DIE METAPHYSIK
HERBART'S IN
IHRER
ENTWICKLUNGSGES
CHICHTE UND...
Josef Franz Capesius
Iii
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Die
Metaphysik Herbart's
m
ihrer Entwicklungsgeschichte und nach ihrer historischen
Stellung.
Sin Bflitng nr Ckdiichi« der nukkuilwlMi PbikiMphie
von
Dr. J. Capesius.
Heiurich Matthes (F. C. Schilde).
1878. , /
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MAY 22 1880
{
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Vorrede.
Eine Arl>f it über Hcrbart's Mctapliysik, die sich heute dem philo-
sopliisclieii Publicum darVtiftet, bedarf weit mehr als fVülicr der besonderen
Motivinmg. Denn die Gähmng, wtdc'iic seit einem Jaln-^ehnt und darüber
niiscrer philosophischen Gedankenkreise sich bemächtigt luit, hat vun
Bahnen» wie sie Herbaifs Metaphysik einschlfi^ mehr und mehr ont>;
femt ond die Signatur des Ta^^es gibt der Änsiclit Ivauin, dass man im
Grossen und Oair/cn Herbart's Mdapliysik ad acta g*'hgi liabi-, so dass
CS oin Anachronismus wäre, lieute nwh auf dieselbe zurückzakounm ii.
Einoin solchen Einwarf indess begegnet scliou der Titel der vorliegenden
Schiifb, der dieselbe als dnrchans geschichtlich kenmseicbnei Hag
iman über den positiven Werth der Uerbartischen Metapliysik wie immer
urtheileii, so wird doch die historische Untersuchung, die selbst dfui
obscurstcn Scholastiker mit Eifer sich zuwendet, doppelt gerechtffrtigt
sein bei einem System, das jedenfiiUs für die philosophische Entwicklung
Pentsclilands von der nachhaltigsten, bis in die Gegenwart hereinreichen-
den Bedeutung gewesen ist.
JjJnr die Frage bliebe also noch ins Auge zu fassen, oh nicht durch
die bisherigen Leistungen das historische Verständiiiss für die Lehre
Herbart's bereits yoUstflndig erschlossen und ins Beine gebracht wäre.
Man könnte dies namentlich hinsichtlich ihrerEntwicklnngsi^escli ich t e,
welche ini ersten Theile meiner Arbeit dargest«'llt ist, um so eher meinen,
als dieselbe der liistorischen Nachforschung nicht viele Ankiiüpfun^'s-
nuncte zu bieten scheint. Ks ist mir sogar die Bemerkung entgegenge-
treten, dass bei Herbart von einer dnrchschanbaren Entwicklang der
Gedanken kaum die Eede sein könne. Bei ihm stehe mit einem Male
Alles wandellos fertij,' da, und der Jüngling schon habe dem Manne das
Systf'iii bereitet. Nun ist aber thatsäcldich bereits an der Kntwicklung^-
ireschiL'lite der Herbai-ti.schen Metapliysik gearbeitet worden, und zwar in
betrrüudender Weise von Hartenstein in der Einleitung m Herbart's
kiSneren philosophischen Schriften, die er 1842 herausgegeben hat, und
neuerding"s von Zimmermann, Wfdcher in den Sitzunirsberiditen der Wiener
Akademie (phil.-hist. Ci. 83. Bd. 1870) eine „biograpliisclie Studie" über
dip Perioden in Herbart's philosophiscliem Geistesgang*' geliofcrt und
g-^]^" Jabel durchaus auf die Entwicklungsgeschichte beschränkt hat
Wäre uns die Entwicklungsgeschichte Herbart's wirklich so verliüIH. s u
^yflrde Zimmermann nicht zwei Perioden derselben haben unterscheiden
IV
Vorrede.
köiiuon, dcroii bei mir — mit gutem Grunde, wie ich glaube — gar vier
geworden sind. Meine hiemit angedeutete Abweichung von Zimmermann
mag zugleich erkennen lassen, dass ich mich bei seinen Uesultaten nicht
habe bmihigen können, und (ins I'roblem der Ilerbartischen Kntwieklunc-s-
goscliichte dadurch nicht für vollständig gelost erachtete, lu der That
glaube ich, in nicht uneiheblicher Weise fiber Zimmermann hinausge-
gangen zu sein. Zwar nicht duK h Ilerbeiziehung neuen Qu(dlenmaterials;
ein solches liegt fiberliaupt für dir Entwicklungsgeschichtf TTcrVtart's nicht
umfangreich vor, und ülinr das ])is noch Vorhandene hat Zimmermann
— ja zum gi'össten Theil bisreits Hartenstein — el)eiiso verfügt, als ich.
Allein gerade auf diesem Gebiet kann die Yerwertlmng desselben Materials
sehr verschieden ausfallen, und ich möchte hinsiclitlich dieser Art der
Verarhcitung die anscheinend paradoxe Ansiclit aiissjirechen, dass der An-
hänger eines Philosophen am wenigsten in der Lage ist, die Entwicklungs-
geschichte desselben zu schreiben. Wie es dem Anatomen passiren kann,
dass er an einem ihm theuron Object das Secinnesser nicht mit derselben
Kaltldütigkeit und Sicherheit handhabt, wie „in cor])ore vili", sd mag es
auch dem llisturiker gehen, der ebenfalls sein Object durch die Schärfe
der kritischen Untersuchung in die kleinsten Fasern und Fibern zu zer-
legen und ihr einstmaliges Zusammenwirken im lebendigen Organismus
aiä^zeigen hat Statt der kfihlen, streng causalen Betrachtungsweise,
die hier allein am Platze ist, tritt bei dem Verehrer nur zu leicht die
Bewunderung für die (Jrösse und Vollkommenheit des Gegenstandes ein.
Statt aufzuzeigen, wie eines aus dem anderen sich entwickelt hat, wie der
Philosoph psychologisch determinirt worden ist, bestimmte Lehren
auszubilden, weist er äre logische Strenge und Folgerichtiglceit nach,
womit sicherlich keine Entwicklungsgeschichte geliefert ist Bin
ang''sehener Iferbartianer äusserte mir gegenüber einmal, er halte Zimmer-
mann's Arbeit namentlich deshalb für sehr gelungen, weil sie den Nach-
weis erbringe, wie Herbart hei seinem Auftreten gegen Fichte und
Schelling im Bechte sei. In diesem Uriheil zeigt sich auf das Schlagendste
die VeiTuischung der beiden heterogenen Gesichtspuncte, des psychologisch
erklärenden nnd des logisch beweisenden. Als ob eine Darlegung ge-
schichtlicher Entwicklung mit der logischen liechtfertigung derselben über-
einkäme! Allerdings wird es an einer fheilweisen Ooincidenz beider Be-
trachtungsweisen in der Entwicklungsgeschichte philosophischer AAsichten
nicht fehlen. Nach der eigenen ^leiinmt,'' der Philosophen müsste es ja
so sein, dass die psychologische Entstehung iiires Systems nur in logischer
Consequenz sich vollzogen hätte, und in einzelnen Puncten werden wir
dies wohl auch zutreffend finden, üm so mehr aber ist es geboten, die
beiden Gesichtspuncte im l'iincip strenge aus einander zu halten, zumal
im Ganzen doch ancli liiei' der streng geschichtliche Nachweis meist dazn
gedient liat, das beriichtigt.e dictum von der Identität des Wirklichen und
Vernünftigen ad absurdum zu führen. Wie leicht die geschichtlich-causale
Ableitung einer Lehrmeinung in Widersprach gerätii mit der ungetheilten
Bewunderung und Anerkennung derselben, hat die orthodox kirchliche
Partei instinctiv gefühlt, als sie gegen die aufkommende historische Er-
klärung ihrer [ichren Fntnl machte. Ebenso werden auch die Anhänger
eines Philosctphen gegen die streng causale Darlegung seines Entwick-
lungsganges viel&ch eine feindselige Stellung einnehmen müssen. Denn
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Vorrede.
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jono wird, wenn sie unbofangen zu Werke jfeht, in dem genau aufgezcigtüu
Wirklichen gar manches Unvernünftige entdecken.
In wie weit es mir gelungen isC in meiner Entwicklnngsgeschichto
der Herbarti sehen Metaphysik die psychohigische Erklärunfj: in ihr prin-
cipielles Ih-cIiI i'intreton zu lassen, wird von (•uini»t'teiit«'r Seite zu ent-
scheiden sein. Die vielen Unzuliin^-liehkeiten dieses Versuchs, deren icli
mir selbst sehr wohl bewusst bin, möj^en an der Schwierif^keit der ge-
stellten Aufgabe, sowie an dem primitiven Zustand einer psychologisch
erklärenden Geschiehtschreihunp der Philosophie einige Kntschuldi^'ung
finden. Jedentalls hoflfi« ich genauer, als dies hei Hartenstein und Zimmer-
mann geschehen ist, Aufzug und Einschlag gesondert aufgezeigt zu haben,
woraus das Gewebe der Herbartischen Metaphysik entständen ist. Auch
wo ich über die von jenen bereits angegebenen lieziehnngen nicht hinaus-
gingen bin, durften doch bei mir dit- Kiir/rlfactoren, durch welch«'
Herbart's metaphysisclie Phitwicklung bedingt wurde, sorgfältiger separirt
und in ihrer Function schärfer beslimuit worden sein. So hat selbst das
Yerhältniss Herbart's zn Fichte, welches Ton den genannten Autoren ein-
gehend berücksichtigt worden ist, bei ihnen nicht die genügende Be-
leuchtung erfahren. Es ist zu wenig beachtet worden, wie manches
Positive von den Kinzehiusfribrungeii dt-r Wissens< ]iaftslebre in die Meta-
physik Herbart s übergegangen ist, und wie namentlich stüne Psychologie
— die dann fiindirend geworden ist fiir die Metaphysik — Elemente des
Fichte'scheu Philosophirens avfeenommen liat. Am angenfölligsten wird
meine Altwi'icluing von Zimnierniann in der äusseren AV)grejr/,nng und
Periodejiglit'dfrung dfr Kntwicklungsgesclüclite sein. Zinnnermann setzt
als Grenzpunkte derselben die Jahre 1794 und 1B02, während ich ihr,
gestfitEt anf die nnxweidentigsten Qnellenbelege die Zeit von 1788 bis
1806 zuweis. . Dadm-ch tritt dann die erste Periode (1788—1791) in
ilir v(dles lit'cht »'in. wrOclie eine ganz selbständige, und für den beson-
der* n Character des Herbartischen Systems grundlegende Bedeutung
bereitet.
Soviel zur Kechtfertignng meines Unternehmens, nach Hartenstein
und Zimmennann noch ••ine Entwicklini^sgeschichtt' der Herbartischen
Metajibysik zu schreiben. Dass eine solche als Vorarlwit zn einer richtigen
Geschichte unserer deut.sclien Philosophie geliefert werd»'n müsse, ist
heute, wo man so vielfach auf entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen
drängt» zn allgemein anofkannt, als dass es hier noch besonders erhärtet
zu werden brauchte. Die Entwicklungsgeschichte dor einz(dnen Philo-
sophen nimmt selbst einen breiten Ii^lum ein in der Aufgabe der Ge-
schichte der Philosophie, und ich habe Eingangs des zweiten Theiles,
der über die historische Stellung der Herbartischen Metaphysik
handelt, kurz darauf hingewiesen, wie die „historische Stellung^ eines
Philosophen streng genommen allein durch seine Entwicklungsgeschidite
bedingt ist. Wollte man an dieser strengen pi utnng der üblichen Ter-
minologie festhalten, so bliebe neben der Entwicklungsgeschichte für die
BrtJrtening' der geschichtlichen Stellung eines Philosophen kein sonder-
licher rialz mehr übrig, denn die letztere ergäbe sich nur als eine un-
niittelbar«' Fdlge aus jener. Der Sprachgebrauch begreift unter „histo-
rischer Stt'ihnig" w<'it mehr ein — so viel, dass <'s schwer sein würde,
alle Beziehungen, die er dadurch andeutet, einzeln hervorzuliebeu. Diesen
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Vorrede.
weiter i^-efassteii Begriff liube ich im Titel benützt, ohne ihn freilich durch
meine Ausfülirung auch auszufüllen. Hieraus erwächst der Uebelstaud,
dass man im zweiten Theil leicht den einheitlielien Gedanken Termissen
wird, der denselben zu einem för sich bestehenden Ganzen macht. Nament-
lich werden die ünterabtheilungen sich sehr wenig" als die Glieder eines
solchen einheitlichen Gedankens zu erkennen gehen. In der That waren
bei Aulstellung derselben aach rein äussere Gesichtspuncte massgebend.
Die Aosdehnnng des Vonurtheils, welches Herbart als einen Fortbildner
Kantischer Lehren ansieht, und die gewichtige Geltung der Autoritäteni
auf welche es sich stfit/.t. iiuichte «'rforderlicth, dasselln; in einem geson-
derten Abschnitt zu widerlegen, und dadurch das Ilanpthinderniss für die
richtige historische Einordnung der Herbartischen Metaphysik aus dem
zn rfinmen.
Nachdem dies geschehen war, konnte in positiver Weise ihre „histo-
risch-systematologische Stdlunf^ Ix'stiinint werden. Was damit g<'meint
ist, sngt das Wort wohl di'utlirli ireiuig: die Stellung, welche dem Systeme
Herbart's unter den übrigen historisch gegebenen Systemen rein nach der
sachlichen Aehnlichkeit oder Verschiedenheit der Lehrmeinnngen zukommt.
Eine derartige Eiiitheilung der Systeme schafft uns die feststehenden Gruppen
derselben, welche nicht nach den zeitlichen Zusammenluliigen geschichtlicher
Aufeinandertulge, sondern nach systematologisclieii Kategorieen geordnet
sind. Solche Kategorieen in zutreffender Weise zu besitzen, ist bei jenen
GrappimngsTersnchen vor allen Dingen ^ofhlrendig. Bisher ist nun
H(Tbart'8 System vorzugsweise als Realismus (oder auch w(dil als Spiri-
tualismus. Iitdividualisinus) bezeichnet worden. Ich glaube nicht nur
einer mehr und mehr emporkommenden philosophischen Hichtung, sondern
dem inneren Wesen des Systems selbst liechnung getragen zu haben,
wenn ich statt jener Frage nach dem Was des realen Weltinhalts die
andere nach d«r logisch-methodfdogischen Formung der metiiphysischen
Erkeniitiiiss in den Viirderirnind ruckte, und danach Herbart's System
vorwiegend als Kationalismus bezeichnete. Diese Kategorie bot sich
mir mit hinreichender Schärfe und Bestimmtheit dar; doch reichten sie
zur C!harac(6rlsinmg des Herbaitisdien Systems noch nicht ans; denn die
gegnerischen Leluren, wie sie gleichzeitig im deutschen Idealismus auf-
traten, präsentiren sich gleichfalls als reinster Rationalismus. Hier
musste also nocli ein, die factisch gegebene Divergenz characterisirendes
Unterscheidungszeichen der beiden Richtungen gefunden werden. Diese
Bestimmung steht in engem Zusammenhange mit den wichtigsten Frin-
cipienfiragen und um so gewagter kann daher mein erster Versuch in
dieser Kichtung erscheinen. In der That darf derselbe um so weniger
auf eine allgemeinere Anerkennung rechnen, als die Beleuchtung, welche
der Kantische 80g«n. Eritidsmus dahei erföhrt, dem gegenwärtig noch
äusserst verbreiteten Kantcnltus zu sehr widerspricht. Aucli konnte ich
an diesem Orte keine umfassendere Begründung meiner Ansicht über die
Kantische Philosnphie gehen. Allein vielleicht stehe ich mit derselben
doch nicht so vereinzelt da, und es mehren sich die Anzeichen, welche
hoffen lassen, dass man in der Zukunft einmal nur von einem Kantischen
Jahrhundert der deutschen Philosophie werde sprechen können, dessen
Ende dann bereits ziemlich nahe gerückt wäre. — Im Zusammenhang
mit der modilicirten Auffassung des Kantianismus ergab sich mir der
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Vorrede.
vn
Gesichtspunct für die Chara»'t4'risining' dvr von ihm ciiisj,'t'lu'ndon sogen,
idealistischen StrOmnng, wodurch das Verhältniss derselben zu Horbart
bedingt wird. Das Wesentlichste bei den neuen Bestinunuigen, die ich
hier versucht habe, dürfte sein, dass das methodologische Kriterium,
welclu's sich für die ganze neuere Pliilosopliie als in erster Linie mass-
gebend erweist, in sein principielles Uecht eingesetzt worden ist. Der
weitere Anblick, den ich hierdurch auch über den liahmen der Herbarti«
sehen Metaphysik hinaus genommen habe^ wird es doppelt rechtfertigen»
dass ich meine Arbeit als einen Beitrag zur Grachichte der nadikanti-
' sehen Plülosophio bezeichne.
Vollständig orientirt über die lustorische Stellung eines Systems ist
man erst dann, wenn man auch ein Urthoil besitzt über die Giltigkeit
oder Ungiltigkeit seiner Lehren — d. h., genan genommen, über sein
Verhältniss zum eigenen, für richtig erkannten Stondpunct. Und zwar
genügt ('S in dieser Beziehung auch hinsichtlich der gegnerischen Meinungen
nicht, nur im Allgemeinen von ihrer Uuhaltburkeit überzeugt zu sein,
sondern man mnss eine genau formnlirte Kritik derselben besitzen. In
diesem Zusammenhange bringt der zweite TheU als dritten Abschnitt
noch eine kritische Beleuchtung des Herbartischen Kationalismus. Kritisirt
ist Herbart wolil genug worden, niemals aber, soviel ich gefunden ha])e,
speciell miU^i dt in (lesichtspuncte des liationalismus. Und in der That
ist es notfawendig, die Kritik im Ansdihiss an die systematologischen
GnippenbUdnngen zu üben, in der Weise, dass man ein Gesammturtheil
über eine ganze Richtung feststclb*, dessen Specialisirung und Individuali-
sirung dann auf die einzelnen Vertreter geht. Ein soh-hes Gesamnit-
urtlieil wird am sichersten auf inductivem Wege als Kesultat aus der
Znsammenfhssnng der Einzelkritiken sich ergeben. In diesem Sinne kann
meine Beurtlieilung des Herbartischen Kationalismus als ein Beitrag zor
Kritik des Kationalisnms überliaupt gelttMi. Hinsichtlich der Z(>itgemä8B-
heit der Kritik aber mögen die Wort^' J. St. Mill's \u>vh am Platze sein,
mit welclien dieser die Abfassung seiner „Kxauiinatiou vi Sir W. llamilton's
Philosoph}" motiTirt : „I had for some time feit» that fhe mere contrast of the
two philosophies (that of Intuition, and that of Experience and Association
— nach unserer Tenninologie Kationalismus und Empirismus) was not
enough, that tliere ought to be a han<l-t<>liand ligiit betwoen them, tliat
controversial as well as expository writings were needed, and tliat the
time was come when sndli controversy wonld be nseM." Weniger zu-
treffend allerdings auf den Fall Herbart's wird man in vielen Kreisen
die weitere Ausfühning MiH's finden : „Considering then the writings and
fame of Sir W. Hamilton as the great fortress of the intuitinnal philo-
sopliy in this country, a fortress the more formidable from the iuiposing
charaeter, and the in many respects great personal merits and mentid
endowments of the man, I thonght it might be a real service to philo-
sophy tn attempt a thorough examination of all bis most important
doctrines, and an estimate of Iiis generul chiims to eminence as a philo-
sopher." (J. St. Mill, Autobiography. London 1873, p. 275). Allein
ich möchte in der That behaupten, dass die angefahrte Characterisinuig
unter den deutschen Philosophen am ehesten auf Herbart zutrifft, denn
auch der Kantisehe Rationalismus steht auf schwächeren Füssen als der-
jenige Ilerbai-t's. Sollten wir also wirklich bei einem „haud-to-lmnd figUt*'
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Vm VJorrede.
zwisolu'ii RatioiialiHiiins und Kinpirisnms aiiyclan^'t sein (und Viclos scheint
darauf hinzudeuten) st» waf,'e ieh mit meiner Arbeit mieli als einen Mit-
streiter in dun Kampf des Tages — wie bescheiden meine Leistung auch
sein mag — m stelleii.
Aljgvsehen davon, dass ich die Kritik Herbart's unter diesem be-
sonderen (jesiclitsitunct unternelime, ist noch ein Viiistand zu tx'inerken,
' welcher die früheren Kritiken (ich eriniicn' mich namentlich an diejenigen
Trendelenburg's, Lutze'«, Fucliner% Langenbeck's, die auch den neueren
Kritikern die Grundlage geliefert haben) f&r uns als nnznUnglich er^.
scheinen lassen. Sie theilen alle mehr oder weniger den Standpunet
Herbart's und greifen ihn nicht im Princip, sondern nur in seiner be-
sonderen Gestaltung an. HinsichUicli der allgemeinen Tendenz zur
aprioristischen Construction eines metaphysischen Weltbildos sind sie mit
ihm einverstanden, und finden nur in der Einzelausttilirung Vieles zu
tadeln. Das aber genügt, heute nicht mehr; der in-incipielle Boden für
den Kritiker ist t^egcnwärtig ein anderer. — Bei dieser eiirenartigen An-
lage meiner BeurÜicilung hielt ich es für übertlüssig, in einzelnen Tuncten,
in denen ich mit den Mheren Kritikern übereinstimme, anf diese näher
Bezug zu nehmen. Um so eher durfte ich liier aucli unlierücksichtigt
lassen, was gegen dieselben von Seit^-n der Herbartäschen Schule zur Ver-
tlieidii^nmir ihrer Lehren gesagt W(trden ist. Weshalb eine snlclic Berücksich-
tigung überliaupt nicht gebottai war, habe ich in Anm. 23 kurz angedeutet.
Der nrsprünglich nnd wesentlich bestimmende Grund allerdings, zu-
folge dessen ich meine Kritik nicht in Anlehnung an voriräni^i^e Lei-
stungen habe auftreten lassen, ist ihre durchaus selbständige Entstehung.
Ich war durch einen liesonderen Studieiiiranur veranlasst worden, micli
völlig in die llerbartische Metaphysik hineinzuarbeiten, und icli habe
mich selbstthätig aus derselben anch wieder herausgearbeitet. Kach
diesem seinem objectiven Ursprung bildet auch mein Schriftclien «.in ein-
heitliches, untrennbares Ganze. AUerdinufs war die kritische Betrachtung
bei mir das erste, und aus ilir erst ergab sicli das Bedürfniss nach einem
entwicklungsgeschichtlicheu Verstäudniss für die Lehre Herbart's. Sobald
^eses aber einmal erwacht war, sah ich ein, dass die Sntvricklungs-
ge8chi<^te der Ansatzpunct sei für alle übrigen Betrachtungen« Kfach
diesem (b'sichtsi>uiict gestaltete sich denn auch der weitere Gang meiner
Ueberleguiigeii, deren innerer Zusanmienhang sich kurz folgendeniiassen
markireii lääst: Die Metaphysik Herbart's offenbart sich in ihrer £nt-
wicklungsgeschidite als ein in positiTem Sinne zunächst an Wolif an-
schliessender logischer Bationalismus. Daher ist es unznlfissig, sie, wie
08 noch grossentheils geschieht, mit Kant und dem Kantianismus in Zu-
sammenhang zu bringen. Zugleich ergibt sich aus jener allgemeinen
Characterisirung des Systems der fundamentale Gesichtspunct, von dem
ans wir uns heute kritisch mit demselben abzufinden haben.
Sdiliesslich erlaube ich mir noch an diejenigen, welche dem Büch-
lein nähere Aufmerksamkeit widmen, die Bitte, bei der Leetüre desselben
von dorn sehr specialisirten Inhaltsverzeichuiss Gebrauch machen zu
wollen. Hier tritt die Gliederung der Gedanken besser herror als im
Text^ wo sie durch die fortlaufende Darstellung leicht verdeckt wird.
Der Verfasser.
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Inhaltsverzeichniss.
Seite.
I. Theil.
Die Entwicklungsgeschichte der Herbartischen Metaphysik.
I. Schulbildung. Das loprisch-ratioualistischf Fundanicnt . . . . 1
Frühe philosophische Einflüsse 1. Selbstttiiitigo Vorarboituii^
derselben 'J. Allgemeiner C'haracter und {grundlegende Bedeutung
dieser ersten philosophischen Bethätigung 2 f.
IL Univcrsitätsaufenthalt. Fichte'« Wissenschaftslehre. Prineip
und Methode der Philosophie
Erste Beschäftigung mit der AVissensch aftslehre:
Mächtige Einwirkung Fichte*« 8 f. Logische Prüfung einzelner
Sätze der Wissenschaltslehre t. Annähenmg an Fichte :>.
Begründung der eigenen Position in der Kritik
Schelling's: Spinoza un<l Schelling 7 f. Herbart's Stellung zur
Wissenschattslehrc 8 f. Kritik der Schelling'schen Schriften; all-
gemeine Bedeutung dieser Kritik H. Wesen des Princips; das Ich
als Prineip U). Das Verliältniss von Denken und Sein (Idealis-
mus und Kealismus) 11 f. Das absolute Sein 12 f. Unklare Stel-
lung in der Frage nach Idealismus oder Kealismus 13 f.
Die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge:
Vorwiegend formales Interesse Herbart's; Anknüpfungspuncte da -
für in der Wissenschnftslchre ]■'>. Fortbildung derscllx-n in logisch -
rationalistischcni SiniM' i l'rincip und ^Irthotlc d( r l'hilusojilno)
l'it'. Koactiiiii yegon die Wissonschattslehrf. i-rkliirlich aus deren
aliweiehnnilen Alntiveri ninl Teiiilpn/en Ii;. Fieht<>'tt Fmlnits-
streben von Herliart niclu getlioilt 17. Sein Sinn iiir die Wirk -
lichkeit (KciilibMius). Das elcatische Sein. Logische Ketlexion
über Begründen und Folgern 18. Bedeutung der neuen Errungen -
achftftffn 1«).
in. E r z i e h e r w i r k s am k e i t. Die psychologische Richtung. Auflö-
suiig des l('h-Prol>leiiis und ( iruiidlcLriiiiu'' 'l''r l'^yelmlo^jie . . 19
Einflüsse der neuen Lebensstellung: Kräftigung des
W^irklichkoitssinncs und der Tendenz zur Abschliessung und Selbst -
stfindigkeit l.i 1'. Kr/ieherische 'L'liiitigkeit ; deterniinistisch-]isy -
cholo^iselu' L'ebcrleguugeu 20.
P h l 1 o 8 o p h i s c h e r Erwerb: Intensive speculativc Bemühun-
gen. Ausblick auf den philoso}>hiselien liebensberuf 21. Entwurf
(ler Wissenslehre; Probleiustellung \iiid Plan zur Lösung 22 f.
Frocess der Vorstelluiigsl)ihluug 2,{ f Die Weeliseiwirkung unter
den yorstellnngon (Hemiiiuiig. mathematiHelie INychuiogieJ 24 t.
Die Hildun^f nl>stracter BegrilVe; das ich 25.
Die cn t wicklungsgeschich 1 1 ic he n Znsan) nienh'ängo:
Zusammenhang mit Fichte 2*» f. Originelle Leistung in Anleh-
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X
Inhalt.
Tiung an die Erfahrung und das Vorbild der exacten Wissenschaft;
Creffensatz geg^en Fichte 27 f.
Character und Bedeutung des neuen Erwerb's: Spe-
cifisch-psychologischer Character desselben 29. (-reringo metnpliy -
iische BtHleutun<:^; in dieser Kichtiing kein J^'ortschritf J!' 1. Andere
Schätzun^^ bei Ht'rbart selbst iJn f. Abfrrcii/.unL; iler JV'riode .l'J.
rV. Vorbereitung /um si k a d e m i s c h e n H e r u 1 n ml c r s t e A u s -
übun^' desselben. Die griechische i*lnl()S(.)|ihie und die po-
sitiven ^^"issenscllal'ten. Abschluss des meta)>tiysis( lten Systeins. 32
Aeussere Leben-sumstände. l*ädRg<)gische Arbeiten. Beschäfti-
gung mit Mathematik und den Griechen .52 f.
Die Th esen: Ungerechtfertigte Deutung derselben durch Har-
tenstein und Zinnnerniann .'i'!. Der Inhalt der Thi-sen führt über
den Standpvmct_de8 ..ersten Entwurfes'- nicht hinaus :i i f. Eigene
Äeusserungen Herbarts über den inungclndcn Abs(rhlus8 eines Sy-
stems :{.^ .
Erste philu80{)hi8che Schriften: Der Plan zu philoso-
phischen Vorlesungen 3ti. Die Abhandlung über i'laton 36 f.
Abschluss des Systems in den Hauptpuncten der ^letaphysik 37 f.
Die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge:
Ueberblick .'KS. Die Probleme der äusseren Erscheinungswelt den
Griechen entlehnt Analogie mit dem Ich-Problem; die phy «
s^ikaliscli-chemische Erklärung der Kör)U'rwclt 40 f. Pt<ych()logiscne
Änalogieen 41 Allgemeine Formuliriing des Lösungsveri'ahrens:
l^letliode der Bt'/ielningen 41 f. rnistempelung der })sychnlogischen
zu allgemein mi'ta])hysis( lien N orstellungsweisen 42 f. Zusanimen-
Eäng mit Ki(;hte 43 f. Spiritualiscli-munadidogische Metaphysik
44. Jjie syneehologischen Untersuchungen 4.».
All^^< meiner Character dieser Periode 4ü« ~
Schluss wort. Zusammenfassung 40. Eigenartiger Character *
der Entwicklung Herbart' 8. Rationalistische Grundrichtung 47.
IT. Thftil.
Die historische Stellung der Herfaartischen Metaphysik.
1. Verhält nisa zu Kant 48
Wie hat Her hart Kant verstanden? Haupttheile. die
er in der ivantischen J^ehre unterscheidet 4?>. Verschiedene Wür -
digung derselben: un> Avichtigsten der Kantisclie Seins])etJrriti[' 4M tf.
Daraus resultirender (Tesannntcharftcte.r der Kanfiac^ht-n Lelire
In welchem Sinne nennt er sich Kantianer? Einziger
Stfitepunct die absolute Position bl~f.
Mit welchem Rechte'::' Die abacdute Position Kant's :i3.
Die absolute Position Herbart'8 ■")4. Völlige Divergenz beider
Begritie .').">
Mangelhaftes Vergtändnigs Herbart's für die Lehre
Kant s: Hinsichtbch der ., Formen der Erfahrung" f)!). Hin -
eichtlich des Problems der Synthesis a }n-i()n (Xnzuliinglichkeit des
eTgi iien L('iMing8ver8uchs) ^6 ft'. ilinsichtlich der Seejenvermögen
58. Entwicklungsgeschichtlicher Erklärungsgrund dafür (vergl.
Resultat: Durchaus negirende Stellung Herbart's zu Kant .^9.
II. H i K t o r i sc h - a y H t e m at o 1 o g i s c h e S t e 1 1 uu g 59
Skizzirung der l)enachbarten Erscheinungen: Der
Wolffische Kationalisraus 59 f. Der vorkritische Kaut 00. Der
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Inhalt. XI
Seite:
Empiri8mu8 Humc's (>(| f. Der Kantisclie Kriticismus und sein
"principieller Irrthum 61 f. Ausbildung dieser Kioiitung bei den
Nachfolifern Kant's t>2 ft'. Der psychologische Rationalismus 84.
Die Metaphyaik Herbart sfLojariBch-rationalistischer Cha-
racter i'. } f. Verwandtschaft mit Wolff r..'» f. Aeusseruniren über
dt'ii Kmi'irismus tUj f. (icschichtlicli>' \Vünli;,aiiifx tlfr Hcibartischen
I\Iftin>hv^ik (>7 f. Vf'rLrh'ichuni^ des Ursultatrs mit den Krgrb -
nissfii Aev Eiit\vu'klmi<,ys;xt'sclii( litc Iis.
III. Kritische Belcuclituii^^ d» s Hci liartiH(;hen Rationalisnuis 09
Ei n le it e ud e 8: Haupt ijrc;>cnsiit/ i'' dn- lu-utiLmi Philusonhie
derjenige zwischen Katioiialismus und Empirismus; typische Aus-
]>rägung des Rationalismus bei Herbart H9. Characterisirung dieses
Typus durch Kant G9 f.
Die rationalistische Grundlegung: Das Problem der
Synthesis a ])rinn bei Herbnrt 7<> f. Vt'nin'intlichc Lösung durch
Bcurlu'ituni: gc'^fi'beTier Widersprüche i Mfth. il. lU'/irli.) 71. Kin
AVider^ipnicli gej^en <Ihs liletititats^'-,>set/, kann nicht gej^eltcn werden;
die vermeintlichen W iderspriiche von He-rhart nicht gelöst (das
Ding m. mehreren Merkmalen, die Veränderung, das ('ontinuum,
das Ich) 7'2 — 76. Die Losung gegebener Widersprüche begrün -
det keine ]>esiindere ratii in;ilistisch>- ^[etliode uiiii {'iilii-t iiiclit'ülier
die eni])iriscli giltigen Urtheilc hinaus ' t'fl. Da« Probleiu bleibt
somit ungelöst TS. JJie unbewiesenen Synthesen a priori im
Seiiisljegritf 7^ f. Verhältniss zur Erfahrung: Ausgleichsversnch
durch Eintülinmg des ..(Tcschehens" r'X
Aulbau tl e s S y B t e ms in der T h e o r i e d e s w i r k 1 i ch e n
Geschehens: Die zufälligen Ansichten (Hinfälligkeit der ihnen
zu Grunde liegenden Analogiccu aus Mathematik, Älechanik, Psy-
chologie) SO ~- 83. Die Störungen und Selbsterhaltungen 8.1 ff.
Das Vorbild für dieselben : die jjsychologischen Hemmungen Bf) f.
Resultat: Erfahrung und Denken bei Herbart unzulänglich
87 f., fehlerhaft 88 f.. unter einander nicht übercinstimmeTKi '.^O.
Schlusswort. Zusanunenias^ung in K Histi irisches Verdienst
und relative Vorzüge der Herbartischen iletaphysik t. HTn^
weis auf eine Gesaramtwürdigung Herbart's (seine Psychologie,
Pädagogik, Ethik) !)2 ff.
Anmerkungen 95
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Antiiliniiigsizoichen sind ausgelassen:
S. 2;». Z. 22 von «)lK'n. hinter: könnte). S. 21, Z. 21 von unten, vor:
Aber, S. 2Ü, Z. 2r» von unten vor: Wechsel-Thun, S. bi't, Z. 1 von unten,
hinter: fasst, S. 97, Z. 10 von oben, hinter: Nothwcnd^keit.
Durch eine nachtri^rliche Aenderung' des Satzes ist eine Aeihe von
SeitenatiL'':i^rn. welche sich auf früher»- Stcllni des Buclies beziehen, inirich-
tig geworden und sind folgende richtige Seitenzahlen an die «Steile zu setzen:
S. 8i Z. 2 von unten: S, S. 10, Z. 3 von unten: 6, S. 11, Z. 11 von oben: 8,
S. 14, Z. 3 von unten: 8 f., S. 22. Z. 22 von unten: 10 f., S. 2i;. Z. 12
von oben: 7, S. 29, Z. 9 von oben: 22, S. iiO, Z. 1 von olurn: 23 f., S. ;{4,
Z. i; von unten: U, S. 41 », Z. 10 von oben: 24. S. 40, Z. 25 von unten: 22,
S. 43, Z. 14 von unten: 26, S. 54, Z. 4 von oben: 18, S. b\ Z. 12 von
unten: 11. S. ."18, Z. I von unten: S. S. 57, Z. 19 von unten: 15,41 f., S. 65,
Z. 18 von oben: 34, S. Tb, Z. 21 von oben: 15, S. 8(>, Z. lt> von oben: 2S
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r
1. Theü.
Die Entwicklungsgeschichte der Herbartischen
Metaphysik.
L Schulbildung.
Das logriscIi-TatioiialistiMhe Fandament.
IMp geistigp Kntwirkhing jedes Einzelnen beruht auf der "Wpchsfl-
wirkung zwischen Individualität und Ueberlieferung. Sie vollzieht sich
als ein Apperceptionsprocess')« durch welchen die Individimlität die
überlieferten Stoffe in sich anfhimmt nnd verarbeitet — yerarbeitet zu
wesentlich nouen Kesnltaten, wenn wir es mit oinem hfn'orrairf^nden
Geist zu thun haben, dessen Auszeichnendes oben in dfT schiipfcrischen
Kraft der Individualität besteht In der Darlegung dieses Processes —
^e die epecielle Gestaltang jener beiden Faetoren und die besondere
Art ihres Zusammenwirkens das Zustandekommen einer bestimmten
geistigpn Bildung bedingt — findet die Entwicklungsgeschichte eines
individuellen Geist^^slcbens ihr<' Aufgabe.
Die gleichen tiesichtspuncte sind massgebend für die Entwicklungs-
geschichte eines philosophischen Systems, denn ein solches bildet nnr
eine besondere Seite im Geistesleben seines TJrhi'ljtrs.
Mag streng genommen bei jeder Entwicklung die individuelle Anlage,
der Boden gloiclisani für die lebensfähi«?en Keime, das Primäre sein, so
gibt sich dieselbe doch erst in ihrer Bethätigung an der einwirkenden
TJeberliefernng zn erkennen nnd wird anfangs durch letztere selbst so
überwiegend bedingt, dass diese zuerst in bestimmten Umrissen der Be-
trachtung sirli darbietet.
Auf Herbart wirken schon früh specifisch philosophische Einflüsse,
irelche für die Grundlegung seiner philos(»phischen Entwicklung als
bedeutsam erscheinen. Er geniesst frühzeitig einen vorzflglichen Privat-
Tinterricht (Herb.irt's kleinere philos. Sehr., herausgeg. v. H;irtenstein
1H42. Bd. 1. Einl. S. VII. f. und Herbartische Reliquien, herausgeg. v.
Ziller 1871. S. 3) und lernt dabei bereits als Knabe von 11 Jahren die
IiOgik (Bei. S. 158). Der Beligionsuuterricht berührt „vielfach Fragen
aus der Moral, der Psychologie und der Metaphysik, nach dem Zuschnitt
oiner vorzüglich zur Wolffischen Philosophie sich hinneigenden Denkart"
und Hartenstein, dem wir diese Mittheilungen danken, meint, dass jeden-
falls „gerade dieser Unterricht das philosophische Bedürfiiiss Herburt's
1
I
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2
EntwicUnngflgesoh* d. Herbartaschen Hetaph.
zuerst geweckt und ihm Nahrung zugeführt liabe.'' (Kl. Sehr. I. S. VIll)
In Prima des Oldenburgischen Gymnasimns — welehes Herbart 1788 bis-
1794 beaachte — erhält er Unterricht in der Philosophie nach Bau*
mf'ister's Institutionos philosophiac rational is niftlindo WoUii coti scriptae
(Kel. S. 3 u. 4), ciiu'iu Buch, welches jenen Wolftischen „Geist der Gründ-
lichkeit," den breit angelegten Formalismus der Schule, getreulich zum
Ausdmelc bringt Dass er auch über die Anforderungen des XJnterrichta
hinaus mit herrschenden philosophischen Lehrmeinungen sich vcrtraufc.
machte, bezeugt die spätere Aensseninur A'on ihm, dass sein philosophishes
Denken ..jahrelanf? von dem Eintritt in die Fichte'sche Schule'' — dieser
erfolgte aber bereits 1794 — „durch Wolflische und durch Kantische
Lehren in Gang gesefast war, natOrlich in weiterem Umfknge, als den die
bekanntlich st hr en,<re Fir]it<''sche Schule hätte erOffiien können" (Sämmtl.
Werke Vll. S. Hr>H). Auf nähere Rcschäfti.Lninfr mit Kant deutet noch
die Notiz, dass er bei seinem Abgang vv»m Gymnasium (Ostern 1794)
in einer lateinischen Abschiedsrede Cicero's und Kant s Gedanken über
das höchste Gut nnd den Grandsatz dest praetischen Philosophie verglich
OBeL S. 6).
Die Ictztang-eführten Daten weisen darauf hin. dass Herbart schon
Während seiner Schulzeit nicht bei blossem Aufnehmen, schulmässigem
Aneignen dargebotener Lehrstoffe stehen blieb, sondern dieselben bereit»
selbstthätig zn -verarbeiten suchte. Li der Thai heisst es in der kurzen
Vorbemerkung: zur ersten, der Hauptsache nach vollständigen Darstellung
seiner Metaphysik — den „Hauptjiuncten" vom .Tahre 1806: ,,Tn der
Stille sind die Gedanken, deren kürzeste Bezeichnung hier erscheint,
während des Lanfe von achtzehn Jahren anf eigenem Boden gewachsen
und gezogen" (III. 2). Demnach liätten wir den Anfang selbstthätiger
philosophischer Entwicklung bei Herbart vom Jahr 1788, in welchem er
(geboren 4. Mai 177(i) sein 12tes Lebensjahr erfüllte, zu datiren. AI»
Beweis, „dass er sehr bald angefangeii, fremde ihm mittgetheilte Ge-
danken selbständig zu Terarheiten und zn prüfen** fuhrt Hartenstein
einen kleinen handschrifOich erhaltenen Aufsatz mit der üeberschrift:
Etwas über die Lehre von der menschlichen Freiheit, vom Jahre 1790
an (Kl. Sehr. 1. S. IX), welcher in der Tliat schon recht gewandt mit
dem „Trieb naqh Glückseligkeit", dem „Erfahinngssatz, dass jeder Zustand
der menschliehen Seele in dem nächstroihergehtoden gegrftndet seit'*^
der „lex cnntinui", und anderem philosophischen Eüstzeug operirt. lieber
das Zustandekommen d<'S Aufsatzes spricht sich Herbart selbst 10 Jahre
später in bezeichnender Weise aus: „Uelzen's"' (des frühern Privatlehrers)
„Logik steckte mir mächtig im Kopfe; so auch seine vielen Triebe und
Fähigkeiten des Menschen. In der Binleitnng zn Less „von der Wahr-
heit der christlichen Religion" aber hatte ich Gründe gegen die Freiheit
oder vielmehr Winke dazu g<^funden. Nun mussten meine philosophischen
Axiomen und Detinitionen herbei, mussten sich verarbeiten lassen, wie
sie konnten, nm mir einen Begriff von Freiheit und Kichtfireiheit zn
geben** (ebd. S. X).
So spärlich diese Andeutungen sind, lässt sich aus ihnen doch ent-
nehmen, in welelier Richtung Herbart's philosophische Individualität sich
zunächst entwickelte. Einen Hauptzug derselben bildete gewiss der
„Trieb nach Bestimmtheit) Klarheit nnd Zosammenhang", der sieh s^on
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n. üniTersitätsaafienthalt.
3
bei dem Knaben ,.in einem für ein so fnili*'S Alter nur s^hr S'-K- ii vor-
kommenden Grade" venrieth (ebd. S. VIII). Dieser Trieb zeiy^t >>idi that-
säcblich wirksam in den sorgfiiltigen Be^riffsbestimiBnngvn, in den
klaren nnd umsichtifren Erürteningen jenes Aufsatzes über die Freilieiti.
Ebenso wenig lässt die (b-n K»'tr''lii <\^r fonnalen Loyik genau ent^
sprechende Tassung und Anordnung der Sätze in demselben eine strenge
logische Sehnlung verfcmnen, welche atif Ornnd dieser frühen Uehnng
Herbart gleichsam zur zweiten Xatur wurde und dadurch ebenfalls einen
wiclitiL'"eu Fai tor seiner philosophischen Individualität abgal).
Die Hauptfiuelle. ans w»4elier H<'rl»:irt sein»' erste idiilosopliische
Bildung schupfte, war jedenfoUs der Wolflische liationalismus und wir
dürfen annehmen, dass ihn sein frfih erwachter philosophischer Trieb
nicht bei einzelnen Seiten des Lehrgebäudes verhanen liess, sondern zur
Einsichtnahme in die principiellen Gnindlagen und systematischen Zu-
sammenhänge drängte. Und nicht l)Ioss aufirrnommcn , sondern auch
innerlich verarbeitet wurden diese Einflüsse, w(dche Materie und i'omi
hergaben zn den ersten selbständigen philoso]diischen Yersnchen, deren
Bedeutung für seine weitere Entwicklung Herbart selbst wiederholt her-
vorhebt. Sicherlich winde .-r dadurch auch in Tendenz und habitus
jenes Rationalismus'-) eingeführt, welcher in dem, von wenigen Defini-
tionen und schlechthin gewissen Axiomen syllogistisch fortschreitenden
Denken das höchste constitatiYe Princip, das schöpferische Werkzeug
alles echten Wissens erkannte.
Dass wir in der That berechtigt sind, <lieses erste Bildungselement,
welches sich die Individualität Herbarfs wirksam aneignet, als Fundament
für seine weitere philosophische Entwicklung anzusehen, dass die
tüchtige logisch-formale Bildung und die damit verbundene rationa-
listische Tendenz, die er aus den Kreisen der Wolffischen Schule
überkommt, das Apperceptionsorgan abgiltt für alle philosophischen
Einflüsse, die weiterhin auf ihn einwirken, kann erst die Darlegung
dieser Folgeentwicklung selbst zeigen.
IL Universitätsaufenthalt.
Fichte'fi Wissenschaftelehre. Princip und Xethode der
Philosophie.
An weiteren Einflüssen der gewichtigsten Art konnte es nicht fehlen,
als Herbart Osteni 1794 die Universität Jena bezog, wo damals die von
Kant eingeleitete philosophische Bewegung sich eoncentrirte. Eben be-
gann Pichte, der neueste und hervorragendste Interpret und Fortbildner
des Kriticismus, dort seine academische Lehrthätigkeit und Hess vor be-
geisterten Zuhörern das neue System der Wissenschaftslehre erstehen, das,
getragen von einer gewaltigen Persönlichkeit, die schon anderwSrts
erregten Gomfither zum höchsten Enfbnsiasmus fortriss.
Da hatte sicher auch im jungen Herbart die alte Schulweisheit
einen schweren Stand vor dem blendenden Glanz des neu aufgehenden
Gestirns. Doch war ihre Herrschaft viel zu fest begründet, als dass sie
leicht und wiUig den FUts geräumt h&tte, und ron der tiefgehenden
1*
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4 Entwicklungsgesch. d. Herbartiscben Metaph.
und andauernden Erschütterung, welche Herbart's Gedankenkreis hiebei
firfbhr, gibt er fielbst in einem Brief Tom 2a Angfost 1795 (also nach
bereits anderthalbjährigem Anfenthalt in Jena) eine sehr anschauliche
Schilderung: „Aus einer Art von Olmiiiaoht des K<jri»ers und Geistes
glaube ich nachgerade zu erwachen. Da idi h'whn kam, änderten sich
meine Beschäftigungen so sehr, wie alle meine anderen Vtrhältnisse.
Die WissenschaitBlehre machte, nm für ihr nnendliches Ich Platz zn
gewinnen, eine unendliche Leere in meinem Kopfe. In ein Labyrinth
von Zweifeln v<'nvick('lt werden, das kann vielleicht zu desto ange-
strengterer ThiitiiTkiit spornen; aber unter mir wich aller Grund und
Boden, betäubt lag ich da; ohne selbst mir helfen zu können, musste
ich mich der Hand überlassen, die mich nnr langsam wieder aufrichten
konnte nnd wollte. Dies traf zwar nur das, wovon ich theoretisch über-
'/ou'jft zu sein glaubte, aber damit verlor ich den Stoflf zum eigenen
Denken, das, was mich, «>s mochte noch so unbedeutend oder falsch sein,
doch wenigstens am interessantesten beschäftigt, worin ich gleichsam
gelebt nnd gewebt hatte.*" (BeL S. 20 f.) Wie tief mnssten die philo-
sophischen Ueberzeugnngen in Herbart's Geist bereits Wureel geschlagen
haben, wenn ihre Ers( hütterung 80 nachhaltig auf seinen ganzen Ge-
müüiszustand zurückwirken konnte.
Anch hatte es, ehe er vor dem unendlichen Ich den Stoff zun eigenen
Denken veilor, nicht an Yersnchen gefehlt, die Wissenschaftslehre nach
den gewohnten Massstäben zu prüfen. Noch immer wie damals, als er
über die menschliclie Freilieit i)lHlosophirte, steckte ihm die Logik mächtig
im Kopfe und es mussten ihre iormeln herbei, um über die Sätze der
Wissenschaftelehre Klarheit zu verschaffen. In der That sind die ersten
Bedenken, die ihm dal)ei aufstiegen und noch im ei-sten Semester Fichte
übergeben wurden (XII. 3 f), logisch formaler Natur. Die Fonnel, auf
der sich der zweite Grundsatz der Wissenschaftslehre aufbaut: — A nicht
= A, scheint ilim nichts anderes zu besagen, als die Formel — A = — A,
folglich wäre sie gleichbedeutend mit der ersten: A = A; und die Denk-
barkeit eines solchen Subjectes — A bliebe immer noch fraglich. Der
zweite Einwand will unterschieden wissen zweierlei Arten der Entgegen-
setzung: — A und 0 A (Null mal A). Die erste bedeutet Setzung einer
negativen Grösse, die zweite völlige Aufhebung^). Aus dem Satz: 0 A
nidit ssA kftnnte gefolgert werden: das Ich setzt sich gegenüber ein
0 Ich. Ein solches aber würde in unauflöslichen Widerspruch mit dem.
Ich treten, indem es dasselbe niidit begrenzte, sondern völlig aufhölie. —
Der letztere Einwurf zeigt bereits die Aufmerksamkeit auf den Wider-
spruch im Verhältniss des Ich und Nicht-Ich, die Hauptschwierigkeit,
welche fichte's System drückte.
Allein zunächst sollte es doch nicht zu einer consequenten Dnrcb-
fohrong der Polemik kommen. Auf logische Bedenken, wie die obigen,
mochte die Mahnung Eiclite's erfolgen, „nicht an den Buchstaben des
Einzelnen zu kleben, sondern alles aus dem Gesichtöpuncte des GanzNi
anznsehen'* (Bei. 8. 21). In der That ist damit dicijenige Seite der
Wissenschaftslehre gekennzeichnet, weldie ganz geeignet erscheint, Her-
bart's logisch-formales Streben anzuziehen: ihre systpmatische Vollendung
und Geschlossenheit, die das Streben nach philosphischem Zusammen-
hang der Erkenntniss im höchsten Masse befriedigen mnsste. In dieser
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IL Univenitätaaufentlialt.
5
Biditnn^ Tollzog sich jedenfalls seine grössere Annäherung an Ficiite,
▼on welcher Hartenstein (KL Sehr. L S. XVII) spricht nnd die so weit
ging', dass Herhart selbst nachmals äups«'rn konnte: „FAiio Zfit lang
ist Fichtf'n vif'lb-irlit k«'inor soinor Schülf-r iuUkt ^-''W^'St'ii al.s ich" (Uii-
gedruckte Briefe von und an Herbart, herausgeg. v. Zimmermann 1877.
S. 39). In gleichem Sinne heisst es in dem bereits citirten Brief Yom
28. Angust 1795: „Erst seit knrzem schimmert mir der Geist der Wissen-
schaftsl^'hre h»'ll genug' durch ihren anschpin^nd paradoxen Bii< ]i<tab*'n.
nm mich die Stunden ausfällni zu lehr^-n, dif» ich vurlier im Vnmuth
über mich zu verlieren pflegte'* (Bei. S. 21). im Verfolg spricht er sich
über Fichte aus, an welchem er am meisten „die Totalität seines Geistes,
welche sich auch in s«'in»'m System so sehr zeigt,** bewundert. Fichte's
Fordeninir, di<' rhiliiSH]t1iii' müss»' all«- <;t.istt'sv»'niii"L'"Ti d''s Mt-nschen
in Ansjtrnrh nehmen, und d^n Vorwurf uianir^'lndMr Kiiiltildiinirskraft,
den jener wider die Philosophen erhebt, führt er beifällig an, und hiemit
scheint das Stadinm in der Entwicklung Herbart's gekennzeichnet, wo
er eine befrcnn-lt-tore Stellung zur Wissenschaftslehre einnimmt.
Laiifff über den orwähntfn Z«*itpnn<'t liinaus dauert"' difstdb»' abor
keinesfalls, sondeni schluir l»ald in »'ino l»<'a" ti.»n um. IM*« erste skep-
tische A«.'usserung. tritt uns entgegen in einem Brief vum 1. duU 1796:
3^onder8 bin ich fBr diesen Sommer stark beschäftigt, endlich mit
der Unssenschaftslehre anf^ Beine za kommen, d. h. — im Vortrauen
ge.sagt — mir selbst eine /u machen, denn «»b ich t,''leicli ..Une Fichte
zu gar Niclits gek«"mmen sein würdf*. so kann ich doch von seinem
Buch, so wie es bis jetzt da ist, eigentlich nicht eine einzige Seite als
reinen Gewinn fOr die Wahrheit ansehn** (Bei. S. 28). „Meine Philo-
sophie oder mein Philosophiren geht mehr und mehr seinen eigenen
<lang" schreibt er am 30. Juli 1798 (ebd. S. .33) un.l erklärt, dass er
sich immer „unabhängiger v«>n den verbis magisti'i" mache (S. 30).
Somit befand sich Herbart bereits im Sommer 1796 in bewnsstem
Gegensatz zu Fichte, wogegen allerdings streiten würde, wenn wir mit
Hartenstein (Kl. Sehr. L S. XXIII) und Zimmermann (Sitz.-Ber. der
Wiener Akad. 83. Bd. lK7f?. S. 186) in eijiem um di** irb'ich^* Zeit ver-
, fassten Aufsatz (XII. 4 dort fälschlich auf 1794 verlegt, die richtige
Correctnr gibt Zimmermann a. a. 0. S. 185) noch einen Ansdmck. der
Anhängerschaft Herbart*s an Fichte sehen wollten. Allein derselbe yer-
räth bereits in dem Masse dif» wesentlich modificirte Auffassung der
Wissenschaftslehre durch Herbart, dass er mir viehnehr die ersten Schritte
zu kennzeichnen scheint, welche Herbart that, sich eine eigene Wissen-
schaftslehre zu schaffBn.
Die einleitenden Worte der Abhandlung geben in hemerkenswerth»^r
Weise dem Intcressf Ausdnick, welches Herbart durch die Wissenschafts-
lehre hauptsächlich zu befriedigen suclite. In der grossen Frage: ..Wie
sind synthetische Uitlieile a priori möglich V" hat Kant das Bedürfniss
der ganzen Vemnnft znsammengefassi Anf Synthesis geht imser wissen-
schafiiiches Forschen; neue YorsteUnngen wollen wir mit unserem bis-
herigen verbinden, die Grenzen unseres Gesichtskreises erweitern. So
wird uns eine Wissenschaft Bedürfniss, weldu^ /eitre, ob nicht etwa das
Ganze unseres bisherigen Gedankenkreises schon die Bedingungen seiner
Erweitemng enthalte. Synthesis ist das Wesen dieser Wissenschaft.
