueberlegung aller dabei in Betracht
kommender Umstände, andere dagegen, sich auf ein festes» rdn
ihnen stets angewandtes Prinzip stützend, fast jede Rfige ins
Klassenbuch schreiben. Hier thate der Direktor gut daran, in einer
besonderen, sogleich bei Beginn des Semesters abzuhaltenden Kon-
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CMtr JSmtufpridäkUe.
337
ferenz genau feststellen zu lassen, was auf jeden Fall ins Klassen-
buch zu schreiben ist und was nicht. Auch würden durch dieses Ver-
fahren jungen oder anderwärts herberufenen, mit den Verhältnissen
der neuen Schule meistens vöUig unbekannten Lehrern manche
ihnen namentlich zu Anfang ihrer Thätigkeit von den diese
Unwissenheit benutzenden Schülern bereitete disziplinarische
Schwierigkeiten erspart bleiben. Noch wichtiger ist der Umstand»
dass alsdann die Schüler nie in die Lage kommen könnten, zwischen
strengen und milden oder wohl gar zwischen sogenannten gerechten
und ungerechten Lehrern, wofür sie ein sehr scharfes Auge haben,
zu unterscheiden ; nichts schadet aber dem Ansehen eines Lehrers,
ja einer ganzen Schule so sehr, als wenn einzelne Lehrer in den
Ruf kommen, bei Bestrafungen ungleichmässig zu verfahren, also
ungerecht zu sein. Jede auf das Betragen und den Fleiss bezügliche
tadelnde Notiz unter der Rubrik „besondere Bemerkungen" muss
aber ganz genau begründet sein, denn mit der allgemeinen Be-
merkung: »lo oder 12 mal u. s.w. im Klassenbuch notiert** kann
niemand etwas anfangen, am allerwenigsten die Eltern, die den
Zusammenhang gar nicht kennen oder durch die Schüler oft ab-
sichtlich falsch darüber untemchtet werden. Auch verwende man
die Rubrik nicht zur Notierung der Anzahl der verhängten Schul-
strafen, denn wer z. B. im Anfange des Vierteljahres einige Male
Arrest erhalten hat. dem möge man dies, vorausgesetzt, dass er sich
inzwischen gebessert hat. nicht nachtragen, zumal schon die Zensur
über Betragen und Fleiss den Ordinarius stets veranlasst, auch
darüber das Erforderliche ganz kurz anzumerken. Im äussersten
Falle schrecke man trotz unserer heutigen durchaus philanthropisch
^gerichteten Pädagogik nicht davor zurück, Notizen über körper-
liche Züchtigung, wenn sie, weä unbedingt zur Besserung dienend,
jedenfalls in die Zensur aufgenommen werden müssen, unter der
Rubrik „besondere Bemerkungen", aber nicht unter „Betragen**
anzubringen, zumal solche Strafen nur sehr selten verhängt und
die Eltern sofort schriftlich davon benachrichtigt zu werden pflegen,
andererseits jedoch, wenn sich die Notiz sogleich am Anfang der
Zensur befindet, der Gesamteindruck derselben unabsichtlich be-
deutend verschlechtert wird. Nicht zu billigen sind auch an dieser
Stelle Notizen, wie ,,10 oder 12 mal wcg-en Schwatzhaftigkcit ge-
l ulclt" oder so und so oft notiert, weil er eine Arbeit nicht abgc
liefert oder eine Aufgabe nicht gelernt hat, denn derartige Be-
merkungen werfen auf Schule und Lehrer kein günstiges Licht
338
Xari LäsekAom.
und fordt-rn leicht iiiiIm i echtigte, dem Ansehen des Lehrer
kollegiums schädliche Kritiken des Publikums heraus. Besser ist
CS in solchen Fallen die ungünstige Zensur im Fleiss mit denZu-
sätzen, „weil er oft vcrgesslich oder imfleissig war", zu begründen.
Eine besondere Rubrik: Beschaffenheit der Hefte", ist nicht
zu empfehlen, am allerwenigsten mit dem Zusätze „und Bücher",
der wohl auf gedruckte Bücher gehen soll, da sie fast nur für die
unteren und mittleren Klassen, sehr selten für die oberen Klassen
und überhaupt nur, wenn ein Tadel in ihr ausgesprochen werden soll,
Bedeutung haben kann. Dieser, wie überhaupt Rfigen wegen
schlechter Handschrift und Ordnungsliebe, können ebenes unter
„besondere Bemerkungen" gegeben werden.
Fär die Zensuren im Betragen sind heutsutage vielfach die
Stufen: „gut, nicht ohne Tadel, tadelnswert", üblich, deren unbe<
dingte Beibehaltung sich empfiehlt, jedoch so, dass die beiden letzten
Nummern hinter dem erteilten Prädikat kurz zu begründen sind.
Sämtliche Urteile, auch die über die Leistungen, sind in Worten,
nicht, wie in einigen Staaten üblich, in Ziffern auszudrücken.
Letztere sind Ausflüsse eines gewissen Schematismus, der unter
allen Umstanden fernzuhalten ist ; auch fühlt der Schüler aus dem
Wort viel deutlicher als aus der Zahl heraus, dass der Lehrer ein
gewisses Interesse an seiner ganzen geistigen Entwickelung hat.
Sehr wünschenswert nicht nur, sondern der Schüler und Hltem
wegen absolut notwendig ist es, wie der Berichterstatter der
7. preussischen Direktoren-Konferenz bei Erler, S. 13 vorschlagt,
dass die Stufenleiter der Prädikate, auch der der Leistungen auf
den Zensur*Formularen abzudrucken und bei der Beurteilung der
schriftlichen Schülerarbeiten dieselbe Stufenleiter der Prädikate
inne zu halten ist Man beherzige endlich beim Ausstellen jedes
Zeugnisses stets Schräders Worte von der Bedeutung der Zensuren
(Erziehuttgslehre II. Aufl., S. 191), wonach dieselben vorwiegend
darauf berechnet sind, dem Schüler durch ein Gesamturteil über
sein Verhalten zur Selbsterkenntnis zu verhelfen und sein ferneres
Bestreben zu bestimmen, sowie auch die Eltern über die Ent<
Wicklung ihres Kindes in Kenntnis zu setzen.
Was zunächst den Ausdruck „Betragen" betrifft, so ist derselbe
beizubehalten, nicht „Führung** oder, wie im Königreich Sachsen
üblich, „Sitten" dafür einzusetzen, doch ist es nicht unstatthaft,
wenn auch das Ministcrial-Reskript vom 12. Mai 1840 (Wiese, Ver-
ordnungen und Gesetze I, S. 160) die dreifache Spaltung gegen
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üeber ZensurprädiJtaU,
339
Lehrer, gegen Mitschüler, ausserhalb der Schule verwirft, das Be-
tragen zuweilen mit Berücksichtigung dieser drei Punkte zu be-
urteilen. Natürlich kann das Betragen ausserhalb der Schule nur
insoweit in Betracht kommen, als es durch die Schulordnung ge-
regelt ist. Sehr schwierig ist die Beantwortung der Frage, ob ein
Schüler, dessen Betragen tadelnswert war, aber dessen Leistungen
ihn unbedingt für die Versetzung reif erscheinen lassen, in der
Klasse sitzen bleiben soll. Man dürfte in diesem Falle wohl mehr
geneigt sein, das alte Wort: ,,Qiii proficit in litteris et deficit in
inoribus, plus deficit quam proficit" einmal nicht anzuwenden, da
für Beispiele grober sittlicher Ausschweifungen oder fortj^esetzter
Widersetzlichkeit gegen Lehrer und Schulordnung, die die Disziplin
einer ganzen Klasse oder Anstalt gefährden, das consilium abeundt
unbedingt zur Anwendung gebracht werden muss. Hiernach wer-
den Fälle zu entscheiden sein, in denen Zweifel obwalten, ob ein
Selcundaner, der wiederholt gelogen (Verh. d. 2. pommerschen Dir.-
Koni, a. a. O., S. 4) oder ein anderer, der fortgesetzt kindisches
Wesen gezeigt hatte (Verh. d. 4. preuss. Dtr.-Konf, S* 32), zu ver-
setzen sind oder nicht. Stets ist in solchen Fällen der ganze Mensch,
namentlich seine Leistungen anzusehen.
Keine Meinungsverschiedenheit wd darüber laut werden
können, ob man Aufmerksamkeit und Fletss zu trennen oder unter
eine Rubrik zusammenzufassen hat. Unter Fleiss ist jedenfalls
nur hanslicher Fletss zu verstehen und Aufmerksamkeit bezieht sich
lediglich auf die Schulstunden, sodass die von einigen Referenten
auf Direktoren-Versammlungen mitvorgebrachte Bezeichnung
„Fleiss in der Klasse" ganz ausser Betracht fallen kann. Die
Rubriken zu trennen liegt um so mehr Veranlassung vor, als
manche Schüler, die in der Klasse zu Traumereien neigen, zu Hause
sehr fleissig <nnd, während andere und zwar meist sehr fähige sich
lebhaft am CJnterichte beteiligen, aber zu Hause nicht genug ar-
beiten. Den Ausdruck „Leistungen" hat man in den Zensur-
formularen beizubehalten, nicht „Fortschritte" oder „Kenntnisse"
oder „Leistungen in Verbindung mit je einer der beiden anderen
Bezeichnungen" dafür einzusetzen. Noch unpraktischer ist „Fleiss
und Leistungen", da die Leistungen dem Fleisse oft nicht ent-
sprechen, auch ^»Fortschritte" ist nicht zu empfehlen, weil bei den
nenversetzten Schülern der neue Onfinarius schweriich jemals niit
Sicherheit feststellen kann, wie wdt sie fortgeschritten sind, da er
von vornherein über den Stand ihres Wissens entweder gar nicht
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340
oder nur rein zuföUig unterrichtet ist. Die Beurteilung der
Leistungen hat natürlich nach dem Klassenziel ohne irgendwelche
Nebenrücksichten zu erfolgen. Sehr wichtig ist endlich eine Rubrik
über den Klassenplatz, der durch einfachesAddieren aller Zensuren,
d. h. der im Betragen, Fleiss, Aufmerksamkeit und Leistungen in
sämtlichen Unterrichtsgegenständen mit Ausnahme der rein tech*
nischen Fächer erteilten Prädikate zu bestimmen ist; selbstver;-
ständlich ist dem Klassenplatze die Klassenfrequenz beizufügen,
wenn die Bestimmung Wert haben soll. In Prima ist der Klassen-
platz nicht anzugeben, wohl aber noch in Sekunda.
Völlig zu verwerfen sind mit fast allen Direktoren, die auf der
siebenten preussischen Direktoren-Konferenz darüber ihr Gutachten
abgegeben haben, die in der Provinz Brandenburg und zuweilen
anderwärts früher üblichen Hauptnummem der Zensuren, da man
dabei stets auf Zensuren von sehr ungleichem Werte stossen wird,
welchen dennoch derselbe Zensiir^ad erteilt werden muss. Es ist
auf der siebenten preussischen Direktoren-Konferenz (£rler, S, 14^
atisführlich die Rede über diesen Gegenstand gewesen, indem der
Berichterstatter die gegen die Zensumtunmem angeführten Gründe
zu widerlegen und dann zweitens die ganze Einrichtung zu ver-
teidigen suchte. £r sagte u. a., die Wertbestimmung der Zensuren
durch Nummern erleichtere die Bestimmung der Rangordnung,
doch ist dies kaum anzunehmen, namentlich dann nicht, wenn
Leistungen und sittliche Führung sehr verschieden beurteilt sind.
Auch erhalt man durch Hic Zcnsnrntimmem zwar einzelne Rang-
klassen, gewöhnlich fünf, während die Schwierigkeit, den Klasscn-
platz einer grösseren Anzaiil von Schülern genau zu bestimmen,
dadurch nicht vermindert wird. Ferner gewährt nach des Ref.
Ansicht die ITaiiptzcnsiir eine schnelle und richtige Uebersicht über
den Fortschritt oder Rückschritt der Schüler. Dagegen kann man
sagen, dass aus der erteilten Nummer noch ni'cht ersichtlich wird,
in welchen Fachern der Schüler fortgeschritten oder zurückgegangen
ist. Noch leichter zu widerlegen sind die weiteren vom Ref. vor-
gebrachten üründe. So soll die Haupt miintner dem .Schüler selbst
wie seinen Mitschülern einen bestimmten Gradmesser über das ihm
von der Schule ausgestellte Zeugnis oder Urteil seiner Lehrer ge-
währen, während doch die Zensur allein schon alles in dieser Be-
ziehung Notwendige enthält und der Nutzen der Bemerkung in gar
keinem Verhältnis zu der zwecks ihrer Feststellung aufgewendeten
Zeit und Mühe steht. Dass die Nummern den Eifer der Schüler be-^
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sonders anregen und die Versetzungen erleichtern, wie der Ret.
endlich meint, ist ganz entschieden zu leugnen, weil die Eltern über
der Hauptnnmmer den eigentlichen Inhalt der Zensur vergessen
und bei den Versetzungen ganz entschieden fast nur die Leistungen
in Betracht gezogen, die Zensurnummem aber unter gleich-
massiger Berücksichtigung der Prädikate im Betragen, Fleiss und
Leistungen gegeben werden.
Was die Zensurverteilung betrifft, so erscheint es empfehlens-
wert, dass der Direktor, wie wohl fast überall, wenn auch mit ge
wissen Modifikatiotu n üblich, nach den Unterrichtsstunden in der
Aula die neue Rangordninig für die einzelnen Klassen, bz. die
Versetzten vorliest und bei jeder Klasse ausser Prima und Ober-
Sekunda — und zwar von der letzt en Klasse aufwärts — diejenigen,
welche sich besonders ausgezeichnet haben, tind nocb viel mehr die
Tadelnswerten öffentlich nennt, auch einzelne Klassen oder Schuler
je nach den Umstanden autmuntert oder ermahnt. Die Formulare
der gewöhnlichen Abgangszeugnisse müssen mit denen der Zensuren
natürlich völlig übereinstimmen; für die Abiturientenzeugnisse ist
eine bestimmte Form in jedem einzelnen deutschen Bundesstaate
vorgeschrieben. Auch für die Zensuren könnte für jeden Staat,
also z. B. für alle preussischen Provinzen eine stets innezu-
haltende äussere Form und Abstufung der Prä-
dikate, schonderUebersichtlichkeitundGleich-
mässigkeit wegen, festgestellt werden. £s hat sich nament«
lieh früher oft bei Versetzungen der Eltern gezeigt, dass ein und
derselbe Schüler in mehreren Provinzen bei ganz gleichen
Leistungen verschieden beurteilt worden ist, und das ist nicht gut.
Sämtliche Zensurformulare bewahre man trotz der entgegen-
gesetzten Ansicht von Eiselen (Neue Jahrb. für Phil, und Päd. 1876.
II, S. 380—381) möglichst lange im Archiv auf ; die ältesten Jahr-
gänge einer Anstalt können natürlich, wie bei allen Behörden üblich,
mit der Zeit vernichtet werden.
Schliesslich noch einige Worte über die in den Zensuren an-
zuwendende Ausdrucksweise. Man achte immer darauf, dass die
Sprache der Zensur besonders bei der Beurteilung des Betragens
ernst, würdig und von jeder Gemütsstimmung unabhängig sei, und
vermeide sorgfältig jedes unedle, tri\iale, den Spott und das Lachen
der Schüler, vorzugsweise der älteren, herausfordernde oder die
Eltern verletzende Wort. So wirken Ausdrücke, wie : „Der Schuler
war lügenhaft, bz. roh gegen seine Mitschüler", welche letztere Be-
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Zeichnung übrigens schon wiederholt zu berechtigtem Einspruch
seitens der Eltern geführt hat, geradezu vernichtend, dagegen An-
gaben, wie: „Der Schüler hat nicht immer die Wahih- it sagt '
oder „Der Wahrheit die Ehre gegeben", bz. „er hat sich Misshand-
lungen jüngerer Mitschüler zu schulden k ommen lassen" oder ,,er
keigte ein iinani^emessenes Verhalten gegen seine Mitschüler" be-
schämend und werden, wenigstens im Laufe der Zeit, bei nicht ganz
verdorbenen Naturen reiche Früchte tragen. Aehnlichen Erfolg
kann man sicli von Notizen, wie: ,,Es fehlt ihm noch an rechtem
Ordnungssinn" ; ,,er nimmt es mit seiner häuslu In n Vorbt r- itunL,'
oder mit der Erfüllung seiner Pflichten zu leicht ' vers])r( chen.
Knrllich ist im Verein mit der 7. pretissischen Direktoren Konferenz
(Erler, vS. 3) auf Korrektheit des Ausdrucks, die wir Lehrer vom
Schuler stets imrl vorzugsweise in Aufsätzen verlangen. Gewicht zu
legen und alle l'rridikate, welche dem Betragen oder dem Fleisse
zukommen, nicht auch auf öic Person des Schülers zu übertragen.
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Zur Psychologie des Rechtschrelbeiinterrichts.
Von
Ludwig Maurer.
Die Schwierigkeit des Rechtscbreibeunterrichtes wird da-
durch vermindert, dass man zu dem Schüler und in der Um-
gebung des Schülers deutlich spricht. Kaum konnten meine
Kinder mit Tafel und Stift» Papier und Feder umgehen, als
ich aus ihren Arbeiten festzustellen versuchte, wie sie selbst-
ständig rein nach dem Gehör „schreiben". Voraussehend, dass
Abc - Schützen Wörter, die sie vorher nie gedruckt oder ge-
schrieben gesehen haben, so fehlerhaft niederschreiben würden,
dass man sie kaum erkennen könnte, ordnete ich die Wörter
in sachlich zusammengehörige Gruppen. Sie schrieben nieder,
welche Dinge in der Schule, der Stube, dem Stall, dem Garten,
dem Acker voiiianden sind, und was sie von der Kirchweih
wttssten. Um aber auch darüber urteilen zu können, wie sie
nach dem Gehör Memoriertes niederschreiben, Hess ich sie
Sprüche tmd den Anfang einer biblischen Geschichte zu Papier
bringen. Während der ersten Versuche schrieben die Kinder
185 Wörter nieder, darunter die folgenden:
Rechenmaschine
Rech na, Rc^enmaschiner
Stube
Schdube
U'schlrWe
Sofa
ssoften Soven
Spiegel
Sdibigel
Oras
Irras, kars
Baume
BneTme, beuime, beume, Bueme
Rotheerc —
rocibu, Robir, Rodbären
Schurze
Schuhze, Schize
Oarteo
kraten
Strflniplc
Schtrife; scbtrimpf. Schrife. Strif
Kartaffdsuppe
Öbinsube, oibinsube
Bier
Bir, Bihen
Schnaps —
schnsbs
Seltervasser
slderwaser
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Ludwig Mi
f\IIUI wCIU
I\|2WC1C| KlIUlwICi IvUWCI, IVC|JaCI
7iM<l(Mpl(nfn
vMMrlmiti
lffil*ll1*IH
ikucniciii
IVllClIl
vjiaser
ivicser
L,i rn tjc
A4 Oft M A
uraiwurbl
urawuscuf oroiwursif DrowuscQ
Vorhalt V/nrliAinA
joppe
JUOC
WCS IC —
riciiiQ
Hemert
V . nrmlSCllC
Dcnrnins
DOUUUll
oouoin
vicirciuc
gcircuiic
IMIsDC
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unicrscQuiz
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ff «V /4 90 4 <
UaaZall
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OlKieiScTl
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1 liniaSK», uucniasc
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Ci*k1l*lk1m«Ha
aiciiiisiDiiini«
Hmi _
1 teil — —
nci
rcuersicin
rucscnic
*_noconar
ocnoiiciu
1 ClldlClJallill
Vogelhaus — —
fuckelliaus
riciic — —
OIclIc
oiunnure —
Cf4itaMim
Acgc — —
oCnwcinsOUl
CnliMAinmnli-i^jil
dcnwcinscuaai
oiron — ' — -
jcniro
oiacncioccrc —
3ciiicg roir Ii. ocnnigeioir
nimocerc —
noioaren
FnHKfmm
ciuEnmc — *■
Omi II
Afl Ahfl
Dimc
Hl man
Dual
V-' l— 1 IOC
tiT t^T\ nlf
UiCOCK
hederbüchse —
feterbise, Väderbisssse
Erdöl
Erdel
Brot
Beiot
Mangholz —
Manchols
Futter
futer
Stopftrog
Schobstnig:
Kalb
kolb
Barren
Baren
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Zur Ftyckoiogtc des HKhUchretbcunUrncJUs. ^45
Zwetschgen
zwaschken
Kirschen
Köschen, Goschen »
DCCRII
Biren
Mose
btise
GartenUttsIdn
Kdenliaslr
Wasser —
wasar
Scnrcnze —
schrrenze
Hufeisen
hueisen
Plätzchen
Blizler
ncuiniinie
nudHuine
Flickscnaditel
VliKscnagtel
Bücher
Bigr
(Jientnnre
uFetr
nauäthurc
hatr, hadcr
Schulthiire
Schoietre
Schulkinder
Schulkitr
Untenfius
Timfius» tidenfue
meine
muine
Lehrermagd
Lierrmat
gelbe Rübe
Geier
Trompete - -
Drumbetcn
Weltkugel
Wlugl
Fenster —
Fensder, Penzder, FenseTf Pentr, Pestr
Tisch
Sofort fällt in die Augen, dass die meisten Wörter laut*
richtig in der Dialektspiacbe ^) wiedergegeben sind. Ausnahmen
bilden die Wörter, welche das Kind in der Schule gehört oder
im Buche gelesen hat. Der Schatz der im Bewusstsein nieder-
gelegten Klangbilder ist die erste Quelle für die graphische
Darstellung der Wörter« Die Korrektheit der schriltUchen
Wiedergabe hangt ab von der Reinheit der Aussprache in
der Umgebung des Kindes und von der Fähigkeit desselben.
Laute korrekt aufzunehmen. Ich vergleiche die Aufnahme der
Laute durch das Sensorium mit der durch den Schallbecher
eines Grammophons. Je klarer und deutlicher ich spreche,
desto feiner wird der Stift seine Arbeit auf der Walze aus-
führen, desto getreuer wird die Wiedergabe ausfallen. Alle
Variationen des Sprechens: langsam und rasch, accenituiert
oder verschwommen, finden sich im Wortklangzentrum vor.
Aus den Reproduktionen erkennt man nicht allein den lokalen
Dialekt, sondern sogar die Sprecheigentümlichkeit der Familie.
*) Mittelfrajiken In Bayern.
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346
iauhmg Mk
Als getreue Wiedergabe des Klangbildes ist besonders auf-
fallend: Beuime (Bäume) dischu We (die Stube), Wasar
(Wasser) und Afl (Aplclj. Geradezu als Feinheit der üeber-
tragung des Klangbildes au£ das Papier geLten die Wörter:
hatr, hader, ufetr und Liermiat. Auch wer mit dem Dialekt
der Bevölkerung vollständig vertraut ist, braucht lange, bis
er aus obiger Buchst&bensammlung: Hausthür, Ofenthüre und
Lehrermagd herauslesen kann. £s gelingt nur, wenn man den
Ton der Bevölkerung nachahmend ziemlich rasch die Silben
selbst spricht.
Eine Menge Worte sind nach der Klangerinnerung korrekt
geschrieben: Schdube, Fenzderram, fukelhaus, Schtägerbtr,
öbinsube (Kartoffelsuppe). Es fehlt kein Laut.
Folgende Wörter sind falsch geschrieben: i. kars, dei.
hueblume, nkab, Scfaoletre, Bueme,^) diese Wörtergruppe zeigt
die Unbeholfenheit mancher Kinder in der Uebertragung des
Klangbildes auf das Papier. Wie das kleine Kind tappend
nach dem Spielzeug langt, weil die Muskeln dem Befehl der
Zentren noch nicht folgen wollen, ebenso unsicher in der Aus*
führungsbewegtmg ist hier der Abc>Schütze. In seinem Bewusst*
sein stehen die Laute. Er bringt sie auch alle auf die Tafel.
Aber in der Uebertragung verwechselt er die Reihenfolge.
Es geht hier dem kleinen Mann ebenso wie dem Setzerlehrling,
der im Hervorholen der Typen aus dem Setzkasten und in
dem Einstellen in die Form noch nicht gewandt genug ist.
Die Folgen äussern sich hier als Druckfehler, dort als ortho-
graphische.
3. Grschen (Kirschen), Kdenheissler, Kg Weie, Ferkies-
mehngt (Vergissmeinnicht), Schlislblume, timfase, Rechna,
WSugl, slderwater. Schisam. lo dieser Wörtergmppe fehlen
Vokale. Auf den ersten Blick sieht man, dass diese Wörter
eine beträchtliche Silbenreihe repräsentieren. Während der
Uebertragung des Klangbildes litt die Aufmerksamkeit, die
Willensenergie und die Ueberskht. Das Kind ist nicht mehr
imstande, die komplizierte Thätigkeit des Umwandeins der
Latte m Buchstaben zu vollenden und bricht mitten im Worte
Solche Metathesen — Uinäiellungen zwischen Vokalen, Vokalen und
Konsonanten oder von Konsonanten innerhalb verschiedener Silben finden
sich idelfach in der historiadieii Entwi^duiig der Sprachen: Altfranitfstsch: .
torbler; Neufn.: ttoubler; Altfn.: temprer, Nenfti.; tremper (von temperare).
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Xur Psychologtc des KecklsehteibeunUrrichis.
m
ab. Während fs die Laute in Buchstaben umwandelt, steht
im Vordergrund des Bewusstseins das Gesamtklangbild. Die
graphische DarsteUung df^ ersten Buchstabens ist schwierig.
Es dauert zienilirh lange, bis er zu Papier gebracht ist.
Während des Schreibens hat es zwar den 2. herabholen wollen,
ist aber im rascheren Gedankenfluge an den 3 angelangt und
überträgt diesen Laut als Buchstaben auf das Papier, Daher
das Fehlen des 2. Buchstabens in K (a) denheissler, K(i)g
Weie, s(e)lder waser. Wie entstand das Wort Schisume statt
Schlüsselblume? Das Wort Blume ist den Kindern
sehr geläufig, geläufiger als Schlüssel. Während des
Schreibens: Schlüssel entschwand die Aufmerksamkeit. Die
Willcnsenergie wurde wieder angefacht durch das Frohgefühl,
das durch das bekannte Wort Blume erzeugt wurde und durch
die Bedeutung der Klangfarbe des Vokales „u". Siehe auch
Wlugl (Weltkugel).
Es liegt in der Natur der Vokale« ob sie leicht entschwinden
oder sicherer haften. So fehlte der Vokal
0 in — Wort,
a „ 2 Wörtern,
1 « 10 „
e „ 18 „
Man darf daraus den Schluss ziehen, dass volltönende
Vokale : o a u sicherer haften, als das leichte i und das im
Dialekt so oft ganz verschwindende ,,e". Dementsprechend
werden auch die ersteren Vokale leichter wieder gegeben*
Wie schreibt das Kind selbständig ohne jegliche Beein-
flussung von selten des Lehrers oder einer anderen Person?
Aus dem Schatze seiner Klan^^bilder holt es sich
z* B. das Wort „Buch** heraus. Leise spricht es vor
sich hin: B und schreibt B,uuch. £s ist dem Kinde
ganz gleich, ob es nun ein b, oder p, ein ch oder g macht,
wenn nur der Laut fixiert ist. Anders ist es beim Nieder-
schreiben der Vokale. Ist Buch in seiner Umgebung rein aus-
gesprochen worden, so schreibt es u, wenn nicht, so ou bouch.
Beweis: Fukelhaus statt Vogel, Beime, Wäsde (Weste), Wasär
(Wasser), Schotleiti (Chokolade). In demselben Moment, in
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348
Ludwig Maurer.
welchem es ein Wort z. B. „Buch" niedergeschrieben hat,
entsteht in seinem Bewusstsein ein „Schreibbild" und wird als
Schreiberinnerungsbild reproduziert. Je mehr korrekte Schreib-
erinnerungsbilder, desto richtiger wird das Kind schreiben.
Wie schreibt das Kind aus dem Fonds der
gelesenen Schriftbildf.^r?
Um mich hierüber zu orientieren, mussten die Kinder
Spfüche und eine biblische Coschichte aus dem (Gedächtnis
niederschreiben. Die wenigen Fehler, welche dieses Experiment
zeigte, Hessen erkennen, dass nur ganz schwach begabte
Kinder Buchstaben umstellten und die richtige Reihenfolge
verfehlten : dun statt und, laher für Jahre, dei statt die, meinde
statt meinet, kien für kein. Manche Fehler entspringen auch
jetzt noch der schlechten Aussprache, die nicht ganz auszu-
rotten ist: vertelgen statt vertilgen, gottleches statt göttliches,
See statt sie.
Bin Kind schrieb den ihm aufgetragenen Satz: „Suchet
in der Schrift» denn Ihr meinet/ Ihr habt das ewige Leben
darinnen** wie folgt nieder: Suet in Schrf Tren Irmet hab
da ewgelebgleben darinen und — die biblische Geschichte (An*
fang derBnählung vtm der Sündflut): Noah und die Sündflut*
Die Menschen fingen. Der Knabe hatte die Gewohnheit» die
Sprüche sich von seiner Mutter solange vorsprechen
SU lassen, bis er sie auswendig nachsprechen konnte. Die
biblische Geschichte dagegen liest er selbst
durch. Daher kommt es, dass er diese korrekter nachzuschreiben
imstande ist, als jene. Dort wird er nur vom Klangbild, hier vom
Klang- tmd Schriftbild unterstützt.
Das im vorschulpflichtigen Alter ge-
wonnene Klangbild wird in der Schule abge-
ändert durch das Hören richtiger Laute und
durch das Hinzutreten der Schreibbilder. Die
Umänderung geht am vorteilhaftesten vor
sich, wenn das Kind Laut für Laut spricht und
während des korrekten Sprechens zugleich
den Buchstaben niederschreibt. Eine Reihe
weiterer Versuche wird diese Behauptung bestätigen.
V .
Arbeitstypen bei Schfiiern.
Vortrag in der 1. Sitzung des Berliner X'ereins für Scbulgesundbeitspflege
am 89. Oktober 1901. ^
Von
Ferdinand Kemsies.
Geehrte Damen tuui Herren!
Seit einem Dezennium sind unsere Kenntnisse über die psy-
chologischen und physiologischen Voi^g^nge, die wahrend der
Venichtung einer einfachen Arbeit stattfinden, mannigfach be-
fdchert worden. Wexm ich es heute unternehme, vor Ihnen über
Arbeitstypen su sprechen, so bin ich gleichwohl in einiger Ver-
legenheiti denn wir betreten hier dn Grebieti auf dem z. Z. kaum
mehr als einige Cömbinationen im Umlauf sind. Sie wollen
daher meine Ausführungen mit der Nachsicht beurteilen, die
ein erster Versuch in praktischer Absicht beanspruchen darf.
Sind wir doch heute noch nicht soweit, alle geistigen und
körperlichen Vorgänge exakt verfolgen zu können, die unter
dem Begriff einer speziellen Arbeit zusammengefasst werden;
wieviel weniger ist es daher möglich, Typen der Arbeit auf-
zustellen. Der Begriff des Arbeitstypus^) verlangt eine Kenntnis
der Art und der Inten8ität,in der die einzelnen geistigen und körper-
lichen Punktionen während bestimmter Arbeiten ablaufen,
dabei in einander greifen, indem sie sich gegenseitig unter-
stützen oder hemmen — und zwar in charakteristischer Aus-
prägung bei verschiedenen Individuen. Da kommt es darauf
an, welche Sinnesempfiiiduiip^en vorzugsweise den geistigen
Rohstoff für den besonderen l all liefern, ob Auge oder Ohr
sich energischer bethätigt, wie sich die Vorstellungen erneuern,
>) Zur Qrientiemng Aber den psjrdiologiaGheii Arbellabegriff ¥gL man;
Hdfler, Piychische Arbeit Ztschr. fQr Psychologie und Physiologie der
Sinnesorgane. VII/VIII. - Psychologische Arbeiten, herausgeg. von Kraepelin.
— L. W. Stem, Ueber Psychologie der individuellen Differensen. Leipsig 19CX).
Barth. —
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350
wie sie sich zu Reiben verknüpfen, wie sie in logische Ver-
bindungen gebracht werden. Da kommt es femer auf die
mannigfachen physiologischen Prozesse an, die neben den
geistigen herlaufen und vielfach zu ihnen in Beziehung stehen,
wie es pathologische Fälle deutlich zeigen. Da spielen die
Einflüsse der Uebunc;, Gewöhnung, Ermüdung, Erholung, An-
regung u, a. eine bedeutende Rolle, denn sie bringen quanti-
taÄve Veiäudeiüiigen in den Arbeitsiesullaten hervor.
Zu diesem grossen, nur teilweise bekamiten Komplex von
Erscheinungen kann ich Ihnen nur einige statisusrhe und
experimentelle Beiträge aus dem Material liefern, das die
Schule zur i3eobachtiing gelangen lässt. Es wird eine Auf-
gabe für die Zukunft sein, den Arbeitst\'pus auf seine Zu-
sammensetzung aus einfachen Typen genauer zu untersuchen.
Deshalb möchte ich den Ausdruck Typus an dieser Steile
nur als provisorischen aufgeiasst wissen.
1. Die Verschiedenheiten des Arbeitswertes.
Rangtypen.
In vielen Schulen besteht die Einrichtung, die Schüler
nach ihren Leistungen in einer Rangliste zu ordnen. In dem
Klassenplatz, den der Knabe einnimmt, kommt gewisserniasaen
der Gesamtwert zum Ausdruck, den die Lehranstalt seiner
Arbeit zuerkennt. Für die Feststellung desselben wird ein Ver-
fahren in Anwendung gebracht, das, so roh es noch erscheinen
mag, immerhin einen gangbaren Weg vorstellt, zu einer
Messung zu gelangen. Die Leistungen in jedem Fache werden
nach ihrer Beschaffenheit durch eine Nummer statt wie ge-
wöhnlich durch eine Note bezeichnet; den 5 üblichen Noten:
„sehr gut, gut, genügend, mangelhaft, ungenügend" ent-
sprechen die Zahlen i — 5. Man multipliziert nun die Nummer,
z. B. 3, mit der Zahl der Wochenstunden des Faches, *B-.
6, und erhält einen Wochenwert: 18. In dieser Weise werden,
für alle Fächer Wochenwerte berechnet und durch Addition
derselben die Zahl gewonnen, die für den Platz des Schülers
massgebend ist Die guten Leistungen In einem Gegenstände
gleichen hierbei die schlechten in einem andern ganz o^er
teilweise aus.
Arbeitsiypen bei SchüUrn,
351
Deutsch
Frusösisch
Gaogr.
Rechnen
Nalurb.
Schreiben
Beispiele.
5 St. X 3'/a ^ Id (17'/,) ,
6 St. X 4
2 St. X 4
St.
St.
St.
X ■»
X 3
X 3
24
« a
= 20
^ 6
= 6
82
6X2
X 2
X 2
. 1
X i
12
4
10
2
2
I
38
Bei der PesLstcllung der Faclir.;;niuici werden alle Leistnn-
geri dos Schülers sorgfältig <^rwogen, Ix^ini deutschen Unterricht
ilso ebeiibogui die Keiuitmsse \\\ der ( ir.unriiatik und in der
Orthographie, wie die Fertigkeiten im Lesen und im mündlichen
oder schriftlichen Gebrauch der Muttersprache. Die Fachnummer
kann .sogar auf Bruchteiie lauten; wenn der Wochenwert
5> 3- - 15 als zu hoch, 5x4 = 20 m niedrig angesehen wird,
so kann eine der dazwischen liegenden Zahlen 16 bis 19 ge-
wählt werden.
Diese Piatzzahieu verteilen sich bei der letzten Rang-
ordnungslistc in der Sexta einer Oberrcalschule über die Zahlen-
strecke von 38 bis 82, jedoch nicht gleichmässig, sondern häufen
sich in dem untern Teil, sjx;ziell um die Zahl 67, die nicht
weniger als fünfmal auftritt : Tabelle I, Fig. I. Das arithmetische
Tab. I.
1
! 1
6,
71
i
53
63
73
54
64
66
73
75
1 1
67
76
1
67
i ,
• 1
«»7
67
!
CjS
67
78
i ^
59
70
SO
i
59
7«>
Mittel aller Zahlen beträgt 64,8. £s repräsentiert demnach die
Mehrzahl der Sextaner sogenannte Dtuxrhschnittsschüler. Ordnet
man die Zahlen in Zehnerreihen an^ so bemc rkt man in der
Kolumne von 61 bis 70 nicht weniger als ii Knaben; darunter
ZdltGhtHt Nr pidamitche Pqpdiotosie nad PHltotocIe. 2
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352
Ferdmand JCtmties,
sind bereits verschiedene, die nicht in allen Fächern glatt
genügen, vielmehr in einem oder sogar in zwei Gegenstanden
ein kleines Manko aufweisen, und an deren Reife für die Ver-
Figur I.
Setzung nach V. zeitweilig Zweifel bestanden. Dabei muss zur
Charakteristik der Note genügend, auf die es bei der Ver-
setzung ankonunt, hervorgehoben werden, dass sie auch dann
noch erteilt wurde, wenn 33 o/b bis 50 ^ der schriftlichen Ar-
beiten des Jahres unter genügend waren, sobald nur die
letzten ein befriedigendes Mass von Wissen erkennen Hessen.
Vor der Kolumne der Durchschnittsschüler befinden sich
nur 8 Knaben, 5 mit Nummern von 53 bis 59, die also nicht
viel über dem Durchschnitt stehen, und nur 3 mit den Werten
38, 40, 48. Unter dem Durchschnitt ebenfalls 8 Sextaner, mit
den Nunmiem 71 bis 82, die nicht reif für die Versetzung
erschienen, wenn auch einige noch nach V hinüberge-
schoben wurden, da sie bereits 2 Jahre in der VI. zuge-
bracht hatten.
Nach dieser mathematischen Anordnung der Schüler, die
vielleicht eine äusserlich-mechanische genannt werden wird,
da sie den inneren Wcsenskem mancher Individuoi nicht
recht wiederzugeben vermag, die jedoch, wie soeben gezeigt,
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AHteilstypen bei SdnUtm.
3f.3
mit der Abstufung in der Reife im die nächsthöhere
Klasse ungefähr zusammenfällt, würden wir in der VI. vier
Rangtypen unterscheiden : den oberen Typus, den
ersten Durchschnitt, den zweiten Durchschnitt
und den u n t e r e n T y p u s ; (quantitativ überwiegen die zwei
letzten, die beiden ersten nehmen TUir die erste Bank der Klasse
ein. Die Uebergänge zwischen diesen l ypen sind natürlich
fliesst Ilde |rh vermute jedoch, dass sie sicli \\\ den unteren
und mittleren Klassen sämtlicher Lehranstalten in ähnlichen
Proportionen vorfinden.
Da die Kinwirkungen der Lehrer auf die Schüler euier
Klasse zeithch und mhaltlich die gleichen sind, auch das ßeur-
teilungsprinzip das gleiche ist, da ferner die Lehrer der Vi.
während des Jahres nicht gewechselt hatten, so können jene
Differenzen in den Arbeitswerten nur durch die psychischen
Differenzen in Begabung, Fleiss und Aufmerksamkeit ent-
standen sein, die im Laufe des Schuljahres ihren Einfluss auf
den Arbeitswert in wachsendem Masse geltend machten.
Was Fleiss und Aufmerksamkeit angeht, so sind sie nur
in wenigen Fällen vemmst worden, meist haben sie befriedigt ;
vor dem Versetzungstermin i)f legen alle Schüler unter der
gesteigerten Aufsicht und Einhilf e der Eltern und Lehrer» und
angespornt von eigenem Ehrgeiz, in ernsthafter Arbeit zu ver-
harren.
Wenn wir die 4 Monate früher ausgegebene Rangliste
betrachten, Figur II, so ist eine Aehnlichkeit mit der jetzigen
inbezug auf den oberen Teil nicht zu verkennen, ein Unter-
schied besteht nur für den unteren Abschnitt, da sich hier der
3. Typus von dem 4. noch nicht gesondert hat. Diese Teilung
hervorzubringen, ist erst während des letzten Vierteljahres ge-
lungen; gesteigerter Fleiss und Aufmerksamkeit bei den auf-
gerückten Schülern mögen hier zur Erklärung herangezogen
werden.
Aus dem Vergleich der 5 Ranglisten des Jahres dagegen
ergiebt sich, dass die Schwankungen in der Leistung kleiner
sind, als man vielleicht zu erwarten geneigt wäre. Jeder Schüler
nimmt unter den Kameraden, die der Zufall zu einer Klasse
vereinigt hat, eine ziemlich konstante Stellung ein, und das
weist auf die Begabung als die erste l^rsache für jene Unter-
schiede hin.
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354
FerJiHund Kemsüts.
.\u>nahiiu n hi'>iaiit;i'n d\v Ro,i;t*I. \ r>n tlcn 27 Sextanern
naiit n sich iS unget.ihr in ilirem Niveau ,;;t haiti-n. und nur
') ihre l'osuioii nennenswert \frantiert. namhch 3 lu negatueni
und h in posilix eni Sinne ; aber von den (> waren 3, deren
Fortschritte nicht auf eigenes Konto, sondern auf das der Iiäus-
liehen Nachhilfe gesetzt werden müssen; nur ein einziger
hat sich ans eigener Kraft — man könnte besser sagen
Intelligenz — emporgearbeitet Der Weg nach oben ist
in der Schule fast - noch schwieriger als im Leben. Die
ausserordentlichsten Anstrengungen führen bloss in Ausnahme-
fällen, nur wo Talent \orhanden ist, zu hervorragenden Ergeb-
nissen; in der Mciirzahl der Fälle müht sich der Durchschnitts-
schüler ab, eine Durchschnittszensur zu erreichen. Das ergiebt
sich aus der
2. Statistik der Arbeitszeiten.
Aus dem täglichen Zeitaufwand der Untertertianer der-
selben Anstalt bei Anfertigung der Schularbeiten Hess sich
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Arbatstvpen M SchüUni.
35:")
rbinlalls eine Viertcilung drr Klassi .iblt-iu-n ^ i
sition der Klasse war der geschilderten ähnlich,
während zweier Schulwochen, die je im ersten
Halbjahr gelegen waren, diejenigen Arbeiiszeite
Fach und jeden Tag testgestellt, tlic der SciiüliT u
zu Hause verbraucht hatte. al>(» l->t Zi'it. nicht i'
den Hehurden oder \ oni 1' iiieiirer berechnete
eirunde gelegt.
Es ergaben sich 1 Wucheulubcllen mit je 4
iabelle H und Hl, Figur Hl.
nii" Korn{H»
l'^s wurden
und /weiten
n für jedes
irklich dafür
tua die \on
Soll-Zeit zu
Kategorieeu.
T.ib. II.
5 SchQler . . 'i22,2 Min. durchschn. 7 Schüler .
11 I» . . 420,<» 11 .
8 . . 324,4
3 „ . . 633)3 4 „
Tab. III.
. 402,4 Min. durchscbn.
. 527,7 », „
• "13,4 „ „
. 955,0 ..
(Die Zahlen am linken Rande gehören vx den Ober ihnen Heißenden Linien.)
' Dies« Zeitschrift I. 2. .'{, \ (ioycn iIk Kuhtigkiit dii i.-uig<>;clH'nfn
Arbfits/fitcn sind verschiedene Kinuande /u etiielten di» k h j^elten hu^si n
muss; doch möchte ich antuhren, dass nur von niassgebendei» Schulmännern
venicheit ist, dam die obigen Zahlen durchweg m niedrig gegriflcn
»nd; vgl. auch Päd. Wochenblatt XI. 5: Zwei Fälle von Ueberbürdung.
(Keesebfter)
Digitized by Google
356
In der ersten Woche unterscheiden sich diese um je ca.
loo Min. durchschnittlich; in der zweiten, die erhöhte An-
forderungen enthielt, progressiv steigend um ca. 125» 185 und
240 Minuten. Danach arbeiteten die schnellsten Schüler etwa
I Stunde täglich, die langsamsten dagegen 2 bis 2V2 Stunden.
Nun stehen diese Geschwindigkeitstypen in
einem deutlichen, wenn auch vielleicht uner-
warteten Zusammenhang mit den Rangtypen.
Für die ersten 15 Schüler der Klasse, die aus 28 Tertianero
bestand, wurden die kurzen Arbeitszeiten notiert, der untere
Typus dagegen und die Hälfte des Durchschnitts brauchten
die langen Vorbereitungen.
Es entsteht die Frage, wie sind diese gewaltigen Zeitdiffe-
renzen zu erklären? Welche Faktoren spielen hier wesentlich
mit? Darauf will ich Antwort zu geben versuchen mit der
Vorführung von
3. Gedächtnis typen.
Dass es Personen giebt, die Gesichtseindrücke leichter und
korrekter aufzunehmen vermögen als Gehdrsempfindungen
oder umgekehrt, ist eine bekannte Thatsache, die sich auch
schon bei Schülern konstatieren lässt. Ich wende mich sofort
der quantitativen Seite des gewöhnlichen Lemverfahrens zu,
bei dem das Gesichtsbild mit dem Gehörs- und Sprech-
bewegungsbild sich kombiniert. Es wurden im Laufe von neun
Monaten mit Quartanern und Untertertianern der Oberreal-
schule Versüchsserien über das mechanische Wortgedächtnis
angestellt.') Zu diesem Zwet ke wurden zweisilbige Fremdwörter
mit zugehörigen zweisilbigen Bedeutuni^cn nach bestinimien
Gesichispunkicn ausgewählt und je 10 /u einem Leruhiuck
zusammengestellt. Dieses wurde m der Zeil von 20 Sekunden
mit Beobachtung verschicdciu 1 Kautelen vorgeführt; daiau:
von dem Schüler solon \Mcderholt, indem er alles, was be
halten war, auf cnu ii Zciiel niederschrieb. Eine zweite Dar-
bietung und eine /.weite Wiederholung folgte. Die Methode
wurde ^0 lange angevvcnd< t, bis alle Vokabeln erlernt waren. Es
ergaben sicii grosse Verschiedenheiten in den Resultaten, von
•) Dieäe Zeitschrift III, ;t — 4. Gcdächuiisuntersuchungen an Schülern.
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ArbtiUtypen bei :>chüUm.
357
denen 4 in Figur IV graphologisch dargestellt sind. Nach der
ersten Wiederholung sind die Differenzen noch gering, i — 2
Vokabeln (V^ — Vo) werden richtig reproduziert. Nach Wj aber
sind die ersten beiden Leraer bereits bei \\ angelangt, der
dritte bei V3 und der vierte erst bei V^. Bei .Wj «erreicht der
erste Typus das Leinziel ; der zweite kann ihm so schnell flicht
nachfolgen, er braucht noch 3 weitere Anläufe, um zu Vjjf^ayi
.gelangen.
Ftgnr IV.
Wie steht es jedoch bei dem 3. und 4 Lernen aus? Jener
muss im ganzen 10 Wiederholungen ausführen, um 10 Voka-
behi zu erlernen; der letzte geht fortwährend im Zickzack,
hat er 1—2 Vokabehi neu aufgenommen» so ist er nicht im-
stande, sie alle festzuhalten, er lernt dann rückläufig, um wieder
einen Schritt vorwärts machen zu können — ein zum Ver-
zweifeln mühsamer Weg, mit 10 Wiederholungen ist er erst
bei V7. Dabei sind die Fremdwörter nicht korrekt wieder-«
gegeben, sondern stark verstümmelt. Zuweilen kommt es vor,
dass er während dieser Anstrengung ermüdet, dann ist es mit
dem Lemprozess für den Augenblick überhaupt vorbei, und
es muss nach einiger Zeit ein neuer Anlaut versucht werden.
Wieviel Zeit und Kraft für diesen so gering geschätzten mecha-
nischen Lemprozess hier verbraucht wird, davon hat kaum
uiyu.-n-u üy Google
358
/•"etittuattt/ Ktutstes,
jemand eine Vorstellung. £s wird nicht überraschen, da$5
dieser Schüler im vierten Rangtypus steht. Interessant ist
jedoch» dass der erste Lerner mit seinem phänomenalen Ge-
dächtnis auch nur dem dritten Rangtypus angehört.
Ebbinghaus') machte in ii Klassen eiu^ Gymuasinmü
und in 3 Klassen einer höheren Mädchenschule zu Breslau
Gedächtnisversuche, indem er kurze Reihen einsilbiger Zahl-
wortc in verschiedenen Anordnungen und mit einer bestimmten
Geschwindigkeit einmal vorsagen Hess. Wenn er nun die Schüler
einer Klasse unter Beibehaltung ihrer Rangordnung in drei
möglichst gleiche Gruppen teilte und die Fehlersummen für
jede gesondert berechnete, so fand er sie im ganzen ungefähr
gleich. Jene elementare Gedächtnisleistung, sagt E., die
in dem sofortigen getreuen Reproduzieren einer Reihe von relativ
einfachen Eindrucken besteht« ist also bei den besseren
Intelligenzen im Durchschnitt nicht stärker, als bei den
schlechtem. Dem wurde ich freilich insofern widersprechen,
als ich die langsamsten Lerner bis jetzt in dem 3. und 4. Rang-
t3rpus angetroffen habe. Auch möchte ich beim Wort^fedächtnis
aufmerksam macheu, dass die Korrektheit der Wiedergabe bei
den langsamen Lemem nur gering zu sein pflegt.
4. Rechenleistungen.
Einen gewissen Anschluss an die Rangordnung fand
E. bei den Ergebnissen einer Rechenmethode. Die Kinder
mnssten vor Beginn des Unterrichts, sowie am Ende jeder Unter-
richtsstunde je 10 Minuten lang leichte Additions- und Mnlti-
pläcationeaufgaben rechnen. In 8 Klassen war die Leistung
des ersten Drittels der Schüler quantitativ die beste, diejenige
der mittleren Gruppe blieb hn Durchschnitt lo^la gegen die
vorige xurück, die des letzten Drittels lag in der Mitte zwischen
denen der beiden oberen Gruppen. Qualitativ war wiederum
die Arbeit des ersten Drittels der der anderen Gruppen uberlegen.
Danach müssten die Schüler des letzten Drittels, weil sie der
Rangordnung nach hinter dem zweiten Drittel folgen, im
Ziscbr. f. Psychologie und Physiologie der Siimesoigane XIII.
401 ff : Heber eine neue Mcthodr xw Prüfung geistiger Fähigkeiten und
ihre Anwendung bei Schulkindern.
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Arbeitstypm bH Schülern.
359
Rechnen aber mehr leisten, in den sprachlichen Fächern ganz
bcMleutend hinter ihren Kameraden zurückstehen.
In früheren und neuerdings wiederholten Versuchen mit
Additionsaufgaben bin ich zu ähnlichen Resultaten gelangt.
Jedes Arbeitsstück enthielt lo Exempel, die im Kopfe zu lösen
waren, sodass nur die Resultate niedergeschrieben wurden;
für jedes war eine volle Minute angesetzt, die Quantität dem-
nach beschränkt und nur die Qualität ausschlaggebend, doch
stellten die Aufgaben eine ziemlich starke Belastung her.
Beispiel: 345^479 (Uebersrhreilcn eines Zehners und eines
Hunderters).
Es wurden 10 Versuchsserien ä 10 Exempel gemacht und
also von jedem der 27 Sextaner 100 Aufgaben gerechnet; nach
Ablauf einiger Monate «dieselbe Zahl. Ich führe die Anzahl
richtiger Losungen für jeden Schüler in der nachfolgenden
Tabelle an^ und zwar in der Reihenfolge der Rangordnungs-
liste, wie sie in Tab. I und Figiu" I angegeben ist :
Tabelle IV.
Erstes Drittel Zweites Dritte! Letztes Dritte)
77 55 42
79 5- 22
55 2S bo
«B 61 58
85 7 t 5*>
r.:^ *18 64
''4 sl 70
iA 61 83
eO 52 82
t,47 = 71."*"<. 4''3 M,8% 54«.
Tabelle V.
Erstes Drittel , Zweites Drittel Letztes Drittel
94 : 70 62
89 67 , ^
38 64
y:« 71 WS
% 78 I 67
82 , M 53
8» 83 80
42 I 72 : Sl
79 81 <»0
744 = S2,7«/o \ 603 r=r 67*/„ 051 = <»1.2*„
Digitized by Google
Ferdmand Kemstes.
Aus lab. IV. ist ersichtlich, dass wieder die Rechen-
icistungen des letzten Drittels in der Mitte liegen zwischen jenen
der andern beiden Gruppen 71,9 o/o : 54,8 : 60 aus Tab. V,
<lass das zweite Drittel der Klasse noch in einem hohen Masse
übungsfähig ist, ebenso wie das erste Drittel, die letzte Gruppe
jedoch wenig Fortschritte zeigt: 82,7 % : 67 : 61,2. Die Klassen*
drittel repräsentieren natürlich keiue eigentlichen Rcchcntypen,
auf diese weisen aber die (in den Tabellen fettgedruckten)
Minimal- und die Maximalwerte hin, deren Zustandekommen
zu erforschen bleibt
5. CombiiiaLiousleistuugeii.
Ebbingbaus Hess im weiteren Verlaufe seiner Unter-
suchungen den Schülern Prosatexte vorlegen, die durch kleine
Auslassungen unvollständig gemacht waren; bald waren ein-
ieelne Silben, bald Teile von Silben, bald auch ganze Worte
fortgelassen. Der Schüler sollte die Lücken möglichst
schnell, sinnvoll und mit Berücksichtigung der verlangten
SUbenzahl ausfüllen. Die Arbeitszeit an einer einzelnen Text-
probe wurde auf genau fünf Minuten bemessen und hinterher
festgestellt, wieviele Silben überhaupt ausgefüllt, wieviele über-
sprungen, wieviele sinnwidrig ausgefüllt waren, und wo Ver-
stösse gegen die vorgeschriebene Silbenzahl vorlagen. Das
Wesen dieser Combination besteht nach E. darin, dass eine
grössere Vielheit von unabhäiigig nebeneinander bestehenden
Eindrücken mit ihren Associationen durch Vorstellungen be-
antwortet werden, die zu ihnen allen gleichzeitig passen und
sie zu einem suinvollcn (ianzcn vereinigen. Hierzu ist intcllek-
luelle Tüchtigkeit in erhöhtem Grade notwendig.