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6
EntwickluQgagesch. d. Herbartischeu Metaph.
«
Sie wird dah«r aneli, wenn sie nor übeiliaapt möglich ist, „in. allen
ihren Theilen s}mtlietiscli zusammenhängen, von Einem Puncto aus wird
man sie g-anz durchlaufen können. Ein Gnmdsatz wird den jranzpn
Inhalt derselben bezeichnen, in ihm wird die ganze Idee der Wissen-
sdiaft concentrirt sein; er wird selbst die reinste Synthesis sein und m
allen übrigen Synthesen fuhren müssen" (XII. 5).
Die Forderung des Einen Grundsatzes, die hier kaum ans der
inneren Consequenz des einereschlagenen Gedankcnf^-aiiLres, sondern mehr
als Einbiegung in bekannte Bahnen auftritt, ist allerdings gut Fich-
tisch. Auch das Folgende scheint noch ganz im Sinne der Wissen-
schaftslehre gehaltt-n: da>> nur im Begriff des Ich die vfdlig reine
Synthesis sicli finde, da dei-selbe, rein gedacht, blnss den Begriff des
sich selbst Vnrstellens enthalte, so dass die beiden Verbundene)! —
das VoKitellende und das Vorgestellte Eins und Dasselbe seien. „Allein
ehen darom ist auch diese Syntiiesis für sich allein gar nicht den&har,
es kann Nichts zusammengesetzt werden, wenn nichts \'erschiedrae8 da
ist. Dalier muss dieses vnriresti llte Ich in gewisser Kücl^siclit ein anderes
sein, eine neue Syntlies«' eingehen, in der die vereinigten Glieder nicht
eins und dasselbe sind. (Ich stelle z. B. mich vor als denjenigen, der
hier sitzt nnd liest, so nnd so gekleidet ist, so alt ist n. s. w.) Und so
mnsste es kommen, denn weini der Grundsatz in sich selbst Vollständig-
keit und Abgeschlössenlieit hätte, so würde er nicht die Wissenschaft in
eine ßeihe von ihm vei-sclüedener Sätze führen. — Durch eine neue Syn-
thesis also soll die Wissenschaft ihren Omndsatz denkbar machen. Das
Ich mnss gewisse Yerbindnngen mit dem Nicht-Ich eingehen; aber ans
diesen Verbindungen mnss es die Wissenschaft wieder trennen. Sie muss
zeigen, wie icli dazu konune, mich nicht bloss als den, der hier sitzt
u. s. w., sondern als Ich, als den sich selbst Vorstellenden zu setzen. Man
sieht leicht, dass hier ein unendlicher Girkel entsteht. Jene Unendlichkeit
mnss erschöpft werden. Das geschieht, indem das Ich sich die Aufgabe
selbst, die ganze Unendlichkeit in Einem Begi-iffe vorstellt. Das Begi-eifen,
Umfassen der Unendlichkeit wird also durch den Begritl' des Ich postulirt,
hat die Wissenschaft dies Postulat erklärt, so ist ihr Problem gelost'* (S. 6).
So bestechend hier die Anklänge an die Wissenschaftslehre andi
sein mrtgen, so zeigt eine nähere Betrachtung doch einen durchaus eigen-
thumlichen, von jener abweichenden Gedankengang.
Vor allem würde Herbart's Ausführung sich den Vorwurf Fichte's /u-
gezogen haben, den dieser auch Keinludd und Aenesidemus gemacht
(Pichte's S. W. I. S. 8), dass sie Ton einer Thatsache, dem „todten Be-
griff* (ebd. S. 454) des sich sell)st Vorstellens, ausgehe, wäln-end doch
eine Thathandlung, die Pruduction eines „Lfbendigen und Thätigen'"
an die S])itze treten müsse. Ferner g«'schieht es durchaus nicht in Ueber-
einstimmung mit der Wissenschaftslehre, wenn das reine Ich, — der erste
Chnmdsatz als Synthesis geHust wird. Der erste Grondsats ist bei
Fichte blosse Thesis, und erst nachdem der zweite die Antithesis des
Nicht-Ich aufgestellt. si)richt der dritte die Synthesis aus: das Ich setzt
im Ich dem theill»aren Ich ein tlieilbares Nicht-Ich entgegen (ebd. S. 110,
113, 123 f.). Für die Wissenschaftslehre beginnt die Undenkbarkeit,
deren Losung das System ergibt, erst bei dem Widerstreit zwischen dem
Ich und Nid^t-Ich, der schliesslich durch ein practisches Postulat „nicht
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II. Uuivcrsitütäaufuuthalt.
7
«owohl gelöst» als in die ünendUohkeit hinaus versetzt wird« (ebd. S. 156).
Die Schwierigkeit dagegren, welche Herbart im Ich-Begriff findnt, liegt
in (Ifr «r('fM(l('rt<'n Identität d^-s Vorsttdlenden und Yorgesteüten und dem
^daraus eiit^springeuden unendlichen Cirkel.
Zur verschiedenen Formnlimng der Ansgangspimkte kommt die Yer-
«chiedenheit des Fortschreitens. Bei Herbart treibt der Grund-
4Satz unmittelbar zum Nachweis, wi»* aus dem mannig-faltifrcii, » mpirischen
Ich das rein»' Ich litrYorg^f'hfn könne. Die Wissenschattslehre dagetr^n
lührt zunächst ihru Deductiunen bis zum Postulat der productiven Ein-
bildtmgsknfl, nnd von hier ans erwftchst erst die Aufgabe, ans der Wirk-
;samkeit der letzteren nnd der auf sie ausgeübten Keflexion die Entstehung
des Soll)stbnviisstseins, des sich selbst vorstellenden Ich zu erklären
(vgl. K. Fischer, Gesch. d. ii. Phil. V. S. 53H). In Herhart's xVnsfühnui'jr
des Plans, scheint es, vrürden all' die apriorischen Constructiouen, durch
welche die Wissenschaftslehre ihren Gang nimmt, zurückgetreten sein
TOr der Hinlenkung auf den empirischen Thatbestand nnd der Tendenz,
das unmittelbar Getrebene zu erklären.
Tritt so in Bestimmung und Fassung des Grundsatzes, im Phin
der Entwicklung die Differenz mit Fichte^) recht kenntlich henor, so
ist andererseits die Hinlenkung auf das spätere System Herbart's nicht
minder augenfällig. Die Fonuulining des Ichproblems und seiner LOsung,
wie sie hier vorliegt, würde durchaus in den Rahmen desselhen passen.
Nur in zwei Puncten bekundet sich ein Gegensatz zu Herbart s nach-
maligen Ansichten: in der Forderung eines einzigen Grundsatzes und
der postutirten Umftssung der ünendlichkeü
Dass Herbart seine entfremdete Stellung zur Wissenschafkslehre
auch selbst mehr und melir fühlte, zeigen die oben angeführten brief-
lichen Aeusserungen. Im Herbste des Jahres 1796 gelangt er zu einer
entschiedeneren Ausprägung des Gegensatzes nnd zwar in einer Kritik,
die ihrer ganzen Anlage nach eine Auseinandersetzung mit der Wissen-
^schaftslehre bildet, aber sehr bemerkenswerth nicht gegen Fichte selbst,
aondem gegen dessen neu auftretenden Jünger Schelling gerichtet ist.
Obgleich Uerbart nicht versäumte, sich in weiterem Umfange mit
der zeitgenössischen philosophischen Bewe gung bekannt zu machen —
neben dem eingehenden Studium Kant's beschfifkigen ihn z. B. die
Schriften Jacobi's und Maimon's (vgl. K(>1. S. 38) — , concentrirto sich
doch die ganze Intensität seines Denkens auf die Wissenschaftslehre, und
da musste das Auftreten des ersten eifrigen Apostels derselben, des
Jugendlichen Schelling, sohl Interesse besonders in Anspruch nehmen.
Den 1795 erschienenen phüosophischen Erstlingsschriften desselben wendet
er eingehendes Studium zu, und spricht in eineni Briefe vom 80. Juli 1796
achon recht anirele^'-fntlich über den „Schellingianismus" (Rel. S. B8).
Als erste Frucht dieser Beschäftigungen ist uns eine Skizze unter
dem Titel „Spinoza und Schelling" erhalten (SU. 7 IT.), welche mit feinem
Scharfblick die beiden Philosophen einander gegenüberstellt*) Wie
Spinoza's Lehre die consequenteste Darstellung des Dogmatismus oder
objectiven Realismus, so bildet Schelling's System — ihr offenbares
Gegenstück — eine sehr ausgeführte Darstellung des Idealismus. Spinoza
hatte» am das höchste BedMiiss jedw Wissenschaft» die Vollendung der
«jstematischen Form, zu befHedigen, die Eine alltim&ssende Substanz
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8
Eutwicklungsgesch. d. Herbartischeu Metaph.
gesetzt, welche die ganze Mannigfaltigkt it der Welt als Ein Gontinimm.
und als Ein Systom darstellt, dabri aber den Fchb-r Ijef^-ancren, dass man
nicht bejufrcift, wie wir denn zur Erkenntniss dieser AVclt, die nur ausser
uns Eealität haben soll, gelangt sind. Diese Schwierigkeit veniichtet
Schölling: Jene Erkenntniss selbst ist dies Weltall; nnser inneres Ich»
das durch intellecfüielle Anschanüng seiner selbst sich erzeugt, schafft
auch durch o'mon freien Act seiner absoluten Allmacht für sich selbst
dies weite Universum. Dies ist aber dann durch Entgegensetzung ein
Nicht-Ich und tritt in Widerspruch und Kampf mit dem Einen absoluten
Ich, welches schliesslidi dnrch einen Machtspnich Frieden gebietet^
indem es seine Totalität unter beiden theilt (S. 8 u. 9).
Herbart behält sich vor, ,,dies merkwürdige System künftig genauer
in'ß Auge zu fassen" und erhebt „vorläufig nur die Frage: wie kommt
das Ich dazu, durch seine absdnl» Macht einen Kampf in sich zu be-
gründen, der mehr Spiel als Beschäftigung zn heissen verdient, da er
ein selbstgebotener Kampf mit einem selbstgeschaffenen Feinde ist?**
und die andere: ,.wi»' wird Sclielling seine intellectuelle Anschauunt,' von
diesem Ich irgend Jemanden mittheilen, wie sie nur sich selbst, sich als
Sdielling, als Individonm bewähren kOnnenf'* (S. 9. f.)
Diesen letzten Einwand mochte in der That die erste Darstellm^f
der "Wisseiischaftslehrf. welclie noch durchaus vom individuellen Ich aus-
ging, nicht herausforih ni ; um so entschiedener gilt ihr aber der andere,
dass man nicht einselien könne, wie das Ich dazu komme, ein ihm
widerstreitendes Nicht-Ich za seteen. Bennoch erscheint der Einwurf
bei Herbart ganz so, als ob er sich gegen das Specifische der Lehre
Schellings richte, und dadurch wird die Annahme nahe gelegt, dass ihm
wirklich im complicirten Constractionsapparat der Wissenschaftslehre ihre
eigentliche Achillesferse verborgen geblieben sei, die ja eben im Ver-
hfltniss von Ich und Kicht-Ich lag. Dass erst dnrch Schelling sein»
Anfinerksamkeit in erhöhtem Masse diesem Punct zugelenkt worden sei,
scheinen auch die Schlussworte des Aufsatzes anzudeuten: ..Eine bessere
Vorbereitung zur Wissenschaftslehre kann es übrigens wohl nicht geben,
als das Stadium des Schelling'schen Systems; mir wenigstens ist da>
durch das Bedürfhiss einer Synthese zwischen Idealismus und Bealismna
doppelt dringend und fühlbar geworden."
In solchem Sinne gefasst wirft, diese Kundgebung zugleich ein
helles Licht auf Herbart's ursprüngliche Stellung zur Wissenschaf tslehre.
Ihm war dieselbe in der Thiät in erster Beihe „Wissenschaftslehre" d. h.
eine Theorie unseres gesammten Wissens und Erkennens, welche die
höchsten Anifordemngen " der Methodik und Systematik zu befriedigen
suchte. Nirgends bezeichnet er Fichte's System als Idealismus, sondern
scheint gelegentlich auch, wie Fichte es mit Vorliebe that, den Namen
Kriticismus auf dasselbe anzuwenden. Eriticifflnus und Dogmatismus
bezeichnen aber in der von Eant eingeführten, von Fichte allerdings
wesentlich umgebogenen Fassung methodologische, und nicht, wie Idea-
lismus und Realismus, metaphysische Gegensätze. So beruhte auch das
intensive Interesse, welches Herbart an der Wissenschaftslehre nahm,
auf ihrer eigenartigen Metiiodologie und nicht auf der IVage nach dem
Ich und den Dingen an sich. Dies wird durchaus erklärlich, ja selbst-
Terständlich auf Grund der oben (S. 5) gemachten Annahme, dass eine^
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IL Universitätsaafenthalt. g
strenge logrische Sehnlnng« ^in intensiyes 8tr«b«n nach systematisch zu-
sammenhängender, formal vollendeter Erkenntniss das Apperc^ptiojjsorgan
bildete, durch wekln-s er di«' WisspiiscliaftsUdir«' anffassfe. Eiiw wirk-
same Appercej)tinn d>'rsclb»Mi war nur iiis(»ft'ni inoLrIich, als sit« VMr\vaiidto
Seiten darbot, als sie dem vorhandenen Bedürfuiss Befriedigung, den
difln^nden Fragen Lösung Terhiees. Frdlich sah Herbart sie dann
anch nur als eine Antwort anf seine Fragen an.
Dass aber di<' Wissenschaftslohro noch p^r viel anderes und viol-
leicht auch j''ni' Aütworfon nicht tranz in der Weise gab. wie Herbart
sich sie gedacht, darauf hinzuweisen waren Schellings Schriften sehr
geeignet Es verrathen schon die Titel derselben — „üeber die Möglich-
keit einer Form der Philosophi** überhaupt** und ..Vom Ich als Princip
der Plülosopliit' (Mb r übfT das Unlu-dingto im m«'ns( hlicli«'n Wiss*'n" —
einerseits die eiip- Analogie mit Fi<'lit<-*s b«'idf'n gnnidlfgenden Schriften
„Ueber den Begriff der Wissenschaitsiehre" und „Grundlage der gesammten
Wissenschaftslehre^ nnd kennzeichnen andererseits genau dieselben Pro-
bleme, die für Herbart's eigenes Pliilosophirfn die fundamentalen Fragen
enthielten: nach d^r Fonn dos Systems überhaupt und nach dorn Princip
desselben, weldies auch Herbart im Ich findet. Soine Uebereinstinuimng
mit Schelling in der Anlage der Untersuchung spricht er auch geradezu
ans (XU 10 f.) Daher kann ihm die Kritik ScheUin'g*8 so gnt zom
doppelten Zweck dienen: einerseits sich mit Fichte auseinanderzusetzen,
andererseits di»' Cirundlegung für sein eigenes neuos Systfni zn gewinnen.
Beide Gesichtspaucte hat er sich selbst zu klarem Bewusstsein ge-
bracht. Die Kritik der beiden Schriften Schelling's (XIL 10 ff.) wird
Ficlito übf'rgeben und von diesem mit Anmerkungen versehen, die freilich
Hcrhart wenig befriedigen. Er beklagt sich über die Unaufmerksamkeit
Fichte's, der üb^r ihre boidersoitigo Differenz „kein erhebliches Wort**
sagt. „Gerade darüber", schreibt Herbart, „bedurfte ich der Belehrung
am meisten, denn ich halte sie f&r bedeutend nnd Fichte's Darstellung
der Wissensrl,,itt>lMhre für unmethodisch und undeutlich" (Bei. S. 39j.
Mit gleicher Klarheit und Entschi''denh»'it spricht er sich über den
zw^eiten Punct aus. Im Schreiben an Smidt, dem er don Aufsatz
samint den beigefügten Noten Fichte's in einer übrigens etwas ver-
apftteten Abschrift Anfhng December 1796 zuschickt — so dass die
Abfassungszeit mindestens in den October 1796 zu verlegen ist — heisst
es: „Dieser Aufsatz ist das beste und ausgoführtosto, was ich Dir von
meinen philosophischen Versuchen mitzutlKihn liabf. Dass ich über
das Princip der Philosophie, über die vollständige Ansicht
und den Gebrauch desselben, Uber die Methode des Fort-
schritts im Folgern, und fiber einige nahe liegende und wichtige
Lehrsätze mit mir einig geworden sei| werden Dir die einliegenden
Blätter zeigen, und ziemlich bestimmt angeben, was Du von meiner Art
zu philosophiren möchtest erwarten kOnnen. Nur muss ich Dich um
eine etwas anhaltende Aufmerksamkeit und um das günstige Yomrtheil
bitten, dass jede einzelne abgebrochene Aeusserung im Ganzen Sinn und
Bed'^nfung haben werde, wenn sie auch für sich allein wenig verspricht.
Du wirst viel hinzu denken müssen; denn ich habe mich so kurz als
möglicli gelkssti'* (ebd.).
Diese ICahniing ist auch für uns von Bedeutung. Sie Tereichert
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10
EntwickiuDgsgeach. d. Herbartischen 3Ietaph.
vluBt dass wir nicht bloss dnrch Anklänge an das spätere System nns
tänsehen lassen,' wenn wir hier bereits die bewnsste Grandlegun^- (l<>s-
S''lb*'n f-rhlirk*'!!. Di»' Hauptl^-istung' d»'s Aufsatzes hat an<^r Ht ibart
selbst in ih'W Voll mir lu-sundcrs hervorj^*'hol»(Mieii Worten sehr zutreü'end
gekennzeichnet. Autii liier tritt die methodologisch-formale Seite in den
Yordergnmd. In dieser Blchtnng bewegen sieh seine ersten Specolationen,
in ihr kommen sie zuerst zu einem Abscliluss.
Die Fracrf' nach df^r ]\[ogIichkeit einer Form der Philoso])hie über-
haupt bildet den Ausgangspunct für Herbart wie für Schelling. Vor
allem handelt es sich hier darom, über das Wesen des Princips ins
Klare zn kommen. Da deflnirt nun Schelling Wissenschaft als „ein
Ganzes, das unter der Form der Einheit steht," und fordert als Gewähr
dieser Einheit, dass alle Theile Einer Bedingung unter^eordn»'t seien.
Gegen jenes bemerkt Herbart, dass auch ein Aggregat von Sätzen die
Form der Einheit haben kOnne nnd doch keine Wissenschaft ausmache,
gegen dieses, dass jene letzt«» Bedingung — „der Gnmdsatz sich die ab-
geleiteten Sätze nicht bloss unterordnen, sondern sie ganz ans sicli her-
vorzubringen suchen solle. Sonst ist jtnes Bedürfniss einer systema-
tischen Form nur halb befriedigt" (XU. 11). Auch dass es aus formalen
Qrfinden Eine Bedingung, bloss Ein Grandsatz sein müsse, gibt er
nicht zn. „Hehrere schlechthin gewisse Sätze können sich auf einander
heziMlitn. öline sich in einander zu verlieren" (S. 12). „Warum nicht
mehrere Gründe für Eine Folge? Mehrere Anh:inire)iuncte für Eine
Kette? — Die Logik bedarf zweier Prämissen für Eine Conclusiou.
Die Ifathematik demonstrirt die Congrnenz der Triangel aus drei gleichen
Bestimmungen derselben. — Zn zeigen, dass man dennoch für die
Philosophie eines einzigen Princips bedürfe, dazu ist hier der Ort
nicht; es ist genug, das Mangelhafte in Schelling's Beweisen zu be-
merken" (S. 16). — Also dennoch ein einziges Princip für die
Philosophie!
Das Prinrij) inuss seinem Begriffe gemäss einer doppelten Forderung
entsprechen: einmal muss es an sich gewiss sein, und dann das auf
ihm sich aufbauende System gewiss machen, bedingen. „Aber wie wir
Einen alles bedingenden Inhalt finden, wie wir den grossen Uebeiflnss
des anderen unbedingten Inhalts durch jenen bedingen sollen, das ist
die grosse Frasre. Von einem gewissen Satze müsste man ausgehen;
aber wie sollte man ihn wählen? Sollte man aus den vielen an sich
gewissen durch blinde Willkür einen herausgreifen? Träfe man nicht
gerade den rechten, so hätte man nun eine in sich wOendete abgeecMoesene
Thesis, die allemal das Ende der 8pee¥kttion ist. Aus ihr kann man
weder rückwärts noch vonvärts. wenn man nicht eine willkürliclie Ge-
dankenfolge zusannnenreilit'ii will; denn sie fordert weder Bedingungen
noch Folgen; und wie kann irgend eine echt philosophische Untersuchung
Ton einem Princip ausgehen, das nicht in sie hinein treibt? Jedes
Princip muss an sidi, d. Ii. ohne das System gewiss und dennoch ohne
dasselbe unmöglich sein. Aus d' r Aufklärung dieses Widerspruchs muss
das allgemeine Princip sich ers^n beir- (S. 14).
Der bestimmte Zielpunct, auf welchen dieser, bereits in einem
frflheren An&atz (s. oben S. 8) deutlich ausgeprägte Gedankengang
hinsteuert, ist das Ich, das sogenannte reine Ich; denn dieses eiflUlt
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IX. UniTeraisätsaufenthalt.
11
jene doppelte Forderung. Durch die Erfaiiiiing ist es als ein Gewisses
gegeben; seinem Begriff aber ,^bOrt der des sich selbst Setzens, des
sich selbst Erzengens wesentiich zu; und eben weil dieser Begriff in
sich wi(l«'r>;pr('rlu'n(l ist und nur in wif*fom er dafür anerkannt wird, ist
es möglich, eine Philosophie von ilim abzuleiten, oder vielmehr an ihn
anzuknüpfen" (S. 25). — Soweit die allgemein methodologischen Auf-
stellungen, welche l&r Herbart^s Metaphysik auch weiterhin ftindamental
geblieben sind (man vgl. die Fragen nacli dein (Te-^'f-liciu n und dem Zu-
ijammenhang von Gründen und Folgen III. 5 ff. IV. 17 ff. HO ff.) Der Wider-
spruch im Ich, mit dem es die Untersuchung allein zu thun hat, ist auch
hier der des sieh selbst Setzens, nnd nicht der zwischen Ich nnd Nicht^Ich,
wenn gleich Herbart, wie schon früher (s. oben S. 10), das grundlose Her-
vorgehen des Niclit-Icli aus dem Ich auf das Schriifstt- tad«dt (XII. 27).
Welches ist denn nun seine Stellung zu dieser brennenden Frage
um Ich und Nicht-Ich, um Idealismus und Kealismus? War ihm
doch durch das Stadivm Schellings eine Synthesis beider doppelt dringend
geworden. Gleich der erste Satz von ScheUings Buch über das Ich
zeigt den angehenden Identit;its;pliiloso|dien. Dasselbe beginnt mit den
Worten: „Wer etwas wissen will, will zugleich, dass sein Wissen R<'alität
habe. Ein Wissen ohne liealilat ist kein Wissen", und entwickelt hieraus
die Fordening, dass es „einen letzten Pnnct der Bealitftf *, einen „TJr-
gtand aller Kealität einen „Bealgrund — alles nnseres Wissens" geben
müsse. Denn das Letzte im mensclilichen Wissen ist für Schelling zu-
gleich Kealgrund, „das Princip seines Seins und das Princip seines
Erkennens muss zusammenfallen'', es ist in Einem absolutes Sein und
absolutes Wissen. Auf diesem Weg gelangt Schelling zn seinem absoluten
Ich. Da findet es nun Herbart „sehr befremdend, wie hier. ^^ einem
Princip des Wissens, d. h. einem Ifüsse?? srlilechthin, von welchem alle
Gewissheit ausgehe, nachgeforscht werden Splitt " — der Titel von Schel-
ling's Schrift nannte „das Unbedingte im menschlichen Wissen" — „von
einer Bealität schlechthin, die alles Basein begründe, die Bede sein kOnne.
Wir alle unterscheiden Sein und Wissen, also auch Sein schlechthin von
unmittelbarer Gewissheit; dass ein gewisses (nämlich Fidite's) System
kein anderes als ein gev^nsstes Sein anerkenne, geht uns hier theils
noch nichts an, tbeils unterscheidet auch eben diese Philosophie, in wiefern
sie Sein und W^issen verbindet, selbst diese Begiiffe^ denn nur verschiedene
lassen sich verbinden. Sie dürfen daher nicht gleich anfangs als gleich-
bedeutend verweclis{ It wcrdt ii, vielmehr werden Beweise einen Uebergang
von einem zum anderen bahnen müssen" (S. 17). Diesen Tebergang bahnt
sieh Herbart durch die Formel: „Ich will, dass die Befugniss, mein Wissen
auf ein Sein zu beziehen, unmittelbar statthabe, ich will durch einen
einzigen Schritt aus dem Gebiete des problematischen Denkens in das
Reich des Seins (oder des nnth wendigen Denkens) liinübertreten"
(S. 18). Jener erste Satz Schellings hätte zu lauten: „Wer etwas wissen
Hill, will zugleich, dass sein Wissen nnwüUcüilich und in aUen seinen
Bestimmungen nothwendig sei: Daher muss wenigstens Ein Gedanke
sich unmittel])ar aufdringen, und sieh so ankündigen, dass aller Verdaclit
einer willkürlichen Kründung (dnie alh's weitere Nachdenken unmöglich
werde. Das Gedachte soll dem Versuche, es wegzudenken, Nothwendig-
heit nnd Zwang entgegensetzen** (S. 19).
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1%
Entwicklungsgetch. d. Herbartischen Hetapb.
Man würde indess iiren, wenn man meinte, dass Herbait mit diesen
FestBtellnngen schon nber den Idealismus der Wissenschaftslehre hinaus-
gekommen wäre. Ganz in derselben Wfise, wie es hier geschieht, ho-
stimnit aucli sie die Realität und das Kriterium derselben als ein Getühl
des Zwanges, Nicht-kOnnens, der Xothwendigkeit (Fichte's S. W. I. S. 289,
301, 367, vgl. auch 423, 436). Diese mit dem Gefohl der Notiiwendig-
keit begleiteten Vorstellungen geben das Ding. Dass ein solches Sein,
nothwendiir zu Denkendes auch nur t in „noth wendiges Prodiirt unserer
Einbildungskraft" sein könne, gesteht }Ierl)art a. a. 0. ausdrücklich zu,
und gegen Fichte s Einwurf, dass es einen Uebertritt aus dem Keich des
Denkens in das Bsieh des Seins gar nicht gebe, sowie gegen die Be-
schuldigung des Dogmatismus wahrt er sich entschieden. Er spricht in
der That nur ..verschiedenen l'eflexinTispuncten." Aucli andere
Stellen lauten im Sinne einer Uebereinstimniung mit Fichte: ,,Der Ide-
alismus ist wahr und richtig, nur dann nicht, wenn er polemisch gegen
den Realismns anftritt" (8. 23) — d. h. wohl, er mnss aas sich herans
die relative Berechtigung der realistischen Anschauungsweise entwickeln,
wif ja S. HH geradezu ver\viesen wird auf „die Wissenschaftslehre, wo der
Beweis tür die Identität des Idealismus und lleaiismus allgemein ge-
fohrt worden," da Fichte — wie es die Anmerkung ausspricht — fA^n
Idealismus sowohl als den Bealismns als auf gewissen Reflexionspnncten
nothwendige Systeme zulasse." Auch hier, wie bereits früher, wehrt
er den Vnrwurf des Dogmatismus als durch blossen .Missvt rstanil veran-
lasst, Von sich ab. Aber im Sinne Fichte's, der den Dogmatismus nicht
bloss dem Kriticismns, sondern anch dem Idealismus gegenüberstellte
(S. W. I. S. 433) und ihn als diejenige Ansicht erklärte, „die dem Ich
an sich in d^ni hoher sein sollenden Begriffe des Dinges (Ens), etwas
gleich- und entgegensetzt'^ (ebd. S. 119), ist jeder wahre Kealismus
Dogmatismus.
Ifnn scheinen in dieser Bichtang einige Aeasserangen Herbart^s
weiter zu fahren, durch welche er über den einfachen Begriff der Realität,
des Seins nls eines nothwendig zu Set'/enden, nicht hinweg zu Denken-
den hinausgellt, um mit Schellinc nnch von einem absoluten Sein zu
sprechen. Dieser musste, bei seiner Identiticirung von Wissen und Sein,
dem absoloten Wissen ein absolates Sein entsprechen, oder richtiger
beide znsammenfallen lassen. „Er vervsecliselt". erklärt Herbart, „Realität
des Wissens und aVis^dutes Sein (Unbedingtheit des Gedachtwerdens mit
gedachter Unbedingtlieit), als ob sie Eins und Dasselbe wären. Die
Unbedingtheit des Setzens soll diejenige des Gesetzten herbeiführen, beide
sollen nnzertronnlich Terbnnden sein, nur Eins ansmachen. Folglieh
müssen Setzen and Gesetztes nor Ein anbedingtes — das Ich sein'*
(XII 21). Somit kommt dem Ich, dem letzten Wissens- und Seinsprincip,
auch das absolute, reine Sein zu. Aber „die Form des reinen Seins ist
Unbedingtheit nnd wenn etwas sich selbst bedingt (wie das Ich) so ist
es auch durch sich selbst bedingt, and von einem Btüngtsein ist beim
absoluten Sein gar nicht die Rede," daher kann dieses auch dem sich
selbst setzenden Ich nicht beigeloot werden. Zudem versieht Schelling
sein Ich ganz ebenso, wie es Fichte gethan, mit einer Oentrifagal- and
Centripetukraft. „Allein beim absolnten Sein, welches die toU-
kommenste Einfachheit der Position, das ▼Olligste Zoreidien des
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II. Umveratätsaufenthalt.
13
leisesten Denkens erfordert, kann eine Centriüigalkrait wie metaphoriseh
der Ausdruck auch genommen werden raajEr, nicht die allerentfeniteste
Bedeutung haben. Absolutes Sein ist absolute Kuh(^ und Stille;
es ist das f*Mfrlirhste Schweigen über der Spiegelfläche d^s vrdlig nihfiub-n
Meeres; Niemand darf es wagen, diesen Spiegel nur durch die kleinsten
Kerise m trfiben. — Oerade umgekehrt ist das Icli ein ewig ans sich
heraus und in sich zuriu karbeitender StrudeL Ruhe wäre da* Tod des
Ich, Thätitrkeit ist sein einziges Sein" (S. 24). „Von diesem Allen'*,
bemerkt Fichte, ..verstehe ich nur soviel: man hat sich nicht bei dem
Sein des Ich aufzuhalten, daraus wird Nichts; man gehe zu seiner
Thätigkeit — Und damit bin ieh gsia einverstanden,** und Herbart er-
kläi1 darauf, er habe in der That nur „Fichte's Behauptung, dass das
durcii sich sellist und das sich irlei< h Sein Formen des Ich seien, be-
weisen, zugleich aber auch klar machen w.dlen, dass diese Formen sich
sowohl anter einander, als dem absoluten Sein widersprechen, dass folglich
*da8 Ich seinem Begriffe nach gar nicht »ei." Denn indem man dem
Ich das absolute Sein ertheilt, sind die widersprechenden Yorstellnngs-
arten im Ich. ..wie fruchtbar sie auch sonst für die Philosophie sein
würden, für dieselbe so gut wie verloren. Sobald sie den Stempel des
absoluten Seins erhalten haben, sind die Widersprüche in ihnen durch
Machtsprnche Teniichtet nnd die philosophirende Vernunft hat ihr Becht
verloren, ihnen noch etwas zuzusetzen, wodurch sie erklärbar würden.
Wer kann denn das absolute Sein noch erklären?'* (S. 25.)
In dem Begriff des absoluten Seins, wie Herbart ilin hier einführt,
finden sich bereits all' die Bestimmungen der Kelationslosigkeit,
der Einfachheit und Unverfinderlichkeit, durch welche dieser Be-
griff zu einem Grund- und Eckstein des Herbartischen Realismus geworden
ist, unverkennbar angedeutet. Ist also die Aufstellung desselben nicht
der beste Beweis dafür, dass Herbart die Bahn des Bealismus, durch
welchen er seinen Hanptgegensaii gegen die zeitgenossische Philosophie
aospiAgeQ sollte, bereits wirksam betreten habe? In der That fehlt es
unserem Aufsatz auch an anderen Stellen nicht, welche gegenüber den
oben mitgetheilten idealistischen Wendungen eine entschieden realistische
Tendenz bekunden. So erklärt sich Herbart in der Anmerkung auf S. 36
mit Schelling darin einig, dass der „theoretische IdMlismns nach Schel-
ling's Erklärung" — und das ist ein solcher, der ein dem Ich Entgegen-
gesetztes überhaupt leugnet, wie es ja bei Fichte thatsäclilicli der Fall
war — unmöglich sei, weil »t dem Be\\'usstsein geradezu widei-spreche.
„Aller Idealismus", lesen wir ferner auf derselben Seite, „muss subjectiver
Eealisnms sein; denn man mnss sich wenigstens zu Einem in jeder Bück-
sicht absolut, d. h. als Eealität Gesetzten bekennen, weil man sonst gar
nichts setzt." Das Ich sollte ja al»er nicht absolut gesetzt werden —
was also sonst? Gab es für den AnlianiLrer des Fichte'schen „Kriticismus",
der den Kealismus nur als einen nothwendigen Standpunct der Reflexion
gelten liess, noch irgend etwas? — Wohl findet nch mehrfach eine Tor-
stellungsweise angedeutet, die auf die spätere Ausgestaltung des Her-
bartischen Kealismus hinweist. Gleich Eingangs der Kritik (S, lö) wird
Schelling entgegengehalten eine „««benso mannigfaltige Kealität des
Wissens als es Maimigfaltigkeit des Wissens gibt'' Denn nur ein Miss-
yerstand, der das sjrstematiMdie Bedfirfioiss von der Form auf den Gegen-
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14
Entwicklungsgesch. d. Uerbartischen Metaph. ^
stand übertra^p, prlanbe nicht, „ein mannigfaltige« nrsprfingliehes Sein
in Wechselwirkung,' aii/niiclimcii. ein Sein, das sich gegenseitig äussert^
offMiihart. erscheint, wodiirdi all»'S Din^r an sich von Gnnul aus zerstört,
und doch dii' systematisch«' Fonn crlialten \vord»'ii wärt'" (S. 23). Das
„Ding an sich" d. h. „ein völlig isolirtes Ding" passt nämlich in kein
8jstem (S. 28). Anf Fichte*s Einwarf gegen die obige Hannigfkltigkeit
der Bealität gesteht alier die Anm'erknng zn, dass dieses mannigMtige
Sein mit Fichtt-'s Wt cliselwirkung des Endlichen und Unendlichen im
Ich eins und dasselbe sei. Noch beinerkensweiUier ist die Ausführang
S. 31 f., dass man „in der Betrachtung über das absolute Sein, in wiefern
es dem Wechsel zu Grunde liegt, nnvermeidlich anf den Spinozisrnns,
oder wenigstens auf sein -vvichti'^'stes Dogma, das iv x«< .Trlr komme.
„Diese Behauptunir streitet iiiclit im trerinf^'steii yetren U<" — nämlich
die zuvor angeführte Stelle. „Denn ein mannigfaltiges Sein, das aber
nor in seiner Weehselwirknng ein Sein ist, Uast sich nur «dtRth das
absolute Setzen dieser Einen Weehselwirknng als Eine Bealitftt setzen."
Wo stellen wir also jetzt? Dem Spinozismus — das zeigen alle seine
Kundg-ebungen — ist Herbart entschieden abhold: also doch wohl auch
dem mannigfaltigen Sein in Wechselwirkung, welches unvermeidlich auf
ihn fahren soll? Das isolirte Ding an sich ist anch zurückgewiesen und
ebenso ein einziger Bealgnmd, denn — heisst es in den hinsichtlich
des Causalproblems wichtigen Bemerkiniiren auf S. IG — „jedes Be-
dingle setzt zwei Bedingungen voraus. (Beilin^n'ii lieisst aus sicli heraus-
gehn; sein was und wo man nicht ist. Dies widerspricht sich, wenn man
nieht herausgelockt wird.) Soll Jemals eine absolute BealitAt Bedingung
werden, d. h. etwas ihr entgegen zu Setzendes henrorbringen, so muss,
damit sie selbst aus sich herausgehn könne, noch ein Drittes hinzu-
kommen, welches, als Substanz das Bedingte als Accidens in sich auf-
nehme. — So ffihrt der Begriff der Causalität auf den der Substantialität.*'
Damit scheint denn sowohl die Setzung mannigfaltiger Bealitäten —
ob in Wechselwirkung befindlich, oder ob isolirt — , als auch dje Setzung
Eines Realen ausgeschlossen. In der That ist es, soviel ich habe sehen
können, nicht möglich, die vorhandenen Andeutungen zu einer bestimmten
widerspruchslosen metaphysischen Ansicht zn combinuren. Immerhin
mögen dieselben genügen, um — wie Herbart gegen Smidt (BeL 39)
äussert — ziemlich bestimmt anzugeben, was wir von seiner Art zu phi-
losophiren mochten erwarten können. Es drängt ihn aus dem Idealismus
— soviel dürfte aus dem Ganzen hervorgehen — auf das Entschiedenste
heraus. Gegen wesentliche Bestandstdeke desselben kehrt sich die
schärfste Polemik, so gegen die Setzung des Nicht-Ich durch das Ich
(S. 27) das absolute Streben fS. 83) u. a. — Mängel des Idealismus,
welche bereits die Skizze über Sidnoza und Schelling herv'ortrozogen hatte.
So tritt die Ivegation mit hinreichender Bestimmtlieit auf, aber die
Schafftang einer neuen eigenen Position ist erst in den allgemeinen
methodologischen Grundlagen gelungen, während die im engeren Sinn
meta])hysischen Probleme, abgesehen von einigen ontologischen Ansätzen,
noch der durchgreifenden Lösung harren.
Diese Stellung erklärt sich vollständig aus dem bereits (oben S. 10)
geltend gemachten Gesichtspuncte, wonadi der philosophische Entwick-
lungsgang Herbart*8 wflhrend der Toiliegenden Periode unter die Poimel
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II. UniTersitätsaufenthalt.
15
föUt: App^rception der Wissenscil&fislehre durch das logisch streng^
geschulte Denken und das Streben nach einer im rationalistischen Sinne
vollendeten syst^ inatisclicn Erk-'nutniss. "v\olch»'S Herbart als Frucht sfinor '
erst''n Jngendbilduujj: dt-m Studium d^r Wis.st'iiscliaftsb'hre entfr<-trejibrachtt'.
Es ist leicht begreiflich, wie di»'SM Ai>i»t'iception so knifiig zu
Stande kommen konnte. Denn die Anknüpfun^^spunkte für ein derartiges
formales Interess*- bot die WissenschaftBl^-hre in vorzü^rliili^'m Masse.
Sie ging aus von den höchsten Fragen nach System und Mt'tliodt' und
stellte das Stn'bon nach str«'n£r<'m Wisst-n und uinfas.-;<Midem Erkennen,
nach einem geschlossenen Ganzen aller unserer Erkenntniss an die Spitze.
Der Gang ihrer Entwicklung schien durch logische Kriterien anf das
Strengste geregelt und gab daher auch Herbart sofort Gelegenheit, einzelne
Schritte der logischen Kritik zu unttTW^-rfeii. Ihre allL'emeine Methode
der Entwicklung aber but ein liöcljst lienitTkfiisw.i-tlies Vorbild. Den
einfachen Grundgedanken alles wissenschaftlichen Furtschritts — der,
wenn frachtbar, natfirlich synthetisch sein mosste — sprach sie ans
in den Worten: „Wir müssen hei jedem Satz von der Anfzeigung Ent-
gegengesetzter, welche vereinigt werden sollen, austr' hen" (Fichte's S. W.
I. S. 114). Die Antithesis, der zu lösende Widersprach, gibt das Recht
nnd die NOthigang zur Syntliesis. Eine solche Synthesis ist gleich am
Anfäng der Wissenschaltslehre erforderlich, um den Gegensatz zwischen
dem Ich nnd dem Nicht-Ich zu vermitteln, nnd in gleichr r Weise n^* winnt
dieselbe alle weiteren Sätze von Antithesen zu Synthesen fortschreitend
(vgl. die allgemeine Aufstellung ebd. S. 123 f.).
Dass Herbart freilich erst spät den „hellen G^ist der Wissenschafts-
lehre durch ihren paradoxen Buchstaben** schimmern sah, dass erst eine
„unendliche Leere" in seinem Kopf entstand, ist bei dem ganz eigen-
artigen Character derselben natürlich. Allniäliir aber mochte er zur
üeberzeugung kommen, dass das hier eingeschlagene Verfahren seine
alten, liebgewordenen VorstellnngBweisen nicht bei Seite schob, sondern
nur eine wesentliche Ergänzung und Vervollständigung zn denselben bot
Der oberste Kanon der hergebrachten Logik Avar der Satz des Wider-
spruchs. Er bildete zugleich den Massstab aller Nothwendigkeit im
Denken. Die Unmöglichkeit des Gegentheils, so wurde gelehrt, ver-
gewissert nns allein nber die apodictische Giltigkeit eines Urtheite.
Hachte nnn Fichte nicht ganz von demselben Princip Gebrandi? War
es nicht die hv.cliste Vollendung der logiscfien Form, wenn es gelang,
durchwog von unmöglichen Sätzen auszugehen, um aus ihnen mit Noth-
wendigkeit ihr Gegentheil zu entwickeln? Und hiezu gerade schien durch
Vichts*« T3nte!T8ach.Qngen die Anssicht eröffnet Die in den ersten Grund-
sätzen vOjot das Ich vorhandenen Widersprüche, die, da sie unmittcdbar
dem Bewusstsein sich aufdrängen, nicht einfach negirt werden können,
nmssten zur Erzeugung einer Wissenschaft führen, die den obigen An-
sprüchen genügt«;.
Der neugewonnene Gesichtspnnct gab ancb unmittelbar eine LOsnng
an die Hand für die berühmte Frage der Vemunftkritik. Als Kriterium
des a priori war erforderlich der Character der Nothwendigkeit; hier fand
er sich für die synthetischen Urtheile unmittelbar in Uehereinstimmung
mit den Fordenuigen der Schnllogik.
So nahm diese ihren altgewohnten Platz eüi, bot aber nun erst, in
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Entwicklungsgesch. d. Herbartischeu Metaph.
Yerbindong mit dem Fichte*8chen Ich, die Möglichkeit, eine wahlhaft
inhaltliche rationalistische Philosophie zu erzeu^^en. Die beiden Factoren,
die anfangs ganz unvcrträsrlich goschienen hatten, versprachen nun in
ihrer Vereinigung- rciclitn (l»'winn und mussten daher gegenseitig f^ner
des anderen Position befestigen. Die hervorragende Werthschätzung,
welche Herbart bisher der Logik zugewandt hatte, tbertrpg sich auf die
nene Coalition und «s ist begreif lieh, wie sein anf beharrUdies Festhalten
angelegtes Denlvcn fi'nvThin nicht mehr von der mit so grosser Intensit&t
des Suchens aufgefundenen Eichtung abwich.
Auf diesem Wege ergibt sich uns auch unmittelbar die Erklärung
dafür, dass es bei Herbart so bald zn einer Beaction gegen die Wissen-
schaftslehre kam. Dasselbe i^Ioment, welches ihn derselben zugefänrt
hatte, musste ihn hfi ticfMrcm Eindringen von ihr trennon. d^nn t^io war
aus andern Bedürfnissea und Tendenzen erwachsen, als wie sie Hf^rbart
zur Philosophie drängten. Im Praetisehen lag, wie der Zielpunct, so
auch das Motiv der Wissenschaftsichre. Die I^ilosophif ist für Fichte
eine Sache des Characters, dt^s Willens, sie wird erzeugt durch
das Bewusstsein der eijjenen Freiheit,') Der Idealismus, die
Selbstthätigkeit des Ich ist ihm das erste, und der Philosopliie fällt die
Aufgabe zu, dieselbe wissenschaftlich zu erweisen. Das dazu erforderliche
methodologische Gerüst, in welchem Herbart die H;uiptsache sah, ist
für ihn nur ein Aussenwerk des Systems. Dem (Tt fülile der menschlichen .
Freiheit und Selbständigkeit entspningen, und liestiinmt. diesem Gefühle
Ausdruck zu geben, kann die Philosophie Pichte s nicht mit todten Be-
griffen operiren, „sondern es ist ein Lebendiges, ein Thätiges, das aus
sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem dcor Philosoph bloss zu-
sieht" (ebd. S. 454). Daher die Th athandlnriren. die bei ihm an
Stelle der Thatsachen treten, daher der psychologische Character aller
Setzungen, Entgegensetzungen und Vereinigungen, welche den Fortschritt
der WissenschafMehre leiten und durdi den Sdiein strenger Metliode
Herbart wohl für's Erste blenden, aber" auf die Daner sein logisches Be-
dürfniss nicht befriedigen konnten. Nicht durch streng logische Arbeit
suchte man da die Widersprüche zu überwinden, sondern durch „Macht-
sprüche der Yemunfi;" (z. B. ebd. S. 106), die mit einer selbstthätigen
Willkür, wie sie der Logik völlig fremd ist, im Bereiche des Denkens
schalteten. Was Wunder, dass auf diese W>ise die Wissenschaftslehre
alle logischen Widersprüche im Ich bestehen Hess, und durch die vielen
in dasselbe gesetzte Handlungen nur noch häufte.
Gleichwohl hatte Fichte die methodologische formale Seite seines
Systems mit einer Strenge unl dialectischen Virtuosität ausgebildet, die
einem logisch<'ii K'^pfe wie Herbart, höchlich imponiren mussten und die
wahren ilävigtd nicht so leicht hervortreten liessen. Die Untersuchung
hob von genau bestimmtem Einzelnen an, und erklomm in knapp ge-
messenem Schritt Stufe um Stufe des Systems. „Fichte hat mich hsupt-
sÄchlich durch seine Inihiimer belehrt" schreibt Herhart im Jahre 1822
(VII. 152); ,.und das vermochte er. weil er in vorzüglichem Grade das
Streben nach Genauigkeit in der Untersuchung besass."
Von hier aus verstehen wir, wie erst Schelling, dessen erste Schriften
inhaltlich Fichte so verwandt waren, dass sie dieser Commentaie zu den
seinigen nennen konnte, Herbart in eotschiedenem Gegensatz zur Wissen-
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IL UniversitStsaiifeiitiialt.
17
sduiftslcliR' ilräng'to, donn Ix-i Sclu-llinir traten ihm dit^ Hauptl<din'ii
derselben ohne die faltenreiclie Hülle einer ins Feinste gesponnenen
Methode entgegen. In einer spfttem Kundgebung hat er selbst den be-
zeichnenden Punct treffend hervorge]i<t1). n : „TTerrn Schtdliii!4> dsti s lite-
rarisches Auftreten, wenii^^teiis hii philosopliischcn Fache, tid i^crade in
nieine üniversitätsjalire. ]\lein LelirtT Ficht«' machte aufmerksam auf die
neue Erscheinung; und er liob sie höher, als es meinem Gefahl zusagen
wollte. Fichte gewann mich — nicht dnrch das, was ihn mit Schelling
vergl<'ichbar macht — sondern durch das, was ihn von jenem unter-
scheidet, durcli wahre speculative Kraft; durch die feinsten Versuche, der
schwierig-sten metaphysischen Begriffe im Denken mächtig zu werden. lu
Herrn Schelling's Schriften, in den frühesten so wenig als in den späteren,
habe ich etwas «igetroffen, das ich Specnlation nennen konnte" (XII. 189).
Das, nicht in streng methodischem Gang deducirtc, sondern — nach
Hegel's bezeichnendem Ausdnick — wie ans d<'r Tistidc! GfscliossMue
Absolute Schelling's drängte unmittelbar zur scliäifsten Opposition. Die
einmal gewecicte Kritik griff immer weiter, und mehr tmd mehr mnsste
Herbart zur Einsicht kommen, dass die anfänglich bloss gegen Schelling
gerichtete Polemik ebenso auch Ficlite traf.
Die Diverfrenz beider erklärt sich v«dlends aus dem Umstände, dass
Herbait das prac tische Bedürfniss Fichte's wie es sich im Freiheits-
streben aussprach, so gar nicht fheilte. Dies sprechen schon seine ersten
skeptischen Aensserungen wider die Wissenschaftslehre ans. „Besonders
sind mir gegen Fichte's Lehre von der Freiheit s"hr grosse Zweifel auf-
gestiegen" heisst es im Brief vom HO. Juli (K-'l. S. ähnliche Aeusse-
rungen S. 38, 40), und in bemerkenswerthem Zusammenhange — Herbart
spricht sich fiber eben jüngeren Gommilitonen ans, der ihm zn Rath
und Leitung anvertraut war — am 10. Deceml" r IT'.Hk „Ich wenigstens
bin sehr bescheiden in meinen Znmutliungen an die Fn ilicit des Mt-nschen,
und indem ich diese der Schelling'schen Philosophie, allenfalls auch
Fichte überlasse, suche ich lieber einen Menschen nach seinen Vemunfb-
nnd Natrageeetzen zu determiniren, and ihm zu geben, was ihn in den
Stand setzen kann, sich s(dbst zu etwas zu machen. Du siehst wohl,
dass ich ein arger Ketzer bin" fe1»d.' S. 41). In der That musste es
damals als ar^e Ketzerei erscheinen, wider die Freiheitslehre Opposition
zn machen, die in Kant's Autorität eine mächtige Stütze hatte und die
Gemüther wie kaum eine zweite Idee beherrschte. Sie war eine wesent-
lich treibende Kraft der Strömung, in dc'ren Mitte Herbart getreten war
— und der zwanzigjährige .lüiigling widerstand. Die mitgetheilten Proben
seines damaligeu Philosuphirens gestatten kaum die Annalime, dass be-
r^ts durchgebildete metaphysische üeberlegungen ihm den Anhalt zum
Zweifel an der Willensfreiheit gaben. Der wesentliche Anlass zu dem-
selben ergab sich wohl in dem Zi)s;nnmenliange, den die eben vorgefüln-tc
Stelle andeutete, aus einer unmittelbaren Würdigung des practisclien
Lebens und seiner Anforderungen, worin sich mehr als in allen meUi-
physischen Versuchen die Mhe Geistesreife und ein wahrhaft selbstftndiges
Urtheilen Herbart's bekunden dürfte.")
Daliei offenbart sich diejenige Seite seiner Individualität, welche,
als ein Hauptfactor seines Philosopliirens hier noch hervorzuheben ist;
eiii klarer, scharfer Blick für die Wirklichkeit und die realen Mächte
2
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18 EntwiokltmgAgeicli. d. Herbartüohen Metapb.
des Lebens, eine tiefgewarzelte Achtung vor den Ansprachen des nn^
mittelbaren Bewnsstseins. Hier lag der Ausgangs- und Stfitzpnnct für
Hwbart's Koaction wider den Idealismus.") Kr inoditf» den (Jlanhen an
die selbständipMi Din^-e nicht aufgeben, und war durch seine ganze
Sinnesart zum Dugmatiker — nach Ficlite s Terminologie — bestimmt.
Nnr galt es diesem Glanben anch einen wissenschaftlich verfechtbaren
Ausdruck zu verleihen; denn KanVs Versuch, durch Widerlegung des Idea-
lismus die Philosophie von einem „Skandal" zu befreien, war gänzlich
niissL'lückt, und dieser erhob l)t'i Fichte nur desto kiilmer das Haupt,
Ihm gegenüber konnte man nichts anderes thun, als jenem auch von
Fichte sehr wohl gekannten Gefühl des Zwanges, der Nothwendigkeit in
"Wahrheit Beehnung tragen, und seine Ans])rüche, gehörig formulirt, vor
das Forum der wissenschaftlichen Untersuchung bringen. So tritt als
neue gleichberechtigte Instanz neben die logische Denknothwendigkeit,
diese zweite, Nothwendigkeit, die im erfahrangsmässig Gegebenen sich
anfdrftngty — ein Gedanke, den der von Herbart später mit Vorliebe ge-
übte ^iweis auf Denken und Erfahrung als die Grundpfeiler seiner
Metaphysik zum Ausdruck bringt. Denn die Hauptleistung der Erfahrung
für <üe Begründung seiner Metaphysik ist doch nur die, dass ihr „Gege-
benes** anf ein Beidi selbständigen' Seins znrfickweist.
Bei diesen einfachen Bestimmungen über Kealität und deren Kriterien,
die aus einem verständnissvollen, philosojjhisch geültten Erfassen der
"Wirklichkeit tiiessen mochten, bleibt aber Herbart nicht stehen, sondern
spricht gleich seinem Gegner Schelling m gehobenem Tone von einem
absoluten Sein, dasselbe mit Frädicaten ausstattend, die keineswegs
ans derselben Quelle ableitbar sind, wie jene realistischen Ansätze. Sehen
wir uns nach einr-r solchen um für dieses einfache, relationslose, unver-
änderlidie Sein, sd finden Avir sie. nacli Herbart's eigenem Ausspruch
(„keine philosophisclie Scliule, ausgenommen die der Eleaten, hat etwas
gelehii vom reinen Sein** 8. W. IV. S. 140) nur im Sein der Eleaten.
Dass er mit denselben noch vor der Becensinmg der Schellings( lien
Schriften bekannt geworden war*^, und einen „gewaltigen Eindruck" von
ihnen (üuptangen hatte, wissen wir aus seinen eigenen Mittlieilungen
(Kl. Sehr. 1. S. XXXII), und sind somit durchaus berechtigt, ihren Ein-
fluss in jenen An&tellungen fiber das absolute Sein wirksam zu sehen.
Sonst m&isten wir dieselben schon aus immanenter Entwicklung Hw-
bart's — und das würde liier soviel heissen als gar nicht — erklären.
Dagegen haben wir wohl in den üemerkungt'n über begründen
und Folgern, mit denen Herbart der Forderung Eines Princips ent-
gegentritt, und in den sich ansehliesBenden Ansichten über Causalität
ein Product seines eigenen logischen Scharfl)licks und seines Strebens
nach exacter Auffassung des Thatsächlichen anzuerkennen. Die sorg-
fältige Genauigkeit, mit der er sich hier an den Daten der Logik und
der Specialwissenschaft orientirt, ist characteristiscli gegenüber den Ge-
dankensprüngen, durch welche sich andere Philosophen mit so gntem
Anschein auf den Standpunct des Einen Princips versetzt hatten, und
bildet einen wesentlichen Zug der Herbartischen Speculation, der auch in
der Genesis derselben wirksam henortritt
Mit den Aufttellnngen über Piincip und Motiiode der Philosophie,
mit dem Streben nach einer realistischen Weltauffassung hatte Herbart
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IIL Erzieberwirksamkeit.
1»
den Eingang zn einem neuen metaphysischen System geftinden, — ein«n
Eingang so eigenartig, dass er von den historisch gegebenen, und den
zeitgenössisclifii Systtnivii üln'r <l»'n wfitfrt'n Fortschritt k;inni we.^jont-
liche AiifkläruniT <'rw;irt»'n durfte „Kr war ymh miii Itfim-rkt Harten-
tstein (ebd. S. XXIX; zutreffend, „lediglich auf sich selbst zurückgewiesen;
4er Conseqnenz des eigenen Denkens mnsste er flberlassen, was sich ihm
irgend als philosophische Wahrheit darstellen sollte. Er musste selbst
ZVL entdecken, sich seine eigene Bahn zn brechen suchen," Um so
schwerer lastete das gestellte Prnbleni auf ihm, das zur Lösung trieb,
deren Möglichkeit gleichwohl noch gar nicht abzusehen war. „Ich bin
sehr emsthaft geworden**, schreibt er am 28. Mftn 1797, „nnd ich suche
umsonst nach einer Anssicht, wohin ich meinen Blick zuversichtlich
wenden konnte. Ich bin mir selbst zuvorgeeilt*' (liel. S. 49). Ktwas
später entwirft er ft>li;endt' S( hilderung seines Zustandes: „in Jena war
ich in der letzten Zeit zu trage oder zu dumm, meine Wissenschaftslelire
förmlich und oidentlich fortsoföhren, zu stolz, nm andere Beschftftignngen
an ihre Stelle zu setzen, zu ann an Mannigfaltigkeit der äusseren Ver-
hältnisse, um im Leben das Bedürfnis^ eines sichern, ^ranz geprüften,
aller Wege kundigen Führers — so etwas soll doch wohl ein philo-
sophisches System sein, — tief genug zn ffiblen** (ebd. 8. 50).
In solcher Lage, mnsste ihm der Antrag, die Erzieherstelle in dem
"behäbigen Berner Pntricierhause des Laiiilvogts v. Steiger zu übernehmen,
wiUköTnmen '^e■\T\. \w 25. ^lärz 17i^t7 reiste er von Jena nach der '
Schweu. a\). in dtv That sollte der Wechsel in der äusseren i>ebens-
steünng anch Ifftr seine philosophische Entwicklung von Bedentnng werden,
80 dass auch diese von hier an in ein nenes Stodinm tritt
III. Erzieherwirksamkeit.
IHe iMsyeliologische Ricbtaiig* Auflösung des Ich-Problems
' und Gmndlesrnng der Psychologie.
Der wohlthätige Einfluss, den der nene Lebenskreis anf Herbart
ausübte, gibt sich gleich in dem ersten Brief, den wir aus drr Zeit
seines Sdiw-'i/'T Aufi-nthalts besitzen, zu erkennen. Kine Arbeit, die
sein „ganzes Wollen unifasst, es zugleich in Portionen theilt und diese
au die Zalil der Glockenschläge bestimmt und fest anheftet" (BeL S. 50)
erhält seine Geisteskraft in frischer Spannung und schfirft den Blick für
die Am^ptben und Anforderungen der Wirklichkeit. Gleichzeitig fesselt
ihn eine reiche Uniirebung. vnn der er rühmen kann, dass man „mehr
Fülle von Xaturgrusse und Naturschonheit, mehr Anstrengung und Thätig-
yLoii der Menschen'' wohl nicht leicht finde (ebd. S. 51). Gewiss ist die
Kräftigung, welche Herbiurt's Sinn fär das Thatsächliche aus solchen
Einwirkungen erfahren musste, auch för seine philosophischen üebei^
Zeugungen belangi-eich geworden.
Doch der Einiiuss der neuen Lebensstellung auf seinen Entwicklungs-
gang reicht ml weiter. Der Tendens Herbart's zur Abschliessung, zur
Isolimng in seinem Denken musste sie den wirksamsten Vorschub leisten.
Im frisdi pulsirenden Strom des Universitätslebens war eine Beeinflussung
2*
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£utwicklimg8gescb. d. Herbartischen Metaph.
dinpch firemde Ansichten leichter möglich gewesen und der Student
imulit*' sich eher ihm h als Schüler ffir dieselben empfiinglich fühlen, ala
der in selbstündip r iierufsübiing stehende Er/ieher. Herbart war auch
ganz der Mann dazu, in einem Alter, wo Andere noch auf vorwi*'j,'('nd
receptive Thätigkeit angewiesen sind, mit dieseui Streben nach Selb-
stflndigkeit vollen Emst zu machen. Dies heknndet auf das Deutlichste
die durchaus t igcnartige Weise, wie er auf Gnnid selbständiger üeber-
legungeii »las Kr/.i<'hungsgescli;ift in Angriff ninniit. Die interessanten
]{elege liierfür sind uns erhalten in den Mittheilungen an Herrn v. St^iiger
(XI. 1 ff.). Es liudet sich in denselben die Lehre vom («ziehenden Unter-
richt, welcher Herbart seine hohe reformatorische Bedentong für die
Pädagoge verdankt, in einer Beihe grundlegender Ideen vorbereitet, die
mir in weit höherem Masse als die gleichzeitigen philosophischen Ver-
suche ein glänzendes Zeugniss abzulegen scheinen für Herbart's so früh
hervortretende Beföliigiuig, das Wirkliche mit ümsicht vnd Scharfblick
anfimfassen und in einem klaren, wohlgeordneten Denken zu verarbeiten*
liier handelte es sich nicht bloss um Fortbildung überkonnneiier Oe-
danken, sondern es galt, durch eigene Beobachtung und Ketlexion die
jieuen Wege zu bahnen, die weitab von der „alten gewOhnliclien Heer-
fitrasse** nnd ihren „ansge&hrenen Gleisen** (S. 81) führten.
Vor allen Dingen sehen wir Herbart bemüht, ülier den Geisteszustand
seiner Zöglinge in's Klare zu kommen, und mit feinem psychologischen
Blick dringt er in die Individualität des Einzelnen ein, wonacli dann
Untenüchtsfächer und Methode für Jeden anders gewählt werden. Was
ihnen zweckmilssig, was nachtheilig sei, „sncht er, um nicht anf ihre
Kostt ii zu lernen, durch seine Berechnimgen voransznsehen** (ebd. S. 3'.\).
Als leitenden (Jedaiiken seiner Bemühnngen spricht er aus: „ Der Zweck
der Erziehung ist, die Kinder dem Spiele des Zufalls zu entreissen. Der
Erziehung gibt also die Zuverlässigkeit ilires Plans ihren Werth, immer
mnss sie ihren Erfolg, wo ni<^t mit Gewissheit, doch mit hoher Wahr-
scheinlichkeit vorhersehen; gibt sie sich ohne die äusserste Notli blossen
Möglichkeiten preis, so hört sie auf Erziehung zu sein." Vm\ bei solch*
allgemeinen Ueberlegungen hatte er es nicht bewenden lassen. „Ich
hatte^ föhrt er fort, „einen Plan entworfen, den ich fOr so sicher als
möglich hielt, und der, wenn er zwei Jahre auf's strengste beobachtet
wurde, eine dauerhafte Wirkung versprach.*' (S. 27),
Für solche Bestrebungen und Anschauungen bot nun freilich der
Idealismus Ficlite's ganz und gar keinen Platz"), und immer mehr mussto
Herbart znr nnerschütterlichen üeberzeugung gelangen, dass es nofh-
wendig sei, aus den Vorstellungsweisen desselben vOllig herauszutreten.
An Stelle der Freiheitslehre, die dort das Werk der Pliilosophie krönen
sollte, niusste er, seinen Krfaliruni^en und Tendenzen gemäss, einen
Determinismus setzen, der durch causalen Zusammenhang und strenge
Gesetzmftssigkeit des psychischen Geschehens auch eine planmAssige Ein-
wirkung auf dieses gestettete. Nur galt es, dieser Gesetzmässigkeit auch
auf die Spur zu kommen, um sie für die Zwecke der Erziehnntr verwenden
zu können. Wir dürfen wohl annehmen, dass in Verfolgung dieses Weges,
unter unmittelbarer Anlehnung au die Daten der Erfahrung, Herbart einen
guten Theil der pqrchologischen üebariegangen gewann, dnrch welche er
für Deutschland der Begründer einer wissenschaftlichen Psychologie ge-
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m. £rzieherwirk8amkeit.
21
worden ist Gh'iclizcitig war ihm aber der Eingang in die Psychologie
auch von Seiten des allgemeinen philosophischen Problems, das er sich
gestellt hatte» zubereitet und es war gewiss vnn Belang für die Förderung
seiner philosopliisehen licstreljun^'en und der«'ii besondere (;estaltun|£3r.
dass die Anlorderunsjren «ler iiractischcii Wirksamkeit und die Antriebe
der Speculatiou auf ein und denselben i'unct der Untersuchung hin-
fShrten.
Das specnlatiTe Interesse freilich an den höchsten Fragen der Philo-
sophie nahm, weim « s auch seine überm ächti^'e HeiTscliaft vor den prac-
tischen AulVaben »;twus hatte beschränken müssen, immer n«»ch die cen-
trale Stellung im Gedankenkreise Herbart's ein. „Weder vor der grossen
Natnr'S schreibt er am 38. Jan. 1798 (Rel. 8. 56), noch Tor der Arbeit,
die ich hier gefunden habe, kann in mir das Bedürfniss derjenigen
Phib">snphie verstiniinien, die ich suchte, und zu der ich den Kintrang
gefunden zu haben ^-laube." Von dem Anblick des Schönen und Erha-
benen in der Natur, von der Pflicht, mit Lohre und Empfindung in
die Tiefe menschlicher Herzen einzudringen, f&hlt er sich „gewaltiger
hingerissen gegen die unbekannte Einheit ausser mir, die alles das zu-
sammenhält und belebt, und die unbekannte in mir und ;in<b'ren, di<' es
im Bilde zusammentasst und dem Bilde selbst Sinn und Bedeutung gibt^'
Die Idee der Wissenschafflehre drängt sich ihm allenthalben wieder auf,
und Ficlite's bisherige Ausführungen scheinen ihm nur durch den Con-
trast das Ideal zu erheben. Aber die Aus^^estaltun^,'- desselben nach
seinem eigenen Bedürfniss wird ihm auch jetzt noch keiM« sw< i,'s leiclit.
In einem einzigen Brief begegnen wir der gehobenen Stimmung äusserst
angestrengten, jedoch auch gelingenden Schaffens (Ende Febr. 1798. BeL
8. 49), und noch am 4. S«'pt. 1799 kann er von dem Nachmittag, an
dem »-r denselben seluifb. spreeln-n als von dem ..einzig hellen Stern", der
ihm aus der weiten öden Finsterniss jener Zeit*" glänze (ebd. S. 91).
Es raube ihm oft Ein Gedanke, äussert er im Sommer 1798 in einem
Bericht an H. v. Steiger^*), das Bewosstsein aller seiner anderen Ver-
hältnisse, „leider mehr durch das Streben ihn zu ergründen, als durch
seine Lebhaftigkeit'' (XI, 37), um im Herbst darauf zu erklfireTi. er irlaube
zwar die grössten Schwierigkeiten der vor iiim liegenden Arlieiteii über-
wunden zu haben, müsse aber durch dieselben ganz durchdringen, um
zur völligen Snhe und Be^nnng zu kommen (XL 37). Dass er die
Empfindung heiterer Seelenruhe, den ungetrübten Beiz des Denkens „in
den b'taten beiden Jahren oft gesucht und vennisst" habe, klagt er im
Brief an Muhrbeck vom 28. October 1798 (Ungedr. Br. S 8), der über-
haupt fir die Eenntniss seines inneren Lebens eines der interessantesten
Zeugnisse bildet. Gleichwohl ist er um diese Zeit in seinen philoso-
phischen Arbeiten bereits soweit gediehen, dass sich mehr und mehr der
Gedanke an eine philosophische Berufswirksamkeit bei ihm festsetzt. In
einem Brief an seine Eltern vom letzten Juni 1798 verbreitet er sich aus-
führlich Aber seine Lebensplftne: „Mein jetziger Beichthnm besteht in eini-
gen Ueberzeugungcn, die den Keim vieler folgenden zu enthalten scheinen.
Jetxt erhebt mich eine innere Gewissheit über die Systeme unserer Zeit,
das Fichte'srhe so wenig, als das Kant'sehe ausgenoinmen; sollte ich
auch irren, so halte ich es doch für ein grosses Glück, ohne Eührer und
ohne rorchi ein eigenes Feld dnichwandem m können, das sich bei
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£ntwicklaiig8gesch. d. Herbartischen Jttetapli.
jedem Schritt zu erweitem scheint" (ßel. S. 63). „Eine Versorgung glaube-
idi in einer philosophisdien ProfeBsnr zu finden. Flehte's wiederholte
Zeugnisse und wohl mehr noch die Proben, dio irli mir selbst abgelegt
h;ib*', sdieiTK'ii iin<'h zn versicheni, dass, wenn mir irgend etwas gelingen
kunne, es die Specuhitiun sei. Befriedigen mit dem, was unsere berühmten
Uftnner geleistet haben, kann ich mich nnmöglich; selbst die Bichtangen,
die sie nehmen, < mtVnien sich weit von dem Wege, der ziemlich bestimmt
vorgezeichnet, als (b-rjcnige vor mir daliegt, auf dem man sich znnädist
versuchen sollte" (ebd. S.
Nähern Aufschluss über diese Richtung und Herbart's Fortschritt in
deroelben gibt ein An&atz, der, unter dem Titel nErster problematischer
Entwurf der Wissenschaft,** Ende August 1798 in dem Badeorte Engisstein
bei Bern niedergeschrieben, sammt den kurze Zeit darauf hinzu gekomm^non
Anmerkungen (XII. 38 flF. vgl. Vorr. S. XI.) für die Entwicklungsgeschichte
der Herbartischen Methaphysik ein sehr werthvolles Belegstack bildet.
Wahrend sich einerseits der Zusammenhang mit Fichte auf das Kenntlichste
verfolgen läsßt, sind pidererseits eigwithfimliche Gedankengänge der Her-
bartischen Philosophie bereits zu vollständiger Ausprägung gelangt. Letz-
teres zeigt am besten ein Vergleich mit §§. 24 ff. der „Psychologie als
Wissenschaft^ (V. 267 ff.), wo ganz in derselben Weise, wie in jenem ersten
Entwarf, das widerspruchsv olle Ich entwickelt und die Auflösung der Wider-
sprüche vorbereitet ^\ircl. Auf die Beziehungen zu Fichte wird noch näher
einzugehen sein, zuvor aber haben wir den wesentlichen Inhalt des Entwurfes
selbst darzulegen.
Es ist bezeichnend f&r die strenge Contmnität in dw EntwicUung^
Herbart's, dass der Faden der Untersirohnng genau da aufgenommen wird^
wo ihn die Kritik der Schellin»-'schen Schriften hatte liegen lassen. Der
Widcrsprncli im Ich, der dort schon als Ausgangspunkt der Philosophie
aufgestellt wurde (s. oben S. 17), der Begriff des sich selbst Setzens,
sich selbst Yorstellens, und der onendUdieGirkel, zu dem dieser Begriff*
ffthrt, soll denkbar gemacht werden.
Das^s alle sonstigen Bestimmun tr^'U dem Ich-Bi-griff zufällig sind und
die Definition desselben als des „Sich-Selbst-Vorstellens'* die allein adäquate-
ist, wird besonders deutlich in der ersten Anmerkung (XII. 4ö f.) auf Grund
einer Analyse .des erMnmgsmissig Gegebenen entwickelt Damit wird
nun allerdings der Begriff Ich „einer der höchsten Allgemeinbegriffe , unter
dem unzählige Wesen subsumirt werden können" und Herbart gibt auch so-
fort an, wie derselbe gewonnen sein mag: „Durch eine Abstraction ist
der Begriff des Denkens zu Stande gekommen (welche den innem und nicht
durch die gegenwärtigen Empfindungen Teraidissten Oedankenweduel be-
zeichnet); mit ihm durch Identität des Seins verbunden war ein Wollen,
Empfinden, ein Leib ii. s. w., welches zusammen, sofern das Donknii ihm an-
gehört, das Denkende ausmacht; durch Subsumtion des Denkenden unter
das Denken entsteht das Sich -Denken oder das Ich" (S. 49). Das so ge-
wonnene Ich wächst auf doppelte Weise in's Unendliche: einerseits indem
das Denken desselben wieder einem neuen D» nkt n subsumirt werden kann,
andorerseits indem die neu ^nvorbenen A'orstt^llungen ihm (gleichsam nach
der Breite) immer weitere Bestimmungen hinzufügen. „Alles dies Wachsen'^
meint aber Herbart, „scheint der Wissenschaftslehre im strengen Sinn nicht
SDzngehOren. Unser jetziges Ftoblem ist gelöst» da, wo das Denkende unter
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m. Emeherwirksamkeit. 23
das Denken subsuinirt wird" (S. 50). Diese B<.'nierkuiigen — besonders die
loteten Worte — zci^n u auf das Bestimmteste, dass Herbart Mar einsieht,
um welche Frage es sich bei Aiiflösiing- seines Ich-Problems handelt: nära-
licli um eine psychologisch«' Erklänniir diT Thntsriche des Selbst-
b ewnsstseins. Als Kfsiiltat d«>r Uiit^-rsuchnuir ..fiiidi-r sich nachher, dass
dieses letzte Object der Vorstellung Icli di«- zusammenbleibende Masse der
Erinnerungen, Bestrebungen nnd GefQhle (nebst dem Leibe) also die Materie
des (»edaiAenwechsels ist" (S. 51). Di>^si- ^[.issf ist nif in LrN'ichfr»rmiger
Intension 2:t',2'enw;irtiir,.ab('r durohg-jn^nir vorkiiiiiift nnd d.'r Wt-chsel des-
selben bildet dasjeniü:»', was in d«-m vori,'t'stidlt"Mi Mich i iitlialffn ist.
Nachdem wir uns so durch H»*rbart selbst den Plan der Untersuchung
haben anzeigen lassen, wird es nicht schwer halten, dem Gedankeng-ang
seines Entwurfes zu folgen.
„Der Begriff Ich setzt etwa? Anderes voraus, woiiiit jon«' Thätii^k<'it
(des YorstellfMis, Setzens) vereinigt, sei. ahn- in dt-r V^-ndnigung selbst
nin.ss es doch noch als Nicht-Ich von ihm unterschieden werden; soll er
von dem bestimmten mit ihm verbundenen Anderen unterschieden werden
nnd äocJi iinvh Sinn behalten, so wird er insofern mit einem neuen Anderen
voroiniirt i^-fdaclit. Er stützt sieh also auf ein niann'igf\ilf}tjef< Nicht-Ieh;
jedes einzelne Kestimmtc wird ihm zufällig durch die übrigen (ich setze
mancherlei Gefühle und Vorstellungen, von denen jede durch die übrigen
ersetzt werden k()nnte) (S. 38 f.) Hiemit ist der CHrondgedanke, der zum
♦^•nvünschten Ziele fuhrt, die wechselseitige Ausschliessung eines
mannigfaltigen Vorstellungsinhalts. ausgesi)nH;h''n, und es handelt
sich nun nur dannu, für denselben eine methodische Ableitung aus dem
Process der Vorstellnngsbildung zu finden.
Bei diesem Unternehmen folgt Herbart unverkennbar dem Vorgang
der Wissenschaft6'Iehre. Das zeigen gleich die (dnzelnen Stufen, welche
er im Process der Vorstellungsbildung unterscheidet: .,1.) Mehrere
Vereinigungen der Kellexion mit mehreren Anderen; 2.) das Setzen dieser
Vereinigungen; 3.) das Gleichsetzen jenes Setzens oder jener Bellexion
mit dem Einen Vereinigten." (S. 39.) Die Anmerkung auf S. 52 bezeichnet
doij li't/.t« !! l'nnct klarer als „Setzen des Eni]>rind.'ns.'' Es scheint liie-
bei unnüttcdbar die von Fichte in der „Deduction der VorstelUing" (S. W.
I. S. 227 ft". vgl. S 234 und im „Grundriss des Eigenthü)ulicheu dt?r
Wissenschaftslehre'* §. 3. S. 335 fl> entwickelte Stnfi'nfolge vorbildlich
gewesen zu sein. Die nähere Au^^mng dieser Punetr lirkund.'t dann
freilich (»ine eigenai-tige. von Fichte wesentlich abweicli'-iidi' Autlassnng.
Dass in der ..Vereinigung mit iiitlui'ren Anderen" diese Anden-ii aucJi
blosse Vorstellungen sein könnten, weist Herbart ausdrücklich zurück.
„Die besonderen Bestimmungen derselben wären doch dem Ich fremdartig
nnd dieses Andere soll eben durch dir reini^ning erst in dasselbe ge-
l^racht werden.*' liemerkenswerth ist di«' Peifüginig: ,,l)ocli über den
Idealismus s. die Widerleginig Schellings." Und auch das Vereinigen
mit den Anderen darf nicht irgendwie als ein selbständiger Act der
Ichhoit aufgefiisst werden; es ist „nicht das Setzen selbst. Fdr sich
selbst ist es gar Nichts; nur insofeni es jedem Einzelnen zufällig gesetzt
worden kann, mag man es Tendenz zur Vi-ndnitninir nennen. (Eine
Thätigkeit, die ohne das Andere wirklich etwas thun würde — sinnloser
QedankeO" Immerhin mag man Jene Tendenz zur Vereinigung als „eine
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EntwidclungsgeMh. d. Heibartitohen Hetaph.
gleichartige Tkätigkeit" anschon, ..dr-r abor weil sio ein meJircres Thun
in sich fasst Intensität zuGfeschiielM'n werden muss. wenn man das ein
Thun nennen darf^ was eben so gut Leiden heissen konnte, da es Nichts
ansdrflckt, als die MögUehkeit im Ich, mit einem mannigfaltigen Nicht-Ich
verbunden zu sein" (ö. 39 f.) Hier ist nun, das sehen wir entschieden,
mit dem selbständigen realen Ificht-Ich gegenäber dem Ich voller Emst
gemacht.
Aus den so gewonnenen gmndlegendeu liestimmungen ergei)en sich
zunächst folgende Conseqnenzen: „Das Ich ist nnr Eine Thätigkoit; Ein
Thätiges thut auch nur Eins; die mehreren Vorstellungen sind Ein Ge-
setztes. Dfnnocli soll die Bi'stitmiitheit derselben sich kcineswoi^s ver-
wirren." So denken wir das „Icli 'zugleich als Eins und als Mchreres.
Vielheit in Einheit ist Grösse. Abstrahiren wir vom Mannigialtigen, vom
Stoff, so wird die OrSsse leere Form, Das Mannigfaltige hat darin Gon-
tinuität; ist nicht iv rinander, aber an einander" (S. tO), Hier tritt nun
die Schwierigkeit «'in. „dass der "Regi-iff Ich die Identität mit dem
Anderen zugleich fordert und ausschliesst."' (S.52.) Die einzelnen Ge-
fühlten müssen dem Ich zufällig, d. h. „verbunden und auch nicht ver-
bunden gesetzt werden. Bisher haben wir nnr die Verbindung ange-
nommen; „soll das Ich die Nicht- Verbindung Kmmdichteti? — durch
eigenen Zwang sich nothwendig machen?" Da wäre die zwinirf Tid«'
Kraft Nicht-Ich; das Ich würde des aufgezwungenen „Truges mnc und
horte au^ Sich zu setzen, folglich ein Ich m sein, folglich überhaupt zu
sein." Soll Verbindung und Nicht-Verbindung stattfinden, so muss die
eine aufhören, di»' andere folgen; — das Ich also dauern. „Die ver-
einigte Tt iidMiz geht aus einer Vereinigung nhvv in die andere." (S. 41.)
Aber damit nicht die Iteflexion das vorhergehende Gefühl mit und neben
dem folgenden, sondern jenes' in dieses hergegangen setze: so müssen
beide v(tn d< r Art sein, dass sie zu einander auf dem "Wege einer ihnen
gemeinschaftlicli» 11 Conthmitat übergehen können. (Oontinuität der Farben,
Figuren; der Tonlinie u. s. w.) Das Characteristische solcher Gefühle,
die in einer Oontinuität liegen, ist, dass sie einander ausschliessen.
Das üebergehen bezeichnet ein solches AuBeehliesem. Das fortdauernde
Setzen also bestellt nicht neben dem neuen Setzen, und da dieses die
Notliwendigkeit der sinnlichen Gegenwart mit sich führt, so findet jene
.set/.eiide Thätigkeit Widerstand, wird also ein Streben; und ein Streben
der Eeflexion ist ein Wollen im allgemeinsten Sinne des Worts. Die
Intension des Wollens richtet sich« nach der Stärke des vorher-
gegangenen wirklichen Setzens im Verhältniss /.iim gegenwärtigen" (S. 42).
Denn das Vorliergehende — wie die Note auf tlei folgenden S. bemerkt —
„ist nicht aufgehoben, nur verringert, es hat verloren, ohne Zweifel nicht
an Extension/ denn die hatte es nicht, also an Intension," und die An-
merkung auf S. 57 führt näher aus: ^as erste wirkliche Setzen wird
nur theilweise in ein Streben verwandelt Aus einem starken Setzen
Jffinn ein starkes Streben werden, weil viel zu hemmen da ist. Ist aber
das Hemmende nicht stark genug, so wird das Streben auch nicht stark,
aber die wirkliehe Vorstellung bleibt so viel lebhafter.*"
Wir erkennen in iliesen Aufteilungen deutlich die Grundlagen der
• Herbai-tischen Psychologie, die wechselseitige Hemmung der Vor-
stellungen nach Massgabe ihrer Intensität und des disjuncten
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in. Erzieherwirksaiukeit.
;35
Gegensatzes. Wie sie jeden&IIs mit unter dem Einflnss empirisclier
Dutrn zn Stande gekommen sind, so wiid auch hi<'r fortwfllinu 1 ^\"
Contn»!'' am (^rfahrangsmäPfsiinf (Jt'i^thfnoii versncht, und namentlich iWn
PhänniiiriK u d«'S Wullens und seiner lit lVit tlignns" Rücksicht geschenkt.
Die Ansätze quantitativer Betrachtung aber, die der Ent\\iirf schon un-
Terkennbar enihfllt — über die Jntension im Wollen" und die exacte
GriVssenbestimmang derselben verbreitet sich die Bemerkung auf S. 55 f.
naher — ^^nrd(•l1 nach Hartenstein's Bericht (Kl. S( lir. I, S. L. IV) von
Herhart noch während des Schweizer Aufenllialt« zu den ersten mathe-
matisch-psychologischen Bechnungen fortgebildet*'), wie wir ihn
denn um diese Zeit besonders eifrig über mathematischen Stadien finden.
Der letzte Sdnitt des Entwurfs, den wir hier nodi zu verfolgen haben,
hesteht in der Erklärung, wit^ die Bildung ahstriicter Begriffe über-
haupt, dann im Besonderen die des Ich- Begriffs zu Staude komme.
Werfen viele gleichartige A von einem ihnen gemeinsam entgegenge-
setzten B ausgeschlossen, so muss diese Handlung des Ausschlicssens
eine viel grössere Intension bekommen, als das Hin/.nsct/fn der besonderen
Bestimmungen jedes A. Wird dieses Hinzusetzen „nur unendlich schwach,
so lieisst ein solches Gesetztes ein allgemviner Begriff, unter dem in
jedem wirklichen Falle, wo die Bestimmungen durchs Gefühl also fSx
diesmal stark genug sich atifdringen, sulsuinh-t, gein-theilt wird. (Wenn
man sich besinnt, so findet man, dass bei jedem allgemeinen Begriff" ein
dunkles Setzell jener Bi'stimmungeii wirklicli stattfiinle)" (S. 4(5). Eine
kurze Ausführung zeigt noch, wie das Äachdcuki ii, als eine besondere Art
des mannig<igen Gedankenwechsels zu Stande kommt: es ist das mit
den allgemeinen Begriffen verbundene Aufstreben deijenigen besonderen
Bestimmungen, welche jenen Haltbarkeit geben und unter sie subsumirt
werden. Und nun der allgemeine Begriff der rersönlichkeit, des Ich:
„Die Masse der Bestiebungen, Erinnerungen und gegenwärtigen Gefühle
ist, — wenn gleich in abwechselnden Intensionen, immer beisammen;
was immer mit ihr vereinigt bleibt (der Leib), wird mit ihr als Eins an-
gesehen; das Uebrige, bald verbunden, bald niclit verbunden, wird ihr zu-
fällig gesetzt. Als Eins verdient sie auch einen eigenen Namen; — sie
heisse Peter. Diesem Feter worden die besonderen Bestimmungen, durch
die er sich hindurchträgt, zuföllig gesetzt; sind diese Bestimmungen unter
allgemeine Begriffe gefosst, so wird er unter dieselben subsumirt. Da
heisst es bald: Peter will, Viald: l'eter denkt. Woran denkt er: Das
muss unter das Denken subsuuiirt werden. Antwort: Beter denkt au
Feter. Und im nächsten Augenblick, wofem nur die Frage vorherging:
woran denkt Peter jetzt? — Peter denkt, dass er an Peter denkt Hier
haben wir das Lh" (S. 47).
So wäre denn das Ich denkbar gemacht, das ProT)lem der Wissens-
lelire gelöst. Die erste Frage, die uns hiebei dem Zwecke vorliegender
Untersuchung gemäss zu beschfiftigen hat, ist die nach Ursprung und
Genesis der neu auftretenden Yoistellungsweisen, welche die Lösung
bewerkstelligen.
Auf den engen Zusammenhang mit Fichte hat schon Hartenstein
hinge\s'ieseu, wenn er (Vonv. S. XI. zu Bd. XU der S. W.) über den Ent-
wurf bemerkt: „Die Grundbegriffe der Psychologie sind hier in ihren
Anfängen wohl zu erkennen, aber sie schimmern durch die trüben und
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26 Entwicklungsgesch. d. Herbartischen JüLetaph.
unklaren Elemente, die ihm (Herbart) von Fichte's Schule her noch an-
hängen, grleichsam nur hindurch, nnd selbst das Yerständniss dieser ohner
dies hüchst abstract irohaltciipn Aufzeichnuniyren ist boinahe iinmog'lich,
wenn man sieh nieht sehr ir»'nan in die Vnrstelhingrsweisen dos Fichti'-
schen Idealismus in seiner ersten Gestalt zurückversetzt." Allein es scheint
ftst, als wolle Hartenstein damit nur die trübenden AnhSngsel anf die
Schule Pichte'ö znrnckfähren, während ilir. wie Icli lürlaube. ein guter Theil
des wesentlichen Ai)i>arati's entstammt, den Ht-rbart zur Verwendung
bringt. Schon die alltromeine Fassung der Aufgabe, von den niedrig-
sten Bewusstseinsformeu zur höchsten des Selbstbewusstseins emporzu-
steigen, findet sich in der Wissenschaftslehre — wenn anch nicht in
den ersten Schritten des Systems (s. S. 9 oben) — TOigebildet.
Von der Setzung auf don untrrsti ii 1\< tb-xinnspuncten geht „dio Deduc-
tion d.T Vorstellung" (Fichte's S. W. 1. S. 227 ff. vgl. S. 217, 833) aus,
durch immer höhere Setzungen hindurch, um schliesslich den höchsten
Beflerionspnnct des Selbsthewosstseins zn erreichen. Ansdrficldich be-
kennt Herbart nach Ah&ssnng des Entwurfes: „Mir hat Fichte's Methode
die Tde»' der meiniiren cetrebf.n. nnd aus dieser Idee aJh-i» hat sicli, so
viel ich mir wenigstens bewusst werden konnte — das System entsponnen,
in das wir uns jetzt den Eingang bereiten" (Bei. S. 245). Wir wollen
unseren Vergleich nicht bei Snsseren Aehnlichkeiten aufhalten und darauf
etwa Werth legen, dass die vielgebrauchten tennini der Wissenschaftslehre
wie Thätigkeit, Setzen, Kefiexion u. s. w. bei Herbart wiederkehren: es
bleiben tiefer gehende sachliche Beziehungen. Dass die Vereinigung des
Ich mit den Anderen, das Setzen dieser Vereinigungen u. s. w. nur
Copieen Fichte'scher Lehren sind — gleichsam in's Realistische über-
setzt, wurde bereits angedeutet. Auch muss Herbart, trotz allen Straubens,
eine Thätigkeit im Ich l>eibehalten (um auch späterhin nie davtni loszu-
kommen) und selbst die Verclausulirung, mit der er sie einfühlt, dass
sie ebenso wohl ein Leiden genannt weiden ki^nne, gibt nur einen von
Fichte in seinem Wechsel-Thun und Leiden'* (S. W. 1. S. 150 u. ö.)
vielfach verwendeten Gedanken wieder. Berücksichtigen wir. dass Fichte
gelegentlich sogar dem Xicht-Ich eine „unabhängige Thätigkeit'* beilegt
(ebd. S. 149), dass überhaupt der ganze theoretische Theil der Wisscn-
schaitelehre zu keiner 70lligen Unterwerfung des Nicht-Ich führt, sondern
dieses seine Macht, auf das Ich zu wirken, behält, so scheint die Uebor-
leitung zu den Ausführungen Herbart's hinreichend nahe gelegt. Ja dio
Wissenschaftslehre führt durchweg zu einer Anschauung v«>m Ich als
einem continnirlichen Quantum, dessen angrenzende Thcile einajidor
wechselseitig bestimmen, einschränken, ausschliessen — es wird gdegent-
lich auch von Graden der Wirksamkeit der Thätigkeit gesprochen (ebd.
S. 14fi) — und Herbart brauchte nur das, was dort durcli eine stetigo
Action vom Centrum aus erzeugt wird, zu stabilisireu und dauernd den
einseinen Theilen anhaften zu lassen, um sein Idi mit den in continnis
geordneten Zuständen, die einander bestimmen, ausschliessen, wobei sich
die wechselseitige Einwirkung nach festen Massen gradweise abstuft» zu
erhalten.
Allein neben dieser augenscheinlichen Abhängigkeit von Fichte tritt
das Eigenartige in Herbart's Leistung Mnrelchend kenntlich hervor,
um ihm das Yerdienst origineller psychologischer Sch^pfting ungeschmfllert
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m. SrddierwirkMinkeit .
27
zu lassen. Er kann mit den Vorstelluiigsweisen der Wissenschaftslehre
erst für seine Zwecke fruchtbar operiren, nachdem er ihnen eine wesent-
lich neue Fassung und Fmnnmg gegeben hat Die Grundanschannng
p:ewiiint, wi»» wir bereits sahen, eine völlig veränderte Gestalt dadurch,
dass das Icli keine nrsprfniglicho freie Thätiirkeit behält, sondern sich
zur Vereinigung mit einem real von ihm Crctreunten geuöUiigt sieht.
Fkilte häuft Acttonen über Actionen, um scUiesBÜcli dnrcli ein absolutes
Abstractionsvermögon, das in der FShigkeit besteht, von allem Object
überhaupt zu abstn.hiren (ebd. 248). das reine S(in)stbewnsstsein zu
gewinnen. (Jegen solches Verfahren kehrt ll<'vbart <'ine scharfe Kritik.
Er erinnert, „dass eine Aufeinanderhäutung unendlich vieler absoluter
R^exionen nicht ntnr eine ganz willküriiche Hypothese sein, sondern
anch unsere Uebeiaeugung vt»n der Einheit uns<'res Wesens Lügen strafen
■würde, weil es uns selbst als Aggretrrit rlif n so vieler Gnindkrflfte dar-
stellte" (S. "\V. XII. S. ö.'{) und m Ficlite's ..Abstractionsvennogen" be-
merkt er: ..Dieser qualitas occuHa konnte man erstlich vorhalten, dass sie
eine T5llig willkürliche HypothesOf ein blosses Rahekissen des tr^n
Nachdenkens sei; ^;i-■ aber zn widerlegen, bleild wohl Nichts, als die
dadurch verletzte Einheit unseres Wissens, die Identität des Iclr' (S. 55).
Die beiden Hanptarguniente, mit denen Herbart's Psychologie den ver-
nichtenden Kampf gegen die Seelenvermogen führt, sind hierin ausge-
sprochen, nnd wie eine solche Polemik in Herbart's IndividnalitSt be-
gründet war, wird begreiflich, wenn wir uns erinnern, dass der gemeinsame
Gmndzug allt r Vomiri^enstheorien darin besteht, aus leeren Alliremein-
heiten, Abstractionen ihr System aufzubauen. Diesen Standpunct hatte
die Wissenschaftelehre mit einer Schärfe znm Ansdmck gebracht, die
sehr geeignet war, einen Geist wie Herbart znr Opposition m drängen.
,,Von dem Endlichen aus" — heisst es dort — ..gibt es keinen Weg in
die Unendlichkeit, wohl aber von der nnbestinnnten und unbestimmbaren
Unendlichkeit, durch das Vermögen des Bestiuunens zur Endlichkeit
Die Wissenschaftslehre mnss diesen Weg nehmen, nnd vom Allgemeinen
zum Besonderen herabsteigen" (Fichte's S. W. I. 333). Dabei fragt sie,
als Wissenschaft, „schlechterdings nicht nach der Erfahrung und nimmt
auf sie schlechthin keine Rücksicht. Sie müsste wahr sein, wenn es
auch gar keine Erfahrung geben könnte" (ebd. S. 334).
Gegenüber solchen Anscbannngen kommt Herbart's Werthschatrang
des durch die Erfahrung Gegebenen, wie wir bereits sahen, zn ent-
schiedenem Ausdruck. Dabei musste ein klarer Blick, der durch das
pädagogische Interesse ]ioeh besonders geschärft war. unvermeidlich auf
die concreten facta des Seeleulebens gelenkt werden, denn die reelle
Wirklichkeit zeigt nnn einmal nichts anderes als die einzelnen Elemente,
weldien die allgemeinen Bestimmungen als blosse Producte unseres
Denkens gegenüberstehen. Gleichzeitig war Herbart durch die Aufiraben
des Unterrichts und durch das eigene Interesse zu eingehender Be-
schäftigung mit Mathematik nnd Naturwissenschaften geführt
worden. Er sncht fOr sein Philosophiren „nach Rästzengen umher, die
schweren Steine zn heben, Analysis des Unendlichen. Combinationslehre,
philosophische Literatur, Erfahrung an Menschen nixl Kindern — wer
weiss was alles'* (Ungedr. Br. S. 9) und seine mathematischen Studien
gf^m Bo weit» dass er sich sogar mit dem Godankm beschtftigt, später
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28 Entwicklungsgesch. d. Herbartischen Metaph.
einmal eine mafhematische Professor m übernehmen (BeL S. 69); „denn
die Matliematik wird mir," fügt er hinzu, „schon wegen ihrer nahen
VorbiiKhiiig mit der Pliilosophie, fast eben so wichtig sein, wie diese
si-lbst."' Vi Die Matliematik liattn »t nnmittolbar in die psychologischen
Untersuciiungen eingeführt, und die Physik und Chemie — deren Wertli-
schätznng sich namentlich in seinen Mittbeilimgen an Herrn Ton Steiger
kund '/iht boten wirksame Vorbilder exact wissenschaftlicher Behand-
lung des Thatsächlielit'ii. Dem Alles verarlM-itend-'U und in i'chi philo-
sophischem Geist durclidrinLM iiden Verstände Herbart's luusste die Be-
stimmüieit und Sicherheit im Aufbaa dieser Wissenschuften besonders
angenfUlig werden , und auch der Grand dieser iTorzüge konnte ihm
nicht verborgen bleiben. Schon über ein Jahrhundert lang hatte sich
das Streben der Physiker, die überlieferten qualitiites occultae sich vom
Halse zu schaffen, auf das Glauzeudiste bewährt; Herburt will sie nun
anch ans der Psychologie yerbannen.
Auf solchen Grundlagen mag der princ i p i e 1 1 e G e g e n satz erwachsen
sein, in welchen Herbart's Behandlung ]»sychologischer Fragen zu Fichte
tritt. Das concret Wirkliche in den Phänomenen des Bewusstseins. die
greifbaren Elemente des Seelenlebens, wie sie die innere Beobachtung
nnmittelbar anfteigt, werden för ihn die Träger der Thätigkeiten, Stre-
bungen. AVechselseitigen Bt stinnnuniren, aus denen bereits die Wissen-
schaftsh'hre den psychischfu ThatlH'.stand herA'nrgehfn liess. Aber die
vagen Allgemeinheiten derselben gewinnen durch diese wesentliche Modi-
fication mit einem Schlage eine fest ausgeprägte Gestalt von greifbarer
Bestimmtheit; sie lasssen sich in concreter Anschanlichkeit fassen nnd
ihre GhpOssenbeziehungen verharren i^cht in den schwanken Umrissen
bloss sym]>r>lisrher Bt-zeichnungsweise, sondern werden in di<" srharfum-
irn nzte, feste Fonn des mathematischen Ausdrucks geschmiedet, der dio
geeignete Handhabe bietet fSr ein Verfahren von höchster wissenschaft-
licher Strenge.
"Wir begegni'n hier einem analogen Verhältniss zur Wissenschafts-
lehre, wie in der vorigen Periode, wo Ht-rbart seine AufstelUmacen über
Princip und Methode der Philosophie gewinnt. Auch dort entnimmt er
alle Anhaltpuncte Fichte, um sie, seiner individuellen Bichtang an*
gemessen, unter streng logische Kriterien und Operationen zu bringen,
statt mit den Tliatliandlung''n der Wissenschaftslehre fortzuschreiten.
Hier sind es die Anlehnung an die Erfahrung und die Anforde-
rungen exacter Wissenschaftlichkeit, die Uin veranlassen, aus
dem vorgefundenen Material einen Ban nach neuem, selbständigem Plane
aufinfOhren, wobei denn freilich gar manches Stück umgeformt, oder
gar vidlig venvorfen und ein neues an seine Stelle gesetzt werden muss,
Di»'Sir doppelseitige Ursjjrung wie der ir<'sammten Metaphysik, so
aucli namentlich der Psychologie Herbart's — einerseits aus rein specu-
lativen Tendenzen, andererseits aus Antrieben der Forschong, welche zum
Geiste jener in directem Gegensatz steht, — hat den doppelseitigen, um
ni( ht zu sagen, zwies]):iltigen Character bedingt, den seine theoretische
Philoso})hie nie verleugnen konnte.
Zwischen den Jenenser Leistungen, und dem, was Herbart in der
Schweiz nen erarbeitete, zeigt sich ein bemerkenswerther Unterschied.
Jene Abhandlungen waren durchaus beherrscht vom formalen Interesse;
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4
III. Erzieherwirkaamkeit. 29
logisclie Gesichtspuncte waren für sie in erskr Keihe in;i.ssg<'beiKl, und
die positiven Anfetellnngen dber Frincip und Methode — die Setsmnsr
dos Widerspruchs und der nothwcndigf Fi i-tsrluitt ilurcli Auflösniij,' d^s-
si'IIm'II - - ii'uul rem luiris( h< r Natur. Anders der v\u-n botrachtoto Kni-
vrarL Ein präcis fonnulirter luirisclur WidcrsimK-h als Ausgangspunct
der Untersuchung fehlt hier gänzlicli; nicht als ob Herbart diesen Ans-
gftngspnnct aus dem Ange verloren hatte, — yielmehr war gerade anf
die strenge Continuitlt hinzuweisen, mit der die neue Leistung den
fi-uheni Aufstelluntrfn sich ans* 1irK-;<t (s. obon S. 24) — alb-in auf jf-ne
formalen Fragen und AuseinanderseUungen geht er im Entwurf niclit
mehr ein. Hätten wir diesen allein, wir würden ihm nicht entnehmen
können, welche Bedürfhisse, welche Ueberlegmigen Herbart ursprünglich
zur UntiTsuchung getrieben hatten. Dass es w<dil an foriiialistischen
Wendungen auch iiier nicht feliltf. dafür hatten die eigene Anlage des
Urhebers und die Sclnih- Fichtes genügend gesorgt, doch aber ist
mit entschiedenem Uebcrge wicht an die Stelle der Form die Sache, an
Stelle der l.tgis<hen Dednction die psychologische Entwicklung
getreten und ym> kommt nirgends mehr m s*>lbststän<lig<'r (i* Itung. Ob
damit aber nicht d^r Consequenz der Entwicklung Eintrag g'-than ist? —
Die streng logische Furinulirung des Problems hätte eine streng logische
Lftsnng verlangt, und es fragt sich, ob der Entwurf diese geleistet hat.
Ist logis( h an den vorgeflindonon Begriffen etwas geändert, ist . in.'
sidclie Aenderung aneli nur versuelit worden? BbdTd niclit d.-r I.li-H.-
gi'iff nadi wie vor d.-r dfs sich s.dbst Vorstellt-ns, nur ilass .'ijii' sachliche
Erörterung der Vorstellungsbildung gezeigt hat, wie dieser Begriff ent-
standen sein mag? War also das mit der AnfUtonng des im Princip
enthaltenen Widerspmchs g.meint. dass man die psychologische Ent-
stehung des Widerspruchs na.hwcisen s.»!!. ? — I»i.' Entwicklungs-
geschichte hat auf eine nälu-re lHscnssi..n di.s. r Fragen nicht einzu-
gehen; dieselben sollten nur die Schwenkung bemerklich machen, welche
sich im Fortschritt des Herbartischen Philosophirens von der formal
logischen Richtung der Jenenser Periode zum material psycholo-
gischen Character der Schweizer Untersuchungen vollzieht.
Auch in anderer Hinsicht noch scheint eine Discrepanz zwischen
der frühem Aufstellung des phibtsophischen Problems und dem nun-
mehrigen LOsangsversuch voixnliegen. Kommt diesem wirklich die weit-
tragende Bedeutung zu, die dort der Discussion des Ich-Begriffs augen-
scheinlich beigemessen wurde? Thatsächlich scheint die gew. ninene Lösung
nur die Erklärung eines einzelnen psychologischen Factums zu
enthalten, wobei allerdings wichtige GranabegrifiFe fßr eine Wissenschaft
vom j»sychischen Geschehen sich ergeben, ohiu^ da^:s aber weiterhin ein
erheblicher Erwi rb für ein Gesammtsyst.'ni der Philosophie bemerkbar
"Wäre; und Hi rtiart liatte d<.cli von der hüsung der im Ich-Begriff" ent-
haltenen Widersprüche nichts weniger als die Erzeugung des philoso-
phisclien Systems erwartet Gerade die metaphysischen G-rundfragen
aber, deren Behandlung durch Fi( lite und Schelling so dringlich gema^iht
war, und zu denen d.-r Phib^s.»p]i damals in erster Keibe Stellung nehmen
musste, werden nur gelegentlich berührt un.l erfahren keine ausgeführtero
Erörterung. Zwar zeigt sich in Bezug auf das Verhältniss von Idealis-
inuB und Realismus eine grossere KUu-heit und Entschiedenheit, als in
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Entwickluugsgesch. d. Herbartischen Metaph.
den Jenenser Arbelten, wofür neben dtm firfiher (oben S. 25) Erwähnten
noch einige weitere Nachweise zu erbringen sind. Herbart denkt nicht
mehr daran, ans dorn Ich-Begriff die gesammtt^ Philosophie als Wissen-
schaftslehre abzuleiten. Sein Entwurf bezieht sich nur auf die „Wissens-
lehre'*, neben welche als coordinirte Disciplin die „Naturpliilosophie" —
wir dfiiften wohl auch sagen „Seinelehre** — zu treten hat; denn MNator-
philoBophie nnterscheidet sich dadurch von der Wissenalebre, daiss jene
von einem Sein, diese von Begriffen ausgelit. .Tt-no mnss daher durch
diese gegen die Einwürfe des Idealismus erst gesichert werden." Dafür
muss dann die Natarphilosophie „über den Streit von der Substautialität
der Seele entscheiden" (XII. 48). Bei diesen allgemeinen Andeotongen
bleibt es aber; denn vorläufig ist für Herbart das Denkende nur ein „un-
bekanntes Etwas, das nicht bloss reflectirt. sondern sich aucli mit Anderem
vereinigt" (S. 54j und wo von einer „Wirksamkeit des Ich in der Öinnen-
welt^* die Bede ist, heiset ea: „Unsere geforderte Verbindung bestätigt
die Eriahrang, zur Erklärung der atabüHen Hannonie; ob sie eine prä-
ttahilirte, oder ein influxus j>/(ii/.si>H«, oder was sonst sei, darüber wird
hier niclits behauptet" (S. 45). Ueber Art und Wechselwirkung des
Seienden, und über den Platz, der dem absoluten Sein zukommt, erfahren
wir aneh jetsst noch nichts Bestinuntes, und bemerken daher in der spe-'
ciellen Ausgestaltung der metaphysischen Ansichten keine erheblichen
Fortschritte gegenüber dem. was bereits die Aufsätze über Schelling ent-
hielten. Mag immerhin der jetzt gelungene Entwurf das Fundumt-nt zu
einer neuen Psychologie gelegt haben, so scheint doch seine Ausbeute
für eine allgemeine philosophische Uebenengnng, ein philosophisdies
Syatem, nur geripg. Jedenfalls würden wir nach den erhaltenen Zeug-
nissen, den Ursprung von Herbart's System weit eher in die Jenenser,
als in die Schweizer Periode verlegt haben.
Anders hat er selbst, und haben seine Schweizer Freunde*'^) die
Sache an^efiisst. Hören wir zanfichst, was einer der letzteren, Böhlen-
dorf, am 10. December 1798 aus Bern schreibt: „Herbart hat sein System
goftinden. Dass es kein System, wie von Reinliold, Kant, Fichte, Schel-
ling — sondern eine ganz andere Art von Systemen sei, kann Dich
schon seine Entstehung lehren. Fichte hat die Wissenschaftslehre znerst
im Traume gesehen; Herbart hingegen, — nachdem er sich durch Ficht<j's
und Schelling's, Kant's Systeme durchgearbeitet, Chemie, Mathematik als
schwere Steine langsam V(»r sich hergewälzt, und mit einer gewissen
selbstbewussten Macht in der Welt um sich her gesehen, dann in sein
eigenes Hera zurückgesehen, entstand das seinige in dem anmni&igen
Wäldchen von Engisstein, unweit Hochstetten, wo er drei W^>chen ere-
mitisirte" (Bei. S. 87). Diesem Bericht fügt Herbart in beselu idener
Weise hinzu: „Was ich gearbeitet, liat Dir Böhlendorf richtig anj^^ i^'-eben,
wenn Du statt eines Systems einige erste Puncte davon denkst, deren
Unrichtigkeit ich beim weiteren Auszeichnen noch nicht gefhnden habe.
Mir wäre das an sich noch nicht der Rede wertli, und Du wirst es
hoffentlich keiner weiteren Kedc wcrth halten"' (ebd. S. 89). Allein dass
in der That auch ihm die neuen Entdeckungen von erheblicher allge-
meiner Bedeutung ersclüeuen, zeigt eine Aeusserung aus dem Jahre 1802 :
„Meine philosophische Hnse scheint an den kleinen Bach zu Engisstein,
wo ich ihr im Gninde zuerst begegnete, gebannt zu sein'* (ebd. S. 146),
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III. Erzieherwirksamkcit.
31
sowie die spätere Erkläning: „Die Gnindgedanken meiner Ketaphjsik
lÄurden festg-t-j^tt-llt in d«'n Jahr, n 17!'8 und ITfUi- (Vlll. 212^ weiche
sioli >v('sciitru-1i nwf iltn Inhalt dud £utwur& und der dazugeJconiinenen
Bemerkung«'!! Itczi^lu n diirfti'.
Weiiigst*'iis sthciiit, um die un^a'führltu Kundgebungen begreiflich
zu finden, keineswegs die Annahme erforderlich, dass HerbarCs derzeitiger
1'» sitzstand an nn tajiysischen Ansichten das dort Entwickelte erheblich
ül)crtraf. Vn-lmflii- lair es in der Xatur der Saclif. dass ov Bedeutung
und Tragweile seiner neuen Leistung ganz anders beurtheilte, als wir es
eben thaten. Wie für ihn das Ich-Prol?lem von vom herein kein «pedell
psychologisches, sondern das allgemeine philosophische Grand-
problem war, so ni M liti- ihm auch Alles, was sich auf dessen Lösung
bezog, in diesem Lii lil'- erscheinen, und er konnte dabei leicht den rein
psychologischen Character der gewonnenen liesultate überseiien. Dass
dies in der Tbat der Fall war, indem er ümen in der Folge nnmittelbar
den wesentlichen Apparat zum Aufban der allgemeinen Metaphysik ent-
nahm, wird im weiteren dargelegt worden, und es erhellt daraus das
Kecht, von denselben spater als Grundbegritfen der Meta])li\sik zu reden.
Ebenso begreifen wir, wie Herbart die Entstehung seines Systems von
jenem ersten Entwarf datirt, denn bis dahin war er ja aber die Problem-
stellung nicliT liinausirekommen, durch welchi' er allerdings principiell
bereits die Bahn seiner eik'enen Philosophie lu tri ten hatte. Ob die- .
selbe aber auch gangbar sein würde, bliil» noch lrau''lit'h. bis nun that-
siichlich der erste Schritt gelungen war - und zwar in einer Weise,
welche auf das Selbstbewossteein des jungen Philosophen mächtig zoräck-
wirken nnd aucli für die Folgezeit die Erinnerang an diese Entwicklungen
zu einer besnnd« r , lebendigen machen musste. Vor allem schien erreicht,
was für llerbart widil früh schon ein leitender Gesiclitspunct war — die
Veri'inigung von Speculation und Erfahrung. Diese bot in der inneren
Beobachtung eine Bestätigang für die Besoltate jener nnd damit eine
erhebliche Garantie ihrer Sicherheit Zugleich fand sich Herbart mit
seinen psyrholoyischen Untersuchungen auf einem Gebiete, auf welches
die ^itgenossische Philosopie wohl ver\N'iesen hatte, (duie es aber irgend-
wie fi-uchtbar anzubauen; vielmehr mussten ihre hieher gehörigen Ver-
suche, sowie die ganze bisherige Psychologie als vOUig unzureichend and
unwissenschaftlich angesehen werden. Dem gegenüber durfte sich Herbart
wohl sagen, die Bahn für eine neue Wissenschaft gebrochen zu haben
und dieses Bewusstsein wahrhaft refonuatorischer Schöpfung musste das
kraftvolle Selbstgefohl, mit welchem er mehr nnd mehr auf das eigene
Denken sich zurückzog and der Zeitphilosophie entgegentrat, auf das
Höcl^ste steigern. Die grosse Hedentung. welchi' von nun an für Herbart
seine psychologischen Untersuchungen gewannen, wird v(dlends l>egreif-
lich, wenn wir beachten, wie er ihnen durch Verbindung mit dein Calcül
die strengste Wissenschaftlichkeit oad Ezactheit verUehen zu haben
glaabte. Die „gute Gesellschaft der Mathematik'*, die in der Geschichte
der neueren Philosopliie eine so hen'orragendp, wenn auch keineswegs
glückliche KoUe spielt, verschatftt' auch hier dem Gegenstand ein gar
viel gewichtigeres Ansehen, und Herbart spricht es in der Vorrede zu
seiner ^Psychologie als Wissenschaff' (1834) geradezu aus, dass er,
„wtiuend eines vollen Yierteyahrhunderts ankämpfend wider Wind und
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EntwickluDgtgesch. d. HerbortUchen Metaph.