Die Unterschiede in den l.eistungcn der verschiedemen
Klassen wairen bei der Combinationsniethodc viel beträcht-
licher, bei der Gedächtnib und RcclicmtK iticdr nii Be-
weis dciiur. dass es sich recht eigciulich uiii „Verstandes"-
operatiunen handelte. Aber ancli in jeder Klasse ergaben
sich zwischen den drei Gruppen Differenzen, die der
Rangordnung entsprachen, nämlich im Durchschnitt;
Erstes Oiittsl
Silben I'ehler in % der
Tricbtig ausgefüllt) , Biruttole istung
Zweites Drittel
Silben | Fehler
Letstes Oiittel
Silben ' Fehler
5u I 17,3% 48 20,80/^' 43 .it»,3%
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ArbeiSstypen bei Schüifin.
361
Die Menge der geleisteten Arbeit nimmt von oben nach
unten ab, die Prozentzahl der Fehler dagegen zu, und zwar
differieren die Leistungen am stärksten in den unteren Klassen,
während sie je weiter nach oben desto gleichmässiger werden.
Derselbe Text wird beim Aufsteigen zu höheren Klassen für
sämtliche Schüler immer leichter und verlangt schliesslich
nicht mehr eigentliche Combinationsarbeit, sondern nur noch
Gedachtnisthätigkeit.
Die Versuche sind entschieden die interessantesten von
allen genannten, es ist zu bedauern, dass sie nicht bereits
an anderen Orten, mit einigen Variationen, wiederholt sind.
Für die Frage nach den verschiedenen Arbeitstypen versprechen
sie uns sehr wichtige Aufschlüsse.
Stern') schlägt vor, die Lücken des Textes zu vermehren
und den gegebenen Stoff zu verringern; man biete eine Reihe
unter sich unzusammenhängender Biuzelworte dar und lasse
unter ihnen unter Innehaltung der Rethenfolge und thun-
lichsten Vermeidung anderer Substantive einen möglichst
knappen, sinnvollen Zusamiiicnlianf»^ stiften. Beispiel: Krdc,
Sache, Messer, EinsL, Laube zrt A it Icr i']ide sah er eine Sache,
die er für ein l)lank«^s Messer hieil, mit Liefen li^rnst hob eres
auf, um es ausserhalb der Laube zu betrachten.
6. E r m ii d u ii ^ s t y p e a.
Die Ermüdung ist das Phänomen, das wir alle, freilich
in verschiedenem Grade, während der Aibeit aufweisen. Fast
scheint es, dass die Schnelligkeit, mit der unsere Schüler bei
der geistigen Arbeit ermüden, das wichtigste diagnostische
Merkmal darstellt. In ausgeruhtem Zustande, nach Ferien oder
schulfreien Tagen, kann manchem Schüler etwas zugemutet
werden, was er nach längerer Arbeitsperiode partout nicht mehr
leisten kann. Darum will ich zum Schluss noch einige Er-
müdungstypen vorführen, die jedoch in keiner Beziehung zu
den Rangtypen stehen. Das Materiel stammt aus einer hiesigen
Volksschule, bei der der Verdacht der Ueberbürdung von vorn-
herein ausgeschlossen war, und aus der ersterwähnten Sexta.
Zehn bis fünfzehn Addiiionse\enipel von gleicher Schwierig-
keitsstufe sollten je eine in i Minute im Kopfe ausgerechnet
») I. c.
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362
Ferdinand Ktmsies.
werden. Nur wciii^ Schüler braciiten sie alle richtig heraus.
Bei der überwiegenden Mehrzahl waren in der ersten Hälfte
der Arbeil mehr Treficr als in der zweiten Haiti* , seltene:
war das Umgekehrte der Fall; jene Hessen die Aiitrncrksamkeii
sinken, bei diesen -tieg sie während der Arbeit an.
Wurden solche Rechenstucke aus je (2 .\urgal)eu mehr-
mals in die Unten u hlsstunden eingescho!)cn, um f estzustellen,
ob sie im I-aufe des Schulvormittags besser oder s« hlechter
gelö.st würden, so ert^raljen sich für verschiedene Individuen
typische Veränderungen in den Fehlersummen, vgl. Figur V.
Fixnr V.
Wilirend der erste Typus in der ersten Zeitlage die beste
Letstung erzielt und dann allmählich sich verschlechtert, be-
ginnt der zweite gerade umgekehrt mit einer MinimalleistiiBf ,
um sich bis zu einem Optimum gegen Mittag heranfzuarbeitai.
Ein dritter nnd vierter Typus zeigen in den mittleren Zeitlageh
ein Heraufgehen, resp. Sinken des Arbeitswertes. —
G. D. u. H.
Wenn Sie am Ende meines Vortrags das vorgefahrte
lliaterial überblicken, so werden Sie mit mir sagen, dass es
zwar erhebliche Lücken aufweist, dass aber die Richtung für
spatere Untersuchungen in ihm klar angegeben ist
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Der Verantwortlichkeitsgredanke im
19. Jahrhunilert,
(mit besonderer Rücksicht auf das Strafrecht.)
Vortrag g«haUen im Psychologischen Verein zu Breslau.
Von
Kurt Steinitz.
Meine Herren!
Wenn ich als Jurist es unternehme, hier vor Ihnen über
dien Verantwortlichkeitsgedanken zu sprechen, so bin ich mir
dabei wohl bewusst, dass ich einen Gegenstand behandle, der
weit heraus über die GK nzcn meiner Fachwissenschaft Be-
deutung hat. Aber ich glaube, (Imss krii>e Sphäre^ auch nicht
die der Moralwissenschaft^ die doch wohl unsern Gegenstand
als so recht ihrem eigensten Gehif t angehörig in Anspruch
nehmen wird, für die Stellung des l^roblems und seine Er
forschunp so geeignet ist, wie die des Rechts, l'nd ilies deshalb,
weil hier die Frage nach der Verantwortlichkeit d( s Menschen
noch akuter ist als irgendwo sonst. Denn während die Moral-
Wissenschaft die Frage nach der Verantwortlichkeit nur als
eine Thatsachenfrage behandelt, die ihrer wissenschaftlichen
Erkenntnis unterliegt, muss die Rechtsordnung sich zur Recht-
fertigung ihrer selbst mit dem Verantwortlichkeitsgedan-
ken befassen. Ihr eigenes Thun und Lassen, ihr eigenes
Handeln, nicht nur ihre Erkenntnis ist mit den Erörterungen
über den Verantwortlichkeitsgedanken eng verknüpft. Die
Rechtsordnung ist ein Gebilde von Menschenhand. Wer das
Recht schafft, wer es anwendet, muss — wie stets der Mensch
bei seinen Handlungen — handtln aus bestimmten Motiven
heraus, d. h. für den vorliegenden Fall, er muss sich die Frage
aufwerfen, ob und weshalb er berechtigt ist, an diese oder jene
Handlung des Menschen gewisse Folgen zu knüpfen. Denn da
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Kurt SUmäz.
I S in der Macht der Kechtsordnuiig steht, solche praktischen
Folgerungen, z. B. die Bestrafung, auch zu unterlassen, muss
für deren Statuierung erst eine Begründung, eine „Bc-
rechtigung" gesucht werden. Ob der Mensch für seine Hand-
lungen verantwortlich ist und in wie weit er es ist, ist also für
die Rechtsordnung nicht nur Gegenstand der objektiven Er-
kenntnis, sondern Voraussetzung ihres eigenen Bestandes. An-
ders ausgedrückt : Das Recht findet in der Beantwortung dieser
Krage nicht nur die Antwort auf ein wissenschaftliches Problem
neben anderen, sondern die Richtschnur für seine eigene Be-
thätigung.
Und insbesondere gilt das Gesagte vom Straf recht. Auch
die übrigen Rechtsgebiete, so das Privatrecht, rechnen mit dem
Begriff der Verantwortlichkeit. Aber er ist nicht in demselben
Masse Eckstein ihres Gebäudes, wie beim Strafrecht, dessen
eigenstes Gebiet die Verantwortlichkeit des Menschen für ein
(schuldhaftes) Handeln ist. Damm wird auch der Begriff der
Verantwortlichkeit und verwandte Begriffe, wie die der Zu-
rechnimgsfähigkeit, der Schuld und dergleichen, in der Gesetz-
gebung, wie in der Wissenschaft des Rechtes in der Haupt-
sache den strafrechtlichen Erörterungen überlassen. Auch ich
will im fnlg^enden meine Schlussfolgerungen und Beispiele auf
das Gebiet des Strafrechts beschränken.
Wenn ich nun speziell über den Verantwortlichkeitsgedan-
ken im 19. Jahrhundert sprechen soll, so ist dies nicht
leicht ; nicht nur wegen der Fülle des Materials, sondern haupt-
sächlich deshalb, weil das, was über diese Frage im 19. Jahr-
hundert gesagt und geschrieben worden ist, sich nicht als eine
fortlaufende Reihe der Kntwickclung darsu llt. Sondern es geht
auf und ab. hin und her. Was im L.uifr von Jahrhunderten über
die Verantwortlichkeit gesagt worden ist, das alles, mag es
auch noch so verschieden sein, hat auch in unserem Jahrhundert
eine Wkdeibclebung erfahren. Und das hat seinen guten
Grund. Handelt es sich doch um eine Frage, welche — leider
— nicht nur der Gegenstand exakter Forschungen, sondern der
Gegenstand metaphysischer Spekulation, ni< In nur ruhiger,
wissenschaftlicher Ueberlegung, sondern leidenschaftlicher
Kämpfe gewesen ist. Immerhin wird man eine gewisse Ent-
wicklungsreihe, eine reinliche Scheidung der Geister feststellen
^cönnen. Ks ist dies die immer klarer fortschreitende Einsicht
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Der VtrmtiVärÜidkteUMgtdaMte im tg. yckrktmdert. 3^
in die Unmöglichkeit der alten indeterministischen Lehre und,
darauf fussend, die weitere Erkenntnis, dass gerade vom Stand-
punkt des Determinismus aus, die Lehre von einer Verantwort-
lichkeit des Menschen für seine Handlung fest begründet und
damit die Grundlage für eine eingehendere Betrachtung
spezieller Fragen gefunden wird. Im Gebiete des Straf rechts
ist es die Entwicklung von der Vergeltungsstrafe zur Zweck-
strafe, die dieser Fortbildung entspricht.
Am Ende des i8. und Anfang des 19. Jahrhunderts be-
• herrschte die Lehre vom „Natnrrccht'' die Rechtsphilosophie.
Das positive Recht galt als Niederschlag des einen und ewigen
Rechts der Vernunft. Der Staat wurde als ein Veniunflsprodukt
der Menschen aufgefasst, die sich, ihr eigenes Beste richtig
erfassend im ..contraet social" (Rousseau) zum (Gemeinwesen
vertragsniassig vereint hätten. Einen solchen Vertrag mit der
Gesellschaft hat — nach dieser Schule — wie jeder Mensch,
so auch der Verbrecher geschlossen und aus diesem Vertrag
wird nun das Recht des Staats hergeleitet, den Verbrecher
(seinem eigenen Willen gemäss) für Zuwiderhandlungen gegen
den Gesellsciiattsvertrag zu bestrafen. Liegt ein solcher Ge
dankengang an sich schon dem heutigen Stande der Wissen
schaft so fern, dass es uns merkwürdig herijhrt, wie noch vor
100 Jahren solche Th(M>rien aufgestellt und angenommen werden
konnten, so kommt es Jiier vor allem darauf an. festzustellen,
dass damit der Gegenstand, der uns beschäftigt, nicht einmal
gefctreift wird; denn es wirft sich offenbar sofort die Frag«-
auf, warum denn dir Osellschaft einen solchen Vertrag, d ir* l>
den sie ihrem Mitglied Uebles zufügt, mit ihm schliesst, ob
dies nötig, ob es gerechtfertigt, ob es zweckmässig ist.
Das Gleiche aber gilt für alle sogenannten absoluten Straf
rechtstheorien, d. h. für alle diejenigen Theorien, welche es
ablehnen, die Strafe aus einem hinter ihr liegenden Zweck
zu rechtfertigen, sie vielmehr als einen Selbstzweck auffassen,
der sich in der Vergeltung des geschehenen Unrechts erschöpft :
„punitur quia peccatum ist**, nicht „punitur ne peccetur". Kant
folgert die Strafe aus seinem kategorischen Imperativ. Wie
dieser von jedem Menschen unmittelbar empfunden werde, so
folge daraus unmittelbar, dass die Strafe die gerechte Ver-
geltung des Verbrechens sei. Wenn es überhaupt eine Ge
rechtigkeit gebe, so sei die Strafe etwas Naturnotwendiges und
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Kurt Sün'niiz.
Scibstx (•^stciIldlichc^.. ..5ciü>t wnin die menschliche Gesellschalt
sich auflöst", sagt er, „selbst dann müsste der letzte Alorder
noch hini^erichtet werden, \xm dem ('.edankeii der ( icr« m litii;k.eit
treie Üalwi za schaffen". Dießem Standpunkt entspreclicnd ist
das Mass, mit dein er die Strafe /uniisst, das der Talion: Auge
um Auge. Zahn um Zahn. Der Morder muss der Todesstrafe
v<'ri allen, wer beleidigt, soll öffentlich abbitten (in manchen
l alkti iia/u noch den Handkuss leisten), wer eme Notzucht
begehl, soll entmaiuu v, ridcn. Weder in der Theorie noch
in der Praxis hat dieser Ca 1 ai.ke Kants Vnklang gefundt n unti
ich brauche kaum hin/ai/.uiugcn, da^- er. von allem anderen
abgesehen, /.ur ia^sung unseres Probh nichts beitr.igi. Denn
gerade unsere H iuj)li rage nach der Verantwortlichkeit des
Menschen lasst er unbeanuvortci und begegnet ihr mit einem
Axiom, das jenseits der Erkenntnis völlig auf metaphysischem
Boden liegt.
Auch Hegel will die Strafe als emc absolute Institution
beweisen, aber nicht als eine axiomatischc Forderung der Moral,
sondern als eine absolute begriffliche Notwendigkeit. Das
Recht ist nach ihm der allgemeine Wille. Im Verbrechen lehnt
sich der einzelne Wille gegen den allgemeinen auf. Pas Unrecht
ist als Negation des Rechts eigentlich an und für sich bereits
nichtig. Sobald es aber aus dem Bewusstsein eines Thäters ent-
springt, besteht es als Unrecht in dem Bewusstsein fort und
bedarf der Konstatterung seiner Nichtigkeit. Diese Konsta-
tierung erfolgt durch die Strafe. Diese ist also die Negation der
Negation, d. h. die Position, also ist die Strafe Recht. So ist
die Strafe die dialektische Verwirklichung des Rechts. — Statt
einer Begründung giebt uns Hegel ein Spiel mit Worten.
Gegenüber diesen beiden Systemen und im Anschluss an
das, was vor dem und während dem über das Recht und den
Zweck der Strafe gedacht worden ist, setzt die moderne Krimi-
nalwissenschaft mit einer eingehenden Prüfung des Zweckes
der Strafe ein und diese Prüfung führt von selbst zurück zur
Untersuchung der grundlegenden Frage, ob wir überhaupt ein
Recht zu strafen haben, ob der Mensch für seine Handlung
verantwortlich sei oder nicht. £s ist das uralte Problem
der „Willensfreiheit", welches wieder aufgerollt wird.
Für den Rückblick am Ende des Jahrhunderts kann es freilich
m. E. als Problem kaum mehr aufgefasst werden.
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Der VermUmortlickktitsgedanhe im ig. Jahrhundert.
Aber vermeiden wir, so weit angängig, das vieldeutige Wort
„Willensfreiheit". Man bezeichnet als Willensfreiheit vielfach
die Freiheit des WillenSi die darin besteht, dass der Wollende
seinen Entschluss frei von der Beeinflussung seines Willens
durch einen anderen fasst (als Gegensatz z. B. die Fälle der
H^imose« vielieicht auch die des militärischen Befehls). In
anderem Sinne spricht man wieder von psychologiadber
Willensfreiheit: Meine Neigung treibt mich nach der einen
Richtung, aber äusserer Zwang veranlasst mich zum Gegenteil;
Ich will s. B. aus dem Zimmer, die Thür würd aber von aussen
zugeschlossen. Hier, so heisst es, sei mein Wille unfrei und,
in allen anderen Fällen, wo solcher Zwang fehlt, sei der Wille
frei. Zwischen Wille und That bestehe eine Verknüpfung im
Sinnie der Freiheit auch umgekehrt, denn hätte ich nicht
gewollt, so wäre meine Handlung unterblieben.
So richtig dies alles zweifellos ist, so wenig hat es mit
unserem Problem zu thun. Denn was hier frei ist, ist mcht
der Wille, sondern die That. Es wird nicht untersucht, ob
ich frei zu meinem Willenscntschlusso gekommen bin, sondern
ob ich diesen Entschluss frei ausführen kann.
.Unser Problem ist vielmehr einsig und allein dieses: Ent-
steht der menschliche Wille frei, d. h. wählt der Mensch zwischen
2 oder mehreren Möglidikeiten frei, in der Art, dass man
trotz Kenntnis aller Momente, welche bei der Bildung seines
Entschlusses mitspielen, noch die Möglichkeit eines anderen
Entschlusses zugeben muss; oder ist der Wille des Menschen
— wie alles andere Geschehen — eindeutig als Folge
bestimmt, wenn ich die Summe der Ursachen, die dabei in
Betracht kommen, auch wirklich in Betracht ziehe. Konnte der
Mensch unter den vorliegenden Umständen (d. h. unter Be-
rücksichtigung der Gesamtheit aller dieser Umstände)
„auch anders" handeln (oder genauer anders wollen) oder
musste er so handeln (so wollen), wie es in der That geschah?
Dies und nichts anderes ist die Frage nach dem Vorhandensein
der Willensfreiheit im metaphysischen Sinne oder, um meiner
Absicht, das vieldeutige Wort möglichst zu vermeiden, treu
zu bleiben: du !• rage nach der Richtigkeit des Indeterminismus
oder des Deteriuniisiiius. Indeterminismus, so nennen
wir die Lehre, dass der Wille sich cindcuug lacht bestimme
Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Pathologie. 3
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3b8
lasse, dass immer daneben noch eine Wahlfreiheit verbleibe.
Determinismus: die entgegengesetzte Lehre.
Eine klare Stellung der Frage erleichtert die Antwoii.
Haben wir von unserem Thema das ausgeschieden, was wir
oben mit „psychülugibchcr Willensfreiheit" bezeichneten, so
versagt zunächst die Beweisführung, die aus der naiven Auf-
fassung heraus gegen den Detei niinismus beliebt wird. Die
naive, ursprüngliche Auffassung soll nämlich ergeben, dass der
Wille frei sei; jeder fühle es in sich selbst, dass. wenn er sich
für die eine von 2 Alternativen (vielkichi auJ Grund eingehen-
der Ueberlegungi entschieden hat, er sich doch auch für die
andere hätte entscheiden können. Man drückt dasselbe wohl
auch so aus: die Wahlfreiheit im Sinne des Indeterminismus sei
eine unmittelbare Thatsache des Bewusstseins. Schon der Um-
stand, dass der Mensch bei dieser oder jener Handlung vor
einer Wahl stehe und diese nach der einen oder anderen
Richtung vollziehe, ergebe die Richtigkeit des Indeter«
nunismus.
Aber was hier als naive Auffassung ausgegeben wird, ist
weiter nichts als eine Verschiebung der Begriffe, die mit jener
nichts zu thun hat. Richtig ist, dass es für die naive Auffassung
von mir selbst abhängt, ob ich eine Handlung vollziehe oder
nicht; unterlasse ich sie, so bin ich es doch eben, der sie
unterlässt. Und wenn ich mich innerlich vor die Wahl gestellt
sehe, eine That (z. B. ein Verbrechen) zu begehen oder nicht,
und ich entscheide mich für die Unterlassung, so habe ich
das Bewusstsein, dass ich es eben gewesen bin, der diese
Alternative gewählt hat. Dies ist zweifellos richtig. Aber er-
weist es die Richtigkeit der mdeterministischen Anschauung?
Mit Nichten! Es zeigt weiter nichts, als dass — in der Mehrzahl
der Fälle — der Mensch frei von äusserem Zwange handelt
(sei es Zwang auf seinen Willen oder Zwang auf dessen Be-
thätigung), dass er also seine Entschlüsse vollzieht aus seinem
eigenen Innern heraus. Aber dies zu leugnen, fällt dem
Determinismus gar nicht ein. Wir bewegen uns hier vielmehr
noch auf neutralem Gebiet. Den sog. naiven Detenninismus,
gegen den einige Rechtslehrer (z. B. Merkel) zu Felde ziehen,
und der da besagen soll, das bei der Fassimg eines Willensent-
schlusses Bestimmende liege nur ausserhalb des Menschen und
erschöp(e sich in den äusseren Umständen, aus denen heraus
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369
die That entspringe, diesen naiven Determinismus hat es nie
gegeben. Also auf doi Menschen als den Träger des Willens-
entschlusses muss ich diesen selbstverständlich zurückführen
— aber damit ist für unsere Frage, wie denn im Menschen
der Willensentschluss zustande kommt, noch gar nichts ge-
geben.
So weit jedoch der Satz v^on der uniniuelbaren Bewusstseins-
Thatsache unseres Wählcns mehr sagen soll, nämlich, dass
dieses Wählen vor sich gehe, ohne restlos auf Ursachen zurück-
führbar zu sein, ist er unrichtig und wird .tuch nicht mehr
von der naiven Auffassung gestützt. Lassen Sie mich einige
Beispiele geben. Wir hören, dass ein Mensch, den wir stets
als jaiizornig gekannt haben und der, wie wir wissen, mit
den Jahren durch Unglück immer mehr heruntergekommen
ist, im Rausch einen Gegner erschlagen hat. Wir sagen, das
musste einmal so kommen, bei seinem Charakter und seinen
Schicksalen war dies zu erwarten. Oder wir hören von
der Handlung emes aiidi ren und sagen: unter diesen Umstän-
den würde ich ebenso oder würde ich anders gehandelt haben.
Oder endlich auch ein Gegenbeispiel zu dem zuerst gewählten :
die Thal ist uns unverständlich; wir glauben den Thäter genau
zu kennen und erklären: es ist nicht zu verstehen, dass er die
That begangen hat, da müssen besondere Umstände mitgespielt
haben. Alles Urteile des täglichen Lebens, der naiven Auf-
fassung, alles aber auch Urteile, die nur denkbar sind unter
der Voraussetzung, dass der Willensentschluss eines Menschen
auf Ursachen zurückführbar ist, die ihn hervorgerufen haben
und zwar derart restlos verursacht haben, dass ich, wenn
mir dieTl 'it noch nicht völlig verständlich ist, nach einer wei-
teren Ursache suche, die mir zwar unbekannt ist, aber nach
meiner „naiven Auf f a ssung" doch vorhanden sein muss. Auf die
naive Auffassung können sich also die Deterministen gewiss
nicht stützen und eben so unschlüssig ist die Behauptung, das
„Auch-anders-Körmen** sei eine unmittelbare Thatsache des
Bewusstseins dessen, der sich für eine von mehreren Wahl-
möglichkeiten entscheidet. Wenn ich jetzt meine Faust balle,
so sage ich und weiss, dass ich es auch hätte unterlassen können;
Aber ich füge hinzu, „wenn ich gewollt hätte". Das
Bewusstsein der „Freiheit" bezieht sich also wieder
nicht auf das Wollen, sondern auf das Handeln und
3*
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370
Kurt Stemits.
besagt weiter nichts als die zweifellos richtige That-
Sache, dass ohne meinen Willen die Handlung nicht
matande gekommen wäre. Niemals und nirgends aber besteht
im Bewusstsein als immittelbar gegebene Thatsache die Frei-
heit dieser Willensbildung, ihre Unbedingtheit von
verursachenden Ereignissen. Dies schon deshalb nicht, weil
unserem Bewusstsein niemals die Summe aller der Teilursachen
erschöpfend gegeben ist, welche auf den Willensentscfaluss ein-
gewirkt haben. £rst wenn ich mir dieser aller bewusst wäre,
und wenn Ich dann trotzdem noch dast Bewusstsein hatte, dass
ich auch hätte andei» wollen können,, könnte die Indeterminiert'
heit des Willens dne Thatsache meines Bewusstsetas genannt
werden. — So beruht die Argumentation der Indetermittisten
beidemal auf einer Versdiiebung der Fragestellung: Sie ziehen
aus, um für die Willensfreiheit im metaphysischen Sinne,
für die Indetenniniertlieit des meUschUchen Willens zu kämpfen
tmd sie erstreiten den Beweis einer ganz anders gearteten
Willensfreiheit, eine Beute, die ihnen von keiner Seite je
streitig gemacht worden ist.
Nun aber zur positiven Seite der SacUel
iWir tsahen sdüm: Selbstverständlich ist der WiUe des
Menschen nicht em Produkt äusserer Einflüsse, sondern die
Psyche des Menschen, vulgo sein Charakter, zusammen mü
den äusseren Umständen, die auf ihn dnwirken, ergeben im
konkreten Falle den Willensentschluss. Dass ausser diesen
heiden Momenten noch ein drittes hinzutrete, kann logisch
nicht in Frage kommen und wird selbst der Indeterminist emst-
lich nicht behaupten. Denn indem ich der Psyche des Menschen
die äusseren Umstände entgegensetze, schaffe ich einen Gegen-
satz, der in seiner Summe alle möglichen Ursachen umfasst :
Was nicht Psyche des Wollenden ist, ist eben für ihn Au^en-
Welt (selbst sein eigener Kurpcrj. Daas aber /.war ein Drittes
als \crursachend für den Willen nicht hinzukoninie, an seiner
Stelle aber ein vacuum stehe, so nämlich, dass /war die äusseren
Ursachen und der eigene Charakter des Wollenden beim
\\ ülensentschluss thätig werden, dieser aber dadurch nicht be-
stimmt wird, sondern so oder auch anders ausfallen kann, ist
nicht nur unrichtig, sondern einfach eine Denkunmöglichkt u
Denn es bedeutet nicht weniger, als dass der Willensenis :hluss
ursachlos entstände. Dies aber zu begreifen liegt ausserh^Ub
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D«r Vn iwftwiw Üiifcffj^yhiilM im ig. JahHmmOtH, 371
des menschlichen Vermögens, genau ebenso, wie zu begreifen,
dass sich etwas ausserhalb von Zeit und Raum ereigriet Das
Kausalitätsg<'^ciz, das Gesetz, wonach jedes Ereignis einc^
Ursache haben muss, ist eben mehr als ein Gesetz der
Erfahriinj^: es ist ein Geset? des menschlichen Denkens, das
eben deshall) niemals aus den Schranken dieses Gesetzes hinaus
kann. Wenn und so weit wissenschaftliche Erkenntnis über-
haupt möglich ist, kann ein ursachloses Wollen nicht aner-
kannt, ja nicht einmal gedacht werden.
Aber haben wir nicht etwa selbst schon unseren Stand-
punkt aufgegeben und sind zum Indeterminismus zurück-
gekehrt, indem wir in die Ursachenreihe des Willens
auch die menschliche Psyche, den menschlichen Charakter
eingefügt haben? Sicherlich nicht 1 Denn auch der Charakter
eines Menschen ist keine causa sui, wird nicht von ihm
selbst aus „freiem*' Entschluss gestattet, sondern ist eine
gegebene Grösse, und darüber hilft auch die Erwägung
nicht hinweg, dass der Charakter nicht nur als Anlage
vorhanden ist, sondern sich bilden und bessern lässt. Denn
auch dieser Vorgang des Bildens lässt sich wieder in seine
zwei verursachenden Faktoren zerlegen, in die äussere Ur-
sache der Bildung, Erziehung, Umgebung, Vorbild u. s. w.
und in die eigene Disposition. Beides sind gegebene Grossen.
Aber der Charakter eines Menschen äussert sich in
Wünschen, Strebungen, und wenn der Mensdi bei seinem
Wilkttsentschluss sich auch gewiss nicht aller der Thatsachen
bewusst ist, die causal auf ihn einwirken, so weiss er doch sehr
wohl, was er erstrebt. Er fasstseinesn'Winensenttscfalussbn Hin-
blick auf ein Ziel, dessen Erreichung ihm vorschwebt, und wenn
er auch eine Handlung mit diesem Ziele tm Sinne einer cau-
salen Verbindung verknüpft, so ist dodi dieses Streben nach
einem Ziele selbst kein causaks, sondern ein teleologisches
Element. So deduziert auch der Indetenninist und sucht damit
seine Theorie vor der Allgewalt des Causalgesetzes zu retten.
Aber woher stammt das Ziel? Weshalb hat der Wollende vtA
gegenwärtigen Augenblick dieses imd nicht em anderes Stre-
ben? Er hat es sich nicht „frei" geschaffen, d. h. so, dass er
im Augenblick eben so gut ein anderes Ziel hatte vor Augen
haben können, sondern es ist gleichfalls das Ergebnis seiner
Veranlagung und der äusseren Umstände, die bald dieses, bald
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372
jenes als erreichenswert erscheinen lassen. Wie sich im Einael-
falle das Ziel bildet, ist gleich, genug, dass es auf keine andere
Weise als auf causale erklärt werden kann. — Das eine will ich
hier noch betonen, dass diese Frage, soweit sie uns interessiert,
nichts zu thun hat mit einer bestimmten Weltanschauung, dass
sie nichts zu thun hat mit dem Glauben. Denn es ist ganz
gleichgiltig, was den Menschen bei seinem Willensentschluss
beeinflusst und was, um eine Teilaktion hervorzuheben, seine
Zielsetzung leitet, ob es psychische und physische Ursachen
sind oder der Wille eines höheren Wesens. Erheblich ist für
uns lediglich die Thatsache, dass eine solche Verursachung
stattfinden muss. Weitere Spekulationen interessieren uns hier
nicht und gehören ins Gebiet der Metaphysik.
Es bleibt also dabei: Auch das Wollen des Menschen
unterliegt, wie jedes Geschehen, dem Causalgesetz. Der Willens-
entschluss eines Menschen ist stets und überaU das notwen-
dige Ergebnis der Faktoren, welche bei der EntSchliessung
zusammenwirken. Er ist restlos auf diese Faktoren zurück-
zuführen. Er musste so ausfallen, wie er ausgefallen ist.
Mit dem bisher Gesagten haben wir den Standpunkt des
Determinismus gewonnen. Welches sind nun seine Konse*
quenzcn für den Verantwortlichkeitsgedanken?
Nicht zum mindesten die Furcht vor den praktischen Kon-
sequenzen ist es, die ein gewisses Vorurteil gegen den Deter-
minismus gezeitigt hat und als Hauptargument für seine Gegner
fungiert. Der Determinismus vernichte die menschliche Ver-
antwortlichkeit, so heisst es, und in weiterer Konsequenz, er
müsse auch die Strafe beseitigen, und damit leugne und zer-
störe er wieder einen Pfeiler der q^p'^ellschaftlichen Ordnung.
Denn wenn der Mensch in seinem Wollen und in Folge dessen
in seinem Handeln nicht frei sei, wenn er so habe wollen imd
handeln müssen, wie solle er dann dafür zur Verantwortung
gezogen werden? Wie könne man noch einen Verbrecher
strafen, wenn er kdne Schuld an dem Verbrechen habe?
Recht schwerwiegende Vorwürfe sind es ohne Zweifel, die
da gegen den Determinismus erhoben werden. Sind sie aber
auch begründet? Es ist hauptsächlich der Rechtsphiiosoph
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Der VermlmtfÜiiMiüsgiedmük im ig. Jahrkimdirt,
373
und Straf rechtslehrer Merkel (1836 — 1896), welcher den
Glauben an die Abhängigkeit jedes Strafrechts von dem Dogrna
der Willensfreiheit mit Erfolg bekämpft hat. Freilich nicht er
allein, vielmehr haben iiier Philosophen un i Juristen zusammen-
gewirkt und, was ich im folgenden wieflcrgebe, ist nicht die
1 heorie des einen oder des anderen, sondern das Facit, das ich
am Ende des Jahrhunderts ziehen zu dürfen glaube.
Ich beginne mit der Gegenfrage : Was leistet denn der
Indetermmismus für den Verantwortlichkeitsgedanken? Wenn
ich das Unmögliche einmal möglich zu machen versuchte und
mir wirklich denken könnte, der Mensch, der einen ver-
brecherischen Willensentschluss gefasst (und dann auch aus-
geführt) hat, hätte (trotz der gleichbleibenden Ursachenreihe)
auch einen anderen Entschluss fassen können, was habe ich
damit für die Verantwortlichkeit dieses Menschen gewonnen?
Es heisst : Nun, dann ist es eben seine Schuld, dass er ein
Verbrechen begangen hat und da es seine Schuld ist, ist die
Strafe die gerechte Sühne. Es klingt dies sehr plausibel, aber
es sind zunächst nur Worte; sehen wir uns ihren Sinn etwas
näher an. Warum ist vom Standpunkt des Indeterminismus
die Strafe die richtige Sühne für das Verbrechen? Wenn ich
annehme, der Verbrecher hätte auch anders wollen können (und
zwar ohne dass ein anderer Anlass vorlag), so heisst das, sein
Willensentscheid ist ursacUos ergangen. Ist das ein Grund
mehr, ihm die That zuzurechnen und ihn zu strafen? Es hebst :
„dann ist er es doch eben gewesen, der den verbrecherisdient
Willen gefasst hat*\ Dies ist richtig; aber zwei Erwägungen
müssen sofort hinzugefügt werden. Nämlich einmal: es ist
genau so richtig, ja sogar weit richtiger, auch
vom Standpunkt des Determinismus und sodann,
es reicht nicht aus, uro das zur Verantwortungziehen zu
erklären.
Es ist genau so richtig vom Standpunkt des Deter-
minismus. Denn dieser betont ja gerade, dass der Charakter
des Menschen eines der beidra bestinmienden Momente für
seine Handlung ist, dass also der Willensentschluss aus dem
eigensten Ich des Thäters entspringt. Ob er ihn frei im Smne
des Indeterminismus fasst, ist hierfür zum mindesten gleich-
giltig: Der Hässliche oder der Dumme kann gewiss nichts
dafür, dass er hässlich oder dumm ist. Aber diese Erkenntnis
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m
veranlasst mich doch nicht, eine hassliche Frau schön ni finden,
oder etnen dummen Menschen mit einem kh^en auf eine
Stufe zu stellen. Genau eben so wenig kann uns die Erkennt^
nSSy dass die menschlichen Händlungen nidit itfA, sondern
causal bestimmt sind, hindern, eine schlechte That schlecht
und den Thäter einen bösen Menschen zu nennen. Ja, es
wird dies sogar erst vom Standpunkt des Determinismus aus
verstandlich. Denn wenn wirklich genau der gleiche Mensch
in genau der gleichen Situation bald so, bald anders
handeln könnte, wenn er sich bald als Verbrecher, bald ohne
jeden Wechsel der Scenerie als der edelmütigste Mensch er-
weisen könnte, dann hatte ich kein Recht mehr zu sagen, dass
es sich bei dem begangenen Verbrechen um die ureigenste
That dieses Menschen handele; denn dann könnte ja auch
die entgegengeisetzte That genau so gut die ureigenste That
dieses Menschen sein. Wie käme ich dazu, den einen Menschen
gut, den andern böse zu nennen, wenn der Gute eben so leicht
Böses und der Böse eben so leicht Gutes vollbringen kann
und vielleicht auch im nächsten Augenblick wirklich volK
bringen wird. Ich bin also oben noch einen Schritt zu weit
gegangen. Die Anrechnung einer Handlung ist gerade nur
vom Standpunkt des Determinismus aus verstandlidi und nur
dieser giebt auch die weitere notwendige Beschränkung, dass
die That nicht nur dem Thäter, sondern auch den äusseren
Umständen zuzurechnen ist, die ihn zu der That getrieben
haben.
Die Berechtigung zu einem solchen Anrechnen der That
reicht aber, wie gesagt, auch gar nicht aus, um das' Zur-Verant-
wortung^iiehen, das Strafen, zu begründen. Die eben ge-
pflogene Erwägung zeigt nur, wie es kommt, dass die Hand-
lung auf das Konto des Handelnden gesetzt wird, wie es
kommt, dass man den Thäter nach der That bewertet und
dass man die That selbst nicht nur nach ihrem Effekt, nach
dem Nutzen oder Schaden, den sie stiftet, segensreich oder
unheilvoll, sondern mit deutlicher Beziehung auf den
Thäter gut oder schlecht nennt. Mit anderen Worten:
Unsere Deduktion reicht aus, wenn ich in dem Begriff der
Verantwortlichkeit weiter nichts sehe als die Thatsache, dass
eine That ihrem Thäter angerechnet wird. Diese Anrechnimg
und die Verantwortlichkeit in diesem Sinne erschöpft sich
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Der VenmtwortUchkeitsgedanke im ig. Jahrhundert.
375
allerdings in dem Gedanken, dass die That aus dem ureigensten
Ich des Thäters entsprungen ist Dagegen reicht sie nicht aus,
wenn wir die Frage auf werfen: sollen wir den Verbrecher
strafen?*) sind wir berechtigt, ihm ein Uebel zuzufügen, weil
er eine böse That begangen hat? Denn die Redewendung von
der Sühne, die dem begangenen Unrecht folgt, ist in der
That nicht eine Begründung fOr das Strafen, sondern nur
eine andere Formulierung für die Thatsache, dass gestraft
wird. Sie erklärt nicht, sondern bedarf ihrerseits der Eikläning.
Es üst absolut nicht einzusehen, inwiefern die Berechtigm^
für das Strafen darin gefunden werden soll, dass der Mensch
angeblich ohne Vorhandensein von eindeutig bestimmenden
Gründen seine Willensentschlüsse fasst und ein Verbrechen
begeht.
Kann der Indeterminismus aus sich heraus diese Begrün-
dung sonnt nicht liefern, so reicht hierzu — und dies verdient
besonders betont zu werden — auch der Determinismus nicht
aus, wenn er auch, wie wir sehen werden, eine Vorstufe für
diese Begründung darstellt.
Auch der Determmismus ist nicht fähig, aus sich heraus
die Verantwortlichkeit in dem jetzt verstandenen Sinne zu
begründen, nämlich das Zur- Verantwortung-Ziehen, das Recht
XU Strafen. Und dies einfach aus dem Grunde, weil es sich
hier nicht mehr um ein logisches Erklären handelt, also nicht
um die Sphäre, für die das Kausalgesetz zur Anwendung gelangt,
sondern um eine Frage des Sollens, eine Frage, die nadi Zweck-
gesichtspunkten zu lösen ist. Nidit, als ob nun plötzlich das
Kausalgesetz ausgeschaltet wäre. Im Gegenteil, ich habe vorhin
ausgeführt, dass auch die Ziele, die sich der Mensch setzt,
selbstverständlich auf kausale Weise entstanden und zu er-
klären sind. Aber es handelt sich für uns jetzt nicht darum, zu
erklären, wie sie entstanden sind, sondern darzuthun, ob
überhaupt gestraft weiden soll und dass es Zweckgedanken
sind, welche die Strafe rechtfertigen. Und das letztere muss
notwendiger Weise der Fall sein; denn ein Rechtfertigen, eine
Erwägung, „so soll es sein'*, kann für den Menschen mir in
Auch schon dann reicht aie nicht aus, wenn ich die Frage nach
dem Grunde der moralischen Verachtung des Bösen aufwerfe, die
hier aber niclH zu behandeln ist. *
376
der Wdse vor $ich gehen, dass er sich einen Zweck vorsteUt
und nun prüft, ob diese oder jene Massnahme geeignet ist,
-diesen Zweck zu erfüllen. Genau so, wie für die Erklärüng eines
Geschehens das Kausalgesetz, ist für die Rechtfertigung einer
Handlung der teleologische Gedankengang die einzig mögliche
Art menschlicher Denkform. Und so ergiebt sich denn der
wichtige Satz, dass für die Begründung der Strafe
der alte Streit zwischen Determinismus und
Indeterminismus unerheblich ist, weil er auf
einem ganz anderen Gebiet geführt wird. Freilich werden wir
sehen, dass damit keineswegs etwa jene Streitfrage ihre Be-
deutung für den Verantwortlichkeitsgedanken völlig eingebüsst
hat.
Will man eine Zweckerklärung geben, so muss von einem
bestimmten Zwecke ausgegangen werden, über den vorher eine
Einigkeit erzielt werden muss. Ob dijeser Zweck selbst wiederum
aus anderen höheren Zwecken als richtig beweisbar ist und
im letzten Ende aus einem allgemein gütigen letzten imd höch-
sten Zwecke, interessiert uns hier durchaus nicht. Der Zweck,
von dem aus die Menschen ihre Stellung zur Frage der Be-
Strafimg von Verbrechen einnehmen, ist uns klar gegeben und
wird eine Diskussion nicht hervorrufen. Es ist der Zweck,
die menschliche Gesellschaft aufrecht zu erhalten und die Ver-
brechen zu verhüten. Sollte jemand diesen Zweck anfechten
und den Staat, die menschliche Ordnung, für ein unnützes
Ding ansprechen (so etwa die Anarchisten?}, nun gut, so
haben die folgenden Ausführungen für ihn keine Geltung. Aber
wenn er uns nicht einen anderen Zweck, der durch das Strafen
erreicht werden soll, aufweist, so wird er eben überhaupt die
Berechtigung der Strafe leugnen müssen.
Der Zweckgedanke also ist es, durch den einzig und allein
das Zur-Verantwortung-Ziehen oder, wie ich für das von mir
behandelte Gebiet statt dessen sagen kann, das Strafen zu
begründen ist. Es ist zwar versucht worden, den Determinismus
mit der Vergeltungsstrafe zu vereinen, namentlich
Merkel hat dies gethan. Aber solche Versuche müssen scheitern
oder man muss eben den Begriff der Vergeltungsstrafe in dem
engeren Sinne auffassen, den ich oben hervorhob, dass nämlich
damit nur der Umstand gekennzeichnet werden soll, dass die
That dem Thäter angerechnet wird. Demgegenüber betont
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D*r V0fmUmortUMeüsg€äanke im ig. yakrhmndert.
377
von den Neueren namentlich der Rechtslehrer Franz v. Liszt
und seine Schule, die man wohl gegenwärtig als die herrschende
Schule des Straf rechts bezeichnen kann, den Zweckcharakter
der Strafe als oberstes Prinzip, welches die Strafandrohung,
das Strafsystem, das Strafmass und den Strafvollzug in gleicher
Weise beherrschen müsse. Ein besonderer Zweig der Straf-
rechtswissenschaft, der die Bekämpfung des Verbrechens
und des Ver!>rechers zu seinem ( n genstande macht, hat sich
in der Knmnialpolitik herausgebildet Eine „Internationale
kriminalistische V' ereinigung" ist zur Erörterung und prak-
tischen Pflege dieses Gebiets gegründet und zählt in fast allen
Kulturstaaten unter Theoretikern wie Praktikern zahlreiche
Mitglieder; sie hat schon heute nicht nur auf die Wissenschaft
und die Praxis des Strafrechts, sondern auch auf die Gesetz-
gebung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss.
Wenn so zum obersten Prinzip der Strafe die Bekämpfung
des Verbrechens gemacht wird, so darf nicht übersehen werden,
dass die Strafe doch nur e i n Mittel und zwar die ultima ratio
für diesen Zweck ist Das Verbrechen entspringt, wie wir
sehen, nicht nur dem Inneren des Verbrechers. Zwei Motiv-
reihen wirken zur Entstehung des Wülensentschlusses : Der
Charakter des Thäters und die äusseren Umstände. Wer also
das Verbrechen bekämpfen will, muss in erster Linie auch
sein Augenmerk auf die gesellschaftlichen Zustände lenken,
welche das Verbrechen im Einzelfall, welche aber auch zum
grossen Teil das Verbrecherttmi, die verbrecherische Veran-
lagung zeitigen. Besserung der sozialen Verhaltnisse ist somit
zugleich Besserui^ der kriminalen Zustände. Diese Fragen
gehen jedoch über die Grenzen der Kriminalpolitik hinaus;
sie* gehören in das Gebiet der allgemeinen Sozialpolitik und
•ebenso geht über unser Gebiet hinaus die Fürsorge, die durch
Erziehung, durch Verbreitung der Bildung, kuiz durch alle
jene Massnahmen getroffen wird, die das moralische Niveau
•des Menschen zu erhöhen geeignet sind.
Und auch innerhalb der Sphäre des Rechts hat die Strafe
nur eine sekundäre Stellung. Für die gesamte Rechtsordnung
j;ilt, was wir eben von- der Strafe ausführten, dass sie ein
Zweckgebilde ist, bestimmt zum Schutze vorhandener Lebens-
interessen. Das Recht ist die äussere Ordnung des Zusammen-
lebens von Menschen. Es will als solche zunächst nachweisen,
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I
I
378 Stttmih.
welcher Zustand als der normale zu betrachten ist, d. h. bei
wekhcni Zustand die vorhandenen Lebensintercssen der Ein-
ielnen, <V\v oft genug sich hart im Räume Stessen, ihren zweck-
mässigstcn Ausgleich finden, und es schafft (im Zivilrecht)
zwangsweise diesen Ausgleich da, wo durch das Verhalten des
Einzelnen eine Verschiebung dieses Zustandes emgetreten ist.
Das Recht ist also auch eine Kampfesordnung (v. Liszt). Es
zwingt den Einzelnen zu seiner Anerkennung und das schärfste
Mittel, welches ihm für diesen Zweck zur Verfügung steht,
ist eben die Strafe. Während es im Zivilrecht den Ausgleich
der Interessen, die Wiederherstellung des normalen Zustandes
anstrebt, verfolgt es als Strafrecht den gleichen Zweck eines
Schutzes der Rechtsordnung, nur mit anderen Mitteln. Diesen
kurzen Hinweis auf die Stelltmg der Strafe im System wollte
ich nicht unterlassen, damit nicht eine einseitige Ueberschätzung
des Wertes der Strafe und ihrer Bedeutung für das Recht
platzgreift.
Wie stimmt nun diese Zweckstrafe zu dem, was ich früher
über die Bildung des verbrecherischen Entschlusses sagte. Be-
gründen konnte der Determinismus die Zweckstrafe nicht, aber
sie muss, so bald wir sie wieder in den Kreis logischer Erörtemn-
gen ziehen, offenbar zu ihm passen, sonst müsste doch wieder
irgendwo ein Fehler versteckt liegen. Und sie passt audi dazu
und zwar ganz vortrefflidi. Der Verbrecher lasst, wie jeder
Mensch, seinen Willensentschluss auf Gnmd seiner individueUen
Disposition (seines Charakters) geleitet von äusseren Umstanden.
Diese beiden Motivreihen unterschieden wir schon früher. Ein
Menisch, der ganz normal veranlagt ist, geistig wie sitdidi,
begeht ein Verbrechen, weil er in eine Lage kommt, in der
auch die meisten anderen Menschen gestrauchelt wären (z. B.
er stiehlt in der grössten Not Nahrungsmittel). In anderen
Fällen überwiegt der Charakter als Willensfaktor. Unter nor-
malen äusseren Verhältnissen begeht ein Mensch einen Dieb*
stahl, weil er eben diebische Neigungen hat. Im ersteren Falle
haben wir es mit einem Gelegenheitsverbredier, im zweiten mit
einem berufsmässigen Verbrecher zu tfaon, dessen ausgepräg-
teste Spezies, der sog. unverbesserlidie Verbrecher ist. Nun
ist aber unter den Umständen, welche von aussen her einwirken,
ehe der Entschluss für oder gegen die Begehimg eines Ver-
brechens j^cfasst wird, einer, und zwar möglicher Weise ein
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Der VeroMtvoorÜichheUsgtdaMke im ig. Jahrhundert.
379
sehr wichtiger, die Erwägung, dass auf das Verbrechen die Strafe
folgt. Jemand, der ohne dieses Giied m der Kausalkette, den
Willensentschcid für die Ausfühnmg des Verbrechens ge-
fasst hatte, das ihn etwa durch seine i" rüchte reizt, wird nun-
mehr infolge der Einführung dieses Gliedes zu einem anderen
Entscheid kommen. Er wird von dem Verbrechen Abstand
nehmen, da die Lust an den Früchten des Verbrechens über-
wogen wird von dem Unlustgefühl, welches die Strafe vcr-
heisst. So ist also die Zweckslrafe, die grade deshalb ange-
droht wirdy lim Verbrechen zu verhüten, eingegliedert in den
Gedankengang des Determinismus. Grade weil der mensch-
liche Wille determiniert und determinierbar ist, und nur des-
halb, ist die Strafe ^ Zweckstrafe möglich. Der Indetermi-
nismus steht im Widerspruch zur Zweckstrafe. Denn weldien
Sim kann es haben, durch die Strafe auf den Verbrecher ein-
wirken, seinen WillensentschluBS beeinflussen zu wollen, wenn
der Wille indeterminiert ist, wenn trotz Au&iahme der Strafe
in die MotivreUie des Thäteis dessen Entsdieid genau so wie vor
ihrer Aufnahme ein JMs^ ist und eben so gut für wie wider
das Verbrechen ausfallen konnte?
Der oberste Satz für die Anwendung der Strafe muss nach
dem bisherigen der sein, dass gestraft werden darf nur inso-
fern durch die Strafe der WiUensentschhiss eines Verbrechers
bestinunt werden kann. Nach diesem Prinzip haben wir zu
hestimmen, wer gestraft und wie gestraft werden soll. Was
gestraft werden soll, steht auf einem anderen Blatte.
Offenbar nur eolcfae Thaten, deren Vermeidung gewuns«^
wild. Darüber gibt uns aber nidit der Strafzweck Aufschlttss,
aondem die Wertung, welche diese oder jene That ihrer Folgen
wegen bei den Menschen findet. Hierauf naher einzugeben,
liegt also ausserhalb des Rahmens meines Vortrages. Nur
zweierlei mochte idi betonen. Einmal, dass hier eine der
Stellen ist, wo die Werturteile einen emscheidenden Einfhiss
auf die Gestaltung des Stiafredits haben, ja, wo sie allein das
massgebende Wort sprechen dürfen. Die Tötung eines Men-
schen, die Verletzung der Besitzsphäre, die Störung der
öffentlichen Ruhe, die Körperverletzimg sind als solche
Thaten, die einen Unwert haben, die — ganz abgesehen davon,
ob ich einen Ihatei dafür verantwortlich machen kann und
will — als vermeidenswert gelten. Ob der VVuai>di, aulche
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380
ThatCM zu vermeiden, zur Androhung einer Strafe führen wird
oder nicht, hangt wiederum von der Intensität des Unwert-
urteils ab. Nicht alles, was vermieden werden soll, wird unter
Strafe gestellt; es giebt z. B. keine Strafen für Lügen, für
Unhöflichkeit. für Kunlraktbruch u. s. w.. Die Strafe ist viel-
mehr die ultima ratio, ein Mittel, von dem nicht zu oft Gebrau ch
gemacht werden soll, einmal, damit es nicht abstumpft und
sodann, weil die Strafe .selbst ein Uebel ist und deshalb bei
unvernünftiger Handhabvmg das durch die Sirafe zugefügte
Uebel leicht grosser sein kann, als das, welches man durch sie
vermeiden will. Das zweite, worauf ich hinweisen wollte ist,
dass die Entscheidung darüber, was strafbares Unrecht sei.
grade weil sie sich an die Werturteile anschliesst, auf und
abschwankt. Und dies liaulig recht stark; ja es gilt zuweilen —
freilich nur in Ausnahmefällen — das, was von den einen für
ein fluchwürdiges Verbrechen angeschen wird, für die anderen
als Heldenthat. Auch das Werturteil unterliegt nicht nur dem
geschichtlichen Wandel, sondern vor allem wechselt es von
Gesellschaftsschicht zu Gesellschaftsschicht ; in den Kreisen der
Fabrikanten gilt der Kontraktbruch vielfach als ein Delikt»
welches bestraft werden sollte, in den Kreisen der Arbeiter
ist umgekehrt der Streikbrecher der verächtlichste Mensch.
Das Werturteil ist der Niederschlag der sozialen Interessen
und so verschieden diese Interessen, so verschieden sind die
Werturteile. Nur in den elementaren Fragen des Lebens, bei
denen eine Interessengemeinschaft aller Menschen besteht oder
doch wenigstens aller derer, die man als Kulturmenschen be-
zeichnet, besteht eine feste und gleichmassige Wertschätzung.
Der Mord erscheint darum jedem als eine schnöde That; aber
wie lange ist es her, dass die Blutrache sogar ak hohe
sittliche Pflicht galt? Und wie steht es heute mit der Tötung
des Feindes im Kriege? Im Institut der Notwehr erkennt das
Recht unmittelbar die Abhängigkeit des Begriffs der Straf«
that von dem Gesichtspunkte des Interesses an. Eine strafbare
Handlung ist nicht vorhanden, wenn jemand die an sich straf-
würdige That zur Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs vor«
nimmt.
Wen ich strafen darf und wie ich strafen
soll, muss sich — wie schon gesagt — nach dem Zweckcharak-
ter der Strafe, nach der Determinirbarkeit durch die Strafe-
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Der Vtrantworüichkeitsgedanke im /p. jfahrkumUrl.
381
richten, i^rcilich, wenn der Thäter trotz der Strafandrohung
sich von dem Verbrechen nicht hat abschrecken lassen, so
zeigt sich, dass die Bestimmbarkeit im konkreten Falle nur ein
frommer Wunsch gewesen ist. Aber daraus kann nicht etwa die
Folgerung gezogen werden, dass nun die Strafe nicht vollstreckt
werden dürfe, weil sie den von uns festgestellten Zweck ver-
fehlt hat. Freilich, diese That ist nun einmal geschehen und
kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Aber ihren
vorbeugenden Charakter wird die Strafe trotzdem erweisen und
zwar nach doppelter Richtung: Ihre vielleicht wesentlichste
Wirkung vollzieht sie im Verborgenen: Die Generalprä-
V c n t i o n. Sie verhindert in anderen den verbrecherischen
EntschlusSj ohne dass — weil eben die Strafthat unterbleibt —
dies zur Kenntnis der Straforgane kommt. Sie wirkt hier als
Strafandrohung. Diese Androhung wäre aber machtlos,
wenn nicht auf sie in Fällen der 'Zuwiderhandlung auch wirk-
lich der Strafvollzug folgen würde, und in diesem Sinne
Mdrd der Verbrecher gestraft, nicht weil er das Verbrechen
begangen hat, sondern damit es andere nicht begehen. Der
Strafvollzug ist hier das Mittel, der Strafandrohung Gewicht
zu verleihen. Gleichzeitig jedoch offenbart der Strafvollzug
auch die andere Seite des Straf zwecks: die Spezialprä-
vention, die Einwirkung auf den Verbrecher selbst. Ge-
branntes Kind scheut das Feuer. Der Verbrecher, der die
Strafe am eigenen Leibe erfahren bat, und auch die Miss-
achtung, die sie in den Augen seiner Mitmenschen nach sich
zog, wird vielleicht in Zukunft vor der Strafandrohung mehr
Respekt haben als zuvor. Zugleich wird sich beim Strafvollzug
Gelegenheit bieten, eine innere Läuterung des Verbrechers vor-
zunehmen, der Strafvollzug (vielleicht schon die blosse That-
Sache der Strafverhängung) kann zur Besserung des Ver-
brechers führen. Und wenn beides nicht der Fall ist, so bleibt
doch immer noch ein letztes übrig, um die Gesellschaft vor
diesem Verbrecher zu schützen: Man macht ihn tmschädlicli,
sei es durch Einspemmg oder durch Vernichtung seines Lebens.
So haben wir neben einander drei Strafzwecke kennen gelernt:
die Abschreckung, die Besserung, und die U n -
s c h a. cl 1 1 c h rn a c h u n g.
Neben einander. Danut liabc ich ihnen den Stand-
punkt vorgeführt, der in unserer modernen Kriminaiwibsen-
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382
scliait der herrschende ist. Die „relative" Straf rechtet heorie.
(im Gegensatz zur ,^soluten", die in der Strafe einen Selbst-
zweck sieht), die sie giebt, ist gleichzeitig eine „gemischte".
In früherer Zeit hatte man bald den einen, bald den
anderen Strafzweck in den Vordergrund gestellt, ja wohl
zu dem alleinigen gestempelt. Von Feuerbach, dem Knmma
listen, niclit dem Philosophen, (1775— 1833) rührt die Theorie
des psychologischen Zwanges her, die ich Ihnen eben vorgc
tragen habe, die Theorie der Generalprävention durch Ein-
wirkung der Strafandrohimg auf den Willensentschluss. Wie
wichtig sie für die Erkenntnis des Wesens der Sache war,
so barg sie doch eine Gefahr für die Praxis, sie vernachlässigte
den Strafvollzug, dessen praktische Ausgestaltung so recht das
eigentliche Gebiet des Kriiniiialpolitikers ist. Die neuere
Strömling, welche in der internationalen kriminalistischen Verei-
nigung ihren Sammelpimkt hat, wandte sich darum vor allem
wieder der Frage des Strafvollzuges zu. Während wir es bei
Feuerbach imd den älteren Straf rechtslehrern des Jahrhunderts
mehr mit allgemeineren philosophischen Gesiditspuiikten zu
thun haben, entfalten sich hier die Kenntnisse und Erfahnm-
gen, die speziell strafrechtlicher Natur sind. Um nur eiiiige
dieser praktischen Fragen herauszugreifen, nenne idi Ihnen
den Kampf gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe, die Frage
nach der Einführung der Deportation, nach der Trennung von
Zuchthäusern und Gefängnissen, nach der Einführung der
Prügelstrafe, der bedingten Verurteilimg, der Besserungsan-
stalten für jugendliche Verbrecher und dergl. melür. So be-
rechtigt eine solche eingehende Berücksichtigung der straltech-
nischen Fragen ist, so wenig dürfen doch darüber die grund-
l^enden Fragen und der Zusammenbang des Ganzen veniach-
lässigt weiden.
Fragen wir uns nun aber, ob denn der Zweckcharakter der
Strafe, der theoretisch am Ende des Jahrhunderts, man kann
wohl sagen, fast auf der ganzen Linie gesiegt hat, auch nun
wirklich in unserem Strafrecht, in der Gesetzgebung und der
Stralpraxis als Grundgedanke festgehalten wird oder ob er auch
nur im Empfinden derer zum Ausdruck kommt, die seine
Richtigkeit zugeben und glauben, ihn konsequent zu vertreten,
so acheint es, als müssten wir mit einem entsehjedcpen „Nein**
antworten. Der allgemeinen Auffasefung gilt vielmehr das
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Der VtrantwortUchkatsgedanke im ig. Jahrhundert.
383
Stiaf urteil als eine Funktion des Werturteils. Sie bewertet
zunächst ein Verbrechen moralisch, sie erklärt den einen für
einen weit grösseren Verbrecher als den anderen, die eine That
für weit verbrecherischer als die andere (dies natürlich ohne
Jeden Hinblick auf einen Strafzweck) und verlangt dann als
etwas ganz selbstverständliches, dass das „grössere Verbrechen**
auch schwerer gestraft wird. Mit anderen Worten: die
Schätzung der Strafbarkeit richtet sich nach den Werturteilen,
sie ist kaum etwas anderes als eine besondere Seite der Wert-
urteile. Und dies nicht etwa nur nach der Meiniung der tmge-
bildeten Menge, sondern dieselbe Auffassung beherrscht, wie
jeder weiss, auch die Strafrechtspflege. Wie verträgt sich dies
mit unserer Einsicht in die Begründung der Strafe? Ist es
nicht ein krasser Gegensatz zu unserer theoretischen Erkenntnis,
ein krasser Rückfall in den Indeterminismus? oder anders aus-
gedrückt, zeigt nicht etwa hier die allgemeine Auffassung, dass
der Indeterminismus doch nicht so ganz abgethan ist, wie ich
es vordem darstellte?
Das letztere müssen wir zunächst ganz entschieden ver-
neinen. Mit dem Detenninismus und Indeterminismus hat die
Frage gar nichts zu thun. Die Auffassung der Strafe als eine
Sühne für ein begangenes Unrecht ist eine Thatsache, die wir
zu konstatieren haben, aber sie bedeutet nichts als ein anderes
Wort dafür, dass ich dem Thäter die That anrechne ; darüber,
warum das zu geschehen hat, (wegen der Determiniertheit oder
Indeterminiertheit des Verbrechers) sagt sie nichts. Und ebenso
wenig giebt sie eine Begründung dafür, weshalb ich strafen
darf. Sie ist eben weiter nichts als eine Gleichsetzung der
Bewertung einer Handlung mit deren Bestrafung. Dass diese
Gleichsetzung vorgenommen wird, ist eine Thatsaclic, die, wie
andere, der ICrklärung bedarf, und da sie eine Thatsache des
Seelenlebens ist, bedarf sie einer psychologischen Erklärung.
Aber eine ganz andere Frage ist, ob und in wie iWeit sie be-
rechtigt ist, ob wir also bei der Androhung und beim , Ver-
hängen von Strafen dieser Meinung folgen sollen. Und damit
sind wir wieder bei dem schon vorher betonten Gegensatz ange-
langt. Die Frage, ob wir so oder anders handeln s f> 1 1 en, kann
ihre Beantwortung nicht aus dem Umstand entnelimen, dass
diese oder die andere Ansiclit herrscht; sie kann nnr beant-
wortet werden, wie alle ragen des Sollens, nach dem Zweck-
ZcitKhriU für pida^giscbc Psychologie and Pathologie. 4
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384
Kurt SUiniU.
gedankcn. Wir müssen also konstatieren, dass die bei d^ r
Mehrzahl der Menschen herrschende Auffassung von der
Strafe nicht übereinstimmt mit dem, was die Strafe sein solt
oder anders ausgedrückt, dass die allgemeine Meinung über
die Art, wie zu strafen ist, nicht übereinstinunt mit den Gnnid-
Sätzen, von denen man bei der Bemessung der Strafe ausgehen
sollte. Daraus ergeben sich nun zwei Fragen. Die eine: wie
ist das zu erklären ? und die andere : sollen wir darum unsere
Auffassung darüber, wie gestraft werden soll, modifizieren?
Ich will jedoch den Gegensatz nicht unnötig verschärfen. Dir
„allgemeine Mtuuing". von der ich eben sprach, ist keineswegs
eine eindeutige und keineswegs eine feste. Fragen Sie in zwei
Fällen, in denen das Mass der moralischen Entrüstung bt i
Vertretern dieser allgemeinen Meinung genau das gleiche sein
möge, einen solchen Vertreter, ob der eine Thäter, der vielleicht
ein unverbesserlicher Gewohnheitsverbrecher ist, in genau der
.L;kichen Weise Ixhaiulclt werden soll, wie der andere, der
em jugendlicher Delinquent ist, und er wird sich auf sich selbst
besinnen und dies verneinen Gehen Sie ihm überhaupt etwas
eindringlicher zu Leibe und machen Sie ihn auf die Folgen
aufmerksam, welche die eine oder die andere Strafe nach sich
ziehen wird, so wird er zurückweichen und wird seine vor
schnelle Beurteilung eben nach diesem Zweckgesichtspunkt
modifizieren.
Und wie kommt das? Es kommt einfach daher, dass jene
absolute Gleichsetzung des Werturteils mit dem Strafiuteil
nichts ist als ein Mangel an Ueberlegung, ein Urteil des Affekts.
So wie in der Theorie eine Begründung dafür nicht gegeben
wird und nicht gegeben werden konnte, ist es auch in der
Praxis. Die rileichsetzuug entspringt dein Impulse. Sie ist
weiter nichts als eine elementare Aeusserung des Rachegefühls,
des Vergeltungstriebes, die nur mit einem moralischen Män-
telrhen umgehängt erscheint. Freilich ein etwas destilliertes
Rachegefühl. Es wird empfunden nicht (oder doch nicht allein l
über die eigne \'erletzung, auch nicht mehr bloss über die
Verletzung der Sippeangehörigen (Blutrache), sondern ent-
sprecheml der immer weiteren Verzweigung der gesellschaft-
lichen Beziehungen wird es empfunden über' die Verletzung
irgend eines Gliedes des grossen Körpers der Gesellschaft. Abe r
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D<r Veraniworthchkeiisgedanke im /p. Jahrhundert.
385
Dank seiner Natur redet es auch jetzt noch am stärksten bei
der Verletzung der eigenen Sphäre oder bei der Verletzung
derer, mit denen eine Interessenverbindung vorhanden ist und
es verflacht sich, ja es schweigt schliesslich ganz und ver-
kehrt sich in sein Gegenteil, da, wo solche Beziehungen nicht
mehr bestehen und das eigene Interesse für eine entgegen-
gesetzte Behandlung ins Gewicht fällt — wofür etwa die Unem-
pfänglichkeit als Beispiel genannt sei> die noch heute grössten-
teils der weissen Bevölkerung Amerikas gegenüber einer Unbill
eigen ist, die ein Schwarzer erleidet. Auch das Gebiet der polt-
tischen Delikte konnte manches lehrreiche Beispiel abgeben.
Ob nicht etwa dem Rachegefühl als solchem auch ein sittlicher
Wert zukommt, das zu untersuchen ist nicht meine Aufgabe,
wie ich es ja hier überhaupt nicht mit moralischen Untersuchun-
gen zu thim habe. Es genügt, hier festzustellen» dass das -Rache-
gefühl einen recht erheblidben Anteil an dem Satze hat, dass
die Strafe die Sühne des Verbrechens sei.
Sollen wir nun der vorhandenen Werturteile wegen unser
praktisches Verhalten zur Straf frage ändern? Oder stimmen
etwa die Resultate» zu denen wir vom Standpunkt der Zweck-
theorie aus gelangen, mit den „herrschenden'* Werturteilen
ttberein? Letzteres erschiene bei der Verschiedenheit des Aus-
gangspunktes merkwürdig und doch besteht zwar nicht eine
Uebereinstimmung, aber doch eine weitgehende Anpassung der
Zweckstrafe an die Werturteile. Der Unterschied zwischen dem
Werturteile und dem Strafurteile, wie es nach meinem Stand-
punkt sein sollte, ist lange nicht so erheblich, wie nach dem
bisher Gesagten angenommen weiden könnte. Wir sahen schon :
Welche Thaten unter Strafe gestellt werden sollen, darüber
gaben uns nur die herrschenden Werturteile Aufschluss; was
geschützt werden soll, kann ich nicht dem spezifischen Straf-
zweck entnehmen. Aber auch die Höhe des Strafmasses wird
grade aus dem Zweckgedanken der Strafe heraus sich in
enger Anpassung an diese Werturteile halten müssen. Denn
je höher ein Ciut bewertet ist (/.. B. das menschliche Leben gegen-
über der Iniegniai dcb Eigentums), desto mehr muss daran
liegen, seiner Verletzung vorzubeugen, und desto Iiöher wird
also auch grade aus dem Zweckgedanken heraus die Strafe
bemessen sein. Das Stiatnuiss wird aisu hier von selbst dem
Unwerturteil parallel gehen müssen.
4*
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386
Kurt SUtnit».
Aber eine entgegengesetzte Richtung scheinen die beiden
einzuschlagen, wenn Sir an Fälle w'w den schon niolirerwähnten
Diebstahl aus Not dd» r an den Kmdcsmord dt nken. Die Not
kaim auch einen sonst ehrenwerten Menschen zum Straucheln
bringen ; die Furcht vor dem Elend und der Schmach kami
auch feine liebende iMutter zur Verzweiflungsthal treiben. Das
sittliche ßewusstsein wird beide darum weniger hart beurteilen.
Andererseits haben beide unter besonders starken Motiven
gehamielt und zwar eine Handlung begangen, die vermieden
werden soll. War das Moti\' besonders stark, nun. sn g( hört
ein besonders starkes Gegenmotiv dazu, um seine Wirksamkeit
zu hemmen. Dieses hemmende Motiv sollte die Strafe sein.
Also, so lautet der Schluss, muss für solche Fälle eine besonders
scharfe Strafe angedroht werden. Werturteil und Strafurteil
nach dem Prinzip der Zweckmässigkeit scheinen in direktem
Gegensatz zu stehen. Ich glaube, es wird kaum einen unter
Ihnen geben, der nicht dieses Resultat als unbefriedigend an
sehen wird und der nicht meinen wird, hier liege ein Fall vor,
wo wir in der That dem Werturteil eine entscheidende Be-
deutung für das Straf urteil zubilligen müssen. Wie aber ist
dies zu begründen, ohne dass mit Recht der Vorwurf der
Inkonsequenz erhoben wird? Ich finde — und <las ist ja offenbar
der einzig gangbare Weg — die Begründung gerade in dem
Zweckcharakter der Strafe. Die Strale tagt ein l'ebel zu, um
ein anderes Uebel zu vermeiden. Aus diesem Zweckcharakter
ergiebt sich der Satz, dass die Strafe niemals mehr
Unheil schaffen darf, als sie verhütet. Im
einzelnen mag die Bilanz schwer zu ziehen sein. Aber im
Prinzip muss dieser Satz festgehalten werden, sonst entartet
das Strafrecht zur Grausamkeit und wird selbst, wie thatsäch-
lieh in manchen traurigen Epochen der Geschichte, eine
Geissei der Menschheit, statt ihren Zwedcen zu dienen. Wiid
nur der Zweck 'der Verhütung von Verbrechen verfolgt — und
man braucht ja bei diesem Wort nicht bald an Mord und Tot-
schlag denken, Verbrechen in diesem ^ne ist jede auch noch
so harmlose Handlung, die unter das Strafgesetz lallt — ohne
jenes Gegengewicht, so wäre es das einfachste und radikalste,
jedem Dieb und jedem nächtlichen Ruhestörer den Kopf abni-
schlagen; denn ihn verhindern wir gewiss dadurch am
sichersten an jeder Wiederholung <und auch die Generalprä-
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387
vention könnte nachdrücklicher nicht gefördert werden. Und
doch wäre hier der Zweckgedanke zur Fratze entsteht. Er
trägt jenes Correktiv in sich, weil das Strafrecht, wie jedes
Recht, nur um der Menschen willen dxi ist Wem freilich das
Strafen Selbstzweck ist. der brauchte sich durch solche Huniani-
tätsrücksichten nicht erschrecken lassen.
Die notwendige Anpassung des Strafzwecks an den allge-
meinen Zweckgedanken wird nun durch die Werturteile ver-
mittelt. Indem das Werturteil nicht die Strafthat als vereinzelte
Erscheinung, sondern die Gesinnlung des Uebelthäters zu seinem
Gegenstände macht, indem es deshalb die Motive der That
erforscht und würdigt, berücksichtigt es bereits in eingehender
Weise nicht nur den sozialen Unwert der That, sondern auch
die Gefährlichkeit des Thäters für die Gesellschaft. Hat er
sich nur unter einem besonders starken Motiv zur Strafthat
verleiten lassen, so folgt daraus, dass von ihm eine Wieder-
holung kaum zu befürchten ist, und hat gar ein Motiv mitge-
wirkt, das wir als solches sittlich anerkennen, hat dem Ver-
brecher ein Zweck vorgeschwebt, dessen Erreichung uns an sic|i
(freilich nicht auf dem Wege der Strafthat) wünschenswert
erscheint, so wird das Unheil, welches angerichtet ist, nicht
mehr so hoch veranschlagt werden k&inen. Spiegelt sich so
\m Werturteil die Schwere der That, das Mass des Unheils,
das sie auch für die Zukunft in sich birgt, so ist damit nadi
unserem Grundsatz auch die Grenze für das Strafurteil gesteckt ;
die Strafe wird nicht höher zu bemessen sein, als es dem Unwert-
urteil emspricht, da sie sonst mehr Unheil anrichtet, als sie
verhütet; es ist aber auch nicht zweckmässig, sie niedriger
festzusetzen, weil — wie schon hervorgehoben — an sich der
Gesichtspunkt der Absdneckung die Tend^ hat, die Strafe
nach der Grenze des zulässigen Höchstmasses hinaufzuschrau-
ben. Selbstverständlich ist durch diese Erwägung nicht etwa
eine Skala für den Strafrichter geschaffen, von der er nun
auf das Bequemste die Strafe für jede zur Aburteilung stehende
That ablesen kann. Das ist lekler nicht erreichbar und wer
die Strafrechtspflege kennt, weiss auch, dass die Auswerfung
des Strafmasses im Einzelfalle doch zum ^iiten Teil eine Sache
der Willkür ist.
■
Müssen wir so die grosse Bedeutung des Werturteils für
die Strafe anerkennen, so ist doch ein absolutes Gleichsetzen
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388
Kurt Stanüi.
der beiden keineswegs begründet. Die Strafe hat eben ihren
besonderen Zweck, der Wiederholung eines Verbrechens vor-
zubeugen. Häufen sich also z. B. in einer Zeit die Fälle der
Selbsthilfe, so kann der Staat, trotzdem das Werturteil über
sie dasselbe bleibt, zur Unterdrückung solcher Anwandiungeu
mit Recht besonders scharf gegen die Selbsthilfe vorgehen.
Hat der Zusammenbruch eines Bankhauses den wirtschaftlichen
Ruin vieler E.xistenzen zur Folge, so kann das Strafurteil gegen
den Urheber ein viel schärferes sein, als das moralische Wert-
urteil, welches etwa dem Umstände Rechnung tragen muss,
dass der Urheber niclu .iu> Gewinnsucht, sondern durch eigene
Verblendung, oder \ielleirht aus Schwäche und übergrosser
Gutmütigkeit gegen andere, die ihn auszunutzen verstanden,
zum Verbrecher geworden ist Das Schicksal des einzelnen
mag hier bedauernswert erscheinen, aber der Strafzweck, die
grosse Gefahr, welche ein Leichtsinn gerade an dieser Stelle
für die Allgemeinheit in sich birgt, ein Leichtsinn, dem nur
durcli drakonische Strafandrohungen ein Gegengewicht zu
schaffen ist, kaiui hier ein schärferes Zugreifen verlangen.
Wo das Werturteil mit dem Strafzweck nicht mehr gleichen
Schritt lialt, muss es für die Strafe unbeachtet bleiben. Vor-
uberg<'hen<l koiuUe freilich aus Utilitätsgründen auch dann
noch der Staat dem Werturteil nachgeben, um nicht bei der
grossen Menge, die für eine solche Scheidung noch nicht reif
ist. Verwirrung anzurichten. Denn dadurch würde indirekt der
< '>laubeTi an die Bedeutung der Strafe vuid damit die W iiksam-
keit der .Strafandroliung abgeschwächt. Solche (gründe können
aber selbst dazu liihrc-ii. ein Werturteil der grossen Menge, das
bereits als unberechtigt anerkannt ist. zu einem Strafurteil um-
zuformulieren, etwa um der Gefahr einer sonst drohenden
Lynchjustiz vorzubeugen. In solchen Fällen wird es aber Auf-
gabe des Staates sein, auf jene zurückgebliebenen Meinungen
erziehlich einzuwirken, um je eher desto besser das Strafgesetz
solchen Einflüssen entziehen zu können.
Nach einer heute weit verbreiteten Meinung liegt so die
Sache auch bei einer Frage, die wir bisher nur gestreift haben,
der Frage nämlich, wer als straffähiges Subjekt zu
gelten habe. Nicht jeder Mensch wird für seine Thaten
verantwortlich gemacht, der Sittenrichter wie der Strafrichter
kennt den Begriff der Unzurechnungsfähigkeit. Wie ist dieser
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D«r VerantworlluMxiUgedanke tm ig. yahrJtuHd,:ii.
Begriff zu bestiniinen und soll er sich in beiden Sphären decken ?
An dieser Stelle habe ich einen Namen zu erwähnen, den
Sie, meine Herren, wohl schon lange von mir zu hören envartet
haben, den Namen des italienischen Gelehrten Lombroso. ich
erwähne ihn erst jetzt, weil sich zwar der Kampf der Meinungen
über die Verantwortlichkeit des Verbrechers für das grössere
Publikum thatsächlich um diesen Namei* gruppiert, weil aber
systematisch die Untersuchungen Lombrosos nur für ein ver*
hältnismässig geringes Teilgebiet unseres Thätnas Bedeutung
liaben. Lombroso behandelt unsere Frage vom Standpunkt
der Kriminalanthropologie, d. h. er sucht zu ergründen, ob sich
naturwissenschaftlich ein Typus des Verbrechers —
und zwar auch nur des sog. Gewohnheitsverbrechers — fest*
stellen lässt. Die Kriminalanthropologie ist also nicht etwa die
Gruiidlage für die Lehre von der Verantwortlichkeit, sondern
sie baut nur eine Seite dieser Frage und zwar auch diese nur
in bestimmter Richtung aus. Ob es gelingt» den Verbrechertypus
naturwissenschaftlich festzustellen oder nidit» ist für die Frage,
ob man einen Menschen strafen soll und darf, der seiner inneren
Veranlagung nach immer und immer wieder zum Verbrechen
getrieben wird, wenn auch nicht gleichgiltig, so doch jedenfalls
nicht entscheidend. Ein näheres Eingehen auf die Lehre Lom-
brosos und setner Nachfolger kann ich um so mehr unterlassen,
als die Kriminalanthropologie den Gegenstand eines besonderen
Vortrages in unserem Cyklus bildet.
Eritmern wir uns an das oben festgestellte Prinzip der
Zweckstrafe, so scheint sich die Antwort auf die Frage,
wer ist straffähig oder technisch ausgedrückt, wer ist straf-
rechtlich zurechnungsfähig, von selbst zu ergeben: Zurech«
nungsfähig ist der, welcher durch das Moment der Strafe
in normaler Weise bestimmbar ist oder — da der Zustand
der Zurechnungsfähigkeit der regelmässige ist — besser
negativ ausgedrückt: strafrechtlich unzurechnungsfähig ist
derjenige, welcher durch das Moment der Strafe nicht in
normaler Weise in seinen Handlungen bestimmbar ist. So
hat auch Liszt in einem VortraL^r auf dem Miiiichcner Psycho-
logenkongrcss den Begriff zu fassen gesucht Diese Begfriffs-
bestimmun^^ unterscheidet sich zunächst fundaniental von der
uiL>.eres positiven Rechts. Dieses besagt, dass straflos derjenige
bleibe, dessen freie Wiilensbcstimmung zur Zeit der Begehung
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390
der Handlung aut>gc schlössen war, eine Definition, mit der sich,
wollte man sie wörtlich nehmen, wie gezeigt, nichts anfangl&h
Hesse. Sie unteilscheidet sich aber auch von der UnzurechnuQjgs-
fähigkeit im medizinischen Sinne, von den verschiedenen Arten
und Formen der Geistesstörung. £s erscheint mir nicht aus*
geschlossen, dass jemand, der z. B. an einer gewissen fixen
Idee leidet, und deshalb als geisteskrank anzusehen ist, für
die Bedeutung einer bestimmten Strafthat einerseits und der
Bestrafung anderseits volles Verständnis besitzt. PrinzipieU
wichtiger aber ist für uns die Abweidiung der strafreohtlidien
Zurechnungsfähigkeit von der medizinischen nach der entgegen-
gesetzten Seite: Die Fälle, in denen jemand geistig gesund,
durch das Moment der Strafe aber nicht normal bestimmbar
ist, sind nicht nur wohl viel zahlreicher als die eben erwähnten,
sondern für die Kriminalpolitik von ganz besonderer Bedeutung.
Es gehören hierher die Fälle der sog. moral insanity und —
damit im Zusammenhang — der unverbesserliche Ver-
brecher. Der gefährlichste Verbrecher ist der Mensch, dessen
sittliches Bewusstsein nicht hinreicht, um gut von böse zu
unterscheiden, dem, sei es durch Veranlagung, sei es durch
die Umgebung, in der er aufgewachsen, das Verbrechen ein
Lebenselement geworden bt. Er ist zwar nicht geistig krank,
wohl aber moralisch, sein sittliches Bewusstsein ist ein anor-
males, er ist moralisch unzurechnungsfähig. Geistig unzurech-
nuii;gsfähig ist er keineswegs: er vermag Ursache und Folgen
in genau derselben Weise aneinander zu gliedern, wie der
normale Mensch. Aber sein Hang zum Verbredien ist ein
so eingewurzelter, dass keine Strafandrohung ihn zurück-
schreckt.
Ist er aber dann noch straffähig oder muss nicht vieU
mehr das Recht, ihn zu strafen, verneint werden, da die
Begründung dieses Rechts, der Zweck des Strafens eben ver-
sagt? Die Bejahung dieser Frage würde natürlich nicht etwa
bedeute» dass diese gcfährliclistcn Verbrecher frei umher
laufen sollen ; es handeh sich vielmehr um die in neuester
Zeit auch im Zusammenhang mit den Lehren Lombrosos wieder-
hoh aufgeworfene Frage, ob der Unverbesserliche ins Zucht-
haus oder ins Irrenhaus gehört. Freilich, dies haben
wir schon betont, ins Irrenhaus im gewöhnlichen Sinne gehört
er nicht und mit der Aufwerfung jener Frage ist nicht etwa
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Der VtmuUmwäiekkdltgmkuiät tm ig. yakrkmmdert.
391
die Sü schon recht hc liwci zu ziehende Grenze zwischen Irrsinn
und Verbrechen völhg verwischt. Es wäre vielmehr ein Irren-
haus eigener Art, eben ein solches für morahsch, nicht geistig
Irre. Im Zuchthaus wie im Irrenhaus wäre der Verbrecher
für die Gesellschaft unschädlich. Dennoch ist sowohl jKirh der
praktischen Ausgestaltung der beiden Institute, wie vor allem
nach ihrer moralischen licdcutung /wischen beiden ein himmel-
weiter Unterschied. Das Zuchthaus soll ein U< bei für den
Verbrecher sein, das Irrenhaus eine Wohithat für den Kranken.
Der Zuchthäusler ist ein Gegenstand der Verachtung seiner
Mitmenschen, der Irrenhäusler ein Gegenstand ihres Mitleids.
Der Streit darüber, wohin der unverbesserliche Verbrecher
gehört, kann auch am Ende des Jahrhunderts als geklärt nicht
betrachtet werden. Die naturwissenschaftliche Schule neigt
dazu, ihn als Irren zu behandeln. Die Gesetzgebung und Praxis
des Strafrechts hält, wie Sie wissen, starr daran fest, dasä er
ina Zuchthaus gehört. Die fortgeschrittene moderne Kriminal-
wiesenscfaaft nimmt zum Teil einen vermittelnden Standpunkt
ein. So erkennt Liszt theoretisch die strafrechtliche Unzu-
reehn'ungalähigfceit des unverbesserlichen Verbrechers an. Er
memt aber, dass auf absehbare Zeit die Staatsgewalt dieser
besseren theoretischen Einsicht nicht nachgeben dürfe und zwar
wegen der oben betonten Notwendigkeit, die vorhandenen Wert-
ufteile zu schonen. Das Irrenhaus als Sühnieanstalt für Ömt
Gewohnheitsverbrecher würde in der grossen Masse noch kein
Verständnis linden. Es würde nur Verwirrung m den Köpfen
anrichten vaaid sei deshalb mit einer gesunden Krtmkialpelitik
heaie noch unvereinbar. Ich meinerseits glaube, dass es dieser
opportunistischen Konzession an die vofliandenen Werturteile
iMk% bedarf, dass vielmehr auch von dem hier vertretenen
SlaoBMIirankt aus der unverbesserliche Verbrecher ins Zucht-
bans gehört. Für ganz verfehlt halte ich zunächst das Haupt-
argument, mit welchem die gegenteilige Meinung gestützt wird.
Wenn zugegeben wird, dass der unverbesserliche Verbrecher
ein moralisch kranker Mensch sei, so dürfe er — so heisst es —
nicht der Verachtung anheim gegeben werden, mit der das
Zuchthaus verbunden ist, sondern sei ein Gegenstand des Mit-
leids und der Fürsorge. Diese Erwägung wäre m der That
geeignet, das ganze Gebäude des Strafrechts ins Wanken tm
bringen. Denn sie trifft offenbar nicht nur auf den unverbesser-
Digitized by Google
392
liehen Verbrecher, sondern auf jeden Verbrecher und jedes
Verbrechen zu. Der Unterschied zwischen dem unverbesser-
lichenVerbrecher und den anderen ist hier nur ein solcher
des Grades, nicht der Art. Anormal ist jedes Verbrechen und
insofern bin ich auch berechtigt, für den Seelenzustand, aus
dem es hervorgeht, den Namen Krankheit zu gebrauchen. Trotz-
dem bleibt das Verbrechen eine Handlung von sozi^em Un-
wert und wie wir wissen, der Verbrecher ein Mensch mit sitt-
lichem Makel. Was ich oben vom Verbrecher im Allglsmeinen
sagte, gilt von dem gewohnheitsmassigen Verbrecher nicht
minder, sondern eher mehr: eben so wenig, wie die Einsicht,
dass Hässlichkeit und Dummheit Eigenschaften sind, für welche
ein Mensch nicht kann, uns veranlasst den Hässlichen schön
und den Dummen klug zu finden, eben so wenig vermag die
Einsicht, dass der Verbrecher ein „Kranker** bt, uns zu ver-
anlassen, das Schlechte für gut imd den Thater für einen
edlen Menschen zu erklären. Dass dieses Böse das Lebens-
element eines Menschen ist, dass er trotz aller Verwarnungen,
Besserun^smittel und Strafen doch immer wieder das Böse
thut, ist nun gewiss alles andere eher als ein Grund gerade
diesen Menschen mit dem moralischen Unwerturteil zu ver-
schonen. An dieses Unwerturteil aber knüpft sich unmittelbar
die Verachtung, auch ohne dass es der Verhängung einer
Strafe durch den Staat bedarf. Weshalb und warum, weshalb
namentlich einem solchen Menschen nicht Mitleid statt
Verachtung entgeg^engebracht wird, das mag eine recht inter-
essante Üntersuchimg für den Moralphilosophen sein. Für
uns genügt die Konstatierung der Thatsache. Und diese That-
Sache bedeutet für unsere Frage, dass die moralische Krank-
heit des Unverbesserlichen kein Grund ist, gerade ihn vor
dem Makel zu bewahren, dem er in der öffentlichen Meinung
doch so wie so verfallen ist. Ja wir könnten es nicht einmal,
wenn wir wollten. Denn selbst wenn der Staat das Zucht-
liaus nicht von Gesetzes wegen als ein Institut der Ehrlosen
behandeln würde, würde es ob mit oder ohne den Namen Zucht-
haus, die moralische Wertschätzung von sich aus
thun, die nicht ein Ausfluss der Strafe ist, sondern
neben dieser einhergeht. Sollte hier einmal eine Aenderung
leintreten, so wäre es eben eine solche in unseren moralischen
Anlschauungen, nicht in unseren strafrechtlichen. .Mit dieser
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D<r VermiwortiukkeiUgedankc im ig. JcihrhumUrt.
393
Erwägiing ist aber auch schon m. E. der Streit, ob Irrenhaus
oder Zuchthaus entschieden. Denn wenn ich auch für die Ver-
hängung einer Strafe nicht mit dieser negativen Erwägung aus-
komme, sondern nach dem von mir festgehaltenen Standpunkt
einen Strafzweck aufweisen muss, und wenn auch der Unver-
besserliche durch sein Gebahren zu zeigen scheint, dass biei
ihm das Strafen zwecklos ist, so ist dies doch nur ein Schein.
Zunächst ist auch die Unschädlichmachung ein Strafzweck
und dieser ist hier sehr wohl erreichbar. Freilich wäre sie es
auch <iuf andere Weise, so eben durch das Irrenhaus. Aber
Unschädlichmachung plus moralischer Verachtung ist eben
Strafe und die moralische Verachtung ist, wie wir sahen, von
dem moralischen Irresein nicht trennbar. Dann aber
trifft auch der Gesichtspunkt der Abschreckung zu, freilich
nicht der Abschreckung dieses Individuums, wohl aber der
Gesichtspunkt der Generalprävention. Diese earfordert mit Not-
wendigkeit auch die Bestrafung des Unverbesserlichen. Denn
es müsste in der That die grösste Verwirrung anrichten und
dem Glauben an den Emst der Strafandrohung den Boden
entziehen, wenn sie gerade da nicht verwirklicht würde, wo
die Verletzung am schwersten gewesen ist. Das Gewohnheits-
verbrechen nicht bestrafen, hiesse fast eine Prämie auf die
Wiederholung von Verbrechen setzen. Wie wir generell den
Verbrecher strafen, obgleich wir sehen, dass im vorliegenden
Falle die Strafandrohung ihre Wirkung versagt hat, so müssen
wir audi den Unverbesserlichen strafen, damit die Strafan-
drohung bei anderen nicht ihren Zweck verfehlt.
Meine Herren! Wenn ich bisher den Versuch gemacht
habe, Ihnen zu /eigen, welche Gestaltung der Verantwortlich-
kP!tsp;<>danke im Strafrerln .un Ivnde des Jahrhunderts an-
nruuni, so möchte icii /tiin Srhluss nur einer recht naheliegenden
Folgerung aus dem besagten \orbeugen. -Man könnte meinen,
dass jedes gesrhriebene Strafret ht mit seinerstarren Normierung
der einzehien Slrafthaten und des fiir sie ausgeu oifenen Straf-
masses der vollkommenen Erreichung des Siratzweckcs nur
hinderhcli sei. Die Individualität der That und des Thäters
lasse sich im voraus doch nicht erfassen und die Gefährlich-
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994
keit eines iudividuurns zeige sich nicht nur in den rhaten.
die bis zur Vollendung oder dem Versuch gediehen sind. Ks
empfehle sich daher ein Strafrechtssystem, welches in weit-
gehendster Weise dem Richter Spielraum lasse, die Strafe in
concreto zu bestimmen. So beachtenswcri sokht Lrwägune^en
theoretisch sein mö^^rn so gefährlich wären sie in die
Praxis umpff^seizt. Sie rechnen nicht mit der i hatsache da^>
der Verbrecher auch wieder nur von Menschen abgeurteilt
wird, die nicht frei von menschJichen Schwächen und Irr-
tümern sind und deren Willkür dann der Angeklagte preisge-
geben wäre. Man darf nicht übersehen, dass das Straf recht
em Recht des Staates ist. dem. wie jedem Recht, eine Pflicht
gegenüber steht, die Pflicht des Staates, die gezogenen drenyen
auch dem Verbrecher gegenüber zu waiiren. Niclii ohne
Grund hat man in diesem Sinne gesagt, dass das Strafrechl
ein Recht des Verbrechers, die magna Charta des
Verbrechers sei. Durch das Strafrecht zieht der Staat sick
selbst Grenzen. An diesen Grenzen rütteln oder sie g,^
■iederreissen, hiesse den Schutz des Individuums vernichten.
In meinem Vertr^e hatte ich diese Seite der Sache nicht
au behandeln; nur die entgegengesetzte, das Recht des
Staates auf Strafe war sein Gegenstand. Aber ich möclue
nicht die einseitige Auffamuig' Platz grelfien lassen, daas
mit der Beleuchtung von diesem Standpunkt aus die Fragte
nach der praktischen Ausgestaltung des Verantwortlichkdits-
g^iankens erschöpft sei. Wir haben gesehen, dass und.
weshalb der Staat ein Recht darauf hat, den Uebelthäter
zur Verantwortung zu ziehen. Der Reciitsordnung muss es
vorbehalten bleiben, die Grenze dieses Rechts im- Einzelnen
scharf und unverrückbar zu zeichnen, selbst auf die Gefahr hin,
dnss alsdann ein Verbrecher der Gerechtigkeit entscUüpft.
Jeder Strafrechtspflege muss die alte Wahrheit vorschweben:
CS ist besser, zehn ScfauJdage frei ausgehen zu lassen, als eae«
UBSchiiMigen zu verurteilen.
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Sttsungsbericlite.
Verein lOr Klmlerpsychelogie zu Berlin.
Sitzung vom 7. Juni 1901.
Beginn Uhr.
Vorsitiender : Herr Stumpf.
Schriftführer : Herr Hirschlaff.
Nach einigen geschäftlichen Vorbemerkungen des Vorsittenden hält
Herr Fiat au den angekündigten Vortrag; „Ueber die nasale Auf-
merksamkoitsschwäche der Kinder (Aprosexia nasali s)".
Der Vortrag wird ia extenso in dieser Zeitschrift zum Abdruck
gelangen.
Nadt dem Vortrage veranstaltete <ler Vortragende eine Reihe von De-
moostrationen und zwar 1) stroboscopische Bilder zur Verdeutlichung der
Störungen der Sprach- und Stimmbildung durch die adenoiden Vegetationen;
2) mikroskopische Präparate zur Vcranschaulichunj!; der Lymphräume der
Nasen- und Rachenschlcimhaut ; 3) grössere Anschauungspräparate anatomi-
scher Natur.
Diskussion:
Herr Heubner Das vorliegende Thema hat die Aerzte seit l anger
Va u. beschäftigt und auch mich speziell interessiert. Es ist sicher, dass
der Zusammenhang der Saftbahnen der Nase mit denen des ^ehirns von
grosser Bedeutung ist; sehr schon veranschanlidien dies auch die «uf-
geat^ten Präparate. Im allgemeinen freilich sind die Verhältnisse der
Lymphzirkulation zwischen Gehirn und den übrigen Teilen noch höchst
unklar, sodass ich mich vor einiger Zeit veranlasst sah, "Herrn Waldeyer
um Aufstellung einer Preisarbeit über dieses Thema ru bitten. So wurden
kurzlich bei Tieren, jungen Fröschen. Rinsprit/un^rn m die Seitcnvcntnkel
des Gehirns gemacht und dabei ein grosses Lymphgefäss entdeckt, Kvelches
In der Nebenniere endigt; ein Verhalten, das höchst wunderbar .und unver-
«ändlidi ist. Von grosser Bedeurung Ist ferner der Zusammenhang anrischen
den adenoiden Vegetationen und der Idiotie sehr junger Kinder im ersten
und zweiten Lebensjahre. Freilich ist es sehr schwer 7V! entscheiden, was
hier Ursache und was Folge ist. Ebenso ist bei der sog Aprosexia nasalis
diese Frage aufzuwcrfen. Sehr interessant ist m dieser Beziehung, dass
es «twn besonderen Typus der Idioten ^ebt, der sich ausaeichnet durch
etwas geschlitzte Augen, breites Gesicht, sehr vorstehende Backenknochen
und einen eigentümlichen Bau des Schädels, der eine leichte .Aehnlichkeit
mit der mongolischen Rasse aufweist und deshalb - unter 'dem Wider-
spruche Virrhow's - als monj^oloifler Typus der Idiotie bezeichnet worden
ist. Diese moagoloiden Idioten haben fast durchweg adenoide Vegeta-
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396
tionen. Wie auch immer der Zusammenhang dieser Erscheinungen ge-
deutet werden mag» so ist es doch sicher em Gebiet von j^rosser Bedeutung
und von grossem Imeresse, das der Vottngen^ etditert htt.
Herr Leuchter bittet» als Nicht-Medianer das Wort nehmen zu
dürfen, um einr Fr^f^c an den Vortragenden zu richten. Giebt es tleut
liehe l>( f( ktc koiperiichcr oder geistiger Natur, die durch die adenf>!d»m
Wucherutigeji hervorgerufen werden und die auch die Mutter beobachten
kann? Er sdbst sei bd seinem S jährigen Kinde darauf aufmatem ge-
worden, dass ein gewisses Stottern beim Anfange des Sprechens üch be-
nm-kbar machte. Der Aizt, den er konsultierte, steIHe adenoide Vege-
tationen im Nasenrachenräume fest, nach deren Entfernung dann in der
That eine auffallende Bessr'riinr,^ im Befinden des Kindes eintrat. Es wären
daher deutiiciie Kennzeichen erwünscht, wie nian an der Hand bestimmter
Erscheinimgen auf das Vorhandensein dieser Erkrankung schUessen könnte.
Herr Flatau: Die hi^orstechenden Symptome des Ladens sind: die
Störung des Schlafes und der ganie Habitus der Kranken» z. B. das Offen-
halten des Mundes wShrend des grossten Teiles des Tages. Die Besserung
He? Stottems durch opernti\e Tlntfemung adenoider Vegetationen, von der
der Herr Von Irv i I i n luetc, ist leider nicht sehr häufig. Mindestens
ist bei schulpiiichtigen. Kindern das Abstellen des Stottems viel schwieriger»
ab vor dieser Zeit. Was das Alter anbelangt, in dem das Leiden anmeist
auftritt» so ist die Affektion selten im 1.» häufiger im 8. Lebensjahre;
meist aber im 2. Decenuium häufiger als im ersten. Zuzugeben ist die
Beobachtung Heubners über das Zusammentreffen der Idiotie und der
adenoiden Vegetationen, das in einem hohen Prozentsatze der Fälle Icon-
statiert werden kann, freilich ist der Zusammenhang dieser Stönmgen
schwer zu entscheiden. Wahrscheinlich handelt es sich um dcgencrative
Erscheinungen, die zugleich mit den anderen Anzeichen der Entartung
auftreten.
Herr Stumpf bemerkt» die Psychologie habe diese Dinge schoa
lange ins Auge gefasst, da es merkwürdig erschien, dass durch einen
so geringen Defekt das geistige Leben so stark beeinträchtigt werden
sollte. Mittelglied sei dabei sicherlich die gemütliche bturung, die De-
pression» die durdi die andauernden Beschwerden hervorgebracht wfirde.
Bei dieser Auffassung Iconne man dann nicht mehr von singollren Er.
scheinungen sprechen. Die Fälle von H e u b n e r machen allerdings be-
denklich, ob man auf diesem psychologischen Wege zu einer völlig be-
friedigenden Erklärung der Sachlage komme Hier ist sicherhch ein
physischer, mehr direkter Zusaninunh.mg vorhanden. Auch die schweren
Sprachstörungen begreifen sich aus den indirekten Erkläruugsversuchen mehr.
Hier liegt noch ein Problem vor» zu dessen Losung die Assoziation zwischen
Aerzten und Lehrern sehr nütdich erscheint; wünschenswert wäre es freilich,
auch einmal einen Psychologen darüber zu Rate zu ziehen.
N'ach einigen Demonstrationen des Vortragenden an der Hand r
aufgestellten Präparate und Modelle schliesst der Vorsitzende die Sitzung,
um 93/4 Uhr.
4 ....
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iiittUHgsbgrühie.
397
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Vortragsplan für das Winterhalbjahr 1901/2.
31. Oktober 1901. Dr. Hermann Törck: Die Psychologie
des Genies in Shakespeares Hamlet.
14. November 1901. Dr. F. Kemsies: Die pädagogische Psychologie
seit Herbart.
fl8. November 1901. Dr. M. Kronenberg: Die Psyiiuilogie des phito.
sophisdien Ideafismiu.
18. Deiember 1901. Dr. F. Schumatisi: Angenbewegungen und Raum.
wnhm«'hmimp (mit Demonstrationen im Psychologischen Institut}.
16. jajiv:.ir l.HiL^ Geh. Reg. Rat Professor Dr. W. Münch: Die Psy-
chologie der Grossstadt.
90. Januar 1902. Prof. Dr. R. Lehmann: Die psychologischen Grund»
lagen der änhetischen Erziehung.
13. Februar 1902. Dr. S. Sänger: Die Psychologie John Stuart MDls.
27. Februar 1902. Dr. R. Bärwald: Ueber die Gabe der Auffassung.
6. März 1902. Ordentliche General. Versammlung.
An noch nahtr m bestimmenden Tagen:
Dr. L. W. Stern (aus Breslau t . Zur Psycliologie der Aussage, ^^i-xperi-
mentelle Untersudiungen über das Gedächtnis und seine
Täuschungen.)
Dr. Henry Hughes (aus Bad Soden a. T.): Ueber die Affekte.
Die Sitzungen der Psychologischen Gesellschaft werden gcwöhnhVh
an zwei Donnerstagen jedes Monats im Hörsaal des Botanischen Instituts,
Dorotheenstrasse 5. abgehalten und beginnen um 7 Uhr. Gastweise Teil-
nahme ist zweimal im Jahre gestattet. t
Die Tagesordnung wird regelmässig in der Vossiscben Zeitungi in
der Pädagogischen Zeitung, in der „Berliner Anseigen'* des Herrn Grosser
und am schwarzen Brett des Psychologischen^ Instituts angezeigt. Die
einzelnen Sitzungsberichte werden fortlaufend in der Zeitschrift für päda-
gogische Psychologie imd Pathologie abgedruckt und den Mitgliedern zur
Verfügung gestellt. .Ausserdem erhalten die Mitglieder die „Schriften der
Gesellschaft für psychologische Forschung".
Alle Anfragen und Mitteilungen sind su riditen an den derseitigen
VofSitxenden, Herrn Professor Dr. Dessoir, Berlin W., Goksstrasse 31.
Ueber die Bedingungen der Mitgliedschaft erteilen die Satzungen Auskunft
(Semesterbeitrag 4 M.) •
Referate.
Dr. Otto Abraham*): Das absolute Tonbewusstaein.
Das Wort „musikalisch" ist bisher nicht genügend definiert worden;
man muss cur Definiton die Individual- oder Typenpsycb(riogie xu Hülfe
*) Der \'ortrag crschemt deniitachst in erweiterter Form in de«
Sammelheften der internationalen Mu^ikgesellschaft.
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398
rufen, dum erkennt man erst die Beiiehungen zwischen den cuuelaen musika-
liBcheQ Faktoren. Am besten teilt man sich den Haupttypus „musikalbclk*'
in einselne Untertjrpen ein; diese Untertypoi nnd kdne Ininsll^iett Falni«
kate. Sie existieren schon und sind dadurch entstanden, dass eine FShi|(-
keit besonders stark entwickelt ist und die anderen Faktoren (fes Musiksinns
beeinflusst. Solchen Typus bilden die mit absolutem Tonbewusstsein be-
gabten Menschen.
Unter absolutem Tonbewusstsein versteht man zweierlei: 1) die Fähig-
keit» einen geholten Ton ohne IntervaUver{^eichiing richtig zu benennen;
^ die Fähigkeit« sich einen Ton, dessen Name genannt wird ohne Intervajl-
vergleichung vorzustellen und ihn richtig (durch Gesang oder Pfeifen) produ>
zieren zu können.
a Die absolute Tonhöh rnbcurteilung: Absolutes
ionbcwusstsein ist völlig zu trennen voa dem fälschlich sogenannten reia-
tiven Tonbewusstsein, don Intovallsinn. Bei letsterem erkennt man die
Tonhöhe durch Imervallabach&tzung und logisdien SchltMs, bei dem absolaten
Tonbewusstsein entsteht ohne bewus»ten psychischen Prozess die Assoziation
zwischen TonbUd und Wortbild. Nur die Bezeichnung der Oktavenhöb'e
Wird nicht mit reproduziert, erstens wegen der musikalischen Ungewohntheit,
zweitens, weil die mit absolutem Tonbewusstsein begabten Menschen ein be-
sonders starkes GefuU für die OktavenShnlichkeit haben, fär die Aefanlichfceit
des Zusammengesetzten, wahrend sie kein Gefühl für die Aehnlichkeit des
Kinfachen besitzen Daher macht es ihnen Schwierigkeiten, die Octaven*
höhe anzugeben, und Octavenverwechselungen sind häufig.
Die absolute Tonhöhenbeurteilung Itangt ab von der Tonhöhe, der
Stärke, der Dauer und der Klangfarbe der Töne: iClänge der mittleren
Oktaven w^en am besten erkannt, tiefste Tdne werden deduU» leidUch
gut taxiert, weil der diskontinuteriidbe Charakter ein mittelbares Kriterium
abgiebt, höchste Töne, von der Mitte der 6 gestrichenen Oktave an er-
regen wohl noch deutliche Tonrmpfindungcn, lassen aber nicht nn^hr die
Reproduktion des Tonnamens f ntsiehen. Zur absoluten TonhöhenbeurteüuQg
genügt eine minimale T o n s t a r k c , die eben den Ton perzipieren iasst,
ja schwache T&ie werden sicherer beurteilt, als die obenonhaltigen siailMi
Töne. Die Dauerscbwelle für die absolute Tnahöhmbeuiteilung . ist
gleich der Dauerschwelle für die Tonempfindung. Die Klangfarbe ist von
grosser Wichtigkeit für das absolute Tonbewusstsein. Man hat sich durch musi-
kalische Ucbung eine Einheit konstruiert, auf welche andere Klänge bezogen
werden (Ciaviertoneinheit, Geigentoneinheit). Klange, die der Einheit ähndn,
rejiffoduaierai den Tonnamen, andre Kfihtg^ die von ihr verschieden smd, nidit.
Ausser dkm direkten Wege der absoluten Tonhöhenerfcennung,
die darin besteht, dass einfach das Wortbild durch das Tonbild reproduziert
wird, giebf es noch einen indirekten Wej^ durch mittelbare Kriterien.
Optische Vorstellungen (Notcnbiid, Tastenbild, Farbenemplindungen, Audition
coloröe) können ebenso wie Bewegungsvorstellungen mittelbare Kntenen
abgeben,
b. Die absolute Tonhöheavorstellnag: Bas WorMl
reprodnsieft das TonNId, nicht nmg^kdirt; (Kes ist mir mit Httfs mülfll'
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399
barer Kriterien möglich, wobei Muskelempfindungen und Bem^^gsvor-
steBtingen eine Hauptrolle spielen.
c. Der AssoziationswL-g funktioniert «iirckt in
beiden Richtungen: Die so begabten Musiker haben das feinste
abecdute Tcmbewusstsein, sie haben Tonbegnfle» die in mittleren Oktaven
nicht mehr als 6 Schwingungen zu umfassen brauchen.
Das absolute Tonbewusstsein ist eine selten gefundene musi-
kalische Eigenschaft; es ^vird im Musikunterricht alles gethan,
um den Intervallsinn zu entwickeln auf Kosten des absoluten Tonbewusstseins ;
und doch ist das absoite loabewusstsein anzuerziehen,
besonders leicht bei Kindern. Die Methoden der Erlernung richten sich
nach der Veranlagung der Schüler, ob sie rein akustisch oder
mehr visuell oder motorisch begabt sind. Allerdings kann nkht jeder ein
absolutem: Tonbewusstsein erwerben, ein individueller Faktor bleibt
noch erforderlich, doch ist er nicht so bedeutend, wie meist angenommen Ivvird.
Die Erwerbung des absoluten 1" o n 1' < w u s s t s e i n s ist er-
strebenswert, denn es ist von grossem praktischem Wert fiir die
Mtltik; durchdringendes Verständnis, besonders aber schnelle Auflassung
einer schwierigen Komposition setsen ein absolutes Tonbewusstsein voraus,
wichtig ist es auch für den Sänger.
Das absolute Tonbewusstsein hat ganz bestimmte Beziehungen zu
dt>n anderen musikalischen Eigenschaften, dem I ntervall-
gedächinis, Melodiegedachtniä und besonders zu der musikalischen Phantasie.
Alle mit absolutem Tonbewusstsein begabten Menschen sind im Stande zu
phantasieren und komponierea So ist das absolute Tonbewusstsein nicht
für sich tu betrachten, sondern bildet einen besonderen musika-
lischen Typus.
In der Diskussion führte Herr Dr. ter Kuile etwa folgend'-s aus:
1. Die nur mit Intervailbewusstsetn, nicht mit absolutem Tonbewusit
sein Begabten, können einen Ton in seiner absoluten Hohe bcstininien,
wenn sie den Gnindton der Skala kennai, worin der Ton gespielt ist.
Nach H. Dr. Abraham sieht dann der Betreffende einen Scfaltus aus swei
Praemissen : z. B. der Grundton ist „es**, der gehörte Ton war 4lie Quarte
in der Leiter; also ist dieser Ton „as".
Daf5s dies immer so vor sich gehen miiss, ist nicht sicher. Mir selbst
z B. scheint es vielmehr so zu sein, da^s ich, wenn ich den Grundton,
also die Tonan keime, die Quarte mir sogleich die Taste von '„as ' und die
Beaeichnung „fa" vor den Geist ruft, ohne dass ein Schluss aus «den
genannten Praemissm geiogen wird. Es ist mir so, als ob ich, po lange
in der bestimmten Tonart gespielt wird, für dieselbe ein absolutes Ton-
bewusstsein hätte
2. Dass der gepfiffene Ton. obgleich eine Oktave hoher als der
gesungene, dennoch viel tiefer als dieser zu sein scheint, schreibt Herr
Dr. Abraham der Armut und dem Reichtinn an Obertdnen su. Dies kaim
ich nicht als feststehend ansehen. Es ist die Frage, ob nicht das Tief-
Scheinen des gepfiffenen Tones und das Hoch-Scheinen des gesungenen
Tones daher stamme, dass der erste nach der Untergrenze des Gebietes
der gepfiffenen Töne, der letzte nach der Obergrenze der gesimge&en
ZdtKlirift f&r piidigpgiKlie Fqpcbologie und PaUiologic; S
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400
SüMWtgibcrühU.