Strom, nur mit äusserster Anstrengung seine Kichtung habe behaupten
können, nnd ohne die Stütze der Mathematik sicherlich hätte unter-
liegen mfissen."
Air dli'sc Momente muss man sich g'egenwnrtiLr luiltcn, wenn man
verstehen will, wie von nun an die psychologischi n Betrachtungen eine
80 prftyalirende Stellung in Herbart's theoretischom Philosophiren ge-
winnen, und die Anshildnng des Systems auf das tiefgehendste beeinflassen«
Durch Eiiifülirung" der psycholoyisrhcn Elemente in seinen Gedankenkreis
ist die vorlicp'nde Periode vi>n ausscronlriitlicher Wichtif^keit und hebt
sich mit ihrem eigenartigen Inhalt sehr bestimmt gegen die übrigen ab.
Weniger genau läset sich eine seitiiche Abgrenzung finden. Zwar
sind die besonderen Einflüsse des Schweizer Aufenthalts so sichtlich
wirksam, dass es gewiss berechtigt war, mit ihm den neuen Alisclmitt
beginnen zu lassen. 0I> es während dt'sselhen aber nicht nocli zu weiterer
Ausführung der philosophischen Gedankengänge kam, als wie weit w^ir
sie hisher verfolgten, Iflsst sich nrkandlich nicht feststellen. Gewiss be-
gehen wir keinen grossen Fehler, wenn wir hier wieder die Aendening
in den äusseren Lebensverhältnissen Herbart's benutzen — seinen Weg-
gang aus dem Steiger'schen Hause und der Schweiz, der auf den Beginn
des Jahres 1800 — , damit einen Markstein auch seiner inneren
Bntwicklnng zu bezeichnen. Ffir den weiteren Fortschritt derselben fehlt
es ohnedies an so ausgeführten Documenten und bestimmten Anhalts-
l>nncti'n. wie sie uns bisher vorlagen. Daher ist auch eine weitere Unter-
scheidung von Perioden nicht möglich und wir sind geuuthigt, die
▼öUigo Ausgestaltung des Systems — zu der noch ziemlidi viel ^fordert
wnrde — znm Inhalt eines einzigen noch übrigen Abschnittes zu machen,
der zwar seinem eigenen Charakter nach weniger scharf bestimmt ist,
gegen die vorausgegangenen Entwicklangsstnfeu sich aber hinreichend
deutlich abhebt.
IV. Vorbereitung zum akademischen Beruf
imd erste Ausübung desselben.
Die griechische Philosophie und die positiven Wissen-
schaften. Abschluss des metaphysischen Systems.
Schon die äusseren Lebensumstände Herbart's während dieser Periode
gelten kein so einheitlich gesclilossenes Bild, wie dies bei den früheren
Abschnitten der Fall war. Nachdeui er diu Schweiz mit dem Beginne
des neoen Jahifannderts Teriassen, verlebt er zwei Jahre im Hanse seines
Freundes Smidt in Bremen, neben Ertheilung einiger Privatstunden
vorzugsweise mit der eigenen Vi^-bereltung fürs Xathedor beschaftiirt,
und geht sodann nach Göttingen, w.» ersieh im Herbst 1Ö02 als i>ocent
für Philosophie und Pädagogik liabilitirt.
Am eifolgieichsten wurken tun diese Zeit die pädagogischen In-
teressen hei ihm nach und kommen bei seinen ersten literarischen
VerülTentliclmngen. die in das Jahr 1802 fallen, zum Ausdruck. In
einer Zeitschritt Itespricht er Pestalolozzi's Schrift: „Wie Gertmd ihre
Kinder lehrte" und schreibt über dessen „ABC der Anschauung'* ein
selbständiges Buch (S. W. Bd. XI). In seinen Frivatstanden treten zwei
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lY. Yorberaitancf nun akademitchen Beruf.
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üebieU; in den Vordergrund, die ihn bereite in der Schweiz von päda-
gogischer Seite her lebhaft beschäftigt hatten: Mathematik und
griechische Literatur, ^nt meinem Schreibtisch liegen an der einen
Seite griechische, an der anhören mathomatischo Bücher** schreibt er am
8. Februar 1801 (Eel. S. 120) und im Mai dar.uif: „Ich lehre hier meistens
dasjenige, was ich ohnehin, aber mühsamer für mich allein meinem
QedftcUmsse wfirde einprägen mnssen: Combinationslehre, Analysis, vei^
trautere Bekanntschaft mit den Griechen — diese Hül&wissenschaften
sind mir uiieTÜbehrlicli, und so wenig- ich das Gewicht unserer neuen
Philosophie fühl*', so bin ich doch in dt-r höheren Mathematik und in
der Kenntniss der Alten viel ^u lauge vernachlässigt, als dass ich darin
nicht immer nur noch Anfänger sein konnte." „Ich arbeite** — heisst
es einige Zeilen später — „an einer Einleitung in die Betrachtung des
IJebersinnlichen, zum Thcil auf dem ■Wctr«' der Grieclion" (ebd. S. 122).
Bezeichnend ist die Zusainiiiciistcllmitr (h r Colleg'it'Ti, d'w er in Güttingen
im Sommer 1802 hört: über Thidur und höhere Mechanik (ebd. S. 144).
Die erste philosophische Kundgebung Herbart's in dieser Periode,
die wir als QneUe zu benutzen haben'*), bilden zwei lu ibt n vnn Thesen,
die er am 22. und 23. Octoher 1802 zum Zwt'ck d«'r rroiiiotion nml der
Habilitation in Güttingen öffentlich vertheidigte. Nach Hartensteins
Vorgang sind dieselben neuerdings auch von Zimmermann (Sitz.-Ber. der
Wiener Akad. Bd. 83. S. 226) als Schlusspunct der philosophischen
Entwicklungsperiode Herbart's angenommen worden. Jener bemerkt
nSmlich (XII. Vonv. XI): „Gegen die Mühe und Arbeit des Suchens,
welche in den früheren Aufsäteen sichtbar ist, sticht die Klarheit und
Bestimmtheit ^er Thesen aulfallend ab, welche Herbart im October 1803
bei seiner Habilitation vertheidigte; jeder der Sätze, die sie enthalten,
ist der Ausdnick eines in seiner Sjdiän- zur lieifc j^n-diehenen Denkens;
keinen derselben hat Herbart später zurückzunehmen sich veranlasst ge-
funden ; und mit ihnen kann die Periode der Vorbereitung als abgesclüosseu
angesehen werden. Sie zeigen, dass, die Principien der Ethik ausgenommen,
or damals schon über das Verhältniss der verschiedenen Gebi<^te der
philosophischen Untersuchung s:nnint den Gnnidtredanken der Metaphysik
und Psychologie mit sich in's li- iiif uTkonimon war." Für die vorliegcndo
Untersuchung ist es natürlich eine wesentliche Frage, ob sie ihr Ziel
schon in den Thesen findet, und daher eine nShere Discussion derselben
erforderlich.
Was Hartensteins erste Bemerkung anlangt, so liegt es wohl in
der Form von „Thesen" begründet, dass sie „klar und bestimmt" auf-
treten und Nichts von der „Mühe und Arbeit*' einer eigentlichen Unter-
suchung venathen können. Einzelne aus jenen Untersuchungen heraus-
gegriffene Sätze würden wohl ebenso klar und bestimmt ausgesehen
haben. Lassen wir uns aVier niclit durch die Form täuschen, und wenden
unsere Aulinerksamkeit dem Inhalte zu, so scheint derselbe keineswegs
eine so erhebliche Weiterbildung der Oedanken zu dodUnenüren, welche
Hartensteins Auffassung der Thesen rechtfertigen ktante. Diese haben
eine dopi)elte Tendenz: die Präcisirang des eigenen und die Zurück-
weisung abweichender Standpuncte, nämlich des Kantisclien und Fichte'
sehen. Dem ersteren Zweck ditfueu voi-zugsweise die Promotions-, dem
leiEteren die Habilitatlonstiiesen.
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Eatwicklungsgescb. d. Herbsrtiiolieii Metaph.
Znnfichflt irird in jenen (XII. 58) die Ffailosopliie als „conatns
reperiendi nexnm necegsarinm in cogitationibns nostris*' und die Meia^
physik als „comploxns omniuni disqnisitionum, quae quovis modo nlfimum
quiddam in cogrniti>'ii.' nostra spectant" bestimmt. Die Auffinduii','- eines
„notiiweudigen Zusammenhangs*' unserer Gedanken war indess schon fOr
die Anfefttee von 1796 der leitende Gedanke, und so scheint die obige Defi-
nition weit mehr diesem Standpunct angenähert, als dem des reifen Systems,
welches rhiloso)diio ..l^'arbcihinir dtT BegritVe" definirt. Ebenso ver-
han-t die Begritrsbestiimmnig der Motai)liysik noch in einer vagen All-
gemeinheit, welche merklich absticht von der späteren, weit engereu
und präciseren Fassung: „Metaphysica est ars experientiam reete intelli-
gendi OVissens» Laft von der Ik^ifliehkdt der Erfahnmg)'' (IV. 527).
Eig«'ntlicli sarbliclie Aufstellungen beginnen erst mit These IV, und
bringen Ilerbart s Ansichten über die Einheit des Princip s und über
Causalität — zwei Fragen, die bereits 1796 sein Nachdenken in erster
Beihe beschäftigt hatten: ,J!x nno odemqne principio an omnes meta-
physicat' veritates possint erui, adhnc usque dubitanduin est. Sed si
possent, haec istius scientiae tractandae ratio, etsi optinm, tarnen nec
uni<-H, uec plane sufficiens mininieque in docendu statim iueunda." Ein
Fortschritt gegen 1796 zeigt sich hier insofern, als damals no>ch am
Einen Princip — wenn auch nicht ans fomalen Gründen — festgehalten
wurde. TJebrigens lässt das „adhuc usque dubitandum'* die von Harten-
stein urunrtf Bestimmtlieit etwas vermissen, und fast scheint in dieser
Beziehung der Entwurf von 17i)8 bereits entschiedener vorgegangen zu
sein, wenn er ansdrflcklich Wissenslehre nnd Naturphilosophie trennte.
Die letzten Worte der These dürften ein*' Hindeutung auf die griechische
Speculation enthalten, deren "Weg für didactische Zwecke H- rliart schon
längst besonders geeignet schien. Bücksichtlich des Causal princips
formnlii-t aber dmr Satz: „Principium rationis sufficientis demonstrari
potest Cnjus demonstralionis hoc est Amdamentnm, qnod, qnae res com-
mutata sit, ea tarnen una eademque remansisse jndicanda est" nur denjenigen
Gedanken bestimmter, den bereits dif Kecension Schelling's dahin aus-
gesprochen hatte: „Bedingen, aus sich Herausgehen ist ein Widerspruch,
der dnrch Annahme der Ursache gelöst wird" (s. oben S. 16). Im AnscUms
an das eben behandelte Cansalitätsproblem weisen die noch übrigMi
Thesen di*- Forderung eine? znreiclienden (innides für das Sein der Dinge
\md die Annahmt' der transsct ndcntalen Willensfreiheit zurück, Dass
der Zweifel au dieser schon in den frühesten Regungen des Herbartischen
IXenkens anftanchte, haben wir gehörigen Ortes gesehen.
Die zweite ThesenreÜbe (XII. 59) hat es zunächst mit n li^MoTisidiilo-
sophischen Fragen zu thun. Die Eeligion giünJ' t sich auf das ethische
Bewusstsein und physicotheologische Argumente, die nach Zurückweisung
des tcansscendentaleu Idealismus wieder an Stichhaltigkeit gewinnen.
Jene Znrfickweisang begrOndet These V. „Spatii et temporis eogitatio&em
qnrid e mento nostra ejicere non possumus, hoc non probat, eas cogitationes
natura nobis insitas esse. Qui in hac Kantianae rationis parte latet error,
totum toUit systema." Wahrscheinlicli stützt sich Herbart hier bereits auf
die qnatemio terminorom, die er später dem Kantisehen Beweise znm
Vorwnrf gemacht hat (I. 352. VI. 307). Allein offenbar handelt es sich
hiebe! nnr nm die formell znreichende Abfindnng mit einer bestehenden
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rV. Vorbereitttiig mm akademisdien Bernl 35
Lohruu'inuny von boroits g'ewonnftnem Standpuncte ans. Wer einmal mit
dem consequoiiteii Idealismus Fichte's fertig gewurden war, konnte in der
Halbtheit des Kantischen Idealismi», den ja die Zeitgenossen genugsam
herTOigezogen hatten, nicht befangen bleiben. Und nun folgt die Wider-
legung jenps absoluten Idealismus: „Intellectualis intuitio nulla est. Illud
Effo, quo quisque sui ipsius conscientiam significat, nude positum, involvit
contradictionem acerrimam; quae plane resolvi, non autem ex alio loco
in atinm transfenri debei Besolntionem autem istam ne aggredi quidem
potest philosophia, nisi sie, itt idealismnm fnnditus evertat" Damit ist
nur der (rnindg-edanke ausgesprochen, der Herbart's bisherij3:es Philo-
sophiren beherrscht hat, und daher am allerwenigsten einen Jb'ortächritt
gegen früher bezeichnet.
80 spreehen die Thesen an positiven Oedanken überhaupt KietA»
aus, was nicht bereits die Älteren Arbeiten erworben hatten, die daher
mit gleichem Recht wie jene den Abschluss der betrachteten Entwicklung
bilden könnten. All' die Lücken, welche der Standpunct von 179B ge-
lassen, bleiben auch hier nnansgefOllt, tmd sehr bemerkenswerih treten noch
immer die methodologischen Grundlagen des Systems entschieden in den
Vordergrund vor den speciell metaphysischen Fragen, welch' 1 etztere kaum
berührt werden. Man würde uns keinen erheblichen Felilor vorwerfen
können, wenn wir in den Thesen nur die präcis formulirten Resultate
der TJniersnchiuigen sehen wollten, die Herbart in seiner Eritilc Sehelling's
bereits 1796 angestellt hatte. Knn iraren allerdings diese Thesen nidit
der Ort, wo er einen grossen Beichthum neuen speculativen Erwerbs aus-
breiten konnte und gewiss griff er dabei lieber zn den älteren, darum
aber auch sichereren Ergebnissen seines Nachdenkens zurück. Ein voll-
stfindiges Zengniss fOr den deneitigen Um&ag seiner metaphysischen
Ansichten ist daher hier nicht zu erwarten; immerhin aber bleibt es ein
schwerwiegender rmstand, dass von dem vielen Neuen, das zum vollen
Ausbau des Systems noch erforderlich war, so gar Nichts erwähnt wird.^')
Der Gesichtspunct, nnter welchem Hartenstein's citirter Aussprach
die Thesen erscheinen Iflsst, ist mit bedingt durch mündliche Aensse-
ning-on Herbart's, wonach derselbe zur Zeit seiner Habilitation „nicht
mir über den Standimnct der philosophischen Forschung überhaupt, sondern
iiucli über die Bestimmungen der einzelnen Probleme un d T hcile der
TTntersnchnng mit sich im Klaren war^ (El. Sehr. I. S. LYII). Allein
der Briefwedisel enthcalt Stellen, die sehr deutlich far die Annahme zn
sprechen scheinen, dass Herbart bei Abfassung der Thesen nocli in keiner
Weise zu einem Abschluss seiner metaphysischen Ansichten ^,'ekoiinnen
war. Er erinnert sich nachmals aus dieser Zeit „der grossten geistigen
An8trengnngen^ die unter deprimirenden Einflüssen anderer Art „nidit
gelingen konnttn" (IJel. 190) und in Göttingen sucht er ein Katheder
(Brief aus dem .luli 1H02. »«Ixl. 145) „nicht für eine netie Pliilosophie —
sondern für einen — wo möglich besseren und bildenderen Gehrauch der
alten.** (Sollte damit nieht vielleicht die griechische Philosophie und
ihre didactische Verwerihung gemeint sein?) Denn über seine „philoso-
phische Muse" ist er sehr ungehalten: „Sie scheint an den kleinen Bach
zu Engisstein gebannt zu sein. Dort werde ich vielleicht irgend einmal
— wer weiss wann? — sie wieder aufeuchen müssen." Diese Stelle
kfhinte sogar als Andeutung gcfasst weiden, dass sein Fluloflophiren bia
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ESiitwiokliiiigag«sdi. d. Herbtttisohen Metaph.
noch über den Schweizer „Entwurf der Wissenslehre** nicht weit hinaus-
ge1c<nDmen sei. „Hier in GiHtingeii" — fthrt er fort — „wird sicli am
dem pädagogischen Gt'sicht«punct mancher Versuch machen lasseii —
und Pädagogik denke ich künftigt^n Winter zuerst zu lesen."
So geschieht es in der That: er liest zunächst Pädagogik, sodann
auch practische Philosophie, um erst im Sommer 1804 in der „kurzen
DarsteUnng eines Plans zn philosophischen Yorlesongen** (1. 361) dreierlei
phUosophiBChe Vi rträ^'-c aiizuküiuligen: eine Einleitung mit der sich an-
schliessenden Logik, jiractisi Ii'- Philosophi»' und ^letapliysik. Für die
Einleitung — mit der er gleich im Sommersemester 1804 beginnt —
wird „ein Bückblick in das wirkliche Werden der PhUosophio, in ihre
Geschidite, nnenthehrlich sein." Der Vortrag darf aber „nur die Art
der Alten nachahmen"; denn „die Versuche der Denker vor Schrates
deuten vollständig genug auf die mannigfiütigen, ursprünglich natür-
lichen Dichtungen." In der Metaphysik — die zufolge der Unzoläng-
liehh^t der Eantischen Kritik wieder erscheint — soll man „sich die
Gmndhegrtffe, deren die Auffassung der Natnr bedarf, and ihren no^A-
wendigen Zusammenhang verdeutlichen, indf^m man durch die Vnmöglich-
keif, sie zu vereinzeln, auf die vielfach verwickelten Beziehungen gefriirt
wird, in denen sie einander gegenseitig ihre Bedeutung geben" (S. 307).
Hier tritt nnnmehr die praevalirende Stellung, die das idealistischo
Problem so lange in Herbart's metephysisclK ii Teherl^fungen eingenommen
hatte, zunu'k vor der allgemeineren Kichtnng auf »Ii»' (Trundbegriffe der
Naturauffassung, — ein Hinweis, den übrigens bereits das im Herbst
1802 erschienene ABC der Anschaaung (XI. 9(3) ziemlich deutlich enthält.
Koch mehr zeigt Herbart's Absicht» ftber Metaphysik zu lesen, dass ihm
nnnmehr ein vollständiger Entwurf derselben vorliegen musste.
Bevor er aber dazu koniint. sie abschliessend schriftlich darzustellen,
veröffentlicht er im Sommer 1805 die commentatio „de Platonici syste-
matis ftindamento^ (Xn. 61), die den sprechendsten Beweis gibt ISr seine
eingehende Beschäftigung mit den Griechen und die besondere Bichtang»
die ihn dabei leitete. Die Abhandlung ist durchaus beherrscht vom spe-
culativen Interesse, wenn auch der historische Gesichtsi)unct, die Dar-
legung des uothwendigen Ursprungs der Ideenlehre aus der Einwirkung
des Heraklit nnd Pannenides anf Piaton, in den Yordergrnnd gerückt
wird (S. 65). Für das richtige YerständfiiSB der Ideenlehre ist vor allem
erforderlich, festzuhalten an der strengen Scheidung Platon's zwischen
dem Sein (der ov<ua), auf das sich die wahre Erkenntniss bezieht, und
der Veränderung {ytiton)^ dem Gegenstande blosser Meinung (S. 71).
Jn dem Yerftnderlichen — dessoi Na^ die Hersklitische Ldire so deutlidi
an's licht gestellt hatte — sieht Piaton Widersprüche, welche der ewig
sich gleich bleiboTiden Natur des Seienden, wie es die Eleaten zuerst
gelehrt hatten, zuwider sind. „Quod est, tale, quäle est, omnino esse,
nec abenrare debet ab ista soa qnalitate; alioqnin concipi neqnit Bei
antem mutabilis notio interna laborat repugnantia, cum Idem Esse eas
sna ip^ius qualitate in altcram transire dicatur. Hac difficnltate motus
Piaton sensuum testinionia prorsus segregavit a vera sciejitia" (S. 74).
„Latet autem omnis repugnantia in eo quod eidem Esse tiibuuntur quaii-
tates oppositae** (S. 81). Daher anch die Sdrwierigkeit des Dings mit
mehreren Merkmalen; denn es erscheint als gleich nndenkbar, muta^ili-
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VL Yorbereitong zum akademischen Beruf.
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fatem et piwrtditaiem esse ejnsdem rei, quae est una atque immuMtiKa
(S. 76). In einer Beilii«,'o erklart Herbart, er \^'ünsche die Abhandlung
in die Hämb- scijitT Ziiiiön-r, denn sie tn-ff*' ..d^n Ilani^tneiTfii" seiner
Vortr:ii,'e über Einleitung' in die Pliilosophic. Der Darstellung der Pla-
tonischen Lehre folge die Logik; „der Vortrag meines BpecnlatiTeil
Systems«* — eiUftrt er weiter — „knüpft daran die freilich Ton der Lofi^ik
:gftnzlich verschiedene und von den Philosophen bisher übersehene Methode
der Beziehungen, dio man anoh Lehre von der Ergänzung der Begriffe
nt-nnen könnte. Durch diese Methode schwinden (für mich) die Wider-
sprüche hinweg, welche Plate in der Sinneiiwelt antrat Polglich ist
Plato's System nicht das meinige^* (8» 86). Das letztere ist gewiss
richtig, aber schwor scheint es uns glaublich wenn lleibart erklärt: „Ad
theoretica, ipsumque i^'^vissimum illum de ideis locum. quod attinet, in
toto hoc genere tarn longe a Piatone recedo, ut omni« toUatur comparatio,
nee quidquam mihi inde manare possit, quod Tel augeat, vel minnat philo*
sophandi animum et confidentiam. Nnllo igitnr alio in Piatone legendo
«tudio ductus, nisi ut huniani ingenii gressnm in summo illo viro contem-
plarer, systematumque nexuui melius cognoscerem etc." (S. (55). Dem
gegenüber halten wir uns doch an die Thatsache, dass die Widersprüche
der Erscheinungswelt, wie hier fftr Flaton« so auch für Herbart den A«b-
gangspimct der Philosophie bilden, und dass letzterer in seiner Ab-
handlung gerade anf diese Seite der Lehre Platon's ein besonderes
<jewic]it leu:t.
Inzwischen ualierte sich Herbart's Metaphysik wohl mit starken
Schritten ihrer Yollendangf die ihr schliesslich im Sommer 1806 durch
Abfassung der „Hauptpuncte der Metaphysik" (IIL 1. ff.) zu Theil Anirde.
Denn dass hiemit wirklich erst der Abscliluss zu Stande kam, dass es
sich nicht bloss darum handelte, bereits vorhandene Aufzeichnungen bei
guter Gelegenheit druckfertig zu machen, oder in sich Iftngst Uaren nnd
vollständigen Gedanken die letzte angemessene Formung zu geben, dass
viflmehr die Ausarbeitung des Werkcheiis das unmitt«dbare Ergobniss
intensiver speculativer Bemiibuni>'en war, durch die llerbart selbst mit
seinem System erst völlig in's lieine kam, scheint mir aus dem Brief
vom 23. Angnst 1806 (Bei. 157 ff.) hervorzngehen, mit welchem er die
•eben gedruckten „Hauptpuncte" seinem ehemaligen Zögling C. Steiger
übersendet. "Rr schreilit dm-t: „Heiterer würde ich jetzt kommen, als Du
mich seit langem gesehen hast. Erlöst von Arbeiten, für die ich die
Zeit» wann sie fertig sein würden, noch vor einem Jahre nicht glaubte
«bsehen zu können; Arbeiten, an welchen gleichwohl ein grosser Theil
der Euhe meines Lebens hing. Du empfängst meine :Metaphysik. Kiit7
zwar, aber dodi zusammengestellt . . . Sollte ich Dir erzählen, was ich
den Sommer über gedacht, empfunden, gethan und getrieben habe:^ —
es. würde sich so ziemlich auf dio Metaphysik concentrtren; für diese
habe ich am Morgen Gedanken und am Hittag Zuhörer und verständige
Freunde zu gewinnen gesucht. „Beides ist gelungen." Er nennt drei
seiner Hörer und Tischgeiiossen und fährt fort: „Den drei Letztgenannten
vorzugsweise bin ich es schuldig, nicht zwar, dass ich überall eine Me-
taphysik zn Stande bringen konnte, aber woM, dass ich diesen Sommer
sdion Kraft nnd Munterkeit genug fühlte, sie soweit zur l\<nfe zu bringen . . .
Ich j&clnm9, dass jeder Leser fOÄden werde, wie das Baisonnement mit
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Entwickhingsg«Mli. d. Herbtrtitdien Hetaph.
festem Schritt auf gebahntm Wepo gradeaus geht. In der That habe
ich das Ganze ohne Absatz noch Anstoss in kaum 3 Wochen von einem
Ende bis zum anderen hinschreiben können. JÜas gibt Selbstvertrauen
und ich bin so dreist, es Dir offen m zeigen . . . Mich wst Da zwar
beschäftigt, aber nicht wieder gedrückt finden. Was idi jetzt noch zu
leisten oder zu tragen haben mag, dessen fühle ich mich mäclitig . . .
Ich wüsste nicht, wer mir grossen Yerdriiss, oder was mir noch grosse
Unruhe machen könnte." — Hier wird in der That Niemand mehr den
Ansdrack eines völlig zur Beife gediehenen, in sich zn befriedigendem
Abschluss g-elangten Denkens vermissen, und das dies etet ein Ergebniss
der allerletÄten Zeit war, sprochon mehrere Stellen unseres Citates mit
grosser Bestimmtheit aus. Daher erscheint es durchaus gerechtfertigt,
die Entwicklungsperiode im metsphysischen Denken Herbart's erst mit-
der Abfiussnng der ,,Hanptpnncte der Metaphysik^ endigen zu lassen.
Den Einführungsworten der letzteren : „Die gegenwärtige Metaphysik
ist, ihrer Kürze ungeachtet, vollstäinlitr in Hinsicht dessen, was zur streng-
wissenschaftlichen Einsicht in ihre Behauptungen wesentlich gehört^^ liat
die weitere Oeschichte des System's dnrchaas Becht gegeben. Es sind
znr Darstellung der Hauptponcte späterhin keine principiell fort- oder
umbildenden Zusätze gekommen. Am erheblichsten noch i>t die Er-
weiteninf]^, welche sie in der l^olg^e durch das „Problem der Materie'' er-
fahren haben (zuerst behandelt in den „Theoriae de attractione elemen-
tomm principia metaphysica" vom J. 1813. IV. 553 ff.), wenn gleich ant
das Mittel zu dessen Lösung, das „unvollkommene Zusammen" bereits
die Han]>t]iuncte als auf einen „merkwürdigen Begriff für die Natnr-
forschung"' hingewiesen hatten. Um so weniger liegt in diesem Puncte
eine Veranlassung vor, die Periode der eigentlichen Entwicklung nocli
weiter aossadehnen.
Unserer Betrachtung erübrigt noch der Versuch, wie in den fniheren
Abschnitten, so auch hier die entwicklungrsjL^'eschichtlich en Zu-
sammenhänge nachzuweisen, durch welche die liesultate der letzten
Periode zu Stande gekommen sind. Eine vorherige Darstellnng dieser
Besnltate selbst erscheint um so überflfissiger, da die präcis-bündige
ZusaTmiieiifassunir derselben in den „Hauptpuncten" eine leicht zu über-
sehende Quelle bildet, und auch in den philosopliie-geschichtlichen Com-
pondien das Herbartische System bei der ihm eigenen Klarheit und
Conseqnenz in der Bogel zn einer ziemlich adaetjuaten Wiedergabe kommt»
Ein kurzer Hinweis auf die wesentlichen Puncte, die wir ins Auge zu
fassen haben, dürfte hier jircnütren. Pie früheren Abschnitte hatten es
zu thun mit der Genesis der Methodologie, des Seinsbedrifis, des Ich-
Problems nnd seiner Lösung; dazu konmit nun zur Vollendung des
Systems die Anfetellnng der in der Anssenwelt sich bietenden Probleme
der Inhärenz und Veränderung, die allgemeine Formulirung der Lösungs-
methode, die Annahme der monadolng-isch vorg-estelUen Realen als Träger
des absoluten Seins mit ihren Störungen und Selbsterhaltungen, wozu
noch andere zum Ansban des Systems erforderiiche Eilfsbegriffe sich ge*
seilen; endlich die Behandlung der durch Zeit, Raum, Bewegung, Materie
gestellten synechologischen Probleme. So Hto^rt noch viel Material vor,
willirend gerade der eben betrachtete Absclniitt die Genesis der Ansichten
in keiner Weise quellenmassig verfolgen iässt. Dadurch sind wir auf
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IV. Vorbereitung zum akademischen Beruf.
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Oonjectnren Terwiesen, deren Oiltigkeit vor allem ihre innere Folgerichtig-
keit verbürgen muss. Diese Folgeiiehtigkeit darf hier natürlich nicht
im Sinne systematisch-logisclien ZnsaTnnr'nhanef^. sondern nnr als ent-
wicklungsg<^schichtlicli-psyrholr»ixif:cht' <"onst <|nt'nz verstanden werden. Vor
unzulässiger Umstempelung jenes Gesiichtsituuctes in diesen hat sich die
Entwiclclnngsgescbichte vielmehr auf das Sorgfältigste zn hüten.
Dass di»' Probleme, welche Herbart in widersprechenden Be-
griffen der äusseren Ersohcinnngswelt fand, und dem sich selbst
vorstellendon Ich als gb ichwcrtliige Principien an die Seite setzte, der
griechi sehen P Iiilos op hie entstammten, wird durch die innere Aehn-
lichkeit der Gedanken und das thatsftchliche Obwalten des griechischen
Einflusses vollständig verbürgt Die Einleitung in die Philosophie'- sfrllt
ansdnicklich Platon' und di<? Eleaten neben Fichte mit dem P. ifugmi:
„Hier sind die verlorenen und oft verkannten Anfänge der Metaphysik"
(I. 174). Bereits in Jena, wo wir üin mit dem eleatischen Sein wider
Sehelling argnmentiren sahen, hatte Herbart griechische Fhilosopheme zu
einem wirksamen Instnnnent seiner eig<Mien Speculation gemacht. In
der Folgezeit wurde das Interesse, wtdclu s « r an den Schöpfungen der
Griechen nahm, noch wesentlich von pädagogischer Seite her eihftht.
Wie es ihm bei seinem Erziehungsgeschfift im Hanse des Herrn v. Steiger
als der beste W. der Charact^rbildung erscheint, „den Spuren der mora-
lischen Bildung des Mensi lieii<re<<*hlechts selbst nachzugeben, uns an der
Hand der griechischen Gesch'clite in die Schule des Sokrates einführen
zu lassen" (XI. 24), so will er auch als Universitätsdocent in der Philo-
sophie diesen cnltorgeschichtlichen Gang einschlagen nnd durch die
Griechen einführen „in die natürlichsten, ersten und darum üUesteii Vor-
stcdlungsarten, welche sich echten und unbefangenen Denkern aufilrangen"
(XU. 87). Auf der anderen Seite war die Beziehung der griechischen
Fhilosopheme zn der Grundlage, die er rom Fichte^schen Ich ans fOr
seine eigene Metaphysik gefiinden hatte, zu sehr in die Angen fallend,
als dass er diesen Zusannnenhang nicht bald hätte weiter verfolgen
müssen. War einmal der sich aufdrängende AViderspruch als wesent-
liches Merkmal eines philosophischen Princips erkannt, wamm sollten
nicht anch die von den Eleaten nnd Raten in der Yerftndemng, in der
Vielheit gegenüber der einfachen Natur des wahrh^ffc Seienden erkanntt'u
Widersprüche als sidche gelten? Freilich durfte man für ein Zeitalter,
das — hierin völlig verschieden von dem griechischen — in ausge-
bildeten natui*wissenscliaftlichen Theorien gerade von den Erscheinungen
dar Anssenwelt die ansgedehntesten nnd znverlässigsten Kenntnisse besass,
dieselbe nidit als wesenlosen Schein, oder als ein Ol^ject blosser Meinnng
gegenüber dem wahren Wissen um die Gedankendinge der Speculation
erklären. Vielmehr war es offenbar, dass auch diese Widersprüche ver-
möge gewisser Denkbewegungen in nothwendigem Fortschritt gelöst
weiden nmssten, und so zum grossen Gewinn der philosophischen Arbeit
neue Anfangspuncte für die Speculation boten. Bei diesen l'ntersnchungen,
schien es, würde sich zuerst der Begriff des Sein, jener absoluten
Position, der durch den Idealismus aller Boden entzogen war, in an-
gemessener Weise verwenden lassen, nnd damit dn wahrhaft realistischer
Theil der Philosophie — die schon als Desiderat hing<^stellte Natur-
philosophie begründet werden kdnnen. Jene von der griechischen Spc-
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Entwicklungsgesch. d. Herbartischen Mctaph.
(ulation entdeckten Widerspi-ficho ontspruD^^-n ja nun Theil gerade ans
der strengon Fassung* des riclitiurcn SciTisbegriils.
So galt <'S denn nur, von dt ii neu gewonnoncn Ausn^angspuncten
auch den entsprechenden i'ortgang zu linden. Bei dem ich-Problem war
ein solcher gelangen, — warnin sollten f9r vOllig analoge Probleme
— in allen FiUlen ging man ja von gegebenen Widorspiftdien ans —
nicht anal<<ir<' Lösungen ]>f'stt'hen? Es galt mindestens einen Versuch.
Einen passenden Anknüpfungspunct bot die Beliandlung des Ich-Problems
an der Stelle, wo die Forderung auftrat, die Vielheit einzelner Bown88l>-
Beinszostftnde dem Einen Ich identisch zu setzen (s. oben S. S6.) Denn
zu einer ganz ahnlichen Aufgabe wird man innerluilb der fiusseren Er-
scheinungswclt geführt. Hier treten Dinge auf mit dem Anspruch oin-
heitlicher Existenzen, wider den doch die yielheit coexistireuder und in
der Veränderung einander snccedirender Merkmale streitet Ffir das hie-
mit gestellte Problem hatte nun bereitB die naturwissenschaftliche
Betrachtungsweise eine Erklämng gefunden, indem sip die Dinge
keineswegs als wahre Kinheiton igelten Hess, sondern in eine Vielheit
elementarer Bestandtheile aut löste. Diese, in durchgehender Wechsel-
virknng einheitlich Terknüpfk, erzeugen erst den mannigfeltigen Schein
an dem Einen IHng, der aJa Gestalt, Farbe, Härte u. s. w. in verschieden-
artiger Weise unseren Sinnesoriranon fibonnittelt wird. Es ist ki'um zu
zweileln, dass Herbart bei seinem offenen Sinn für das erfahrungsmässige,
dnrch methodische Forschung erweiterte und geläuterte Wissen, die von
hier ans sich ergebenden Daten für die Auffassung der Erscheinung-
weit bei seinen specul.ativen Lösungsversuchen mit zu Eathe zog. Wir
bemerken, wie er namentlich der Chemie, deren tiefgreifende Um- und
Neugestaltung durch Lavoisier gegen Ende des 18ten Jahrhunderts bereits
allgemein zur Geltung gekommen war, eingehende Aufinerksamkeit zu-
wendet. In den Berichten an Steiger weist er mit Nachdruck hin auf
,,das Auszeichnende und Schwierigste der neueren chemischen Theorie —
die Kenntniss der Grundstoffe und ihrer allgemeinsten Wir-
kungsgesetz o" (XI. 3. der Bericht ist im Nov. 1797 verfasst). Die
Chemie seheint ihm dadurch ein vorzügliches .Mittel zur Verstandesftbung,
ja er bringt sie in dieser Beziehung — „vielleicht allein" unter allen
übrigen Disciplinen, ohne auch nur die Physik noch neben sie zu stellen
— unmittelbar in die >iachbarschaft der strengsten Wissenschaft, der
Mathematik (im „ABC der Anschauung" von 1802 ebd. S. 92) — ein
deutliches Zeichen für die wichtige Stellung, welche die junge Wissen-
schaft in seinem Gedankenkreis einnahm. Vielleicht hatte hiezu auch
gerade schon die Erkenntniss ihrer nahen Beziehung zu gewissen Auf-
gaben der bpeculatiou mitgewirkt.
Die neue Lehre von den Grundstoffen und ihren Wirkungsgesetzen —
wie Herbart selbst ilnren wesentlichen Inhalt zutreffend bezeidinet - bot
eine weit angemessenere Grundlage für die Erklärung der uns umgebenden
Erscheinungen, als gewisse i)hysikalisch-atomistische Vnrstellungsweisen,
die zu einseitig lediglich formale Verhältnisse in Kücksicht gezogen hatten.
Zwar das Berechtigte des atomistischen Gedankens, die Seteung vieler
getrennten Existenzen, blieb durchaus bestehen, und es war in dieser
Beziehung schon durch Leukipp und Demokrit der richtige Fortschritt
Über das Eine Sein der Eleaten hinaus — aus dem freilich nie ein
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4» IV. Vorbereitong zum akademischen Beruf. 41
Tlele» werden konnte — geschehen. Das Wesentliche dessdben, die
Annahme discreter elementarer T^estandtheile, hatte die nenere Physik
adoptirt und schon längst zur lieiTsolienden Anschanung" in den Kreisen
der Wissenschaft erhoben. Dazu kam nun von Seiten der neubegründeten
Chemie als wichtige Ergflnzimg und Weiterbildung der Hinweis auf ein
wahrhaft qualitatives A'erhalten der Elemente, das in der Wechsel-
wirknnjr derselben nach den Gesetzen der chemischen Verrs-andtschaft
sich geltend machte und die Gnuidlag-e abgab für die mannigfaltigen
Eigenschaften der erscheinenden Dinge. Dabei büeb die Quidität der
einzelnen Grondatoffe selbst nnangetsuatet, diese traten ans allen Ver-
bindungen unverändert wieder her\'or, wodurch die beharrende Natur dos
Seienden aufs Sicherste bestätigt schien. Sn hatte man constante Eh»-
iiiente im Wechsel der Erscheinungswelt^ waudellose Träger realer Existenz
nnd an Stelle der abstracten und sdiwer üuislichen Anziehungs- und
Abstossungskräfle, welche die Phjsik seit Kewton zwischen den Atomen
hin und wider wirken Hess, trat hier, als Ursa (beider Wechselwirkung,
das Verliältniss verschiedener Qualitäten — A'erwaiTdtschaft, wie die
Chemie sich ausdrückte, mehr die Thatsache der Verbindung beachtend;
eher aber durfte man wohl Ton einem Gegensatz sprechen, denn in
Wahrheit zeigten sich die kräftigsten Yerbindongen unter solchen Stoffen,
die in ihrer BesehalVenheit am meisten von einander abwichen.
Derart war der Unterbau, den die Chemie für die wissenschaftliche
Autfassung der Körperwelt lieferte, und in der That kamen dabei Ge-
sichtspnncte zmn Torschein, welche eine Analogie mit den psycho-
logischen Betrachtungen boten, die Herbart über das Ich angestellt
hatte. Audi hier musst<'n die vielen Elemente, die man im Ich annahm,
in eine Wechselwirkung treten nach Massgabe ihres qualitativen Gegen-
satzes. Wanun sollten nicht die Qualitäten, die den selbständigen Ele-
menten der Erscheinnngswelt anhafteten, eine ähnliche Betrachtnngsweise
zulassen — die chemischen Actionen und Reactionen sich den gleichen
Gpsichtspuncten unterordnen? Nur musste man diese „Realen"' (wie nach-
mals der terminus des Systems lautete) in eine solche Lage bringen,
dass ihre Qnalititen für dnander zugänglich waren, — die ehemisdien
Experimente deuteten siditlich genug darauf hin — es musste eine gewisse
Art des „Zusammen" für sie stattfinden. Fenier musste Art und Erlolg
der Wechselwirkung sich etwas anders gestalten für selbständig in den
liaum gesetzte Wesen, als für psychische Gebilde, die bloss Zustände
im Ich reprSsenlirten.
Es mag genügen, die Bichtnng angedeutet zu haben, in der sich
hier die Möglichkeit speciellerer Ausführangen bnt; das Wesentlichste
ist hiebei der Hinweis, wie Herbart für ein Problem der äusseren Kr-
seheinungswelt — er nannte es später das Problem der Inhärenz — den
gleiclien Weg der Litsnng ganglMir finden mochte, der ihn bereits bei
der Erklärung des Selbstbewusstseins zum Ziele gefuhrt hatte. Diesem
Verfahren schien daher auch keineswegs mir eine speciell psychologische,
sondern eine allgemein inetaphysische Bedeutung zuzukommen. So wurde
daraus die „Methode der Beziehungen", die ganz allgemein angibt,
welcher Mittel sich die Speculation zur Lösung ihrer durch Widers])rüdie
gegebenen Probleme zu bedienen hat. Ihre Anweisung ist im Wesent-
lichen folgende; Ist ein Widerspruch gegeben durch die Forderung,
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43
£iitwicklungsge8ch. d. Herbartischen Hetaph.
zwei entgegeng«selBte Oliedor M imd N za yernnigen, so Tornelfilltige
man das eine derselben M nnd setze die yielen M in ihrem Znsammen
(dosson hosondore Bestimmung aus don oig:onthümlichpn Yerhältnisson
jedes einzelnen Problems sich ergibt) gleich dem Einen N, wodurch dann
die Ansprfidie der Logik, welche die Identität des M und N Tereint,
nnd die der Erfahrung, welche sie behauptet, gleich gut befiriodigt sein
sollen. (Hauptp., Einl. III. 8 ff. Allgem. Metaph. 185 f. IV. 49 ff. n. 0.)
Dass dieses eigenthüraliche Bestandstück der Herbartischen Metaphysik
in der That nur der verallgemeinerte Ausdruck ist für die Operation,
welche zur Losung des Icb«Problems geführt hatte, springt in die
Augen, wenn wir uns erinnern, dass dort das ZnsMiimen der vielen ein-
zelnen VorptoUungen, die durch wechselseitige Hemmung einander modift-
ciren und zu einem continuirlichen Fluss verbunden werden, das Substrat
abgab für den Ich-Begriff und denselben denkbar machte. Dazu kommt
noch die eigene Yenichemng Herbar^s in der Yorrede zur „Psychologie
als Wissenschaft" 195), wo er sich fiber den „geschichtlichen Gang**
seiner Untersuchungen f »Iq-endermassen ausspricht: „Von dr-r Unter-
suchung des Ich bin ich wirklich ausgegangen; die nothwendigen Ke-
flexionen über das Selbstbewnsstsein haben sich von ihrer besonderen
Veranlassung spftterhin losgemacht; daraus ist ein allgemeiner Ausdmck
dt rstHiPu entstanden, den ich Methode der Beziehungen nenne, und auch
für andere metaphysische Gnind]>roblerae passend gefunden habe." Es
ist bezeichnend, dass dann dasselbe Werk, welches, wie es am eben an-
geffthrten Orte heisst^ den geschichtlichen Gang der Untersnchiing ,.ganz
offen darstellt" (auf seine üebereinstimmung mit dem „ersten Entwurf
der Wissenslrlire" wurde bereits oben S. 24 hingewiesen) in einem be-
sonderen Capitel eine „Vergleichung des Selbstbewusstseins mit anderen
Problemen der Metaphysik" (§. .31 ff.) durchführt, wobei all' die Be-
ziehnngen anf die oben hingewiesen wurde, recht Uiur hermtreten.
Ffir nns wird von hier aus begreiflich, wie Herbart in seiner Lehro
vom „wirklichen Geschehen" in den Kealen, ihren Stömncren und Selbst-
erhaltungen, genau mit denselben Vorstellungsweisen operirt, auf
die ihn seine psychologischen Betrachtangen geführt hatten, und
in der That bei ihm „die ein&chsten Er&hrnngen unseres Bewnsstseins
hinübergewandert sind in die äusseren Dinge" (Wnndt, Ueber d. Aufg.
d. Phil, in d. Gegenw. 1874. S. 17). Ein schlacendes Beispiel in dieser
Beziehung geben die „zufälligen Ansichten" (Hauptp. §. 2. Allgem.
Met. §§. 174, ff., lUO) Ton den eingehen Qualitäten der Realen, die nur
eine Wiedeiholnng dessen sind, wa^^ die mathematisch-psychologischen
Untersuchungen über die vers(iii»'d<'nen Gegensatzgi-adt* unter den ein-
zelnen Vorstellungen zu bestimmen nöthig gehabt hatten. Innerhalb der
Psychologie waren hier — darauf führte schon der Versuch einer „Mecha-
nik" des Geistes — die Analogieen der mafhematischen Phynk mass-
gebend gewesen. Die Verhältnisse einander entgegenwkkoider Kräfte
von verschiedener Grösse mit mehr oder minder entgegengesetzten Bich-
tnngen gaben unmittelbar das Vorbild für die Hemmung entgegengesetzter
Yontellnngen, deren Intensität an die Stelle der EraftgrOsse, und deren
grösserer oder geringerer Gegensatz an Stelle des Neigungswinkels der
Kraftrichtungen teitt. Wie die Mechanik den Fall zu einander geneigter
Kräfte durch Zerlegung in gleich und entgegengesetzt gerichtete Com*
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•
lY. Vorbereitung zum akademischen Beruf. 43
ponenten der Bechirang zugänglich macht, so nrasste Herbart nm eino
quantitative Bestimmung dos Gegcnsatzgi"ados zu gewinnen, die einfachen
psychischen Qualitätfii zeriegeu in vitllii,'- j^l^iche und volli«,' einander
entgegengesetzte Theile. Von der Mechanik aus wurde er wohl erst aut
di« Analogie dieser Zerlegungen mit gewissen arifhmetischm und geome-
tr^dien Verhiltmssen geSffihrti uid es verdeckt den nrsprünglichen Zu-
sammenhang, wenn die systematischen Darstellungen der ifctaphysik
zunächst die letztgenannten Beispiele als Belege für die zufälligeu An-
sichten herbeiziehen.
Es zeigt diese Periode in der metaphysischen Entwicldimg Herharts
eine Wendung, wie sie in der Geschichte der Systeme öfter vorkommen
mag, und namentlioli hei Kant zu einem typischen Ausdniek p-elaiiurt
ist. Es ist das die Uebertragung einer gewonnenen Betraditung von
dem besonderen Gegenstand, der sie veranlasste, auf andere Gebiete, die
Terallgemeinernng der anfänglich eingeschlagenen Gedankengänge.
Die obige Erklärung Herbart's tntt in dieser Hinsicht unmittelbar in
Parallele zum oft citirten T^crielite Kant's in der Vorrede der Prolegomenen,
wonach er durch Ausdehnung des Huine sclien Troblems über alle „reinen
YerstandesbegrifTe'* nnd Anschanungsformen die ToUstftndige Grundlage
seines kriticistischen Systems gewonnen hat. Ebenso veralliriiiifinert .
Herbart den Gniiidgedanken des vnn Fichte ihm überlieferten Problems,
und erweitert ihn zum Fuiidamoiit, das alle Theile seiner Philosophie
tragen soll. Dieser Vorgang ist psychologisch — als Apperceptions-
process betrachtet — ein äusserst natürlicher. Die in Bichtnng des
ersten intensiven Suchens L^efundenen YovsteUnngsweisen setzen sich mit
grosser Stärke fest und treben das Ai^perceptionsorjran ab für das neu
hinzu Tretende. Gleichzeitig drängt das hiemit znsannncnhäng'eiule „Streben
nach Einheit" zui- Unterordnung grosser Gebiete unter denselben leitenden
Gesichtspnnct Freilich gerade weil hiehei psychologische Factoren
in so sichtlichem Masse wirksam sind, "ist bczücrlich der logischen
Znlässigkeit solclicr Uebertracruntren ein doppelt, kritisches Verhalten nütliig.
Den Ansichten Herbarts von einer qualitativen Wechselwir-
kung der Bealen zufolge ihres Gegensatzes wurden im Bisherigen nur
gewisse chemische nndiwychologische Analogieen als fhndirend nntwgelegt
Dazu scheint nun noch die Wisst'uscliaftsN'lire einige Gesichtspuncte zu
enthalten, welche für die Gestaltung der giMianiiti'n Lehren unmittelbar mass-
gebend gewesen sein dürften. Es wurde schon oben (S. 28) daran erinnert,
wie im theoretischen Theil der Wissenschaftslehre das Kicht-Ich zu einer
dnrchans selbständigen Macht erhoben wird; auf Schritt und Tritt ist da
von seiner Wechselwirkung mit dem Ich die Kfde. Das ..Causalver-
hältniss'' zwischen l)eiden „besti'ht darin, das vermöge der Einschränkung
der Thätigkeit in dem Einen eine der aufgehobenen Thätigkeit gleiche
Quantität' der Thätigkeit in sein Entgegengesetztes gesetzt werde" (Fichte*s
S. W. I. S. 250). Sehr bestimmt spricht sich über df^n Ursprung der
Erapfindungpn der „Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenscliafts-
lehre" aus, und die Analogie der hiebei zu Tage ir'eteudeu Anschauungen
mit der Art und Weise, wie Herbart aus den einander wechselseitig
aufliebenden Störongen und Selbsterhaltongen entgegengesetzter Bealen
die inneren Zustände — das psychische Material — gewinnt, enveist
sich namentlich in folgenden Stellen recht schlugend: „Das Ich muss
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44 ' Entwicklungsgesdh. d. Herbwtisdien Metai>h.
jenen WiderHreU entgegengesetzter Bichtongen, oder, welches hier das
gleiche ist, entf^epengesetzter Kräfte setzen; also weder die eine allein,
noch di<' zweito allein, sondern beide; und /war beide im Widerstreite, in
entgegen^^esütoter, aber völlig sich das Gleichgewicht haltvnder Thäligkeit.
EntgegengesetKle Thätigkeit aber, die »ich das Gleichgewiclit hält, ve^
nichtet sich und es bleibt Nichts. Doch soll etwas bleiben und grsetzt
werdfn: <s lilcilit demnach ein ruhe7}(ler Stoff", ein Substrat der Kraft,
und zwar nicht als ein voi-hcrf/esctztcs. sondern als blosses Prodnct der
Yereiniyuny entgegengesetzter TJiätigkeiten. Dies ist der Grund alles Stoffs
und alles mOghenen bleibenden Substrates im Ich** (ebd. 8. 336). Anf
diese Weise kommt es zur „Empfindung (gleichsam Insichßndnng)". r>ie
aufgehobene, vemicbtcto Thfitigkcit dos Ich ist das Empfundene. (S. 339.)
Diese Bestiinnmngcn würden ganz gut auch in den Kähmen der Her-
bartischen Metaphysik passen. Allerdings besitzen die Bealen derselbea
keine nrsprfingliche — nach Öfteren eindiingliehen Yersichemngen des
Urhebers überhaupt keine — Thätigkeit. Vermöge ihrer Unveränder-
lichkeit heben sie dfn Vernichtung drohenden Eingriff entgegengesetzter
Wesen durch Selbsterhaltung auf. So scheint auch hier, wie bei Fichte,
Nichts zn bleiben, wShrend doch Etwas bleiben soll, welches Etwas-
Nichts dann unter dem Titel eines „wirklichen Geschehens*' (llauptp.
§. 5. Allir.'in. Metaph. $. 234 ff.) d.-n Empfindungsstoff liefert Dass die
hervorgehub. nen Aehnlichkcitcn nicht bloss zufallige sind, sondern auf
ein inneres Abhängigkeitsverhältniss hinweisen, scheint mir kamn zweifel-
haft. Herbart hatte sich so sehr in die Wissenschaftslehre lUnein-
gearbeitet, dass er &st nnwillkürlich mit ihren Vorstellnngsweisen operuren
musstp, und so war es natürlich, dass er sich die Wechselwirkung des
Ich mit einem selbständigen Nicht-Ich unter den Bestimmungen dachte,
die ihm die Wissenschaftslehre geläufig gemacht hatte.
Wir finden auf diese Weise zwei (]l«dankengänge, welche beide zor
Lösung des Problems der Wechselwirkung hinführten. Der eine, den
wir eben betrachteten, entspringt aus der Wissenscliaflslehre, und bezieht
sich nur auf das Causalverhältniss von Ich und Nicht-Ich, welches die
Bildung innerer Zustände zur Folge haben muss; der andere, wesentlich
durch Gesichtspuncte bedingt, die sich bei Erklärung des Selbstbe>\Tisst-
seins ergeben hatten, führte zu einer Ansicht über die Wechselwirkung
unter realen Wesen überhaupt. Als ein solches nnisste nun auch der
Träger der Bewusstßeinsphänomene gedacht werden, und es repräsentirte
daher jenes erstere Yerhfiltniss nnr einen Specialfiill der aUgemeinen
Wechselwirkung, die hinwieder ihrerseits sich die nähern Bestimmungen
jenes Si)ecialfairs zueignete. Alle Kealen wirken durch Störang und
Selbsterhaltung auf einandiT, und bilden innere Zustünde aus. So ist
der Cirkel geschlossen: die psychischen Zustande bedingttui das Bild,
das sich Herbart tob den Bealen entwarf nnd diese Bealen geben nun ■
die Grundlage ab för die psydiischen Zustände, die sie zufolge ihres
eigenthümlichen Wesens aus sich entwickeln. — In solchem Zusammen-
hange entstand der spiritualistisch-mouadologische Character der
Herbariischen Hetaph)«ik, und es scheint kaum erforderlich, daneben
noch die Einwirkung verwandter, historisch gegebener Standpuncte an-
zunehmen.'")
Die synechologischen Untersuchungen über Baum, Zeit, Materie
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Vorbereitang min akademiaclieD Beruf. 45
nohmeii in der Dai-stellung des Herbartischon Systonis eiuon boträclit-
lichen Raum ein.- Die Entwicklnngsgesehichte hat aber nur sehr wenig
fiber sie zu sagen. Sie wurzeln vor allem in den mathematischen Studien,
die Herbart seit seinem Aufenthalte in der Schweiz mit grossem Kilcr
trieb. Auf seinen speculativen Sinn scheint von Anbeginn die Analysis
des Unendlichen eine grosse Anziehungskraft ausgeübt zu haben. Es
ist interessant, wie er auch im „ABC der Ansehammg", das doch zor
eroten Einführung in den geometrischen Unterricht bestimmt ist, überall
die Vorstellung eines continnirliclien Wachsens, Fliessens der Kaum-
grösseu betont und auf die verschiedenen Wacbsthums-, oder Dillerential-
Terhaitnisse znsanunengehöriger Werthe hinweist Die Eigensdiaften des
Continuums sind es eben, welche ihn anch von philosophisdiQr Seite
her beschäftigen, und es kommt darauf an. sie mit den gewonnenen
metaphysischen Gnmdlagen des Systems in Uebereinstimmnng zu setzen.