Töne liegt. Hierfür spricht, dass uns die höheren ^gepfiffenen Töne nicht
entsprechend zu tief scheinen, als die tieferen, sondern gerade einen sehr
scharfen, hohen Eindruck machen; dass uns die tiefen gesungenen Töne»
öbglekh reich an Obertönen, wirklich sehr tief scheinen, nicht viel zu
hoch. Auch machen die mit einer gewissen Anstrengung gesungenen tiefsten
Töne einer Altsängerin einen viel tieferen Eindruck, als ihrer wirklichen
Höhe entsprechend sein würde. Es scheint also, dass gerade die Töne uns
um so tiefer scheinen, je mehr die zufälligen Nebenmerkmale, die die
Menschen in allen Sprachen dazu gebracht haben, die tiefen Tdiw eben
tief zu nennen, sur Geltung Irammen. Als dergleichen Merkmale konnten
i. B. in Frage kommen das Senken des Kopfes und der Augenbrauen
beim Singen tiefer Töne, das Heben derselben beim Hervorbringen höherer
Töne. Ks giebt jedoch von ilergleichcn Merkmalen mehrere.
Für seine böchäl interessanten und zum grossen Teil aut eigenen
Versuchen stützenden Ausführungen bezeuge ich dem geehrten Redner meinen
Dank und meine Hochachtimg.
Dr. Wilhelm Stern: Theorie der ererbten psychischen
Anlagen.
Der Vortragende führte im wesentlichen Folgendes aus: Alle sowohl
körperlichen, als auch psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten sind ent-
weder vom Individuum im La,ufe seines Lebens erworben, oder angeboren.
Das Angeborene kann entweder von der Natur beim einzelnen Individuum
gesetzt sein, oder ererbt sein. Und das Krerbte wiederum ist teils ursprünglich
von der Natur bei einigen oder bei viclr-n oder allen «in Betracht kommenden
Individuen gesetzt und dann von diesen aut die Nachkommenschaft vererbt,
teSs von früheren Individuen im Laufe ihres Lebens erworben und dann
auf die Nachkommenschaft vererbt. Unter Anlage venteht er das an-
geborene Angelegtsein zu gewissen Eigenschaften und Fähigkeiten. Ihn
interessieren hier nur die psychischen .\nlagcn und unter ihnen wiederum
nur die ererbten. Von diesen, also den ererbten und speziell den tücht
von der Natur ursprünglich gesetzten, sondern auf das von früheren Indi*
viduen im Laufe ihres Lebens Erworbene zurückführbaren, mithin stets
nur ererbten psychischen Anlagen trägt er eine kurz gefasste Theorie vor.
Der Vortragende kommt durch die \'crbindung des Gesetzes des ab-
S( hwächcnden und aufhebenden Einflusses der Gewohnheit und Uebung
auf das Bewusstsein mit dem Gesetze der Vererbung auf diu Erklärung
der hierher gehörenden Erscheinungen der ererbten Organisation, soweit
es sich um ihre körperliche Grundlage handelt. Wir sind nämlich, sagte er,
gezwungen, uns selbst bei den näheren psychischen Vorgängen, von den
lernen, die etwas für tms vollständig Unzugängliches sind, absehend, zum
grossen Teile auf die Untersuchung der Veränderungen, welche sich bei
den mit ihnen verbundenen körperlichen Vorgängen vollziehen, zu beschränken
und dieselben höchstens bis zum Punkte ihres Ueberganges in's psychische
Leben zu verfolgen. Der Vortragende kommt nun zu dem Resultate, dasa
Locke's Satz: „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu"
zwar bestehen bleibt, aber einer Modifikation bedarf. Denn es bleibt zwar
richtig, dass nichts im Geiste ist, was nicht vorher in den Sinnen gewesen
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401
ist' Aber luter dieflen Siimeii nnd nidit in aUen Fülen blo« die des jetst
lfü>eiideii Individuums, sondern andi die unsabliger früherer Individum»
d. h. die der Vorfahren des jetzt lebenden Individuums zu verstehen, welche
viele hierher gehörende, also psychische Eig^fnschaftcu und Fähigkeiten
im Laufe ihres Lebens allmählich erworben und auf dasselbe vererbt «haben.
Jahresbericht der Psychologischen Qeseiischaft
za Breslau.
(Secttcm Breslau der Deutschen Gesellschaft für Psychologische Forschung.)
1900/01.
1. Mitgliedschaft: Die Ges^lschaft hat nun bereits das 4. Jahr
ihres Bestehens hinter sich und kann mit Befriedigung auf ihre Entwickelung
zurückblicken. Der Bestand an Mitgliedern betrug: Zu Anfang des Arbeits-
jahres 31 ordentliche und 5 ausserordentliche; beim Schluss des Arbeits-
jahres ein Ehrenmitglied, 39 ordentliche und 8 ausserordentliche Mitglieder,
Die Mitglieder setzen sich zusammen aus Universitätslehiem verschiedener
Fakultäten, prakt. Amt«n, Juristen, Lehrern u. s. w. Als ausserordentliche Mit-
glieder finden Studenten Aufnahme.
S. Vorstand: In der Generalversammlung vom 15. Januar 1901
wurden folgende Herren in den Vorstand gewählt:
Privatdocent Dr. L. William Stern (Vorsitzender),
Nervenarzt Dr. Hans Kurella (stellvertretender Vorsitzender), •
Reditsanwak Dr. Kurt Steinitx (Schriftführer),
Primärarzt Dr. Alfred Methner (Kassierer).
Der frühere steUveitretende Vorsitzende Dr. Robert Gaupp wurde
bei seinem Scheiden von Breslau für seine Verdienste um die Begründung
und Entwicklung des Vereins zum Ehrenmitglied ernannt.
3. Sitzungen: Es fanden 13 wissenschaftliche Sitzungen statt,
mit folgenden Tagesordnungen:
1) 23. 10. 1900: Herr Privatdocent Dr. W. Stern: Nietzsche als
Plulosoph.
8) 6. 11. 1900: Herr Profenor Dr. Otto Hoff mann: Die Kunst des
V^ersbau's im Dienste des Gedächtnisses.
3) 20. 11 1000: Herr prakt. Ant Dr. G. Rosenfeld: Die psychischen
Wirkungen des Alkohols.
4) 27. 11. 1900: Herr Privatdocent Dr. Stern: Referat über: Freud,
Die Traumdeutung.
6) 11. 12. 1900: Herr cand. med. G. Moskievicz: Die modernen
Anschauungen ttber das Verhältnis von Körper und Seele,
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402
SttsungsberichU.
6) l.'V 1. IIMM n t* m o n s t r a t I o II t iniger Apparat»- i;u psychologischea
Laboratorium der Universität durch Herrn Privatdoccnt Dr. Stera
und Herrn cand. med. Moskiewicz. (Nur für Mitglieder).
7) 29. 1. 1901: Vortrag des Herrn Oberlehrers Dr. F. Kemsie»
(Berlin): Die Eniwickelung der pädagogischen Psychologie im 19.
Jahrhundert (1. Hälfte). Bei Verhinderung des Vortragenden wurde
das Manuskript verlesen.
S) 19. 2. 1901: Herr Privatdocent Dr. W. Stern: Experimentelle
AesthetUc
9} 5. 3. 1901: Herr Professor Dr. W. Sombart: Tecbnik und
Wirtschaft.
10} 2. 4. l'JOl : Herr Dr. K. Storch referierte über : J. Pikler, Das Grund-
gesetz alles neuropsychischen Lebens, und Herr prakt. Am F.
Krämer Qber: Th. Heller, Studien zur Blindenpsychologie.
11) SO. 4. 1901 : Herr cand. med. Moskiewicz referi^e über : Münster*
berg, Prinzipien der Psychologie.
12) 11 ö. l'.)01; Herr Privatdocent Dr. Sachs: Uebcr .\phasic.
13) 18. G. 1901: Herr Privatdocent Dr. Stern; Fcchner als Philosoph
und Päychophysiker ^zuiu Gedachlnis seines lOU. Geburtstags).
Die Sitsuttgen erfreuten sich dnes regen Besuches. Von dem seiteiia
der Gesellschaft gern gewährten Gastrecbt wurde lebhafter Gebrauch gemacht.
Der Vortrag unter Nr. 9 ist als Publikation der Gehestiftung in
Dresden, der unter Nr. 5 ist im Centralblatt für Psychiatrie und NervenheiU
kimde erschienen.
Ueber die unter Nr. 2, 3 und 13 genannten Vorträge folgen weiternnten
Berichte.
4. Publikationen: Die Puljlikation des „V'ortragscyklus Über die
Entwickelung der Ps> ( hologie und verwandter Gebiete des Wissens und
des 1 ebf ns im Ii). Jahrhundert" hat begonnen. Es sind (im Verlage von
Hennann Wailhcr Berlin) bisher als Brochüren erschienen (zugleich
als Abbandlungen in der Zeitschrift für pädagogische Psycholc^e und
Pathologie) :
Dr. L. William Stern, Privatdoc. : Die psychologische
Arbeit des 19. Jahrhunderts.
Dr. Robert Gaupp, Nervenarzt: Die Entwickelung der
Psychiatrie im 19. Jahrhundert.
Ctonsistorialrat Prof. Dr. D. Carl Hase: Die psychologische
Begründung der religiösen Weltanschauung im 19.
Jahrhundert.
Im Erscheinen begriffen sind :
Dr. Heinrich Sachs, Nervenarzt, Pnvatdoc: Die Psychologie
des Gehirns
Dr. Kurt Steinits, Recfatsanw.: Der Verantwonlidhkeitsgedanlce
Dr. Ferdinand Kemsies, Oberlehrer (Berlin): Die Entwicklung
der paedagogischcn Psychologie
Prof. Dr. Franz Skutsch: Grammatik und Psychologie
Nervenarzt Dr. H. Kurella: Die Entwicklung der Kriminal-
anthropologie
im
19.
Jabih.
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SütunffsbericAte.
403
6. Bibliothek: In der Generalversammlung wurde die Begründung
einer Bibliothek bescUossen» die durch Schenkungen und Ankäufe alsbald
ins Leben gerufen wurde. Mit der Leitung der Bibliotheksangelegenheiten
wurde Herr cand. med. Moskiewicz betraut.
G. Die Gesellschaft gehört der „D eutschen Gescllsihaft für
psvchologische Forschung" als Sektion Breslau an. Die Publi-
kationen dieser Gesellscliaft stehen uiisereti .Mitgliedern zu Vorzugspreisen
tur Verfügung.
Psychologische Gesellschaft zu Breslau.
LA:
Dr. W. Stern» Hdfdienstr. 101. i Rechlsanv. Dr. K. Stdnitz, Antonien-
Novenarzt Dr H. Kurdh, fOntoi- Strasse 23.
stnsse 100. FtiroärantDr.AiAethnerJauentz.-PL7.
Referate.
Otto Hoff mann: Die Kunst des Versbau's im Dienste des
Gedächtnisses.
Selbst wenn der Vers ursprünglich eine reine Kunstform gewesen
sein sollte was keineswegfs feststeht — , so hat er für die älteste
Zeit der Dichtung jedenfalls noch eine zweite praktische Bedeutung besessen ;
er diente zur Gliederung eines umfangreichen spradüichcn Stoffes, dessen
Niederschrift unmöglich und ungewöhnlich war« und der deshalb von Ge-
schlecht zu Geschlecht nur durch mündliche Ueberlicferung und das Ge-
dächtnis fortgepflanzt wurde. Es verlohnt sich deshalb wohl, die Frage
anfzii warfen, welche Eigenschaften die historisi hen Formen und Mittel des
Verses in Bezug auf das leichte Erlernen, das sichere Einprägen und
die glatte Reproduktion einer umfangreicheren Dichtiug besitzen. Eise
experimentelle Untersuchung dieser Frage wird sich in der Methode eng
an diejenigen Arbeiten anzuschliessen haben, die Ebbinghaus, G. E. Müller,
-Schumann ti. .1. über die Bildung und Festigkeit der Assoziationen bei
dem Krlernen längerer Silbenrcihen veröffentlicht haben lim Beispiel mag
erläutern, in welcher Art die Probleme zu stellen und wie sie praktisch zu
untersuchen sind.
Bd den Indem und Griechen sind die grossen epischen Poesieen
in sogenannten Langversen überliefert, die durch einen Einschnitt in der
Mitte, die Caesur, in zwei annähernd gleiche Hälften zerfallen. Nun hat
namentlich U?5ener überzeugend nachgewiesen, dass dieser Langvers erst
aus zwei ursprunglich selbständigen Kurzverseu zusanimengesch weihst ist.
Dass dabei ästhetische oder musikaiisch-detdamatoi^he Grunde gewirkt
haben, ist möglich, aber nicht nachiuweisen. Dagegen ist es fiir die Er-
lemtrag und gedÄchtnismässige Reproduktion eines Gedichtes keineswegs
gleich, ob ich es 7. B. in 2(K) Kurzverse zu je 3 Hebungen oder in lÜO
Langversc zu je 6 Hebungen zerlege. Im erstcren Falle wird der einzelne
Vers natürlich schneller erlernt, weil er nur aus d zu assoziierenden Grössen
besteht — aber es müssen dann 200 selbständige Verse mit einander ver-
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404
SUwMHgOeriekie.
knüpft werden. Im zweiten Falle ist die Erlernung und Reproduktion
des einzelnen Verses natürlich schwerer, weil er aus G Gliedern hf>«^teht
— dafür brauchen dann aber nur 100 Verse mit einander verbunden zn
werden. Sollte vielleicht die letztere Art für das Gedächtnis die leichtere
sein? Experimentell würde Mch das so untersuchen Uusen, du» man M
sinnlose Silben das eine ICal in 4 Teilen m je 6 Silben, das andere
Mal in 2 Teilen zu je 12 Silben nach dem bekannten Verfahien fon
Ebbinghaus oder Müller Schumann erlernen lässt und nun untersucht, nach
der wievicltsten Wiederholung die erste richtige Reproduktion eintritt und
bei welcher der beiden Arten nach einer bestunniten Zeit eine neue Er-
lernung am schnellsten vor sich geht.
In ganz gleicher Weise lässt sich auch der Wert des Reimes imd
des Stabreimes für das Gedächtais untersuchen. Bei dem letzteren würde
sidl s. B. die interessante Frage erheben, ob die Vermeidung der gleichen
Alliteration für alle vier Hebungen zweier Halbvcrse (es alliterieren nur
die beiden Hebungen des ersten Halbverses mit einer Hebung im /.weilen
Haibversc oder nur je eine Hebung in den beiden Halbvcrsen) rein ästhe-
tischen Gründen entsprang oder ob sie nicht vielleicht auch aus mnemo-
technischen Gründen sich verstehen lässt.
Sollten die experimentellen Untersuduingen — was a priori kaum
zu erwarten ist — zu dem Resultate führen, dass in Fällen, wie den an-
geführten, für das Gedächtnis kein Unterschied zwischen den verschie-
denen Versformen besteht, so würde auch das einen Fortschritt bedeuten.
Georg Rosenfeld: Die psychischen Wirkungen des
Alkohols.
Behufs Erforschung der psychischen Leistungen des Alkohols führt
die historisch-kritische Methode nicht zum Ziele, da wir den alkoholiosen
Lebensabschnitt eines Kulturvolkes nicht kennen, den wir mit semer Thätig
k< it unt< r Alkohol nicht vergleichen können. Es bleibt nur die experimentell-
psychologische l orschung übrig. Von den Alkoholphänomenen, die ihr
zur Erklärung anheimlallen, ist die gesellschaftliche Angeregtbeit eines der
auffallendsten. Sie ist im Wesentlichen mit einer Erhöhung der Aeusseiui^
lahl identisch: die Vermehrung der Aeussenu^oi kann nicht auf Ver
mehrung der Gedankenfülle zurückgeführt werden. Dies beweisen die De
fekte in den geistigen Funktionen, wie sie Kraepelin und seine Schii!<'T
sowie joss nachgewiesen haben, welche Studien gestatten, die Wiricua^
des Alkohols auf das Hirn in ein«' Passageerschwerung fai den fdneiea
Himbabnen — der Associationen, Hemmungen, Kritik su sehen. ]Q»en-
dieses Fortfallen der Nebenbahnen erlaubt — durch Energiespanng —
die Auslösung motorischer Endeffekte: pantomimische Bewegungen, Aeusse
rungen. Daher die eine „Angeregtbeit" vortäuschende Neigung zum
Sprechen. Dass der alkoholbefangene Mensch sich selbst angeregter vor-
kommt, beruht zum kleinsten Teil auf den wenigen wirkUchen Anregtmgcn.
die die gesprächseifrige Gesellschaft anderer Alkoholislen geben küoaM^
hauptsächlich auf der durch Alkoholbetäubung veranlassten Atisschaltttog
der Kritik in körperlicher und j i ri-cr Hinsicht. Eine Rolle spielt auch
die hier durch Alkohol bewirkte Vt;ränderung der AussenwelteindrüdK.
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4Q5
und die leichte Ansprechbarkeit der Musiculatur. In summa ist der A]koh«d
ein SchädUng für psydiische Leistungen Oberhaupt, für die Auffassuags-
fähigkeit und für die Beoutsung der Asaotiationsbahnen auch in Udnen
Dosen.
L. William Stern: Fecbner als Philosoph und Psycho.
p h y s i k e r. i
Gustav Theodor Fechner ward am 19. April 1801 geboren.
Wenn man den 100. Geburtstag eines Foisdiers feiern kann, so
ist dies ein gutes Zeichen für seine Bedeutung; denn es bekundet, daas,
etwa ein halbes Jahrhundert nach seinem Hauptschaffen, dieses bei der
Menschheit nicht vergessen ist. Noch besser, wenn man an seinem 100.
Geburtstag bekemien kann, dass noch heute weite Strecken unseres Avi^sen
schaftlichen Lebens unter den unniittelbarea Nachwirkungen seiner Leistungen
stehen. Und das Beste, wenn man glaubt, prophezeien zu dürfen; erst
«Se Zukunft wird ganz genau erkennen, was dieser Mann der Welt bedeutet.
^ Dies ist der Fall bei Fechner.
Fechner's Leben deckt sich fast mit dem 19. Jahrhundert; es währte
von 1801—1884. Und er ist der Sohn seiner Zeit, wenn er in den dreissiger
Jahren vom Strudel der Scheiling-Oken'schen Naturphilosophie mit fort-
gerissen wird, dann aber an ihre Stelle die exakte Empirie, die zählende
und mesMude NatwforKhung setzt; er ist Mitaxbdter an ihr, wenn «r
dastt beiträgt, auch am Seelischen die Besiehtmgen sur physisdien Welt
sn betonen und Mass und Methode der Naturwissenschaft auf's Psychische
auszudehnen. In manch anderer Hinsicht aber ist es ein fremder Gast
in d«^r Kultur des 19. Jahrhunderts, namentlich in dessen zweiter Hälfte,
dieser j>achlichen, nüchternen, spezialistischen, analytischen Epoche. Er ist
von umfassendster Vielseitigkeit: Physiker, Psychophysiker tmd Psycholog,
Aeathetiker, Dichter und Humorist; und er ist — in dieser unphikisophisdi'
sten aller Kulturseiten — philosophisch: in ihm lebt ein Drang nach Zu>
sammenfassung und Harmonisierung, der ihn weit über das Scheuklappen-
tum des Nichts- als Fachgelehrten hinaushebt. So schafft er eine Welt-
anschauung, an der sein kritisch exakter, naturwissenschaftlicher Geist wie sein
tromm religiöses Gemüt, dichtende Phantasie und philosophische Synthese
gleichen Anteil haben — eine Weltanschauung, von der ein Fragment,
nftndidi der Parallelismus, in siemlich verwässerter Form wdthin accqpcieit
wurde, während sie als Ganses erst am Beginn ihrer Wirksamkeit steht
Der Vortragende geht nun auf eine speziellere Darstellung der Fech-
ner'schen Leistungen ein, die hier nur kurz angedeutet werden kann.
Er schildert ihn zunächst als den Begründer der P s y c h o p h y s i k :
wie er von der rein objektiven Physik ^^Elektrizität) zu der mit subjektiver
Bedeutung (Optik) überging, wie ihm altmalig. gewohnt an Alles Maas-
methoden ansul^en, das psychophysische Grundproblem in allgemeinster Form
aufging: Weldie Massbedehungen bestehen swischen Reizen und Empfin-
dungen? — wie er hier, gleichsam nii<^ (]em Nichts, das System der Be-
griffe- Schwelle, Untcrschicdsschwelle, i-niptindlichkeit etc., die Reibe der
Methoden und schliesslich jenes universelle Gesetz entwickelte, das er nach
Ernst Heinrich Weber benannte, das aber heut nach Gebühr seinen Namen
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406
SiUungsbtfidUe^
mitträgt. Auf die kritischen Bemerkungen des Vortragenden zu diesem
Gesets, insbesondere auf die Forderung, dass man nicht nur inuner nach
seiner kausalen Deutung, sondern vor allem nach seiner teleologi-
schen Bedeutung die Frage stellen solle, kann hier nicht eingegangen
werden.
Fechner's Psychophysik ist über sich selbst hinausgewachsen. Sie hat sich
nicht gehalten als die besondere Wissenschaft von den Beziehungen swischen
Reiz und Empfindung. Aber indem sie zurücktrat, wurde sie die Mutter
einer neuen bedeutsamen Wissenschaft : der Experimcntalpsychologie — und
die Helferin einer andern: der Sinnesphysioloi;ie. Die Worte Fechner's
zu Wundt, als dieser sein Laboratorium bcf^ründete: „Wenn Sie die Saclie
so im Grossen betreiben, werden sie in wenigen Jahren mit der ganzen
Psychophysik fertig sein" — sie haben sich bewahriidtet im Sinn der
engeren Psychophysik, aber nicht in dem der experimentellen Psychologie.
Und heute, da diese Wissenschaft in voller Blüte steht, ist unsere dankbare
Bewimdprunp doppelt gross für den Mann, der sie als erster gefrflegt —
ohne Laboratorium, ohne Apparate, ohne Assistenten! —
Nach einer nur zum Teil ähnlichen Richtung hin liegen seine ästhe-
tischen Leistungen. Der starke, künstlerische Zug Fechner's, der sieb
allezeit in Dichtungen, Satyren und zahlreichen Kunstkritik^ kundgab,
kristallisierte sich schliesslich wissenschaftlich zu seiner „Vorschule der Aesthe-
tik". die wiederum diesem Gebiet neue Wege wies. Er proklamiert hier
Uf^eniiber der ide.ilisti-ch-iiu'taphysischen Aesthctik .,von oben" — die
ubrigeiiü darum nicht verworfen wird — eine empirische Aesthetik „von
unten", die von den einfachsten Elementen der WohlgefiUligkeit au^hen
soll, schildert eine Reihe von Prinzipien des Wohlgefallens, von denen die
Scheidung des direkten" und „assoziativen" Faktors am mcbten weiter-
wirkte, und entwickelt wieder eine Mcthodenlehre. in der das Experiment
die Hauptrolle spielt und sofort in den bekannten Untersuchimgen über
den goldenen Schnitt eine fruchtbare Anwendung erfährt. —
Der Vortragende geht endlich zum Philosophen Fechner über;
ist doch schliesslich die ganze Fragestellung seiner Psychophysik nur aus
seiner Metaphysik völlig zu verstehen, und ist doch sein ästhetischer Zug
vielleicht bedeutender als in Dichtung und ästhetischer Theorie in seiner
Weltanschauung zum Ausdruck gelangt. Eine Tagesanstcht will er
gegenüber der berrsdienden Nachtansicht verfechten, jener Idmme-
rischen Lehre, die aus der Welt mit Ausnahme der wenigen Menschen und
Tiere das Geistige entfernen, die aus dem All ein stummes sinnloses Spiel
von Bewegungen machen, die alles Leuchten und Tönen, alle Farbe und
Wärme, kurz alle Qualität zu einer Illusion herabsetzen will, die
entweder einen Gott überhaupt nicht kennt oder nur einen solchen, der
von aussen stösst.
Was aber lehrt die Tagesansicht? In der physischen Welt cu-
nächst herrscht überall strenge Gesetzmässigkeit, Aber diese Gesetzmässig-
keit ist nicht mechanisch in dem Sinne, dass sie hlos durch das Aneinander-
und Aufeinanderwirken der Teile und die in diesen Teilen schon vor-
handenen Kräfte eridart werden könnte. Gesetz besteht überhaupt nur uu
Miteinander, im System, und so bilden sich denn soldie Verbindungen
uiLjiiizuü Dy Google
SitsungsberuhU.
407
gcseizmassiger Verknüpfung, in denen nicht nur Teil auf Teil, sondern Teil
auf Ganzes und Ganzes auf Teil wirkt : so die chemische Verbindung,
ao die Pflanze, das Tier, der Mcns:h, die Erde, das Planetensystem, das
AU ^ eine Stufenfolge öbereinandefgeschichtet« Einheiten. Das gesetzmSssige
Ptiniip aber» das in jeder dieser Einheiten wirkt ist die ideologische
Tendenz zur Stabilität.
Auf der psychischen Seite ein gleiches Bild ; denn zwischen
dem Materiellen und dem Geistigen besteht vollendeter Paraiielismus.
£s ist dasselbe System, das sich als physisch darstellt, sofern es einem
Anden^ als psydiiadi, sofm es sich sdbst gegeben ist. Nichts existiert
nur materiell, nichts nur psychisch. Was äusserlich Vielheit materieller
Teile, ist innerlich Einheit des Bewusstseins. Und wie im Physischen,
findet sich auch im Psychischen die Uebereinanderstufung der Bewusstseins-
einheiten: die Glieder und Organe. Individuen niederer Ordnung, sind
inbegriffen in der höheren Einheit des Menschen; die Menschen, Tiere,
PQanzen — auch die letzteren sind beseelt — gehen auf in der höheren
Einheit der Erde — denn die Gestirne sind gleichfalls lebendige seelische
Individuen — und schliesslich umfasst Gott alle niederen Einheiten als
universellste Einheit — alle Bewusstseine als Allbewusstsdn« als höchste
Persönlichkeit !
Durch zwei Punkte unterscheidet sich der Fechner'sche Parallelismus von
dem heut vorherrschenden empiristischen : F. hat den Mut der Conscquenz,
den Paraiielismus auf alles Existierende durchzuführen, wodurch dieser zwar
metaphysisch aber wenigstens ohne logische Sprünge ist und F. sieht
das Problem der Individualisierung von Bewussiseinseinheiten, wenn
er es auch nicht löst — ein Problem, das die heutige parallelistische
Theorie meist i?rnoriert, weil sie ihre Unzulänglichkeit ihm gegenüber ahnt.
Da«» 19. Jalirbundert hat vor allein Kcchner den Psychophysiker ge
kaiint und geehrt; das 2U. jaiirhundert, an dessen Beginn nach langer
Karens die metaphysische Sehnsucht des Menschen wieder dch xu regen
wagt, wird vor allem Fechner den Philosophen verstehen und lieben.
Akademischer Verein für Pfiychologie
zu Mflnchen.
Der Verein begann seine Sitzungen im Winter semester am "i o-
vembcr. Auf 13 Abende verteilten sich Vorträge und Diskussionen in
folgender Weise:
8, November; Herr Professor Dr. Lipps: „Ueber Unterordnung".
9. tNovember: Herr Professor Dr. Zoll mann: »^ur Frage der „Ge*
staltsqualitaten".
16. November : Herr cand. philos. v. Aster: „Zur Psychologie des Gefühls".
November: Herr Dr. phil. Ettlinger: ..lieber Ausdrucksbewegungen".
30. November: Herr cand. phili». Geiger: „Das UnbewusstPsychische".
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408 SUumgabtiieklt,
14. Dezember : Herr Professor Dr. Lipps: „Die Formen der ästhetisch«^
Apperceptkm.*'.
U. Jamiar: Herr caad. ^AäkxB. v. Frycs: ,,Das Wtedeieiteiiieii".
25. Januar : Herr cand philos. XI a 1 1 i n g e r : ,^iiin Streit über das Probkn
der Ethik".
i. Februar Diskussion über das Grundproblem der Ethik. (Refereot: Herr
cand. philos. G a 1 1 i n g e r.)
8. Februar: Dükuai^oa über da» Wesen des logisdien UneUs. (Refemt:-
Herr cand. philos. Daubert.)
16. Februar Herr cand. philos. Huber: „lieber die Bedeutung der Kate-
gorien für das UrtL-il"
22. Februar: Diskussion über dt-n Bcgrifl der Substanz bei Hume. (Referent:
Herr cand. phüos. Feig s.)
1, Man: Herr Privatdozent Dr. Pfänder: „Das objektiv Wirkliche".
Am 1. Märs wurde das Semester geschlossen. Am 90. November
legte Herr Dr. Ettling er tu allgemeinem Bedauern den Vorsits nieder
und es w urde an seiner Stelle Herr v. Aster zum Vorsitzenden gewählt,
für den Herr Hirsch das Amt des Schriftführers übernahm. Dieselben,
sowie der Kassenwart, Herr Feigs, werden für das Sommer-Semester
wiedergewählt.
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Berichte und Besprechungen.
Das Recht der Persönlichkeit in Schulamt und Schul-
leben. Von Wilhelm Münch. Sonder .Abdruck aus
Lehrproben und Lehrgänge» 1901, 8. Heft« Halle a. S.
Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 190L.
Das Recht der Persönlichkeit ist mit dieser selbst gegeben; ihre
natürliche Grundlage »st die Individualität, die aber ethisch indifferent ist.
Die Persönlichkeit ist gewisserinasscu organisierte Individualität; sie ist
jedoch nicht daasdbe wie Charakter» eoodem flüssiger und beweglidier
als dieser. Jedes Amt hemmt das Recht der Persönlichkeit in etwas, denn
es verlangt Pflichttreue und korrekte Lebensführung, oder weiter ausgeführt :
Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit. Gewissenhaftigkeit — Diskretion, Arbeits-
willtgkeit, Einordnung — Loyalität, bürgerliche Korrektheit, moralische
Würde. Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht auch in vielen Fällen die
EiH^tung der eigensten Seelenkrafte mit den Bedürfnissen des Amtes
harmonieren wird. Aber m gewissen Stunden werden sie doch als unbequ^e
Fesseln empfunden werden. Ist denn die Unparteilichkeit in der Praxis
so leicht zu handhaben, wie in der Theorie? Gewähren denn der Klein-
dienst und die elementare Arbeit des Tages innere Befriedigung? Fällt es
kräftigen Naturen nicht zuweilen schwer, sich der Disciplin zu fügen?
Ueber einer echten Persönlichkeit dürfen die Wellen des Amtes trotzdem
nicht lusammenschlagen. Sie werden es nicht, wenn nicht Schrottheit der
Vorgesetzten die Untergd>enen lihmt, wenn nicht ein Uebermass von Arbeit
erdrückend wird, wenn nicht die Schablone den Gesichtslueis hemmt.
Und wie stehen Persönlichkeit und Methode 2U einander? Diese
lasst nur weniv( IVeiheit der natürlichen Bewegung. Ihre Normen, die
aus dem Nachdenken über das Wesen des Unterrichtsstoffes, über Zweck
und Ziele des Unterrichts, über die Thatsachen der Psychologie hervor-
gegangen sind, fordern Befolgung. Persönlichkeit und Methode bilden dem-
nach auch keinen Gegensatz, vielmehr geht die wahre Handhabung der
Methode allmählich in persönliche Kunst über. Darm wird die Arbeit des
Lehrers zugleich erzieherisch wertvoll. Durch korrekte Massnahmen, durch
Ik'bermittelung von Anschauungen und Gedanken und Einweisung auf die
Lebensziele wird man noch kein vollendeter J ugcndlehrer, wenn nicht die
eigentümliche Kraft vorhanden ist, auf Menschen su wirken, wenn es an der
erzitherischen Persönlichkeit fehlt.
Diese kurze Wiedergabe des Vonrages lässt wohl erkennen, deas es
sich um allgemein wertvolle und geistreiche Ausführungen handele
Berlin, W. Krause.
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410 BetieMt tmd AMfrtcktmgm,
Jahrbuch der Krüppclfürsorge, herausgegeben von D,
Theodor Schäfer. L Jahrgang. 1899. Mit 5 Voll- und
2 T exthtldern. 2. Auflage. Hamburg. 1900. Agentur des
Rauhen Hauses.
Der Verfasser leitet seine Abhandlung mit einem Ruckblick auf du-
ersten Anfänge der systematischen Krüppelfürsorge ein. Als man in Kopen
hagen sich der Krüppel anzunehmen begann, kannte man 45 solcher
Leidenden, 13 Jahre sp<atcr waren es schon 1492, und heute schätzt man
ihxt Zahl auf 600000. Wie auf so vielen Gebieten der Erziehung, des
Utttenidits und der Pflege ist auch hier die christlidie Seelsoige bahn-
brechend vorgegangen. Da als Folge der körperlichen Missbildungen meist
seelische Verunstaltungen und Dcfcktt* auftreten, so darf es uns nicht
Wimder nehmen, wenn der Geistliche hier dem Mediziner und dem Staats
vaaam vorgegriffen hat. Wie es in der Seele eines verkrüppelten Menschen
kindes aiusi^, schildert in treffend«- Weise an dieser &elle Pastor Hoppe,
der Vorsteher der Kruppelanstatt in Nowawes. Er zeigt, wie jene traurigen
Folgen schon in dem frühesten Alter mit, man inüchtc s^ij^cn, grausamer
Gesetzmässigkeit sich einstellen und das betroffene Geschöpf fast von der
Wiege an eine Leidensgeschichte durchlebt. Mannigfaltige Beispiele, die
der Verfasser anführt, illustrieren dieses ergreifende Bild und überführen
uns noch mehr von der Pflicht, hier Abhilfe zu schaffen. Die Lichtblicke
in der vereinzelt dastehenden Thätigkeit der Geistlichen führten endlich
zu der Gründung staatlich unterstützter Heilanstalten, deren geschidiliche
Entwicklung der Verfasser darstellt. Ausgehend von der Mutteranstalt in
Kopenhagen, die ihr Entstehen jenem p^rossen, liebe- und krafivollen ^Tanne,
dem Pastor Knudscn verdankt, machte auch in Deutschland die neue Be-
wegung Fortschritte. Dieser stellt ein dreifaches Ziel auf: erst, wo e»
angemessen ist, die Verkrüppelten ganz oder teilweise zu heilen; zweitens
zu erziehen und endlich zu verpflegen. Er zeigt theoretisch und an der
Hand von Beispielen, sowie statistisch, wie die beiden letzteren Ziele sich
notwendig dem ersten anschliessen mussten und welch grosser S^en dadurch
gestiftet wird
Bewunderung erfasst jeden Leser und das Gefühl amigster Mitfreude
bei dem Berichte über die Erziehung der Hertha Schulz, bei dem gläiueuden
Erfolge menschlichen Wirkens, das ein der drei Hauptsinne beraubtes
und somit fast vom Leben ausgeschlossenes Wesen diesem wieder
zurückgiebt, es fähig macht, st^ar an einigen Freuden desselben teilzunehmen.
Hierin liegt ?u:^I'Mr!i i\-r augenfällige Beweis für das grosse Verdienst
des Begründers tier Krupjjelversorgung, des Pastors Knudscn. dessen Leben
und Wirken der Verfasser als zweiten Teil seines Jahrbuches behandelt
Er hat das Fundament gelegt, auf weldiem derart^ Resukate enidt
werden konnten. Die Schrift wird ihren Zweck nicht verfehlen: ein klares,
lebendiges BUd von der Bedeutung sowohl, wie von den Fortschritten
der Krüppelversorgung vor Ai^^ zu stellen und für die gute Sache Weiter
zu werben.
Berlin. £d. Banasch.
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411
juhauii ^irnos Comenius, heraus g. von Prof. Dr. Eugeu
Pappenheim. Gre ssters Klassiker der Pädagogik.
Bd. XV. — I. Teil. Lebensabriss, lerner die „Grosse
Lehrkunst**, aus den Lateinischen übersetit. 8. Auf-
lage. Langensalza. Ladenpreis 3,50 M.
Im Vorwort zur ersten Auflage (l-'^yi) sagt der Herausgeber, dass er die
„(.rosse Lchrkunst" in selbständiger, wortgetreuer und vollständiger Ueber-
Setzung nach dem lateinischen Text des Jahres 1657 bringe. P. "fügt auch,
wo es notig erschektt« erläuternde Anmerkungen hinxu. In einer Zeit, wo
man die idealen Ziele Comenius' von allgemeineren Genchtspunkten su
würdigen und auf der anderen Seite die fruchtbare Tiefe seiner pädagogischen
Lehren or*^^ zu verstehen beginnt, bedarf diese «seine bedeutendste Schrift
kaum l ur besonderen Empfehlung, es sei denn, dass man die Klarheit
und Sci)i>iiheu der Uebersetzung hervorhebe.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. Begründet
von Dr. L. Kotelmami. Redigiert von Professor Dr. Fr. Erismami in
Zürich. Verlag von Leopold Voss in Hamburg.
12. Jahrgang 1899, Heft I-^IS, 8». 769 S. u. 13. Jahrgang 1900,
Heft 1—12. 734 S.
„Entstehung u. V f r h u t u n g nervöser Zustände bei
Schulern höherer Lehranstalten" von Dr. C. Schmid-Monnard.
Der Verfasser gicbt verschiedene Gründe für die Entstehung der Nervo-
sität an, die unabhängig von der Schule wirksam sind, bei körperlich
schwachen, bei rekonvaleszenten, bei rasch in die Länge gewachsenen, "und
bei .solchen Schülern, cli(> st:hon von Haus aus durch Vererbung odt-r durch
verzärtelte Erziehung nervös sind I.r glaubt, dass diesen iMnflussen des
Alitagslebens in ihren schädlichen Wirkungen schwer entgegen zu treten
sei. Er weist dagegen die Schuld für die durch die Schule bedingten
Ursachen, wie das übergrosse Pensum, die UeberfüUung mit Stoff und
die grosse, geforderte obligatorische Arbdtsseit, den VerwaltUDgen und Be-
hörden zu, in denen nur Juristen und Altphilologen aber keine Hygieniker
sitzen. Zur Bcseititnmg dieser Zustände giebt er die verschiedensten .Vor-
schläge an, besonders aber verlangt er die Konzentratjun des Lernpensums
auf den Vormittag, wo dieser nicht ausreicht, eine Verringerung, ferner
eine Veränderung und Entlastung des Lehrphms.
„Das Gebor und seine Pflege" von Dr. F. Pluder, Ohren-
arzt in Hamburg. P. bespricht den Wert des Gehörs als Sinnesorgan an
sieh lind dann iin W rgleK Ii zu den anderen, wie Auge und Nase. Er
druckt sein Bedauern darüber aus, dass noch in den weitesten Kreisen
die Grundzüge einer guten Pflege des Gehörs vmd seines Organs zu iwenig
bekamit und gewürdigt sind, und dass, wo etwas gethan wird, es mebtens
m so fahcher Weise geschieht, dass msbt Schaden als Nutsen daraus
entsteht. Deshalb wünscht er, dass schon in den Schulen einiges Auf-
klärendes über die gute Pflege des Gehörorgans mitgeteilt werde, Bei der
Besprechimg der Hygiene des Gehörorgans gebt er von den verschiedenen
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LoboiMlteiii aus» -von dem Säuglingsalter, vom kindlichen und Schnlatler»
in dem die Affekiiaiien der obersten Atmungswege ihren nachteiligen £tD-
fltiss besonders geltend machen, und der gute Zustand von 'Nase, Mund
und Rachen, das erste Erfordernis einer gesunden Hygiene des Gehör
Organs sei. Er empfiehlt deshalb hirr ptne besondere firztliche Aufsicht
und eine allgemeine Abhärtung des Korpers schon vom zweiten Lebeiü
jähre ab. Bei Erwachsenen kommt der Beruf bei der Pflege des Ohres
sehr in Betracht» so giebt es Berufszweige, die ein tadelloses feines Gdior
beanspruchen, und andere, die ein gutes, kräftiges Gehörorgan voraus-
senen, um den schädlichen Einflüssen der Beschäftigung zu widersteh».
..Ueber die ,,G e i s t e s s t ö r u n g c n unter den Schulkin.
d e r n" schreibt Rektor ü. Hintz Berlin, da-ss die geistigen Störungen ,zum
Teil auf Störungen gewisser Sinnesorgane zurückzuführen seien, andere
als Gedankenflucbt, Zwangsideen und Hallusinationen su bezeichnen sind,
auch spiele das moralische Irresein enie wichtige Rolle. Er enqifiehlt
die Einrichtung von Nebenldassen, wie sie Berliner Gemeindeschulen be-
sitzen, zur Unterbringung dieser Schulkinder und zieht sie den sogenannten
Hilfsschulen und Klassen vor, weil den Schülern dadurch der Stempe! d<'r
Minderwertigkeit, den wir im praktischen Leben diesen weniger Begabten
beizulegen beheben, genommen wird, was von grossem Werte bei cni
lassenen Schülera sein kann, denn leider wird der Mensch im; Leben nidit
immer nach dem beurteilt, was er ist, sondern oft nach dem, was er zu
sein scheint.
In dem Aufsatz „Ueber den Einfluss der Steilschrilt
auf die Augen und Schreibhaltung der Karlsruher
\'"olksschuljugend" stellt der Karlsruher Augenarzt Dr. Gelpke Ver-
gleiche an über die bisherigen Ergebnisse seiner in grossem Umfange
gemachten Untersuchungen aus den jähren 1HH7 und 1897, nachdem 1891
die Steilschrift obligatorisch emgeführt worden war. Er zieht auch die
Ergebnisse seiner Untersuchungen in einer Schule, in der noch .die Schräg-
schrift gelehrt wurde, in Betracht; so kommt er bei der Betrachtung
des in Tabellen geordneten umfangreichen Materials dahin, dass die Stell«
Schrift auf die Augen einen wenig zu bemerkenden, bessernden Einfluss
ausgeübt hätte, dass sie aber eine ganz bedeutend bessere Schreibhaltung,
in Hezug auf Kopf, Schultern und Korper, herbeigeführt hätte. Zum Schluss
wirft er die Frage auf, ob schon alles Mögliche in dieser Richtung hin
geschehen sei, und giebt noch einzelne Ratschläge, um dem Ideal näher
zu kommen.
Der Krcisphysikus Dr. Berger in Neustadt am Rübenberge ^Han
nover) sagt in seiner Abhandlung „Die Bekämpfung der Tuber-
kulose in der Schule**, dass die Prophylaxe wohl der wichiigste
Faktor in der Bekinpfung dieser Krankheit sei, und ihm Hodi viel mehr Ge-
wicht als bisher beizulegen sei. Vorbedingungen dazu seien natürlich möglichst
hygienisch eingerichtete S' hulj^efiäude und Aufstellung von vielen zweck
massigen Spucknapfen ; es sollten ferner keine tuberkulösen Lehrer unter-
richten, die Kinder müssten in gesundheitlichen Dingen vielmehr imter-
wiesen und es sollte auch auf ihr häusliches Leben ehigewirkt werden und
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BtwitkU und Besprechungen,
413
zwar dadurch, dass die Ehern mit der rationellen Bekämpfung der Krank-
heit vertrant gemacht werden.
A«t dem Aufsatz des Dr. med. Julius HoMS über „D i e Neuorgani-
sation der Volksschulen in \f a n n h e i ni" erfahren wir, dass
der dortig** Stadtschulrat Dr. Siekinger eine Dreiteilung der Volksschulen
verlangt, und 2war eine Abteilung mit höher gesteckten Lehrzielen für
GuAefähigte, eine i»eite Abteilung mit geringeren AnspfüdMi ffir die
SdnvidierbdSbigten und dann eine dritta Abtetlmiig, die sogenannten „Hills-
Uatfen** fttr die anormal Begabten.
Ucbcr „die üeberbürdung der Lehrer" schreibt Dr.
Sdunkl-Monard* und verlangt aus mehreren Gründen die Herabsetzung
der Marimalstttndfsiiahl für Lehrer von 24 auf 16—18 Stunden pro Woche.
„K örperliche und geistige Früh, und Spätentwick-
lung" von Dr. med. Bauer, Senünararzi in Schwäbisch Gmünd. Der
Verfasser ist der Meinung, dass man den SchuUdndem im Pubertätsalter
mehr korperlidie Bewegung verschaffen müsse» dann wftre die voneitige
Ausschulung der Frühreifen, wie es z. B. bei den »Mädchen sehr oft der
Fall ist, nicht m hr nötig. Für die körperlii h Zurückgebliebenen, also
Schwächlinge und Krüppel, verlangt er ebenso wie für die geistig inferioren
Kinder Nebenklassen nach dem Berliner System, damit beide Teile «eine
indiiridttellere. Erziehung erfahren.
Zu der noch immer ungelösten „Schularzt frag e" schreiben ver-
sdiiedene Autoren und legen ihre Ansichten darüber Uar, so z. B. Pro«
fessor E. v. Esmarch . Königsberg m Preussen, der uns seine auf einem
rnspektionsj^ange durch die Königsherger \'(<lls und Bürgerschulen gc
machten Beobachttmgen mitteilt, dann Protessor Schüler, der noch mehr
Gewicht auf die ausreichende hygienische Vor- und AusbUdung des Lehrer-
standes gelegt wissen will und Dr. Paul Schubert, der die Verstaatitchimg
des ganzen Systems verlangt, damit die ganze Allgemeinheit, so ^. B. auch
die Uieineren, weniger bemittelten Gemeinden, Nutzen von dieser Einrich-
tung hätte.
13. Jahrgang: 1900.
,,Z u r P r o p h ! .1 X c der S c h u I e {) e d e ni i e n" schreibt Dr,
Steinhardt. Kinderarzt und städtischer Srhular/t in Nürnberg. Kr glaubt,
dass im Interesse der Schulhygiene ein groäücr Schrat vorwärts gethan
sei, wenn folgende drei Punkte viel strenger durchgeführt würden: 1) strikte
Anzeigepflicht der Eltern bezw. der behandelnden Aerzt«; 2) möglichst
frühzeitige Ausscheidung infektiös erkranicter Kinder atis der Schule durch
schulärztliche Untersuchung; 3) Femhaltung der Rekonvaleszenten aus der
Schule, solange Verschleppux^ der Krankheitskeime durch sie noch als
möglich anzunehmen ist.
„Die Mttnchner Thesen zur Schulreform*', die von
Grie^harh und Herbcrich aufgestellt wurden, haben eine sehr grosse Pole-
mik hervorgerufen. Kotelmajin- Hamburg weist in seinen kritischen Be-
merkungen zu diesen Thesen statistisch nach, dass die Gymnasialabiturienten
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414
pnMentisch vid bessere Eicamma bd der Prüfung für das höhere Lehr-
fach in den naturwissenschaftlichen Fächern ablegen als die Realgymnasial-
ablturienten. Herberich will das dadurch erklärt wissen, dass die Real-
gymnasiastcn ihr Studium gezwungen oft ohne besondere innere Neigung
ergreifen müssen, da ihnen nur diese Fakultät offen steht. Kotelmann
erklärt es dagegen mit folgenden beiden Ursachen, erstens hat das Real
gymnasium im grossen und ganien ein weniger begabtes Sdiulermakerial,
zweitens besuchen die Realgynmasialabiturienten die UniversitätscoUegs sdir
mässig, weil ihnen als Vorgeschrittene dieselben anfänglich nicht viel Inter-
esse abgewinnen können, sie aber dadurch sdion sehr vieles versäumen.
„Zur Frage über die normale geistige Arbeit" von Dr
A. Netschajeff. ]^er Verfasser geht davon aus, dass die bish^rit^fn Unter,
suchungen über die normale Arbeitsdauer der Schüler alle an t'iiiein (.^lund-
fehlcr litten, da sie nämlich nur den Zustand der Schüler vor und nach
ihrer Arbeit ins Auge fassen, während die Arbeit selbst t>hre Quantität
und wirkliche Dauer) unerforscht bleibt. Da nun nach dieser Ricfatmig
hin noch keine Untersuchungen gemacht worden sind, so teilt er uns
die Ergebnisse scinnr Sell^stbeobachtungcn mit, bei denen sein Zweck -war,
die Beziehung zwischen den Schwankungen in der Dauer der täglichen
Arbeitszeit (Intensität der Arbeit) und der Schlaf- und Bewegungsdauer,
sowie das Verhältnis bestimmter Tage zu einer ganzen Arbeitsperiode zu er-
griinden. Bei diesen Untersuchungen galt ihm als Grenze der ^pnonnalen
Tagesarbeit" ein solcher Zustand der EnnSdiwg, der ein charakteristisdies
Gefühl der „Uebersättigung" mit sich führte; femer unterschied er jMch
zwei Arten von geistiger Arbeit, nämlich eine leichte und eine schwere
oder wissenschaftliche. Er erhielt .so folgende Resultate: für ihn "war die
durchschnittliche Dauer der geistigen Arbeit im Laufe eines gewöhnlichen
Werktages ungefähr 6Vi Stunde, wovon 47« Stunde auf schwere Arbeit
kamen; als die günstigsten Arbeitstage erwiesen sich Mittwoch und Don-
nerstag, als die schlechtesten Montag und Freitag; eine ähnliche Schwan»
kung ergab sich auch im Laufe einer ganzen Reihe «von Wochen, wenn
er die gesamte Zahl der Arbeitsstunden verschiedener Wochen verglich.
Ferner kommt er zu der Ueberzcugung, dass es einen Zusammenhang
zwischen der Quantität der Arbeitstunden einerseits imd der Schlaf- und
Bewegungsdauer andrerseits geben muss; so zeigt er uns die 'ipmittelbare
Abhängigkeit der geistigen Arbeit erstais von der Dauer des Schlafes
und zweitens von der Bewegung. Er kommt weiter nach ^Umgestaltung
seiner angegebenen Tabellen zu 3 ,, normalen" Reihen, in denen die ge-
samte geistige Arbeit konstant ist, aber die Dauer wissenschaftlicher Arbeit,
der Bewegung und des Schlafes variabel smd, und aus denen die Abhängig-
keit dieser Grössen von einander klar hervorgeht. In dieser Weke be«
rechnet er dann seine „normale Arbeitsdauer^', d. h. ^e, mit günstigster
Schlaf, und Bewegungsdauer verbundene und den vom Gefühl der „Ueber-
Sättigung" begleiteten Grad der Ermüdung ausschliesscndc, grösste Stun
dcnzahl geistiger Arbeit. Obwohl alle diese Beobachtungen durch seine
Indjvidualuäi beeuiflusst seien, so glaubt er doch für die Allgemeinheit
den Grundsatz ableiten zu können, dass einer produktiven Arbeit ein durch
aus bestimmtes Mass von Schlaf und Bewegung entspricht.
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415
„Ueber den gegenwärtigen Stand der Steilscbrif t-
bewegung". Dr. med. E. Lengsdorf in Darmstadt teilt uns einige
sehr interessante von Schulen und hörden des westlichen Deutschlands
über die Steilschrift er« fällte Urteile um. Die überwiejjonde Anzahl der-
selben lautet absprechend, nur wenige sind für die Einführung der Steil-
schrift, während einige die angefangenen Versuche fortführen wollen.
„l't^ber Schulstrafen" knüpft Direktor Emanuel Bayer-Wien
t inii^e Betrachtungen an die vers< liii d» ncn MinistcriaKerordnungen und die
Erlasse des nicderöstcrrcichischen Laiulsi luilr.itcs und des Bezirkssrhulratcs
der Stadt Wien an. Er spricht besonders über die körperliche Züchtigung
der Schüler, die schon seit 1870 auf den österreichischen Volks- und Bürger
schulen verboten ist, und wünscht lebhaft die Einrichtung von sogenannten
Disziplinarklassen für diejenigen ^ii^illosen Kinder, die noch kein mora*
üsrhes Delikt beganj^en haben, das ihre Ifnlcrbringunt^ in einer Besserungs-
anstalt bedingte. Er hofft auch, dass die Prügelstrafe bald aus dem l'^r-
ziehungswcrk des Elternhauses verschwinden wird, sobald nämlich den
Eltern ein grösseres Verständnis für die Aufgaben der Schule und für
ihre eigenen Pflichten gegenüber der Seele ihres Kindes betgebracht würde.
Dies glaubt er dadun Ii zu erreichen, dass man der wissenschaftlichen Pä-
dagogik, deren Grundlage Physiologie imd Psychologie ist, und der Srhul.
hygiene immer mehr Berücksichtigung in den weitesten Kreisen verschaffe.
Erismaan^ürich teilt luis die Gründung, die Entwicklung im ersten
Jahre und den Verlauf der ersten Versammlung des „Allgemeinen
deutschon \' er eins für S c h ulg e s u i ' Ii e i t s p f 1 e g e" in
Anrhen iK). 9. 1900) in einer Abhandlung mit. Kr gielit uns darin di«
Statuten des Vereins, wie sie die Versammlung annahm, die V orstauds-
wahlcn, und 2 Beschlüsse wieder. 1) Petition zur Abschaffung der Ab-
schlussprüfung in der Untersekunda, und 2) eine Kommission lur Vor.
berettung der Fragen über das Berechtigungswesen und über die Erleich-
terui^ der Abiturientenprüfung zu wählen.
„Psychologie in Bezug auf Pädagogik und Schul,
gesundheitspflege" von Dr. med. Gerhardi, prakt. Arst in
Lüdenscheid. In seinem in 3 Teile gegliederten Aufsatz bespricht er m
erst die Zusammensetzung des Gehirns und seine Arbeitsart. Da ^ber
nach einer physiologischen Regel das Blut in grösserer Menge durch die
Organe fliesst, die in besonderer Thätigkeit stehen, so z. B. in den Ver-
dauungsorganen nach den Hauptmahlzeiten, also demnach in dem Gehini
ein Blutmangel entstehen muss, so kommt er lU dem Schiusa, dass eine
geistige Arbeit cum pleno ventre eine ebenso erfolglose wie deshalb über*
flüssige Quälerei für Lehrer und Schüler sei Zweitens bespricht er di«
pf5yrhologischen Willensvorgängc und ihre Entstehung aus Moti\en, die
ihrerseits wieder eine ■ Verbindung von Vorstellungen und Gefühlen sind,
und leitet für die Schulgesundhcitspflege zwei Hauptforderungen ab: 1) darf
nidit atle% waa schebibar fehlerhaft ist, alt bBacr WiUe^ als Faulheiti ala
vermeidbares Verhalten angesehen werden» 8) soll eine Strafe» vielleicht
Zdlsduill Hr pUsfpgMie P^diolatte rnid FMbolaife. 6
416
lU ruhte und Besprechungen.
für die Anschauung des jugendlichen Schülers, aber niemals im Bcwusst-
seia des Lehrens als Vergeltung, sondern nur als Mittel zur Besserung
in Anwendung kommen. Drittens stdit er eine psychologische Betiachtung
über den alt^racUichen Unterricht an und weist gans energisch die Be^
hauptung zurück, dass die lateinische Sprache das beste und «in unersetz-
liches Mitte! zur Dressur des Verstandes sei. Der gesamte Inhalt der
elementaren Logik bilden Begriff, Urteil und Schluss; femer sagt er aber,
dass die Ucbung von Begriffsbildung viel nötiger als von Uneils- und
« Scfalussbildung sei, und dass dazu eine ausgedehnte Sach* und Begriffs-
kenntnia nötig sei. Er hofft, dass an Stdle des altspradilicben Unter-
richts in der beneidenswerten Schule der Zukunft die Anschauung als
Methode, und Naturwissenschaften und Muttersprache als Mittel zur Aus»
bildung des Geistes herrschen werden.
In ^em Aufsatz „lieber die Ursachen der Minder,
begabung von Schulkindern" teilt uns Dr. Schmid-Monard Er-
gebnisse von Untersuchungen und Beobachtungen in der Halleschen Hilfs-
schule mit. Diese Kinder sind nicht nur geistig, sondern meist auch körper-
lich minderwertig und mit chronischen Leiden behaftet, die hauptsächlich
folgende sind: 1) angeborene Mingd infolge Vererbong, S) durch ungünstige
soziale Verhältnisse und dadurch bedingte Krankheiten oder durch über«
standene Krankheiten erworbene Mängel, 3) drüsige Wucherungen im Nasen-
rachenräume. Die Ursachen können aber auch in den häuslichen V'er
hältnissen liegen, so zeigt er uns in einer Tabelle den Einfluss des mora-
lischen Zustandes der Eltern auf die Leistungen der Kinder.
Uebcr Schuleinrichtungen für Schwachbegabte
Kinder" sogenannte Hilfsschulen, wie sie jetzt schon fast in allen grösseren
Städten Deutschlands beständen, schreibt Rektor Grothe in Halle. Der-
artige Anstahen haben meistens 8^ 4 oder 6 aufzeigende Klassen, be-
deutend niedigere Ldmiele, weniger Lehrstundea und bestreben sich, den
Zö künden die unentbehrlichsten Kenntnisse und Fertigkeiten für das spilere
Leben beizubringen.
Aus einem Vortrage des Professors Dr. Meumann über die „Anfinge
und Ziele der experimentellen I'ädac:oj^ik" entnehmen wir
folgendes: Die experimentelle Pädagogik stellt nicht mehr den Lehrenden
sondern den Lernenden in den Mittelpimkt ihrer Untersuchungen, ihr Ziel
ist die Erforschung seiner geistigen Arbeitskraft, die Probleme ihres Studiums
sind die Masse der Arbeittfahigkeit und der Arbeitsdatier des Indlviduunia.
Auch in diesem Jahrgang wird die „S c h u 1 a r z t f r a g e" noch ein-
mal angeschnitten, so verlangt Dr. Bauer gerade entgegen der Meinung
dea Stadtarztes Dr. Knams die Einführung des Instituts der ScbuISnte
für Stuttgart unbedingt. In den Mädchenschulen Hessen sich ja, bei dem
heutigen Stande der Frauenemanzipation, bald weibliche Aente anstellen.
Hier wäre also auch kein Hinderungsgrund mehr.
Berlin. H. du Bois.
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417
Leop. Laquer, Nervenarzt in Frankfurt a. M. „Die H ilf «schttl en
für schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und
soziale R e d r u t u n g". Mit einem Geleitwort von Dr. med. Emil
Kraepelia, Professor der Psychiatrie in Heideiberg. Wiesbaden. Verlag
von J. F. Bergmann. 1901. 62 S.
Die Torliegende Schrift ist iiadk einem auf der XXV. Wanderver-
sammlung der südwestdeutschen Neurologen und Inenarzte zu Baden.
Baden am 27, Mai 1900 gehaltenen Vortrage verfasst. L., der die schul-
ärztliche Aufsicht über die städtische Hilfsschuir zu Frankfurt a. M. führt,
giebt zunächst eine kurze Schilderung der Lntwickelung und Organisation
der Unterrichts- Anstalten für Schwachsinnige und Schwachbefähigte und
bespricht dann eingehender die Frankfurter Hilfsschule^ ihre Anordnung,
ihre Zöglinge, die Unterricbtsweise, den Stundenplan u.s.w.
Uro der geistigen und körperlichen Verkümmerung der schwach-
sinnigen und schwachbefähigten Kinder entgegen zu arbeiten, um die Schulen
von dem „Bleigewicht der Unbegabten und Zurückbleibenden zu ent-
lasten", fordert er die Gründung von Hilfsschulen. Jede dieser Anstalten
ist unter sdiuISrstliche Aufsidit m stdlen. Nachdem der Verfasser seine
Ansiditen und Wünsche über die gemeinsanie Arbeit dw Lehrer und Schul>
ärste erörtert hat, befasst er sich mit der Thatsache des Zusammenhangs
der Minderbegabung und der körperlichen Gebrechen.
Im weiteren Verlauf der Schrift entrollt er cui Bild von dem Wesen,
der Unterricbtsweise, den Unterrichtsfächern der Idioten-Anstait zu Idstcm
und scUiesst daran einige Leitsätie über Organisation der Hillischulen;
er kommt su der Uebeneugung, dass die Anstaits-Eniefanng sdiwach-
sinniger Kinder dem Httfsschul-Unterrichte gegenüber den Vorteil hat, daas
sie die Beaufsichtigung und Beschäftigung der Kinder während des
ganzen Tages ermöglicht.
Zum Schluss fasst Laquer „die hauptsächlichsten ärztlichen und
•oiialen Genchtspunkte auf dem Gebiete des HilN«diulwea<»i% wddie audi
für weitere Kreise Bedeutung haben und deren Beachtung verdienen**,
in folgende SStte xusamrooi:
.1, Der angeborene oder früh erworbene Schwachsinn ist die Grund
1a L T vieler schweren, zumeist unheilbaren Nerven- und Geistesstörungen, sowie
schwer verbesserlicber Neigungen zum Verbrechen.
2. Die Einrichtung von Hilfsschulen für schwachbeflhigte Kinder der
Minderbemittdten ist notwendig sur frühen Erkennung der verscluedenen
Grade des Schwachsimis, zur richtigen Erstehung und Behandlung der
Schwachsinnigen imd zum Schutze derselben VOr stedichem Verfall und
vor Verarmung durch Erwerbsunfähigkeit
3. Die gegenwärtige Verfassung der mehrklassigen selbständigen Hilfs-
schulen ist im wesentlichen aufrecht zu erhalten; sie ist durch Hilfsklasse%
die an die Normalsdiule sich angliedern» nicht su eisetsen, aber durch
Anfügung von Internaten mit Speisung und Beschäftigung der Kinder jn
den Nachmittags-Stunden weiter auszubauen.
4. Das Zusammenwirken von Lehrern und Schulärzten ist notwendig,
um die Schwachsinnigen von den Normalbcfähigten schon in der Volks-
schule rechtzeitig zu sondern und nur die bildungsfähigen Imbecillen der
6*
DIgltized by Go -^v^i'-
418
Hilfsschule zuzuführen, auch die Bedeutung der körperlichen Verandemngen
für die Entu K kclung des Schwachsinns festzustellen.
5. Alle S( hwarlisinnigcn. welche die Klassenziele der Hilfssrhtilc nicht
erreichen, sind auszuschulen und den Idioten-Anstalten zu systemauschcm
Unterrichte lu fiberweisen. Alle Moralisch-Defekten, Epileptiker und die
mit schweren, unheilbaren Sinnesgebrechen Behafteten gehören in beson>
dere Anstalten.
0 Nur durch mehrjährige weitere Versorgung und Unterstützung der
aus (Ut Ililfssrhule entlassenen Zöglinge wird ihre Selbständigkeit und
Erwerbsfahigkeit im späteren Leben gewährleistet. — Stellen-Nachweis,
Zahlung von Lehr, oder PflegegeKlem sind durch private Wohlthätigkeit
oder öffentliche Mittel zu ermöglichen. Leichte Handwerke und ländliche
Arbeiten sind als berufliche Ziele ffir Schwachsinnige anzustreben.
7. Den Militär- und Justizbehörden sind genaue Berichte über die
Schulleistung und über das sittliche Verhalten der Hilfsschüler ztjgänglich
zu machen, damit bei Vergehungen p:r'gen das Gesetz ihre Unzurechnungs-
fähigkeit bewiesen oder wenigstens ihre Bestrafung gemildert werden könne.
Das Buch enthält für Geistliche und Lehrer, ffir Verwaltungs* und
Gerichtsbehörden mancherlei Belehrung. Es wird den Ant, der dem vom
Verfasser mit so grosser Sorgfalt behandelten Gebiete noch fernsteht. <a
cip:enen Beobachtungen anregen und verdient seines reichen und wertvoUea
Inhalts wegen weitgehende Beachtung.
Berlin. W. Eichler.
Andersens Märchen. Aus dem Dänischen ubersetst
von Pauline Klaiber. Mit 44 Vollbildern und 167 Ab-
bildungen im Text nach Zeichnungen von Professor
Hans T egener, Kopenhagen.
Ein zeitgeniässes Unternehmen ist diese Uebcrsetzung der Andersen-
schen Märchen. Das vortreffliche Werk wird sicherlich, wenn es am Weih-
nachtsabend in die Hand nnserer Kleinen gelangt, grosse Freude hervor,
rufen. Wohl sind die Ausgaben dieser unsterblichen Märchen sahlreicb
gcntip:^, doch werden «ie ron dem vorliegenden Werke QbertrofTen.
Was ihm einen ganz l)esnnderen Wert verleiht. d;is ist die kunstvoüe Ge-
staltung von Bild und Text. Denn kein Geringerer als Professor Tegener
aus Kopenhagen hat die Illwtrationen geliefert. Die henrUdien Gestalten,
die uns in dem Märchen vor Augen treten, werden durch den Stift des hervor,
ragenden Künstlers lebendig gemacht. Da können wir alle die trauten
Freunde, alle die gruseligen Gestalten, denen wir in den Dichtungen be-
ge^,^^cn, persönlich begrQssen. Die flüssige Uebcrsetzung ist klar und f.isslich, und
nirgends ein Wort, das uns an die Original^prache erinnert Deshalb kann das
Werk allen Ettem als Weilinachtsgeschenk wann empfohlen werden. Es kostet
komplett gebunden \t Marl^ auch wird es in 10 wöchentlichen Heften
versandt lum FMise von je einer Mark.
Berli.n. W. Krattse.
SchrifllcihinjT- F Kemsif s Rcrlin NXT , Piulstr. 33 und L.Hirschlaff. Berlin W., Lützo^tr. 85b,
Verlag von tlerin«nnWalther, Vcriagsbuchhandl., O. m. b H., Berlin SW., KonunawUiitaisu. 14.
Druck «QU WilbelB Vsfacr, Bcriia SV.» PHcAMNlr. l*.
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Heinrich Saeks, Die EiUmiekelting der Gekimphysiotogie *m A/A. Jahrhunilerl.
Hrläuteru Ilgen zu den Figuren.
PIg. 1
Phrmologiaeh« BOato.
1. G«tehl«ehtetrieb
19. Idealitit
2. Kinderliebe
? Unbeitimnit
3. Einheitslrieb
20. Witz
4. Anhänglichkeit
21. Nachahmung
5. Bek&mpfuagstrieb
22. (jegenstandssinn
6. Z«ntArttiig8lrieb
23. FoniMfiflian
+ NahruBsstrieb
24. GrSMeatinn
7. Verheimlichungstrieb
25. G^iebtwiiiii
8. Erwerbstfieb
26. Farbensinn
9. Bausinn
27. Ortssinn
10. Selbstachtung
28. Zahlensinn
IL BtHiUiliebe
29. Ordnungssinn
12. Voraicht
30. Tbataachensinn
13. Widerwille
31. Zwtaian
14. Ehrfurcht
32. Tonsinn
15. Festigkeit
'{3. Sprachsinn
Ib. Gewissen
34. Vergleichender Schürfsinn
17, Hoffnung
35. SchhiOiVermögen.
18. Wandeninn
Flg. 2.
Grosshirn, convexe (äussere) Fläche.
Pif* S.
GnMbini» innere und innere^untere Fliehe.
Barlchtlfvnf:
S. 267 <S. 13 des Sondenbdrucka) ZeUe 6 liea statt .5'' . . . „0*
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Jahrgang III. Berlin, Dezember 190K
Eigenartige sprachliche Entwickeiung
eines Kindes.
Von
€. Stampf.
In der Geschichte der Wissenschaft finden wir allenthalben
die Erscheinung, dass man die schweren und fernliegenden
Probleme vor den leichteren und naher liegenden in Angriff
genommen hat, weil sie eben die interessanteren sind und weil
man ihre Schwierigkeiten noch nicht kannte So hatte man
auch längst über den Ursprung der Sprache in der Urzeit
nachgesonnen und Hypothesen aufgebaut, ehe man daran
dachte, die Eutwickelung des Sprechens bei den Kindern zu
verfolgen. Aber hier und dort tauchten ähnliclic Detail trat,'cii
auf, und so mögen wir zuerst einen Rückblick auf <(e\visse
Wandlungen werfen, die jenes ältere und allgemeinere Problem
durch<4^euiaclit l.at.
In den Streitigkeiten über den vorgeschichtlichen Ursprung
der Sprache spielte eine Zeil lang der Begriff der Erfindung
eine Rolle. Tieferdenkende sagten sich aber, dass einer, um
Sprache /u erfinden, bereits eine geistii^'^e Stufe erreicht haben
müsste, die man nur mit Hilfe der Sprache orlangl.
Nun kam eine entgegengesetzte Anschauung auf. Die
Sprache , hiess es jetzt, sei ein Organismus , der nicht ge-
macht, sondern gewachsen S''i; gewachsen ohne Zullnin der
Einzelnen als solchen, aus der gemeinschaftlichen Menschen-
natur heraus. Sie sei nicht durch das Denken, sondern mit
dem Denken entstanden, als dessen äussere Erscheinung,
Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Paihologie. 1
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420
C, atump/.
Heute haben wir auch diese Vorstellungs- und Redeweise
verlassen. Wir haben eingesehen, dass man die Sprache nicht
personifizieren darf, dass sie einen Komplex von Aeussemngs-
formen darstellt, die den Einzelnen mit der Aussenwelt ver«
binden, neben denen es aber noch andere Äettsseningsformen
giebt, 7.. B. die Geberdeu, und wir haben eingesehen, dass man
auf die Gesetze der psych ophysischen Bewegungen überhaupt
zurückgehen muss, um den Ursprung und die Möglichkeit der
Sprache zu begreifen. Ganz besonders wird geg:en die frühere
Anschauung betont, dass die Sprache ursprünglich lediglich aus
dem Bedürfalis der Mitteilung, der gegenseitigen Verständigung
erwachsen sein kann. Für den jetzigen Menschen hat sie frei«
lieh ausser dieser Funktion noch die andere, dass sie auch sein
einsames Denken begleitet, unterstützt und dessen höhere
Leistungen sogar erst ermöglicht. Aber diese Funktion kann
nicht die ursprüngliche gewesen sein, sonst drehen wir uns im
Kreis oder fallen in nichtssagende Reden zurück. Das Be-
dürfnis hingegen, sich anderen verstandlich zu machen, wozu
die Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens von Anfang an
drängte, musste dahin führen, aus der Menge der natürlichen
Bewegungen nach und nach die zu diesem Ende brauchbarsten
herauszusondem. Die Lautäusserungen waren nur eben der*
jenige Teil dieser natürlichen Verständigungsmittel, der sich
besonders bequem und bildsam er%\nes.
Hierbei wird aber anfänglich sehr viel Individuelles
unterlauf und aus diesem wieder nur allmählig das Brauch-
barste von weiteren Kreisen att%eiiommen sein. Und jenes
Individuelle kann man, ohne damit in den verworfenen Be-
griff der Erfindung zurückzufallen, zugleich als ein Willkür-
liches insofern bezeichnen, als es sich eben um das Ergreifen
von allerlei noch nicht allgemein sanktionierten Verständigungs-
mitteln handelte, wie sie der Lauf der Vorstellungen oder äusse-
ren Anregungen gerade mit sich brachte, und als wohl auch
oft genug unter mehreren vorschwebenden Verstandigungs-
mitteln eine» ergriffen d. h. vorgezogen wurde Ob man dies
nun Willens- und Wahlliandlungen im eigentlichen Sinne zu
nennen hat, kann hier auf sich beruhen.
>) Besonders A. Marty bat diese ,rA.baichtlichkelt" der SpraohbUdimg
betont (Unpnmg der Spncihe 187S) und gegenüber den Vielen, die sie leugnen,
Terteidigt C^ierto^aluflaclirif«: fttr winenscheftL Philoeophie XIV, 8. SS f.)
uiLjiiizuü Dy Google
JSigmariig» sfiracMicke Entwiekdunf ti$i«$ Kindts, 421
Hypothetisch bleiben natürlich diese Theorien immer, da
es sich beim ersten Ursprung der Sprache um einen längst
abgelaufenen Prosess handelt Aber wir können die Hypothesen
wenigstens so formen, dass sie möglich und psychologisch
glaubwürdig werden.
Aehnliche Probleme bietet uns nun auch die Entstehung
des Sprechens beim Kinde. Dis Sache liegt zwar hier inso-
fern wesentlich anders, als dem Kinde schon eine Sprache über-
liefert wird. Auch wenn wir von absichtlichen Einwirkungen
der Erwachsenen, von aller Unterweisung absehen, liegt doch
die ungeheure Tragweite der mechanischen Nachahmungen,
durch welche die Ausdrücke und Wendungen der Umgebung
.auf das Kind übergehen, offen zu Tage; Dennoch war vid&cb
bis in die neueste Zeit auch hier von einer originellen Pro-
duktion, einer sprachschöpferischen Tbätigkeit die Rede, die
sich bald mehr, bald weniger offenbare, und es sind eine An-
zahl von Beobachtungen dafür beigebracht worden. Doch waren
die Beobachtungen grossenteils nicht beweisend oder man schied
nicht genauer, was sie beweisen konnten und was nicht Preyer^)
und neuerdings Wundt erklärten sich daher lebhaft gegen
solche Behauptungen. Sie vertreten die Thesis, dass kein
einziger Ausdruck sich mit Sicherheit als Neubildung des
Kindes erweisen lasse. Ja sie fassen die Sprachentwickelung
beim Kinde überhaupt nur als eine Akkommodation an die Um-
gebung in Verbindung mit anderen gleichfalls rein mecha-
nischen Vorgängen. „Die kindliche Sprache ist^S sagt Wundt,
„ein Erzeugnis der Umgebung des Kindes, an dem das Kind
selbst wesentlich nur passiv mitwirkt'^
Wenn man sich die Sache zunächst vom allgemeinen
Standpunkt aus überlegt, erkennt man leicht, dass von einer
1) Die Seele des Kindea, 1. Aufl. 1882, S. 333, 5. Anfl. 19Q0. a 357.
>) Völkefpeychologle I, 1 (I9U0) S. 296w
Die AnMcht, „das Kind erüade sich ä«ine Sprache selber, und von
frtihe an wende es diesem Zwecke sein ■ Aufmerksamkeit und Ueberlegung
zu", ist nach Wundt nicht blos weit verbreitet bei Mütt«rn nnd Amm^n,
sooderu wird „last auänahmslos von den pädagogischen Beobachteru der
K{iLd«rsprw»li0 und Ton Tielea Psychologe u geteilt** (du. 8. 273). Das
möchte ich dodi l>esweifeliu Aber Wnndt iet eben eaeh sonst dlmtsehr
geneigt, seinen FachgenoSNen einen naiven Glauben an Ammenmärchen unter-
zuechieben. Man findet sogleich ein weiteres Beispiel euf derselben Seite
seines Werkes.
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422
C atttmp/.
Ertiadung in den ersten Zeiten der kindlichen Entwickelung
gewiss nicht die Rede sein kann. Denn, wie man auch sonst
den Begriff der Erfindung begrenzen mag (die Herren vom
Patentamte wissen da von mancher Schwierigkeit zu reden):
jedenfalls gehört dazu die Allgemeinvorstellung eines Zweckes,
femer die Vorstellung von Mitteln zu diesem Zweck, endlich
eine vergleiche! kIp Abschätzimg der Nützlichkeit verschiedener
Mittel, die zu glcicliem Ziele führen, auf Grund gewisser, durch
Erfahrung und Reflexion erworbener Kenntnisse über den
kausalen Zusammenhang. Wo die letzteren fehlen, kann es
sich um ein Finden, aber nicht um ein Erfinden im eigent-
lichen Sinne handeln. Hierzu sind also intellektuelle Thätig-
keiten höheren Grades erforderlich und Willensthätigkeiten, die
mit solchen in engster Verbindung stehen. Bei Tieren pflegen
wir daher weder von Entdeckungen noch von Erfindungen
im engeren Sinne zu reden.
Bis nun die Verstandes- und Willensthätigkeiten in der
Entwickellinn; des menschlichen Kindes soweit durchgebildet
sind, dass man an Erfindungen im eigentlichen Sinne denken
könnte, ist sicherlich das hauptsächlichste Material der Sprache
bereits in den Besitz des Kindes gelangt. Und nachdem dies
der Fall ist, fällt ohnehin das Bedürfnis und die Nützlichkeit
solcher Erfindungen so ziemlich hinweg Darum wird man
auch hier eine solche These schon aus allgemeineren Gründen
nicht vertreten mögen.
Damit ist aber wiederum nicht ohne weiteres gesagt, dass
nicht auch hier ein Stadium individueller und selbst willkür-
licher Versuche vorausgehen kann, welche von einer mecha-
nischen Akkommodation, von reiner Passivität sehr weit entfernt
sind. Wenn man überhaupt den Menschen eine Maschine nennen
wollte, würde ich es eher für den Erwachsenen zugeben als für
das Kind, dem wenigstens der Zwang der Gewohnheiten noch
fremd ist Es bleibt denkbar^ dass in der in formung des
Gegebenen, in der Bevorzugung einzelner Ausdrücke gegenüber
anderen, in ihrer Verbindung zw zusammengesetzten Bezeich-
nungen und zu Sätzen die individuelle Willkür des Kindes
mehr oder weniger zu Tage tritt. Und es bleibt denkbar, dass
ein Kind sich aus dem Rohmaterial der seinem Ohr über-
lieferten Ausdrücke eine Sprache schaHti die sich von der der
J&rwachsenen immer mehr zu entfernen, statt ihr zu nahem
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EigenarUge sprachliche Enimckehtng emes Kmdes.
423
scheint Schon der Reiz des Spieles kann emzelne dazu ver-
fiihreii vSie spielen mit Atisdriicken und Wendungen wie mit
anderen Spielsachen, nnd das einmal «'ekostete Verjni (igen der
Produktion lockt, wenn die Produkte von der Umgebung-
einigermassen verstanden oder gar in Kurs <:^cnoiTiincn werden,
zu weiteren Versuchen. Aber auch das ernsthatte Bestreben
der Verdeutlichung ihrer Vorstellungen und Absichten vermag
Kinder im zweiten und dritten Lebensjahre sehr wohl auf ori-
ginelle Versuche zn führen, die dem iirwachsenen statt der ge-
wünschten Aufklärung vielmehr zunächst Rätsel aufgeben.
Aehnlich wie einer, der im fremden Lande eine fremde Sprache
radebricht, zuweilen in der Not Ausdrücke erfindet, wie sie im
Moment durch eine Analogie, eine Onomatopöie oder einen
ganz zufälligen Umstand ein i^^egeben werden, die aber unreiner
verständnislosen Verwunderung der Augeredeten begegnen.
Während nun in solchem Falle der erwachsene Spraclikünstler
nur zu bald von der Unbrauchbarkeit seiner Wortbildung über-
zeugt wird und sich seiner Unkenntnis schämt, kann das Kind,
dem bei der Einfachheit seiner Ideen und dem Eutgegen-
kominen der Erwachsenen ein Versuch gelang und dem Em-
pfindungen der Beschämung' heim Misslingen fremd sind, sich
zu weiteren Versuclir n trü ben fühlen, auch wo kein Notfall
mehr vorliegt, und mit einer gewissen Hartnäckigkeit seine
( )riginalschöpfuugen längere Zeit fcst!i:ilten ln!-alern kann
man auf Grund allgemeiner Erwägun,L;rn dir Möglichkeit
nicht leugnen, dass in gewissem Umfauge, je nach den
Individuen bald mehr bald weniger, absichtliche Sprach-
formatiouen auch in der Kindheit des Einzelneu sich vorfinden
köuueu.
Wenn man den Begriff der Erfindung nicht gerade in
dem erwähnten eiprentlichsten Sinne, scmdern in einer mehr
übertragenen Bedeutung nimmt, so wild man mit Rücksicht
auf solche sehr wohl denkbare Vorkommnisse auch ruhig von
Erfindungen in der Kindersprache reden dürfen.
Besser als allgemeine Erwägungen sind nun aber Be-
obachtungen. Sie lehren erst die Grenze und die Richtung
kennen, in denen sich die Produktion in Wirklichkeit bewegt.
Und so will ich einen von mir beobachteten Fall nach den
seinerzeit gemachten Notizen hier beschreiben. Die voraus-
geschickten Bemerkungen sollten nur dienen, die theoretischen
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424
C. atump/.
Gesichtspinikte und Be7ichungeii anzudeuten, in welchen
solche Eiuzelbeobachtungen etwa wissenschaftliches Iiilrie-.se
beanspruchen können. Wenn gelegentlich auch einiges ein-
geflochten wird, was in dieser Hinsicht nicht absolut nötig
erscheint, so bitte ich zu berücksichtigen, dass bei Beob-
achtungen aus dem Kinderleben lieber etwas zu viel als zu
wenig gesagt werden niuss, weil es darauf ankommt, nicht
blosse Einzelheiten aneinanderzureihen, sondern auch in 'ge-
wissem Grade das Gesamtbild eines kiudlichea Individuums
durchscheinen 2u lassen.
Mein am 3. Februar 1885 in Halle a. S. geborener Sohn
Felix zeigte, in allem Uebrigen ganz normal, eine langsame und
wunderliche Sprachentwickelung, sodass gute Freunde, als er drei
Jahre alt geworden war, um seine Intelligenz besorgt wurden.
Wir Eltern teilten diese Besorgnis nicht, da wir sowohl ans
anderen Anzeichen als auch ans dem Gebrauch der ihm eigen-
tümlichen und uns verstandlich gewordenen Sprachformen seine
geistige Entwickelnngsstnfe kannten. In der That bequemte er
sich in seinem vierten Jahre plötzlich der aUgemeinen Sprache der
Umgebung an, und es ist später, noch jetzt in seinem 17. Jahre,
nur etwa ein langsames und öfters stockendes Sprechen beim
Erzählen einer längeren Geschichte als bemerkenswerter Zug
zurückgeblieben.
Ich will noch hinzufügen, dass sein um vier Jahre älterer
Bruder gerade in sprachlicher Hinsicht sich rasch entwickelt
hatte und kindliche, vom Sprachgebrauch der Erwachsenen
abweichende Ausdrücke nur in verschwindendem Masse ge-
braucht hatte, sodass man fast sagen könnte, er habe von vorn-
herein, was er sprach, nur hochdeutsch gesprochen. Ferner
will ich nicht unterlassen, im voraus zu bemerken, dass wir
Erwachsenen uns keineswegs prinzipiell Felix* Sprache an-
bequemten und ihn darin bestärkten, vielmehr häufig genug
ihn auf die richtige Ausdrucksweise zu bringen suchten, wenn
wir auch natürlich in vereinzelten Fällen seine Ausdrücke uns
aneigneten. Über mich selbst und meine Frau ist mir in-
bezug auf Sprachentwickelung nichts Besonderes bekannt
Einer meiner Brüder hat aber das Sprechen gleichfalls sehr
langsam erlernt Femer war einem Bruder mdner Frau bis
ins Alter hinein jene obenerwähnte stockende Vortragsweise
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Eigaiartige tpraekUcke Entunek^nmg einei Kmäes.
425
eigen. Von den Grosseltera beiderseits ist nichts Aehnliches
überliefert
Ich berichte nun genau nach dem Tagebuch.
In der zweiten Oktoberwoche» also 8 Monate nach der
Geburt, wiederholte Felix die ihm von dem alteren Bruder vor-
gesprochenen Silben „wa, wa, wa, wa*'. Dieses Spiel dauerte
lange, da sie beide grosses Gefallen daran hatten^ und sie übten
es mehrere Tage lang gelegentlich.
Am 15. Oktober sprach er deutlich „püpa, mama" nach,
als ihm jedes dieser Worte öfters vorgesagt wurde. Von ihrer
Bedeutung hatte er natürlich keine Ahnung, und es zeigte sich
bald — 27. November - , dass er sie in einer geringen Um-
formung: npap^t map^" zur Bezeichnung für Bssen anwandte^).
Eine Zeit lang, im folgenden Frühjahr, schien er überhaupt
jede Annehmlichkeit damit zu bezeichnen, insbesondere auch
die Freude, wenn er irgend einen von 4cr Familie erblickte.
Aber spater wurde der Ausdruck pap-^ durchaus nur tech-
nischer Terminus für Essen. Dies entspricht auch den Wahr-
nehmungen bei anderen Kindern und scheint mit der Mund-
bewegung beim Essen zusammenzuhängen; das Wort kann also
als eine Art natürliches d. h. durch sich selbst verstandliches
Sprachzeichen betrachtet werden.^
Am 30. Januar 1886 trat noch ein Zeichen für Wohlgefallen
hinzu, welches länger mit Regelmässigkeit gebraucht wurde:
die Silbe „kn'\ • Im Mai desselben Jahres bediente er sich zu
demselben Zweck auch der Reduplikation: „g^^-ga".
Für die Vögel im Käfig hatte er eine besondere Begrüss-
ung: „/la'*, mit einer von der Höhe zur Tiefe absteigenden Be>
tonung.
Für die Abwesenheit eines Dinges oder Menschen kam
jetzt die Silbe fn auf.
Am 31. Juni 1886 bildete er zum ersten Mal einen Satz
ans seinem geringen Wortschatze. Er legte ein Stück Weiss-
brod in einen Topf und sagte: »,papn in", d. h. das Brod ist
1) Dies war alao die mte sinnvolle Anwendung artikalierter Lente.
Player erwähnt eine BoJche ena dem 11. Monet (Se^ dM Kindes 5. A.
S. 307), Wnndt sine ans dem 12. Monat (a. a. O. S. 272).
^ Vgl. die Bemerkungen zum Menschenfressergesang der Bellaoala-
Indianer und ihn ii Ausdrücken ham^ hemej, harnet* in der Viertey.-SGhr. I.
Musikwissenschaft IL (1886) S. 419.
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426
6'. Stumpf.
weg.*) Bei tn machte er zuj^fleicli eine HaiidbewegTiug, die er
sich für die Abwesenheit eines crwünschteu Dimkes mit längerer
Zeit angewöhnt liatte, indem er die Hand mit der Innenfläche
nach oben hielt-). Daranf nahm er den l>eckel vom Topf und
rief mit freudigster Miene: ,,ußrgah/" (= eccel), eine jetzt einge-
tretene Umformung jenes ,,ga", das wir bereits kennen.
Am 10. XI. eignete er sich das Wort ,,fsch** für
Fleisch oder Fisch an (wir waren im Seebade Binz), setzte es aber
bald wieder ausser Gebrauch. Viel später taucht es von
neuem auf (s. u.>.
Im Uklübcr (Ib, Monat) gelang es ihm, „papa, jnama"
nicht blos völlig deutlich, sondern auch mit dem Bewnsstseu:
ihrer Bedeutung herauszubringen. Er rief uns mit diesen
Namen, und zwar indem er von der ersten zur zweiten Silbe
in der kleinen Terz herabstieg. Vorher hatte er trotz unserer
Bemühungen „mama'' nur in der Form „nume" herausgebracht,
„papa*' aber überhaupt nicht (ansgeuommen die obenerwähnten
• Fälle ganz zu Anfang des Spreciieus)
Im November mehrte sich endlich sein Wortschatz; und
nun traten zugleich Bezeichnungen auf, dereu Herkunft nicht
immer deutlich war.
,,11^" bedeutete h^eisch.
„uiui" \oiui, üinh bedeutete seineu Bruder Rudi.
Bei der Aussprache dieser Silben wurde die Oberlippe
ganz über die untere gezogen, die Zunge nach vorn gelegt
tmd das u oder o dumpf, kon.sonantenartig gesprochen. Das
Wort wurde auch zu „ululul'' erweitert. Es findet sich übrigens
in verwandten Formen bei Kindern häufig zum Ausdruck ganz
verschiedener Bedeutungen und gehört offenbar wie Pap und
hap zu denen, die sich den unbeholfenen Sprachorganen be-
ßonders bequem darbieten').
*) ^ofer konstetterte du «rste ge8procIi«ne UrMl, dM abar nur in
flIiMnL "Wort auagedrttekt wurde, im 23. IConatk di6 Vereltiigoiiff mretor
Wörter zn einem Satz noch etwM später S. 32 J, 325). Eigentlich handelt
sich 's aber im ]pt7.ttM(-n Fall am zwei durch je ein Wort auSG^pdrücktR Sätze:
haim mtmi = helmi^geheji ^lilch( trinken), femer vergi, Sigmund bei Preyer
S. 345, Strümpell daselbbt S. 348.
>) Oam dleeelbe Geberde pflegte oacli AnaMge meinmr JPreo der mlltter»
liehe Oroasvater anter Ihnlicben ümetM&den uunwaadea.
s) Vgl. auch Marty Viertelj.-Sch. f. wiaa. FhiL VIEL & 467 Aber ein-
aohUglge Beobaobtnngen Steinthal'a»
Digitized by
Eigm«rtige sprachlieh* Entmckelung dn*s Kindes.
427
,,rah" =ss liurrah, und natürlich daraus entstanden. Zuerst
beim Anblick und beim Schwingen der Fahne, dann bei jedem
erfreulichen Anblick angewendet.
„kurrdk", s])äter „kraJi"' » Soldaten.
,,ajä'% ein Jnbelausdruck, der auch wohl öfters hinter-
einander wiederholt wurde. Besonders und mit grosser Regel-
mässigkeit gebraucht, wenn ein neues Gericht beim Essen auf-
getragen wurde, auch wenn Felix nichts davuii bekam.
Dazu dir iniliLren Ausdrücke, zumal für die Ab-
wesenheit eines Ümges oder Menschen.
Tn dieser Zeit war Felix ausserordentlich lebhaft und
possierlich, fing aber auch schon an. mit seinem geringen
Sprachschatz zu ~ lügen So zeigte er mit Vorliebe auf einen
Riss im Papier des Bilderbuches und sagte auf die Frage, ob er
es gethan: „na, uluiut' oder auch „na, papa'* — mir ins Gesicht.
Im Januar 1887 (23. Monat) traten hinzu:
„tap", wenn dne Flasche geöffnet wurde.
„kap'% wenn er etwas „kaput" machte oder auseinandernahm.
^krapap" und ,Japap*', Ausdrücke für Komisches; der
erste zum ersten Mal für das Kasperle im Marionettentheater
und vielleicht aus diesem Namen gebildet.
Das Spradi Verständnis, das schon gegen Ende des
ersten Jahres bemerkenswert vorgeschritten war, hatte sich mit
Beginn des dritten Jahres so vervollkommnet, dass Felix das
meiste, was wir m ihm zn sprechen Veranlassung hatten, ver-
stehen konnte.
Pur Farbenbezeichnungen hatte er jedoch noch kein
Verständnis.
Im März und April 1887 gebrauchte er vorübergehend
„ick" für sich selbst. Dafür trat aber bald noch ein anderer
viel häufiger gebrauchter Ausdruck ein, den wir sogleich
erwähnen.
Im Sommer dieses 3. Jahres hcisst „aja** (s. o.) allgemein
soviel wie angenehm, lieb, gut. Der Accent liegt aber von
nun an auf der ersten Silbe. Auch wird es später aspiriert:
kaja. Der Gegensatz dazu ist „ä'\ jedenfalls ein Nachahmungs>
Produkt, welches von da an eine grosse Rolle spielt
Femer tritt nun eine bleibende Benennunsr für ihn selbst
auf: fxJob*\ auch ausführlicher „job-tobbelob'\ Wenn Felix von
Fremden nach seinem Namen gefragt wurde, war dies die
428
C. S/um//.
stäudicfe Antwort. Ein christlich denkender Mann wandte sich
nach wiederholten Versuchen dieser Art mit g;elindem Entsetzen
an uns: „Wie heisst das Kind?'' Wir konnten ihm aber itl)er
den Kalenderhciligcn Job-tobbelob aucli kerne Auskunft g-ebei.,
Der Ursprung des Ausdruckes ist dunkel. Ich könnte mir mir
die eine Möorlichkeit denken: l'\lix, sonst kerngesund, litt an
Ausschlägen, und es konnte Jemand liin gelegentlich als Hiob
angeredet haben. Aber dies ist eine blosse Hypothese.
Eine bewusste Gegenüberstellung" von Affirmation und
Negation gebrauchte er in diesem Sommer (das Datum ist hier
nicht genau notiert). Es war eine beliebte Neckerei^ ihm zti
sagen: „Du bist Papa sein Junge". Antwort: „näh". „Bist du
Mama ihr Junget' Antwort: nebst Kopfnicken). „Nein, du
bist Papa und Mama ihr Junge". Antwort: ,ypapa näh, mamam".
Im September 1887 war der Sprachschatz noch immer
nicht erheblich grosser, aber mit den paar Wörtern und Silben
wurden viele Sätze gebildet Z. B
„ijk olul ei hapn" ^ ich und Rudi essen ein EL
„iüt ä hapn näk" = dieses garstige Gericht mag ich
nicht (auf die Suppe weisend).
^äa aja hapn ja'* _ dieses gute Essen mag ich (auf
Fleisch und Gemüse weisend).
„papa . $chUch hapn tn näh" ^
(Papa) (Fleisch) (gegessen) (weg) (nicht) ^
Fleisdb nicht aufgegessen (weggegessen).
Die einzelnen Ausdrücke sind die früheren oder leichte
Umformungen derselben. Aber die Zusammenfugung ist neu
und zuweilen eigentümlich; so werden im letzten Fall die
beiden wichtigsten Gegenstandsausdrücke voran, die Verneinung
nach Art unserer gerichtlichen Urteilssprüche an den Schlnss
gestellt happn in ist hier als ein zusammengesetzter Ausdruck
zu verstehen. Die Interpretation solcher Satze war für die
Umgebung vollkommen eindeutig, zumal sie auch durch (testen
unterstützt wurde.
Im Winter 1887/8 und im Frühjahr 1888, also beim Übergang
vom dritten in's vierte Jahr, mehrten sich die, immer noch
meistens einsilbigen, Wörter bedeutend. Ihre Entstehung- war
grösstenteils leicht erklärlich, interessant nur wieder die
Zusammenfügungeu , die vorgenommen wurden, teils um
zusammengesetzte Begriffe anzudeuten, teils um ganze Ge-
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htgenarttge sprachliche: Entwickdung eirus KimiCi.
429
schichten zu erzählen. So erklärte Felix mir einmal sein
ganzes Bilderbuch in einer Weise, die mich an g-ewisse Theorien
vom Sprach Ursprung erinnerte, wonach bestimmte Gesichts-
bilder 7A\ bestimmten Ausdrücken reflexartig hinkiten sollten.
Solche Theorien sind offenbar falsch und unpsychologisch;
aber vielleicht hat zu ihrer Ent.stchnnj^ die Wahruehmuni;
beigetraj^en, wie Kinder durch das Sehen ihrer Bilderbnclicr zu
Spraclibildmiyen angeregt werden'). Es sind nur eben nicht
neue Atisdrücke, die sie finden, sondern neue Zusammen-
setzungen bereits vorhandener.
Hier ein Verzeichnis der wesentlichsten Ausdrücke und
Zusammensetzungen aus jener Zeit, sowie einer Anzahl daraus
gebildeter Sätze:
1) Einfache Ausdrucke.
nkn » OnkeL
taia mn Tante
dock I. Z^eback.
tu/ = Stuhl
Jkuf SS Kutscher.
top = Scheere, Zange. Ursprung nicht ganz deutlich.
Doch wohl aus der früheren Anwendung desselben Wortes
(s. b.) abzuleiten.
Aamdi/ (das / blos angedeutet) ^ Hammer (Hammer
und N&gd waren seine besten Freunde).
me = Messer.
bumhum, später buch ^ Buch.
Hek . Brief.
ßsch (das i fast verschluckt) = Fisch.
ape/ak = Heidelbeeren (hier ist vielleicht eine Metathesis
beteiligt).
prulUch = Milch*).
>) Hierzu v^. andi H. 6hitoii«&ii, Bm Kindes Spimohe nnd Sprach^
fehler, S. '>2f.
Ich hatte in einer schwachen i?tiuide, von Felix' Sprachverdreh uiigen
angesteckt, statt MUch Molch gesagt. Das belustigte ihn derart, doss er
weitere VariattoiMii Termidito: mnUA, prultüki and bei dteeer letsten Fom
blieb er fortan atehen. Man aieht hieran wohl das HanptmotlT der Wnnderlich-
keit«n seiner Sprache: das Gefallen an NeabÜdmigen als aolchen. Nur die
lieharrlichkeit kann Wunder nehmen, mit der sie festiBehalten Wurden, nach*
dem «ie längst auigehört hatten, neu zu sein.
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430
6". Stumpf.
mipi zunächst » Katze, später = Braten^).
hu Hund.
hoto = Pferd.
kjob = Schnee. Ursprung unbekannt
IUI =c Züg^el.
dach ~ Hans.
km Kugel, kreisrundes. Vielleiclit von Kuller", wie
man iu Halle a. S. die kleinen, glä.serneu Spielkugeln nannte,
.^uch die Säulen im Baukasten liiessen anfänglich kru^ wegen ihre^
Kundung; sonst aber nur immer das Kreis- oder Kugelförmige.
tu ff =c Ci gar reu.
schsch s=r Eisenbahn (Ononiatopöie, wie das vorige).
bii mm bitte, auch .-^ danke.
pü (kaum von dü unterschieden) — zuspitJieu,
opa, hopa, npa = aufheben, aufnehmen.
wapa = herunterfallen, unrAL-rten.
täl, später lal » eingeschlossen, zugeschlossen, ein- oder
zuschliessen^).
u gross.
m (niüuilhert), sj)äter = und.
nggäh, auch näh =^ nein.
Ja t= ja, sehr häufig aber auch ^ auch, ebenfalls. Z. B.
,Jrh ja" = ich will a\ich etwas haben. Erst ganz arn Schluss
dieser Sprachperiode (April 1888) sagt erj »t^^ auch".
weich r= weiss.
ä ^ schwarz; zugleich hassHch, böse. In diesem Fall
ist aber der Gegensatz oder haja-, verstärkt: haja-baja gegen-
über ä-bä.
Die beiden Helligkeitsuisdrücke weich und ä werden
übrigens von Felix auch bei Farben und zwar stets in rela-
tivem Sinne verwendet; s. u.
I) Anoh an dieser Übertragung war ich sdrald, Indem ich einen auf»
getragenen Hasenbraten mit einem alten Wits als Katze (mipi) bewichnet
hatte. Das gab Felix Anlass, sich den Auadrnck lür jeden Braten an-
zueignen, anfangs wohl noch mit dem Gefühl, eioeu Witz zu machen,
später uhne dautseibe.
•) Nach einer Vermutung meiner Frati könnte das Wort von „heil*'
stanunen, indem oft, wenn etwas zerrissen oder wenn Zerrissenes repariwt
wurde, in den Reden der Erwachsenen dieses Wort Torkam, Es kOnnta
aber auch etwa von „Sclmle" kommen (Nnaasehalen etc.). Einmal wandte
Felix dm Aosdrock in der That bei siner Cttronensdiale an.
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Eigenartige sprachliche EtUwicäelumg eines Kindes.
431
Eigentünilicli ist die Vorliebe für Umkehnmo^ gewisser
allittcrierender Silbenpaare; z. B. tak-tik statt tik-tak für die
Uhr. Wenn es ihm korrigiert wurde, antwortete er beharrlich:
näh, tak-tik.
Ebenso: statt beim SchieBsen. Dabei
blieb er aiisuahmslos, so oft er es auch umgekehrt hörte.
Ebenso: tap-tip = Treppe, statt iip-tap, wie wir änderet!
gelegentlich der Kiudersprache gemäss sagten^).
Bigennamen:
nam-nam = Marie, das Stubenmädchen.
he-am-nam-nam, später verkürzt in Ae =^ Luise, die Köchin.
0/0/ (s. o.) = Rudi.
üide = Leo (Hausgenosse).
du = Clara (Fräulein); wahrscheinlich nach dem Pro-
nomen Du, welches zwar nicht von ims, aber von Rudi j^e-
braucht wurde. Einige Zeit hiess sie auch /aka (Metathesis).
ick a_ ich, mir, mein etc. Später dafür auch /iki, wie er
von den Erwachsenen meist genannt wurde.
Zahlwörter:
/0 » unbestiininte Mehrheit (wie das englische some).
Wahrscheinlich aus „Paar" herzuleiten.
krei (das r sehr scharf) wm mehrere. Jedenfalls ans „drei".
pa und krei werden auch als Gegensatz zu einander
gebraucht, dann ist » zwei.
Für „sehr viele" gebrauchte er gelegentlich schiebe, ölf,
töif (das y sehr weich), etwas spater auch aek, noi, nach den
Zahlenausdrücken, die er bei Rudi*s Rechenfibungen vernommen.
Besonders ach tritt immermehr in den Vordergrund.
nocke noch ein (dialektisch). Sehr beliebter Ausdruck,
zumal für die nächste Tasse Milch fnoche prullich/J,
2) Zusammeusetzuugeu.
Hierin verfuhr Felix sehr selbständig. Keine von den
folgenden Zusammensetzungen ist ihm durch Erwachsene vor-
Es fiel mir zu gleicher Z^it an f. dass Felix BiHprhticher ebenso
gern von oben herunter betrachtete und die bezüglichen Figuren erkliirte,
als wenn sie sich in der aufrechten Lage befanden; ein Zug, der bei Kindern
ja fiWhanpt stell ftndet und «nfEidlend genug ist. Ob er mit der obigen
SpimehTeidrehimg eine gemeinsame WotmI hat, mnw dahingoetellt bleiben.
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432
C. Stumpf.
j^-esprocben , sie sind eigene Krfindiing, wenn wir einmal so
saL^eu wollen. Zusammen Fügungen bekannter einfacher Aus-
drucke nahm er natürlich in der Sprache der T^mcjcbnng wahr,
und es mochten vielleicht solche mit „Mann'' und mit ..machen",
die er besonders ausnützte, etwas häufiger darin vorkommen
als andere; aber die Art und der Umfang, in welchem er dieses
Aiisdrurksnnttei verwertete, ging weit über das hinaus, was er
von Anderen liciren konnte.
wausch-kap =r Messer (Fleisch-kapiit).
wausch-kopa = Gabel i Fleisch-aufnehtnen).
ei'hopa = Thee- (Eier-) Löffel,
hoto-loh — Postwagen (Pferde-laufen).
Das Teilwort ioh — laufen wurde selten oder gamicht
für sich gebraucht; weshalb mir erst später die Erklärung
für die schon 9 Monate lang gebrauchte Zusammensetzung auf-
ging. (s. u.)
kotihpapn ^ Milchwagen (Pferde-essen).
a-^g'i = Schreiben (a und i). Die drei Silben werden mit
nur minimalen Pausen aneinandergereiht; a, i stehen für die
Buchstaben überhaupt, von denen er während Rudis Schreiben-
lernen gehört hatte
pap-tube = Speisezimmer.
hu-tube mm Schlafzimmer.
a-i'tube ^ mein Studierzimmer, wo er auch selbst seine
Briefe schreibt.
lal-bich = Briefumschlag. Dagegen:
bich-lal, auch hicli-muff = Briefmarke. Der Bedeutungs-
nnterschied zwischen lal-bich und bich-lal wird durchaus in
dieser Weise festgehalten. \'i»'lleicht ist die Meinung diese:
Umschlag für den Brief — Brief (zweiter Ordnung) für den Um-
schlag. Jedenfalls ist es ein interessantes Beispiel für die Ver-
wendung der Wortstellung in Zusammensetzungen,
aua-lal (den Brief) zukleben, aua hier uulirscheinlich
RcTiiiniscenz, nachdem ihm bei einer Verwundung ein Pflaster
aufgeklebt worden war.
koko'dach = der Kaufladen unter seinen Spielsachen
(Chokoladen-Haus).
ich-koko-äach mein Kaufladen.
koko'fman = Kaufmann.
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Eigenartige sfmMühe Untwickeluug eines Kindes^
433
koko-tata Tm die Chokoiadentante (den Grund kann man
sich denken.)
bock -man = Würfel in Rudi's Baukasten. Auch für
würfelförmige Zuckerstücke, die sich zuweilen unter den ge>
wohnlichen in der Dose fanden. Später auch für die Säulen
im Baukasten. Beliebtes Wort, dessen Ursprung aber nicht deutlich •
guck-man = Zuschauer, hap-man^ pap-man = der Essende.
buek-man = der Lesende, bich-man ~ Briefträger.
sck-sch Bisenbahn, allgemeiner Maschine.
pitsch-sch = Spitzmaschine, das Reibeisen, womit Rudi
seinen Schieferstift spitzt Die Uebertragung hier dadurch be-
günstigt, dass das Instrument eine eiserne Rinne darstellt,
worin der Stift hin und her gewetzt wird.
u-kru (grosses Rundes) das Windrad auf der Anhöhe
am Saaleufer.
ack-kru (Vieles Runde) = Erbsengemüse. Nicht in den
regelmässigen Wortschatz übergegangen, wie die vorherigen
Zusammensetzungen.
ack-pit (Vieles Spitzige) = die spitzen Bausteine.
Auch einen Eigennamen bildete Felix durch Zusammen-
setzung. Sein mit Rudi etwa gleichaltriger Vetter Herman
Scherer aus Berlin war auf einige Stunden zu Besuch dagewesen.
Er nannte ihn tap-olol {tap = Scheere, also Schceren-Rudi) und
schrieb noch Wochen lang bich über bich au iap-oloL
3) Sätze.
Haben wir schon in den Wortzusammensetzungen einen
gewissen originellen Zug bemerkt, so gilt dies noch mehr von
den Satzbildungen. Felix zeigt sich hierin öfters von der
Wortstellung in den entsprechenden Sätzen Erwachsener sehr
unabhängig und überhaupt sorglos. Bs scheint ihm nur darauf
anzukommen, dass die zum Ausdruck seines Gedankens erfordere
liehen Worte seines Lexikons voll/ählig in dem Satz vorkommen.
Dies ist aber auch stets der Fall, mögen sie noch so bunt durch-
einandergewürfelt sein. Man wird mit Hülfe der vorangeschickten
Wortbedeutungen die nachfolgenden Sätze verstehen und das
Gesagte daran erproben können.
ick olol hoto wapa 8 Rudi hat mein Pferd umgeworfen.
^»Mein'« fkh) und „Pferd" (koto) werden durch ^Rudi*' (ohl)
getrennt.
j y Google
434
uütJ wapa^ uIhI upa = Rudi hat es hingeworfen, Rudi
soll es auflieben. Ein sehr beliebtes Diktum und in ent-
sprechendem Tone vorgebracht.
oM pa näk, ick pa ja - Rudi bekommt nichts, ich be-
komme etwas (wenn Süssigkeiten aufgetragen wurden), pa
das obige unbestimmte Zahlwort^)«
papa blich ff um Papa liest.
papa baid hap-man ^ Papa wird bald essen. Erster Ver-
such zum Ausdruck des Zukünftigen.
papa gttck-ffian, ick oiol du kap-fnan = Papa sieht zu,
ich, Rudi und Fräulein essen (als ich mit der Suppe bereits
fertig war).
ich guck'man nggäk^ ich hap-man mm ich sehe nicht zu,
sondern esse.
lik Hggäh, likif Lik heisse ich nicht, sondern Liki. Er
war doch sehr auf die vollständige Wiedergabe seines Namens
erpicht, was der Bruder zu Neckereien benützte. Auch der
alte Name Job schien ihm nicht mehr würdig:
Job weg, liki da.
oM Job & — rmdi liki kaja = Olol und Job sind schlechte
(Namen), Rudi und Liki schöne.
ntdi pa milck, iek krei milek = Rudi hat zwei Tassen
Milch getrunken, ich mehr.
ick a-ng-i mack «. ich schreibe.
papa a^ng-i bick = Papa schreibt Briefe.
a kapH m butta ^ Schwarzbrod und (mit) Butter.
nggäk weick kapn, ä kapn kaJa » Kein Weissbrod!
Schwarzbrod ist gut (besser).
Ohl haja u kru wapa « Rudis schöne grosse Kugel ist
umgefallen. Er verstand hier unter kru die Rechenmaschine,
wegen der darin befindlichen Kugeln. So wanderte dieser Auf-
druck auf einen neuen Gegenstand hinüber.
') Damit "Moralisten nirlit ob frühreifer B^-islteit die S-'tirne ranzchi.
will ich bemerken, clas»« Fulix sehr ;^utmüt«g w&r, sich aber va Neoker-neu
gefieL Wenn er sich einen Pudding (so nannten wir Seiuiuel uäi Milch
vermiaeht) zoreclitgieiiWGht hatte und nun die Tante Za^er darauf tfcraiiBn
Bollta, hieBS es Immer: tote a^! sobald er aber den Zocker hatte: tete §f
Die abwesende Tante nimmt er dagegen in Schutz. Als meine Frau bei
Tisch üht r Olli aiifi^^etrag'enes TTuhn au^sserte: ..scheint eine alt«' TaTite-%
h >rte Felix eine Invektive heraas und entgegnete mit Nachdruck: nik,
lata aja.
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EigmafÜge spraddiAe E$Uandidimg Htu* Kbtdes,
435
ke da krei tück koko pruiHch wapa = Luise (hat) da
mehtere Stücke Zucker (in die) Milch geworfen. Hier hat er
sich einmal genau an unsere Wortstellung angeschlossen.
tia kjob hoto krei loch ich du mach ^ Dort (im) Schnee
haben ich und Fräulein ein Pferd mit mehreren Lochern
gemacht Sie hatten die Figur eines Pferdes in den Schnee
eingegraben.
hafa tata haja nkn ich da apap^ u apap, kti apap =
Die liebe Tante, der liebe Onkel (haben) mir da einen Apfel
(gegeben), einen grossen Apfel, einen eingewickelten Apfel.