Von entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen kann hiebei nicht viel
die Bede sein. Der ganze Apparat liegt fertig Tor'"): anf der einen
Seite die metaphysischen 13e«j:riffi\ auf der anderen die Anschanungen
der Wissenschaft und die Thatsaclit-n der Erfahmng. Drum kann auch
die Kluft, die zwischen den beiden Seiten sich öttnet — die Metaphysik
kennt nnr streng pauctaelle Wesen und erklärt mit den Eleateu das
Continunm för wMersprechend — nor künstlich fiberlirnekt werden. Aber
die conse<iuento Durchführung des Systems forderte eine solche Ucbor-
brückung und Herbart war ein hinreichend entschiedener Systematiker,
um dieser Conseqnenz zu Liebe aus „unmittelbar an einander" gesetzten
mathematischen •Poneten die »starre Linien m bilden, die dann freilich,
um unseren mathematischen nnd physikalischen Banm zu liefern, doch
ins Stetige zerfliessen mnss. (Hauptp. §. 7. Allgem, Metaph. §. 249,
258 f.) Die AViders]>ri"iche kehren damit allerdings wieder — snllen
aber nun bei blossen Formen der Zusammenfassung, wie es Zeit und
Baum sind, nnschädlich sein (Allgem. Metaph. §. 242 n. ö.) Hit der
gleichen Clausel wird anch die Ton den Eleaten ans der Welt hinweg
demonstrirte Bewegung wieder zugelassen. Die Constniction der aus-
gedehnten Materie aus den punctuellen Kealen (die keine Fernewirkung
ausüben dürfen) gelingt, indem diesen doch — freilich unter dem Namen
einer blossen ,J'ictioii" — Ansdebnnng beigelegt wird (ebd. 9. S67).
Wir würden schwer begreifen, wie das sonst so strenge und khare Denken
Herbart's vor den niiei-trägliclien Härten und offenbaren Erschleichungen
dieser synechologischen Aufstellungen nicht zurückschreckt, wenn wir
nicht beachteten, dass sie erst dem Ban des fertigen Systems als letzter
Abschluss hinzngef> worden sind. Sollte man den ganzen Bau abtragen
Weil die Schlusssteine nicht recht liineini)assen wollten? K*»nnte die so
fest(! und wolilverarbeitete Vorstellungsmasse, welclie das gefundene
System enthielt^ durch ein Paar Unzulänglichkeiten, die sich bei der
Ansbreitiuig desselben anf Gebiete der Eifthrnng nnd Wissenschaft her^
anstellten, ennßhitiMrt werden? — Es begegnet uns hier nicht zum
ersten, noch ancli mm letzten Mal innerhalb der Geschichte der Philo-
sophie die Erscheinung, dass die Systemsacht das logisch Unmögliche
zum psychologisch Notiiwendigen gemacht hat.
Die letztbetrachteto Periode bringt einen Characterzug des Herbar-
tiflchen Pbüosophirens zom Ansdmck, der fkrflheriiui noch nicht sa be-
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EntwickluugsgeBch. d. HerbartiBoben Metaph.
merken war: es ist die Vereinigung der verschiedenartigsten,
geradezu heterogenen Gesichtspnncte, deren Combination die Ans-
fnhmng des Systems ermöglicht. Eleatische nnd Platonische Gedanken
werden mit Cniiceptionen Fiditc's nnd Lehnn moderner Natunrissen-
schaft durchsetzt; dabei wiikiii in erlieblichem Mas&e die Producte mit,
die Herhart seiner eigenen Specti1:ition bereits Yerdankt. Hiezu werden
dann mancherloi Znsatzbestimmungen nötliig, welche, gleichsam als
Banden und Klammorn, die divergirenden BestaiidstiKkc dts Systems
zusammenzuhalten haben. Am schwierigstfii ist die Ausgb'ii'liiuii,' zwischen
dem Eleatischen Sein und den Thalsachen qualitiitiver \'<'iilnderung. Es
ist interessant, dass Herbarty nm dieselbe zu bewerkstelligen, anf einen
Platonischen Gedanken zurückgreift: er fahrt eine strenge Sdieidnng
ein zwischon dem Keicli ib's Seins und dem des Geschehens, so dass
keines mit dem anderen etwas gemein haben soll und, was von dem
einen gilt, ganz und gar ohne Bedeutung ist für das andere. Zum ent-
schiedensten Ansdmck kommt diese Lehre im merkwflrdigen §. 235 der
Allgemeinen Metaphysik, wo man sich zugleich überzeugen mag, dass
die Platonische Scheidung von .■»loUt und ytitoit in o])tima fonna reha-
bilitirt ist — freilich nicht auch die entsprechende von f.TiüTt-fii^ und ÖöSa*
Die Frage nach der idssenschafUichen Berechtigung dieser Ans-
gleichsvei suche fWlt, wie alle Fragen, die es mit den logischen Kriterien
innerer Zusammengehörigkeit und Folgerichtigkeit zu thun haben, nicht
mehr in den Gesichtskreis der Entwicklungsgeschichte.
Ziehen wir zum Schlüsse kurz die Summe der \rheit, so ist der
Entwicklungsgang, den sie im metaphysischen Den V. a Herbart's nach-
zuweisen sachte, folgender. Znnflchst begrAndet sich bei ihm noch
während der Schulzeit eine stärke philosophische Triebkraft im Geiste
des vorkantischen Kationalismus, wobei das Streben nach logischer
Strenge und systematischem Zusammenhang der Erkenntniss in
den Yordergmnd tritt Dieses Streben findet sodann ein geeigrnetes Ob-
ject zu seiner Bethätigung an dem widerspruchsvollen Ich Fichte's,
und indem Herbart an dasselbe Betrachtungen logisdier Natur knüpft,
gewinnt er seine Ansichten über Princip und Methode der Philo-
sophie. Durch psychologische Ueberlegungen, wie sie ihm in der
nftchstfolgenden Periode auch die EizieherÜifttigkeit nahe legt, beseitigt
er die Schwierigkeiten, die er im Ich-Begriff gefunden hatte nnd gelangt
durch diesen ersten erfolgreichen Schritt seiner Speculation zur Grtlnd-
legung einer neuen Psychologie. Das hiebei eingeschlagene Ver-
ehren dient endlich dazu, auch ein Problem der äusseren Ershei-
nnngswelt, auf wdches die Beschftftignng mit der griechischen
Philosophie hingeführt hatte, za lösen und unter Verwerthuug psycho-
logischer Analogieen und naturwissenschaftlicher Anschauungen
die realistische Basis zu gewinnen, auf weicher das System zu
nnnmehr ermöglichter YOlli^diger Ansf&hmng principiell begrfindet
erscheint.
Der hervorstechendste Chacacteizog dieser Entwicklung ist Uire
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IV. Vorbereitung txaa akademischen Beruf.
47
strenge Continait&t Am besten Teranschanlichen wir uns dieselbe
unter dem Bild einer Bahncnnre, die ohne alle Ecken nnd SpitMo, ja
auch ohiK* "Wfndepuncto und unter kaum merklicher Krümmung' verläuft.
Denn nur in h-ichten Abbiegung'en ändern die späteren Impulse die mit
grosser Intensität des Fortstrebens begründete Anfangsrichtung. Kie
wird ein Schritt rfickwSrts gefhan, oder in eine nene Bahn eingelenkt;
keine einmal gewonnene Ueber/eugun^ wird als irrig erkannt nnd eine
andere an ihre Stelle gesetzt. Es fehlen g-änzlich jciif ..TTnikippung'en",
wie sie Ix i Kant eine so grosse Rolle spielen, und für dii-sen erst im
4Östen Lebensjahr ein Ende erreichen. Im Gegensatz hiezu kann Herbart
schon mit 30 Jshren anf eine abgeschlossene Entwicklung zürttcksehen,
die, ohne Abirnmg dem von Anbeginn gesteckten Ziele zusteiienid,-dmxh
jeden neuen Eiiifluss nur in ihrer Kichtung bestärkt wurde.
Diese Anfangsrichtung bestimmt daher auch völlig den Character
des Systems. Dasselbe ist seiner ganzen Anlage and Tendenz nach ein
entschiedener Bationalismns. Bei den ftindirenden Conceptionen ist
derselbe augenfällig; aber auch die weiter hinzutretenden Ausfühnmgen
haben alle näher oder entfernter den Zweck, das rationalistische Streben
zu beiä:iedigen. Was Herbart, als ihn in Jena öchelling beschäftigtei
in Vebereinstiomiung mit diesem forderte; ans der Idee der systenuiMschen
Form müsse sich der Inhalt eigeben, ist bei der Entwicklung seines
eigenen Systems zur Geltung gekommen. Mit voller Berechtigung spricht
er es selbst aus: sein System habe sich allein aus der Methode ent-
sponnen und der Inhalt der Wissenschaft sei ihm aus dem Plane
entsprangen (BeL 8. 245). Als einen solchen snm rationalistischen
Plan hinzngekommenen Inhalt mfissen wir anch den Bealismns des
Systems ansehen, der daher keineswegs geeignet ist, das primflre nnd
hauptsächliche Characteristicum desselben abzugeben.
Jene unnnterbrochene Consequenz des Entwicklung aber musste ein
Oefohl der Sicherheit, eine felsenfeste üebeizengong von der Walnheit-
des Systems begründen, die nicht nur gegen alle äusseren Angriffe un-
erschütterlich dastand, sondern anch den inneren Widerspruch eher trug,
als den einmal gewonnenen Ötandpunct aufgab. Unwillkürlich werden
Wir luebei an Spinoza erinnert — dem Inhalte der Lehren nach freilich
den ausgesprochenen Antipoden unseres Philosophen. Sehr zutreffend
sagt Herbart — der kundige Psychologe ■- selbst von sich: „Wenn
sich ein Individuum lange Jahre hindurch auf einer und der nämlichen
Linie des Forschens mit möglichster Behutsamkeit fortbewegt: so entsteht
daraos flbr dieses Individnnm IJeberzeugung'*'), for Andere zunächst mir
eine Thatsadie des wissenschaftlichen Denkens (\. 195). — Solche That-
sadien uns verständlich zu machen, ist die Aufgabe der Geschichte der
Philosophie; sie wird sie nur vollständig lösen, wenn sie zugleich den
Bedingungen und der Art ihres Entstehens nachforscht
Die YerwOTthnng der Gesichtspnncte, welche die Entwicklungsge-
schichte des Herbartischen Systems fax die richtige historische Auffassung
und Beurtheilung desselben ergibt» ist dem zweiten Theiie dieser Arbeit
Torbehalten.
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n. Theil.
Die historische Stellung der Herbartischen
Metaphysik.
L Verhältniss zu Kant.
Erfolgte die Gruppiruug der Systeme innerhalb der Geschichte der
Philofiopliie nach den genetischen Zusammenhängen, dnich welche die-
selben mit einander Terknüpft werden, so hätte bereits orste Theil
dieser Arbeit in verneinendem Sinn über dit^ Fratr*' fiitscliifdcii. ob es
angemessen sei, llerbart eine Stelle unter den von Kant ausgtlicndcn
Philosophen anzuweisen. In der That könnte jener Gesichtspunct als
massgebend hingestellt werden für ein« wahre beschichte der Philo-
sophie. Denn die Geschichte irgend eines Objeetes hat es zn tiinn mit
der Darlegung dos thatsächlichen Entwicklungsgangos, durch wcirbon
dasselbe nach dem Gesetz von Ursache und Wirkaug za Stande gekom-
men ist Sie kennt daher kdne anderen ZasaaunmihSnge, als solche,
welche im geschichtlichen Werden die einzelnen Gebilde msftchlich mit
einander verbunden haben.
Indess bleibt auch dem bisher vorzugsweise geübton Verfahren,
nach ihrer inneren Aehnlichkeit die Systeme zusammenzustellen, seine
▼oUkommene Berechtigung. Denn es ist ein durchaus yeratftndliches, zur
orientirenden Ueberschau sehr werthvolles imd geradezu unentbehrliches
Unternelimen . nadi der inhaltlichen Zusammengehörigkeit der Gedanken
die Philosophen und Philosopheme in Gruppen zu bringen — nur dürfte
man dabei dann nicht von Geschichte der Philosophie sprechen. In
diesem Sinne z. B. wfirde Herbart neben Leibniz zn stellen sein, da bei-
den eine in vielen Punkten übereinstimmende monadnlogische Weltan-
sicht eigen ist. In ahnlichem Sinne könnte vielleicht auch die herge-
brachte Zusammenstellung Herbart's mit Kant au&eoht zu erhalten sein,
für die Herbart selbst so entschieden eintritt, indem er Sich in der Vor-
rede zu seiner Metaphysik (III. 64) geradezu einen Kantianer nennt
Nun ist aber der Chai acter der Herbartischen Metaphysik wesentlich durch
ihre Entwicklungsgeschichte bedingt, und da letztere so gar keinen directeu
Zusammenhang mit Kant erkennen lässt, erscheint die Frage als dring-
lich, ob in der That die ZnsammensteUnng Herbart^s mit Kant in der
Geschichte der Philosophie auch nnr nadi dem Inhalte der Lehren eine
sachliche Berechtigung habe?
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L VcrWUtniM m K«at. 49
Eß wild genügen, wenn wir diosolb. im Ansdiluss an Ojvjemgen
^***"ln welchem Sinne und mit .v-Uluan Kochto hat Herbart sich Kail-
tianei^gT^S^m^? Z Beant.'ortnng dieser Doppelfrage büdet die Airf-
gabc dos vorliegenden ^b.s^^J;"^^^-. ^ - Die hieboi zu crUdiir.'ndo
mit diesem gedrängt Doch wurdo ^» ^ ' ' j^ne Belege ein-
siehtopUte ans geben, der u.s lu.r --l^^'l^^^ j "^L^ iionderes
Schrift ..Vorän.Vrnn«,' der äUen n i^letaphj^ik durch Kam
Capit^d der Allgeiii. m.^ v'^P^i^'t^ i?L ™ d csem Zusammenhang
FreiUch bemerkt Herbart, dass Alles, was m ^ ,,^^3 J
über Kant's Lehre m s^en J^^^^^^ in de;
-wpsme aneomessen dem Buhmc der Kantl^cllen ^"^77^"* VAtinn
ZIÄ ...icht aas Hinterste «'^^ [ZrC^'^^^^^
an 128). und gibt daher in einer AnmerKung now ,
S«b ick über dE LA»KMrtV ^bm ,^>>^^^''^^^ JZ^ IZ
Parfhie«,, ta »dehej«. tann zerlegt körnten bloa.
l«r durch ZusammenfÜRUnR entstanden ist.' lur uns ""t.^" VarMmet-
d e v^r ersten Tl.eile in Betracht: ,JDic
7.nng derStrfcm ermüäe",- dieUntcrscheidunglwiMhen JV»««» dWJBT»»™"»
Werth Tmd Bedeutung dieser ouizetae rhu . '^^^^ i„
beis sind nun sehr verschieden. „Die erste ''■^'''^ ''^ ^ if/taOlllim
Kant's Geiste schon Vorhand,.! som musste, ehe er i» ^
der hmnescheu Frage ernstikh ««k«., ™« *^„^*^I,m^venn
Kategorieen in Bewegung «etera *»n"*^,"''f"f „."f,.ornc. liin vTfolgt,
B«i 4en Plan der Vemnnftkritik von V"*'"'V./Tit;i un^^^^^^ fest ^
tmd dabei den Endzweck, welchen schon ^"Ji^' "'"±^'> ' ,„den;
Toge behält. Kant s Werk ^»»^Ä™ tot " - tii
falsche Meinnng, welche dem wahren Begrifle des bein genwwsu
50
Die historische Stellung d. Herbartischen Metaph.
streitet, und zu welcher dennoch sowohl die Slteie Metaphysik als anch
Spinoza gleich in der ersten Zeile seiner Ethik sich bekannte: dieser
Irrtlium war es, wovon Kant längst vorher frei sein musste, ehe er an
eine Vernunftkritik auch nur denken konnte" (III. 180 f.). Der einzifj;©
Satz: „hundert wirkliche Thaler enthalten nicht das Mindeste mehr, als
hundert mögliche^ madite ihn zum Beformator der Metaphysik; daiiacK
wnsste er« „dat» da» Jdösflieke de» Begr^, das Wirkliche aber den Oege»'
gtand und dessen Position bedeute'' (118), und dass der Begriff des Sein
eine absolute Position erfordere (123). Kant besass also „den wahren
Begriff des Sein" (126), daher meint er auch, wo er vom Wirklichen
im Gegensatz zum Möglichen redet, „eigentlich das Beale** (307) „denn
jene Kantische blosse, absolute Position, welche das Sein aussagt, trifft
nur die Substanz, nicht die Accidenzen** (211). Somit sind in der
Lehre Kant's „die ersten Anfänge einer richtisren Ontolnfrio vorhanden;
und darauf beruht ganz eigentlich und wesentlich die historische Wich-
tigkeit Eant*8 für die Metaphysik, denn hiedurch st<^ht er im bestimm-
testen Gegensatz gegen die ältere Schule sowohl als gegen Spinoia,
ScheUing, und Alles, was dahin gehört** (153).
Soweit die Darstellung der Haupttendenz und Hauptleistung der kriti-
schen Philosophie. Es ist für unser Zeitalter, in welchem die intensiven
Bemühungen, Kant aus sidi heraus zu verstehen, einen so breiten Baum
einnehmen, kaum nöthig, darauf hinzuweisen, wie viel Schiefes jene Auf-
fiuasung enthält. W^enn Herbart wider Kant den Vorwurf erhebt: „Aber
den Fadon der Ontologie bat er gar nicht fortfifesponnen; vielmehr ihn
gleich völlig abgerissen; und zudem liegt derriciitige Anfang so versteckt
in den hintersten Theilen der Vemunftkritik, als wftre darin nur ein
Staokchen Polemik gegen den theologischen Dogmatismos zu sndien**
(153), so hätte er eben hiedurch darauf aufmerksam werden sollen, dass
Kant Nichts femer lag, als eine „Eefonn der Ontologie" im Herbartischen
Sinne. Wäre seine Absicht hierauf gegangen, er würde sie gewiss auch
. dmnshgeführt haben.
Seiner Anffassang gemäss mnss Herbart nun ans dem ersten, fiinda-
mentalen Puncto, dem Seinsbegriff, die übrigen Theile derKantiscben
Lehre hcrvons'achsen lassen. Und so geschieht es denn auch.
Der richtige Begritf des Seins, raeint Herbart, liatte Kant dermusson
ansseihalb der Schule gestellt, dass sie f&r ihn nur noch ein Ob-
ject der Betrachtang blieb: so sah er in ihr ein psychologisches Phä-
nomen. Aber er sah mit den Augen der empirischen Psychologie.
Hier fiel sein Auge zunächst auf das erste in der Reihe der Seelenver-
mOgen, auf die Sinnlichkeit Die sinnlichen Gegenstände werden uns be-
kannt durch Empfindu^en; aber die Anordnung derselben nach Baum
und Zeit findet man in keiner Empfindung (119).
Die Unterscheidung zwischen Form und Materie der Erfahrung, j
welche Kant hier durchführt, ist äusserst werthvoll und wichtig. „Es war i
sehr nothwendig darauf zu achten, dass Raum und Zeit sowulil, als die i
Begriffe von Substanz und Ursache, Bestimmungen der Erfahrungsgegen- (
stände ausmachen, welche im unmittelbar Go^ebenen, nämlich in der (
Empfindung, also in der Materie der Erfahrung, noch keineswegs liegen. \
Sind denn jene Bestimmungen auch wklich gegeben? Haben denn
auch die metaphysischen Fragen, welche sich darauf beziehen, überhaupt /
)
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t
I. Yerbältniss zu Kant. 61
«inen Gegenstand? Oder sind es leere Himgespinnste? — Das war die
*rste vorläufige Ueberlegung, ohne welche weder an Metaphysik noch an
Psychologie zu denken ist. Hieran mit Nachdnick erinnert zu haben,
ist eines der wichtisTsten Vt'idicnste Kant's; denn die V^-ranlassung' welche
Jüume dazu bot, war zu luangelliaft, um hiebe! iu Vergleich zu kommen"
(129 ty Yielmehr hat sich Kant in diesem Pnnete durch Hnme m
einem folgensdiweren Inthnm vedeiten lassen: „„Cansalitfit ist nicht ge-
geben." So meinte Hnme. Dem ähnlich meint<^ Kant: Ränmlichkeit,
Zeitlichkeit, Siibstantialitfit, seien mcU gegeben, sondern kämen durch
Sinnlichkeit und Verstand liinzu" (345). Diese völlig falsche Betrachtang
fBhite Kant zn seinem halben Idealismus, dem er als Fundament eine
höchst mangelhafte empirische Psychologie gab (155), und zwar mit dem
ganzen Apparat de r ..fahelliafteiV' SeeleuTermOgen, wdche die Hanptschnld
an allen seinen Irrtliüniern tragi-n.
Auf die Sinnlichkeit folgte als zweites Seeleuvermögen der Verstand;
er musste so gut wie jene seine bestimmten Formen bekommen. Ans
den logischen Urtheilsfnnctionen erwuchsen die Kategorien — der Theil
der Kantischen Lehre, der am meisten „SchwAche und Künstelei** ver-
räth (121 ff.)
Damit wäre das Bild der Xautischen Philosophie, soweit sie hier
fSr uns in Betracht kommt, fertig. Fugen wir zum Schluss, als rösnm^
gleichsam, noch eine Stelle hinzu, wo Herbart dasselbe in den engsten
Kähmen fasst und also nur die wesentlichen Umrisse mit starken Zügen
hervorhebt: „An Kant's Vernunftkritik haben sichtbar zwfi Wissenschaften,
die bei aller innigen Verbindung doch toto genero verschieden sind, ziem-
lich i^eichen Antheil, nfimlich Metaphysik und Psychologie. I^ätfiilich
kann nun das Werk verschieden beuifheilt werden, je nachdem man die
eine oder andere Seite desselben vorzugsweise ins Aug-e fasst." Allerdings
hat Kant in seinem Vortraire „das Psycliolo<riso}ie zur (Irundla^e gfuiacht";
allein dieses war doch imr Mittel zur Ausführung und das Ziel Kant's
bestand in der metaphysischen Auseinandersetzung mit der specula-
tiven Theologie und ihrer Iklsdien Ontologie (Ungedr. Br. S. 101 f.)
Diese Auffassuntr Kant's erklärt unmittelbar, in welchem Sinne
Herbart sich Kantianer nennt. Er thut es in der Vorrede zur Allg-em.
Metaph. unter Berufung auf seine Behauptung: „Einerlei Scholastik liege
dem Splnodsmus und der fiteren (vorkantisdien) Metaphysik zum Grunde.**
„Dagegen lehi-t Kant: „unser Begriff von einem Gegenstande mag ent-
halten, was und wie viel er wolle: so müssen wir doch ans ihm heraus-
gehen, um diesem die Existenz beiznle^'en.'' Dieses nun ist der Haupt-
punct, auf welchen das vorliegende Buch überall hinweiset; und darum
ist der Yer&sser Kantianw, wenn auch nur rom Jahre 1838^ und nicht
aus den Zeiten der Kategorieen nnd der Kritik der Urtheilskraft**
Dass die „Ungläubig'eTi" durch diese Erklärung^ seiner Benennung
als Kantianer noch kcintswfg-s zufriedengestellt }^varen, sollte Herbart
bald erfahren. Daa Bruckhausische Conservationslexicon v. J. IH'6'6 brachte
emen Artikel fiber ihn (ygl. Sitz. Ber. d. Wiener Akad. 69. Bd. phiL-
hist CL S. 228), welcher jenen Ausdruck „wie Hohn" findet, wenn man
ersväj^e. dass Herbart dem Hauptwerke Kant's, der Kritik der reinen Ver-
nunft, fast allen objectiven Werth abspn'che. Herbart wehrt sich sehr
indignirt wider dieses Urtheil iu einem Schreiben an seineu mediciuischen
4*
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52 historische Stellung d. Herbartischen Metaph.
Collegen Prof. Sachs in Königsberg: ,3in ich nun Kantianer, wenn ich
die g-anze psychologische Zuröstang als, eine Summe von Missgriffen ta-
dele? Verrauthlich nicht! Aber wie, wenn ich dariiber den richtigen
metaphysisch cTi Blick und den im Wesentlichen richtigen Tact in Behand-
lung der Hauptsache, nämlich der vorgeblich wissenschaftlich-strengen
specnlatiTen Theologie — als Verdienst Kant's anzaerkennen yersänrnt.
— wenn ich das Äehnliche meiner Lehre mir als mein Eigenthmn, ge-
genüber dem modernen Spinnzif^rnns, zugeschriohen hätte? Mit einem
Worte, wenn ich nicht hätte Kantianer heissen wollen? Dann würde man
mit Recht geliagt haben, ob denn mein<i Veränderungen des inneren
der Wissenschaft wohl die Yergleichnng aushalten könnten mit den von
Kant schon festgestellten grossen Hanpt-Umrissen. — Kant stritt ge-
gen die alte metaphysische Theologie; ich str^Mte mit den Spinozist<»n^
aber ich müsst^ mit sehenden Augen blind sein wollen, um niclit zu sehen,
dass dieser Streit und jener im Wesentlichen einerlei ist" (Ungedr.
Br. S. 109).
Mit diesem letzten Moment, der Aehnlichkeit der Gegner, ist frei-
lich nicht viel anzufangen. Wollte man alle Systeme zusammenstellen,,
welche wider dieselben Gegner strtnt^'n, so würde sich auf dem Schau-
platz der philosophischen Ansichten, wo doch ein wahres bellum omnium
contra omnes herrscht, plötzlich eine grosse Einhelligkeit nnter den ver-
schiedensten Standpunkten zeigen. Auch würde Hentiii selbst, und ge-
wiss nicht minder Kant, sehr unzufrieden sein, wenn man den Character
ihrrr Systeme nur nach der Polemik, welche dieselben üben, bestimmen
wollte.
Allein Herbart spricht es anch positiv ans, dass seine Yerfindemngen
des Inneren der Metaphysik die Yergleichnng nicht aushalten würden
mit den von Kant schon festgestellten grossen Hauptumrissen. Worin
diese Hauptumrisse bestehen, wissen wir bereits: es ist die Lehre vom
Sein als absoluter Position, als bloss logischen Prädicates, und die
daianf sich gründende Beform nnd Nenschöpfnng der Ontologie.
In der That ist dies der einzige Panct, wo Herbart den Ansichten Kant's
rückhaltlos beipflichtet, und auf ihm ruht daher allein sein ,,Kantia-
nismus." Insofern jener Eine Punct d;i8 wahre Fundament bilden und
den Hauptcharacter der Systeme bedingen soll, glaubt Herbart auf ihn
den Sectennamen stfttsen zu können.
Dodi die Tragfiiliigkeit dieses Fundamentes ist durch Hcrbart's Aus-
führungen keineswegs ausser allen Zweifel gestidlt. Hält wirklich das
einzige Band, durch welches Herbart mit Kant zusammenzuhängen meint,
80 fest, dass die Lehren des ersteren als Fortsetzung des Kriticismus,
als Weiterspinnnng yon demselhen Anknüpfongspunct ans angesehen
werden können? Hiermit treten wir in die Discussion der zweiten Haupt-
frnge ein : W e 1 c h e s Kecht hatte Herbart^ sich in dem bezeichneten Sinne-
Kantianer zu nennen?
Wir werden allerdings nicht wider Uerbart streiten, wenn er dem
Begriff des Sein als ahsolnter Position eine fiindamentale Bedeutung in
den philosophischen Ueberzeugungen Kant's zuweist. Die hieher zielende
Einsicht in den Unterschied zwischen logischer und realer Position bil-
det den Ausgangspun et seiner polemischen Stellung gegen die hergebrachte
Metaphysik (vgl. Anm. 3.). Die 1763 erschienene Schrift Kant's: „Der
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L YetliiltiiiM m Kant. 5g
einzig müglicho Beweisgrund zu «-iner Demonstration des Daseins Gottes"
stellt in der ersten Abtheil., Betrachtung 1. „vom Dasein überhaupt'*
folgende Sätze auf: „l. Das Dasein ist gar keb) Prfidicat oder Determi-
nation von irgend einem Dinge . . . vielmclu* von dem Gedanken, den
man davon hat" — niinilidi den Gedanken seiner Existenz. Dieser
Gedanke lässt sich aber nicht in dem Begriffe eines Subjectes finden,
sondern nur „in dem Ursprünge der Erkenutniss, die ich davon habe.
Ich liabe, sagt man, es gesehen, oder von denen yemommen, die es ge-
istehen haben." ,,2. Das Dasein ist die absolnte Position eines Dinges
und unterscheidet sich dadurch auch von jeglichem Prädicate, welches
als ein solches jederzeit bloss beziehungsweise auf ein anderes Ding ge-
setzt wird." In der Erläuterung des Satzes heisst es: ,4^er Begriff der
Position oder Setzung ist völlig ein&ch nnd mit dem Sein überhaupt ei-
nerlei. Nun kann etwas als bloss bedehnngsweise gesetzt, oder besser
bloss die Beziehung (respedus logiais) von etwas als einem Merkmal zu einem
Dinge gedacht werden, und dann ist das Sein, d. i. die Position dieser
Beziehung, nichts als der Verbindungsbegriff in einem Urtheile. Wird
nicht bloss diese Beziehung, sondern die Sache an nnd für sieh selbst
betrachtet, so ist dieses Sein soviel als Dasein.*' (Eanfs U. Sehr. z.
Eth. u. Religionsidiü. ed. Kirchm. II. S. 21 ff.)
Ich habe diese Stellen q-ewählt, weil sie mir noch präciscr und kla-
rer als die ganz aualogen Ausführungen der Kr. d. r. V. Sinn und Auweu-
dung der Kantischen absoluten Position darzulegen scheinen.
Sie kommt den Dingen der uns umgebenden Wirklichkeit zu, sofern diese
nämlich von uns gesetzt, als seiend erklärt werden, und sofern dieselben
nicht nur als Prädicat in Bezug auf das Subject eines Satzes, sondern
als für sich bestehend, absolut gesetzt werden. Somit bezeichnet diese
absolute Position gar nichts Anderes, als die ganz gewöhnliche Wirk-
lichkeit, nnd trifft alles dasjenige, „was mit den materialen Bedingungen
der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt" (2tes Postulat des em-
pirischen Denkens überliaupt. Kr. d. r. V. ed. Kirchm. S, 230). Daher
darf auch Kant von Gott die lieihe der Dingo „mit allen Prädicaten
absolute oder schlechthin** setzen lassen (Beweisgr. z. einer Demonstr.
«tc. a. a. 0. S. 23). Absolute Position, Dasein, Wirklichkeit sind bei
ihm vrdlig eins und dasselbe, und keinen anderen Begriff verwendet er
^uch in der von Herbart anirezogenen Partie der Vernunftkritik, in der
Widerlegung des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes.
Damm kann auch Kant seinen Begriff des Seins als „absoluter
Position*', als „logischen** und nicht „realen Prftdieates***') eines Dinges,
«0 gut verwenden, um die Ansprüche aller transcendenten, das erfahrungs-
mässig Gei^'ebene ül>ersteigenden Speculation damit zu bekämpfen, und
gar sonderbar nimmt sich dem gegenüber Herbart's Vorwurf aus: „Aber
wenn Kant den wahren Begriff des Seins besass (und daran ist nach
■der vorstehenden Erklärung gar nicht zu zweifeln), wie hat er ihn ge-
braucht? Darnach sucht man in seiner ganzen Lehre vergebens" (III.
118). Kant hat seinen Begriff des Seins gerade soweit gebracht, als
«r es seiner Deiinition nach konnte, er hat alles Das als seiend gesetzt,
worauf seine absolnte Position passte, nämlich den ganzen Umkreis un-
serer Erfahrungswelt
freilich £e absolnte Position Herbart's hat Kant nirgend»
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541 Die historische SteUnng d. fierb«rtischen Metaph.
augewandt, denn diese hat mit der Kantischen thatsächlich Nichts ge«
neiiL
Becht schuf tritt uns dies entgegen schon an der bereits oben
(S. 14) citirten Stelle, wo Herbart vom absoluten Sein zuerst spricht
als „absoluter Euhe und Stille, feierlichem Schwoigon über ilcr Spiegel-
fläche des völlig nilienden Meeres". Schlagen wir die betrefiViide Lehre
in der Metaphysik nach, so kann es allerdings für den Anfang scheinen,
als ob wir im Eantischen Gesichtskreise blieben. Dort heisst es zu-
nächst (§. 201 ff.) „vom Begriffe des Sein" er sei „blosse Anerkennung
des Nicht-Aufznhobenden" (IV. 72.) Etwas für seiend erklären, heisst:
es setzen ohne Vorbehalt der Aufhebung; darin eben liegt die absolute
Position, welche zunächst die Empfindung trifft (78). Das Sein bedeutet
nichts Anderes, als die absolute Positioil ^7) nnd in der gleichen Weise^
wie wir es bei Kant sahen, wird diese erklärt als Setzung an sich und
nicht erst mit Beziehung auf ein vorauszusetzendes Subject.
Allein das neue Capitel „vom Begriffe der Qualität'* (§. 205 ff.) be-
ginnt mit den warnenden Worten: „Sehr leicht verletzbar ist die absolute
Position. Wnsste das der gemeine Verstand, so hätte er nicht so Viele
Dinge für real gehalten, von denen sich hhnten nach findet, dass sie
nur Erscheinunfren sein können". Hier sehen wir nun mit einem Male,,
dass „Erscheinungen"' nicht wahrhaft sind, die absolute Position nicht
vertragen. Denn, meint Herbart, es sei „unmittelbar klar, dass, wenn
wir die absolnte Position festhalten wollen, wur nns vor ihren Gegen-^
theUen den Negationen und Relationen, htten müssen". So führt einfach
eine richtij^e Ausleerung der Bezeichnung „absolute Position" auf die
bät^e: die Qualität des Seienden ist gänzlich positiv, schlechthin einfach,,
allen Begriffen der Quantitäten schlechthin unzugänglich — und die ein-
&chen, nnTerftnderiichen Bealen Herbart's sind fertig. Er gesteht selbst,,
an dieser Stelle angelangt, als „das Fundament des bisherigen ontologi-
schen Vortrag-s" finde sich „kein anderes als der Begriff des Sein. Und
dieser wurde gewonnen durch blosse logische Analyse derjenigen Begriffe^
die wir beim Anfange des Philosophiirens schon vorfinden" (IV. 91).
Wegen dieser so firachtbaren Verwendung darf Herbart den Begriff des
Sein „die Basis aller wahren Ontologie" (III. 157) nennen — wir wurden
vielleicht noch zutreffender statt ,JBasis" sagon können ..Keim", denn in
der That entwickelt jenes absolute Sein ziemlich spontan aus sich die
Grundbegriffe, welche die Gestalt der ganzen Metaphysik bedingen.
Jenes Lob, die Basis der Ontologie zu bilden, ertheilt nun Herbart
froilich dem Kantischen Satz von den hundert möglichen und wirklichen
Thaleni — der anschaulichen Darlegung des Unterschiedes z\\ischen der
Wirklichkeit als absoluter Position und dem blossen Begriti"; denn er
meint in der That ganz unbefangen, mit seiner absoluten Position nur
in Kantischen Fusstapfen zu wandeln. Wir sahen bereits (oben S. 50),
wie er rühmt, dass Kant „den wahren Begriff des Sein", der nur auf
„das Reale" gehe, besessen habe, wie er die absolute Position, welche
„nur die Substanz, nicht die Accidenzen" trift't, geradezu als Kantisch
bezeichnet Und doch lässt Kant die Beihe der Dinge „mit allen Prä-
dicaten absolute oder scblechthin'* setsen, und Ton seinem System ans
wäre es der baarst. Unsuan gewesen, der Substanz, einer blossen Kate--
gorie, die absolute Position zu ertheilen.
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L Verhmtiiiw m Kant
55
Sklleu uir die Qegensätze, welche hier so sclilageinl horvurtreton,
küiz einander gegenüber. Kant verwirft alles Wissen über Dinge an
sich nnd findet die Gewähr für tli»' AnwpiulbarTvfit dtr absoluten Posi-
tioTi nur in «b-m iiiniiittplbar GogfbiMK'ii ib-r Sinnliolikfit. HtTbart's ab-
snluto r.tsiti'iii iimh't in der uns uini^cbcndcii Erschf-iiiun^^swelt keine
Träger untl niuss solche erst im Keich der Speculation unter den „Din-
gen an sich** suchen. Kant formnlirt den Begriff des Sein als absoluter
Position, um damit alle transcendente. die Erfahrungf übersteigende Spe-
culation über blosse Gt'danknndintif»' ab/.iisehnt'iden. Hi'rbart lässt sich
durcli s>>in»- absolute l'«>siti.>ii . ine intelligible AVeit realer Wesen liefern,
die weit liiuter aller Erlahruiig liegen.
So ist die Uebereinstimmnng, in welcher sich Herbart mit Kant in
Fassung und Verwendung des Seinsbegritfes zu finden glaubt, eine tOU^
illusorisdie. Kant ist vermöge seiner absoluten Position ein Gegner aller
transcendeiiten Metaphysik, deijenigen Uerbart's so gut, als derjenigen
WülflTs und Spinoza s.
Wie hat dem genauen, prüfenden, kritischen Herbart diese Differenz
entgehen können? Es war doch nicht schwer, den nerms probandi in
Kaufs Wiederlegung des ont<dogischen Beweises zu erkennen: weil das
Sein absolute Position, ein bloss logisches Prfidioat bezeiehnet, könnt ihr
nie von Existenzen etwas sprechen, die nicht durch die unmittelbare Er-
ISihmng gegeben sind. Umgekehrt bei Herbart: weil das Sein absolute
Position bedeutet, existirt mchts wahrhaft, was in der Erfahrung gege-
lien ist. und mir von den transcendenten Dingen der Speculation lässt
sich als wahren Existenzen sprechen.
Fragen wir noch einmal, wie ein so liorribles Missversteheu Kaut's
Ton Seiten Herbart's möglich war, so bleibt nur eine Antwor^ die aber
die genügende Erklärung geben dürfte: Herbart hat die Kantische Phi-
losophie erst von dem eigenen bereits gewonnenen Standpuii< t ans wirk-
sam appercipirt, und so hat dieselbe unwillkürlich dem Kaluneu seines
Systems sich eingefügt, von diesem Fonn und Gehalt entlehnt. Da bil-
dete nun das reine Sein der Eleaten — denn „keine philosophische Schule",
bekennt Herbart selbst (TV. 140), „ausgenommen die der Eleaten hat
Etwas geb'lirt vom reinen Sein" — bereits ein wichtiges Bestandstück
und eine leichte Woiiübertraguug gestattete, dasselbe -der „absoluten Po-
sition" unterzuschieben, die, durch Kant eingeführt, bei Fichte — dessen
Ich auf Schritt und Tritt absolute Positionen Tomahm — so Tielfoch
Verwendung fand. Herbart definirt das Sein zunächst als Unbedingtbeit
des Gedachtwerdens, der Setzung (s. oben S. 13) — offenbar nur ein
anderer Ausdruck für „absolute Position**, deren Fas.sung im Sinne der
Eleaten füi* ihn bereits von dieser Seite her feststand. Der gleiche Klang
der Worte hat ihn dann veranlasst, sich in völliger Debereinstimmung
mit Kant zu glauben — eine Täusclning, der die Schule bis heute un-
terworfen ist, und die sie weit über sich hinaus in die philosophischen
Kreise verbreitet hat ^^).
Aehnlich schiefen Auffassungen begegnen wir in der ganzen Dar-
stellung der Kantischen Lehre durch Herbark Für das gelegentlich von
ihm ausgesprochene Wort: „Kant ist oftmals missverstanden worden"
(XII. 154) liefert er selbst die besten Belege. Er war eben an die kri-
tische Philosophie herangetreten nicht mit dem unbefangenen Blick des
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56
Die historische Stellang d. Herbartischen Metaph.
lernbegierigen Schölers, sondern mit der beruts fertigen Frage und Ant-
wort des eigenen Systems, über die er nun anch die Meinung des grossen
Kritikers zu hf>ren suchte, Dahor die vit-lfn Missvorständnisse und Um-
biegangen des Kantischen Ciedankenganges, welche denselben aus seinen
natürlichen Zasammeuhängen reissen und anter eine dorchaos unange-
messene Belenehtong stellen. Dieses Verbfiltniss zu Kant ist far Her-
bart's Metaphysik eharacteristisch und von folgenschwerer Bedentang, so dass
es auf^emessrn sein wird, demselben eine noch etwas weitergehende Be-
trachtung zuzuwenden.
Wie wenig zutreffend Herbart's ürtheil über Hanpttendenz nnd Ge-
sammtcbaracter der Kantischen Philosophie als dner „Beform der Onto-
logie" ist, braucht, wie bereits (S. 50) bemerkt, nicht näher aus-
geführt zu werden. Gehen wir auf Ein/.t lTH's ein, so treten uns zunächst
die Formen der Erfahrung entgegen. Herbart trifft gewiss nicht den
für Kant massgebenden Gesichtspunct, wenn er die einschlägige Lehre
ans einer Skepsis am „Gegebensein'* jener Formen ableitet Er geht so
weit, diesen Zweifel am Gegebensein der Formen zu einer besonderen
Art. Villi Skepsis, der sogenannten „höheren Skepsis" zn stempeln, die
aus dem „humiscli-kantischen Gedankenkreise'' entspringe (IV. 21). Allein
skeptische Betrachtungen in diesem Sinne lagen Kant völlig ferne.
Eingangs der ^transcendentalen Aeethetik** wird allerdings die Frage
nach dem Gegebensein der Formen kurz berührt, gelangt aber im eigent-
lichen Beweisgange, den die ,.metaphysisrhe" und „transcendentale Erörte-
rung" enthält, nicht weiter zur Yenvendung '■'). Nicht weil Uume zum
Cansalbegriff keine Impression gefunden hatte, nicht weil Baom nnd Zeit
in der Empfindung nicht enthalten sind, hatte Kant diese dem erken-
nenden Subjecte zngeschrieben, sondern um den apodiktischen Character
der auf sie sich beziehenden T'rtlieile zu wahren, schien es ihm nothwen-
dig, sie dem Erfahningskreiso zu entreissen, denn erst was der eigenen
Natar des Geistes entstammt, glaubte er als ein Allgemeines nnd Noth-
wendiges sichergestellt za haben: In diesem Znsammenhange begründet
der „transcendentale" Beweis den Idealismus hinsichtlich der Anschau-
ungsformen und Katetrorien, und namentlich die Prolegomena, die nach
der Absicht des Urhebers als Commentar und Erläuterung zur Veruunft-
kritik dienen sollten, rücken dieses Argument in den Vordeignmd.
Bei Herbart aber spielte die Frage nach dem „Gegebenen** eine grosse
Bolle, und so schiebt er sie auch den Intentionen Kant's unter. Dage-
gen li;it sein System für die von Kant hen'orgehobene methodologische Seite
der Frage keinen Platz, darum ignorirt er sie völlig. Es ist sehr merk-
würdig, dass unter jenen Haupttheilen der Kantischen Lehre, aus denen
sie sichtlich dnreh Zosammensetziing entstanden sein soll (s. oben 8. 49),
des Problems der S}iithesis a priori gar keine Erwähnung geschieht:
„Der speculative Character des Kantischen Systems wird durch dessen
Grundfrage bestimmt: Woher kommen die Formen der Erfahrung und
mit welchem Eechte werden sie auf die Erscheinungen übertragen?" heisst
es in der Einleitung in die Philosophie (L 258). Wie hat Herbart denn
vergessen können, was er noch als Stadent als den wichtigsten Gedanken
der Vernunftkritik hervorhob: „Wie sind synthetische IJrtheile a priori
mßglich? Das ist die grosse Frage, in welcher Kant das ganze Bedmf-
niss der Yeniunfb zusammenfasst (s. oben 8. 7). Kant hatte doch
uiyiii^uü üy Google
I. VerhältnisB zu Kant.
57
eindringlich genug die Aafiuerksamkeit des Lesers auf diese Frage liiu-
gelenkt, und namentlich it den Frolegomenen mit der nnzweidentigsten
Schärfe es hervorgehoben, dass es ihm um Bettung der syntiieti»;hen
Erkenntnisse a priori, dfs alltj'ompinon und nnthwondisron Wissens, um
Sicherung des Kationalisuius gegen die Anfeindungen und Anniassungen
des Empirismas zu thon sei *^) — und Herbert sclireibt ein ganzes Ca-
pitel über die Yerändenrng der älteren Metaphysik durch Xant^ ohne jener
Frage mit einem Wort zu f^edonken.
Erst an späterer Stelle (§. 12H III. 387 fi".) liekommon wir von der
Synthesis a priori als einer „nacligeborenen Aufgalte" der Metaphysik zu
hören; ,^a man einzusehen anfing, wie wenig die blosse Logik über me-
taphysische Schwierigkeiten vermag, hätte man sogleich die Frage, wie
im Allgemeinen, und wie vielfach im Besonderen Eins aus dem Anderen
folgen könne? mit der iEn"<">ssten Sorgfalt behandeln sidlf-n. Der Verbuch,
im Nachdenken über die in der Erfahrung gegebenen Gegenstände Auf-
schlösse zu erlangen, war gemacht; die metaphysischen Streitigkeiten
waren auf diese Weise entstanden; ^e Thatsache, dass der menschliche
Geist fortscfireitende Bewegungen unternimmt, welche über die Er&hnmg
hinweg, uii<l tbcli von ihr ausgehend, nach einem hidieren Wissen stre-
ben, lag vor Augen .... Jetzt trat Kant auf mit seiner Frau« •: v ie
sükI HyrUhetische Uiihcile a priori möglich? Ohne Mühe hätte man be-
merken können, dass diese Frage in einer beschränkten Form, von der sie
leicht zu befreien war, das rinblem zur Sprache bringe, was wir soeben
als eine narli<,'-eborene Aut\ral»e bt'zeiclineten'', nämlich dass nicht einzu-
sehen ist, wie mit Nothwendigkeit einem Üei^n iii über seinen Inhalt hinaus
ein Prädicat beigelegt werden könne. Die Einleitung in die l*hilosophie
fährt das Bedenken, dass „ein Bechtsgrand zn einer Synthesis a priori
kaum denkbar scheint**, notli als eine Frage der „höheren Skepsis" an
(L 73), welche sich anf „die Methoden des fortschreitenden Denkens'*
bezieht.
Welche L^ysnug Herbart für das Problem gefunden zu haben glaubte,
wissen wir bereits ans der Entwicklungsgeschichte (S. 17, 43). Er spricht
sie aus in der „Methode der Beziehungen" — diese soll ..die hrdiere Me-
thode der Synthesis a priori" sein (L 368). Die Antwiat, welche die Me-
thode der Beziehungen auf die Frage: wie können Griinde mit Folgen
zusammenhängen? gibt, ist folgende: üer Grand muss ein Widersprach
sein, nnd als eine nothwendige Ergänzung, welche die Lösnng des
Widerspruchs herbeiführen soll, tritt die Folge dazu. So meint denn
Herbart, jenes nachgel)i>rene Frol)lem der Synthesis a priori unabliäncri?
von Kant weit umfassender gestellt und gelöst zu haben, da der Kanti-
schen Formulirang nur eine untergeordnete Bedeutung zukomme und die
Lösung zumal ToUständig missglückt sei (HI. 389 f.)
Dürfen wir wohl sagen, d;i-> Jemand, der diese Stelle des Kanti-
schen Systems nur so nebenbei iM lumdelt, dasselbe richtig aufüfetasst und
gewürdigt hiihv'f Sie bezeichnel den streitigen Punct im Kampfe des
liationalismus mit dem Empirismus, denjenigen Gegensatz also, dessen
Lösung zu Gunsten des Bationalismus — wenigstens wenn wir uns an
die so entschiedenen Versicherungen der Prolegomena halten — Kant's
erste und wesentlichste Aufi^Mb»- bildete. Die Stellung zu dieser Frage
kann als das Schiboleth bei der Entscheidung zwischen Kationaliämuä
uiyiii<-uü Ly Google
5S historische Stellung d. Herbartischen ^etaph.
und Empirismus angcsehon wordt n niid es ist dahor äusserst bezeichnend
für den besondeni Character der H» rbartisrh^qi Metaphysik, dass sie, wie
sich leicht zeigen lässt. jene Frage gar nicht verstanden hat. Denn
ausdrücklich erklärt Kant (Prol. §. 2): ,4)as gemeinschaftliche Trin-
cip aller Malyttühen Urthfile ist der Sats des Wfderspniclu^* und
yjftyBfhetlselie Urtheile Im «lüifpn ein anderes Pi im als den
Satz des Widerspruchs'^ Wnlclies Mittel aber ver^-endft llcrbart, um
durch seine Methöde der Beziehungen eine Synthesis a priori zu Stand«
zu bringen? — Kein anderes, als eben den Satz des Widerspruchs.
Also nicht gelMt, sondern gänzlich umgangen, oder wie Herbarb selbst
meinen wird, annuUirt hat er die Kantische Frage. Ob mit Recht? —
die PiRrriSsiöii hierüber führt so ti'-f in systematischo Untersnrlmrigen
und triü't zuglt-ich den Kern einer kritiscluMi Beurtheilung der Herbarti-
BChen Metapliysik, duss wir sie dem letzten Abschnitte vorbehalten, der
eben an diesem Pnncte anznknUpfen haben wird.
Xur darauf sei hier noch hingewiesen, dass Herbart sich sehr im Iit-
thum befindet, wenn er meint, Kant habe die allgemeinere F.assung des
Problems: wie kr<nnen Gründe mit F(dgen zusammt-nhängenl* oder: wie
kann aus einem Gewissen mit Nothwendigkeit ein anderes Gewisses ge-
folgert werden? nicht gekannt Vielmehr hat Kant eben diese Frage am
Schlüsse seines „Versuchs den Begriff der negativen Grössen in die "NVclt-
weisheit einzuführen" mit vorzüglicher Klarheit f<>rmulirt: „Ich verstehe
sehr wohl, wie eine FaIo-o durch einen Grund nach der Kegel der Iden-
tität gesetzt werde, darum weil sie durch die Zergliederung der Begriffe
in ihm enthalten befänden wurd. Wie aber etwas ans etwas Anderem,
aber nicht nach der Regel der Identität fliesse, das ist etwas, welches
ich mir g^rne mochte deutlich machen lassen. Wif suU ich vtn^^tthon,
dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei?" — und zwar wohlg<'merkt
nicht nach dem Satze der Identität oder des Widerspruchs,
denn wie das letztere ml^glich sei, erhellt nmnittelbar ans den Begeln
dtr syllngistischen Logik, um deren Klärung und Berichtigung der x^r-
kritische Kant sich in der Abli;iiidhing über „die falsche S])itzfindig-
keit der vier syllogistischen Figuren" eb»'nfalls grosse, freilich, wie es
scheint, bis heute nicht hinreichend berücksichtigte Verdienste envorben
hat **). DTDrch jene Beifügung gewinnt Kanfs Fragestellang eine Tiel
tiefere Bedeutung als <li^^jenige Herbart's; denn sie spricht aus, dass
für eine Lrrosse Reihe von Wahrheiten nach einem anderen Princip der
Begründung als dem Satze des Widerspnichs gesucht werden müsse.
Endlich ist, um diesen Punct hier noch kurz zu berühren, auch die
nnermndliche Polemik, mit welcher Herbart immer wieder auf Kantus
S. elenvermiigen, die als falsches empirisches Fnndament der Lehre die
Hauptschuld an deren Irrthüuiern tragen sollen, nur eine Folge der Be-
deutung, die in seinem eigenen System den psychologischen Untersuch-
ungen und der Eliminirung der Seelenvermögen zukam, und trifft, wie
dies TOn den modernen Kantianern mit Becht hervorgehoben worden ist»
keineswegs in allen Puncten zu. Es offenbart sich auch hierin das-
jenige Verhältniss. auf welches wiederholt hingewiesen worden ist. Her-
bart ist zur kritischen Philosophie nicht gekommen als ein Suchender,
von ihr Licht zu empfangen. Unabhängig von derselben hat er sich die
eigene Leuchte angezfindet und betrachtet bei dem Scheine derselben nun
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n. HiHoriscih'Byeteinatolf^fiache Stellimg.
59
ancli (las Kantisohe Syst*'Tn. Natürlicli erhellt dieser nur ili»'j*'Tiitren
Stellen des Objectes, welche eine gleiche oder mindestens vcnvandte Farbe
zeigen und diese werfen keine anderen Strahlen zurück, als welche sie
Ton der Lichtquelle empfangen haben.
Das Kt'siiltat dieser ganzen UntefBQchung ist kmz folgendes: Die
Stelhiiii^'- }ltrV)art's zn Kant ist eine wesentlich negative, ablehnend»';
in einem einzigen Puncte glaubt er in positivem Zusammenhange mit
dem Kriticismus zu stehen, aber diese Meinung erweist sich als falsch;
sie zeigt nur, dass die positive Anscbammg, die Herbart yon der theore-
tischen Philosophie Eant's hat, eine durchaus unzutreffende, durch das
^ledinm seines eigenen unabhängig von Kant gewonnenen Systems we-
sentlich gefärbte und getrübte ist.
Die nächste, aus diesem Kesullat entspringende Consequenz ist, dass
die dnrch Herbart selbst angebahnte nnd in der Geschichte der Philo-
sophie bisher fes%ehaltene Aulfassuiig, welche ihn in nnmittelbaren Zn-
sammenhang mit Kant brina-t, vielleicht sogar an diesen anschlii-sseu
lässt (nämlich an das ».realistische Element" der Kantischen Philosu])hie),
unhaltbar ist und daher die Stellung des Herbartischen Systems inner-
' halb der Geschichte der Philosophie in einer anderen als jener üblichen
Weise bestimmt werden nmss Zu diesem Zweck dfiifen wir aber nun
nicht mehr allein auf Kaufs Philosophie sehen, sondern nifissen in et^vas
weiterern Umfange die Grundzüge des Büdes uns vergegenwärtigen, in-
. nerhalb dessen der Metiiphysik Herbart's ihre natürliche Stelle zukommt.
Hiednrch wutl auch ihr Yeihältniss zu Kaut, das wir bisher nur nach
seiner negativen Seite betrachten konnten, eine nähere Beleuchtung ge-
winnen.
IL Historisdi-systematologische Stellung.