Er war in rotes Papier eingewickelt
d fcrah ä 6u, weich krah haja hu Die schwarzen
Soldaten in die schlechte Schachtel » Bett), die weissen
Soldaten in die gute Schachtel Die eine Schachtel war defekt
Hier aeht man in einunddemselben Satze die doppelte An-
wendung von ä für schwarz und schlecht mit den zugehörigen
Gegensätzen.
Rudi sendet Felix zur Mutter mit dem Auftrag, ihm eiueu
Hustenbonbon zu erbitten. Felix richtet aus: mama, o/o*
koko kapn. Die Mutter: „Liki, sag' an Rudi, ich will ihm
einen Storch braten." Felix richtet aus: olol, mama haja
ivausch olol hapn = Mama (will) schönes Fleisch Rudi (zu)
essen (vebcii).
ich da geld. sc/iiebn, ack. notn, ölf. Natürlich hatte er
von der Bedeutung dieser Zahlen keinen Begriff, hörte sie nur
öfters in dieser Folge.
mama, du iock haja mach = Mama, Fräulein hat die
(Tisch-) Glocke blank gemacht
Als ich ihn fragte, wer gestern bei Mama zum Kaffee
gelvesen, antwortete er: ^aia, tata, tata, tata, ack tata, m
kako-iata s Eine Menge Tanteui auch die Süssigkeitstante.
ich haja koko-dach mach olol kap nah = Rudi soll meinen
schonen Kaufladen nicht kaput machea Das „soll** war hier
durch den Ton des Ganzen ausgedrückt, durch welchen sich
die Beschwerde unverkennbar von der Mitteilung einer Thatsache
unterschied. Das näh am Schluss, wie in den meisten Fällen^)
(und zwar dann immer mit einem starken Accent und ganz
eigentümlichen Tonfall).
>) Hierza vgl. Snlly, Untennichangen über di« Kindheit» S. 162.
Zcftalirilt Mr (riMifpigixlic P^tbologle nad PttholOKic. 2
436
6*. Stumpf.
ick holoi a-i guck mach näh ich lasse (mache) Rudi
die Schrift nicht sehen. Er hatte die Tasse am Munde und
drehte sie so, dass Rudi die Inschrift „Felix" nicht sehen kounte.
Gleich daranf sprach er nochein mal denselben Satz mit anderer
Wortstellung: hohl ich fuck mach a-i tiäh.
da u kjob, ja ma we.o ^ (sieh) da (grossen Sciinee,
auch ist Mama weg (sie war verreist). Viel leicht machte ihm
der grosse Schneefall Sorge um die Abgereiste.
Ich erzählte Rudi, dass Mama im Theater ein schönes
Stück gesehen. Felix, der zugehört hatte, ergänzte: ja, Maja
iück apelah = ja, schönes Stück Heidelbeeren. Unter einem
schönen Stück konnte er sich nur einen schönen Bissen vorstellen.
Biner von den Zügeln seines Pferdes hatte Glocken, der
andere nicht. Darauf hinzdgend sagte Felix: hek lül — tacken
HU = Glocken-Zügel — trockener Zügel Tro<^en im Sinn von
etwas Mangelhaftem überhaupt; wieder ein Hineinspielen der
Bss-Phantasie.
lÜt diesen Proben wird der freundliche Leser nun wohl
genug haben. Eis ist kindliches Kauderwälsch, wie anderes,
aber in einer ungewöhnlichen Weise consequent durchgebildet
und festgehalten, eine wirkliche Sprache, in deren Sätzen kein
Wort zu viel und keines zu wenig ist Solche, die sie nur
vorübergehend hörten, mussten freilich besorgt den Kopf dazu
schütteln.
Wir gaben uns öfters MSlie^ ihm die richtigen Ausdrücke
beizubringen. Aber wenn wir ihn belehrten: „Bs hdsst doch
Sdiuee'S „es heisst doch Milch^, so war die Antwort: „ich kjW',
^Uh pruilUh'*^ Br gebrauchte also allmSlilich seine Sprache
auch mit dem Bewusstsein und der Absicht, dadurch von der
allgemeinen Sprache abzuweichen.
Die Mutter versuchte j^relegentlich, ihn zum Nachsprechen
wohlbekannter Wui ie dadurch zu bringen, dass sie in Gedichten,
die er vom Hören gut kannte, innehielt und ihn den Schluss
eines Verses ergänzen liess. Der Effekt war beispielsweise
folgender:
l'^uchs, du hast die Gans gestohlen
Gieb sie wieder her,
Sonst wird dich der Jäger holen
Mit dem . . . pu-pu-pa.
r
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Eige$tartigt tproiklkhe EntwicAelung eines Kindes. 437
Seine grosse, lange Flinte
Schiesst auf dich den Schrot,
Dass dich färbt die rote Tinte
Und du bist dann . . . Map,
Oder:
Hinter mei'm Gartenzaune
Blüht so e schöner . . . ap-hap (Apfel) . . . -Banm
Da sitzt e Fink, Fink, Fink,
Der so schön . . . haja 4aia,
O Mohder, min Finke senn . . . kap,
Se fresse keen Grömelche . . . kapH,
„Hättest du de Finke . . . kapn . . . qregewwen,
Wäre de Finke . , . nick nuhr kap (am Lewe ge-
blewwen)**.
Also auch diese List war vergeblich.
Unterscheidung von Farben und von Zahlen.
Sehr bemerkenswert war jetzt (Ende des dritten und
• Anfang des vierten Jahres) die Verwendung von weich und
ä bei Farbenbezeichnungen. Eines Tages verlangte Felix,
nachdem er sich aus meinem Papierkorb Material zu einem
hi^ an tata ausgesucht hatte, einen Bleistift Zu diesem
Zwecke führte er mich an den Schreibtisch und streckte zwei
Finger der einen Hand lang aus> während er mit der anderen
Hand auf eben diese Finger hindeutete, damit ich sie bemerke.
Die Geberde sollte den Bleistift anzeigen. Icli gab ihm einen,
der an dem einen Ende rote, am anderen blaue Schreibmasse
enthielt Er rief sehr erfreut: weich m ä! ^ hell und dunkel!
und deutete bei weich auf das rote, bei & auf das blaue Ende.
Meine Frau wusste es bereits, dass er alle hellereu Farben
als weich bezeichne. Wir zeigten ihm eine russische Schale,
welche rot, golden und sdiwarz lackiert war. Rot und Gold
wurden beide als weich bezeichnet, Schwarz als ä.
Während nun aber Rot neben Schwarz als weich benannt
wurde, wurde Rot neben helleren Farben als ä bezeichnet.
Als ein PfcTckbahnwaj^cn ii: der Dunkelheit vorüberfuhr, der
vorn eine weisse und eine rot-- Laterne hatte, rief l'\-lix:
ä m weich/ Und als er darauf den Wagen von hinten sah,
wo LT blüü rutes Licht hatte, antwortete ci aut meine Frage,
was das für ein Licht sei: ä. Die Identität des üiudrucks mit
2*
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438
C. Stumpf,
dem eben gesehenen veranlasste ihn, die Bezeichnung beizu*
behalten, obschou der Gegensatz jetzt nicht mehr vorhanden war.
Nun kam ein anderer Wagen, der weisses und grünes
Licht hatte. Wiederum Ausruf : m «o^/V:.^ / Also ä jetzt « grün*
Als der Wagen vorüber war und nur grünes Licht zeigte, nannte
er dieses wiederum auch jetzt noch ä.
Auf seiner Serviette waren drei Luftballons zu sehen, die
auf der einen Seite des Gewebes rot, auf der anderen weiss
erschienen. Als er dies entdeckte, rief er: krei ä ball, krei weich
baill Täglich gab er dann Befehl, in welcher Farbe er sie sehen
wollte, und ruhte nicht, bis diese Seite oben lag. Das als ä
bezeichnete Rot war hier sogar Hellrot. Trotzdem wurde es
gegenüber Weiss mit dem Namen für Schwarz bezeichnet
Am Thermometer war der Nullpunkt durch einen roten
Strich augegeben, die übrigen Grade durch schwarze. Felix
erklarte: weich, a — ä a. Unter a verstand er Buchstaben (a
ng i, s. o.), von denen er die Zahlzeichen natürlich nicht unter-
schied. Die roten Zahlen hiessen jetzt also wieder umgekehrt
weich, weil sie schwarzen gegenüberstanden.
Kurz, es wird jede Farbe gegenüber Weiss als a, gegen-
über Schwarz als Toeieh bezdchnet, und noch allgemeiner heisst
die dunklere von zweien ä, die hellere weich.
Auch innerhalb der Schwarz-Weiss-Reihe genügen schwache
Helligkeitsunterschiede, um die Ausdrücke hervorzurufen. So
unterscheidet Felix weich hjoh und ä kjob, weissen und schwarzen
(schmutzigen) Schnee. Auch hier also sind die Ausdrücke
durchaus relativ zu verstehen.
Das Vorstehende konnte auf die Vermutung der totalen
Farbenblindheit fuhren. Die Augen wurden nicht daraufhin
untersucht (was ja auch bei Kindern in diesem Alter nicht
durchfuhrbar wäre), erwiesen sich aber spater als vollkommen
farbentüchtig. Bs ist also wohl nur Sache der Bezeichntmg
gewesen. Wie wenig man einen mangelhaften Sprachschatz
gegenüber Farbenausdrücken als Argument für Farbenblind-
heit verwenden dar^ ist ja von Marty und Anderen evident
nachgewiesen. In unserem Falle bliebe freilich immer die Mög-
lichkeit, dass ein zuerst farbenblindes Organ später farben-
tüchtig geworden wäre; weit wahrscheinlicher ist es aber, dass
Felix* sprachlicher Bigensinn, wenn ich*s so nennen soll, sich
bezüglich der Farben durch Beschränkung auf HelUgkeits-
Eigmartigt spraehücke Entwickdung ekus Kindes.
439
unterschiede äusserte, und dass ihn die qualitativeil Unter-
schiede noch nicht genügend interessiertetif tttn ihn zum Hin-
ausgeheu über diese Ökonomie zu veranlassen.
Was die Zahlen betrifft, so schien er mir zuerst am 20.
II. 1888, also kurz nach Beginn des 4. Lebensjahres die Begriffe
zwei und drei bestimmt zu unterscheiden. In einem oben er-
wähnten Satz hatte er bereits pa und krei in der Weise gegen-
übergestellt, dass mit f>a zwei, mit krei aber eine darüber hin-
ausgehende Zahl im allgemeinen bezeichnet schien. Jetzt aber
scheint er den Zalilbegriff 3 als solchen erfasst zu haben. Er
sagt nämlich bei Tische: wei guckman, drei /lapman, und dies
stimmte genau: zwei waren fertig (Zuschauer), drei assen noch.
Möglich ist es freilich, dass er auch diesmal nur die grössere
Mehrheit damit bezeichnen wollte. Auch ging jedenfalls diese
unbestinmitere Bedeutung: noch länger neben der bestimmteren
her, wie ans den sogleich folgenden Proben zu erkennoi.
Im März 1888 begannen auch Pluralbildungen aufzu-
treten, während bis dahin weder Deklination noch Flexion oder
Kon Inflation existierten:
drei taketiki — mehrere Uhren. Die Pluralisierung wurde
also sogar auf beide Teile des Wortes taktik (s. o.) ausgedehnt
Ebenso: drei tapetipe mehrere Treppen.
bocke-manne _ mehrere Würfel (bock-man s. a)
ack gwke'ioche mm viele Fenster (in dem von ihm gebauten
Kunsthause).
Als ich im Frühjahr 1888 auf 5 Wochen (vom 10. III. bis
20. IV.) verreist war, fand ich nach der Rückkunft den Stand
der Dinge so gut wie unverändert
Zu den früher erwähnten Zimmerbezeichnungen war, als
die Balkonthüre im Frühling geöffnet wurde, noch die kalt
tuhn getreten, und das bezügliche Zimmer behielt den Namen
auch als es wärmer wurde.
Ferner war jetzt auch in seinem gebräuchlichen Sinn in
den Wortschatz aufgenommen, wofür früher gedient hatte.
Bndlich kam jetzt iok als selbständiges Wort für „Lattfen**
vor, während ich es früher nur in Zusammensetzungen fkota-
ioh) bemerkt hatte: taktik loh mach = lass die Uhr laufen.
Wahrsdieinlich war es aus „los** entstanden. Daher auch ein-
mal in dieser Zeit: lala wieder hh = die Musik geht wieder
los. Bs ist aber merkwürdig, dass ein Wortchen von so be-
440
C, Stumpf.
stimmter Bedeutung zuerst nur als Teil vcm Zusammensetzun-
gen gebraucht wurde (soviel ich wenigstens kontrollierte). Der
Ausdruck hoto4ok, dessen Herkunft mir jetzt erst verstSndHdi
wurde, war dreiviertel Jahr vor diesem Zeitpunkt bereits im
Gebrauch.
Plötzliche Wandlung.
Am 5. Mai 1888 kamen wir Bltem Abends vom Spaziergang
zurück, nachdem die Kinder soeben in das Bett gegangen waren,
und wurden vom Fraulein in grosser Aufregung mit der Mit-
teilung emp&ingen, Liki könne auf einmal alles sprechen. Sie
war ausser sich vor Verwunderung. Wir traten in*s Zimmer
und fanden bestätigt, dass er alles, was ihm vorgesprochen
wurde, sehr korrekt nachsprach; zunächst vier kurze Gebete^
die er von da an Monate lang taglich vor dem Einschlafen
hersagte, allmälig auch ohne Vorsprechen. ' Kleine Un-
genauigkeiten blieben natürlich, wie bei Kindern immer, noch
lang an bestimmten Silben bestehen (statt Herz kesck^ statt
Jesus sekisehisek, statt Schlaf ia/), aber sonst war die Aussprache
fast tadellos. Unter den Buchstaben blieb ihm nur das s noch
längere Zeit schwer.
Wie ist nuu diese plötzliche Bekehrung tax deuten? War
es doch wirklich, als ob der heiH<»-e Geist über ihn gekommen
wäre und ihm die Gabe der Sprache eing-egossen hältf. Das
psychologische Motiv indessen wird wohl einfach gewesen sein:
er war des Spieles satt geworden. Auch mochte er die Ab-
weichung seiner Sprache von der gewöhnlichen und ihre Un-
vollkommenheiten zuletzt doch als störend und beschämend
empfunden haben. Was den Hergang dieser Wandlung be-
trifft, so ist es begreiflich, dass die akustii^chen Worthilder
des Hochdeutschen durch das mehrjährige Hören in seinem
Geiste fest sassen, wie er denn auch ihre Bedtiitnng so
vollkonuiicn verstand, als es nur bei Kindem seines Alters
der Fall sein kann. Aber dass er die Worte sogleich fast
fehlerfrei herausbrachte, nachdem er bis zu diesem Zeit-
pimkt sozusagen eine fremde Sprache geredet, ist iminerlnn
merkwürdig. Denn es gehören dazu auch motorische (von den
Bewegungen der Sprachorgane zurückgebH ebene) Vorstellungen
in der richtigen Aufeinanderfolge, wodurch allein erst die Aus-
führung der wirklichen in gleicher Weise angeordneten Sprach-
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SigemaH^ sfraMieke Bmiwiektiimg tiites Kmdeu
441
bcwegungen möglich wird. Man könnte vermuten, dass er
sich vorher heimlich geübt hatte. Aber bemerkt hnhen wir
davon nichts; für uns war der Übergang ein durchaus un-
vermittelter. Und sicherlich hätten wir oder die sonstige Um-
gebung^ irgend etwas davon bemerken müssen.
Zunächst handelte es sich indessen nur um Nachsprechen
und um freies Hersagen des vorher Nachgesprochenen. In der
folgenden Zeit machte Felix aber auch grosse Fortschritte im
Selbständig - Sprechen und bediente sich aller möglichen, oft
aud> seltener und fremdsprachlicher Wörter. Bin Lieblings-
wort war komisch oder sonderbar. Die Verbalformen blieben
iaat durchweg noch infiuitivi.sch und flexionslos: ick machen etc.
Am 6. Juli hörte ich ihn zum ersten Mal einen vollständig
richtig gebildeten Satz spontan aussprechen, dessen Inhalt sich
nicht gut mitteilen lässt Ein paar Tage später: „Pui, wie
dreckig das Wasser aussieht I"
Die alten Ausdrücke kamen immer swischendurch vor>
versclnvnnden aber mehr und mehr, u kru war allmälig Eigen-
name für jeden Windmotor geworden. SaaUy welcher Ausdruck
schon früher für alle Gewässer dienen musste, behielt diese
allgemeine Bedeutung noch lange, z. K y^eine hübsche Saale".
Im Anglist, als wir in Friedrichroda waren, wurde auch
ein Monatsname in drolHger Art verallgemeinert: „Mama, in
welchem Juli brüllen die Hirsche?* — Dies sind indessen
häufig beobachtete Dinge.
Die Musik hiess noch länger kUai, die upa-kUke, laMcke
mit kkk^ßPs waren noch im August sehr beliebt
Die Farben lernte Felix erst nach und nach korrekt
bezeichnen. Ich fragte: „Wie ist der Himmel? rot, grün?"
Antwort: blau, „Wie ist der Wein** (Rotwein)? Antwort:
bramm. Das Gras wurde zuerst als g0lb, dann als blau
bezeichnet Es hatte bereits einen Stich in's Gelbe, anderwärts
aber auch in*s Blaue, die Ausdrücke kdnnen bereits richtig
gemeint gewesen seia Aber der Ausdruck grün erschien über^
haupt erst später.
Felix fand nun sogar Gefallen daran, unaufgefordert die
Farben zu benennen und Rudi darauf aufanerksam zu machen.
Vorübergehend erfand er aber auch für einige Farben besondere
Namen, z. R Kappel für Gelb. Auf einem Büde war nämlich
ein gelbes Kleid besonders auffallend, und dieses ganze Bild
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442
C. Slump/
war von ihm aus einem nicht mehr crkeniibarcu Grunde
Kappel cfenannl worden, worauf dann der Name für diese
Faibe !x stehen blieb. Ein Fall der Übertragung vom Ganzen
auf den Teil.
Am 30. November 1888 legte ich ihm die Regenbogen-
falben vor. Er konnte jetzt die Hauptfarben benennen, ohne
sich zu besinnen: Grün, Blau, Rot, Geib — immer auf die
betreffende deutend.
Im Februar 1889 zeigte die Sprache noch einige Un-
ebenheiten, wie wratg statt schwarz. Die mit st anfangenden
Wörter wurden samtlich mit einem vorausgestellten t versehen,
z. B. tschtehen für stehen. Mit wie drolligen Zusammensetzungen
er sich auch später öfters behalf, mag nur ein Beispiel zeigen.
In Berlin hatten ihm bei einem kurzen Aufenthalt im August 1889
die Pferdebahnen besonders imponiert, und er unterschied
zwei Arten: „die mit Obendrauf und die mit ohne Oben-
drauf". Doch auch dies sind Wendungen « die oft genug vor-
kommen i).
Im Laufe dieses Jahres, des fünften, trat ein grosses
Wohlgefallen an Reimereien auf, wofür er den Ausdruck
hatte: „Das sticht sich''. Was sich freilich stach, stand
nicht immer im Reimlexikon; z. B. „8 und 10 sind 18: das
sticht sich^
Eine seltsame Schrulle brachte noch der Anfang des
folgenden, sechsten Jahres. Die Kinder hatten ein Buchstaben-
Legespiel bekommen, das grosse und kleine, deutsche und
lateinische Lettern enthielt Für diese Buchstaben erfand
Felix Namen, die samtlich mit „Familie^ zusammengesetzt
waren. Z. B. g hi'ess „Dreh -Familie**, p „Schwanz-Familie**,
„Schön-F." 91 „Saus-F.**, g „Stehdrin-P". ® „Stemdrin-F.",
5b „Einbauch-F.", ^ „Zwdbauch-F.«, H „Storch-P.*'. Wober
der Gattungsname „Familie**, kann ich nicht sagen. Die
unterscheidenden Merkmale sind in den drei letzten Beispielen
aus der Gestalt der Buchstaben genommen, in vielen und den
meisten anderen Fällen (ich habe deren 30 aufgeschrieben, die
mit voller Regelmassigkeit wiederkehrten) ist der Ursprung
dunkel Auf Befragen suchte Felix die Wahl der einzelnen
>) VergL Agathou Keber, Zar Philosophie der Kiadersprache, 1868,
S 57: „Heute bin ich ohne mit dem Stahl in's Bett geatiegea'*.
^ kj i^uo uy Google
Eigcnariige sprachlidu Entwickelung eines Kindes.
443
Buchstaben zu rechtfertigen; doch schien ihm der Ursprang
selbst öfters nicht mehr erinnerlich, jedenfalls waren es
Ähnlichkeiten oder Associationen, die uns Erwachsenen sehr
weit hergeholt schienen.
Diese Bezeichnungen wurden lange Zeit, etwa ein Viertel-
jahr, festgehalten. Doch auch später, im November, kam
Felix gelegentlich noch wieder auf die Namen zurück und
wusste die „Familien" noch prompt anzugeben.
Der Vorgang zeigt die Liebhaberei dieses Knaben in
Hinsicht des selbständigen sprachlichen Vorgehens, wenn es
sich auch nicht um die Erfindung ganz neuer Ausdrucke
handelt, sondern um die Kombination gegebener und um die
Verwendung der Kombinationen in bestimmten festgehaltenen
Bedeutungen.
. Unter den Bausteinen befand sich eine Klasse von be-
sonderer Gestalt (dünn und lang), welche Felix stets mit dem
Ausdruck marage (das g franzosisch ausgesprochen) bezeichnete.
Dies ist der einzige Ausdruck, an den er sich noch heute deutlich
erinnert. Br giebt als Grund dieser Benennung an, der Stein
habe eben so ausgesehen, wie dieses Wort klinge, und das
komme ihm heute noch so vor. In der That liegt wohl in
den sogenannten „Analogien der Empfindung" (den Verwandt-
schaften, welche die Eindrücke verschiedener Sinne miteinander
infolge ihrer ähnlichen Gefühlswirkxmg oder sonstiger Neben-
umstände besitzen) bei Kindern ein Motiv für die Wahl be-
stimmter Ausdrucke, deren Herkunft eben darum dunkel bleibt,
weil solche Analogien oft sehr individueller Art sind.
Vielleicht darf ich /.ur Illustration dieser wunderlichen
PhantasiethätigkeiL noch eine Geschichte aus späterer Zeit hier
anreihen. Am 6 Juni 1897, alsu 14 Jahre alt, spielte er
Klavier und behauptete nacliher mit Bestimmtheit, dass bei
einer gewissen Stelle des Stückes die aiil dem IHügel stehendeu
Blumen jedesmal gerochen hätten. Die Blumen rochen aber
überhaupt nicht
Im Spätherbst des 6. Jahres, 1890, entstand eine neue
Passion bei Felix: eine ungeheure Begeisterung für Zahlen
uufi Zählen, die ihn auch schnell zu selbständigem arith-
metischem Denken führte. Ich will h!erüt)er anhangsweise noch
Einiges beifügen, da das arithmetische Zeichensystem und seine
Verwendung ia auch ein spezieller Fall des allgenieiueu
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444
C, Stampf.
Sprachlichen Zeichensystems und der damit zuaammenhängendett
gedanklichen Operationen ist.
Ich notierte damals zuerst im Dezember, dass er sich seit
einigen Wochen auffallend für Zahlen und Zählen interessiere
und sich darin selbst mit einem ausserordentlichen Wissenstrieb
forthikle. Er konnte bereits, ohne unterrichtet zu sein, nicht blos
bis lOU und noch darüber zählen» sondern auch die Zahlen lesen
und schreiben, kleinere Zahlen auch addieren. In der Küche
frag er: „Nicht wahr, wenn ein Thaler drei Mark sind, dann
sind zwei Thaler sechs Mark?* Und so stellte er sich immer
Probleme und suchte sie zu losen. Am 11. Dezember konnte
er auch 3X3, 2 <8 und überhaupt alle kleineren Multiplika-
tionen ausführen, bald daraul auch 2X300 u. dergl. Vor-
gesprochene grossere Zahlen wie 1928 schrieb er nieder. Vieles
lernte er so aus sich selbst; nur wo er im Zweifel war, liess-
er sich helfen. Am 14. XII. schrieb er sogar «50001" hinnnd
fragte: „Ist das richtig, fünfzigtansend und eins?* Dann
operierte er so mit den Tausendern weiter. Am 6. Januar IS*^!,
also noch nicht volle 6 Jahre, rechnete er bereits 2X648
u. dergl. im Kopf aus und bediente sich dabei verschiedener
Methoden in Hinsicht der Aufeinanderfolge der einzelnen Teil-
operationen, hauptsächlich aber der Zerlegung; z. B. 2X38 durch
2X30, dann 2X8, dann 60+10, dann 70+6. Nichts war ihm
angenehmer, als wenn man ihm solche Aufgaben stellte.
„Er sieht nur Zahlen", sagte damals die Mutter, mit ihm
aus der Stadt znruckkehreud. An den Läden mit den schönsten
Spielsachen, an den Pferdebahnwagen, an den Häusern —
überall nur die Zahlen. Daran erkannte er auch die einzelnen
Pferdebahnwagen, deren doch eine ziemliche Menge war, und
begrüsste jeden froh als guten Bekannten. Kam die Zdtung^
so sah er sofort nach der Nummer und war sehr au^feregt,
wenn sie sich nicht regelrecht an die aoschloss, die er zuletzt
gesehen. Seit Mitte Januar verfertigte er sich ein kleines und
ein grosses Einmaleins, indem er in einem Büchlein sehr sorg-
sam die Zahlen untereinanderschrieb, die er aber für dieses
Dokument der grosseren Sicherheit halber mit Hilfe der Rechen*
maschine Rudi^s kontrollierte.
Nun kam er auch auf die Bruchrechnung. Die Namen
>,Halb, Viertel" etc. hatte er naturlich schon gehört und auch
bemerkt, dass Teile von Zahlen gemeint waren. In dem Mo>
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Bigmamge spmekUckt Mmtmickdtmg «mm Km4e$»
445
ment, wo ihm die genaue Bedeutung klar wurde, konnte er
auch damit rechnen: „Nicht wahr: 8 ganse Stunden sind 16
Viertel?* Nein, antwortete ich, 16 halbe. Daranf Felix ohne
Besinnen: „Ach so, dann sind es 32 Viertelstunden".
Auch fand er selbst heraus, dass eine gerade und eine
ungerade Zahl zusammen wieder eine ungerade geben. Was
eine gerade Zahl sei, hatte ihm eines der Dienstmadehen ge-
sagt; er erklarte sie mir als „die, die man durch 2 machen
kann^*. Am Abend desselben Tages kam er aber mit einem
Fund: „Ich kann auch machen, dass wieder eine ungerade
herauskommt". Vfvt denn? fragte ich. „Wenn ich 3 zu 3 zu-
sammennehme und dann noch einmal 3 dazunehme'*.
Auch die irerschiedenen ZiHemfoimen interessierten ihn
sehr, er schrieb das erwähnte 1X1 in altdeutschen Formen, die
er Gott weiss wo gesehen hatte.
Diese Rechnen-Passion war indessen nur eine Episode.
Sie verlor sich während des Somincrs 1891, und in der Schule
hat Felix keinerlei hervorragende matliematischeii i ahigkciten
entwickelt. Anfangs klagte er selbst einmal: „In der Schule
verlerne ich alles." Dagegen trat 1893, im 9. Jahre, wieder
plötzlich eine ähnliche Begabung und Neigung für das Schach
auf, das er überaus sclmell und gut erlernte. Jetzt, in seinem
17. Lebensjahre, fesseln ihn physikalisch-technische Neben-
interessen mehr als es einem Schüler des humanistischen
Gymnasiums nützlich ist. Hoffentlich ist aber die alte Liebe zur
Sprache nicht ganz erloschen, die in den ersten Lebensjahren
sein vornehmstes und freilich auch am meisten misshandeltes
Spielzeug gewesen.
Ich will diese anspruchslosen Mitteilungen endigen, ohne
noch einmal auf die grossen Probleme zurückzukommen,
von denen wir ausgingen. Mag es nun Jedem überlassen
bleiben, was und wieviel er daraus über die treibenden Kräfte
bei der kindlichen Spraclientwicklung, über Anpassung, Nach-
ahmung, selbständige Pr(>chiktion oder Benutzung fremden
Eigentums entnehmen zu können glaubt. Möchten sich aber
auch Berufene dadurch angeregt finden, auf ähnliche Fälle zu
achten. Manches Gespräch mit Eltern, manche Notizen in der
Litteratur lassen vermuten, dass Eigenartiges von Bedeutung
nicht so selten ist Wenn auch wohl Neubildungen im strengsten
Sinne sich immer weniger herausstellen, je mehr man auf die
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C. atumpf.
Umstände Acht giebt^), so wird dafür iniraer mehr des Indivi-
duellen in Umbildungen und Verknüpfungen entdeckt werden.-)
Wir werden dadurch, wenn man auch die übrigen Äusserungen
des Geisteslebens heranzieht, gewisse Typen unterscheiden
in difs<T lieziohujig^ kann irh Wundt's Bemerkun[.'eu zu dpn
uuerkittrlicheii \Vortbildui^{üu, die von Mre. K. C- Moore (früher schon von
Taine n. A.) an^jefSlirt wurden, nur zustimmen, obioiioii leb nicht so weit
gehe, die Iföglfchkeit und du VoTkommen wirklicher NenbUdangen ganz sa
leugnen, und Herleitungen wie die des Wort^ bcyer (=a Hnnd) ana einer
Niicliahmung der TJcIHum* -irnujen oder tibu (= Vo^r,.!"; ans Piepvogel für
mehr als g'pwajrt anseiie. Aui meisten .scheinen wirkliche Gründungen hei
Eigennamen vorzukommen ^vgL Sullj S. 135). Man kilnnte hier nur viel-
leicht indirekt eine Wirkung der Kachahnnmg finden, insofern das Kind
wohl bemerken kann, daes die Erwachsenen mit Eigennamen adur wiUkfir»
lieh Umänderungen vornehmen, vor allem mit denen der Kinder selbst.
G. Komanes '^\\'\A in tseinem Buche „Mental evulution in man"
S. l 'Wf. narh pint»r mir uiclit bekannt gewordenen Abhandlung von H. Haie
austiihrlichen Bericht über zwei Fülle vou „eri'uudeuen", systematisoh durch-
geföbrten und festgehaltenen Kinderspraohen mit lauter eigenen Ansdiflcken;
er fügt auch noch einige Einzelbeobachtnngen über erfundene Ansdrftcke
nach Hr. E. Street hinzu. Die Angaben Halens scheinen mir nicht voll-
kommen duiflisii litiq- nnd einwandfrei, da z. B. in dem ersten der Fälle
verschiedene ofVenliar dem Frunzö.sischen entlehnt« Ausdrücke vorkamen,
obächon die Mutter, die Französisch gelernt iiatte, diese Sprache niemals
in der Unterhaltung gebraneht haben soll. Aber im gamsen maehen. diese
Beobachtungen doch in ihrer detaillierten Wiedergabe keineswegs den Ein-
druck, dass sie ein für ülL-mal und en bloe «in das Gebiet der flabel zu
verweisen ■ wären (vgl. Wundt 28o).
HerauzuT^iehen sind hier ferner die Beobachtungen an Taubstummen
und Taubstuuun-Blindeu, bei welchen die JNütlage die erfinderischen Kräfte
in höherem Hasse In Bewegung setzt, wenn nur die nötige geistige Eegsam-
keit überhaupt vorhanden ist. Ausser dem, was schon früher über Laura
Brtdgman berichtet ist, die z. B. durch etwa 50 Stimmzeichen die ihr be>
kannten Pei^sonen untcrscUiecl, sind die Mitteilungen G. Riemann's in der
lehrreichen Schrift: ,.Tuul>.stuuuu und Idind zugleich«, 1895, zu beachn^n,
namentlich Ö- L'7 über erfundene Eigennamen und S. 7 Über erfundene Ge-
berden. IVeilich handelt es sich hier um ein Kind, das erst im vierten
Jahr Gehör und Gesicht und allndUig auch Sprache und Wortgedlehtnis
verloren }iatte.
Mprkwtirdij^t'- !)eiichtet S. Heller über die Sprache eines 9j8hri|Lren
„[isychlsch tauben« Kindes. Sie war aus einer grösseren Anzahl von
Stämmen und von Endiguugen eigener Art ijebildet (Stämme: tu, ta, bu.
am etc., Endigungen: antech, intech, untsch, ainpt, impf, umpf etc.). Spitter
wich sie der normalen Sprache. ^Ueber psychische Taubheit im Klndeaalter*
1894 (mir nur bekannt ana dem Referat in der Zeitschr. für Psychologie
und PhysioL der Sinnesoigaae IX, 1896, S. 74).
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Eigenartige sprachliche Entwieketung eines Kindes.
447
IcTueu, iu denen sich das Keimen und Sprossen des jiiiij:^en
Menschengfeistes vollzieht, und wir werden einer auf Erfahninjif
rnhcndcn F.rkcnntiiis der Anlatjen näherkommen, auf denen
diese Entwicklungsverschiedenheiten ruhen.
Ans dem Gesichtapunkt dM Spieles hat K. Oroos tlie Erliniiuugsfrage
besprochoi: Die fiplde dee Menschen, 1899, S. 380f.
^ Hanohe hübsche Beobachtung himrttber findet meii n. A. in der
schon erwähnten kleinen Schrift von A. Keber, S. 33 o. ö., sowie bei
G. Lindner, Aus dem Naturgarten der Kindersprache, 1898, S. 62 u. 0.
TJndner spricht auch S. 42 von dfir Neigang des noch nicht zwegihrigen
Kindes, mit seiner Sprache zu spielen.
Suliy und Compajrre sind iu ihren bekannten in s Deutsche über-
Betxten Werken schon Tielfach auf die Yerknttpfnngsfonniii, die Wort-
stellang, die ümformnngsrichtungen, kurz das ganze grammsEtlfldL- logische
Operieren eingegangen. Besonders aber W. Ament in seiner gründlichen
Mono raphie „Pie Entwickelung von Sprechen und üfnk»^n beim Kindp"
18''^', die in dei Verbindung ausgedehnter selbstanf/estellter Beobaclituugeu
mit psychologischen, logischen und sprachwissonschoitlichen BeÜexionen
sicher den rechten Weg geht, wenn anch mancheB zun Widerspradk herans»
fordert.
Am wenigsten Ge.schmack kann ich blossen Wort zäh Inn gen ab-
gewinnen. Seit der amerikanische Astronom IIo!f1(»n eine förmliche Statistik
gleichsam eine Sternkart« — des Wortschatzes bei seinem Kiud in ver-
sclüedeneu Siadien augelt gi hat, etnd nicht Wenige seinem Beispiel gefolgt,
wie die Tabelte bei Freyer EL 365 zeigt. Aber was kann man denn neues
aas diesen <>o mtihevoll gewonnenen SSahlen ableiten? Daaa indlTidneUe Unter-
schiede im Wortreichtum sein werden, versteht sich von vornherein. Wenn
man auf das Zahlcnvcrhältnis der TTnnptwörtpr zn den "Kigenschaftswörtem,
Zeitwörtern etc. Gewicht legt, so ist schon die Zählung selbst hier nicht
ohne Willkür mögUch: denn oft genng kann man einen Kindenraadmck
ebensognt zn der einen wie der aaderou ELlasse rechnen und wird er that>
sttchiich bald in der einen bald in der anderen Funktion gebrancht Ich
möchte daher weniger mit Preyer wünschen, dass in dieser quantitativen,
als dass in der qnnittntiven, die Analyse psychologisch vertiefenden itichtODg
weiter gearbeitet würde.
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Zum Seelenleben des Schulkindes.
Vortrag tm Verein für Kioderpsychologie am 8. November 1901
von Wilhelm Münch.
(Gekflixter Bericht)
Das Studium der Kinderpsychologle wendet sich im all-
gemeinen, hier wie im Ausland, vorwiegend dem frühesten Alter
zu. Wenn dies naturgemäss und berechtigt ist, so kann doch
nicht etwa die Beschäftigung mit spateren Entwickelungsstadien
für zwecklos gelten, so lange nicht über das früheste recht feste
und allseitige Brkenutnisse gewonnen wären. Unbedingte Sicher-
heit und Vollständigkeit wird ja wohl nie erreicht werden. An
verschiedenen Punkten der Linie den Hebel zugleich anzu-
setzen, kann nicht verfehlt heissen. Ist man doch auf mehr
als einem Gebiete in den Anfängen überhaupt stecken geblieben,
weil man dieselben nicht gründlich genug glaubte erledigen
zu können.
Der gegenwärtige Beitrag beansprucht überhaupt keinen
wissenschaftlichen Charakter. Es wird ja immer auch die
schlichte Erfahrung und die Beobachtung mit den natürlichen
Mitteln wieder zum Worte kommen dürfen. Ist sie wissenschaft-
licher Feststellung nicht gleichwertig, so wirkt sie doch auf eine
nicht verächtliche Art mit dieser zusammen, liefert ihr eine
Art von Rohmaterial, lässt auch wohl die Probleme heraus-
wachsen und wird immer der exakten Forschung vieles er-
gänzend und füllend hinzufügen können.
Der Begriff Schulkind ist fester abgegrenzt als der Begriff
Kind selbst. Das letztere Wort oder das ihm in anderen
Sprachen entsprechende hat je nach Zeiten oder auch nach
Umständen und Stimmungen eine sehr verschiedene Bedeu-
tung erhalten. Am weitesten wird die Anwendung des fran-
zösischen enfant, obwohl es von in/ans (s noch nicht sprechen
könnend) herkommt, nach oben hia ausgedehnt. Im Deutschen
scheiden wir gerne ziemlich früh „Knabe** imd „Mädchen**
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Zum SeeUnitben det Sch*Ukmd«s.
449
von „Kind", denken bei dem letzteren Worte an die volle
Hülfsbedürftigkeit, Weichheit, Bestimmbarkeit, Anlehnung, an
das Fehlen jedes festen oder schon harten Kernes, und bei den
ersteren an die begonnene Ablösung (d. h. die dritte Ablösung,
nach der ersten der Geburt und der zweiten des Gehenkönnens),
an die Bildung einer' gewissen inneren Selbständigkeit und an
die Hinlehnung zu Genossen. Gewisse Uebergänge oder Sta-
tionen sind eben von der Natur selbst gegeben ; andere werden
halb durch Natur halb durch menschliche Kultur hervorge-
bracht, noch andere durch konkrete menschliche Einrichtungen
jfeschaffen. So entsteht die Kategorie Schulkind.
Man muss nicht mei^ien, dass die Abgrenzun|f hier immer
•die gleiche gewesen sei. Bis in das 18. und 19. Jahrhundert
hinein pflegte man den Schulbesuch weit früher beginnen zu
lassen, als jetzt üblich und zwar so ziemlich in allen Ländern
gleich üblich ist. Die obere Grenze fällt allerdings grossenteils
über das Stadium hinaus, welches sonst das „Kindesalter** ab-
schliesst Mit der früheren Periode des Schulbesuchs wollen
auch wir uns vorwiegend beschäftigen.
Der Uebergang vom Hauskinde zum Schulkind ist wirk-
lich für das seelische Leben ein sehr tiefgreifender. Ple Ueber-
gänge, welche die Natur hervorbringt, sind für das Seelen-
leben glimpflicher. Dreierlei kann man herausbeben, was mit
diesem Uebergang plötzliche und tiefgreifende Bedeutung ge-
winnt: die Schule ist Sphäre der Autorität, der Pflicht, der
Kameradschaft. Wenn diese Begriffe eine gevdsse Kraft schon
vorher besassen, so treten sie hier doch mit ganz anderer Wucht
auf. Es ist wirklich Eintritt in eine neue Welt, mittkeuen Lebens-
bedingungen.
Dass ihr in Aufregung und mit Bangigkeit entgegenge-
sehen wd, dafür sorgt leider oft die Umgebung des Kindes.
Eine wohlwollende Erziehung würdigt die Schwere des Ueber-
ganges und sucht dessen Schroffheit durch freundliche Mass-
nahmen zu mildern. Aber der Eindruck der neuen Verhältnisse,
Schranken und Bande bleibt gross. Die Oede der gewöhn-
lichen Schulzimmer kommt mit unbehaglicher Wirkung hinzu.
Autorität der Eltern machte sich immer fühlbar. Aber
sie war weit glimpflicher, beweglicher, flüssiger, ward abgelöst
durch Aeusserungen der Liebe, oft auch geradezu von Liebe
durchkreuzt. Jedenfalls schrumpft der Emst dieser Autorität
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450
H'iUulm Münch.
ji't/t sehr zusammen gej^emiber der neuen, unbediriL^teren. J )ort
\ crl)ancl sie sich mit 1- ürsorj^^e, mit Hül£sl)ereits( hafi im Kleinen
und PersDnlieliin. nut Schutz. Dort ward nicht l)l<»s über-
legenes W'isvcii und Können fühlbar, sondern allgememe per-
«=innJiche I 'eberlei^enheit. Das reichliche Hervortreten des Ge-
fuhlsleljens bei den autoritativen Personen fehlt jetzt. Der
Lelircr bleibt in einer ziemlich stetigen Jenscitigkeit. Seine
Autorität ist weit starrer. Seine Gehoie sind nicht wie mütter-
liches oder väterlichem (icheiss, sie sind so gut wie Ges( tze.
Der Begriff des Gchcizes taucht überhaupt jotzt auf. Das Ilaus-
gesetz daht im war mehr eine Haus- und Lebensordnung, m die
man unbewusst hinemgewachsen ist, die auch nicht starr zu sein
pflegt. Zu den Geboten kommen die V^erbote, deren man zu
Hause mo viele in den Wind ge-^chlagen hat, ohne dass es weitere
Folgen haben musste, und die hier so unangenehm ernst ge-
meint sind.
Aber schon (He (Jrdnung. die Lehensordnung für die Schub
gemeinschaft, ist eine viel unbedingtere und unbequemere, l'nd
ebenso unbedingt muss hier Gehorsam geleistet werden, auch
wo das Innerste widerstrebt; Gehorsam, der zwar \on früh
auf, aber kaum jemals recht konsequent gefordert wurde, und
der hier in der Schule nicht erleichtert wird durch den natür-
lichen Einklang, durch das ganze nahe Verhältnis zu den
Gehorsam Ilei^fhenden.
Dazu der neue J'.egriff der Pflicht als zusammenhängende
persönliche ( iebundenheii an tin bestimmtes Thun, Pflicht mit
Verantwortlichkeit. Zuerst die grosse und allgemeine Pflicht
der Aufmerksamkeit. Diese soll der Lehrer freilich wecken und
durch die Art seines Llnterrichts erhalten. Aber wie schwer be-
hauptet sich diese Wirkung auf die Dauer, wie natürlich ist
das Al)schweilen der Gedanken, wie stark sind die ablenkenden
Einflüsse! Dann die Zumutung an die korrekte körperliche
Haltung, namentlich bei j)cdantischen Lehrern. Ferner die
grosse Pflicht des Fleisses, der Hegriff der zu lösenden Auf-
gabe. So minimal diese auch im Anfang sein mag, sie wird
keineswegs so empfunden. Der Druck der Verantwortung lastet
auf der werdenden kleinen Persönlichkeit, der Druck der ge-
samten neuen Lebenslage auf dem Gemüt. Bei manchen Kin-
dern dau( rt die aufregende Wirkung Wochen und Monate lang,
die Besorgnis vor dem Nichtrechtmachen verfolgt sie bis in
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Aum StstUnUbcH des Schtäkindes. 4^1
den Schlaf. Als erfreuliche Gewisseahaftigkeit wird oft ge-
nommen, was Aengstlichkeit des zarten Gemütes ist. AUmählicjti
«rfolgt Eingewöhnung, Abhärtimg, auch Abstumpfung.
Als das dritte Neue kommt das Leben in der Genossen-
schaft in Betracht. Geschwister und andere Gespielen vorher
bedeuteten keineswegs dasselbe wie diese fest abgegrenzte und
fest umschliessende Klassengenossenschaft. Mit allen, auch den
ganz ungleichartigen, ist hier zu rechnen; alle und die Gesamt-
heit gewinnen Bedeutung für den Einzelnen. Die Fremdartig-
keit des Wesens mancher Schulgenossen kann zu einem
schweren Druck werden, die Angst vor einem solchen kann
grösser sein als die vor Schule, Lehrer, Strafen. Einige tyranni-
sieren früh die Gemeinschaft. Auch entwickelt sich bald eine
Art von Klassengeist. In ihn wird der Einzelne hineingezogen.
Das Gemeinschaftsleben verdichtet sich allmählich; seine be-
sondere Moral wird bestimmend. Es gibt innerhalb der jugend-
lichen Entwicklung eine Periode, wo die Genossenschalt eine
überragende Macht erhält gegenüber den natürlichen und ge-
setzten persönlichen Autoritäten. Es ist eine Zeit der Abwen-
dung von der Familieninnigkeit. Das Stadium scheint durch-
laufen werden zu müssen, damit nachher die Bildung einer
individuellen Natur erfolgen könne. Nach dem natürlichen
innigen Verbundensein mit der Blutsgemeinschaft, deren Schoss
das Kind entsprosst und angehört, folgt dieses Aufgehen in der
freieren Verbindung, um endlich zur (relativen) Selbständig-
keit gelangen zu lassen. Ihr voUstes Leben hat diese Genossen-
schaft im kameradschaftlichen Spiel> das in seinem Rechte
(auch als wildes Spiel) nicht anzutasten ist, und das auch inner-
halb des Schullebens Gelegenheit zur Entfaltung finden muss.
Die genauere Entwicklung des Verhältnisses der Kameradschaft
sei hier nicht verfolgt ; kritische Zeiten folgen wohl, wilde Autori-
täten stellen sich gegen die echten, trotzig unsittliche gegen die
sittlichen, körperliche gegen die geistigen, Ueberkraft gegen
Vollmacht. Der jugendliche Mensch macht hier einen Ent-
wicklungsprozess durch, wie ihn die Menschheit auf dem Wege
ihrer gesamten Kulturentwicklung durchmachte, oder die ein-
zelnen Völker in der Menschheit. Die Knaben durchlaufen
das heroische Zeitalter. Die Lektüre, die sie i|i dieser Zeit
suchen, entspricht jenem inneren Zustand. Dem lieblich Wun-
derbaren der früheren, echt kindlichen Stufe folgt hier das
Zeitschrift für pädagogi'schc Psydiologie und Pathologie. 3
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452 WWulm Münch,
Abenteuerliche, das vom Sittlichen losgelöste Heroische, um
später dem heroisch Idealen Platz zu machen.
Es wird in dieser Zeit gcwissermassen ein Doppelleben
geleVjt : in der freien, wildwüchsigen Gemeinschaft, und in der
organisierten. Ein Doppelleben zugleich aber auch zwischen
der häuslichen Gemeinschaft und der Schule. (Einem solchen
Doppelleben stehen übrigens auch die Erwachsenen keines«
wegs so fem, wie sie glauben mögen.) Dasselbe Kind ist In den
beiden Lebenssphären in Wahrheit nicht dasselbe. Die Eltern
kennen es meist nur halb, und auch die Lehrer meist tmr von
der einen Seite. Fälle eines ganz auffallenden Auseinander-
gehens fehlen nicht; störrjg hier und weich dort vermag der-
selbe Zögling zu sein; ganz häufig ist das Nebeneinander von
gesittet und wild, von freundlich mitfühlend und gefühllos kalt,
ja von wahrhaftig und lügnerisch. Natürlich ist auch die Sprache
oft hüben und drüben ganz verschieden (fast so wie die der
jungen OHiziere auf dem Exerzierplatz und im Damensalon).
Manches Hässliche im Gemüt des Schulzöglings wird ganz
abgestreift mit dem Verlassen der Schulbänke. Im günstigen
Falle wächst aus beiden Naturen eine neue, selbständige und
nicht wertlose heraus.
Praktisch verursacht das äussere und innere Doppelleben
in Schule und Hans viel Missliches und Bedauerliches. Dass
die Familie ein Bild gewinne von dem wirklichen Leben, Geist,
Ton und den Vorgängen in der Schule, ist sehr schwer, kaum
möglich. Eine objektive Wiedergabe durch die Unreifen ist
nicht zu erwarten; Verschiebungen und Uebertreibungen sind
selbstverständlich. Man muss noch nicht bösen Willen an-
nehmen, wenn unrichtige Bilder gegeben werden. Aber frei-
lich ist man noch weniger berechtigt, guten Willen anzu-
nehmen, einen Willen, der ernstlich auf Wahrheit und Ge-
rechtigkeit (selbst dem Lehrer gegenüber) gerichtet wäre.
Uebrigens sind die meisten En^-achsenen bei entsprechenden
Mitteilungen kaum weniger unzuverlässig.
So ist denn auch der Glaube an willkürliche Gunst oder
Ungunst der einzelnen Lehrer gegenüber den einzelnen Schü-
lern sehr verbreitet und verständlich genug. Dass persönliche
Sympathie auch l)ei gewissenhaften Lehrern leise mits])nclit.
wird nicht zu leu^^nen sein; ganz ausgeschlossen oder unbe-
merkbar wäre es nur bei einer künstlich stanen i'rciudhciu
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Zum SeeiemiebeH des SektiUAuk».
453
Aber die J ugend sieht schon in der strengeren, kälteren Behand-
lung des wirklich sittlich schlechten Schülers eine Art von
Parteilichkeit, ja von Rache. Berechtigt andererseits ist die
Missstimmung, wenn beginnende Besserung nicht vom Lehrer
zeitig anerkannt wird. Die schlimmste Wirkung übt es, wenn
der Lehrer einen zurückgebliebenen Schüler auf geraume Zeit
ganz liegen lässt und ihm so wenigstens innerhalb des Klassen-
lebens die Selbstachtung nimmt.
Im übrigen sind die jungen Seelen gegen Tadel und Lob
sehr ungleich empfindlich. Einige bedürfen ziemlich häufiger
AnerkerOiung, um zu gedeihen, ajidere vertragen Lob über-
haupt nicht gut. Die Fordenmg des Publikums von heute, das
möglichst viel Lob verlangt, ruht nicht auf der rechten Erfah-
rung. Aber sie erklärt sich aus der entgegengesetzten Gewöh-
nung deutscher (und namentlich preussischer) Lehrer. Jeden-
falls hat Herbart Recht, dass der Tadel nicht als eine Minus-
grössc für sich dastehen darf.
Eine sehr natürliche Empfindung des Sclnilkindes ist, vom
Lehrer nicht recht gekannt zu äciii. Der Lehrer scheint über-
haupt innerlich kaum recht zu unterscheiden. In Wahrheit
unterscheiden zalilrcichc Lehrer zu sehr nach gewissen Symp-
tomen oder nach Kategorien. Wird die Aufgabe, auch in tler
Massenerziehun^^ zu individualisieren, an den Schulen immer
wieder betont und ins Auge gefasst, so ist man mit der Verwirk-
lichung bis jetzt wenig zufrieden. Man stellt sich die Sache
freilich ausserhalb der Schule zu leicht vor und verlangt neben
Unmöglichem auch UnberechtiG^tes. Immerhin aber könnte
mehr geschehen, z. B. in BeziehutiL; auf Kenntnis der körper-
lichen l'ntergründe des geistigen Lebens, auch der unterstutzen-
den oder erschwerend ''n Einflüsse der häuslichen S))liare.
Ausserdem sind die bei den Lehrern üblichen psychologischen
Kategorien im ganzen unzulänglich. Die Einrichtung der stereo-
tyj)cn Z('ugni->prädikate nebst den Rangnummern wirkt dabei
nni. Sie wirkt auch ungünstig auf das ICltcrnhaus zmiick. Der
Ehrgeiz der Väter liegt oft mi Kampf mit dem wirklichen
Können der Kinder.
Das geistige Können und X'erstehen bildet überhaupt ein
Gebiet seelischer Schwierigkeiten. Trotz aller Bemühung des
Lehrers bleibt das Verständnis oft nur ein momentanes, ver-
fliegt bald wieder, weil es zu künstlich gestützt war. In den
3*
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454
Wähelm MUndk.
häuslichen ArbeitstuiKleii am Abend herrscht oft nur noch
Ratlosigkeit, Dumpfheit, Verzagtheit, Angst. Die Eltern ent-
rüsten sich dann unschwer gegen die unnatürlichen Zumutungen
der Schule. Aehnlich ist es mit dem Gefühl der Unproduktivitat
da, wo Produktion gefordert wird.
Eine Reihe von nicht natürlichen Zumutungen und psycho-
logischen Irrtümern lasst sich ausserdem zusammenstellen. Hier-
her gehört die bekannte Auferlegung der Bitte um Verzeihung
(die nur unter besonderen Umständen berechtigt ist), die Zu-
mutung, sich selbst anzuzeigen, ungünstige Noten zu Hause
vorzulegen und Unterschriften einzuholen (wobei auf billige
Beurteilung und leidenschaftslose Aufnahme ganz und gar nicht
zu zählen ist), femei^ die Voraussetzung einer weisen Verteilung
der Hausarbeiten auf die freie Zeit, oder eines freiwilligen Vor-
ausarbeitens, eines Wiederholens halbvergessener Pensa aus
eigener Initiative, einer unverminderten Frische und Samm-
lung am Montag Morgen oder nach sonstigen Unterbrechungen,
und manches Andere. Auch die Forderung gletchmässigen
Fleisses für alle Gegenstände als blosses Ergebnis des guten
Willens, oder aus Rücksicht auf die Eltern, oder auf den Lehrer,
oder auf den Nutzen, oder auf das ferne, zukünftige Leben.
Nicht minder die Erwartung von dankbarer Gegenliebe für
das berufsmässige Wohlwollen des Lehrers, oder einer An-
dauer der kindlichen Anhänglichkeit auch über die Krisis der
Flegel- oder Backfischjahre hinüber.