Kein ausgeführt<^s Bild soll hier entworfen werden, nur eine in den
knappsten Umrissen gehaltene Skizze, deren Aufgabe ist, die Hauptmo-
mente, welche die Stellung der HerbaitiBchen Metaphysik unter den
geschichtlich gegebenen Systemen bestimmen, scharf herrortreten zu
lassen.
Zwei Strömungen bedingen den Character der deutschen Philosophie
im ISten Jahrhundert. Die eine, von England her kommend, nach ihrem
methodologisdien Grundzuge wesentlich empiristiseh, pflanzt sich am
kenntlichston fort in den seichten, alter desto breiteren Flutiien der Auf-
klärnngsphilosophie, die freilich für die tieferen mefliodologischen Fragen
keinen Sinn hat und vorzugsweise practischen Gebieten sich zuwendet,
üm so eher kann sie sich mit der rationalistischen Bichtung verbinden,
welche (seit Descartes fftr die ganze continentale Philosophie massgebend)
die strengeren, in der schweren Tiüstung eines vollständigen Systems
auftretenden S<'hulphilosophen noch durchaus beherrscht.
So zeigen sich bei Wolff, dem Hauptvertreter der vorkantischen
deutschen Philosophie, beide Momente in engster Verschmelzung. Die
Evidenz und die practische Brauchbarkeit sind die beiden Hanpterforder-
nisse, die er an die Philosophie stellt; damit ist die wesentliche Tendenz
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60 I^i« historische Stellung d. Herbartischexi Metaph.
der Aafklünmgspliilosopliie ausgesprochen. Jene Evidenz aber fasst er
in einem Sinne, irelehe den BationaUsmns anf das Entschiedenste be-
kundet Sie kommt nur d(>r philosophischtm ErkenntniSB zu (im Ge«
gpnsatz zur Idoss histoi-ischcii); diese ist Erkeinitniss aus Gründon,
nämlich aus lt^f,'ischtn Gründen, aus deren auf streng' demonstrativem
Wege, wie er am voilkomiuensteu in der Maüiematik eingehalten wird,
die Folgen eiBchlossen weiden. Das allein ftmdamentale Princip aller
Demonslaration ist der Satz des Widerspruchs, auf wolchen aucli der
Satz des Grundes, der nadi Lcibniz'sclier Aufstellnni:: das Princip für
die Erkenntiiiss der Thatsachen enthält, zuriickgefülirt wird durch die
scharfsinnige Formel : Wenn Nichts der Grund von Etwas wäre, so wäre
Nichts Etwas, was ein Widersprach ist; folglicli mnss Alles einen Orond
haben. In der Aufstellung empirischer Wissenschaften neben den ratio-
nalen wird dann allerdings auch der Empirie Rechnung getragen — ein
Zugeständniss, welches dem Aufkläningsstreben und der Richtung auf
practische Brauchbarkeit gemacht werden musste. Die empirischen Wis-
senschaften sollen ansdrfioklicb denen dienen, welche Jiebetioris ingenü*'
sind, und so in alle Schichten der Gesellschaft die AutklSrnng tragen. Ebenso
ist augenscheinlich, dass nur durch enge Anlehnung an die Erfalimng
die Anwendbarkeit der verschiedenen Doctriuen auf das lieben erzielt
werden kann.
Dieser Halbheit ein Ende zu mac&en, die Gonseqnenz der wissen-
schaftlichen Auffassung rein und streng hinzustellen , war dem weit tie-
feren und schärferen Denken eines Kant vorbehalten. Eingehende Be-
schäftigung mit den exacten Wissenschaften, namentlich der mathema-
tisdien Pli)sik, wie sie durch ^Newton ausgebildet worden war, aus denen
zom Theil bedeutende eigene Leistungen auf diesem Gebiet erwuchsen,
bildete bei Kant die beste Vorbereitung zur Einsichtnahme in die Un^
haltbarkeit des liisherigen Rationalismus, welcher Ueberzeugung er den
schärfsten Ausdruck in den „Träumen eines Geistersehers'* v. J. 1766
gibt. Das concentrirte Resultat dieser Einsichten ist, dass es über That-
sachen keine Einsichten aus reiner Vernunft gebe, dass man in Betreff
alles thatsächlichen Wissens auf die Erfahrung hingewiesen sei. Dör
Satz des Widerspnichs ist bloss von Wertli für Begriffsentwicklungen,
BegrilTsverdeutlichungen , liefert — nach der späteren Terminologie —
nur analjliische Urtheile. Aber eine wirkliche Erweiterung des Wissens
kann aus einem logisch folgerichtigen Denken allein nie gewonnen wer-
den ; es gibt keine synthetischen Urtheile, die nach dem Satze des Wider-
spruchs, also mit a priorischer Gewissheit, abgeleitet werden könnten.
In England hatte Hume die durch Locke und Berkeley wirksam
angebahnte empiristische Anschauungsweise consequent durchgebildet und
in einer Ähnlichen Formel präcisui. Er theilt alle Objecto vnserer Er-
kenntniss in zwei Arten : „relations of ideas" und „matters of &ct^. Von
den ersteren gibt es ein demnnstrativisches, auf logischem Wege erwerhbares
Wissen, dessen Nothwendigkeit durch die Unmöglichkeit des Gegentheils
nach dem Satze des Widerspruchs bewahrheitet ist Nicht so von den
Thatsachen, deren Gegentheil nie einen l¥iderspnidi einschlieflst und
daher immer denkbar bleibt Das Princip, auf welches sich alle unsere
Schlüsse über Thatsachen gninden, ist das Verhältniss von iTsache und
Wirkung. Der ursäcliliche Zusammenhang unter den Erscheinungen lässt
uiyiii^uCi üy Google
IL Historisch-systematologischo Stellung.
uns Ton dem einen gegebenen Factum anf ein constant damit verbun-
denes aiidores Factiun schliessen. Woher aber diese Ktniitniss oines
iirsächlichon ZiifJammPiibanps unter den Erschcinung'on ? Nirgends and<'rs
lier, so lautet die Antwort Hnme's, als aus der Summe von Wahnieh-
inungen und Beobachtungen, mit denen uns die Erlahrung versieht ^^).
Daber ist es mit der Teimeintlich apriorischen, streng nothwendigon
Erkenntniss in allen Wissenschaften, ausser den rein mathematischen,
welch' letztere nur von unseren „Ideen" handeln, Nichts, sie besitzen
bloss eine praesumptive Allgemeinheit, eine auf indnctivem Wege gewon-
nene Wahrscheinlichkeit. Damit ist der Empirismus auf allen Gebieten
des Wissens um Thatsachen anft Schftrfbte proclamirt, gegenftber dem
methaphysischen Kationalismus, der den gesammten Weltinhalt ans we>
nigen Principien logisch deduciren will.
Welcher Art es treschah, dass Kant, wie er selbst erzählt, durcli
diese Aufstellungen Hume s aus dem „dogmatischen Schlummer*' geweckt
wnrde, kann hier dahingestellt bleiben; jedenfIdlB hatte, als er in die
durch die Dissertation: De mundi sensibUis atque intelligibilis forma et
principiis v. J. 1770 inaugurirte sogen, .»kritische Periode" eintrat,
eine starke „UmkippunjtT' seiner Ansichten stjittgefunden. Die Möglichkeit
rationalistischen Wissens steht ihm nicht mehr in Zweifel. Die Prago
lantet fOr ihn nicht mehr: sind synthetische Urtheile a priori möglich?
— denn er glanbt in dem Bestände unseres Wissens ihre Wirklich-
keit nachweisen zu können — sondern: wie sind sie niöiclich? Ant-
wort: dadurch, dass die Bestimniuiifi:sstücke dazu, die J^'ormeu der Natur-
autfassung, a priori im Gemüthe liegen.
Der Gedanke ist nicht nen. Er findet sich in der ttvafjirr,ate Platon*8,
liegt den «Qxal avnrtöSeixroi des Aristoteles, den ideae innaüie Descartes*
zu Grunde und ist meist in irgend ein<>r Weise mit dem Kati<tnalismus
verquickt cewesen. Zum eigentlich t'niidamentalen methiHlolo^'ischen
Princip wird der Apriorismus aber allerdings erst durch Kant erhoben
nnd erhSlt hier den wesentlichen Znsatzt alle apriorischen Erirenntnisse
gelten nnr von Erscheinungen, nicht von Dingen an sich. Wenn auch
gerade an diesem Puncte der Anstoss für den nächsten Fortschritt über
die Kantische Philosophie hinaus gelegen ist, so tritt er, genau liesehou,
für die Folge doch durchaus in den Hintergrund. Denn in Wahrheit
madit man das prodncirende Vermögen, mag dieses nnn indiridnell an-
thropologisch, oder allcrmieiii kosmisch gefasst sein, zum ßealgrunlr',
hinter dem gar kein fVn- den ?»Ienschen Unbekanntes, kein „An sich"
mehr liegt. Fruchtbarer hat diese sogen, idealistische Philosophie ein
anderes in Kant's Aprion liegendes Princip zu verwenden gewusst, das
seiner fimdamentalen Bedentcmg wegen hier etwas nSher beleuchtet wer-
dm muss.
• Die Erkenntnisskriterien, von welrbeu Kant bei seiner Fragestellung
ausgeht, sind rein logische, der Erkenntniss selbst immanente, indem sie
sich bloss auf Werth und Giltigkeit derselben beziehen. Das Prädicat
der Allgemeinheit nnd Nothwendigkeit, welches Kant als nnbedingtes
Merkmal des Apriori gilt, bezeichnet eine derartige der Erkenntniss im-
manente, logische Werthschätzung derselben, die man bis dahin immer
auf den Satz des Widerspruchs gegründet hatte. Um über diesen logi-
schen Character, den Werth der Erkenntniss ins Keine zu kommen,
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62
Die historische Stellung d. Herbartischen Mctaph.
kehrt Kant eine andere Seite der Sache hcaror — er fragt nach ihrem
Ursprung: die rein logische Untersuchung erhält eine psychologi-
sche Substniction. Bas Verfahren, durdt Erforschung des Ursprangs
der Erkentiiiss über Giltigkeit und Tragweite derselben zu entscheiden,
vrar dmxh Locke so breit nnd kennflidb hingestellt worden, dass man
nicht Notii gehabt hätte, in demselben eine besonders ruhmliche Ent-
deckung Kant's zu sehen, wie es denn auch unmittelbar als ein hOchst
natürliches und gerechtfertigtes Vorgehen erscheinen wird. Aber dies
letztere ist es iu der That nicht. Ich springe völlig ab von dem Stand-
puncte der i^age: welchen logischen Werth hat eine Erkenntniss?
wenn ich darauf antworte: sie Imt diesen nnd diesen psychologischen
Ursprung. Das Verfehlte dieser furaßaon eU nlh) yh o^, welche bei Kant
gleich in den ersten Sätzen der Vemunftkritik Platz greift, näher dar-
zuthun, ist hier nicht der Ort Uebrigens zeigt es sich kenntlich
genug an den Consequenzen , die ans Kante Lehre gezogen worden.
Denn die Kachfd^r TersArnnten nicht, das neue Fundament, welches
dieselbe für den IfaitionAlismns geschalten hatte, sich zu Nutze zu machen.
Der Satz des Widerspruchs, die logische Analyse, welelie bisher die allein
notliwendige Grundlage alles rationalistischen Wissens gebildet hatten,
wurden als unfruchtbar abgedankt. Die Allgemeinheit- nnd Nothwendig-
keit einer Eh'kenntniss vor den Angriffen des Skepticismns sicher zn stel-
len, war es nicht mehr erforderlich, die logische Unmöglichkeit ihres 6e-
gentheils darzuthun, wie dies noch Hume von den Bekämpfem seiner
empiristischen Theorie als Gegenbeweis verlangt hatte; man brauchte sie
nur a priori ans dem „Gemü&e" entspringen za lassen und ihr apodUc-
tischer CSiaracter war hinreichend beglaubigt.
Dass ein solches Verfahren rasch Anklang finden rausste, ist er-
klärlich, wenn wir beachten, wie es einem doppelten Bedürfniss des Zeit-
alters entgegenkam: der Systemsucht einerseits, dem practischen
rreiheitsstreben andererseits.
Der Rationalismus, der die eigentlich trdbende Kraft der philoso-
phischen Entwicklungsreihe von Descartes bis Kant bildet, hatte in
Deutschland erst im IBten Jahrhundert jene Ausdehnung gewonnen, dass
er der ganzen Zeitätromung seinen Character aufdrückt, und hier jenen
Gmi der „Vemüniligkeit'' erzeugt, der alles Wissen nnd Thun logisch
vernünftig gestalten, den gesammten Weltinhalt rationalisiren wollte.
Tieferen Geistern konnte es natürlich nicht genügen, Allem ein logisches
Mäntelchen umzuhängen und es dann hübsch in eine Reilie neben einander
zu ordnen; sie verlangten nach einem System, einem einheitlich ge-
schlossenen Ganzen der ^kenntniss, sicher im Fundament, lückenlos im
Aufbau und in allen Theilen Tom strengsten begrifflichen Zusammeidisng
beherrscht. Kant selbst ist von diesem Streben auf das entschiedenste
beseelt und bat ihm in seiner Philosophie umfassend Kechnung getragen.
Diese hat nämlich ein doppeltes Gesicht, keineswegs bloss jen«'S beschei-
dene, entsagende mit der JDevise: Tecom habita et noris, quam sit tibi
cnrta supellex, sondern auf der anderen Seite auch die stotee Miene einer
souveränen Beherrscherin alles menschlichen Wissens. Kant meinte ja,
dass grösste, schwerste, sicher aber auch fnichtbarste Geschäft mensch-
lichen Scharfsinnes vollbracht zu haben, da es ilim gelang, sich aller noth-
wendigen, also seiner Melnang nach allein wahrluft wissenschaftlichen
L^iyiii^uO Ly Google
11. Historiach-systematologische Stellung.
63
Erkenntnisse ans Einem Princip zn l>eniächtigen, sie in ein Tollständig
gesclilnssi'iits System zu la-ingen, das für alle Zeiten gilti|£r und mass-
gebend hlcilH'ii miisste. Kein "Wund» r, dass di»' systemsücliti^n'n Zoit-
<^»'ii«tsst'n mit VorVulM' diese i^-'län/.fiiden' Sfit»- des Kaiitiiinisnnis ins
Auge iassten und darül)er jene demülhige Gestalt ausser Acht liessen.
Es war gerade kein Zeitalter der Demnth. Wir wissen, wie die Fortbil-
dung der Kantisclien Philosophie gerade in der Eichtung der System-
macherei sich vollzog. Hier trifft das Hcgt-l'si li»' Schema der Vereini-
gung von Of treiisützeu in der Thal zu. Es t^ilt, immer höher»' Kinigungs-
puucte zu lijidt ii: Keinhcdd vereinigt Vei-stand und Sinnlichkeit im Vor-
stellangsremiögen , Fichte die practiscbe und theoretische Vemnnfk im
Ich, Schelling Ich und Natur im Absoluten, und Hegel gibt dieser höch-
sten Einheit endlich die alischliessend** systematische Form in dem dia-
lektisch sich selbst entwickeludt'n Ki -rriff.
"Wenden wir uns vom theoretischen zum prac tischen Gebiet, so
finden wir hier die Lieblingsgegenstände der Anfklärangsphilosophie.
Es bezeichnet die fortschreitende Läuterung dtr Anschauungen, wenn
vor den fälschlich Mt'tan]iysi>ches einmischenden Ideen Gottes und der
rnsterblichkeit in den erleuchteten Geistern mehr und mehr der Glaube
an die unmittelbare Würde des Guten, an die persönliche WerÜischätzung
des Menschen hervortrat Eine solche WertachStzung war nicht möglich
ohne Zurechnung, and diese wieder stand for das Bewusstsein des Zeit-
alters im engsten Zusammenhange mit der ..nu'uschlichen Freiheit'*, daher
auch die Freiheit als dritte practische Fordei-ung neben Gott und Un-
sterblichkeit sich stellte, welcher Werth ihr doch offenbar nur im Zusam-
menhange mit der practischen Zurechnung des Guten und BOaen zukam.
,JPreiheit ruft die Vernunft" — und die Vomunftkünstler räumen ihr sie
willig ein. Damit ist die Autonomie des menschlichen Subjects auch
auf dem (Jebiet des Handelns prnclamirt: Avie die Logik, so erhält
auch die Ethik einen psychologischen Unterbau, und das Theoretische ist
gleich bei der Hand sich noch weit«r auf demselben auszubreiten. Es
ist bekannt, wie auch die nächsten Fortbildner Kant's wesentlich vom
practischen Interesse erfüllt sind. So Keiniudd, der erst auf Grund des
Xriticismus sich mit seinen religiösen Bedenken aussöhnen kann (vgl. K.
Fischer, Gesch. d. n. Phil. V. S. 43, 54 f). Es kommt die französische
Bevolution dazu, die dem Freiheitsstreben eines ganzen Volkes einen ge-
waltigen Ausdruck gibt Fichte, der sie mit Eijthusiasmus begrusst,
gründet seine ganze Philosophie auf das Freiheitsgefülil (vgl, Anm. 7).)
und Schelling prophezeit in der Vorrede seines Schriftchens vom Ich
mit begeistertem Tone der Menschheit einen neuen Aufschwung von dem
Tage an, da sie ihrer Freiheit sich bewusst werde.
So drängte Alles darauf hin, den Gesannntbau des Wissens und
Handelns auf die Souveränetät des menschlichen Subjects zu gründen.
Das System iiothwendigen Erkennens wurde dadurch gewonnen, dass man
es aus der Xatur des Geistes selbst her^'orgehen liess. Die Formen allein ge-
nügen den kfUineren Nachfolgern Kant's nicht mehr; auch allen Inludt
unserer Erkenntniss machten sie zu einem Prodnct der nothwendigen That-
handlungen des Ich. denn nur so ^^-urde das gesammte Wissen ein durch
und durch nothwendii^t s, apodiktisches. Es ent^>tand auf diese Weise eine
merkwürdige Art von Philosophie, die wohl in der Geschichte —
Die historische Stellung d. Herbartischen Jlletaph.
soTicl man aneh Parallelen fBr sie gesncht bat — einzig dastolit.
Sie ist Bationalismns vom reinsten Wasser, denn sie kennt nur
nothwondig-os "Wissen aus absolut festen, apriorischen Priiii i]tion. Um die
Erfahniug kfiimiicrt sie sicli irar nicht, sondoni deducirt den j^anzon
"Weltinhalt aus dem reinen Gedanken. Das wäre nichts Neues; über man
hatte sich zn derartigen Y^rsnelien bisher der Ablieben Aristoteliseben
Logik bedient; diese hatte als die letzte metodologische Instanz gegolten.
Für Fichte ist sie es nicht mehr. Das Erste sind ihm die absoluten
Thathandluncren seines leb, und aus ihnen erst erhält die hergebrachte
Logik ihre Ableitung und Rechtfertigung ^'^). Und als Hegel einsah,
es fehle dem nenen System doch einigermassen an der gehörigen metho-
dischen Begründung und Formung, war man bereits soweit gekommen,
dass man die alte Logik verabschieden und sich aus dem dialektischen
Weltprocess, m "vvelcliem schliesslicb die SelbstentAvickelun.L'' des leb j^-e-
wordeu war, eine neue construiren konnte. Der principicÜe Fehler war
freilidi sehon Im Kant vorhanden, nur das sein nfichtem nnd exact an-
gelegtes Denken nicht die letssten Consequenzen desselben zog.
Man hat Kants System zutreffend einen phänomenalistiscbeu Katio-
nalismus genannt. Wollen wir aber eine Formel finden, welclie ihn und
seine eben characterisirten Nachfolger umfasst, so ist der Ausdruck nicht
entsprechend; denn bei den letztwen ist von Phänomenalismns Nichts
mehr zn spuren (tgl. oben S. 61). Daher möchte ich einen anderen
Namen vorschlagen, welcher das Gemeinsame dieser ganzen, im weiteren
Sinne Kantischen Strömung bezeichnet: psychologischer Ivationa-
lismus. Ich nenne ihn so im Gegensatz zum logischen Kationalis-
inns, der den Satz des Widerspruchs nnd die von Aristoteles ausgebil-
dete formale Logik als oberstes Begnlativ ansieht, wfihrend jener psydio-
logische Rationalismus, wie schon oft hervorgehoben, die Enverl)ung von
Kenntnissen aus dem reinen Denken, das allgemeine und notliwendige
Wissen aui' durchaus psychologische I?rincipien begründet. Der angege-
bene Käme deutet besser, als die bisher übliche Bezeichnung als „Idea-
lismus" den eigenthümlichen methodologischen Character jener ganzen
Richtung an. Ihr Versuch, die Hauptschwierigkeit bei allem Kationalis-
mus, nämlich wie dorselbc für seine logischen Formen den erforderlichen
Inhalt finden soll, dadurch zu beseitigen, dass man allen Erkenntnissge-
halt a priori in das „Gemüth** verlegt und durch diese Idealislrung rati-
onalisirt^ verdient jedenfäls eine besondere Stelle unter den geschichtlich
gegebenen erkenntnisstheoretischen Ansichten.
In diese von Kaiit ausgehende Entwicklung-sreihe passt nun Her hart
mit seiner Metaphysik ganz and gar nicht hinein. Eines zwar hat er
mit jener gemein: den Bationalismus. Seine philosophische Efitwicldung
nimmt — gleich derjenigen Schelling's — den Ausgang vom Streben
nach einem allumfassenden a priori zu ronstrairciiden System d<'S Welt-
erkennens, und diesem Plane bleibt die Ausführung treu. Zwar spricht
Herbart viel von der Erfahrung, aber im Grunde genommen ist sie bei
ihm doch mehr Zielpunet, als Ausgangspunkt der Metaphysik. Denn
das an der Schwelle des Suterns stehende „Gabens" macht einen so
winzig kleinen Bruchtheil unseres Erfahmncfswissens aus, dass hier von
feiner Erfahrungsbasis — im beutigen strengeren Sinne des Wortes „Kr-
fahrung*' — nidit die Rede sein kann. Im Sein, auf welches das „Ge-
uiyiii^uü üy Google
n. ^ffistoriscsh-syitematologisclie Stelhmg.
65
^ebene" schliosseii Iflsst, lie^ der Keim, aus dem nun in der Tri ibhaus-
Atmosphäre des reinen Denkens das System mit Stamm, Aebteu und
Zweigen üppig emponcliiessi
Siebt also der rationalistische Character der Herbartischen Meta-
physik ausser Zweiffl. so unterscheidet t r sich doch wesentlich von dem
durch Kant begründeten psychologischen liationalismus als ein rein lo-
gischer. Herbart hat als alleiniges Kriterium des Erkenntnisswerthes
4en Satz des Widenprachs, alle Ableitung durch Entwicklnng ans apri-
orischen Geistesanlagen weist er entschieden zmrnck, und seinen Staiid-
punct g-egreniibcr dfin Wissen um Thatsachen. als dessen Princip >:eit
Leibniz der Satz d< s /ureichenden Gnindcs galt, spricht bezeiclmend die
. Habilitationsthese aus: rrincipium rationis snfßcientis domunstrari potest
etc. (s. oben S. 36). Also ganz wie bei WoUf : der Satz des zureichenden
Gnmdes wird logisch ans dem Satze des Widerspnichs be^siesen. Das
CciusalLTfsetz bedarf keiner anderen Fundining. als des formal-logischen
Denkens — Hume und Kant sind übeiilüssig gemacht. Auf eine ein-
gehende principielle Erörterung ihres wichtigsten Problems: ob und wie
Urtheile über Thatsachen ans blossem Denken möglich sind, hat Herbart
.^ich nicht eingelassen. Ihm bewährt sich die alte rationalistische Er-
kenntnissmeÜiode bei den ersten Scliritten und sie steht fortliin als schlecht-
hin giltig für ihn fest. "Weder d^r Empirismus zu dem Hume, noch der
psychologische liationalismus, zu deui Kant von jenem Problem aus sich
gedrflngt sieht, wird nach der principiellen Seite Ton ihm beachtet. Er
bleibt trotz der Enqniry nnd der Vemunftkritik auf dem Boden des her-
gebrachten EationalismnSy wie er zuletzt eine breite Darstellung beiWolff
gefunden hatte.
Herbart bemerkt es selbst gelegentlich, wie er sich zu der so viel-
Ikch heruntergebrachten .,ti.teren Schule" gar in keinem so schroffen
Gegensatz befindet, und wie er an Kant's Leistungen vom stan lpuncte
seines Systems aus ganz gleicliL'iltig vorübtTgt'ln'n mnss. Ki i rklart
geradezu: „Das eigentliche metaphysisclK^ ^Vissell ist durch Kant nicht
von der Stelle gekommen; die Fragen darnach sind auch nicht aufgehoben,
nicht beseitigt worden; sie stehn noch, wie sie gestanden haben, und
warten auf Antw(»rt" (III. 126). Darum kann er auch behaupten, „die
ganze Periode der dn i Männer (Kant, Fichte, Schelling) sei nur eine
Episode m der Geschichte der Philosophie" — eine Pehaui>tung, die
er allerdings selbst „gewagt" nennt, aber nur „darum, weil eine Episode
Toraussetzt, dass nach dem Ende derselben der Haupt&den des ganzen
Epos wieder angenommen, und gemäss seiner ursprünglichen Bestimmung
weiter gesponnen worde'* (III. 341).
Wir können Herbarts Stellung in der Geschichte der Philosophie
nicht besser bezeichnen, als indem wir ihn bei diesen seinen eigejien
Worten ihssen. Er kndpft unmittelbar an an den Bationalismus der
Iidbniz-Wolf&schen Schule. Freilich setzt er sich ihm in kampfbereiter
Positur gegenüber und versäumt nicht, als King-ang seiner Metaphysik
eine einschneidende Kritik an demselben zu vollziehen. Nun auch Freunde
streiten mit einander und das Interesse am Streit kann gerade einen
MasBstab abgeben ffir die Werthschfttzung, die man dem Gegner schenkt
Bor Hanptangril^ welchen Herbart wider die Schule richtet, geht auf die
Zusammensetzung der Dinge aus Essenz nnd Existenz und die Definition
5
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66
Die historwclie Stellang der HerbMtis<diea Hetaph.
der letzteren als complementum possibilitatie. Hier hatte, wie er meint,
Kant s Seform eingesetzt und an diesem Puncte mnsste sie cousequent
dtirehgefBhrt werden, nm dem kiitisclien Geschäfte KanVs zn seinem
Ziele zu verhelfen. In der That war der Punct wichtig genug, um eine
wesentliche üiflferenz beenden zu können. Srhen wir aber dann nach
dem Erfolg, welchen jene Kritik für Herbart's System hat, so drängt sich
uns unwillkürlieli die Frage auf: Wozu der Lärm? Becht besehen kehren
doch dieselben metaphysischen Begriffe, derselbe Inhalt, dieselben Ten-
denzen wieder, freilich etwas anders angeordnet, mit einem anderen metho-:
dologischen Gewände versehen, zum Thcil auch anders benannt. "Es
sind genau dieselben Fragen, um welche sich die Untersuchung dreht,,
und wir erhalten zum grossen Theil genau dieselboi Antworten. Dass-
-sich die Schule am Eingange des Systems ein Wdlchen unter den Be^
g^en des Unmöglichen und Möglichen hemmtreibt, mag man ihr als-
eine unerheblicho Spielerei nachsehen, denn dann kommt sie ja auf alle
für Herbart wichtigen Fragen zu sprechen: nach dem Was des realen
Weltinhaltes, d. h. nach den Dingen, ihren äusseren und inneren Eigen-
schalten, positiren und negatiTen Bestimmungen, nach Verinderlichem
und UnTeränderlichem, Substanz und Accidenz, Ein&chem und Zusammen-
g-esetztem, endlich nach Raum und Zeit u. s. f. — und die Antworten
sind vielfach denen, die Herbart gefunden hatte, zum Verwechseln ähnlich.
Es werden ebenso punctuelle Keale gelehrt^ die, einfach und unveränderlich,
die yerftndenmgen nur als modi in sich snfhehmen, —- eine Beieichnung
die auch auf das wirklich«' Geschehen in Herbart's Bealen vollständig
passen würde; sie wirken als Kräfte auf einander (wenigstens bei der
Mehrzahl von Wolffianem, welche nidit festhält an der praestabilirten
Harmonie), erzeugen durch ihr Zusammen und Aussereinander den Baum
— mit einem Wort: wir erhalten ein aus Begriffen metaphyrisch con-
stmirtes Weltbild'^) genau von demselben Aussehen, wie Herbart sieh
es denkt. Mögen auch in der Art des Auf bans vielfach Differenzen vor-
kommen, so ist doch die Totalanschauung der fertigen Systeme durchaus
die gleiche, so dass es unmittelbar geboten ist, Herbart in den nächsten
sachlichen Zusamhienhang mit Wolff zu bringen*^. Auf diesen Gesammt-
character kommt es ja in erster Bsihe an, wo wir die Aehnlichkeiten
der Systf'nio bestimmen, und dem gegenüber kann in der That das Ver-
faliren der Wolftisclieii fcichule, „das Seiende aus Essenz und Existenz
zusammenzusetzen, als eine unschuldige Grille erscheinen" (III. 205).
So steht Herhart noch unerschfitkert avf dem alten rationalistischen
Dogma, dessen conse(}uente Durchführung — selbst bis zu ausgeqirochenen
Absurditäten — ilin als nächt^tf-n Verwandten Spinoza's erscheinen lässt,
während der Inhalt seiner Lehre ihm die grosste Aehnlichkeit mit Wolff
verleiht Wie Herbart das methodologische Problem, den Streit zwischen
Bationalismns und Empirismus sich nie zn klnrem Bevusstsein gelnacht
hat, wie er die Zweifd, £e sidi hiebei aufdrängen, die Fragen, welche
Lösung fordern, so ganz und gar nicht begreift, geht auch an>! der
enormen Geringschätzung hervor, mit welcher er Hume, den classischen
Vertreter des Empirismus behandelt.^^) Zwar unterlässt er nicht, sich in
einem besonderen Capitel (All gem. Hetaph. §§. 60 ff.) auch gegen »den
gemeinschaftlichen Feind aller Systeme, den Empiiismns**^*) zn wenden^
aber was macht er sich da för einen Popanz znTecht,"nm ihn dann
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II. Hittorifcli-qftteiiuttoIogiBche Stellung.
67
mühelos in den Sand zu werfen! Zuerst wird uns der „Euipirismus im
Allgemeinen'' Torgeführt als „die Maxime, es bei den rohen Fn^dncteii
des psychologischen Mechanismus biwi-nden zu lassen.'* Dass es so
Ehvas ^ar mch\ irrlion kann, bemerkt nun fn-ilioli auch Herbart, denn
„wer die er^^;thutt' Maxime ausspricht, der hat schon ang'efang'en zu
denken." Dann war aber auch die Aufötellung der Definition, da sie
ganz nnd gar keine Anwendung finden kann, ja geradezu anf ein ün-
mi^gliches geht, höchst überflüssig. Eine gewisse Oriciitirung erhalten
wir erst. hv\om Herbart in den Umfang- des Begriffes ,4!^mpirismus" ein-
geht und uns Locke als Haupt der Empiristen nennt, nicht (wie aller-
dings zu erwarten gewesen wäre) weil bei ilim ,,auö Sensation und Bo-
flezion alle Erkenntnisse abgeleitet werden^ — dies wSre nnr der riditige
Weg zu einer wahren Psychologie und Philosophie — „sondern wegen
ih< r- siuniirendon Stillostehcns bei gewissen Dunkelheiten, die sii Ii «hirch
fortgesetztes Xachdenkeii gar wohl aufliellen lassen." (III. 11»4 fl.) Iler-
bart meint hier vor allen Dingen den Substanzbegriff, weichen Locke
bekanntUeh zu einem something I know not what gemacht und es daher
für nicht unmöglich — weil überhaupt nicht entscheidbar — «rUfirt
hatte, dass auch die ^Materie denken könne. In diesem Zusammenhango
vermag es Herbart dann, den ^laterialisnuis unt»'r den Empirismus ein-
zureihen und lezteren unmittelbar mit Spinoza zu verknüpfen {lU. 198 ff.)
Diese merkwürdige Znsammensftellnsg erweckt &st die Yennuthong, als
hfttte jedes System seine schadhi^n Stdlen für den Empirismus her-
geben müssen, deren Vereinigung dann natürlich die miserabelste Philo-
sophie liefert.'') Wenn aber wirklich das Stehenbleiben bei der Uner-
kennbarkeit der Substanz, bei der Möglichkeit eines einheitlichen Daseins-
grundes für materieUe nnd geistige Erscheinungen das Wesen des Em-
pirismus ausmachte — und das ist in der That, wie sich zeigt, bei Herharfc
die Hauptsache — so war auch Kant Empirist, indem er erklärte, von
den Dinpii an sich Nichts zu >vissen und sich wiederholt im Sinne
einer durchaus monistischen Anschauung vom Grundwesen der mensch-
lichen Brscheinnng aussprach. — Jedeiufalls wird sich der heutige Empi-
rismus von den Streichen, welche Herbart gegen ein PhantasiegebUde
dieses Namens tührt^ nicht getroffen fühlen.
Indess trotz des i'l)en betonten Mangels der H<^rbai-tischen Metaphysik
in ihrem Verhältniss zu Kant darf das geschichtliche Urtheil über sie
nicht so schlechthin abfallig lauten. Bleibt es Kant's Verdienst, das
methodologische Problem in Dentsdiland zuerst deutlich erkannt nnd auch
halbwegs klar ausgesprochen zu haben, so wird allerdings dm'ch den
LOsungsversuch , den er demselben zugewandt hat, der Werth seiner
Leistung erheblich vermindert. Im liationalismus bleibt auch er befangen,
nur gibt er diesem eine neue Formung: er schafft, wie ich dies oben
darzulegen versndite, den pfl^chologischen Bationalismns. Die Früchte,
die derselbe zeitigte, der Umsturz alles geregelten wissenschaftlichen
Verfahrens, die Verabschiedung der Logik und der exacten Forschung,
lassen über seinen Werth kaum mehr einen Zweifel bestellen. Ueber der
neugefundenen Art der Systemconstniction war den Fortbildnem Kant's
das Bewusstsein des metiiodologischen Problems wieder total abhanden
gekommen. Um so weniger kann es Herbart zu schwerem Vonvurf ge-
reichen, dass ihm das Gleiche passirte. Dass er dagegen vom Stand-
5*
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68 hiitorische SteUuog der Herbaitischen Metaph«
])uii( tp seines log-ischeii Rationalismus aus jener ^^anzen Kichtung sich
entgegenstemmt^^, hat ihm die Geschichte wohl als wesentliches Verdienst
anzurechnen. EOnnen die altbewährten logischen Methoden auch &at
eine inhaltlielie Krkenntniss nicht viel leisten, so arbeiten sie «lodi, so
weit sie fehlerlos gehandliaht werden, durchaus sicher. Und was vor
Allem wichtii? ist: die streuire Einhaltung' und Uehuiitc dieser Fonnen
gibt dem Geiste die Zucht und Schulung, welche ihn vor Gedankensprüngen,
Tor < schweifenden, vageti Gonceptionen, überhaupt vor jener crassen ün-
wissenschaftlichkeit hüten. ^Yel(ile auf dem Gebiete der Philosophie so
oft ihr Wesen sretrieben hat. Herbart und seiner Schule gebührt der
Ruhm, eine Zeit lang in den philosophischen Kreisen Draitschlands den
nahezu einzigen Hort einer solchen strengeren philosophischen Sinnesart
gebildet zn haben, die sich das l^ntheton „exact^ im Vergleich mit den
conconirenden Systemen wohl ohne Scheu beilegen durfte. Diese hatten
die Grundlage aller wissenseliaftlichen Forschung vernichtet und damit
das erkenntnisstheoretische Problem völlig erstickt. Herbart dagegen
stellte die Philosophie wieder auf jenen Boden, aus welchem dasselbe
nnter günstigen Bedingungen binnen Enrzem an& Nene emporkeimeh
mnsste. Allerdings sind in dieser Beziehung nun bereits die Bemühun-
gen, Kant richtiger — vor allen Dingen historisch — zu verstehen, so-
wie englische Einflüsse zuvorgekonimen und haben ihrerseits unmittelbar
Anlass zu einer Reform der Anschauungen gegeben.
Das Ei^bniss, zn welchem* wir, rein an den Inhalt des fertigen
Systems uns haltend, über die Stellung der Herbartischen Metaphysik
innerhalb der Gescliirhte der Philosophie gelangt sind, stellt im ])esten
Einklänge mit der Entwicklungsgeschichte derselben. Allerdings war
dort kein Anlass gegeben, in breiter Ausführlichkeit über den Einäuss
der WolfBsdien Philosophie zu sprechen, aber nm so markirter konnte
auf die für Herbart durchaus fimdirende Bedeutung dieser Einwirkung
hingewiesen werden. "War dagegen der Einfluss Fichte's in weit grösserem
Umfange zu behandeln, so wäre es doch sehr verfehlt, deshalb Herbart
auch in die von Kant ausgehende Richtung, welcher Fichte angehört,
einzureihen. Denn so weit jene Einflüsae auch reichen mögen^ so haben
sie doch Herbart dieser Richtung in keiner "Weise angenähert Ich habe
gehörigen Oi-ts im Einzelnen darzulegen versucht, wie selbst das Positive,
welches Herbart von Fichte in seine eigene Philosophie heriibernimmt,
hier eine durchaus veränderte Form gewinnt und immer nur dazu dient,
diese in der anfänglich eingeschlagenen Ißehtung auf den logrischen Ba-
tionalismus zu bestärken. Daher geschieht es vGllig in üebereinstimmung
mit jenen entwicklungsgescliichtlichen Thatsachen, wenn unser bloss nach
den inhaltlichen Bestimmungen sich richtender Gruppirungsversuch zum
Resultate kommt: Die Metaphysik Herbart's gehört unter die von Des-
cartes anhebenden logisch-rationalistisdien Systeme der neueren Philo-
sophie, wobei sie am nächsten der Leibniz^Wolffischen Schule sich an-
schliesst, und steht dadurch im Gegensatz zu dem von Kant begriindeten
psychologiscken Rationalismus des sogen, deutschen „Idealismus".
Die bloss historische Würdigung der Herbartischen Metaphysik, die ich
aus dieser ihrer geschichtlichen Stellung ableitete, wird nun freilich Vielen
nicht g(>nügen. Herbartische Gedanken finden sich noch so mannigfach
in den philosopischen Uebeizengungen der ciegenwart, dass jene heut«
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JH. Kritische Beleuchtung des Herbartischen Kationalismus. 69
noch in der That eine mehr als bloss historische Bedentimg für nns
besitzt. Zudem mag man mit Becht eine nähere Begründung der werth-
Fchätzendeii Beurthcilung', wie ich sie wiederholt in meine bisherig;«' Dar-
stellung einfliessen Hess, von mir fordern. Diese Ansprüche zu hefrie-
digen^ soll die Aufgabe des nächstfolgenden letzten Abschnittes sein.
IIL Kritische Beleuchtung des Herbartischen
Ratioiialismu&
Dass ich diesen Abschnitt noch der Betrachtung über die historische
Stellung' der Herbartischen Metaphysik einreihe, rechtfertigt sich leicht
dnrcJi die Bemerkung, dass eine Kritik auch nur dem Verhältniss ihres
Objectes zu dem ebenfalls geschichtlich gegebenen Standpunct, den sie
selbst einnimmt, Ausdruck gibt. Die Ueberschrift des vorliegenden Ab-
schnittes hätte daher auch lauten können: Stellung der Herbartischen f
Hetaphjsik zum gegenwärtigen Stande der Philosophie,' wodurch dann
die Coordinotion mit den beiden Tonmsgegang» neu Abschnitten augen-
fiilliger geworden wäre. Allein nun einem solchen Titel gerecht zu werden,
müsste man den vielverzwcig-teii ( i estaltnncrfn der modernen philosophi-
schen Bestrebungen viel weiter nachgehen, als ich es thatsächlich zu
thnn gedenke.
Eine gewisse üebereinstimmunp- scheint übrig-ens innerhalb derjenigen
Kreise, wo ein strengerer Beti'ielt der philosophischen Forschung geflegt
wird, doch wenigstens rücksichtlich der zu losenden Aufi^aVien zu herr-
schen. Vor allem ist man hier bemüht, über die spucihsch erkenntniss-
theoretischen Fragen ins Beine zn kommen, nnd dabei ddrfte das Haupt-
interesse dem allgemeinsten und ersten Problem der Erkenntnisstheorie,
der Frage nach (len ^lethoden der Erkenntnissgewinnnng zufallen. Weit
wichtiger und erlieblicher als der Streit um Kealisnius oder Phäno-
menalismus — um diese schärfere Bezeichnung statt des vieldeutigen
Wortes Idealismus zu gebrauchen — , ist gegenwärtig derjenige um Batio-
nalismus oder Fiiupirismus.
Das tliatsachliclie IJestehen eines solchen Kaui]ifes zeiirt an, dass es
noch keineswei^s überflüssig ist, im Anschluss an geschichtlich gegebene
Systeme die Haltbarkeit jener entgegengesetzten Methoden zu prüfen.
Auf Seiten des Bationalismus bietet hiezu die Metaphysik Herbart*s ein
besonders geignetes Object dar; denn weit mehr, als andere rationalis-
tische Systeme hat sie sich von überlieferten S<-l)olasticismen freigemacht,
sie zeichnet sich vor jenen aus durch eine grrissere Strenge der logischen
Durchbildung, durch mehr Präcision und Klarheit der Darstellung und
endlich durch eine entschiedene Tendenz, der Er&hmng in nmlkssendem
Masse Rechnung zu tragen. Freilich dürften diese Vorzüge nur geeignet
sein, die Mängel des Katinnalismus desto schärfer liervortrete zu lassen
und zu einer, man kann sagen t)'i)ischen Ausprägung zu hingen.
Eine classische Characteristik dieses Typus hat der vorkriti-
sche Kant geliefert, die ich als leitenden desichispunct — zugleich
der heutigen Kantmode damit meinen Tribut entriditend — der weiteren
Ausführung yorausschicke. „Man muss wissen, dass alle Erkenntniss
L^iyiii^uO Ly Google
70 historische Stellung der Herbartischen Metaph.
»
• zwei Enden habe, bei denen man sie' &88en kann» das eine a priori,
das andere a postericni. Zwar haben verschiedene X^atmielirer iiMur rer
Zeit vorgegeben, man mfisso es bei dem letztt rcn anfanirnn nnd g^laubcn,
den Aal der Wissenschaft bfiin Schwanz^ zu envischen, iiKlciii sif sich
grausamer Erfahrungserkenntiiisse versiclieni und denn so allmälig zu
allgemeineren nnd höheren Begi-ilfen hinanfrficken. Allein ob dieses zwar
nicht unklug gehandelt sein möchte, so ist es doch bei "VVcitt^m nicht
gelehrt und philosoiiliisch g-onug: donn man ist auf «lios<- Art baM auf
einem Warum, worauf keino Antwort gegeben werden kann, w.'lchos
einem Philossophen gerade so viel Ehre macht als einem Kaufmann, der
bei einer Wechselzahlung frenndlich bittet, ein ander Mal wieder anzu-
sprechen. Daher haben scharfsinnige l£änner, om diese Unbequemlich-
keit zu vermeiden, von der entg<'gengesetzten aussersten Grenze, näinlirh
dem obersten Puncte der Metaphysik angefangen. Es findet sich aber
hiebei eine neue Beschwerlichkeit, nämlich dass man anfängt, ich
weiss nicht wo, nnd kommt, ich weiss nicht wohin, nnd dass der Fort-
gang der Gründe nicht auf die Erfahnmg treffen wiU, ja dass es scheint,
die Atniiicn des Epikur dürften eher, nachdem sit» v^n Ewigkeit her
immer gefallen, einmal von ungefähr zusammenstossen, um eine Welt zu
bilden, ahj die allgemeinsten und abstractesten Begriffe, um sie zu er-
klären. Da also der Philosoph wohl sah, dass seine Yemnnftgr&nde
einerseits und die wirkliche Erfahrung oder Erzählung andererseits, wie
ein paar Parallellinien wohl ins rnendllche nebeneinander fortlaufen
würden, olme jemals zusammenzutreffen, so ist er mit den Uebrigen, gleich
als wenn sie darüber Abrede genommen hätten, übereingekommen, ein
jeder nach seiner Art den Anfangspunct zn nehmen nnd daranf nicht in
gerader Linie der Schlussfolge, sondern mit einem nnmerklichen Clinamen
der Bewf'isiL,n ünde, dadurch dass sie nach dem Ziele gewisser Erfahrungen
oder Zeugnisse verstohlen liinschielten, die Vernunft so zu lenken, dass
sie gerade hintreffen musste, wo der treuherzige Schüler sie nicht ver-
mnthet hatte, nämlich dasjenige zn beweisen, wovon man schon Torher
wusste, dass es sollte bewiesen werden. Diesen Weg nannten sie alsdann
noch den Weg a priori, ob er gleiclnvohl unvermerkt durch ar.str<'steckte
Stäbe nach dem Puncte a posteriori gezogen war, wobei aber billiger-
massen der so die Kunst vei-steht, den Meister nicht ven*athen muss"
(Tränme eines Geistersehers II. Thl. n. Hptsi Kh^hm. S. 109).
Um nachzuweisen, dass diese Characteristik im vollsten Masse auf Her-
bart zutrifft, dass sein vermeintliches Apriori entweder Wahrlirit ;i posti riori,
oder aber mit der Erfahrung unvereinbar ist, dass er nur durch Umbie-
gung und Fälschung von Erfahmng und Denken seinem Ziele, der an-
gestrebten Uebereinstimmung beider, sich annähert, ohne es doch schliess-
lich zu eneichen, knüpfe ich an an die Stellung Herbart's zur Kantischen
Cmndfrage, auf welche schon die geschichtliche Betrachtung als auf den
Incidenzpunct für die Kritik hingewiesen hatte (S. 58).
Die erheblichen Seiten dieses Verhältnisses haben dort auch bereits
eine Torlfiufige Beleuchtung er&hren. Die Frage Herbart's, welche in
weitnem Umfani,'e und mit giösserer Tragweite das Kantisdie Problem
aussprechen soll, lautet: Wie kJ>nnen Gründe mit Folgen zusammenhän-
gen? Ihr Sinn ist ebenfalls: Wie ist eine Erweiternn^- unserer Erkennt--
niss möglich, und zwar eine Er^veiterung von apodiktischem Werthe?
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III. Kritische Beleuchtung des Herbart ischen iiatioiialismus. 71
Bio Schwierigkeit freilich, welche Herbait m finden glsaH fS^^^ iMit
auf die Unzulänglirlikeit des priiiripium oontradictioiiis zur Er/eugmig
ntnicn Wiss(*ns, söiidcni lifirt darin, dass dit« Fo\gc in dem Omnde ent-
halten und doch etwas von ihm Verschiedenes sein soll. Solauge das
Nene, wi^^ebes in dcor Folge sich findet, nnr auf die Fom der beieitB
vordem vorhandenen Erkenntnissmut4?rie sich besieht, ist die Lösung ein-
facli. Die Form bemlit auf einer Verbindung, Zusammenfassung'. Der
Grund muss also ein Mehrfaches sein, das in veränderter Zusammenfas-
sung die Folge ergiebt. Ein naheliegendes Beispiel liefeit der Syllo-
gismus (m. 6. lY. 39). Wie aber nnn, wenn die Folge der Materie
nach Yon dem Gnmde Terschieden sein soll? Wie kann in apodiktischer
Weise ni^ner Wissensstoff aus den v irliaiidenen Prämisst-n lien(>rirehen?
— I3er (irund, lautet Herbart's Antwmt, niuss so besdiaften st in. dass
er nicht allein gedacht werden kann, daher eine über seinen Inhalt hin-
ausgehende Ergänzung fordert, durch die er denkbar wird. Undenkbar
i>t. was sich widerspricht; der Gnind muss also dnen Widerspruch ent-
halten, dessen Lösung erst durch die Ergilnr.nng' bewerkstelligt wird. Auf
diese Weise schreitet das Denken in noth wendiirt-m Ganire von Grün-
den zu Folgen fort, denn Nothwendigkeit wird immer erzielt durch Auf-
hebimg des logischen Widerspruchs. Dadurch aber, dass hier der in der
Erfafarnng vorgeAindene W^iderspruch nicht einfach negirt, sondern durch
Ergänzungen gelust wird, erzielt man zugleich eine wahre Synthesis,
deren Schema die Methode der Btzifhungen folg-endennassen formulirt:
Bestehe der Widerspruch in der geforderten GleicliSetzung der einander
widerstreitenden Begriffe H nnd N, so mnss mit denselben eine Yerftn^
dening vorgenommen werden, die wir durch Hinzufagung der Buchstaben
X und Y andeuten, so dass der Satz nun heisst M -f- X = N -j- Y,
nnd es muss die Verändenmg so i,'ewählt sein, dass hieraus der Wider-
spruch verschwindet. Olfenbar hat durch Hinzufügung des X und Y, die
nicht ursprünglich in M und N lagen, ein sjuthetischer Fortschritt des
Benkena stattgelhnden.
Der Einwand, welcher schon vom Kantischen Standpuncte aus die
Haltbarkeit dieser ganzen Theorie in Frag-p stellt, wurde bereits (S, 58)
ausgesprochen. In der That sollte man meinen, die Einsicht, dass es
unmöglich ist, die Apriorität synthetischer Urtheile durch den Satz des
Widersi^rnchs an begründen, sei ssa ein&ch, als dass sie jemals einem
Denker hätte verborgen bleiben kOnnen. Der Satz des Widerspruchs ist
schlochterdings unfähig, irgendwie neue Verbindungen zu stiften, oder
auch nur in ihrer Giltigkeit zu rechtfertigen: Seine Function beschränkt
sich vielmehr darauf, unzulässige Verbindungen abzuwehren; er kann
daher allein in dem Masse zur Anwendung gdangen, als er fertige Ver-
bindungen vorfindet. Die Meinung, den Satz des Widerspruchs fruchtbar
zur Gewinnung neuer Synthesen verwenden zu können, wird somit jedenftills
auf eine Illusion hinauslaufen. Die Art und Weise, wie Herbait sich in die-
selbe hinehmbeitet ist für sein Fhilosophiren und namentlich für seine
Behandlung der nEr&hning" characteristisch «nd ändert dadurch zn etwas
näherer Betrachtung auf. Dieselbe wird sich übersichtlicher gestalten,
wenn ich sie nach der doppelten Fonn, in welcher der Satz des Wider-
spruchs auftreten kann, in zwei Theile zerlege.
In seiner ein&chsten Form ist der Satz des Widerspruchs nur der
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72
Die historische Stellung der Herbartischen Ketaph.
negative Ausdruck des IdentitÄtsgesetzes und wird in die Formel gefasstt
A ist nicht == Non-A, d. h. es ist unmög^lich, dass ein Donkohjeci
sich nicht seihst gleich sei. Ahgesehen davon nun, dass diese ewige
Sicimelbstgleichheit eines jeden Gedachten zwar unumstOsälich gewiss, aber
Ar eine Fortbewegung unseres Denkens schlechfhm unfrnchtbar ist»
scheitert das Unternehmen Herbart^s schon daran, dass ein derartiger
Widerspruch geg^en das Identitfttsgesetz gar nicht gegeben
werden kann.
In der That glaubt aber Herbart, in einigen Yorstellungsweisen,.
welche nns die Er&hrang liefert, solche Widersprüche zu entdec&en. 80^
in der beanspruchten Identität des einheitlichen Dinges mit seinen meh-^
reren Merkmalen (I. 186. III. 19. IV. 100), und in der Vorändening, durch
welche das Ding seiner eigenen Identität verhistig geht, indem es jetzt
ein solches und gleich darauf ein anderes ist; dieser Process des Au-
derswerdens soll sogar die Idendität von Sein nnd Nichtsein in sich
schliesseü (I. 20B f. III. 21, IV. 121 f.). Im Gontinumn feiner, meint,
er, widerspreche sich die geforderte Gleichsetzung einer endlichen (iriisse
mit einer unendlichen Anzahl von Theilen (I. 180 ff. IV. 150 f.). Das
Ich endlich soll die Identität von Subject und Object beanspruchen und
damit die offenbarste Yeiletzang des Identitätsgesetzes enthalten (1. 192
f. ni. 36. IV. 301. V. 274). Sehen wir diesen yermeintlichen Wider-
sprüchen etwas näher auf den Grand. Sie sollen gegeben sein, also in.
der Erfahrung sich vortinden.
Zuerst also: was sagt die Erfahrung über das Ding mit mehreren
Merkmalen? Sie sagt, dass in der nns umgebenden Erschdnungswelt
gewisse Eigenschaften, Empfindungsqualitäten und Fernen, in constanter
Verbindung vorkommen. Eine solche constante Cuniplexion nennen ^vir ein
Ding und bezeichnen sie mit einem Namen''*). Was mit einem Namen
bezeichnet wird, ist auch Eins — kann der Philosoph sich durch diese
schlechte Metaphysik der Sprache auch mir einen Moment hintergehen
lassen? darf er ihr vollends die Anknüpflingspuncte für sein Pkilosophiren
entnehmen? Eine strenge „Erfahrung" geht über diese schlechte Met«iphysik
sofort hinaus. Es fällt ihr nicht ein, zu sagen: das Ding ist schlechthin
Eins, sondern sie nimmt die Sache genau so, wie sie dieselbe bei kritischei;
Betrachtang vorfindet: Ding bezeichnet Nichts als eine constante Complezion
von Merkmalen, also ist der Satz Ding = Merkmale nur eine Worterklärung,
die mit dem Identitätsgesetz noch gar Nichts zu thun hat. Dieses tritt erst
in Kraft, wo wir einen bestimmten Denkinhalt sich selbst gleich setzen:
Ding = Ding, d. h. Merkmale s=z Merkmale. Sehen wir nun bloss auf
die Fonn, so ist diese allerdings bei dem Dinge Einheit, d. h. Einheit
der Verbindung, mit Rücksicht auf die Merkmale aber Vielheit. Also
kämen wir hier doch zur Fonnel Einheit = Vielheit? Allerdings, —
nämlich: Einheit der Verbindung = Vielheit des Verbundenen, oder: ein-
heitliche Verbindung des Vielen = Vielheit des einheitlich Verbundenen.
Hier ist denn oifenbar, wie der Schein des Wider^rochs nur danms ent-
sprangen ist, dass genan derselbe Inhalt von zwei verschiedenen Seiten
aas aufgefasst wurd<'.
Fand aber Ilerbart in dem Ausspruch der Erfahrung: Einheit des
Dinges = Vielheit der Merkmaie wirklich einen Widerspruch, so hat er
denselben mit aller methodischen Efinstelei nicht gelöst; denn woiaof er
uiyiii^uü üy Google
HL Kritische Beleuchtung des Herbartischen Hatiunalismus. 73
cBliesslich kommt, ist auch nmr, dasB diese Einheit eben nicht eine wahre
Einheit, sondern eino Vielheit yon Bealen sei. Das Einschiebsel eines
mittelpunctlichen Realen, seiner sogenannten Substanz, die den Character
der Einln'it Ix^tlingen soll (IV. 108), ist hiebei völlig irrelevant. Also
es bleibt der Satz bestehen: Einheit = Vielheit. Was als Lösuugsver-
snch vorgetragen wd, hätte man sieh ein&ch von der reinen Erfiirung
können schenken lassen, und dam keiner logisch-specnlativen Knnststfick-
chen bedurft. Pik Ii fn ilich, man wird es auch sonst bestätigt find'-n,
dass es weit sihw« rer ist, eine reine Erfahrung, als ein reines Denken
m Stande za bringen.
Zur höchsten Ungereimtheit soll sich der Widersprach in 'der Ver-
änderung steigern, denn diese statoirt, wie Herbart meint, geradezu die
Identität verschiedener Dinge. Die Complcxion von Merkmalen, die ich
jetzt wahrnehme, ist im nächsten Moment eine andere und doch soll sie
ein und dasselbe Ding darstellen. Dies letztere ist aber eine pure Er-
schleichung, der Nichts als eine fUsche Hypostasimng des sprachlichen
Ansdracks zu Grunde liegt. Indem wir das Ding deftnirten lüs eine con-
Stante Complexion von Merkmalen, wurde über die Dauer ein'T sulrlit n
Complexion ganz und gar Nichts ausgesagt. !Man mag sich nur nicht
durch das Wort „constant" irreführen lassen, welches bloss die Anwen-
dung des Begriffs normurt, nnd nicht auf die Oestaltnng des realen Sach-
verhaltes sich bezieht. Die Thatsache, dass eine in concreto gegebene
Complexion nicht in dauennler Unveränderliclikeit besteht, das vielmehr
Merkmale austreten und durch andere ersetzt werden . stört, unsere Auf-
fassung daher nicht im MindesttMi. Nun hat man allerdings den Character
einer bestimmten Dinglichkeit (Snbstantialität) viel&ch bloss an einige
Merkmale geknüpft, und spricht, so lange sich diese vorfinden, noch im-
mst von demselben Ding. So hat der Chemiker denselben Körper vor
sich, solange dies<'r nach der Formel H2O zusammengesetzt ist, mag er
dabei fest, tropf barliüssiij' oder gasförmig sein, und es involvirt gar keinen
Widerspruch, wenn ihn die Chemie in alr diesen wechselnden Gestaltungen
als „Wasser*' bezeichnet. Man mnss eben nur beachten, dass die Defi-
nition des Chemikers lautet: Wasser — H>0. Dieselbe hört erst auf,
'/utrefTend zu sein, wenn durch Zersetzuntr der chemische Character des
betreffenden Stoffes aufgehoben whd, wenn also an Stelle der Verbindung
HsO das Gemenge 2H4-O tritt. Dieses nennt die Chemie aber dann anch
nicht mehr Wasser, sondern Knallgas. Der gewöhnliche Sprachgebraach
verfährt in dem angeführten Beispiele schon genauer, weil für das all-
tägliche Leben gerade die Aggregatzuständo des Wassers das Erhebliche
sind. Daher hält man hier durchgehends fest an der Distiuctiou: Eis,
Wasser, Dampf. Hicnach kann schon rein sprachlich das Gefrieren des
Wassers zu Eis keinen Widerspradi begründen, denn die beiden von ein-
ander verschiedenen Complexionen tragen auch verschiedene Namen. W^e-
niger distinct ist der Sprachgebrauch in anderen Fällen. Mit dem Na-
men Wachs z. ]i. bezeichnen wir einen bestimmten Stoff, sowohl wenn
derselbe fest, als wenn er flüssig ist; die Bedeutung des Namens geht
aber dann anch nur auf diejenigen Merkmale, die in beiden Fällen die
gleichen geblieben sind, daher die Entscheidung darüber, ob fest oder
flüssig, n<>ch die besondere Angabe der l)etretTenden Eigenschaft fordet.
So simpel und uberflüssig breit diese Ausfülunng erscheinen mag, so
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74
Die lustorische Stellung ^er Herbartischen lletaph.
war sie doch Herbart gegenftber nOthig, um recht deutlich danuif hiniib-
wciscii, dai^s bei den Vorgäng-en der Veränderung für die Verletzung des
Idrntitätsgcsf'tzes di»« Griindbodingung, nämlich das Vorhandensein eines
und de sselben SubjecU'b, das zugleich als ein verschiedenes sich erweisen
80II, fehlt. Nur eine höchst unkritische Hypostasirung des Namens kann
dazu verleiten, dass män in allen Verfindenmgen ein nnd dasselbe Ding
zu schon glaubt. Mit dem Wechsel der Merkmale verändert sich auch
das Subj< et und eine Handhal)e für den Satz des Widerspruchs ist nicht
mehr anzutreffen.
An diesem Pnncte fühlt sich allerdings die Herbartische Metaphysik
besonders stark. Sie glaubt eine sichere GewOhr für die Biobtigkeit
ihrer Ansicht in dem Causalbegriff des gewohnlichen Bewusstseins zu finden,
wfdchf's auch nur durch d»*n erw'ähnten Widerspruch zur nothwendigen
Annahme einer Ursache für jede Veränderung gedrängt worden sei (I.
177 Anm. iV. 119). Daher stamme auch die Apodikticität der Causal-
kategorie, die der Philosophie so ^ zu schaffen gemacht habe. Al-
lein ^e psydkologiBche Entstehung des Causalbegriffes wird gewiss nicht
in diesem Zusammenhange zu suclien sein. Die primitive Aiiffassnncr des
Geschehens ist vielmelir eine durdiaus anthroponiiuphistisclie, wo jede
Aendenuig als Aeusserung eines selbstständigen, mit freiem Willen be-
gabten Wesens angesehen wird. Zum Begriff einer causa transiens durfte
es in der TkAt erst aitf Grund der beobachteten Coexistenzen und Sue-
cessionon treVommen sein, wobei dann der Anthropomoi'phismns in die
Ursuclie überging, aus weklier ihn erst die neueste Pliilosophie allmälig
auszumerzen beginnt. Ebensowenig als die Entstehung kann aber die
wissenschaftliche Bechtfertigung des Cansalbegriffs auf Grund des Iden-
titätsgesetzes erfolgen, denn es fehlt der postnlirten Anwendung desselben
auf die Erfahning, wie wir sahen, jeglicher Ankiiüi>fnntrspunet. Wie
übrigens Herbart auf anderem AVege einen solchen thatsächlich gewinnt,
werden wir etwas später zu sehen haben.
Hier ist nur noch darauf hinzuweisen, dass ebensowenig, als bei dem
Ding mit mefanten Merkmalen, bei dem Problem der VerÄnderung die
Denkbewegungen, welrlie ITcrl^art unternimmt, sich irgendwie fruchtbar
enveisen. Der vorgefundene Wid-nspruch wird dadurch gelost, dass die
Veränderung nicht einheitlichen Existenzen, sondern dem wechselnden Zu-
sammen und Nichtzusammen vieler gesonderter Existenzen beigelegt wird
— also im AVesentlichen dasselbe Resultat, zu dem uns eine einfache
Analyse des Thatbestandes führte, nämlich zu einem Wechsel der coexisti-
renden Bestimmungen. Wäre dieser Wechsel nicht in der Erl;ihining ge-
geben, so würde ihn Herbart weder durch seine Speculation haben linden,
noch irgendwie als thatsfichlich bestehend haben veriflciren können. Die
ganze Auflösung besteht darin, dass, wie ^\\^ ^ v n vorn herein thaton,
die Auffassung, welche die Dinge mit dt iii i liaiacter strenger Einheit-
lichkeit und Beliarrlichkeit belegt, für falsch erklärt und die gegeuthei-
lige, durch die Erfahning unmittelbar an die Hand gegebene Ansicht da-
fär substitunrt wird. Wozu also noch die Umwege einer mühseligen Lo-
gistik? Und auch hier werden wir hinzufugen müssen, dass dasjenige,
was nach Herbart ein Widerspruch ist, d>w]\ bestehen bleil)t. Denn war
jener Thatbestand von Dingen, deren Merkmale sich zum Theil ändern,
auszulegen als Identität des Verschiedenen, so gilt durchaus dasselbe von
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m. Kritische Beleuohtuog des Herbertiscben Kationalismtu. 75
einem Complex mehrerer Beelen, deren einige bleiben, während andere
austret^'n.
Das Schlimmstf* ist nW-r. dass allt-iii iri,''('n(hvie »Tht'ldirhc
Schwierigkeit, wciclif* uns uei der AuftassuiiL;- d< t Vfiandi-ninj^ *'iit^n'i»'i iitntt,
nämlich der Vorgang des Werdens, in welchem Herbart — hierin mit
Hegel übereinstimmend — die Identität Ton Sein nnd Nichtsein zn finden
grlanbt, damit nun ^^r nicht beseitigt wird, sondern in dem weeliselnden
Zusammen und Niehtznsammen seinen Phitz l>th:ilt. Jene Identität von
Sein und Nichtsein ist allerdings nur das Pliatitasieproduct einer un-
klaren Speculatiou, und es kommt allein die Schwierigkeit in Betracht,
die far nnser Benken jedem Continnnm, also anch der continnirlichen
Aendemng anhaftet. Der logisch*- AViderspruch freilich, den Herbart aus
d» r (in Gedanken) unendlichen Theilbarkeit des Contiimnms ableitet:
endliche Grosse — »üner unendlichen Anzahl von Theileii d. h. Endlich-
keit = Unendlichkeit, ist ebenfalls nichtig. Es ist schon langst aus den
Kreisen der Herbartischen Schule selbst (Drobisch in den Berichten der
math. phvs. Classe der Kdn. Sächs. GesellsclL d. Wissensch. 1853. S. 155 ff.) die
erforderliche Berichti^-uiiir dazu gegeben worden: »'iid liehe Gn"sse = einer
unendlichen Anzahl unendlich kleiner Theilu. Die Mathematiker wissen
ja, dass die Formel & = 00 • -gg einen ToUkommen klaren, logisch [nn-
anfechtbaren Sinn hat, der in j^dem Integral wiederkehrt. Xur mnss man
festhalten, dass rnendlidikt ii hier nichts Anderes heisst, als Schranken-
losigkeit innerhalb unseres Denkprocesses, und nicht als in wirklichem
Fortschritt zu realisirend — wie dies bei den Eleatischen Beweisen wider
die Bewegung geschieht — gedacht werden mnss. Sollte Herbart mit
seiner Ausflucht, das Continuum berge wohl Widersprüche, sei aber nichts
Beales und daher gleichwohl zulässig, nur das eben Bemerkte sagen
wollen, so könnten wir dieselbe wohl annehmen. Allein bei seiner Art
sich auszudrücken, köimen wir uns durchaus nicht befriedigen. Lägen
nock wirkliche Widerspräche yor, so könnten wir sie anch in den Fonnen
unserer Weltauffassnng nicht dulden. Wir werden übrigens darauf hin-
zuweisen haben, dass es Herbart in der That gelingt^ duivli S'^ine AVider-
sitruihsdialektik wirkliche Widersprüche in das Contiuuuui hineinzu-
bringen.
Werfen wir jetzt noch einen Blick anf das Problem, welches nns in
der Entwicklungsgeschichte so viel beschäftigt hat, anf das Ich. Pi-üfen
wir hier wieder den Thatbestand, so sagt die Erfahmng, dass es Wesen
gibt, die in sich ein Bewusstsein von der sie umgebenden Welt und in
dieser Welt auch von ihrer eigenen Person finden. Die einzelnen Be-
wnsstseinsinhalte nennen wir Vorstellnngen; es gibt also anch eine Vor-
stellung der eigenen Persönlichkeit, der die Sprache für das vorstellende
Subject selbst den Namen ,,Ich'* gegeben hat. Das Ich findet alle Vor-
stellungen in sich und unttT diesen auch die Vorsttdhuig von sich selbst.
• Will man diese vollkommen klare und logisch, wie es scheint, in keiner
Weise anfechtbare Thatsache anf den Ausdruck bringen: Identitftt Ton
Subject nnd Object, so mag man sich dabei nur immer des inhaltlichen
Sinnes erinnern, der diesem Ausdruck zukommt, und nicht die Sache
für Widersprüche verantwortlich machten, die man bloss durch die Worte
hineingele^ hat. Die übrigen Schwierigkeiten, welche Herbart im Ich-
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76
Die historische Stellung der Herbartischen üetaph.
begriff findet» sind ebenfinlls logisch vollstftndig irrelevant» nnd entspringen
aus der hr)chst unzureichenden Fichte'schen Definition des Ich als des
sich selbst Vorstellenden. Dies ist gewiss das Letzte, woran Jemand bei
dem Worte Ich — dem es ganz und gar nicht, wie H(.irl)art (Y. 274)
meint, an der Materie fehlt — denkt. Der unendliche Cirkel aber, der
ans jener Definition entspringt, sollte ebensowenig Jemanden qnfilen, wie
etwa der Gedanke, dass man jede Schachtel in eine grössere stecken
kann, diese wieder in eine grössere u. s. f. ins Unendliche. Jeden be-
liebigen Vorgang kann ich zum übjecl meines Vorstellens machen, also
auch dieses Vorstellen selbst, dann wieder das Vorstellen des Vorstellens,
nnd anf diese Weise eine Unendlichkeit vorstellender Tbfttigkeiten in
einander schachteln — in Gedanken nämlich, denn auch nnr eine ge-
ringe Zahl dieser ins Endlose gehend<'n Uebereinanderthürmungen vor-
stellender Ich wird Niemand in Wirklichkeit auszuführen suchen. Ein
unbefangenes, der Natur der Sache hingegebenes und niciit in die
Winkelzöge überfeiner Specnlation hineingerathenes Denken wilide ans
jenen einfachen, klaren Thatsachen niemals logische Widersprüche haben
heraustifteln konneu. r»'berhanpt] lässt sich diese ganze Widerspruchs-
partie in Herbart's System nur entwicklungsgeschicbtlicb verstehen, in
welcher Beziehung ich die obwaltenden Zusammenhänge möglichst genau
zn kennzeichnen versncht habe (vgl. z. B. S. 17).
Vom kritischen Standpnncte ans kOnnen wir es diesen Versuchen
Herbart's gegenüber allgemein aussprechen, dass der strenge Satz der
Identität niemals durch die Erfahrung einen Widerspruch
erfahren kann. Eben auf dieser Unmöglichkeit einer Verletzung desselben
beruht die nnnmstßssliche Gewissheit, die er for nns besitzt Es ist
schlechthin unverträglich mit den Bedingungen unseres empirischen so-
wie auch denkenden Auffassens, dass ein und dasselbe' zugleich ein
Anderes sei. Aussprechen lässt sich ein solches Monstrum wohl, aber
nicht denken, und so laufen in der That die angelührteu Widersprüche
Herbart's anf lalsche Hypostasirangen der sprachlichen Bezeichnung
hinaus. Gesetzt aber nnn, wir meinten — wie Herbart — in unserer
Erfahrung auf so etwas zu stossen, dass ein Ding nicht es selbst sei,
so werden wir dadurch allerdings auf eine nothwendige Correctur unserer
AufiCassangsweise hingewiesen, — eine Correctur, die wii* eben an der
Hand der Erfiihrnng vornehmen mflssen. Wie aber dadurch eine Syn-
thesis a priori zu Stande kommen soll, ist ganz unerfindlich. Wenn nun
unglücklicher Weise die Auffassung von vom herein richtig gewesen
wäre und der r<iiTeetur durch dii' ..Methode der Beziehungen'* gar nii lit
bedurft hätte, war dann die so auf directem Wege gewonnene Erkeunt-
niss von geringerem Werthe? Nach Herbart gewiss, d.enn sie war ja
dann nicht durdi die „höhere Methode der SjnnSiesis a priori" erworben.
Dieser Frage werden wir auch liei der zweiten Form begegnen, in der
sich der Satz des Widerspruchs ausdrücken lässt und die wenigstens den
Vortlieil für Herbart bietet, dass sie durch das „Gegebene" thatsächlich
veranlasst werden kann.
In dieser Fonii ii innlich behauptet der Satz des Widerspruchs die
Unmöglichkeit eines Zugleichbestehens der beiden Urtheile A ist B und
A ist Non-B. Urtheile, die in dies<'m lo<ri«;rhen Widerspmrb st«dien,
können allerdings in unserem Erfahrungskreise sich finden und sind nicht
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HL KrilABoho BeleuchtuDg des Herbartiaohen BationaUsmiu. 77
nur im alltäglichen Leben, sondern auch in der Entwicklung der Wissen-
. Schaft Behr zahlreich nachweisbar. Hiemit scheint also ut der That das
Denken eine angemessene Handhabe für seine Operationen gewonnen zu
haben. Aber was soll das ,.Denken" eigentlich dabei anfangen '? Die logische
Fordemng «relit auf Negirung eines jt-ner heifl*»n Urtlicilf. Kann das Denken
aus sich heraus für das eine oder das andere sich entscheiden? Der
Yoranssetzung gemäss nicht; die Urtheile sollen beide durch die ErfSdurung
gegeben sein, und den gleichen Ansprach auf Giltigkeit besitzen; sonst
— wenn das eine einfiich for hinfällig erklärt werden könnte, wäre das
Problem ja gar nicht vorhanden. Es bleibt also Nichts ü])rig, als sich
abermals an die Erfahrung zu wenden, und sie zu befragen, welches Ur-
fbeil in Wahrheit bestehen bleibt und welches aufzuheben ist Denn
auch die blosse Yerftnderang durch die Methode ist als Auihebting, Un-
giltigkeitserkläning zu betrachten.
Genuh' die von Herbart cntworf^-ni' allgemein»' Lösungsformel, die
ich S. 71 kurz wiedergab, zeigt recht deutlich die Ohnmacht eines „apri-
orischen" Denkens in diesem Falle. Bleibt es für dasselbe schon völlig
nnentschieden, welches der beiden einander widerspiechenden Glieder
eigentlich verändert werden soUe, so steht es vollends rathlos da vor der
Frage, worin dif Acnd^ningen zu bestehen halMMi, was das X und Y be-
deuten solle"? Herbart hat sich diesen Einsichten zwar nicht völlig ver-
schlossen (vgl. IV. 52, 55) und schreitet sogar zur Bemerkung fort: „Man
konnte die Methode der Beziehnngen ganz entbehren, wenn man nur in
den einzelnen (sehr wraigen) Fällen, auf weh he sie passt, genau genug
dem Antriebe folgt, der in den Prol)lenien selbst enthalten ist". Gleich-
wohl hat er nicht vermocht, sich die unausweichliche Consequenz dieser
Gedanken, das Illusorische seiner ganzen Betrachtungsweise , klar zu
machen. Der Zweck 'derselben war ja, die Bildung syntiietischer Urtheile
a priori naehxaweisen. Dabei fasst Herbart in anfflfkennnngswertlM Yer-
meidinifr einer Kaiitisclien Vennisrhung das Apriori rein logisch als das
apodiktisch ^otlnvendig-e. Aber hinsichtlich der Nothwendigkeit ist er
noch ganz befangen in der Schulüberliefemng, welche dieselbe allein in
'der Negation des logischen Widerspruchs findet ,J)nrch das UngereiratOt
in welches man durch eine natürliche Unbehutsamkeit verfiel, wird man
erst dahin irel)racht, die Nothwendigkeit der richtigen Auffassung einzu-
sehen" (IV. 54). Abgesehen davon, dass die Ungereimtheit erst aus der
Aufliebung einer Nothwendigkeit entspringt, daher irgend eine unumgäng-
liche Syntiiesis immer das PrUnäre sein muss, ans welchem sich erst £e
Unmöglichkeit des Gegentheils ergiebt, dieser Unmöglichkeit somit auch
kein liöherer "Werth zukommt, als jener vorausgesetzten Nothwendigkeit,
abgesehen ferner davon, dass es selbst ungereimt scheint, den höchsten
Erkenntnisswerth erst aus einer vorausgegangenen Yorirrung entspringen
zu lassen, Shnlich fast wie im Himmel mehr Freude sein soll über einen
reuigen Sünder, derm über neunundneunzig Gerechte, — abgesehen von
alle dem bietet sich doch eben nach der allgemeinen Formel Herbart's
für Abstellung der vorgefundenen Ungereimtheit nicht nur ein Ausweg
dar, der dann allerdings mit der gleichen Nothwendigkeit einzuschlagen
wäre, als diejenige ist, wider welche jene Ungereimtheit streitet. Es sind
%1elmehr verschiedene Correcturen der widerspruchsvollen Auffassungsweise
möglich, somit keine derselben nothwendig, a priori festzustellen. Den
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78 hittoriBche Stellang der Herbartischen Metmph.
einzijfoTi Leitfaden zur Entdeckung und lu'olitsgrund zur Yerificinnig der
neuen Synthesen liefert die Erfahrung uml dieselben besitzen daher auch
nur eine empirische Giltigkeii Die ,,Methode der Beziehungen** mit
ihren wichtigthuerischon Fornn ln sagt gar nichts Anderes, als was df-r
natürliche logiscli.« Tact jedem klaren Kopfe unmittelbar eingibt: die
venneintliche Erfahrung muss falsch s»'in, es muss g<-naut'r auf den vor-
gefundenen Thatbestand geaclitet, derselbe muss nach allen Seiten ana-
lysirt, beleuchtet, unter die verschiedensten Bedingungen gebracht werden^
damit dadurch der F( hh r offenbar werde, der eich in die erste Auffassung
eingeschlichen hatte. Wir werden also hinge\viesen auf l?< oba< htung und
Experiment, dif walnhaft schi»pf»'rischen Hilfsmittel der Krkeniitnissg»'-
winnung, ohne dass uns jenes eingeschobene Mittelglied logischen Den-
kens, wie es die Methode zum Ausdruck bringt, das Geringste dabei zu
helfen, «xler den gewonnenen Resultaten ein höheres Ansehen zu verleihen
vermöchte. "*)
So ist es denn ein grosser Irrthum, wenn Hfrbart. meint, eino
„höhere Methode der Synthesis a priori'* ausfindig gemacht zu haben.
Eine Synthesis vermag seine Methode gar nicht zu stüten, sondern kann
nur auf einen Mangel in den vorhandenen Synthesra hinweisen, zu dessen
Entdeckung und Berichtigung sie aber Nichts zu sagen weiss. Dahrr
tragen die etwaigen neuen Synthesen, die auf Grund selbstfindiger Unter-
. suchung gewonnen werden, gar keinen anderen Charakter, als wie er den
besonderen Methoden zukommt, durch welche sie in Wahrheit erarbeitet
wurden. Geschah die Erwerbung derselben auf Grund der Erfahrung, so
sind sie aposteriorisch; konnten sie unabliängig von der Erfahrung fest-
• gestellt werden, so haben wir es mit apriorischen Erkenntnissen zu
thun. Ob es aber dergleichen gibt und wie sie möglich sind, bleibt trotz
der Methode der Beziehungen völlig unentschieden. Bie Kantische Grund-
frage steht nicht nur ungelöst, sondern überdies durch schiefe Auffassung
verdunkelt und verwirrt imiiitten der Herbartischen ^letapliysik da.
Dies ist um so schlimmer, als Herbart sich nicht gescheut hat. veri-
table Synthesen a priori zu vollziehen, welche die Frage nach dem quid juris?
recht emstlich herausfordern. Sie begegnen uns in den Bestimmungen •
über das absolut Seiende. Dass wir überhaupt von einem Sein sprechen,
geschieht wohl auf Cmnd der Erfiihmng, dass aber demselben die Eigen-
schaften der Einfacliheit, Unveränderlichkeit, Punctualität zukommen, ist
— wie Herbart selbst gar wohl weiss (vgl. z. B. IV. 139) — offenbar
Nichts, wovon uns die ErMmng belehrt, vielmehr sind diese Aussagen
alle aus dem reinen Denken geschöpft, d. h. streng apriorisch. Syn-
thetisch aber sind sie, da sie keineswegs blosse Identitäten constatiren.
Allerdings meint Herbart, indem er richtig bemerkt, sein ontologischer
Vortrag habe kein anderes Fundament, als den Begriff des Sein: „Dieser
wurde gewonnen durch blosse logische Analyse derjenigen Begriffe,
die wir bei dem Anfange des Philosophirens schon vurtiiid) n. Hier also
sind wir noch gar nicht aus dem gemeinen Gedankenkreise der Menschen
herausgetreten" (IV. 91). Allein jene venueintlich logische Analyse setzt
offenbar eine Synthesis im Seinbegriff voraus, die durchaus nicht so un-
• mittelbar von dem gewl^hnlichen Bewusstsein wird zugestanden werden.
Zwar wird für die Einfachheit des Seienden auch ein Beweis zu erbringen
gesucht {L 219 t IV. 83 £). Aber der nervuB probandi liegt darin, dass
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HL Khtiflohe Beleaohtimg des Herbartischen Bationalismua. 79
die Position keine Kelation enthalten soll — was nach Herbart's Meinung
bei einer Yielheit von Bestlinmiiiifeii dnMea würde — denn das ,3ela-
tive" streitet eben wider die „absolute Position." In der That ein
classischos Bfispitl, sich „aus Wortrn ein System bereiten" lässt.''*)
Dem gt'p'iiübt'r werden wir freilich an der wahrhaft ..Kantisrhen abso-
luten Tosition" festhalten, die auf das uns umgebende Wirkliche als das
in seinem 'Bestehen nnmittelbar nnd seblecbthin Anzuerkennende gebi
Und das dürfte denn doch wohl anch im ,,gemeinen Gedankenkreise der
Menschen** unter dem Sein verstanden werden.
Ans diesen Frststellnntren über das Seiende erir^bfn sich nunnielir
ebenfalls Widersprüche, wobei aber nicht mehr entgegengesetzte Erfaliruugs-
anssagen, sondern Erfahrung nnd reines Dülken einander gegenfiber-
stehen. Eine apriorische sli^eitet mit einer aposteriorischen Synthesis.
Die lof^ische Fordening geht darauf, dass man sich für die eine oder
für die andere entscheide. Entweder heisst es mit dem apriorischen
Denken: das Seiende ist einfach und unveränderlich, oder gemäss der
Eirfilhmng: das Seiende ist zusammengesetzt und Terftndwlich. Es
scheint damit ein contradictorischer Gegensatz aufgestellt: tertium non
datur. Entweder man stellt sich auf die Seite dos Denkens, oder auf
die Seite der Erfahnintr, wobei natürlich der entgogongesetzte Standpunct
negirt werden muss. I)as erstere haben die Eleaten und Piaton gethan,
for das letztere muss jede anf das Wirkliche gerichtete Philosophie sich
entscheiden. Diese Bichtong ist zwar bei Herbart sehr ausgeprägt, aber- >
gleichwohl will er auch die Anspniche seines Denkens nicht fahren lassen.
Die Conseqnenz, welche bei Vormittlungsversuchen so leicht Scliiffbnich
leidet, ghiubt er dadurch gewahrt zu haben, dass er neben dem Keich
des Seins ein Seich des Geschehens einfuhrt, und eine strenge Sonderung
beider statoirt, die er selbst einmal (VIL 176) als den Hauptcharacter des
Systemes bezeichnet. Dass <r ^^eradezn anf eine Trennung der beiden Ge-
biete ausgeht, kann im Hinblick auf verschiedene Af'ussfrung'en nicht •
zweifelhaft bleiben. „Es wäre die vollkommenste Probe einer Irrlehre,
wenn das, was wir Geschehen nennen, sich irgend eine Bedeutung im
Gebiete des Seienden anmasste.** Wir erfahren, „dass die Begriffe des
Seins und Geschehens völlig incommensnrabel sind, dass es im Beiclie
des Sein crar keino Ereignisse gibt, noch geben kann" (IV. 139), femer:
„dass alle Mannigfaltigkeit sogleich sammt dem Geschehen selbst ver-
Bchwindet., wenn man aufs Seiende, sowie es an sich ist, znrückgehl^*
(IV. 141).
Es ist merkwürdig, dass Herbart an dieser Stelle die Methode der
Beziehungen ihren Formelapparat nicht liat entfalten lassen, da es doch
ganz gut möglich gewesen wäre. Zumal hier der Fall so einfach ist,
dass sich se^ rasch der einzig mögliche Ausweg aus dem Widerspruh
erglR Die apriorische Thesis darf nicht Terftndert werden; sie ist ja
das nnumstf)ssliche Fundament des ganzen Bau's. Ebensowenig lässt
sich vom Prädicat der zweiten These Etwas abdingen, denn das "Wechsel-
spiel der Veränderung ist ein unausweichlich Gegebenes. Also bleibt
nur noch das Subject der Erfahrungstheso übrig, durch dessen Abände-
mng wir nns hel6n können. Die Abfladenuig besteht darin, dass wir
geradezu ein anderes Subject an die Stelle setzen nnd sagen: das Ge-
schehende ist Terftnderlich.
80 hysiorische Stellung der Herbartischen Metaph.
•
Wir konnten am Ende mit dieser Auskunft zufrieden sein, indem
w unsererseits ein&ch bei dem Geschehen stehen bliebe Denn an
diesem haftet doch unser gesammtes theoretisches und practisches Interesse.
Unsere Scfle z. B. ist nach Hf^rbart ein einfachos Reale, d. h. aiisdclinungs-
los, von streng einfacher Qualität und absolut unveränderlich. Was aber
von dieser Seele für mich irgendwelche Bedeutung hat, ist eine Mannig-
<igkeit innerer Zustände, die, in stet^ Wechsel begriffen, die That-
sache qualitativer Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit auf das Scilla-
gendste darbieten. Und dies ist offenbar das "Wirkliche, dasjenitre, was
für uns wahrhaft ist, mit dessen Darstellung und Erklärung unsere wissen-
schaftlichen Theorien sich beschäftigen. Schenken wir also dem Heta-
physiker sein ,,reine8 Sein**, welches uns doch m Nichts hilft, lassen
wir ihn ruhig damit handtieren in seinem Denken, und halten wir nna
an die Erfahrung, die er, um mit ans in einer Welt za leben, doch nach-
träglich auch zugestehen muss.
Allein der Metaphysiker ist mit dieser Abfindung nicht zufrieden.
Er leugnet, dass das Beidi des Sein TOllig nnnütK hinter den TeiSndei^
liehen Gestaltungen der Erscheinungswelt stehe nnd uns zu Nichts helfe,
snndem behauptet vielmehr, erst von seinem jibsolnfpn Sr-in aus unser
Geschehen ableiten, es als ein wissenschal'tlich Berechtigtes nachweisen
zu können.
War das bishw Toigefnhrte als Gmndlegnng za betrachten, so bildet
nunmehr diese Ableitung den eigentlichen Aufbau des Herbartischen
Systems. Sie ist so characteristisch für das Verfahren, wie es der Ra-
tionalismus auch sonst eingeschlagen hat, dass es sich der Mühe lohnte
dieselbe etwas näher zu vej^olgen.
Das wesentlichste SQl&niittel dieser Ableitung sind die „zufälligen.
Ansichten", auf denen nach Herbart das Heil der Metaphysik zum guten
Theil beruhen soll, denn ..man lasse aus ihr die Forderung der zufällijiren
Ansichten hinweg: was wird herauskommen? Solche Metaphysik, wie
man sie wohl kennt, und wie sie bisher gewesen ist." fßei dieser Neu-
heit der Sache'' wollen wir denn der Absicht Herbart's, „die Aufinerk-
samkeit des Lehrers auf den entscheidenden Punct zu richten", unserer-
seits entgegenkommen und pnifen, ob wir es hier wirklicli mit einem
„wissenschaftlich klaren, und durch hinreichende Proben belegten Gedanken,
dessen die Speculation nicht entbehren kann" (Allgem. Metaph. §. 212.
lY. 9d),.zu Ann haben. Von vom herein ist es Schümm, dass uns die
zufiUligen Ansichten in der That durch nichts Anderes, als durch einzelne
!Proben belegt werden: durch die Thatsache, dass ein mathematischer
Ausdruck, ohne seinen Werth zu ändern, auf mannigfach verschiedene
Weise in Theilausdrücke zerlegt werden kann, ferner durch das Verfehren
der Mechanik, eine Kraft zu erselaen durch mehrere andere, welche die
gleiche Wirkung wie jene erste als Resultante erzeugen, endlich durch
gewisse Verhältnisse unter den einfachen Empfindungsqualitätcn (s. ebd.
§§. 174—176, 190, 232 f.). In gleicher AVeise, wie die Mathematik ihre
Grössen, die Mechanik ihre Kräfte, glaubt Herbart ohne weiters auch die
ein&chen Qualitäten seiner Realen auf mannigfkche Weise in TheUqua-
litäten zerlegen zu dürfen, die, bloss im Denken getrennt, immer wieder
die eine ungetheilte Qualität als Gesammtausdnick erzeugen.
Der entscheidende Punct für die — von Lot^e übrigens bereits im
uiyiti^uü üy Google
III. ELhiische Beleuchtung des HerbartiscUen Eationalismus. 81
XI. Bande der Fichte'schen Zeitscfar. f. FbO. n. phil. Kr. 8. 913 mit
Torzüglicher Klarheit g-oübtc Kritik ist die Hinfälligkeit der verwen-
deten Analogie. Ein so fruchtbares Hilfsmittel auch die Analogie aller
rorsclniiig bietet, bleibt ilu" Nützen docli nur bei einer äusserst vorsichtigen
Anw endung ungeschmälert Vor allem darf sie niemals als eigentlich be-
-weisende Aistanz, sondern stets nor als heiuristisehes Prindp benutst
"vrarden. So muss bei Uebertragnng gewisser Bestimmungen auf einen
verwandten Fall immer erst untersucht werden, ob dieselben auch auf
den in beiden Füllen gleichen Eigfiischaftcn, wi-b lif vhvn die Ver^'andt-
Schaft bedingen, beruhen, — vuraui»gesetzt, dass, wie ebenfalls besonders
festgestellt wierden mnss, nicht nnter den beiderseits Tcrscluedenen Be-
aüimnungen sich solche finden, die den gleichen Erfolg aufheben.*^
Hätte Herbart diese allgemeine methodologische Forderung sich klar
zum BewTisstsein gebracht, sie würde ihm mehr genutzt liaben, als jene
so gepriesene Methode der Beziehungen. In seiner Lehre von den zu-
fälligen Ansichten aber bat er sie gröblich verletzt
Die Möglichkeit, einen algebraischen Ansdmck in mannigfach ver-
schiedener Weise zu zerlegen, beruht auf der eigenthümlichen Natur der
Grossen, deren Wesen eben (nach Herliart's eigenem Ausdruck) in der
Zusammenfassung besteht, wobei die Ordnung der Zusammenfassung im
Allgemeinen gleichgiltig bleibt Daher kann ich die in einer Grösse
znsammenge&ssten Einheiten wieder unter sich auf die mannigfachste
Art zusammenfassen, und werde ans der Zusammenfassung dieser Theil-
ausdrücke stets wieder dieselbe Grosse erhalten. Dass ferner in der Geo-
metrie eine und dieselbe Linie bald Kadius, bald Tangente, bald Ka-
thete, bald Hypotenuse n. s. f. sein kann, hat seinen Grund in der Freiheit,
mit der der Baum nns gestattet» die Terochiedenartigsten Gebilde neben
nnd in einander nach bestimmten Regeln angeordnet uns zu denken,
wobei dann ein und dasselbe Object zu jedem Gebilde gesondert in Be-
ziehung gesetzt werden kann und so vielfältig verschiedene K«*lationen
— denn anderes sind jene Bezeichnungen Tangente u. s. w. nicht — -
zum Ansdmek bringt Wir sehen, wie ganz anders als bei der Zahl
schon hier da^enige ist was Herbart znfiillige Ansichten nennt Nfoch
anders aber verhält es sich damit in der Mechanik, wo die Thatsache
vorliegt, dass mehrere Kräfte in ihrer Zusammenwirkung dasselbe Be-
wegungsresultat ergeben, wie eine oder mehrere andere. Da nun die
Hedianik bloss das Besnltat der KrSftewirknngen, eben die entstehende
Bewegung, in Betracht zieht, so erwächst ihr daraus die Möglichkeit,
sofern nur dieses Resultat dasselbe l)leibt. iinn verschiedenartige Kräfte-
wirkungen zu substituiren. Von einer wirklichen Zerlegung, Theilung
irgend einer Kraft kann dabei nie die Rede sein; jede wirkt voll und
nngetheilt ihren ganzen Erfolg nnd anch der Gesammterfolg ist bei ver-
schiedenartigen Kräftezusammensetzungen nur insofern als identisch an-
zusehen, als es sich dabei lediglich um die auftretende Bewegung lian-
delt Die einander — wie man zu sagen pflegt — aufhebenden Kraft-
componenten verschwinden keineswegs, sondern kommen sehr wohl in
gewissen Piressmigen nnd Spanmmgen zur Geltung, die aber nnter Vor-
aussetzung starrer Gebilde im Bewegungseffect nicht zur Erscheinung
gelangen. So findet selbst unter den von Hor])art herbeigezogegenen
Beispielen durchaus nicht die Analogie statt, die man bei so verwandten
6
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88
Die hiatorische Stellung d. Herbartischeu Jlelaph.
Gebieten noch am ersten hätte erwarten dürfen, nnd es wftro hOchst ver-
fehlt gewesen, auch iinr in diesem Umkreise sich von ihr leiten zd lassen
und etwa von der Zt rli irbarkcit «Icr luatheinatisclicii Ausdrücke auf dio
Zerlog^barkeit der Kräfte zu schliesscn. Dadurch wäre es froilicli der
mathematischen Physik leicht geworden, den Satz vom Parallelogramm
der Bi&fte zu beweisen, allein sie war Toislchüger als Herbart nnd häli
einen stricten Beweis f&r jenen Satz noch heute lit fär erbracht. Und
doch wäre das von ihr bop-aiii^'fiif Versehen nicht im Entferntesten so
gchlimm u^ewesen, als wie Herbart es sicli zu Schuldon kommen lioss^
wenn er jene VorstcUungsweisen nur ohne weiteres auf die so gänzlich
däiSferenten Yeilifiltnisse einfacher Seinsqnalitäton übertrug, wobei alle-
diejenigen Bedingungen, welche in den obigen Fällen die Sabstitntion
VOTschiedener Ausdrücke für einander ermöglichen, durchaus fehlen.
Es ist auch nicht denkbar, dass Herbart jemals auf diese Analo-
gieen verfallen wäre, wenn nicht die matliematisch-psycli<>log-iscli(?n Be-
Srachtongen ursprünglich das Yennitünngsglied für ihn abgegeben hätten.
In der ^Hiat stehen die Verhältnisse, welche wir hier finden, dem ange<-
nommenon metaphysischen Sachverhalt weit näher. Hier liaben wir es-
wirklich mit einfachen Qualitäten zu thun, und Herbart meint, ein sol-
ches Verhältniss qualitativer Verschiedenheit, welches sich ungeaclitet der
strengen Ein&chheit der beiderseitigen Qnalitäten durch Zerlegung in
vüUig Versdiiedenes nnd völlig Gleiches, also durch „zufällige Aiuichten*^
ausdrücken lasse, finde „factisch statt in den einfachen Empfindungen
Roth und Bhiu, oder eis und g'is" (IV. 183). Er erklärt geradezu, „dass
man dies Verhältniss zweier Tone als das allernächste Gleichniss für
das Verhalten zweier realen Wesen, in Hinsicht des Gegensatzes ihrer
Qnalitftten nehmen soll; daher soU man auch jeden Einwurf der sich,
darbieten künnt(^, zuerst an diesem Beispiele versuchen; verschwindet
er hier, so ist er überhaupt nichtig und widerlegt" (IV. 135). Die letzten
Worte sind beachtonswertli, sofern sie zeigen, dass Herbart in der That
glaubt, auf blosse Analogie einen vollgiltigen Beweis stützen zu können.
Freilich würd unsere Prüfung des Thatbestandes ergeben, dass die Ton-
verhältnisse nicht gerade das geeignetste Beispiel bieten. Das That-
sächliche, was der BiUlung „7,ufalliger Ansichten" für die einfaclifii Sinnes-
qualitäten zu Grunde liegt — wie dies namentlich die durchsichtigen und
präcisen Erörterungen Drobisch's^*) in seinen „Grandlehren d. math.
Pi^choL^ §§ zeigen — , ist kurz Folgendes. Wut können die
Empfindungsqualitäten desselben Sinnesgebietes (wenigstens der beiden
höchsten Siniw) in eine Heihe anordnen, so dass im Fortschritt derselben
eine stetige Aenderung der Qualität erfolgt. Dabei erscheint uns dio
Abänderung der Qualität um so grösser, je weiter wir uns vom Aus-
gangspunkt entfiBrnen, bei dem Farbmcontlnnum allerdings mit der wich-
tigen Einschränkung, dass ein hinreichend weites Fortschreiten in der
Roiho uns wieder zum Ausgangspunkte zurückführt. Dadurch werden
wir hier in den Stand gesetzt, von jedem Punkte aus nach zwei Seiten
bis zu einer Stelle des grOssten Gegensatzes fortzuschreiten. Drücken
wir den Abstand zwischen solchen Punkten des giössten Gegensatzes.
dnroh eine bestimmte Zahl aus, so wird der Gegensatz zwischenliegender
Stellen nach Massgabe ihrer gegenseitigen Annäherung vermindert werden.
Dazu kommt die fernere Thatsache, dass eine solche mittlere Farbe durch
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III. Kritiaclie Beleuchtung des Herbartischen üBAtionalismuB. 83
Zusunmiiiiät'tüuiig aus den beiden Endgliedern, die den grosstcn Gegen-
satz darateUen, ensengt werden kann und zwar müssen diese letzteren
quantitativ in dem reciprokon Verhfiltniss ihrer beiders<'itigon Ahst&nde
von dorn zn rT/cnfronddi FarlK'rit"ii tTt-niisdit wordpn. Ich kann mir also
jeile ('iuliiclu! Farbenqualität als zusammengesetzt denken aus zwei Gnind-
qualitäten. Die wechselnde Quantität, mit welchen diese eingehen in
die zwischeugelegenen Misch&rben, gibt einen Anhaltspunkt filr die quan-
titative Bestimmung des Gegensatzes unter den letzteren, wie Herbart
sie in seiner mathematischen Psycli«'>losrio durchfülirt. Es ist augen-
scheinlich, dass wir »'s hi<*r mit Verhältnissen zu thun haben, di»' ganz
eigenthümlich dem Ciebiet der Farben angehören und schon im Bereich
der TOne nicht mehr gelten, da in einer nach beiden Seiten gerade fort-
schreitenden Beihe, wie sie das Continuum der Töne darbietet, von einem
völli^-en Gegensatz kein»' lud- s-'j-n kann, und eine Zusammensftznng
zweier Qualitäten zu einer cintäclu-u mittleren hier vollends nicht statt-
tindet. I>aher die vielen Unzukömmlichkeiten in den Betrachtungen
Herbart's über die Tonreihe. Er weiss- Bi<di nicht anders zn helfen, als
dass er dem Intervall der Octave den voUständigrn Gegensatz beimisst
und den mindert-n (Jf'ir''nsatz zwisdn-nliegendt-r Töne durch ihren Ab-
stand innerhalb dfr Tonleiter bestimmt. Die Zumuthuns", die damit an
unsere natürliche Auffassung des Sachverhaltes gestellt wird, ist eine
SO störende und harte, dass seihst die sonst so traue Schule in diesem
Puncto von der Ansicht des Meisters abgewichen ist.**) — So reducirt
sich denn auf psychidits^-ischem Gebiete die V"'rw('n<lung „zufälliger An-
sichten*' für einfache Qualitäten auf die Thatsache, dass es im System
der Farbenemptindungen eine Abstufung des Gegensatzes von Null bis
zu einem Maximum gibt und dass der Grad des schwächeren Gegensatzes
sich durch das Mass, in welchem zwei völlig entgegengesetzte Qualität<5n
zu einer mittleren sich mischen, bestimmt wird. Und damit sind wir
ebensoweit entfernt von den matliematischen und mechanischen Zerle-
gungen und Substitutionen, als von einer allgemeinen Verhaltungsweiso
einfecher Seinsqualitftten, so dass das psydiologische VermitÜnngsglied
sich nach keiner Seite hin als zulänglich (>rweist.^^) Statt einen ein-
heitlichen Gedanken von allgemeiner Giltigkeit zu bilden, zerfällt die
Lehre von den zufälligen Ansichten in mindestens fünferlei verschiedene,
einzelnen Sachgebieten in concreto zugehörige Betrachtungsweisen, und
wur können in ihr daher Nichts weiter, als eine ganz ifritikloBe Ter-
mischung des Heterogenen sehen.
Diese Vennischung steigert sich zu einer volligen Confusion des
Donkens, wo Herbart dazu übergeht, mit Hilfe der zufälligen Ansichten
sein eigentliches Ziel, die Theorie des auf Störung und Selbster-
haltung hemhenden Geschehens zu «reichen (Allgem. Metaph. §§ 232
— 237). Die einfachen Qualitäten A und B zweier Realen werden zer-
legt in die zufälligen Ansichten: A=«4-/^+/' und B=m+n— Dabei
soll das +/ u. — / andeuten, „es verhalte sich irgend Etwas in den
Qualitäten, wie Ja und Nein." Vorher schon war gesagt: „Fassen wir
zwei Wesen, A und 6, zusammen: so ergeben ihre einfiiehen Qualitäten
eine blosse Suuune" — und dass diese „Summe*' recht wörtlich zu fassen
ist, erfahren wir auf einmal am Ende des § 232: „Was nun die Be-
griffe und m-^n—y zusammeugonommen ergeben: das liegt vor
6*
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84*
Die hidtohsche Stellung d. Herbai-tischeu JHetapb.
Augen. Das Entgegengesetzte hebt sich auf und verschwindet; es bleibt
«-|-//-f m-f-n.« Allerdings liegt dies vor Angen, sobald wir es mit alge-
braischen AnsdriK'kcn zu thun haben, für welclie allein auch der Ausdruck
„Summe" einen viilliir klan-n, wissenschaftlich verwendbaren Sinn besitzt.
Aber führt uns denn Uerbaxt in Wahrheit ein blosse» liechenexempel
vor? Dem Wortlaut der letzt citirten Stelle und dem Character des gan-
zen Problemes nach offenbar nicht. Hier heisst es vielmehr, es sollten
Begriffe zusammenj^f^fasst werden. Nun wohl: mit „B<'griffen*' lehrt
nns die Log-ik operiiiii, was meint also diese zu dem Fall? Sollen die
Ausdrücke «-j-.^-h/ und ni-|-n--;> Begriffe darstellen, so müssen wir ans
unter den einzelnen Bochstoben offenbar TheOmerlEmale denken, nnd die
beiden BegrilTe stehen dann für die Logik im Verhältniss der disjnncken
Verschiedenheit. Die Fra«jre ist mithin: was weiss die Logik über das
Zusammenfa<sf'ii (lisjiinct<'r Begriffe zu sagen? Zunächst ist ihr der Aus-
druck „Zusammenlassen" etwas Unverständliches; sie kennt nur die Zu-
sammenfassung von Subject und Prädicat im Urtheil, daher müssen wir
sie auch hier urtheilen lassen. Versuchen wir demnach, die beiden dis-
jnncten BMsrriffe als Subject und Prädicat in einem Satze zusammenzu-
fassen! Die Logik Aveist das Urtheil zurück, sie will von Zusammen-
fassung in diesem Falle Nichts wissen, d. h. die „Begriffe" müssen ge-
trennt bleiben. Wir könnten die logische Zusammenfiuisnng noch in
etwas anderer Weise verstidien, indem wir die beidmi disjnncten- B^.
griffe einem und demselben Subject als Prädicat beilegten. Auch das
verl)ietet aber dif* Logik. Sie lässt wohl das eine der beiden Urtlieile:
S ist A und S ist B gölten, nicht aber beide zugleich. A on einer
wechselseitigen Aufhebung der „Begriffe*^ kann also in keiner Weise die
Bede sein und vir müssen entschieden protestiren gegen die Vermi-
schung, durch welche hier eine rein algebraische Operation auf Begriffe
im Allgemeinen übertragen wird.
Nun haben wir aber in dem zu behandelnden Problem weder mathe-
matische Aasdrücke, noch blosse Begriffe vor uns, sondern einfache
Qualitfiten zweier Bealen, die „zusammtn" sein soUen. Ein wirklich
strenges Philosophiren würde sich daher, wenn es von jenen Verhält-
nissen auch noch so viel wfisste. hieraus noch keinen Schhiss auf dieses
erlauben, um so viel weniger, als die ganz besondere, mit allen unseren
gewöhnlichen Auffassungsarten durchaus incommensurable Natur des
Seienden von Herbart so oft betont wird- Was kann denn zwei Bealen,
deren jedes eine abstdut unveränderliche Qualität besitzt, ein Zusammen,
das wir ihnen im iiitelligiblfMi Kaum ertheihMi, anhaben? Doch gewiss
Nichts. Diese höchst einfache Frage und höchst einfache Antwort ge-
winnt bei Herbart eine seltsam verwickelt^' Gestalt: „Hier ist bloss von
einer Abfindening der Qnalitftt die Bede, die jedes zwar von dem anderen
erleiden sollte, aber wogegen es sich erhält als das, was es ist.
Störung sollte erfolgen; Selbsterhaltung hebt die Störung
auf, dergestalt, dass sie gar nicht eintritt." Völlig Nichts soll aber
damit doch nicht geschehen sein; vielmehr sollen jene Selbsterhaltungen
bleibende innere Znstände im Bealen begründen, wie de z. B. unser
gesammtes seelisches Leben constituiren. Und was so als das aller Real-
ste £dch kund gibt, was zugleich eine Maniiiürfaltigkeit und einen Wechsel
ohne Gleichen manifestirt — soll dennoch nicht wider die einfache,
HL Eritiwshe Beleachtoog des Herb«rtisoh«i Bationalitmns. 85
absolut onverändorliche Natur des Realen streiten! ^ies nun ist", fährt
Herbart im YollgefBliIe wmer Leistang^ fort, „die ansfiOiiiicbe Dednctioii
der Lehre vom wirklichen Geschehen ; deren fröhere kärzere Darstellnngen
man mit den AVaffeii der Vomrtheile bestritten hat, nnd noch lange be-
streiten wird" (IV. 138) — g'ewiss so lantr«', als noch di«' „Vomrthf'ile"
bestehen, dass zwischen Algebra, Logik und realen Seinsqualitäten eine
rdnlidie Scheidung gemaebt werden müsse und dass ule Störungen,
Selbsteifaaltnngen und inneren Zustände mit absoluter UnTeränderlichkeit
nun einmal schlechthin unvortraj^lich seien. In der That verdient dieser
Theil der Herhartischen Lohre kt^no andere Kritik, als wie sie F. A. Lange
zwar kurz und nicht ohne Schürfe, aber sehr zutreffend ausgesprochen
hat: „Der Hetaphysiker widerlegt mit einem enormen Aufwand von Sefaiurf-
sinn alle möglichen anderen Ansichten, nnd wo er seine eigene Meinung
entwickelt, schiesst er einen lo^nschen Purzelbaum von der gewöhnlich-
sten Sorte. Jeder Andere sieht, dass Selbsterhaltnng gögen eine drohende
Einwirkung nicht ohne eine, wenn auch noch so feine wirkliche Ein-
wirkung denkbar ist Der Metaphysikec sieht dies nicht. Er hat sich
mit seiner Dialektik an den Band des Abgrondes getrieben, aüe Begriffe
hundertmal henimgewendet , hervoi^ezogen , weggeworfen, nnd endlich
muss durchaus und dnrcliaus Etwas tr^wusst werden. Also dio
Augen zugedrüc kt und den salto mortale herzhaft gemacht — von den
Höhen der schärfsten Kritik hinab in die allergewöhnlichste Verwechs-
lung TOn Wort nnd Begriffl" (Gesch. -d. 3f ai II, S. 380).
Wir wollen indess, um Herbart niötrlichst gerecht zu werden, nicht
bei seiner verk'dirt« )! Deduction der Lehre vom wirklichen (Jeschehen
stehen bleiben, sondern uns noch näher nach der Quelle umsehen, aus
welcher seine Anschauungen in Wahrheit geflossen sind. Der natürliche
Oang der Denkentwicklnng wird selten so krause Bahnen einschlagen,
♦ wie wir sie vielikdi in den Beweisversachen »l- r Philnsopheii finden.
Zu seinen Stönmgon und Selbsterhaltiin£r''n ist Herbart nur dadiircli crf»-
kommen. dass er unter analogen Verhältnissen auf psychologischem Ge-
biet einen Vorgang partieller Aufhebung von Qualitäten, der hier mit
dem Namen der Hemmung belegt wnrde, constatirt zn haben glanbte.
unter Proisgehung des unveränderlichen Seins — lie Wechselwirkung
der Öeinselemente nach Massgahe ihres qualitativen (Gegensatzes denken.
Hier wäre die Analogie eine zutreffende — wenn nur das zu übertragende
Factum in der Psychologie sich TOriSlnde. Aber das letztere ist leider
nicht der PalL Herbart hat auch in diesem fiär ihn so wichtigen Puncte
sich mit allzugrosser Xoiu'halance üher eine genaue Untersuchung des
Thatbestandes hinweggesetzt. Lege ich ein r<^thes und ein grünes Object
neben einander vor mich hin, so erscheinen mir die beiden Farben durch-
aos nicht weniger heU, als wenn ich Roth nnd Gelb oder Blan nnd Grün
zasammensttdle, welch' letztere Farben in geringerem Gegensatse stehen,
also nach Herbart s Theorie einander auch Av.-niger hemmen müssten.
Wenn Herbart sich in einer zwar, wie er selbst sagt, mn- „flüchtigen
Erwähnung der Thatsachen" der inneren Wahrnehmung darauf beruft»
dass wir ^die Vorstellnng des Blanen nicht vollkommen festhalten können,
wenn die des Rothen dazu kommt" (V. 286), so gilt diese allgemeine
Er&hning genan in der gleichen Weise bei jeder Vielheit von Eindräcken
In ähnlicher Weise könnte man
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86
Die hütoriiche Stellung d. Herbartisohen Ketapb.