Das innere persönliche Verhältnis des Schulkindes zum
Lehrer wird durch die schon oben besprochene Zugehörigkeit
zur Klassengemeinschaft sehr gehemmt oder vergröbert. Die
Klassengemeinschaft steht namentlich in den mittleren Schul-
jahren sittlich tiefer als der Einzelne. Gegen irgendwelche
Ungerechtigkeit oder den Schein derselben ist sie empfind-
licher; sie ist anspruchsvoller und in ihrem Urteil massloser;
die Klasse trägt auch viel mehr dem Lehrer nach, als dies je
ein Lehrer den Schülern thut.
Die allgemeine Stiuimung der Schüler ihrer Schule gegen-
über mag also verständlich sein so wie sie ist. Dass sie immer-
hin an niani hem Punkte \ i-rbessert und gehoben werden konnte,
ward schon /wischeridurch angedeutet. Auch gewisse äussere
Dinge könnten hier mitwirken. Die noch immer vorwiegend
anzutreffende Oede und Schmucklosigkeit der Räume ist em
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Xum Setlatiebtn des SckuUHnäet.
455
nicht notwendiges l cbcl, das Fehten von Spielhöfen, Hallen,
Gärten sollte jedenfalls nur ein vorübergehendes Uebel sein.
Nicht bloss in Hinsicht auf diese äusseren Dinge, sondern
auch innerlich ist das Leben der Schulkinder in den verschie-
denen Ländern keineswegs ganz gleicliartij^^ Ein bestimmter
Einblick z. B. in französische oder englische V^erhältnisse würde
dies ergcbrn. Aber auch der Wandel der Zeiten bringt hier
Verschiedenheiten mit sich. Noch selbstverständlicher ist der
Unterschied der Geschlechter.
Leicht ersichtlich ist, wie abweichend von Knalx nx hulen
das Verhältnis der einzelnen Schülerin zur Klasse sich ge*
staltet, und ebenso dasjenige zur Lehrerin oder zum Lehrer,
welche kleineren oder grösseren Unarten hier vorwiegen oder
zurücktreten, wie Leichtigkeit der Auffassung, l.elihaftigkeit
des Wesens, Sinn für sittsame Form und Empfindlichkeiti
Unlust zu ausdauernder Konzentration sich gegenüberstehen,
namentlich auch, welche grössere Kontraste von Hingebung
und Unlenksamkeit sich finden.
Das Verständnis des Seelenlebens der Kindheit wird sich
immer zusammenfinden mit der Würdigung der Rechte der
Kindheit. Trher diese Rechte hegt man freilich, ebenso wie
man sie praktisch nicht selten mit Füssen tritt, theoretisch viel-
fach unhaltbare Vorstellungen. Das Rrrht, von den Krwachsc-
nen wirklich erzogen zu werden, bleibt das wie hiigstc dieser
Rechte. Jedenfalls aber darf man von den ['fliehten der ju;^end
am bestimmtesten reden, wenn man die Rechte der Kindheit
am klarsten erkannt und anerkannt hat.
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Psychologische Betrachtungen zur Methodik des
Zeichenunterrichts.
Von
A. Claas.
Wohl bei keinem Lehrfache stehen sich die Ansichten
der Methodiker so gegenüber, wie beim Zeichnen. Nicht
genug, dass die einen dem Ornament, die andern dem Natiir-
zeichnen, wieder andere gewissen Lebensformen das Wort
reden ; t s bestehen auch noch tiefgehende Meinungsver-
schiedenheiten über die Behandlung des Freihandzeichnens im
allgemeinen, über die Zulässigkeit von Hilfsmitteln, über vor-
bereitende Uebungen, z. B. Nctzzcichnen oder Stäbchenlegen,
nicht minder über den richtigen Beginn des Zeichenunter-
richts selbst.
Erst in der neusten Zeit hat man, angeregt durch einige
Amerikaner, sowie durch die Untersuchungen von Konrad
Lange „Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend**
und Sully „Untersuchungen über die Kindheit", den Zeichen-
unterricht mit den psychologischen Forschungen in Verbindung
zu bringen versucht, wie es aber scheint, nicht immer in glück-
licher Weise und teilweis irre geleitet durch falsche Ziele.
Den Wert des Zeichenunterrichts für die Schule hat unter
den Neueren Konrad Lange am besten erkannt, doch über-
treibt er in etwas einseitiger Weise die Anforderung der ästhci-
tischen Bildung.
Der Zeichenunterricht bildet, wie richtig erkannt ist, das
beste und fast einzige Gegengewicht gegen die Ausbildung
des Wissens und Verstandes in der Schule, indem er die Aus-
bildung zur produktiven Arbeit und zwar zur künstlerisch-
produktiven sich als Ziel setzt. Alles andere erscheint gegen-
über dieser Bedeutung untergeordnet. Das Kind soll arbeiten
lernen, sich dabei den notwendigen Formen- und Raumsinn
aneignen, die Genauigkeit des Sehens, Schaffens erwerben und
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P^dulogiscfu BetraciUuHgen zur Mtlkodü des jieuJtenunUrrichU.
457
FIä. 4.
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458
A. Claus.
auf der höheren Stufe auch den Sinn für Schönheit, das ästhe*
tische Gefühl, entwickeln lernen. Wenigstens wird man die
Elementarformen der dekorativen Technik noch als Ziel des
elementaren Zeichenunterrichts hinstellen können.
Wie lässt sich nun die Methodik mit den Beobach-
tungen des Kinderzeichnens in Einklang bringen? Die wesent*
liebsten Resultate, welche man bei der Durchforschung dieses
Gebietes, soweit es bisher in Angriff genommen ist, gefunden*
hat, sind in dankenswerter Weise von C. Götze, das Kind als
Künstler, Hamburg 1898, zusammengestellt und von Dr. K.
Pappenheim ') mit dem naturwissenschaftlichen Unterricht
in Beziehung gesetzt worden.
Nicht minder lässt sich aber auch die Ht'oharhtunj; des
Kinder/cichncns für die Methodik des Zeichenunlcrric lits selbst
nutzbar machen, und die folgenden ("cdanken sollen da/u bei-
tragen, einige einschlägige Fragen zum mindesten auf-suwerfen,
vielleicht auch die Lösung derselben vorzubereiten.
Welches ist der Standpunkt eines Kindes, das in Begriff
ist die Schule zu besuchen in Bezug auf seine Vorbildung lür
das Zeichnen? Viele Kinder mögen wohl noch nie einen Griffel,
einen Bleistift oder einen Federhalter in der Hand gehabt
haben, ehe sie die Schulbank kennen lernen. Alle» welche
auf dem Lande aufwachsen, sehen im Hause selten ein der-
artiges Werkzeug und ihre Haufitbeschäftigung ist es, im Freien
zu spielen, sich zu tummeln, vielleicht auch bei den leichtesten
Arbeiten des Tragens, des Sanunelns und dergl. den Eltern
und grösseren Geschwistern schon helfend zur Hand zu geben.
Anders schon in der Stadt, in der Familie des Kaufmanns,
des Handwerkers und des hoher Gebildeten; da bietet sich
der Jugend frühzeitig Gelegenheit den Bleistift oder Griffel
zu erhaschen und Eigenes damit zu produzieren. In einzelnen
Familien giebt das Vorbild der Eltern wohl ^ar ein anregendes
Beispiel, und hier wird man die Kleinen oft bei ihrer Lieblings-
beschäftigung, dem Zeichnen und Malen, .finden können, das
in den langen Winterabenden oder nach dem ermüdenden Her*
umtummeln in frischer Luft eine gern benutzte Abwechselung
bietet. Auch in den FröbePschen Kindergärten findet man
Ztschr. f. pädagogische rsythologie, Jahrg. I, Heft 2.
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Psychologische Betrachtungen zur MctJiodik lies Zeichenunterrichts.
Fig. 8.
460
C. Ckms.
hier und da die Beschäftigung mit Zeichenübungen, freilich
meist in der wenig empfehlenswerten Form de^ Netzzeichnens,
das dem kindhchen Gemüt keineswegs angepasst ist.
Denn was zeichnen unsre Kleinen vom 3. bis 6. oder 7,
Jahre, wenn wir sie ihren eignen Gedanken folgen lassen?
Sehr richtig sagt Konrad Lange Seite 48 : „Das Kind hat keinen
Sinn für das Tote, sondern nur für das Lebende". Wie
den Tisch, an dem es sich stösst, straft, weil er ihm beseelt,
belebt erscheint, so geben auch die Zeichnungen fast immer
dasjenige wieder, was ihm einen Begriff des Lebens zu ent-
halten scheint. Der erste und wichtigste Gegenstand für die
Gedanken des Kindes sind die mit demselben verkehrenden
Menschen und Tiere, besonders Pferde und Hunde. Die
schnelle Bewegimg erweckt in dem Kinde in erster Linie Auf-
merksamkeit, daher zeichnet es mit Vorliebe den Reiter (Fig. 8)^ die
Eisenbahn, den Wagen (Fig. 5ti.6), das Schiff (Fig. 1) tmd selbst ein
ruhiges Haus nie ohne den aus dem Schornstein hervortretenden
Rauch. Nicht die gewohnlichen Dinge der Umgebung, die es tag-
täglich sieht, erwecken das Interesse des Kindes in erster Linie,
sondern seltnere Eindrücke. Ist nicht der Zirkus mit seinen
beweglichen Bildern (Fig. 2), der marschierende Soldatenzug, die
rasselnde Feuerwehr für jeden Kleinen ein Gegenstand höchsten
Interesses? Diese Wahrnehmungen sind es hauptsächlich,
welche sich dem Kinde einprägen, besonders dann, wenn sie
ihm nicht allein durch die Gesichtswahrnehmungen bewusst
werden, sondern auch durch Gehör oder Gefühl, z. B. die Er-
schütterung des Körpers. Der lebhafte Knabe wird eine Er-
zählung eines Strassenvorganges meist nur wiedergeben, indem
er dabei alle vorkonunenden Geräusche getreulich nachahmt,
den bellenden Hund, den befehlenden Offizier, die Glocke der
Feuerwehr, der Strassenbahn und dergl. Diese Bilder sind es,
welche sich den meisten einprägen; in zweiter Linie sind es
auch wohl solche, welche sich durch kräftige Farben den Ge-
sichtswahmehmungen aufdrängen. Dahin gehören die bimten
Kleider und Decken im Theater, im Zirkus, beim Militär;
denn Eins können wir auch bei dem kleinsten Zeichner be-
obachten: Sobald das erste Bild entsteht, ist das Kind be*
strebt Licht und Schatten, Hell und Dunkel darauf zu unter-
scheiden. Haare und Stiefel erhalten die erste Schattierung.
(Vgl. Fig. 2, 6, 9).
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Psychologisch« Jictrachtungeti zur Methodik des /eichenunttrtichts. 461
Flg. II.
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462
A, Claiu.
Eine weitere Frage ist es: Kann die Darstellung
so bewegter Bilder eine vollkommene sein? Unmöglich. Und
doch genügt sie dem phantasiereichen Geiste des Kindes.
Wie durch die Untersuchungen von SuUy und die folgen-
den Forschungen festgestellt, bedient sich das Kind fnihzeiti|^
gewisser Schemata einfacher Formen, die zumeist wohl durch
Tradition von Eltern oder Geschwistern entstehen, und ist
nun in der Lage bei einigermassen lebhafter Phantasie, diesen
Formen die gerade vorgestellte Lage zu geben und so sich
die Bilder der Phantasie vor die Seele zu rufen. Viele Kinder
werden freilich vor der Darstellung so lebhafter Bilder auch
schon in dem jüngsten Lebensalter, das sonst mutig wagt,
zurückschrecken, und diese beschränken sich daher auf wenige
immer wiederholte Motive, die ihnen gerade nahe liegen. Die
einen malen Bisenbahnzüge, andere Radfahrer, noch andere
Strassenbahnwagea oder Miets wagen (Droschken, Fiaker). Andere
Häuser, Landschaften, Menschen in den gleichen Stellungen
und mit denselben unmöglichen Gesichtern. (Vgl. Fig. 1 u. 2).
Diese Kinder werden leicht stereotyp und machen nur durch
Anregung von aussen, durch Besichtigung von Bilderbüchern,
oder Nachahmung anderer Kinder Fortschritte und verkümmern
daher in ihrer Vorstellungs- wie Darstellungsgabe. Daneben
aber giebt es Kinder, welche, atigeregt durch zeichnende Eltern
oder Geschwister, bereits ein ornamentales Zeichnen beginnen.
(Fig. 3 u. 4). Sie zeichnen „Muster**, „Figuren" (Dreiecke» Kreise)
meist mit Hilfsmitteln, Linealen, Geldstücken, Ringen, die sie gern
benutzen, manche zeichnen auch weitergehende „Schnörkel";
das Fremdwort „Ornament" ist ihnen ja noch unverständlich,
wie überhaupt der Inhalt dieses Begriffes fast jedem nicht
fachlich Gebildeten. Auch der gebildete Deutsche weiss kaum,
was ein Bandmuster, was eine gemalte Rosette oder Palmette
ist. Die Kinder malen aber aus der Ornamentik selbstverständ-
lich nur das, was sie benennen kömien, denn nur die Ver-
standesmässigen Begriffe kommen im Zeichnen der Kinder
zum Ausdruck. (Als solche sind Wappen, Kreuze, Herzblatt
für die zeichnenden Kinder zu empfehlen.)
Es ist nun die grosse Frage, soll die Schule jene Neigung
des Kindes benutzen und derartige Lebensformen in den Unter-
richt aufnehmen? Angercgi durch Fange's Schriften und den
X'organg der Amerikaner haben eine Anzahl Hamburger Lehrer
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Psychotogitche Bclra*:htungen sttr Meütcäiä itts XaehmutUtrrkhts, 463
eine Methode aufzustellen gesucht, welche die so^enanattm
Lebensformen in den ersten Schulzeichenunterricht eingefühlt
wissen will, und welche die Schwierigkeit des Nachzeichnens
durch das Stäbchenlegen vennitteln möchte.
In der That ist es ein gewaltiger Schritt» welchen der
kleine Zeichner machen muss von seinen häuslichen Arbeiten
lebensvoller Handlungen zu dem Zeichnen gradliniger Figuren,
wie sie der Lehrplan höherer Schulen vorschreibt. Wo bleibt
da die Verbindung ? Es konmien noch andere Schwierigkeiten
dazu.
Das Kind zeichnet, im Anfange namentlich, immer m kleinem
Massstahe. (Fig. 7 ti. 8). Zu dem Niedlichen, Kleinen fühlt sich
der kleint- Menscli als zu etwas Gleichartigem besonders hin-
gezogen. Die Schule dagegen verlangt einen gewaltigen Mass-
stab. Linien bis 20, 25 cm Länge. Rechtecke von ähnlichem
Massstabe und dergl. sollen aus freiem Augenmass dargestellt
werden. Ferner: Das Kind zeichnet die Bilder an
beliebigen Stellen seines Papiers oder seiner Tafel und
kümmert sich wenig darum, ob die Platzverteilung dem An
Spruche der Erwachsenen genügt. Der Lehrer aber verlangt
gebieterisch, dass die Zeichnung genau die Mitte des Blattes
einnehme.
Femer : Das Kind hat den Trieb» das Bild mit allen mög-
lichen Hilfsmitteln entsprechend zu gestalten. Es benutzt das
Lineal, um einen Rahmen darum zu legen; es benutzt Farb>
stifte, um es bunt erscheinen zu lassen. Der Lehrer verlangt
eine völlig freie Handführung, er fordert zumeist sofort die
Abschätzung gleicher Strecken nach rechts und links, also ein
gewaltiges Augenmass, er begnügt sich mit einer einfachen
Umrisszeichnung, die dem Kinde meist wenig Gefallen erweckt,
da es in seinen Zeichnungen wenigstens die Schattierung, noch
mehr aber die Farbe liebt. Und endlich: Das Kind war ge-
wöhnt nach freiem Gedanken seine Bilder zu schaffen, der
Lehrer verlangt die Nachzeichnung eines bestimmten Vor-
bildes. Wohl haben manche Kleinen ihre Bilderbücher nicht
blos studiert, sondern auch zu kopieren versucht. Aber welch
ein Unterschied zwischen der gleich grossen Vorlage, die sie
zur Nacheiferung antreibt und das Nachmessen ermöglicht,
und der grossen Wandtafelzeichnung, die viele Meter entfernt.
464
A. Claus.
den Kindern für den ersten Augenblick unerreichbar er-
scheinen mussl
Wo sind da die Uebergänge zu suchen?
Einige Methodiker griffen zu dem F'röberschen Netz-
zeichuen und gaben ihm eine Stelle in dem Elementarzeichnen,
(2. Schuljahr) und diese unnatürliche Methodik ist sogar in
die preussischen X'olksschulen eingedrungen und erhält sich
vielfach noch, so viel auch von ärztlicher Seite wie von Seiten
der Zeichenlehrer mit Recht dagegen Front gemacht worden ist.
Andre wie Htrth^) glaubten gegenüber dem Zeichnen nach
Vorlagen und Wandtafeln die natürlichen Gegenstände selbst
in das Bereich des Kindes als Vorbilder rücken zu können,
ohne zu bedenken, dass das Kind, wie alle Untersuchungen
dieser Materie übereinstimmend beweisen, nicht nach einem
bestimmten Vorbilde einen Gegenstand zeichnet, sondern
immer nur seine begrifflich erfassten Gedanken und Formen
zum Ausdruck bringt, meist ohne sich um ein Vorbild, auch
wenn es noch so nahe zur Vergleichung liegt, zu kümmern.
Das Zeichnen nach dem Naturgegenstande selbst liegt
dem Kinde fern. Die Uebertragung des Körperlichen auf die
Fläche, die Umwandlung des realen, wirklichen Dinges in ein
schematisches geschieht nicht unmittelbar, sondern durch V'cr-
mittelung der Gedächtniskraft, des x erstaiulesiiiässigen Deukcns,
des Erinnerungsbildes. (Vgl. Fig. 1,2 n. 6). Dci Sprung von dem kind-
lichen Zeichnen zum schuluiässigen würde also nur vcrgrössert
weiden, weini man das Zeichnen iiac h wirklichen Gegenständen
einfuhren wollte. Da war die alte Methode des Kopieicns
von Vorlagen dem kmdlichen (iei>-te angemessener; denn sie
gab den natürlichen Ucbergang von dem Abzeichnen der
Flächenfiguren des Hiklerbui hes in einem stufcnmässigcn
Ltiu gange mit dem Ziele der Bildung des Hand- und des
Augcnmasscs, welche auch bei dem Koi)ieren \on X'orlagen
erreicht werden kann. Auch hatte die einfache Kopiermeihude
den X'orzug, dass sie eine nidi\ iduelle liehandlung des Schülers
zuliess, die sich mit dem gegenwärtigen Zei( henunterricht mit
seinen V'orhängelafeln für die ganze Klasse nicht so gut er-
reichen lässt. Aber ein wichtiger Punkt fehlte freilich: die
1) G. Hirth, Ideen über Zeichenunterricht u. künstlerische Berufs,
bildung. München 1887.
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t^jftMlogüdte BetradkUrngm mr Metkodäk des ZeiekenunUrriekts, 4^
Belehrung über die Vorlage, das Eindringen in das Verständnis
des zu Zeichnenden, das erst die Richtigkeit der Zeichnung ver-
bürgt, und die geistige Fortbildung, die Erweitenmg der Kennt*
nisse ausmacht. Eine mündliche Belehrung ist bei grossen
Klassen nur möglich, wenn für die ganze Schülerschar
ein einziges Vorbild genommen wird. Aber das Abzeichnen
lernt das Kind erst ganz allmählich und es muss von dem Ijehrer .
auf die Vergleichung mit dem Vorbilde hingewiesen werden.
Sollen wir nun den Neueren folgen, welche die sogenannteii
schematischen Lebensformen nach Lange's Anregung in den
Schulzeichenunterricht einführen wollen? Sie bieten, wie
Müller, der die Methode ausgeführt hat, leblose Gegenstände
in möglichst wenig Linien in schematischen Formen z. B.
Fenster, Schild, Schirm, Kreuz, Kaffeemühle, Hände, Hüte,
Waage, Haus und wollen diese dem Kinde erst durch Stäb-
chenlegen verständlich machen.
Das Zeichiun soll die Erziehung zu produktiver Thätig-
keit sein. Das Legen der Stäbchen ist ein gekünstelter Um-
weg, der eher vom Ziele ab, als zum Ziele hinführt. Man
gebe den Kleinen ruhig den Bleistift in die Hand und lasse
sie versuchen. Das Stäbchenbild, das durch jede unvorsic htige
Handbewegung zerstört werden kann, hat keinen Wert für
das kindliche Gemüt. Für dieses brstelu vor allem das, was
als positiver Beweis des Könnens gezeigt, getragen, aufbewahrt
werden kann, nicht aber eine solche ephemere Uildung halb
plastischer, halb flachbildartiger Umrisszeichnung. Das Kind
bedarf zur Unterstützung der Vorstellung, wie schon oben ge-
sagt, der Schattierung, wären es auch nur wenige Striche.
Sie fehlen dem Unirissbild ans Stäbchen, und dies zerstört
meiner Ansicht nach die Illusion, die allein das kindliche Herz
bctriedigt. So möchte ich auch darin einen verfehlten Weg
erkennen, abgesehen davon, dass einzelne (Gegenstände, wie
sie Müller') als Beispiel vorlegt, auch nicht den (lefühlswert
für die Kinder besitzen, der ihnen zugeschrie ben wird. Nur
das handelnde, belebte oder belebt gedachte Wesen,
das bewegliche Ding ist für das Kind von packender Wirkung,
1) Fritz Müller, das Zeichnen nach Stäbchen auf der Unterstufe,
Hambg. Kloss 1895 und „der erste Zeichenunterricht" im «^Kindergarten**
Ihaü. No. 1. u. IL
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466
A. Claus.
nicht aber der tote» einzeln aus der Umgebung herausgeholte
Gegenstand.
Freilich möchte ich für den Kindergarten den schema-
tischen Lebensformen nicht jeden Wert bestreiten. Wie der
Anschauungsunterricht im Kindergarten gepflegt wird, so soll
auch, so kann auch in der oberen Stufe für Kinder im Alter
von 5 — 6 Jahren mit Vorteil die Zeichenkunst in den Em-
pfindens- und Verständniskreis der Kleinen gezogen werden.
Das Netzzeichnen nach Fröbel mag bessere Bilder ergeben
als das freie Zeichnen ; oh das Netz nicht aber die kindliche
Illusion» auf die es doch dabei ankommt, zerstört, wäre eine
andere Frage.
Durch Unterweisung der Erzieherin kann das Kind an
den Bildern unterscheiden lassen: einmal die äussere Erschei-
nung des Mannes, der Frau, des Knaben, des Mädchens, dann
die einzelnen Teile des Körpers, die Arme, die Hände, die
Teile des Gesichts, den Hals, der gewöhnlich von den Kleinen
völlig vergessen oder übersehen wird, die Brust mit den Armen
(die nicht am Kopf sitzen I), den Leib, die Beine und die Füsse.
Es können die Kleinen aufmerksam gemacht werden auf den
verschiedenen Anblick, den der Mensch von vorn und von der
Seite bietet, damit eine Klärung der Ansichten eintritt, die so
leicht ist, wenn sie den Kindern verdeutlicht wird, während an-
dernfalls eine unklare Vorstellung bestehen bleibt, die z. B.
Profilansichten des Kopfes mit beiden Augen hervorbringt.
Das smd dankenswerte Aufgaben, die den Blick der Kinder,
schärfen, ihr Interesse erwecken werden und zu vielerlei
Besprechung und Belehrung Anlass geben.
Ein kleiner Knabe, der sich viel mit Zeichenstudien be>
schäfdgte, kam sogar auf die Idee, alle möglichen Dinge von
hinten zu zeichnen, natürlich alles aus der Erinnerung, und
er fand, dass es noch einen vierten Standpunkt giebt, als er
einmal im Theater vom Olymp das Verschwmden emes Geistes
in der Versenkung gesehen hatte, die Ansicht von oben.
Di( Fachgelehrten nennen diese den Grundriss, Und auch
dieser dran-i sich schon den Kiemen im Kindergarten bei
verschiedenen Spielen auf. Die Jugend zeichnet ja nicht bloss
mit dem Bleistift und dem Griffel, sondern auch mit dem
Stabe in den Sand, die Erde. Das ist ja die einfachste und
allumfassendste Zeichenmethode, welche eben so von den Dorf-
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Pxychologüchc Ditrachtungcn zur Methodik des ZetchenunUrrickU.
467
kindem geübt werden kann, wie sie voa den grossen Mathe-
matikern des Altertums bisweilen angewandt worden ist.
Gerade in der Neuzeit sind vielfache Spiele in der Jugend
gebräuchlich geworden, welche die Zeic hnung von Figuren
im Sandi b( dingen, z. B. das Paradieshüpfen, Eins, zwei, drei,
das faule ICi, das Schneckenspiel und dcrgl.
Auch sieht die heutige Jugend von früh auf in den Städten
Pläne von Häusern, von Strassen und Flüssen, von Ländern
und Meeren, und der geographisclie Unterricht nimmt mit Recht
zum Verständnis des Kartenbildes seinen Anfang von dem
Grundriss der Schulstube. So ist es an der Zeit, darauf hinzu-
weisen, dass nicht zeitig genug die Verschiedenartigkeit des
Aufrissbildes und des Grundrisses den Kindem zum Verständ-
nis gebracht werden kann, damit nicht konfuse Vorstellungen
entstehen, die keinen Wert haben, indem sie Teile des Grund'
risses mit Aufrissdarstellungen verbinden. Das Kind ist
leicht geneigt, einen Tisch so darzustellen, dass es die
Beine und Seitenansicht darstellt und darauf noch eine von
oben gesehene Tischplatte legt. Da gilt es rechtzeitig vorzU'
beugen und klare Ansichten zu schaffen.
Aber noch in einer anderen Beziehung könnte der Kinder-
j^arten vorbereitend und erzieherisch wirken, wenn er das
natürliche Hilfsinittel zur Herstellung gerader Linien, das
Lineal, richtig handhaben lehrte. Ein schönes Werkzeug, das
die Vorfahren noch kannten, ist freilich veraltet und kaum
noch zu finden: das sogenannte „Kautel**, ein Lineal von
quadratischem Querschnitt. Unsere Eltern und Grosserem be*
nutzten es fleissig, um die damals noch nicht Itniierten Schreib-
hefte zu liniieren. Die Fortschritte der Zeit haben diese Arbeit
jetzt überflüssig gemacht; denn jeder kleine Kerl findet die
Hefte, wie er es nur wünscht, liniiert bei jedem Papierhändler
vorrätig. Früher war das Liniieren eine sehr gute Uebung. Die
Arbeit musste sauber und sorgfältig hergestellt werden imd
erforderte eine ziemliche Sorgfalt. Heut sind die Kleinen dieser
Mühe überhoben und doch wäre eine derartige Uebung für
sie recht dienlich. Warum könnte nicht das alte „Kantel**
wieder eingeführt werden zur Herstellung von linearen Ver-
zierungen, von quadratischen Feldern (Scliachbrettmustern)
oder mit schräger Ueberschneidung von Rautenmustern (cf.
das bayerische Wappen) ? Warum Hessen sich nicht durch An-
Zeitschrift für fuiiagogi'.che P&ycholoifie und Paüio!üi;;c-. 4
Digitized by Go
468
A. Claus.
etnanderreihung von Kreiseo, die vieUeicht vermittels Ringen
hergestellt würden, Ketten« Perlenschnüre und dergl. zur Dar-
stellung bringen? Das sind Dinge, die auch einem kleinen
Knaben oder Madchen von 5 Jahren nicht zu hoch sind, die sich
ungezwungen ergeben, Abwechselung bieten und nicht das
Kind an die lästigen Fesseln des Netzes binden, das den jGeist
auf eine arge Folter spannt.
Und mit dieser Vorübung im Kindergarten wäre meines
Erachtens der Uebergang zum Schulzeichenunterricht gegeben.
Sobald die Kinder den Zahlbegriff verstanden haben und
zum Rechnen mit benannten Zahlen übergehen, wäre es an-
gebracht, ihnen durch den Centimeterstab, bezw. den halben
Meter klare Begriffe über Verhältnisse, Längen- und Flachen-
masse beizubringen. Der Schüler lerne im 2. und 3. Schuljahr
messen und das gefundene Mass mit möglichster Genauigkeit
wiedergeben. £r lerne Punkte durch Linien genau verbinden
und zeichne so mit geringer Mühe die ersten Gebilde abstrakter,
oder wenn wir uns so ausdrücken wollen, idealer Art. Mit
mathematischen Begriffen können wir ihn füglich noch einige
Jahre verschonen. Man braucht das Zeichnen nicht mit dem
Quadrat, Dreieck und Sechseck beginnen, sondern man kann
anschliessen, wie ich dies bereits 1888 nachgewiesen habe, an
die omamentalen Verzierungen der Urzeit^), an einfache Bander
alter Vasen, an die griechischen gebrochenen Bänder, an Netz-
und Flechtwerk. Das sind klassische Zierformen, die sich
Jahrhunderte lang erhalten, tmd ihren dauernden Wert bewiesen
haben, die auch dem jungen Herzen einen «rfrischenden Inhalt
l^ewähren und auf diese Weise vermittelt, ohne künstliche Er-
schwerung durch das strenge Freihandzeichnen wird auch das
vielgeschmähte Ornament, das doch unbedingt in den Zeichen-
Unterricht gehört, dem jugendlichen Herzen näher kommen.
Der Uebergang in das freihändige Zeichnen geschieht alhnäh-
lieh bei zunehmender Sicherheit der Handfunktion, und er tritt
von selbst ein, wenn der Uebergang vom gradlinigen zum
krummlinigen Ornament gemacht wird*). Bänder und Stem^
Vgl. Ztachr. d. Veteins deutscher Zeichenlehrer Jhig. 1888. S. 57 ff .
,,Dcr Ursprung der geometrischen Ornamente".
*) Cf . Ehret, der erste Zeichenunterricht in der Schule u. die Be-
gründung einer nruen Methode desselben, in d. Ztschr. d. Vereins deutsch
Zeichcnl. Jhrg. 1697. S. 343 ü.
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P^fchOogiathe Bttm^nngm mtr Mähodäk des ZatheHunUrriekts. 469
formen bilden in der Hauptsache den Inlialt der gradlinigen
Verzierungen. Die einfachen regelmässigen Figuren: Recht-
eck, Quadrat, Dreieck, Sechseck sind wohl als Grundlagen
des gradlinigen Ornaments zu besprechen, gehören aber an
sich nicht in den Zeichen- sondern den mathematischen Unter-
richt Auch der Kreis, der nach der jetzigen Methode so viel
Schwierigkeiten den Kleinen und selbst den Quintanern be-
reitet, wenn er freihändig hergestellt werden soll, wird den
Schülern Freude bereiten, wenn man seine mechanische Er-
Zeugung zugiebt.
Das Kind verlangt, wenn es in das Alter von 6 — 7 oder
8 — 9 Jahren gelangt ist. eine grössere Vollkommenheit der
von iliiii erzeugten (Irbilde. Das Auisv ist durch die regel-
mässigen rornien der Druckschrill uiul ALhiiliche- so weit
gebildet, dass es nicht mehr vorlieb nimmt mit den man^t^el-
haften I)ai:ilellungen. die in früherei Zeit das Herz untl (jemüt
befriedigten. Es ist daher mein richtig, wenn die neuere Zeichen-
mclhodik zur Verteidigung von der l.clire des st engen freien
Handzeichnens den Satz aufstellt, man brauche nicht so genau
auf die Richtigkeit der Zeichnung und auf die Schönheit der
Linien sehen. Ebenso wenig wie der Lehrer, wird auch der
Schüler Freude an einer Zeichnunjg haben, die mangelhaft ist.
Da» Kind hat sich vielleicht stundenlang gequält, ist aber doch
überzeugt, dass es ohne Hilfsmittel etwas Schönes nicht er-
zielen kann. Das sind aber Gefühle, die für die Weiterbildung
von grösstem Wert sind. Die Lust vergeht, der Schüler zeichnet
oft nur gezwungen, sieht unbefriedigt auf die Ergebnisse seines
Schaffens und lässt vielleicht ein schlummerndes Talent dabei
verkümmern. Mancher pedantische Lehrer hat wohl durch
seinen Glauben an die allein seligmachende Freihandzeichen-
methodik junge Talente im Keime erstickt. Dem Kinde freie
Bahn nach höheren Zielen I Das sei die Devise. Erleichterung
des Unterrichts in jeder Beziehung, aber keine Erschwerung!
Die Ausbildung des Augenmasses ergiebt sich, wenn der Schüler
aus dem Gedächtnis bestimmte Masse z. B. 10, 15 cm zu
zeichnen geübt wird, ebenso wie er Winkeigrössen taxieren
und nachzeichnen lernen soll. Alles zug^leich aber im Anfangs-
unterricht des Zeichnens erreichen zu woUenj das ist verkehrt.
Daher kam denn auch die Aiifhebung des Zeichenunterrichts
in Sexta, angeblich wegen der geringen Erfolge; und doch,
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470
A, CUmt.
wie notwendig wäre gerade in dieser Klasse die Bildung des
Augenmasses und der Hand. Freilich solche Zugeständnisse
werden wir der Schule nicht machen können, wie Georg Hirth
sie 'vorschlägt, indem er wünscht, dass ein Kind das andere
zeichne, oder den dünnen und dicken Maim, oder dass wir
nur Tiere und Menschen in den ersten Unterricht als Vor-
bilder aufnehmen. Die Schule hat unter allen Umständen zu
analysieren, aufzulösen. Ehe der Mensch gezeichnet werden
kann, muss der Kopf gezeichnet werden. Ja, früher zeichnete
man vor dem Gesicht die einzelnen Teile, die Nasen, Ohren,
Augen, den Mund. Vor dem zusammenhängenden Ornament
muss das einzelne Ornament, vor dem natürlichen Gegenstande
mit allen Zufälligkeiten, ein einfaches aller solcher störenden
Nebendinge entkleidetes Modell geübt werden. Ehe der Schüler
den Körper betrachten lernt, muss er die Flächenformen ver*
stehen. Ehe er perspektivisch in die Tiefe, muss er geometrisch
in die Länge tmd Breite sehen und vergleichen gelernt haben.
Ehe er in bunten Farben malt, möge er die Stimmungen,
Tönimgen einer Farbe kennen lernen^). So ist ein Fortschritt
möglich. Man vergesse nicht, dass mit der ersten Schulbildung,
wo Worte in Buchstaben oder Laute zerlegt werden, die Ana-
lysis, die Auflösung der kindlichen Phantasiebilder beginnt,
so dass für das Schulkind auch im Zeichnen nicht mehr die
einfachen Schemata genügen werden, und dass das Kind in
der Schule schon durch den Vergleich mit dem andern Lern-
stoff auch im Zeichnen andere Dinge erwartet, als banale häus-
liche Gebrauchsgegenstände in schematischer Form. Es wird
auch das Ornament verstehen und lieben lernen, wenn dasselbe
nicht in blossen Formen, sondern auch mit Namen und Be-
deutung vorgeführt wird.
Freilich soll damit nicht gesagt sein, dass neben
dem Ornament, das in erster Linie vor wie nach im Zeichen-
unterricht gepflegt werden sollte, der Natur- oder Gebrauchs-
gegenstand nicht auch einmal der Abwechselung wegen zur
Verwendung gelangen könnte. Lernt doch der Quintaner
auch schon gelegentlich einen lateinischen Vers, der eigent-
lich in das Pensum der Tertia oder Sekunda gdiört. So
auch im Zeichnen. Es giebt Gelegenheiten den Gesichts-
I) Cf. des Verfassers »^Methodik der Farbenlehre". Berlin. Ferd.
Ashelm im
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Psychologische Bttrochtung<m zur Methodik des Zeichenunterrichts,
471
kreis der kltincn Zeichnrr zu erweitem oder die pri\are
Vorbildung derselben auf die Probe zu stellen. In der Schule
aber wird als Lehrgang doch iitiiner nur ein Fortschritt
vom Leichten zum Schweren aufgestellt werden können, vom
Flächenhaften zum Körperlichen, vom Schattierten zum Bunten,
vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Regelmässigen
zum Zufälligen, aber alles dies freilich nur unter Berücksichti-
gung der psychologischen Betrachtungen der Kindesseele.
Die fortschreitende geistige Thatigkeit des Kindes wird
man hauptsächlich an folgenden Merkmalen der Zeichnungen
erkennen können:
1. Der Massstab der Bilder wird ein grösserer.
2. Das Kind beginnt auf richtige Verhältnisse zu achten,
besonders bei dem figürlichen Zeichnen. Vergl. Fig. 5. Zeich-
nung eines ganz ungeübten 9 jähr. Knaben mit schlechten Ver-
hältnissen, und Fig. 6, dasselbe Bild einer Droschke mit viel
besseren Verhältnissen.
3. Die Zeichnung wird richtiger disponiert. Vergl. wieder-
um Fig. 5 und 6.
4. Die landschaftliche Perspektive entwickelt sich. Vgl.
Fig. 9 und 10.
5. Charakteristische Unterscheidungen werden scharf be-
obachtet. Fig. II.
6. Der Arbeitsplan erstreckt sich auf mehrere Bilder.
Femer sind auffallend die Unterschiede, welche sich 1)ei
den Bildern der Knaben und der Mädchen bemerkbar machen.
Einmal zeigen bei den Mädchen natürlich die Linien eine
leichtere, schwächere Führung, dann aber ist bereits ziemlich
frühzeitig die Lust an Schmuck und Verzierung zu erkennen,
imd meistenteils eine grössere Peinlichkeit, eine grössere Sorg-
falt im kleinen, die erkennen lässt, dass sich der Ideenkrciis
des Weibes mehr auf die Einzelheiten als auf das grosse
Ganze richtet. Auch dürfte man selten finden, dass ein Mädchen
andere als Profilstellungen wählt.
So viel aber geht aus der Beobachtung des kindlichen
Zeichnens hervor, dass eine Entwickelung ohne Anleitung zu
keinem Ziele führt, oder nur bei wenigen begabten Kindern.
Das Ziel aber muss sein, den grossen Durchschnitt zu der
Fähigkeit zu erziehen, die uns umgebende Kunst und Natur
richtig zu sehen und wiedergdben zu können. Ein Kunstver-
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A, Ckuu.
suiKlni.< ist auch nur denkbar, wenn wenigstens das Erstere
errciclu ist.
Es ist femer zu berücksichtigen, dass der Zeichenunter-
richt mciit nicht von Künstlern erteih wird, welche viellei lu
allen Wünschen, alUn i iianlasicn tlcr Kinder gerecht werden
k()nnen, sondern von Lehrern, die meist nur einen bc
srhriinktcn Teil der 1 oriiu'iiw fit beherrschen. Die Schule kann
dtiluT au( h nur einen bcbcliraukten Forrncnkreis in den Bereich
ihres Sysieiiis hineinziehen, oder sie verfällt dem Schema-
tismus der Vorlagen, wie dies früher der Fall war. Die Schule
kann von der Kunst nur das Allereinfachste Ichren und das
ist zumeist da-s, was in der historischen Entwickelun|f das
Erste ist.
Zunächst müssen in den einfachen Schulverhältnissen die
Leistungen der höheren Kunst ausgeschlossen sein, Malerei,
BUdnerei, ebenso wie im Deutschen keine Gedichte und Romane
verlanget werden können; dann müssen wir verzichten auf das
Figürliche, so sehr auch der Mensch den Menschen interessieren
mag. Es bleibt in erster Linie das Ornament und die Dar-
stellung des Wirklichen, Sichtbaren aber Ruhenden als Inhalt
des Schulzeichnens übrig, und bei dem Ornament ist, wenn
wir vom Leichten zum Schweren übergehen wollen, eine Be-
rücksichtigung der mathematischen Grundformen, die aller
rhythmischen BUdung zu Grunde liegen, notwendig für die
Bildung des Auges und der Hand, während andererseits zur
Bildung des Geschmacks und des Intellekts die Berücksichti-
gung historischer oder naturalistischer Formen, .am besten
beider, erforderlich ist.
Nacli diesen Anschauungen lassen sich folgende Grund-
sätze für den Zeichenunterricht autstcUeii ;
I Man vermeide im Anfange alle unnatürlichen künst-
hchen Hilfsmittel.
2. Man bilde dagegen die Anschauung, den Sinn für
Masse, Entfernungen; man lehre messen und gemessene oder
diktierte Masse abtragen. Erst das Centimeter, erst spater
das Augenmassl
3- Die mathematischen Grimdformen, besonders die
regelmässigen Vielecke dürfen als die ewigen Grundformen
der Symmetrie und Regelnlässigkeit nicht weggelassen werden.
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Psychologische Sclrachtungcn zur Methodik des Zeichenunterrichts. 473
sind aber ini Unterricht zu Oinamentfonnen auszugestalten,
ebenso wie der Kreis die Grundlage der Roscttenbildung ist.
4. Das geradlinige Zei< hnen zerfällt in Linealzeirhnen bei
grösserem, in freihändiges Skizzieren bei kleinerem Massstabe.
Von Anfang an sind die Flächen durch Abtönung
(Schraffieren) oder Tuschen von den angrenzenden abznheberL
6. Der gute Umrissstrich ist durch richtige Anleitung des
sog. Freiarmzeirhnens zu erreichen,
7. Durch Pflege des historischen Ornaments (wie Rosetten,
Palmettcn) ist der Kunstsinn zu wecken, und 8. durch Cedächt-
niszeichncn das Komponieren (eigene Entwerfen) \ or/ubereileru
Das rilan/enreich bildet die Ueberleitung vom Flächen-
zum Körper/eiclmen.
10. Beim Korperzeichnen sind die verscliiedenen Dar-
stelluni^sweiseti (projektive inid perspektivische) zu erörtern.
Danach hat man sicli ablehnend zu verhalten.
1. gegen die sog. Lebensformen, weil sie keine feste Form
und keinen künstlerischen Gedankeninhalt bieten.
2. gegen die allzulange Behandlung geradliniger Figuren;
3. gegen iiliertriebene Anforderungen des Freihandzeich-
nens und blossen Absrhätzens ohne Maasse;
4. gegen die teilweise gewünschte Beseitigung des Orna-
mentzeichnens ;
5. gegen das un^enut^end vorbereitete Zeichnen von Natur>
formen, Blattern, Blumen etc.;
6. gf^gen ungenügend vorbereitetes Entwerfen von Oma-
menlcu ,
7 gegen Vernachlässigung der Technik (unsauberen
Strich etc.):
8. gegen all/,uvieles Dozieren ästhetischen oder kuust-
geschichilichen Inhalts.
Zum Schluss zwei Wünsche :
1. Vermehrung der Zeichenstunden namentlich in den
Bürgerschulen und Seminaren und
2. ein einiicitliches V orgehen des l"nterrichtsmini-ii 1 lums
in dieser Präge und des Ministeriums für Handel und bewerbe,
welchem die gewerblichen Fortbildungsschulen unterstellt sind.
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Sitzungsberichte.
Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Sitzung vom 8. November 1901.
Beginn S'/« Uhr.
Voreltzender: Herr Sttimpf^
SduiftfÜbrer: Herr Hirsch 1 äff.
Nach einigen kurzen f^eiichäftiicheii Mitteilangen des YordtsendeD h<
Herr ICttnch den axtgekflndigten Vortrag: „Zam Seelenleben des
Seknlkindes".
Ein Referat dieses Vortrages ist unter den Originalien dieser Zeitschrift
abgedruckt.
D i « k u 8 K i o n :
Herr 8tum}>l daakt dein Vortragenden tur seLae lehrraiciieu nnd ge*
haltvollen Darlegungen.
Herr Kern sieb weist zur Ergänzung des vom Kednur gezeichneten
Bildes auf seine eigenen Untersocbangen über Arbeitstypen hin. Er be-
gründet in längerer AnsfOhning den Begriff derselben und Ihr VerhSltois
Sur Bangordnnngslistc und bebt eine Reibe von Folgerungen hervor, die
ans einer solchen zahlenmSssigMi AnfsteUnng bei der Bangordnnngsliste
sich ergeben.
Herr Fischer: Ich möchte zu dem Vortrage eine kleine historische
Bemerkung machen, die virlU^irht niiKokam r i t. Die Nummern -Censtnreu
sind teilweise sclion Ende d»* 18. Jahrhundei i,s in (it'ljraurh gewesen, so
unter Gedike um Grauen Kioster in Berlin. Ick be^iize von meinem
Gfoesvater ans den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts eine Beihe von sog.
Duodex-Cttisnren. bei denen verschiedene Farben fttr die einaelnen Nnmmern
angewMadt sind. z. B. gelb für No. I, grfin fttr No. II, n. 8. f.; ediUessliöh
eeel«grau für No. IV.
HeiT Münch: Die Ergänzungen, die die Herren Vorredner zu meinen
Ausfiilirung'en gegeben haben, sind mir sehr wertvoll g^ewrsen. Aber ich
wünsclite, dass ausser den Nummern, die die Leistungsfäiiigkeit der Schiller
feetstellen, auch noch die sonstigen Eigenschaften der Kinder eine genauere
Beleodhtiing finden. Im übrigen würde ich die üethode, die Herr Kern« i es
snr Fsststelinng der Bangordnnngsliste ▼orgeftthrt hat^ nicht billigen. Das
Verfahren ist ▼ielinehr so, da.ss die einzelnen Unterrichtsfächer in den ver-
Bchiedeuen Klassen ver.S( hit-den l>ewrrtpr werden. Auch ist es ein Unrecht^
dass die schriftlichen Arbeiten noch eine so grosse Rolle spielen.
Herr Stumpf: Die niatliematisch-inechaiiis(:li-stati.->tische Methode, die
Herr Kenjsies vorgetnigon liat, scheint auch mir bedenklicli. Öie mag
vielleicht für Mathematiker brauchbar sein; aber die Jkfathoaotiker &ind
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SiUuHgsItcnchU,
47S
nicht immer die besteu Fsyehoiogen. Das V'erfahrea, daa Hen- Münch
empfolilHi hat, dM raf der SeelenkeaiitDis der Kinder and beeonderB der
elnselnen Individnalitlten hemlit, scheint aneh mir dae empfehlenswertere
an sein.
Herr Kemsles: Obwohl sahlenmAsalg gewonueu, hat die von mir
vorgeführte (Trupponnnordnung sehr j^rosse Bedeutung, da sie Im Laufe
de« Jahres wenig wechselt. Diese Konstanz ist nns:<erordentlich bemei kens-
weri; denn es ist damit der Beweis erbruclit, dass es sich nicht nur um
mechanische Berechnungen, sondern nm die Erfossung tlct'erliegcuder
Arfaeitselgenseliaften der Pnraönlichkdteu handelt. Es IKsst sich daher nicht
leugnen, dass das Verfahren aui einer psychologischen Basis raht. Die
verschiedene Hewertung der Fächer in verschiedenen Klassen ergiebt sich
bei der Rangordnung in gewissem *^innp von ppüvst durch dif» Multiplikation
der Fachnummer mit der von Klasse zu Kla^sse wechselnden ätundeuzalil
des betr. Paehes.
Herr Stampf miSchte bezweifeln, dass man nicht ohne die Zahlon
anch durch die blosse Beobachtong der einzelnen SchOler sn den gleichen
Ergebnissen kommen kiinnte; will aber nicht bestreiten, dass die Zahlen,
zweckmässig gewonnen, p^chologische Betrachtongen anregen nnd stützen
können.
Herr Rauh: Ich möchte aus meiner jM-rsönlichen Erfalirung einige
Momente anCahreu, die gegen die Aufi'assung des Herrn Kemsies sprechen.
Ich selbst bin als Schüler in manchen Jahren von den eisten auf die letzten
Pliktse gesogen; in der Mitte habe ich nie gesessen. Daher wären die
Folg^nngen, die Herr Kemsies ans seinen Zahlen zog, für mich .sehr
unheilvolle gewesen. Ich möchte eine andere Erfahrung, die ich als Lehrer
g-prnacht habe, danj^bon stellen. Ich beobachte seit langen .Tnhnm, dass die
Kangordnong meiner Schuler im ersten, noch mehr al>er im zweiten Viertel-
jahre sich ▼oUkommen umgestaltet, sobald ich eine Klasse Qbemehme.
Woran das liegt? An dem Untersehlede der Individoaiitilten der Xjehrer.
Der eine erwartet Ton seinen Schülern etwas anderes als der andere und
beurteilt infolgedessen die Kinder demgeniäss. Daher erweisen sich auch
hier die Folgerungen des Herrn Kern sie«: als unzulänglich. Es erscheint
vielmehr notwendig, auf die Individuiilitiiicu der Schüler einzugehen. £a
ist gefi&hrlich, die Klasse als einen GesiitjUorguuismus zu betrachten.
Herr Peukert: Ich möchte mir zwei Bemerkungen gestatten Die
Anordnung der 2küüen in den Zeugnissen unserer Schiller verdanken wir
den millttrischen Zeugnissen. Dieses Pointwesen ist eine Unsitte, die von
den militärischen Anstalten übernommoi worden ist. Heate verlsagt die
ünterricbtsverwaltung von den Lelirern bei den Abiturienten eine genaue
Schildcrnnp^ dor rharnkterc- der SrliiUer. Das ist aber oine Fordorune:. die
den Lehrern so viel Jüühe zuweist, dass sie allgemein nicht durchgeführt
werden kann. Jedenfalls lässt sich nach d«ii Zahlen allein die Leistung
der Schttler nidit beurteilen.
Herr Fischer: Der Vortrag des Herrn Httnch hat so ansserordentUdi
an^igend gewirkt, dass die Frage erheben m({chte, ob man nicht ein
oauennai an£ den Vortrag nnd die Diskossion zurttckkommen könnte.
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476
Herr Münch: Die beiden erwähnten Methoden der Beurteüaug der
Leisfeangsfähigkeit der Schiller widerq^mshen lidL nidkt, Modem elfi ergänzen
eich vielmehr in sehr glfidclicker Weise in der Hand geeehtekter Lelizer.
Es giebt jedenfalls Schfiler^ die eine Reihe von XTebergangsstadien asigen.
Hiermit ist die Diskossien erschöpft. Nedi einer Irorzen Fvose teUleest
sich die statutenmilssige Goueralversammlnng «n» deren Tagesordnung die
Neuwahl des Vorstandes bihict. Es werden wicdergewälilt die Herren
Prof. Stumpf als I. Vorsitzender, Geheimrat Prof. Dr. Henbner als
IL Vorsitzender. Au Steile des wegen UeberbUrdong ausscheidenden Herrn
Oberlehrers Dr. Kemsles wird Herr Oberlehrer Dr. Fischer gewfthlt. Die
Herren Dr. Flatau und Dr. Hlrschlaff werden wiedergewählt.
tkhlnss der Sitsnng 10i/> Uhr.
Sitzung vom 13. Dezember 1901,
Beginn 8% Uhr.
\'orsiucndcr: Herr Stumpf, später Herr H e u b n c r.
Schriltftihrer: Herr H i r s c h 1 a f f.
Nach EruiTnuiig der Siuung teilt der Vorsitzende mit, dass in der
kürzlich stattgefundenen Geaerelversaminlung Herr Oberlehrer Dr. Kemsies
das Amt des Schriftfährers niedergelegt hat und Herr Oberlehrer Dr. Fischer
an seiner Stelle in den Vorstand eingetreten ist. Sodann hält Herr Stumpf
den angekündigten Vortrag :
EiKonartigc sprachliche lintwickelung eines Kindes.
Der Vortrag ist unter den Originaibeiträgen dieser Zeitschrift ab-
gedruckt.
Diskussion:
Herr H c u b n c r eröffnet die Diskn<'iion mit einigen lu rzliclien
Dankesworten an den V'ortra^renden und hcbi Ijesonder!? die* s.orgi,iltigc
Methode hervor, die für die spatere Forschung vurbüdlich srin durfte.
Ili-n Flatau: Die v;'"iiauf Auf/cichiumy einer solchen nniTcwöhn
hellen pa(hoIogischen Spraclientwickclung wie im vorliegenden Falle ist von;
wissenschaftlichen, wie vom praktischen Standptmkt ausserordentlich dankbar.
Denn ein solcher Fall interessiert die Vertreter sehr vieler Päclier, nicht
nur die Pädagogen und Psychologen, sondern auch die Aer.ne und
Hygieniker. Wir wissen ia. dass wir in einem gewissen I^ben.salter alle
Stnmmler sind. Auch hier handelt es sich m der ersten Entwickelnng um
ein gewisses Stamnicln. Man hat in dieser Beziehung Gesetze aufzustellen
gesucht, indem man glaubte, dass die Laute der verschiedenen Artikulations-
reihen sich in verschiedenen Zeitstufen entwickeln, analog den motorischen
Schwierigkeiten, die hei der .'\ussprache der einzelnen Konsonanten zu über-
winden sind. Sicher ist iedenfan'-. (la>s die Kinder, die von diesem Leiden
befallen sind, sich gehen lassen, und dass diese Erscheinung fast stets mit
SütungsberichU.
477
anderen Bcwcguugshemmuugcn zugleich uuiiritt. interessant ist es, wenn
wie hier diese Sprache des Stammelns so weit getrieben wird, dass die
andere Sprache sdieinbar dahinter turücktritt Ein Punkt» auf den ich noch
besonders eingehen möchte, betrifft die bemerkenswerte Plötzlichkeit, mit
der hier die bessere Sprache aufgetreten ist. Ich selbst habe Aehnliches
beobachtet und habe schon vnr mehreren Jahren die mechanischen Be-
dingungen dieser Erscheinungen studiert. Auch durch Schreck, z. B. Angst
vor der Operation und ähnliches, kann mit einem Mate sich unvermittelt
die normale Sprache einstellen. Damit ist freilich noch keine Erklining
gewonnen, wie das motorische Centrum mit einem Male funktioniert, wenn
auch das akustische schon lange vorher mit Material überladen ist. Endlich
noch eine kleine Anincrkunff ans der Sprachentwickclniifi dc'^ Knaben.
Das .,Uh" lur ..gross" ist wohl mit Wahrscheinlichkeit /uruckzutührcn auf
den Affekt der Bewunderung, wie wir das bei anderen Kindern auch beob-
achten. Seltsam ist, dass die Satzbildung zeitlich auf die Bildung der Worte
nnd Ausdrücke folgt, während sonst wohl beides annähernd zur gleichen
Zeit sich entwickelt
Herr S tu m p f : Nur die Einteilung des Vortrages geschah nach dem
Prinzip, dass zuerst die einfachen, sodann die zusammengesetzten Ausdrücke
und zum Schlüsse erst die Satzbildungen besprochen wurden. Damit sollte
recht {»esajjt «ein. dass diese lo^^j^ch getrennten Abschnitte auch in der zeit-
lichen Entwickelung aut einander lul.,-^!-!!. Was die Aehnbchkeit des vor
getragenen Falles mit anderen, bekannten Erscheinungen anbelangt, so habe
ich in der Litteratur, die ich durchgesehen habe, nur Einen Fall gefunden,
der eine gewisse Aebnlichkeit zum gegenwärtigen darbietet, aber patho-
logischen Charakter trug. Er ist von dem Wiener Taubstummenlehrer
Heller beschrieben und betriift ein neunjähriges Kind.*)
Herr Fischer: Einen ähnlichen plötzlichen Uebcrgang, wenn auch
auf einem anderen Cebiete als dem der Sprache, wie ihn der Herr Vor
tragende geschildert hat, iiabe ich selbst bei mcnuin eigenen jüni^sten vier
jährigen Söhnchen feststellen können. Vielleicht handelt es sich dabei um
plötzlich auftretende stärkere Willenseinfiüsse. Der Knabe war nicltt zu
bewegen, ausser Milch andere Dinge als Griesbrei und in solchen eingehüllte
Speisen zu geniessen. Mit einem Tage änderte sich diese Gewohnheit, die
*) Maditräglidi bin ich noch auf andere Fälle aufmerksam geworden,
die mehr Aehntichkeit mit dem von mir beschriebenen als der Heller'schc
df4rhieten tmd in Be^np: auf die Eipenarticrkeit der einzelnen Ausdrücke
über den meinigen hinausgehen, wenn auch leider die Beobachtunpr und
Berichterstattung nicht allen Anforderungen entspricht. Diese Falle sind
beim Druck des Vortrags in den Anmetkangen am Schluss erwähnt. Ich
möchte sie übrigens ebensowenig wie den meinigen als „patho-
logische" bezeichnen, da sie ja vielmehr in geistiger Hinsicht eine
i.'npfcwöhnliche Selbständigkeit des Vorgehens verraten und in Hinsicht der
Riidvmg der einzelnen I^ute nur etwa das spätere Auftreten einzelner Buch
Stäben bemerken lassen, das zu den ganz gewöhnlichen Erscheinungen
gehört. Stumpf.
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478
Sitsungsbertchte.
trotz lortwaiircnden und c^crgl^cllcn Zuredens vorher lan^e Zeil k-^r-
gchaUeu worden war, unter ausdrücklicher Erklärung des Kindes. Ausserdem
möchte ich angesichts der vom Herrn Vortragenden erwähnten Thatsachen
bezuglich der Farbenbezetchnung anfragen» ob die bei meiner Tochter bis
ins 5w Jahr festgestellte Unfähigkeit, die Farbennamen richtig zu verwenden,
als ungewöhnlich zu bezeichnen ist?
Herr Möller: Ich möchte mir erlauben, die Frage aufzuwerfen:
Hat das Kind bei seiner eigenartigen Sprache immer die Beziehung zur ge-
wöhnlichen Spraclie gehabt? Dem Anschein nach ja. soweit dies aus den
Mitteilungen ,des Herrn Vortragenden hervorgeht. Es müssen dcmnacii
Klangbilder der hochdeutschen Sprache und solche der eigenen Sprache
mit einander verbunden gewesen sein. Konnte nun nicht der Fall gedacht
werden, dass das Kind die hochdeutschen Klangbilder stumm mitgesprochen
hat. cl)i;nso wie wir «rlh>t es ijei dct F.rlerntinßr fremder Sprachen an uns
bemerken? Oline diese iiauüge l">regung des motorisihen Sprachcentruisu
w ire eine Erklärung des plötzlichen Ucbcrganges der pathologischen Sprache
^ zur normalen Sprachbildung wohl kaum möglich. Ich erinnere mich aus
meinen Erfahrungen als Lehrer, dass das stumme Mitsprechen bei dem Unter-
rieht in den Seminarklaüsen eine grosse Rolle spielt.
Herr Stumpf: Ich kann nur wiederholen, dass jedenfalls eine sicht-
bare Uebung der Sprachorgane in der Richtung der hochdeutsclien Aus-
drücke nicht stattgefunden hat. Ucber die Farbensinn-Entwickelung brinj^en
P r e y e r u. a. zahlreiche Angaben, nach welchen in Herrn Fische r'i
Falle die Entwickclung dieses Sinnes mit vier Jaliren allerdings verspätet
erscheint
Herr Fla tau: Das Kind, dessen sprachliche Enlwickelung der Herr
Vortragende gesdiildett hat, befand sich augenscheinlich in derselben Lage,
wie ein Kind, das in zwei Sprachen aufwächst, z. 6. Englisch und Deutsch,
wobei die Kinder beide Sprachen verstehen, aber nur eine von beiden
sprechen und zur anderen nicht zu bewegen sind. Was die vnrprfiihrtc
Sprache selbst anbetrifft, so durfte es empfehlenswert sein nachzusehen, ob
vielleicht einzelne Konsonanten darin besonders häufig vorkommen oder
fehlen. Nach den Eindrücken, die ich wahrend des Vortrages erhalten habe,
fehlte augenscheinlich das „s", während die Vokale sehr zahlreich vertreten
sind. Dadurch erinnert das Bild einigermassen an eine sehr seltene .Spr.nch-
störung, die von einem Wiener Kollegen als „Hottentottismus" bezeichnet
worden ist.
Herr Krmsies weist auf die Beziehungen solcher SprachbiMii :«cn
zu dem Spieltxiebe der Kinder hin und erinnert an einen merkwürdigen Fall
wirklicher Spracherfindung, der in den Veröffentlichungen der British Child-
Sttidy Association ausführlich beschrieben ist. Hier handelte es sich um
einen sechsjährigen englischen Knaben, der sich eine eigene, völlig durch-
gebildete Sprache geschahen hatte, ffir die er aogaor ehi dgenes voll-
ständiges Lexikon ausarbeitete.
Herr Fischer: Auch ich möchte die Frage aufwerfen, ob das ab-
sichtliche Verbilden der Worts, die die Kin:2er hören, vielleicht in Bc-
. j . > y Google
SitMUHgsberidtU.
479
Ziehung steht zu <Uii vorgetragenen Störungen, wohci die Kinder nichts
weiter im Sinne hal)t n. als mit der Sprache zu spielen, wie sie es mit anderen
Dingen auch thun.
Herr Stumpf: Als psjxhologihch lumiameniales Moment für die Ent-
stehung der kindlichen Sprache kommt diese Gewohnheit, die sicherlich
besteht, wohl nibetntcht, sogar auch im erwachsenen Alter.
Herr H c u b n e r: Die Plötzlichkeit der Entstehung der hochdeutschen
Sprache lässt sich vielleicht folgendermassen erküren. Es ist anzunehmen»
dass wir von jedem Worte, das wir sprechen, Bewegunssvorstellungen haben
müssen, dass jedes Wort erst vorher nachgesprochen sein muss. Wenn nun
die F.rinnorungsbildcr der hochdeutschen Sprache vorhanden sind, so dürfte
das genügen, um durcli allmähliche Bahnung des motorischen Centrums die
richtigen Sprachbewegungen auszulösen. Der plötzliche Wegfall der vor-
handenen Hemmung würde dann weniger wunderbar erscheinen. Etwas
Aehnliches erMwn wir auch bei Geisteskrankheiten, wo manchmal hässUche
und gemeine Worte bei den Kranken zum Vorschein kommen, nachdem die
moralischen Hemmungen durch patholojjische Prozesse aufgehoben sind,
wie ich es leider erst kurzlich m emem nur .sehr nahe gehenden Falle erlebt
habe. Ebenso ist wohl bei dem Kinde die Fähigkeit zur normalen Sprache
vorhanden gewesen, aber nicht benfitzt worden, bis die Hemmung plötzlich
fortfiel.
Herr Biedermann bemerkt, dass in der vorgetragenen Sprache eine
ganz auffallende Logik zu konstatieren ist. Die zusammengesetzten Worte
scheinen bereits Sätze darzustellen. Aufgefallen sei ihm femer, dass der
s-Laut fehlt, während b, g, k besonders häufig vorkommen.
Herr Stumpf stimmt diesen Bemerkungen im wesentlichen ZU. Es
führt im nbrigren zu ziemlich vcrwicIceUen FVagen, wenn man alle hier in-
betracht kotmnenden Probleme genauer verfolgt. Z. B. ob wir buch-
stabierend, ^yliabierend oder die Worte als Ganzes produzierend sprechen,
bczw. in welcher von diesen Formen die Bewegungsvorstdiungen vorher
gegeben Sein müssen. Jedenfalls bin ich den Herren Vorrednern dankbar für
die Anregungen, die mir von verschiedener Seite zuteil wurden.
Schluss der Sitzung um 10 Uhr.
Psychologische Gesellschaft zu Breslau*
Fttr den Winter 1901/2 sind folgende Vortrüge in Anasicht g«.
nommen:
1. Privatdoc. Dr. W. Steril : Zur P.sychologie der Aussaf?e. (Experimentolle
UiitersnehungC'ii ül»er das (.Tedilchtnis und sein? Täuschungen).
2. Provinzialschulrat Dr. Ostermann: (Thema vorheiialtenl.
3 BechtBamwalt Dr. E. Steinits: Die psychologische Schule in der Volks-
wirtachafkalehie,
4. Assistenzarzt Dr. £. Storch: Ueber Aphasie.
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5. Prof(!S8or Dr. F. Skatsch: Ueber Bedeatnngswandel.
6. Cand phi! J. Becker; Graphologie und Psy^'hnlnrrip
7. Rechtsaii .vilt 0. Peiser: Die Bedeatanjg des Schweigetns in pfl;ycho>
logischer mxd rechtlicher Hinsicht.
8. OtwEUhrer Dr. F. Ke mii«« (Berlin) : Die Entwlcklong der pidegogieeheft
JPlychologie In den letsten 50 Jaluren.
9. Nervenarzt Dr. H. Kurella: Probleme des Gefühlslebens.
10. "Redakteur Dr. med. H. TIarabnrger: Das Do])pol-Ic}i in der UttermtoT.
U. Nervenarzt Dr. F. Kramer: Ueber die Aufmerksamkeit.
12. Privatdoc. Dr. W. Stern: Psychologie und Geistes Wissenschaften.
Aasserdem sind Referatabeude vorgesehen, an detien u. a. verschiedene
Abeoluiitte von Wnndt'e Völkerpsychologie Besprechung finden sollen.
DieSitmngea finden gewdhnlich alle 14 Jage Dienetege In Btf ttehers.
Festsälen, Neue Gaase 15, statt nnd beginnen um 8*/« Uhr. Herren beben.
ala QiUte Zutritt.
Die Wintcrthätf^kelt beginnt am Dienstag, den 29. Oktober mit dem.
snb 1 geuaanteu Vortrage.
Die Tagesordnungen weiden regehniaalg am Sonatagyor den ^tsnngen
in den T^geeseitnngen bekannt gemaobt.
Ueber die Bedingungen der Mitgliedschaft erteilen die Satzungen
Auskunft. (Jahresbeitrag fär ordentliche Mitglieder 6 M., für Studierend»
als ausserordentliche Mitglieder 2 Mk.)
Anfragen und MitteÜuiigen wolle man richten au den Vorsit^^eudeu
Dr. W. Stern, Höfchenstraase 101 oder an den Schriftführer Bechtsanwalt
Dr. Steinitz, Antonienatraase 23.
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4
Berichte und Besprechungen.
Wie erziehen und belehren wir unsere Kinder während
der Schuljahre? Von Karl Richard L dwe 8». XVI. 838 8.»
Hannover iL Bertin 1689. Carl Meyer (Gustav Prior).
Dieses Buch bildet die Fortsetzung der 1898 erschienenen Löweschen
Erziehungsschrift: „Wie belehre und erziehe ich mein Kind bis zum seclistcn
Lebensjahre?" Es wendet sich wie diese an Eitern und Erzieher und
behandelt die Zeit vom sechsten bis einschliesslich siebzehnten Jahre.
Zweck der Arbeit ist, nicht etwa die Aufgaben der Schule ins Eltemhaus *
zu verlegen, sondern der heranreifenden Jugend das zu vetschalfen, was
ausserhalb des Rahmens der Ijehranstalten liegt, aber zu einer harmo-
nischen Ausbildung notwendig ist, — eine rationelle Mitarbeit der Eitern
an den» Erziehungswerke.
Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, kann die vorliegende Schrift
ein wahres „Schatzkisdein des guten Rates" für aOe Eltern genannt werden
und einen Platz in jeder Famihenbibliothek beanspruchen.
Der Inhalt des Buches zerfällt in zwei Hauptteile. Im ersten (S. 1 — 174)
werden dif Grundsätze für Erzit'hung und T'ntorricht in leicht verständlicher
und ansprechender Form unter Berücksichtigung folgender Punkte ent-
wickelt :
1. Welche Grundsätze gelten für die Bildung jedes Kindes?
2. Wie wird das Kind mit Rücksicht auf seine Eigenart gebildet?
3. Wir sor»;cn wir für das gegenwärtige und künftige Wohlbefinden
des Kindes?
Der zweite, an Umfang nicht geringere feil (S. 174— 3iJ8j beschäftigt
sich mit der häuslichen Durcharbeitung der Unterrichtsstoffe. Er ist in
3 Unterabteilungen zerlegt, welche die Bildung in der Muttersprache —
die Bildung der Zahl und Raunibegriffe und die Bearbeitung der übrigen
BiMunji:s^rhiptc n:m ncpcnstaiul haben.
In dem Kapite! ..Bildung in der Muttersprache" giclit Verfasser beher-
zigenswerte Winke, den mündlichen und schriftlichen Gebrauch der Sprache
betreffend. Er empfiehlt Eltetn und Erztehem auf eine richtige Arttkuladon
der Laute — insbesondere des t u.d, k u. g, p u. b, e tu &, i n. fi. — bei
ihren Zöglingen zu achten, auch SprachstOTUngen, sogenanntes Stammeln,
(las durch nachläs.sigcs Sprerhen in den ersten Jugendjahren oft entsteht,
thunlichbt abzuhelfen. Die Kinder sollen tum richtigen Gebrauch der
Wörter und Wortbeziehungeu angeleitet, mit den Gruiid^ügeu der Wort-
bildung und mit den synonymischen Ausdrücken vertraut gemacht werden.
Em anderer Absdnütt beschäftigt sich mit dem Lesen : Da werden die
Vorzüge des Lautierens, der allmähliche Uebergang vom Wort- zum Satz-
lesen, die Satzbetonung, Interpunktion, Lesepausen n. a. bebandelt.
j y Google
482
Berichte und Besprechungen.
Auch eine bracliti iisu erte Anleitung; zum Aufsatzschreiben findet der
I.eser hier iS. 211 ffj Nachdem Verfasser von der Wjrhripjkeit des /Vn-
schauens und Heobac htens und der logischuu Verknüpfung der cituelnen
Tliatsachen gesi)rochcn, schreitet er zur technischen Seite der Ausführung.
Beispiele, wie der Stoff anzuordnen und der Aufsatz zu entwerfen sei,
mögen hier folgen :
Die Birke, ^vergl. S
1. Wo sehe ich die Birke?
a) in grosser Menge?
ciTizL-ln
2. Woran erkenne ich die üirkc Was fällt nnr auf ?
a) an der Rinde?
b) an den Zweigen^
c> an den Blättern?
3. Wie entsteht die Birke?
ii; Wie sieht ein Samenkornchen aus?
b) Wo entsteht der Same r
c) Wie kaaii aut emcr M.aii r eine liirkc entstehen?
4. Was sehe ich an der Birke im Winter?
a) Wann erscheint die Birke besonders schon?
b) Was braucht sie für den kommenden Frühling?
G. Wozu brauchen die Menschen die Birke?
a) Wenn sie im Krdlwdcn bleibt?
b) W( nn sie gefällt ist. (Wozu brauchen die Menschen das Holz,
die Kmde. die Zweige ?)
Eine Anleitung zum Entwurf eines Aufsatzes wird auf S. 221 erteilt;
wir geben sie hier wieder, weil sie (ms einerseits wertvoll erscheint, anderer-
seits aber auch zeigt, wie gründlich und allgememverstindlich L w e auf
diese Dinge eingeht:
1. Die Hauptfragen sind aufgeschrieben.
2 Unterfra;' cn, soweit sie nötig sind, werden beigefügt.
3. Die Antwort auf die erste Frage wird liberlegt, für jeden gedachten
Satz ein Merkw-ort rasch hingeschrieben; beim ausführlichen Nieder-
sdireiben des ersten Gedankens konnten die übrigen dem Bewusstsein
entschwinden.
4. Man übersi> ht die Merlcworte und besinnt sich vielleicht auf einen
fehlenden Gedanken ;
5. schreibt die Sätze des ersten Teils auf;
6. giebt die Hauptfragen noch einmal an, liest den eisten Teil als Antwort
Uut vor, macht bei jedem Punkte eine merkliche Pause, damit
mancherlei Fehler in der Kinreihung der S.itzi- offenbar werden,
7. Mit gleicher Sorgfalt werden die anderen Teile ausgearbeitet.
8. Der ganze Avits atz wird ziemlich geschwmd \ or^elesen. Man erkennt,
ob cm Gedanke wiederholt ist oder etwas kurzer ausgedruckt werden
kann.
9. Man prüft» ob die Satzanfänge Abwechselung bringen, ob die Wieder-
kehr desselben Wortes vermieden werden kann.
licriclite und B<sprechungen.
4ö3
10. Nun erst wird die Rlm titschreibung geprüft.
11. Der verbesserte Aufsatz wird sorgfältig eingcsclirieben.
In dem Teile, welcher das „Sclidnscfarelben" behandelt, wird au£ den
Nntsen vorangegangener ZtichenObiingen (Kreis, Ellipse etc.) snr Eixielnng
kalligraphischer Formen hingewiesen
Der Abschnitt Rechtschreibung" bietet gleichfalls inant lies Lehrreiche.
Besonders sei hier auf die graphisclie Darstellung des harten und weichen
„S"-Lauteh (S, 233j, die bekanntlich vielen Schülern Schwierigkeiten bereitet,
verwiesen. Die lahlreichen Beispiele zur Erlernung der Orthographie in
diesem Buche gewähren dem Vater bezw. der Mutter htnieichend Stoff
zu Diktaten für ihre Kinder.
Nicht minder ausführlich wird an* b das Rechnen behandelt : zunächst
die Zahlbegnffe 1 — 10; dann der Zahlcnkrcis l — 20, 1 — 100 etc. Ein zweiter
Teil ist dera Rechnen mit Bruchzahlen (gewöhnliche u. Dezimalbrüche),
der Regeldetri und der Raumlehre gewidmet.
Zum Scfaluss findet man noch die übrigen Lehrfacher; Religion, Ge-
schichte, Geographie, Naturwissenschaftoi, Zeichnen und Handarbeiten kurz
bchandeh.
Berlin. H ans K u c h.
Paedologisch Jasrboek onder Redactie van Prof. Dr* M.
C. Schuytcn. Jahrgang 1. u. II. fi^ pp. 810 U. 240. Ant-
werpen "u. Leipzig 1900/1901.
Das im Auftrage der Stadt Antwerpen von Professor Schuyten, dem
Direktor des Pacdologischen Laboratoriums zu Antwerpen, herausgegebene
Jahrbuch ist als eine verdienstvolle Leistung auf psychologischem Gebiet zu
bezeichnen. Es ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Es enthält neben
wertv(rflen Untersuchungen, die obgleich in holländischer Sprache mitgeteilt,
im Prinzip denjenigen, die des Holländischen nicht mächtig sind, durch fran-
zösische beziciiungsweise englische Resumcs zugänglich gemacht sind, auch
eine vortreffliche Bibliographie der neuesten, einschlägigen Litteratur. Ueber
einige der un ersten und zweiten Bande beschriebeiien Untersuchungen wollen
wir hier kurz berichten.
Der erste Jahrgang !n ginnt mit einer Untersuchung: „Ueber die
Zunahme der Muskelkraft bei Kindern während f1 f> s
Schuljahre s". Schuyten hat mit Hilfe emcs elIipti>clK'n Dynamometers
m 2 ./Vntwerpener Schulen eine beträchtliche Anzahl Versuche an Knaben
und Mädchen im Alter von 18—16 Jahren angestellt, um über das «ich
gestellte Problem Aufodilitts su erhalten. Er besuchte die Lehranstalten
von Oktober 1898 bis Juli 1899 um die Mitte jedes Monats (stets an demselben
Wochentage) .Seine Befunde hat er zu Tabellen (vgl. S. 8 — 98) zusammen-
gestellt Sic führten zu nachstehenden Resultaten:
„Die physische Kraft der Kinder, dargestellt durch die Druckkraft der
Hände, hat nach 10 monatlicher Beobachtung zugeninnmen (siehe Tab. 1 u. 2
S. 101). Die monatlichen Unterschiede weben keine sehr grosse Regelmässig-
keit auf, beim männlichen Geschlecht sind sie scheinbar regelmässiger als
beim weiblichen. Auch eine Asymetrie in der Entwicklung der Muskel-
ZeMichrin fflr |^U«gO|^8che Psychologie und Pathologie. 5
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4M
JSetuhU und Jksprechungen.
krati zeigt sich be» erstcrem mehr als Ix i letalerem; sie teatsteht jebetifalls
bei Knaben schneller. Als Durchsriinitt bat sich das Verhältnis 8,9 : 10
ergeben.
Interessant ist die Thatsache, das« die Muskelkraft während des ganxen
Schuljahres (Oktober— Juli) • nicht stetig zunimmt ; eine auffallende A b .
nähme wurde sopar im Märr bemerkt (S. 00, 10<». lü.')\
Em zweiter Aul&atz brhandeit die l'"ra>i<- : i s zu w r 1 < h <■ m G r a d t-
passt sich die Schkratt der Made Ii en den Handarbeiten
an» die in den Antwerpener Schulen gelehrt werden?
VerfiuMcr stfltit sidi auf ein umfiMigreichei Zahlenmaterial. Er hat in
11 Schulen von Mitte Nfarz bis Mitte April Nachforschimgen in obiger Richtung
gehalten Zu diesem Zwecke legte er den Mädchen foljAc nde !■ rat?en vnr :
Kommt es vor, dass ihr a; beim Stricken, b) beim Häkeln, o beim Nahen
ein Stechen, Thränen oder Flimmern der Augen empfindet?
Die Umfrage ergab:
1) dass 22 o/o der Schülerinnen beim Stricken,
24<Vb „ „ „ Häkein,
34 0/0 „ „ „ Nähen mit Schwierigkeiten zu
kämpfen haben, weil sie die Details der Arbeiten nicht gut m unter«
scheiden vermögen ;
2' dass diesp Br-srhwrrdcn mit zunehmendem Alter heim Stricken und
Häkeln wachsen, ijeiiii Nähen hingesjen geringer werden;
3) dass Nahen die grösste Sehkraft erfordert.
Im zweiten Bande des Jahrbuchs interessiert uns zunächst eine experi-
mentelle Arbeit des Herausgebers : „Ueber die Veränderlichkeit
der Muskelkraft bei Kindern w ä h r c n d d e 8 b ü r g er 1 i c h e n
und des S c ii u i j a h r e s. Sie bildet gewissemuissen eine Fortsetzung
der im ! Bande mitgeteilten Untersuchungen.
Von Oktober IkSdüi bis Juli IBUil hat Schuyten Kinder beiderlei Ge-
schlechts, die in den Jahren 1889/00 geboren waren, derart unimucht,
dass er im Oktober die im Januar geborenen, im November die hsa Februar
geborenen Kinder u. s. w. obser\ icrte. um stets n^it möglichst gleichartigen
Versuchspersonen zu arbeiten. Jedes derselben wnrde zweimal im Monat
vermittelst eines elliptischen Dynamometers auf seine Muskelkraft hin ge-
messen und lieferte 12 Resultate (6 für die rechte imd 6 für die linke
HmmL)
Auf diese Weise erhielt der Experimentator durchschnittlich 4945 Re*
sultate pro Monat — in summa ein stattliches Material, auf Crund dessen er
im Laufe des Jahres nachstehende 4 Perioden konstatierte.
1) Von Januar bis März nimmt die Muskelkraft ab.
2) Von April bis Juni ^Ki^^ert sich die Muskelkraft wieder.
3) Von Juli bis September nimmt die Muskelkraft v e r m u t .
lieb ab.
4) Von Oktober bis Dezember nimmt die Muskelkraft wieder zu.
Während der Schulferien (Juli-September) musate Schuyten seine Ver-
suche leider einstellen, er vermutet indessen eine Abnahme der MtMlcelkraft
in diesen Monaten.
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485
Was die (.inzclnfn Perioden anbetrifft, so wird bemerkt, dass <lie
zweite Zunahrntfirriode kleiner, die zweite Abnahmeperiode aber grösser
als die entsprccitcucic erste sei.
Ancb der Aiibtti Aber „O rigtnal.Kinderxeiclmiingeii, als
Beitrag xar Kind«ranalyse** von Schuyten verdient an dieser
Stelle erwähnt zu werden.
Bek.'utntlich bieten die Kinder/eichnungen ein vortreffliches Mittel, um
vtwas über die geistipjc Verarüagun;; liint'crcr Kinder zu erfahren \'erfas<;er
teilt die Wahmehinungcu mit, die er aa cmciii ^Vs jahrigeti Knaben .aut iliesc
Weise gcnodit hat. Er hat diesen eine Reilie nwihibekannter Gegenstinde,
wie Pferd, Hund, Vogel, Fisch, i^ifel, Biine, Tisch etc. mit fCreide ddsrieren
lassen. Dabei ist er xu nachstehenden Resultaten gelangt:
1) Der Kruibe hat eiTu- rirhtifre, wenn aucb JÜcltt vollständige VorsteUung
von den ihn umgebenden Objekten.
Z) iir besit/t die BejfrJtfe „cms'* und „iwei" ; der Bi^hff „vier" ist ihm
in seiner Gesamtheit unbekannt, er besoichnet ihn ab »fViel".
4) Die einaelnen Teile seiner Skizaen lassen auf eine Vorstelluitg von den
Crössenvcrhälmissen schliessen.
5) Von den Begriffen: länge, Breite, Dicke, Volumen, sind ihm die
beiden ersten gut bekannt.
Bemerkenswert ist, dass er in seinen Zeichnungen im allgemeinen den
Kopf vom Rumpf nicht trennt, den Schwans bei den Tieren aber stets
»charf markiert. In derselben Weise hat Verfasser 20 andere gleichaltrige
Kinder (13 Knaben und lä Mädchen) geprüft, ohne jedoch irgend welche
Resultate zu erzielen.
Jener Knabe ist also der am meisten entwickelte unter ihnen; (^w.^
besüdgen andi die anthropometriachen Memiagea Er hat die Grösse
eines 6— 6 jährigen, das Körpeigewidit eines 6— 7 jährigen und den Hände-
druck eines 9 — 10 jährigen Kindes.
Zur »Charakteristik desselben erfahren wir weiter, dass er schon in
frühester Kmdhcit Anzeichen eines klaren X'trstandes gegeben hat: er ist
streitsüchtig, eigensmnig, empfindlich und tur Schmeichelei empfänglich.
Femer erfreut er sich eines guten Gedächtnisses, ist gutmütig und ein
grosser Tierfreund.
Berlin. Hans Koch.
Das T a u bs t u m m en bildungs wes e n in den Vereinigten
Staaten Nordamerikas. Ein Reisebericht und wei-
terer Beitrag zur Systemfrage vonj. Heidsiek. Taub-
stummenlehrer in Breslau. Breslau. Im Selbstver-
läge d es Ver f ass er s. 1899. 88 S.
Von der Unmöglidhkeit überzeugt, „die Taubstummen aller Katego-
rien zum verständlirhen Sprechen und sicheren .Ablesen vom Munde zu
bringen und die in ihnen schlummernden Geisteskräfte bei ausschliesslicher
Vcrwendimg der Lautsprache genügend zu entfalten", ist der Verfasser seit
vielen Jahren bemüht, die Mängel der in Deutschland in den Taubstummen-
Instituten eingeführten Lautspracfamethode darzulegen und eine gründliche
Reform des Untemchtsverfahrens herbeisuführen. In dem Bestreben, bessere
5*
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486
Ü<rickU und ßespreckuHgen,
Meihoden kennen i\\ lernen, du- ^ich in der Pimxis bereits bewährt haben,
unternahm der Verfasser eine Reise nach den \ ereinigten Staaten, um deren
so vielseitiges TaubstummenbiM'*Tigswe5en zu studiefen. In der vorliegenden
Broschüre bespricht er die auf der Reise empfangenen Eindrödce und fe-
sammelten Erfahningen und knüpft daran eingehende Erörteningen über die
Met hodenfrage.
Der erste Teil der Schrift, der von der äusseren < »r^ianisatinn der
Institute handelt, enthält einen Bericht über die Zahl der nordamerikanischen
Staats- und Privat-Taubstumraenanstaltcn, die Uoicrhaltungskosten j>ro Kind
und Jahr, die Dauer der Schulzeit, die äussere und innere Ausstattnag d^
Institute.
„Unterricht und Erziehung" ist der zweite Teil überschrieben. Auf
eine kurze Ucbersicht über dir prsrhirhtürhc IvntwirkcIunL' ri»-r Unterrichts*
methodcn folgen ausführliche Besprechungen dieser Methoden.
1, Nach dem Manual-System", bei welchem Handalphabet. Gebärde
und Schrift in Anwendung kommen, unterrichten nur noch vier Anstalten.
Ueber die in den ManuaI<KIassen des Instituts lu Philaddphta erreichten
Erfolge spricht sich der Verfasser sehr anerkennend aus. Die Letstun^en der
Schüler übertrafen alle Erwartungen Die Kinder verfügten über Sack-
ketmtnisse, dio in den C und D-Klassen unserer TaubstununokAnstalten
überhaupt nicht gelehrt werden.
2. Die „Oral- oder mundliche Methode" deckt sich mit dem in Deutsch-
land üblichen Unterrichtsverfahren, nur lassen die Amerikaner mehr schreiben
und legen grösseres Gewicht auf die Ldcture. Unter den 56 Staatsanstalten
befinden sich ausser dem Oral Departement in Philadelphia nur 7 Institute mh
zusammen 'iTl /Möglingen, in denen diese Methode ausschliesslich zur Ver
wendimg kommt. Neben guten Resultaten in euiigen Schulen konnte Lehrer
Heidsiek aber auch Anstalten beobachten, bei denen die reine Lautsprach-
methode das grösste Unheil angerichtet hatte.
A, Die ,^uricular- oder Hörmetbode'* beabsichtigt. Schwerhörige mit
Hilfe von Hörinstrumenten oder auch durch lautes Vorsprechen das Reden
und Schreiben zu lehren. Von dieser Methode macht man nur in den grössten
Instituten Gebrauch. Gegenwärtig findet sie in 13 Anstalten bei zusammen
etwa 140 Zöglingen Anwendung. ,,Da die .S< hurrliurigen kaum zu den Taub-
stummen gezählt werden dürfen, so sollte man jenes Verfaliren besser gar
nicht als Unterrichtsmethode bei Taubstummen auffuhren**
4. ,,Das f^Combined-System" ist das vorherrschende in den Vereinigten
Staaten. Es kommt allein in den Staatsanstalten bei über 8000 Gehörlosen
7ur Anwendimg und besteht in der Benutzung sämtlicher Vcrständignngs.
nuttel, welche sich zur Ausbildung der Taubstummen bis jet/t als brauchbar
erwiesen haben. Lautsprache, Handalphabet, Gebärde und Schrift sind die
Instrumente, mit denen die kombinierte Kfethode opcricn, und die Bevor-
zugung dieser oder jener Mittel richtet sich nach der Veranlagung und dem
Bildungsstandpunkt der Zöglinge."
ö. Die ,, Manual .Alphabet-Methode" vermeidet die Geliardmsprarhe
gänzlich, macht dagegen den uneinge««rhranktesten Gebrauch \om Hand-
alpbabet. Durch seine glänzenden Resultate hat sich das Taubstummen- Institut
2U Rodhester, wo dieses Unterrichtsverfahren allein eingeführt ist, die weit-
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iierichU und ßtsprtchtmgen.
487
gehend?te Beachtung erzwtingen Ausführli he Besprechungen sind diesem
System und der Anstalt m Rochester gewidmet.
Ehe der Verfasser die schwer zu entscheidende Frage nach der besten
Metbode beantwortet, erörtert er eingehend den Wert oder Unwert der eln-
xelnen Unterrichtsverfahren und das Wesen der verschiedenen Sprachmittel
tm allgemeinen, sowie ihren bildenden Wert, den sie insonderheit für Taub-
stumme haben Dieser Abschnitt trii^^t die ITehersrhrift ,.1. mitspräche, Ge
bärde, Schrift und Handalphabei ini \'erhaltnis unter sich nnd /um Taub
stummen". Der Verfasser spricht hier, wie schon in anderen Biuschüren, stine
Ueberzeugung aus, dass die reine Lautsprachroethode, wie sie in Deutschland
seit ehiigen zwanzig Jafaien zur Anwendung kommt, nicht geeignet bt, allen
Anforderungen an eine gute und zweckmässige Unterrichtsmethode zu ge-
nügcni. Er ist der Ansicht, dass sowohl Lehrer wie S« hüler von der natür-
lichen Gehnrdc-, der Pantoniimc, als Veranschaulii liungsinittel Gebrauc h
machen dürfen, die konvenuunelle Gebärde aber unbedingt vermeiden müssen.
Der Schrift als Verständigungsmittel wird nur geringe Bedeutung beige-
messen, um so eindringlicher werden die Vorzüge der in Deutschland so
vernachlässigten Fingersprache betont. Diesem ebenso einfachen wie sinn»
vollen \'er«^t.mdigungsmittel, dessen sich in den 56 Staatsinstituten .Amerikas
mehr al- njhi(i T.iubstumme bedienen, schreibt der Verfasser die über-
raschcndi 11 s])i.ii hlirliL'n Rrs\iltatr luuipt^arhlich zu.
In dem ..Summanstiics L rteii über die Methoden oder Systeme"
betitelten Abschnitte stellt der Verfasser zwei Grundsätze auf, nach welchen
er die verschiedenen Systeme auf ihre Brauchbarkeit hin beurteilt. Seiner
Ansicht nach ist die Manual-Alphabet^Methode, die sich der Finger*, Laut-
und Schriftsprache bedient, „die glücklichste Form des kombinierten Systems;
denn sie vereinigt diejenigen Momente der deutschen und französischen
.Methode in sich, welche, sich >;t n-i itig tordcMid und unterstiit/cnd, genu in
saai das Ziel verfolgen, den Taubäiuiuiiieu iii den Besitz der Wurtspraclie /.u
bringen**. Weiter sagt er über dieses Unterrichtsverfahren: „Kein zweites
System ist wie dieses' emer theoretischen Begründung fähig und kann mit ihm
gleiche Resultate aufweisen. Ich halte darum die Manual^phabet- oder
Rochester Methode für d.is vollkommenste System der Gegenwart und für
die Methode der Zukunft."
In den Schiussbetrachiungen wendet sich der Verfasser noch einmal
mit aller Entschiedenheit gegen die reine Lautsprachmethode und die Art,
wie sie m den Instituten gehandhabt wird, und hebt die unbedingte Notwendig-
keit einer durchgreifenden Reorganisation des deutschen Endehungswesens
für Taubstumme hervor.
Ist die \ ()rliej;endr» Schrift atu h hauptsächlich für Fachmänner be-
stimmt, so bietet sie doch auch dem gebildeten Laien viel Anregung und
Belehrung. Hoffentlich finden die Ausführungen des einsichtsvollen, durch
mehrere Abhandlungen über die Methodenfrage bekannten Taubstummen-
lehiers an massgebender Stelle die Beachtung, welche sie im Interesse einer
gedeihlichen Entwickelung unseres Taubstummenbildungswesens verdienen.
Berlin. W. Eichier.
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488
Berkhtc und Besprechungen.
Library liulleiini». No. 2. Books on education in the
librarics of the Columbia University. New York 1901.
Das Anwachsen der pädagogischen Utterattir in den. Büchereien der
Columbia-Universität sowie die grosse Zahl der Studierenden, die sie foirt-
laufend bt-nutzten, machten den Druck eines Katalogs notwendig, der infolge
seiner Ri irhhaltigkrit über den erst^jeda! Inen Zweck weit hinausgeht
und steil als ein ausgezeichnetes bibliograpiuschtb Nach-Schlagebuch quali-
fiziert; er enthält nicht weniger als 13 500 Titel. Die Anregung liu dieser
Veröffentlichung gab Professor Nichdas Murray Butler» der verdienstvolle
Herausgeber der Zeitschrift ,.£ducational Review". — s.
Gustav Hecke, Die neuere Faychologle in ibren Be>
ziehuü^en zur Pädagogik. Geschichtlich -biblio»
graphisclir Orientierung und kritische Würdigung.
Gotha. Verlag von E. F. T h i n o m a n n. 1901. 5S S. 1 Mk.
Ein kurzer Ueberbllck über die Haupvnchtungeu der früheren theo-
rettedien Fäydiologie fOhrt durch die wichtigsten philosophischen Systeme
vom Altertum bis znrNenseiti um su migen, wo die Anfiloge dw modernen
Psychologie liegen, wie Bich diese im vorigen Jahrhundert aUmllLlich. als
SpezialwiHsensehaft herausarbeitete und sieh als Grundlage aller Geistes-
wfp.N-en Schäften betrachten darf. Mit ihr wurde die iüuderpsychoitigie ^-e-
bureu. iSaehdem Pestalozzi die Groudliiiieu einer psychologischen Pädagogik
geselclmet hatte, die dorcli ICBiiiier ans der Sditöle Kante, Herbaits nnd
JBanckes erweitert und vertieft war, entstand anch bei den Psdagogen das
Bedttrfnis und der WnnBch, genauere Einsichten in das Wesen der Kinds»*
seele zu gewinnen, und man begann ihre Erscheinungen mit natnrwissen-
schaftlichcn Methoden zu analvsieren. So trat zunächst die Kindrriisvcho-
lopfie als psychologisches Teilgebiet auf neben Tierpsycliolugie, V Uker-
psychologie n. a. Indem sie sieh jedoch in den Dienst der Fftdagogik
stellte und sieh den drei Hauptfragen derselben — Sehulor^ukisation, Sdinl«
hygieiie und Methodik der Lehrfächer — zuwandte, w\irde sie zur Päda-
•^ot^ischen Psychologie. Ihre bi.-^beri r Ergelmis.^e i^ind heute nicht mehr
zu ignorieren, ihre Methoden erzwingen sicli den Eingang in alle päda-
gogischen Zweige. Mit ihrer Hilfe wird es allein möglich sein, die £r-
ziehnugsatiigaben der Schule und des Hauses in exaktem Stime an I9sen.
fWtgsn Uber den BÜdnngswert der etmehien Lelirfftcher, Uber Gemllts- und
'Willensbildung, über die Battcksichtigung der Individualität, über Ver-
anla-^un^ und Vererbung n. a. gehören vor ihr Forum. Die Reichhaltigkeit
ihrer Probleme und die zahlreiclien Ansatzstellen für ihre Lösung, sowie
dus steigende Interesse für die neue Disziplin selbst lassen uns schon iur
die nKchste Znktmft ein rüstiges yorwirtwelirsiteii erwarten. Dssu wird
auch die vorliegende Schrift mit Ihrer klaren, sadJichen Darsfeellaag anregen.
Berlin. W. Kcanae.
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Mitteilungen.
Deutscher Schulmänner- und Philologentag.
Professor Dr. Rciiiiiardt i Frankfurt^ erstattete den Beru ht über den
altsprachlichen Unterricht auf dem von ihm ;,'elciteten Gymnasium nach dem
I rankfurtrr i.chrplaii. Alle, die an dieser Schule mitarbeiten, sind iiberzeugt,
dass der neue Weg viel Gutes hat, ja dem ahcn vonusicJien ist. Von 88
Abiturienten hat nur ein einsiger das Ziel beim ersten Anlauf nicht erreicht»
diesem aber ist nach einem halben Jahr unbedenklich die Reife zugesprochen
worden. Einige Schüler haben trotz langer V^ersäumnis wegen Krankheit
das Kxani<ni dennoch mit gutem Erfolge bestanden. Das ist bemcTkcnswert
auch deshalb, weil nun schon gememt hatte, die Erfuli^e s-ten nur fluchtig,
beruhten auf fluchtigem Einprägen. Es ist das also ganz und gar nicht der
Fall. In vier Jahren ist erreicht worden, wozu andere sechs brauchten! Der
erste Unterricht ist schon eine Propädeutik der Syntax. Die Form lässt sich
nicht losgelöst vom Satze erklären. Die Schüler greifen denn auch hungrig
(!:ina(h. Drt^ Cedärhtni'^ ist auch jet^t viel schärfer, kurz, e«; ist eine Be-
reicherung de» ganzen geistigen Lebens festzustellen. In einem Jahre kann
man im die Cäsar- Lektüre gehen, imd R. kann versichern, dass kein gram-
matisches Zerpflücken stattfindet.
Die Uebersetzungen aus dem Deutschen ins Lateinische werden ernst ge-
pflegt, so dass der Schüler auch im freien, ja mündlichen Ausdruck Sicherheit
erlangt. - A)mm wie steht es mit dem Gnechisehen, ohne da^ das (jymn.isjiim
kein (lynrnasrnm mehr ist? Wir jje^itehen, dass uns hier hL'>oiider3 bange
war. Aber es war eine der schönsten 1-nitäuschungen nn Leben des Redners,
die Entwickelung des griechischen Unterrichts zu beobachten. Wie er>
zieherisch wertvoll zeigte es sich, dass 14— 16 jährige junge Leute noch
einmal mit den Elementen einer Sprache anfangen. Die Sehüler trachten mit
grossem Eifer danach, diese w nndi rliair Sprache zu erlernen und dies —
auch was das Gedächtnis hetriHt — nut bestem Erfolge Das Wagnis, mit
Homer anzulangen, ist vielleicht für die Zukunft mchi ausgeschlossen. Der
neue ahsprachliche Unterricht unterscheidet sich von dem auf alten Gym*
nasien in folgenden Punkten: 1. Die Schüler kommen in reiferem Alter
hinein. 2. Es kann eine reichere pädagogische Anknüpfung und Verknüpfung
stattfinden. Der l'nterricht wird lebendiger, geistvoller, anregender. Die
Kfil!' L^en drängen sich danarh. ihn auch in den Anfangsgründen t^eben zu
dürfen, denn er reisst einen stets selbst mit fort. Man erreicht eine grössere
Konzentration der für das Gymnasium bestimmten Eächer, nämlich der alten
Sprachen, ohne dass andere Dinge zu kurz kommen. Es ist ein Nacheinander
an Stelle des frühecen Nebeneinander. Die Zukunft wird ^tsdieiden. Un-
bedingte Ruhe ist der Feind alles geistigen Fortschritts. Der Frankfurter
Versuch ist nicht gegen die humanistischen Studien gerichtet, sondern als
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490
MUteüungen.
ein andfii I W'rii zur Forderung' der humanistischen Studien. ^Lebhafter
Heifallj Auf ciiu- l)isku-.sii)n wird \cr/u:lnct.
Professor Dr. Kehrbach Berlin; gab einen Bericht über die V'eroffeni-
Ijcbungen der Gesellschaft für deutsche Schulgescbichte» über ihre Gruppen
und über die Stellung des Reichstages diesen Arbeiten gegenüber. Die
Notwendigkeit rwu-r Zentralstelle für das gesamte deutsche Bildungswesen
ist immer wieder betont worden Wenn man der Ausfühnnig dieses Cr-
dankens näher treten wird, so wird man in drn Veröfft-rith hungen der Cv-
sellschaft einmal ein treffhchcs Material finden. Der Reichstag hat die Arbeit
der Geaeltschaft mit jährlich 30000 Mark unterstützt. In der leuten Session
hat der Reichstag einmütig die Regierung ersucht, diese Unterstützung auf
50000 Mark zu erhohen. Damit ist die Hoffnung gegeben, dass die Gisell-»
Schaft bald in die Lage kommen werde, in noch durchgreifenderer Weise ihre
bedeutsamen Aufgaben zu brarh( itrn Zugleicli liegt in dem Entgegen-
kommen der Regierung und de:» Reichstages ein erneuter Ausdruck der
Wertschätzung und Anerkennung für die nicht genug zu würdigende Arbeit
an der Eniehung und Bildung der Jugend. (Lebhafter Beifall.) — Aus
den zahlreichen anderen Vorträgen sei noch erwähnt derjenige von Professor
Dr. Kannegiesser (Strassburg) über die Notwendigkeit der Vermehrung der
dputsrb»'n T 'nterrirbt';<^tunden. Der R^^dner lictnnte. dass d>i> Gymnasiuni
auf clein c •( biete des deutschen rnii rrn hts seino Aufgaben nicht in dem
wunscheiiswerten Masse erfülle, hauptsachli« b deshalb nicht, weil es im
aUgemdinen einer su sehr Ibrmalistischen Ausbildung dient und die klassisch
antiken Unterrichtsfächer zu sehr betont. Auch nach seiner Ueberzeugung
müsse das klassische Altertum die feste Grundlage des Unterrichts bleiben.
Aber die antike Welt sei heute nicht r.K-tir der Mitt< Ipunlct imserf»? i^risti'jen
I.ebens, darum kt>nne sie aurh nirht üu lir der Miucl[>L]iikt unscrt^r I'iüdung
sein. Andererseits müsse man abt-r au«h davor warnen, dass etwa der
deutsche Unterricht in die vom Latein verlassene beherrschende Position
rücke. Um aber dem Deutschen den richtigen Einfluss auf diese Ausbildung
zukommen zu lassen, muss man ihm so viel Raum gewähren, wie es unbedingt
braucht. Professor Kannegiesser begründete nun eingehend die Forderung:
Ueberau und unbedingt für Tertia und Sekunda |e drei, für F^riina 'einsrh!ies>-
hch philosophische Propädeutik) vier btunden. Das Mittelhochdeuts« he,
so wünschenswert es sei, könne keinen Platz im deutschen Lehrplan haben.
Ein besonderes Augenmerk sei auf die Ktassenlektüre zu richteiL Sie ist
ausserordentlich wichtig. Wir sollten doch nachdenklich werden» in welche
geistige Atmosphäre unsere Jugend nach dem Austritt aus der Schule gerät. *
Auf die Privatlektüre darf man be'itc ni( ht nirhr rr* hnen. Für fin7^«-lne
Fälle mag es richtig sein, dass die Schuler sich privatim in der I.L-kture
weiterbilden. Aber die Zeiten sind vorüber, wo die Mehrzahl der Primaner
und Studenten sich in weihevollen Stunden in die Klassiker versenkte und
die Schule ergänzte. Die ausgedehnten sportlichen Liebhabereien der Jugend
brauchen noch gar nicht dazu zu veranlassen, die Intensität des Fleisses
diesrr Juijend zu bezweifeln Alter der moderne Flciss ^eht mehr .ntif das
Reale. Darum, so lanj^e umn (be hij^md norh in der Hand hat. ^^slt es, sie
in der Lektüre zu leiten. Daim wird sie sich einst vor einer pietätlosen Kritik
an Deutschlands litterarisch grdsster Zeit hüten und sich auch nicht kritiklos
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MüleäuMgm»
491
der litterarischen Dekadenz in die Arme werfen, — Ein Mangel an geeigneten
Lehrkräften sei nirht zu befürchten, auch nicht eine emstliche Weigcnmic
der Oliorschulht hurden und Regierungen, du- \'ernichriing des deutschen
Unterrichts einzuführen. Hoffentlich sei der ietzte preussische Lchrplau
nodi nicht als das letite Wort zu betrachten, wenigstens was den deutschen
Unterricht betrifft Wir erwarten zuversichtlich, dass dem Deutschen im
Gymnasium doch noch sein volles Recht werde. (BeifalL)
Eine lange Debatte folj:,'te. Im wesentlichen war man sich über die
Notwendigkeit der \ t rl.m>;t(.ii Vi rnu-lining » inifi. die praktische Ausführung
freilich gab Anlass zu mancher Meinungsverschiedenheit.
Professor Dt. Altendorf ai» Offenbach trat m längerem Vortrage für die
Abschaffung des griechischen Sprachunterrichts als obligatorischen Unter«
richtsgegenst.indes ein und für die Versetsung dieses Faches in die fakul-
tativen Gegenstände. Das Lateinische solle erst in Quarta bej;innt ii I)< r
Schüler solle zwischen Griechisch und Englisch zu wählen haben, das i- ran-
2usische solle früher beginnen, griechische Litteratur sollte auch in guten
Uebersetzungcn gelesen werden u, ä. w. Diese Forderungen fanden scharfen
Widerspruch.
Die vereinigte romanische und englische Sektion beschäftigte sich be<
sonders mit einem Vortrage des Rektors der Halleschen L'niversität Pro-
fessor Dr. Suchier über ,.die akadf-mischc V'nrbildung unserer fremdsprach-
lichen Lehrer." Im .Vnschluss daran wurde lolgcnde Entschliessung gef asst :
„Die vereinigte romanische und englische Sektion der l(j. Versamm-
lung deutscher Philologen und Schulmanner erachtet die Beibehaltung
des Lateinischen als Vorbedingung für das akademische Studium der
neueren Sprachen für unerlässlich und hält es für notwendig, dass die
Kenntni«? der lateinischen Spr.h !)'* im Tnifanpre der .Xntorderungen des
Gymnasiums oder Realgymnasiums schon auf der SchuK- erwortx ii wird,"
(Nach d. Berl. Tagebl.)
Verein für lateinloses hö Ii eres Schulwesen.
1. Der Verband giebt seiner l'cberzeugung dahin Ausdruck, dass die
Beseitigung aller l'nterschiede im Berechtigungswesen und in den
Promotionsordnungen der \ <«r-;rhiedenen Sta.iten und Universitäten
Deutschlands im nationalen interesse gelioten erscheint.
2. a) Die Fürsorge für die deutschen Schulen im .•\uslande hat ihre hohe ,
nationale Bedeutung und kann deshalb den deutschen Regierungen
und insbesondere der Reichsregriening nicht genug empfohlen werden.
b) Diese Fürsorge kann sich bcthätigen durch die Gewährung von
grosseren wirklich .Tusrcichenden Zuschüssen und dUTch die Errichtung
eines eigenen Reichsschulamts.
c) Femer ist zu wünschen, dass die Pensionsverhältnisse und Relikten-
Versorgung der Lehrkräfte an deutschen Auslandsschulen tmter Mit-
wirkung des Reiches geregelt werden, sowie dass die von deutschen
Lehrern an diesen Schulen verbrachte Dienstzeit bei ihrer etwaigen
Wiederanstellung im Schuldienste ihres Heimatstaates angerechnet
wird.
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492
MiUeüntngen.
Du Mitwirkung von Privatpersonen und von Vereinen ist sehr er-
wünscht.
Femer hat der Vorstand, gleichfalls auf Grund der in Marburg gct«ü>sten
BescbUisse, mit allen ihm geeignet erscheinenden Mitteln dabin «u wiiltea
versucht, daae doi Realanstalten die Gleichberechtigung mit den Gymnasien
gewährt werde. Zu diesem Zweck trat der Vorstand im Februar v. J. mit
dem V^erein deutscher Ingenieure, dem allgemeinen deutschen R<Mlschul-
Tnännervcrein und dem St hulrt-forniverein in Berathung. deren Ri ^ullat die
am Ii. Mai v. ]. in Berim abgehaltene Versammlung war. Eme beiracntUche
Zahl der Mitglieder unseres Vereins nahm an der Kundgebung teil. Den
Verhandlungen der „Junikonferens**» zu der tu unserem sduner^chen Be-
dauern kein einziger Vertreter unserer hiteinlosen höheren Schulen eingeladen
worden war, folgte der Vorstand mit der j^rössten Aufmerksamkeit. In
Sicherheit !ie5s sich der \'^orstand nher dadurch nicht wiegen. F.r set?te
scme Thatigkeit vielmehr m erhöhtem Masse tort, als selbst nach Eriass
der von allen sdiulpolitischen Parteien mk so aufrichtigem Dank begrüsste
königliche Eriass vom 23. November v. J. die Durchführung des hiemn er-
neut ausgesprochenen Grundsaties von der Gleich Wertigkeit" der höheren
Schulen immer länger auf sich warten licss. Wir richteten in Gemeinschaft
mit dem unserem Verbände angehörenden \'ercinen und mit dem bayerischen
Realschulmannervercm emc Emgabe an tic n Bundesrat, m der um Zulassung
der Oberrealschulabiturienten zum medizinischen Studium gebeten wiurdc.
Der Bundesrat hat anders beschlossen und nur den Abiturienten der Real-
g\ mnasien dieses Recht neu gewährt.
Dagegen ist unseren Abiturienten der Zugang zu der gesamten philo-
sophischen Fakultät in Preussen eröffnet worden. Wir sind dem Herrn
Minister für diesen Akt zu grossem Dank verpflichtet. De r Bann ist damit
gebrochen, der Sieg mioss unserer Sache zufallen. In dieser Zuversicht
haben den Vorstand auch die wiederholten Parlamentsverhandlungen, ins-
besondere die des preussischen Abgeordnetenhauses, bestärkt. An dessen
Mitglieder, sowie an die des Herrenhauses hatte der Vorstand unmittelbar
vniiicr den Vortrag des Ilrrrii Cihcim'-n Rcgierungsrats Dr. Matthias ,.I)ie
Gleichwertigkeit der < >l)t ri i alsrhul und der GymnasialhiUiung" gesandt.
Wer die Verhandlungen gelesen hat, weiss, wie wirkungsvoll tur misere
Sache sich dieses mannhafte Wort wieder erwiesen hat.
Die neueste Schulreform hat die Abschlussprüfung beseitigt. HeiTscht
innerhalb unseres Vereins am h ^u inimgsverschiedenheit darüber, ob das
richtig war. so sind wir alle doch darin eins, dass dieselben Gründe dann auch
die Bescuiguiig der Reis, prüftmg an den Realanstalten fordern. Dem ist
vom Vorstand an massgebeniier Stelle Ausdruck gegeben worden.
(Nach d. Berl. l agebl.)
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SchriftleitunK! P, Kemsi es , Berlin NW.. Paulstr. 33 und L. Htrschlaf f . Berlin W., Lfitzovstr.SSb.
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Druck: Deutsche Buch- und Kunstdruckerci, O. m. b. H., Berlin SW., Friedrichstr. 16.
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