YdUig abgesehen von deren qualitativem Gegensatz. Damit sind wir also
noch keineBvegs so weit, bebanpten m dMn, dass die Hemmung unter
entgegengesetzten YorsteUnngen ^ich ziemlich deutlich unmittelbar in
der ErfahniTip: zn orkennon" gebe, und dahor recht tTiir!i< li als eine ge-
gebene Thatsache oder mindestens als hinreidu'nd verbüijjrte Hyi)othose
in die üntersnchung eingeführt werden könne (V. 195). Herbait liätte
in jenen Constaliningen weniger flflehtig sein sollen. Mit besserem
Wissenschaft! ichom Tact hat Drobisch es untemommen, die wahrhaft
„fandam<'iital.'ii Thatsadiori." welche Horbart's Theorie stützen sollen,
präcis festzustellen, ohne dabei freilich auf mehr zu kommen, als auf die
Enge des Bewusstselns, sowie auf den Wechsel und die Beproduction
der Vorstellongen (Math. Psych. § 4). Er hfitte vielleicht . noch eine
Thatsache hinzufügen können, welche Herbart bei seinen Betrachtungen über
das Ich wohl den » rsten Anlass gegeben hat, eine Hemmuntr unter <len
Vorstellung-*'!! anzuiiehincu, d. i. die Bildung abstracter Begriffe (vgl. ohm
S. 27). Auch die Erscheinungen des Begehrens und Pühlens dürften
nicht ohne Einfloss auf ihn gewesen sein. Ein Hemmungsvorgang wird
aber bei allen diesen Phänomenen nicht unmittelbar wahrgenommen, und
bildet auch keineswegs das einziir mi)irlirhe Erklarung^princi]) für die-
selben, sondern ei-weist sicli i!n (T*'irentheil vit-lfach als ganz unzuieichend
hiezu, wie dies namentlich die von Lotze **) und Wuiidt geübte Kritik dar-
gethan hat' Zugleich haben diese Psychologen — obwohl bei beiden
auch ein positiver Einfluss Herbart's unverkennbar ist - zusammen-
hängende Theorieen des st clisclicn Löbens aufg<'st»'llt, ohne dabei von
einer He!nmung der \'orstelhing"'n im Sinne Herbarfs Gebrauch zu machen.
Für die Psychologie Herbart's ist aber diese Hemmung thatsäclilich der
Gmndbegrilf und daher braucht man auch, um jene in ihrem Systonhau
zu untergrab, n. ni< ]it r rst, wie F. A. Lange und Wundt es getiian haben,")
die willkürlich"' Anfstfllung der Hemmungssumme anzugreifen, sondern
kann gleich die Haltbarkeit des wesentlichsten Fundamentes, der wechsel-
seitigen Hemmung entgegengesetzter ^'orste Hungen, bestreiten. Hier in-
dess ist eine solche speciell auf die Psychologie gerichtete Kritik nicht
beabsichtigt; es sollten nur die Mängel des von Herhart eingesclilagenen
Beweisganges kenntlich gemacht werden durch die Darleguntr, dass weder
die begrifflichen I)eductii>i!(^i noch die aus den exacten AVissenschaften
und aus der Empirie herbeigezogenen Analogieen sich als stichhaltig er-
weiseii.
Es konnte in der Aufdeckung derartiger methodologischer Mängel
noch weiter gegangen werden. Ein sehr ergiebiges Feld Avürde in dieser
Beziehung noch die Synechologie Herbart's mit ihrer Lehre vom Kaum
und der kräftebegabten Materie bieten. Doch wird sich, was hierüber
zu sagen ist, mit wenigen Worten abtiron lassen im Zusammenhang mit
einer allgemeinen Formulining des Urtheils über Herbait^s ^letaphysik,
711 dessen Begründung das Vorausgegangene ein hinreichendes Material
bietet.
Der Grundsatz Herbart's, sich bei seinem Systembau durch Erfahrung
und Denken leiten zu lassen, war zwar recht schon, nur iSsst er, in dieser
Allgemeinheit hingestellt, immer noch die Frage offen: durch was für
eine Erfahrung uiul iliircli was für ein Denken? In Beantwortung
dieser Frage mit Bezug auf Herbart wird ein dreifaches Moment hervor-
HL Kritiiohe Beleachtang des HerbarÜBehen BatioiialismaB. 87
■zuhc'ben sein, welches zugleich von alk in iiationalismus mehr oder weniger
gelten dfiifte: die Erfiihniiig sowohl als das Denken, mit wekhem operirt
wird, sind höchst primitiv und unzulän?;lich, sie sind fernerhin
gorad*'7n fflil^-rlinft. und es kommt schliesslich zn keiner lieber-
■einstinimunir '/wischon ihnen.
Sehen wir uns zunächst nach der „Erfahrung" um, welche in
Herbart's System eine Bolle spielt, so zeigt sich auf Schritt nnd Tritt
die Unzulänglichkeit derselben. Herbart kennt nnr die aller allge-
infinstf' ErfahranLr. Zunächst zum Widerstand g-egen den Idealismus
lierbeifi^crufcn, wobt-i sie Nidits wiitcr zu sag-en brauchte, als dass der
„gegebene" Schein unabweisbar auf ausser uns existirende Dinge hindeute,
mnsste sie dann noch die widerspnichsvollen Formen der Erscheinnngs-
welt liefern: die Dinge mit den inhfirirenden Merk m I n, mit ihrer ver-
änderlichen Existenz in Eanin inul Zoit, sowie das in sich zwiespältige
Ich — und ilirc SchulUif^keit war ircthan. Man fordert von ihr nur
diejenigen Daten, die jedem vollsinnigen Menschen auf Schritt und Tritt
unmittelbar sich darbieten, nnd über welche Thaies nnd die Eleaten schon
ganz ebenso gai verfogten, wie der Plqrsiker des neunzehnten Jahrhnn-
derts. Daget^cn int-inoii wir. dass nur die aller specicUstf Erfahmner,
tausendfach wiederliolt und iiiodificirt, ensT-itert nnd .irtdäntert durch Zu-
hilfenahme künstlicher Methoden uns zu annähernd entsprechenden An-
sichten über die allgemeinsten Yerhftltniflse des Existiienden führen kOnne,
nnd anf Grand einer solchen nmfhssenden, ans der Detailforschung heraus
verallf^emeinemdeii Erfahmng sucht die moderne Katunsissonschaft zu
gewissen letzten Annalinicn über Sein und Goschehen zu gelangen, die
zur Erklärung der gesammten Erscheinungswelt dienen kOnnen, dabei
aber — wenigstens in ihren h6r?orragendsten Yertretem — der Schranken
wohl bownss^ die ihr von einer walu^haft kritischen Philosophie gezogen
sind.
Und wie steht es mit dem „Denken." durch welches Herbart das
umfassendste und strengste Wissen zu erlangen sucht? Zum höchsten
Ansdmek kommt dasselbe in der „Methode der Begehungen," welche das
Meisterstück der Methodologie bilden und alle bisherigen Leistungen der
Schullogik weit hintfr sich lassen soll. Aber thatsächlich oporirt Hor-
bart mit gar koincn amlcni Mitteln, als diese, nnd kommt an keinem
Puncte über die Aristotelische Logik liinaus. -Es hat etwas Betrübendes,
zn sehen, wie sein klares nnd den ezacten Wissenschaften mit Vorliebe
zugewandtes Denken sich so oft gegen jene engen Schranken kehrt nnd
doch vrdlii,r in denselben befangen bleibt. Es ist in der Tliat nur ein
Klirren mit den eigciK'ii Ketten, wenn er über die Mängfd der bisherigen
philosophischen Methoden spricht (Einl. in d, Phil. §§ 30—32) und auf
„das Unbefriedigende und Gehaltlose ehier bloss analytischen Art zu
philosophircn (dergleichen grossentheils die ältere Schulphilosoj)hie war,
z. B. die Wolffische)" hinweist. Aehnlich macht die Allgem. Metaph. (§ 128
III. 387) darauf aufmerksam, ,,^\ie wenig die blosse Logik über meta-
physische Schwierigkeiten vennag," während doch „die höln'ren Methoden
der Mafhematikf* deoUieh genug zeigen, „dass noch nicht alle künsttichen
Yerbindimgen der Begriffe, die einen nothwendigen Zusammenhang der^
selben an den Tag legen könnten, erschöpft soicn," denn — wie es
später (g 179 IV. 40) heisst — „die erste beste matliematische Substi*
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88 hidiorische Stellong d. Herbartischea Metaph.
tation ist schon za reichhaltig, ain in dem dfirftigen Syllogismus einen
paSBimden Ausdruck zu finden.** Den so gerügten Mängeln soll die neu»
Methode abhelfen, die auch kein anderes Princip kennt, als den Satz des
Widerspruchs, und daher auch in keiner Weise über die „bloss analy-
tische Art zu philosophiren" hinaus zu einer wahren Erkenntnissbereiche-
rung fnhien kann. Die wesentlichen Bequisite für diese Methode lagen
boreiks im Aristotelischen Organon fertig da, und nach Herbart hätte
somit recht fuglich die tiefete aller Wissenschaften, aus welcher alle
übrig'en pich müssten ableiten lassen, die Metaphysik, bereits ausgeführt
werden können zu einer Zeit, wo von den Einzelwissenschaften und ihren
ausgebildeten Forschnngsmethoden nur eist unerhebliche Anfänge to^
banden waren. Sehen wir, wie dieses Herbartisdie ,J>enken" mit ein
liar dürftigen Formeln sich über alle tieferen erkenntnisstheoretischen
und ■methodologischen Probleme hinwegsetzt, wie es nicht einmal die
Kantische Frage recht zu vorstehen vermag, und vollends Nichts weiss
von den wahrhaft schöpferischen Methoden einer an& Inhaltliche gerich-^
teten Forschung, yonr Indnetien, WahrsehMnUclikatstfaeorie n. s. w., so
können wir nicht einen Augenblick anstehen, dasselbe fSr äusserst im-
RÜänglich und primitiv zu erklären.
So ist denn das ganze Rüstzeug der Herbartischen Metaphysik ein
höchst dürftiges und kümmerliches, verglichen mit dem Apparat der mo-^
demen pbilosephisdien Forschmig, mid mag sich m diesem ähnlich ver*
halten, wie das Ohser?atorium und die Bechentahellen des Ptolemäus zur
Sternwarte und den mathematischen Hilfsmitteln des heutigen Tages.
Allein Ptolemäus konnte mit den zwar unvollkommenen Hilfsmitteln
wenigstens seinen Ansprüchen genügen; er erreichte eine für ihn hin-
iddiend genane TJebereinstimmniig zwischen Bechnnng nnd Beobachtnng,
Hieorie und Wirklichkeit.
Darf Ilerbart das (tleicho von sich rühmen? Hat er srinen Plan
correct ausgeführt, den Ansprüchen der Erfahning und des Denkens ge-
hörig Sedinung getragen, und ihre Aussagen zu einem einstimmigen nnd
in sieh befiriedigenden Gesammtresoltate yenirbeitet? In diesem Falle
hätte seme Lehre, wenn auch nur dürftig, so doch vielleicht richtig din
aUgemeinen Umrisso hingestellt, in die wir unser specialisirtes Woltbikl
hineinzeichnen konnten. Stande nur unter ihm der Boden fest, so könnten
wir uns auf seine Schultern stellen, gleichwie ja auch die Beihenausdrücke
unserer Astronomen in ihren Sinnsgliedem die Epieykeln des Ptolemäus
nur vervielftltigt und in verfeinerter Form wiederholen, und wie auf seine
Beobachtungen ein Th< il unserer heutigen astronomischen Kenntnisse
fundirt ist. Allein in der That vermissen wir in den von Herbart ge-
gebenen Umrissen die Folgerichtigkeit des Zuges, die von ihm geschaffene
Basis bricht auseinander.
Schon für sich kommt keines sdner beiden Hauptforschungsmittel
rein und richtig zur Verwendung — ein Yorwinf. der sich ebenfalls in
Bezug auf jeden Kationalismus wird verallgemeinem lassen. Weil die
rationalistischen Methoden ihrer Natur nach unzulänglich sind, das ge-
sammte Erfohmngsgebiet m behenschen, so müssen un Denken alleilei
ümbiegungen vorgenommen werden, die es sich selbst entfremden, und
die Erfahrung muss sich gleichfalls die vorschiedensten Dnickningc'n, Press-
ungen und schiefen Auffassungen gefallen lassen, um in die inadaequate
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III. Kritische Beleuchtung des Herbartischen Hationaliamiii. 89
Form des beschrftnlEteii logisclien Bahmens hineinzapasseii. Es ist na-
türlich, las >. wo (las Wcrkzeng^ dem zn behandelnden Stoff nicht ange-
messen ist, bcid»» nntf-r dor Arbeit leiden. Dank der klaren Durchbildung"
nnd Darstolluntr des Herbartischen Systems lassen sich diese Fehler bei
ihm recht gut verfolgen. Eine Umbiegang des Denkens und eine Ab-
stmnpftmg seiner Schärfe zn Gunsten des Gegenstandes finden wir schon
in der Methode der Beziehungen. War das M — X ein "Widerspruch, so
wird sich eine stren^'e L^irik auch das I"M — N nicht trefallen lassen. -
Das „Zusammen," wejfiics H< rbart hier eins( hiel)t, ist ein jedenfalls sehr
unlogisches Auskunftsmittel, das, aus den Verhältnissen der concreten
Eifkhningswelt entlehnt, nnr der anfingiich intendirten Strenge der be»
glüfliehen Auffassung die Spitze abbricht. Aensserst bedenklichen Um-
biegTineren und Yennireinigrun^en des log-ischen Denkens durch falsche
Uebertrafi^nig' unzuläng-Ücher Analogieen begegnen wir ferner bei der Ab-
leitung des wirklichen Geschehens und in den vermeintlichen Denknoth-
wend^keiten, von welchen dabei die Bede isi Ebenso bestehen endlich
die synecholdg-ischen Untersndiungen, die den „intellig-iblen Raum" ans
dem reinen Denken constniiren wollen, aus Nichts als Krschleichungen. in-
dem die empirische Kaumanschauuuir versteckter Weise vorausgesetzt wird
nnd die Bestimmungen derselben für den intelligiblen Kaum dann auf an-
geblich logisch-metaphysischem Wege dedncii^; werden. Wer einen recht
an£Bl]ligen Beleg hierfür hal>en will, lese den § 2G4 der Allgera. Metaph.
nach. Wo die 1>ocTitTliche Dednctic.n auf <'inmal so derb in den dreidi-
mensi.>nali-n Iiainii unserer Erscheinunirsw» h hendnidumpst, dass nur ein
recht tiefer iiK-tapliysischer Schlaf davon nicht aufgeweckt werden konnte.
Es findet sich in allen diesen Ableitungen das ^Clinamen der Beweis-
grfinde,** von welchem Kant spricht fs. oben S. 70i, in der sclilair' udsten
Ansprairuiiir vor und wir erhalten damit zuirlfich dassische Belege für
die Beinerkung J. St. Mill's: „Die Metaphysiker aller Zeiten, welche die
Gesetze des Weltalls zu construnen suchten, indem sie aus unseren ver-
meintlichen Denknothwendigkeiten Schlfisse herieiteten, sind immer so
Tei&hren nnd konnten niclit anders verfahren, als dass sie in ihrem
eigenen Bewusstsein selir mühevoll das entdeckten, was sie frülier selbst
hineingelegt hatten, und aus ihren Begritlen von den Dingen das ent-
wickelten, was sie früher in diese Begriffe hineingewickelt liatteu"
(Logik B. V. C. III. ^ 'S). Wfire nnn Herbart mit seinen synechologischen
Untersnchnngen wenigstens zn einer ezacten Auff:)ssung des empirischen
Riumes gekommen? Aber er sagt, ganz ungenirt „mit der alten Meta-
physik: exteusio lineae ex numero punctonim. quibus c<»nstat, determi-
natur" (ebd. § 2-JtSi)» indem er die Linie aus dem unmittelbaren „Anein-
ander" mathemathischer Pnncte constmirt Ja, er yersteigt sich znr
Monstrosität, solche Puncte „zum Theil zusammenfallen" zu lassen (ebd.
§ 259) — ein Kunststück, zu dem es allerdings selbst der alte Baum«
garten nicht lintte bringen können.
Jiaud in Hund uiit den Fehlem des Denkens geht die höchst fehler-
hafte Behandlvmg der Erfehrang. Ganz kritiklos werden Anschauungen
des gewöhnlichen, dnrch die Sprache behensdhten Bewusstscins für ,tEr-
fahrungon*' genc«mmeu. T'nklare Analogien, vorgefasste Meinungen, meta-
physische Vorurtheile werden in die Auffassung des Thatsjichlichen hinein-
getragen und es kann vielfach erst eine eingehendere Untersuchung
uiyiii^uü üy Google
90
Die historische Stellung d. Herbartischen Ketaph.
ans dem zusammengehftQflen Material den reinen Thatbestand herans-
schälen.
Der firgsto Uobclstand froilich ist, dass da, avo das Systt ni sfinon Ab-
sclilnss finden soll, die ang-fstrobte Cong-monz zwischon Erfalinini:;' und
Denken sich als eine völlige Discrepanz erweist. Wir brauchen uns nur
zn erinnern an die einfachen nnd nnverftnderiichen Bealen, die gleichwohl
alle Mannigfaltigkeit nnd allen Wechsel der P]rscheinangswe1t in sich auf-
nehmen müssen — man denke an das S'-i lcnreale! — wobei dann jene
Snpliistik dtr Stünintcfu und Selbsterhaltungen zu Hilft« kommt, welche
durch ein Flickwerk aus dem Heterogensten, durch Vertuselu'n und. Yer-
Ideistem der schadhaften Stellen mit wohlfeilen Worten nnd polemischen
Wendmi^-i-n all«' Schwierigkeiten zu heben sucht, und ein wahres Cabinets-
stfu'k bildet in der Curi*>sit:it< iisammlung philosophischer Yerirningen.
Die Erfahning fordert dann weiterhin eine Theorie der Materie, und lier-
bart versucht in der That, sie zu liefeni. Aber wie? — denn aus streng
pnnctnellen Wesen, die Iceine Femewirknng ansüben dürfen, ist unsere
gegebene Matt^rie schlechterdings nidlt abzuleiten. Da erzwingt sicli nun
die Erfahrung ihr Recht: sie kann nnr ansg»'dilmt»' Reale l>raii('htTi , also
gut, man lässt dif Kealon ausgedehnt sein und besclnvirhti^T. si in lo-
gisches Gewissen, indem man in ]nirenthesi hinzufügt: dies ist aber nur
eine Fiction (ebd. § 267). So mag nur immerhin mit ans^dehnten Realen
op(»rirt werden, das Denken weiss sich in seinem gnten ludite, und freut
sich im Stillen, dass die Erfahnmg so gemlgsam mit dem Zugeständiiiss
einer blossen Fiction sich zufrieden gibt. Der Erfahnmg freilich wird
das Denken hiutergangen scheinen, indem es über einem blossen Wort
die Sache Tergisst, — nnd sie wird damit wohl Becht haben. Das Schlimmste
ist, dass zwischen beiden auf diese Weise ein unwahres Verhältniss ge-
stiftet ist. nnd das hätte der Philosoph nie zulassen sollen. Er sagt uns
freilich, jener bedenkliche Compromiss sei nicht zu Vfiineiden gewesen,
„weil wir den einfachen, realen Wesen nicht verbieten können, Materie
zn bilden" (TV. 294). Wohl aber hfitte man dem Denken Teri>ieten kOnnen,
Bestimmungen aufzuwerfen über Dinge, die es nnn einmal nicht versteht,
und mit denen es doch nie durchdringen kann. — Es ist bemerkenswrrth.
dass die vielgerühmte Methode der Beziehungen an diesem Puncte nicht
einmal den schwachen Versuch macht, zur Aussöhnung der streitenden
Parteien Etwas beizntngen, nnd hier wSre doch der schönste' Lohn zu
verdienen gewesen. Es liegt darin der beste Beweis wider ihre Frucht-
barkeit. Sie kann eben nur da Etwas anfangen, wo die Erfnhning schon
die Lösung entgegenbringt, — d. h. wo man .sie gar nicht braucht
So m.ancherlei Windungen unsere Untersuchungen in diesem zweiten
Theile auch durchlaufen haben, lässt sich ihr Hauptergebniss doch sehr
kurz folgendermassen foiinulireu. Herbart steht ganz abseits der durch
Kant in die Philosophie gebrachten Bewegung. Das erkenntniss -theo-
retische Problem Eant's existirt für ihn noch nicht, vielmehr knüpft er
an die älteren rationalistischen Ueberliefemngen an. wie sie ihm zunächst
durch Leibniz-W<dff veniiittelt waren. Sein System scheitert daher auch
an den Mängeln dieses Rationalismus, bei welchem Erfahrung und Denkea
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III. Kritische Beleuchtung des Herbartischen Bationalismua. 91
weder gesondert zu ihrem Bechte kommen, noch auch eine Einstimmigkeit
beider erzielt wird.
Hier, wo es sich mn die Metaphysik in ihrem geschlosMiien Ganzen,
als Systom handolto, war nnsor kritisches Ererobniss oin xMWq; negatives.
Eine unparteiisclit' historisclu' AVürdigung wird auch übor die spccifisch
metaphysischen Leistungen Herbart's nicht nur abfällig urtheileii. Her-
barb hat in einer Zeit yoll philosophischer Verkehrtheit einen relativ ge-
sunden Standpnncfc Tertreten (vgl. S. 67 f.), dabei aber freUieh der Ver-
k»'hrtlioit — nur in anden-r Dichtung als die Zeitgenossen — auch seinen
Tribut entrichtet. Ein Ausspruch F. A. Lange's, der allerdings nur auf
die mathematische Psychologie lierbart's sich bezieht, kennzeichnet treffend
den Oesichtspunct, der für die geschichtliche Benrtheilnng anch seiner
Metaphysik massgebend isi Ich fnlire denselben um so lieber an, da er
zugleich eine Schät'/nn? der wissenschaftlidifn Persönlichkeit H< rl»art's
enthält, der ich vollkoiuinen beistimme, ohne ihr aber bei Besprccliung
seiner Metaphysik recht Ausdinck geben zu können. „Es bleibt ein merk-
würdiges Denkmal der philosophischen GAhrong in Dentschland, dass ein
so feiner Kopf wie Herhart, ein Mann von einer bewunderungswürdigen
Schärfe der Kritik und von urosser mathematischer Bildung auf einen so aben-
teuerlichen (Jedanken kommen konnte, wie der ist, das Princip für eine
Statik und Mechanik der Vorstellungen durch Speculation zu Imden. Noch
anffallender ist, dass Mn so aiii|B^kUrter, in echt philosophiscer Weise dem
practischen Leben zugewandter Qeist sich in die mühevolle und undank-
bare Arbeit verlieren konnte, ein ganzes System der Statik und Mechanik
des Geistes nacli seinem Princi]) ans/.iiarl>eiten, ohne irgend eine (lewäiir
der Richtigkeit an der Erlalirung zu haben .... Dass Herbart die matlie-
matische Psychologie erfinden konnte, während er in den Eigenschaften,
welche vor solchen Bahnen zu bewahr<'n pflegen, geradezu eminent war,
wird immer als ein höchst denkwürdiges Zeugniss gelten müssen für die
Gewalt des metaphysischen Stradels, welcher in jener Zeit in unserem
Vaterland»' auch den Widerstrebenden ergriff und in die geistige Kometen-
bahn gegenstondloser Entdeckungen hinaussdüenderte** (Gesch. d. Mat. II.
S. 877).
Speculationstrieb und Systemsucht haben noch weit wunderlichere Pro-
ducte zu Tafi:e gefitrdert, als die Metapliysik Herbart's; aber sie ))esiizeu
nicht alle eine so einfache und klare Gliederung, dadurch ihre Absurditäten
leicht augenfällig werden. Tor den krausen Scholasticismen Kant's ist
die deutsche Philosophie bald ein Jahrhundert lang ehrfurchtsvoll dage-
standen, und dieselben boten gerade durch ihre Bunkelheit und Venvorren-
heit jedem Philosophen ein Plätzchen, wo er sich mit seinen eigenen
Liebhabereien und Neigungen ungestört glaubte ansiedeln zu können. Es
hat bei uns in diesem Kantischen Jahrhundert keine philosophische Bich-
tung und philosophische Yeriming gegeben, die nicht wenigstens in Einem ,
Puncte des Kantianismus eine feste Stütze zu haben Erlaubte.
So ist es nun bei Herbart nicht. Sein Bau ist zu klar und durch-
sichtig, als dass in demselben irgend ein dunkler Handel getrieben werden
könnte. Die Formen sind zu scharf und zu entschieden ausgeprägt, als
dass man über die wahre Gestalt derselben einen Augenblick getäuscht
werden, und Verwandtschaften sehen könnte, wo solche thatsächlicli nicht
vorliegen. Wer an das Halbdunkel einer mystischen und mystiiicirendon
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92
Die historische Stellung d. Herbartiscben Hetaph.
Philosophie gewohnt war, musste T<m einer solchen geradezn beleidigenden
Helligkeit und Klarheit nofhwendig zurückgestossen werden. Daher die.
der Breite nach vorhültnissmässig geringe Einwirkung des Horhartischen
Systems auf das Zeitalter, die sich m»'lir aus sr-inen Vor/Jigen als aus
seinen Mängeln erklärt; denn es mag viel Walires sein an dem Ausspruche
D^ring's, „dass theoretischer Irrtham und moralische VerkeihrtlieH weit
eher geeignet sind, die Gnindlagen fitar Sectenstiftnngen jeder Art abzu-
geben, als die Elemente der Wahrheit" (Gesch. d. Phil. 1. Aufl. S. 3B4).
Herbart 's System hat nicht das Zeug dazu, eine coincidentia npposi-
torum abzugeben, die freilich zumeist auf den Beifall der Menge rechnen
diur£ Es fordert zu einem entschiedenen Für oder Wider heraus, und wo
ein solches nieht mit der gehörigen Bestimmtheit auftritt, ist in der Begel
eine mangelhafte Consequenz des Denkens zu vermnthen. Darum gibt es
auch keine strengere, orthodoxere Schule als die Herhartische; denn sie
fühlt, dass ihre Hauptstärke im geschlossenen Ganzen des kunstgerecht
zusammengefügten Systembau's liege.
Diese bedingte Anerkennung, die nach manchen Seiten bereits als
eine Ueberschätzung Herbart's erscheinen mag, wird mir von anderen Seiten
den YnnMirf, ihn weit unterschätzt zn haben, nicht ersparen. Ohne mich
auf die extreme Fassung, in welcher dieser Vorwurf bei der Schule auf-
treten wird, einzulassen, muss ich zu seiner Abwehr doch hinzufugen, dass
hier nieht von einer Schätzung Herbart's, sondern nnr seiner Meta-
physik die Bede war, und das ist keineswegs dasselbe, sondern vielfach:
ein geradezu Entgegengesetztes, wie man aach ans den znvor citirten
Worten Lange's entnehmen mag.
Für eine Gesammtwürdigung Horbart*s liegen weit positivere
Leistongen vor, als seine vemnglfiekte Metaphysik. Am meisten anerkannt
ist dies hinsichtlich seiner Psychologie, wenngleich auch hier die Ur-
theile noch mannigfach variiren von der unbedingtesten Lobpreisung,
welche die Psychologie Herbart's den Leistungen Kepler's und Ne^i,on's
för die Astronomie an die Seite stellt, bis zur absoluten Verwerfung, die
in der 3unnerie** dieser „Fsychologistik** nnr die vollstiLndigste ün-
ffihigkeit zu allem exacten Denken zu Tage treten sieht Allein es wäre
ungerecht, derselben alle Vorzüge abzustreiten, zumal wenn man den Stand-
punct einer geschichtlichen Beurtheilung nicht ganz ausser Acht lässt
Es gab in der deutschen Psychologie — besonders nach Kant — einen
ftrmliehen Angiasstall anszofegen, dass wir es Herbart veraeihen kennen,
wenn er, ähnlich dem griechischen Heros, in seinem Reinigungseifer auch
das Brauchbare niederriss, um ih-n Strom der Kritik n-eht voll und breit
hineinzuleiten, und letztlich den Bau der Psyeholngie allzu frei und luitig
dastehen liess. Es ist äusserst natürlich, dass der Begründer eines neuen
Gedankens mit der Darchfohrnng desselben über das Ziel hlnansschiesst
So war Herbart in der Realisirung seines Strebens. die Psychologie zu
einer exacten, mathematisch präcisirt^-n Wissenschaft zu gestalten, jeden-
falls zu voreilig, denn jene atomistisch aufeinander einwirkenden und gleich
Perlenschnuren aneinander gereihten Vorstellungen sind in der That zu
exact eini^h, nm eine mit dem Thatbestand sich deckende Anschannng
vom seelischen Leben geben zu können. Aber die Tendenz war eine be-
rechtigte, und die Voreiligkeit in positiver Kichtung nicht so schlimm,
als die voreilige Negation, durch welche Kant eine mathematische Be-
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III. Jburitiscbe Beleuchtimg des Herbartischeu lUtionalismust
93
handlnn^ der Psychologie anf aUe Zeiten fBr unmöglich erkUrte. Ein so
unkritischos „Ignorabimus!*' kommt in Herbart's System überhaupt nicht
vor. An jennn t'xact<'ii Ocistc der Herbart isi lu-n Psych« »logio aber, der
sich im «'rstt n Vttlliirt'tühl meiner Kraft allording« zu sorglos über manche
klaffende Lücke hinwegsetzte, haben ein Lutze, ein Wandt, ein Steinthal,
vieler Anderer nicht zu gedenken, ihre 'Nahrung empfangen.
In philosophischen Kreisen weit weniger beachtet^*), und doch, wie
ich glaube, für unser Zeitalter von noch grosserer Bedeutung als Herbart's
Psychologie ist seine Pädagogik. Die Gegenwart ist unermüdlich im
Aufliäufeu neuen Wissens, die Gedankenkreise breiten sich nach allen
Seiten ins Unabsehbare aus, und in gleichem Masse erweitert und com-
pUcirt sich die Aufgabe, das heranwachsende Gesdilecht in dieselben
einzuführen. Die Ueb«lstände, welch»' aus einer mangelhaften Lösung
dieser umfassenderen Aufgabe nidit minder, als aus ihrer völligen Igno-
rirung entspringen, treten Ix-reits so augenfällig au den Tag, dass dutzend-
weise die Keformvorschlüge fiir das ]^iehung8wesen aultauchen, zumal
ein Jeder anf der anscheinend henrenlosen Domftne der PSdagogik un-
gescheut und ungestraft glaubt dilottiren zu können. Mit echtem Dilet-
+;uitisTnns bleiben diese Vorschläge aber auch meist an den Aeusserlich-
keiteu kleben, flicken an den Lehrplänen herum, wobei natürlich ein
Jeder den grössten Lappen, der allem Schaden abhelfen soll, aus dem
Zeuge sdmeidet, welches er selbst trägt, und welches ihm daher am besten
gefällt. Dabei hat man keine Ahnung von der Hauptsache, man über-
sieht, dass das Werk der Eziehung und des Unterrichts keine solche Flick-
arbeit sein darf, dass es vielmehr aus Einem Uusse geschaffen, ein wohl-
gefügtes Kunstwerk sein soll. Barum setzt es aber auch eine geschulte
Knnstflbmig voraos, und diese Schulung wieder kann — zumal sie auf
einen so ausgebreiteten Arbeiterkreis übertragen werden muss — nur von
einem wissenschaftlichen Systeme ausgehen. "Was uns dalier vor Allem
Noth thut, wenn unsere erweiterte und gesteigerte Cultur nicht an ihrer
eigenen Masse ersticken soll, wenn die Beformbestrebungen für eine ent-
sprechendere Jngendbildung nicht ohne durchgreifende Erfolge in Zerfahien-
heit und ZerspHtterung endigen solh ii, ist ein, nach wissenschaftlichen
Anforderungen entworfenes System der Pfidat^nsrik, Ein solches aber
finden wir heute noch allein bei Ilerbart und seiner Schule, welch" letztere
in dieser einen Richtung auch eine lebensvolle Fortbildung der überkom-
menen Lehren bethätigt hai^') Es können diese Behauptungen hier
nur aufgestellt, nicht näher begründet werden. "Wer sich mit klarem,
vorurtheilsfreiem Blick auf pädagogischem Gebiete orientirt, wird zuge-
stelien, dass man hier in Wahrheit fast durchweg nur auf mehr oder
weniger glückliche und vollständige Conglouierate von Meinungen stösst»
dagegen bei Herbart ein wohlgefagter systematischer Bau uns entgegen
tritt, nicht a priori aus vagen Principien constnürt, sondern im Zusanuiien-
hange mit der Wirklichkeit entst:ui(leii und für diese eingerichtet. Dabei
birgt die Einzelausfühiung einrn inneren Gelialt, der durch trübende Bei-
mischung falcher Philosopheme hie und da verunreinigt, nie aber völlig
entwerthet werden kann. IMesem werthvollen Gehalt entspricht — na-
mentlich in der „Allgemeinen Pädagogik" v. J. 1806, die mir überhaupt
als das formvollendetste Werk Herbart's erscheint — eine originale Classi-
cität der Darstellung, die freilich über die langweilige Breite des her-
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94 Die historisijhe Stellung d. Uerbartischen Jüetaph.
gebrachten Sdiulmeisterjaxgons weit hinauslicgt, einem gebildeten Ge-'
Bchmack aiber nur mn so mehr zusagen wird.
Die Pädagogik bildet bei Herbart ein Vermittlungsglif d zwischen
der thooretischen und pra et i sehen Sphäre, doren vOllig-e Trennung in
den Grundlagen er so entschieden durchgeführt hat, in behr verdienst-
licher Consequenz eines Kantischen Gedankens, der vom Urheber lange
nifht streng genug ftst^ehalten worden war. ISueh mebr aber wird die
Geschichte an Herbart's practischer Philosophie rühmend hervorzuheben
haben, dass sie den st^irron Kigorismus und den kahlen Formalismus
der Kantischen Ethik corrigirte, durch Parallelisirung der ethischen mit
der ästhetischen Werthschätzung und durch inhaltliche Grestaltung jener
▼ermittelst AnftteUang der praktischen Ideen. Sie bildet anf diese Weise
eine Art Ueberleitung von Kant zu den englischen Moralisten, welche
sich durch ihre freisinnige nnd natürliche Aoffiassang der ethischen Ver-
hältnisse auszeichnen.
Diese korzo Ueberschau mag genügen, darauf hinzuweisen, dass unter
den Leistnngen Herbarf s gerade die Metaphysik am wenigsten Etwas
von bleibendem Werthe enthält. Ein solcher Hinweis schien, wenn er
gleich die Grenzen, welche dieser Darstellung durch iliren Gegenstand
gezogen sind, einigermasscn überschritt, doch sehr nöthig, um zu ver-
hüten, dass nicht das über Herbart's Metaphysik ausgesprochene Urtlieil
eine verallgemeinerte Dentong erfahre, die mir selbst sehr fem liegt
Die vollt' AVürdigung der Verdienste eines Philosophen hat bis noch
die Geschichte der l'hilosophie stets der Culturgeschicht« überlassen. Eine
Culturgeschiehte des neunzehntem Jahrlmnderts stellt erst von der Zukunft
zu erwarten. Jedenfalls wird sie auf Herbart eingehend Eücksicht zu
nehmen haben nnd an ihm ein werthvolles nnd fruchtbares Object ihrer
Kachforschnng finden.
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Anmerkungen.
*) So wenip systematisolie ErSrterun^n im Bereich der gegenwärtigen
Betrachtungen liefen, so scheint doch eint« kurze Erkläruti^' über den Gc-
lirauch des Wortes ..Appereeption*' erforderlich. Zwar ist dasselbe beson-
ders nach dem Vorgange Steiuthars inniier allijemeiner in der durch Her-
bart eingefÜlurten Bedeutung der Aiu'i<:nuti<^' einer Vcnvtellttngsnmssc durch
eine andere — der ./Hewecrung zweier Ynistflluiigsinassen gegen einander
zur Erzeugung einer ürkenntniss," wie Stciuthal (Abriss d. Sprachwiss. 1.
S. 171) sagt — in Aufnahme gekommen. Ghegen eine derartige Anffiftssung
des Sachverhalts sind aber von Wundt (Physiol. Psychol. S. 718, 798) ge-
wichtige Bedenken erhoben worden, wobei zugleich die Verwendung des
Ausdrucks .,Appereeptiou" in einem von Herbart wesentlich abweichenden
Sinne durchgetiihrt wird. Allein als zusaiunicnf'assendc Formel für geiiVftae
psychische Thatbeständc si-lu int mir jene llt-Htart-Steintharsche Bezeichnung
unbeschadet der Bedenken Wiuidt s durchaus zulässig. Nach Stcinthal (a,
a. 0. 8. 181) „bezeichnet A]»ik r( eption ganz allgemein nur die theoretische,
vorstellende, erkeiniende Thätigkeit der Seele von Seiten des innfTn Ge-
schehens oder Tliiitis selljst — den Inliegriff i\er seelischen Processe, auf
denen die jedesmalige Erkenntniss beruht." Eügt man auch den speeielleren
Gedanken des Apperceptionsbegrirt's hinzu, das die Erkenntnissbildung in
der AVeehselwirkung verschiedener Vorstellungen und Vorstellungsgruppcu
bestehe, so kann mau sich damit inuner noch im Kreise des rein That-
sSehlichen halten imd in diesem Sinne allein» der auch der gegenwärtig all-
gemeineren Ver\v(<ndung de«) Apparoeptionsbegriffs zu Grunde dürfte,
gedenke ich ihn zu gebrauchen.
•) Die systematologischcn Kategorien, durch welche die verschiedenen
philosophischen Kiehtungcn charakterisirt werden, leiden vielfach an Un-
klarheit und sehwiuikendeiu Gebraueli. Daher ist es oft nöthig, ihrer Ver-
wendung eine Dehnitiun vorauzuschicken. Was ich unter „Kationalismus*'
verstehe, habe ich im Text in aller Kürze angedeutet; zum Zweck einer
näheren B«>stimnunig verweist^ ich auf dii^ Ausführungen Paulsen's in seiner
') Es ist nicht ohne Interesse, zu bemerken, wie Herbart hier genau
denselben T'nterschied berührt, welchen Kant in seiner Al>handlung: , .Ver-
such den Begrifl' der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen"
(1763) als den Gegensatz logischer und realer Repugnans aufstellt, und der
für seine Entwicklung in Richtung auf den Kmpirismus grundlegend ge-
worden ist. Jener Gegensatz nämlich führt ihn zur Unterscheidung des lo-
gischen Grundes Tom Realgnmde und damit zur Einsidit in die uiumläng-
lichkeit des Hationalisraus (vgl. Paulsen, Entwicklnngsgesch. d. Kantisclien
Erkenntnisstheorie S. 37. S.). Diesen Gonsequenzen fräUch ist Herbart nicht
i^hgegangen.
Anmerkungen.
*) Zinmu rraann hat in seiner ^bioi^raphischen Studie" über die „Pcrio»
den in Herbart's phildsoiihischoni Geistespantr" eine ent«re<ren;resetzte Ansicht
entwickelt, indem er uaclizuweisen sucht ( Silz.-Ber. d. Wien. Akad. iH3. Bd.
S. 188 ff.), dest der betrachtete Anftatz sicli in vollständiger üebereinettm-
munjr mit der Wissenschaftslehre 1n>fiiide. Ftadnrch wird ihm derselbe zu
einem Zeugnisse für Herbart's Anliängerschal't an Fichte, die demnach bis
in den Sommer 1796 — nach Zimmermannes richtiger Bestimmung ist der
Aufsatz zwischen Juli und September vcrfasst — gedauert hätte. Diese
letztere Annahme wird aber an sich durch die oben citiiien Briefstellen
hiniallig. Bereits am 1, Juli loatte Herbart seineu Zweifel der Wissen-
Bcbaftslehre gegenüber ausgesprochen, und erklBrt, siob eine „eigene" maohen
zu wollen. Dürfen wir ihn bei solchen Aeii««eruiipfcn noch mit Zimmer-
mann als nFichteaner" ansehen, und aus demselben uur entnehmen, dass
er „es aiu£ während der SSeit seiner hingebencteten Verehnmg (für Fiehte)
niemals mit Verzioht auf das eigene Urtheil war* (S. 195)? — Rasche Um-
schwünge kommen in Herbart's Denkentwicklung nicht vor; die Ueberle-
gungeu keimen lange bei ihm, ehe sie in einer gewissen Vollständigkeit ans
licht treten. Wäre es bei dieser Eigenart denkbar, dass er zwischen Juli
und September noch Anhänger Fichte s war. um im S'^]itembpr und October
darauf, wie wir noch zu sehen habeo, die Kritiken auszuarbeiten, welche
stets als der entschiedene Aus^ck seines G-^ensatzes zu Fichte angesehen
worden sind? — Alle diese Umstände machen es schon für sich unmöglich,
dass Herbart bei Abfassung jenes Aufsatzes noch Fichtes Anhänger war,
zu welcher Annahme überdies der Aufsatz selbst keinen Anlass gibt. Viel*
mehr zeigt er in völliger Uebereinstimmunp: mit den übrigen Kundgebungen
die Ansätze eines selbständigen riiilusopliireiis. das sich wdbl an die Wis-
seuschaftslehre anlehnt, aber nur unter wesentlicher Umgestaltung ihrer
Grundgedanken.
Zimmermann ist zu seiner Auffassung, die sich so viele selbstbereitete
Schwierigkeiten entgegenstellt, wie es seheint, nur verleitet worden durch
Hartenstein's l'rtheil, welches letzteri- wieder bedingt sein dürfte durch die
falsche Datirung des Auft'atces. War dieser, wie es Hartenstein angenommen
bat. 1794 vei-fasst, so musste er noch in die Periode der Anhängerscdiaft
Herbart's an Fichte fallen, sonst bliebe für diese Periode, die durch ander-
weitige Zeugnisse als thatsäddich verbürgt war, gar keine Zeit übrijf.
Durch die Correctur der chronologischen Daten hatte sich Zimmermann
unmittelbar die Bahn zu einer richtigeren und ungezwungeneren Deutung
des Aufsatzes erollnet uml Hartenstein's Autontät hätte ihn nicht abhalten
aollen, dieselbe zu betreten.
T'eber das Verhältniss Schellinii's zu Si>inoza, und Herbart's richtige
Beurtheilung desselben vgl. man Ziumiermann a. a. 0. S. 20ü f. In dem
dort angeführten Brief an H^l characterisirt Schelling sane Stellung zu
Spinoza genau in derselben Weise, wie dies durch Herbart geschieht.
•) Näheres über Schelling's Verhältniss zu Fichte findet sich ebenfalls
bei Zimmermann a. a. U. S. 197 f.
') Als schlagendsten Beleg für die Behauptung des Textes führe ich.
hier eine Stelle aus der „ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre" (1707)
an: „Der letzte Orrund der Verschiedenijeit des Idealisten und Dograatikers
ist die Verschiedenheit ihres Ibiteresse. Das höchste Interesse und der
Grand alles übrigen Interesse ist das für uns seihst. So bei dem Philoso-
Ehen. Sein Selbst im Raisonnement nicht zu verlieren, sondern es zu er-
alten und zu behaupten, dies ist das Interesse, welches unsichtbar
alles sein Denken leitet. Nun gibt es zwei Stufen der Menschheit;
und im Fortgange unseres Geschlechts, ehe die letztere allgemein erstiegen
ist, zwei Hauptgattungen von Menschen. Einige die sich noch nicht zum
vollen Gefahl ihrer Freiheit und absoluten Selbständigkeit
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Anmerkungen. ^
«rhoben haben, finden sich selbst nur im Vorstellen der Dinge. J >as Princ in
Dogmatiker ist Qlanbe an die Dinge vm ihrer selbst willen, also mit-
telbarer Glaube an ihr ei<reiies zerstreutes unil durch die Objecte getragenes
Selbst. Wer aber seiner Selbständijrkeit und L'nabhän}*^i;)rk«"it von allem was
ausser ihm ist, sich bewusst wird, der bedarf der Dinge nic lit zur Stütze
s. im s Selbst und kann sie nicht brauchen, weil sie jene Selh»täiidif^keit anf-
htheu uud in leeren Schein verwandeln ' (Fichte's S. W. 1. S. /,;.7). Seinr
Philosophie, erklärt Fichte (ebd. 8. 467), sei „gani: una/jltaugig von ailer
Wülkttr, und ein Prodnct der eisernen Nothwendigkeit — d. n. der prae-
tisch Ol Nothwondig^keit. Vjrl. auch ebd. S. 121 und S. 175 Anm.: „Zum
Fhilosophiren gehört Selbständigkeit.''
•) Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier darauf hinzuweisen, dass Hume,
den die Gegenwart Tiiit Recht aus der Reihe der Skeptiker gestrichen, imd
zum Haupt der Knqiiristen jremacht hat, in dem Abschnitte über Freiheit
und >«othwendigkeit den Determinismus durch Berufung auf die alltäglichen
Ihrfahmngen stützt, und ihn für diejenige Anschauung erkürt, der das natür-
liche Bewusstsein des 3IensrhiM) unbedingt ImMiLrr. so das« der jjanze Streit
um Freiheit oder Nothwendigkeit des menschlichen Willens nur ein Wort-
streit sei (vgl. Anm. 33). Es kann danadi nidit befremden, wenn wir auch
1)ei Herbart die deternünistiache Ueberzeugnng unmittelbar aus der Berncdc-
sichtigung der Erfahrung entspringen lassen.
♦) Hiebei ist nicht ausser Acht gelassen, das» Ifei ltart selbst wieder-
holt die strenge Widerlegung des Idealismus nur auf die inneren Wider-
sprüche eines spontan producirenden Ich gründen zu können erklärt. Der
Idealismus ist ihm „von aussen unwiderlegbar. Aber seitte inneren Wider'
«jiffidke machen ihn platten" (III. 35). „Es giebt überhaupt keinen gründ-
bohen Realismus, als nur allein den, welcher aus der Widerlegung des Idea-
lismus hervorgeht", diese aber wird fjeleistet durch „die Uumögliclikeit und
völlige Ungereimtheit" des Fichte' sehen Ich ( VI. 71 ). An einer andern
Stelle (VII. 152) bemerkt er, die bedingte und abhängige l^atur der loh-
heit sei das erste, was sich ihm enthüllt lialx'; l)estimmter ii'k ]i XI. Vorw.
S. IX.: „Sie wissen, dass ich weit entfernt bin, diesen meinen Realismus
als ein Axiom hinzmtellen. Das leb des Idealismus war gerade der erste
• it ^'enstHnd meiner selbständigen Untersuchungen. Die Unmöglichkeit dieses
Ich war deren erstes Ei^ebniss. Völli<;es AutVcben des fresammten Idealis-
mus als einer in jeder Gestalt uuriclitigen Ansiclit, war die unvermeidliche
Folge. So entstand auf rein tlu.'oretischem Wege mein Realismus".
Allein die Art und Weise, wie die Kritik über Schelling das Reich
des Seins als das mit dem Gefühl des Zwanges und der Nothwendigkeit
Gesetete einfuhrt, sowie die weitere Thatsadie, dass die systentttisehen Dar-
stellungen der Metaphysik den Begriff des Seins aus dem Gegebenen ab-
leiten (Allgem. Metaph. ^ 201 ) dürfte es rechtfertigen, dass ich das reali-
stische Element der Metaphysik Herbart's in genetischen Zusamraeuhang
bringe mit seiner lichre vom „Ge}2;ebenen". In diesem l'unkte inag Fichte's
Aeusserung. der Character des Menschen bestiinme die Philosopliie, welche
er wähle, vollständig zu Recht bestehen, und es kam mir darauf an, den-
jenigen Characterzug Herbart's henronsuheben, der seine reaUstisdie Rich-
tung in der That bedingfte. Der Idealismus, meint Kant, habe immer eine
„scliwärmeriache Al)sicht-^ und eine solche ging Herbart gänzlich ab. — Für
die richtige Auffassunp^ seines Systems als Rationalismus, wie sie im Schluss-
wort unseres ersten Theiles (oben S. 48) kurz ausgesprochen ist,^ bleibt
immerhin zu beachten, wie Herbart auch seinen Realismus durch rein legi-
sehe, d. h. also rationalistische Beweismittel zu begi*üuden sucht.
Dass fiborhaupt die Frage nach dem Sein Herbart mindestens ein
.lahr vor Abfassung jener Recension beschäftigt hatte, geht aus den Mitthei-
lungen eines seiner vertrautesten Jenenser Freunde, des nachmaligen däni»
»
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98
Aninerkangen«
scheu Conferenzrathes Rist hervor. Dieser war ITi^o nach Jena gekommen»
wo üun Herbnrt zttergt f^ezeijart wurde, „wie eine {gewaltig«, unnalib«re GrSne,
tiefsten CTehalti";", mit der or ,.l<eiiu' Bc/.iehnn<r niö^Hcli sah". Doch kam
es bald 7.n einer Anniiheruug zwischen beiden, und iiist's Tagebuch nennt
den Aliend, wo ihm Herbart „zum ewt«n Male die Tiefen der Ab»traction,
die Lehre vom Sein und dem Icli (iiViii t» "Wie sehr auch Rist t,wit
frischer Sinnlichkeit wiilerstrohto'*. sirh ,.ari Jif Wirkliclikpit klHniiiifrto",
Herbart's „Sieg war vollkommen'' und die Freunde setzten ihre philoöophi-
scben UnterhflStungeii von da an regfelmSssig su bestinimter Ta^stunde
" ) Ucber die Uumöglichkeit, auf den Idealisnnis eine Pädagogik zu
gründen, hat sich H^art nochmals wiederholt anspfcsprochen, so im A ß G
der Anschauung XL 208 und 216, , an welch' lrtzt( i('r Stelle es hoisst:
^Kein leisester Wind von irnnftcendentaler Freiheit (iarf in da« Gt-hict des
Erziehers durch irgend ein Ritzchen hineinblasen." Derselbe Band enthalt
einen besonderen Aufsatz über das Verhältniss des Idealisnnis zur Pädago-
pk". aus dem ich foljrcndc Stfllo I S. 337) hervorhebe: r^h'r Be^a-iff der
allein Mjhon ist < ine geniij^ende WMexlegnng des Idealismus m> jeder Form,
die er versuchen kann. Und eine von den wichtiprsten Prolien wahrer Me-
taphysik und Psychologie besteht gerade darin, dass sie das pädagogische
Causalverhältniss begreiflieh macht**
Die Mittheilungen an H. von Steiger sind von Hartenstein in den
S. W. falsch angeordnet und datirt. Die Hichtigstellung findet sich im
„Jahrbuch d. Vereins f. wiss. Fädag.*' herausgeg. y. Ziller. Bd. II, S. 251.
*') Was die Zeitbestimmung der ersten mathematisdi-psychologischen
"Versuche Herbart's anlangt, so sagt, er selbst, dass sie ^noch in die letzten
Monate des 16. Jahrli. fallen" (VII. 135) und dass die (iruudformeln seiner
mathem. Psycholug^ie melit- als 6 Jahre vor Anwendung derselben auf die
TonvcrlmltniHso o;eiunden sei i VIT. in"). Diese An\v«Miduiin; enthalten aber
bereits die IdOÜ zuerst gedruckten Hauptpuixkte der Metaphysik. Daher
■oheint mir auch der ZwSfel, den Zimmermann (a. a. O. S. 224) hegt, ob
wirklich die psychologischen Rechnungen, welche Hartenstein erwähnt, noch
in der Schweiz geschrieben seien, unbegründet. In ähnlich schwankender
Weise si)richt sich Zimmermann über diesen Punkt bereits in einem früheren
Aufsatze (Sitz.-Ber. d. AVien. Akad. phil.-hist. Cl. 73. Bd. S. 35) aus.
Je mehr sich Herl>art der Mathematik zuwendet, um so entschie-
dener wird sein Gegensatz gegen Fichte. So schreibt er am 28. Oct, 179$
(Unsedr. Br. S. 7) an Muhiibeok: „Seit Deiner Abwesenheit hat mich KSst-
ner Deschäftigt, nicht Fichte, sein Fccnpallast ist für mich nicht wohnbar.
Unsere Stunden sind gezählt, bei mir Avenigstens wird das Verlangen nach
dem Sicheren und Festen jeden Tag ungestümer; zu wissen, dass dieser und
der sich irrt, wie wenig ist das? — Was Deine Augen sehen, w^as meine
Rechnungen lehren, das ist doch etwas, worüber man nachdenken kann,
— und worüber man nachdenken muss. — Kästner wurde mir anfangs sehr
schwer, nadi und nach leichter. Da ich mich bei der DiflPerentialiechnu]^
in gutem Crange fand" u. s. w. — Klistner's mathematische Lehrbücher, die
eich in 7 Bänden fast über alle Theile der Mathematik verbreiten, bildeten
lange Zeit zufolge ihres encyclopadisohen Gharacters und einer anziehenden,
gleichwohl aber nicht unrrründlichen Darstellungsait, das vorzüglichste Hilfs-
mittel derjenigen, die sich in weiterem T'^mfange mathematische Kenntnisse
aneignen wollten. Auch Kant spricht voll Anerkennung über den „berühm-
ten Herrn "Prot. Kästner, unter dessen Binden Alles genau, fasslich und
angenehm wird" ( Versuch d. Begr. d. n^. Grossen n. S. W. KL Sehr. i.
JjQg. u. Metaph. ed. Kirchm. I. S. 24).
fort (Rel. S. -220).
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Anmerkangfen
99
**) Herbart hatte iu Bern eiuen Freundeskreis um sich, der a\is fi lih, ren
^enenser Studienfrenossen bestand und allwöchentlich eine Zusmnmeiikuufi
hielt» Hier hat • r. wie es scheint, sein ^neues System" mitgetheilt und
zwar einffeloitet durch einen V(»rtra<( „über ])hilos. Wisson und ;»JiiIos. .Sfu-
diuni-' (Rel. S. fl.) — eine nach Form und Inhalt vorzügliche Leistung.
Die Schwierifirkeit, in der Philosophie xu einem festen Wissen eu gelangen,
die Fordern 11 alltMfrrösstor Vorsicht an den Philosoiihon, da-^s or nicht bloss
aabjeötive Meinungen iu sein System aufnehme, wird mit ausgezeichneter
Klarheit, Umsicht und mit grossem Nachdruck entwickelt. Hierauf be-
spricht die Alihandhuii,' die verschiedenen Antriebe XAun Philosophiren und
geisselt (lai)ei das Idoss historische oder par ekh'ktisclie Philosophiren mit
zutretiender Schärfe. Dans Herbart gleichwulil die Geschichte <ler Philo-
sophie nicht vernachUi8»igt hatte, seigen die Beispiele, die er derselben als
Bele<xe für seine Ausführuii<.''en entnimmt. I'iiter anderen tritt die Bemer-
kung auf, dass in der Philosophie grossen Krtiudern treÜ'liche Ordner folgen
— so „auf Kant Reinhold". Die Systematisirung der Kantischen Philoso-
phie durch h'tzteren bilde den rclierfranjT /u Ficlito's Deductionen, also
auch zu Herbart's System, und die Ausführlichkeit, mit welcher er am
Schlüsse des Aufsatzes auf Keiniiold's Beschreibung der systematischen Form'*
eingeht, soll augenscheintioh die Ueberleitung zum Vortrag des eigenen
Systems bilden. — Zehn Jahre später suchte umgekehrt Keinh(dd den An-
schluss an die Philosophie Herbart's (s. Ungedr. Br. S. 120 ff.).
Zwei kurze Aufzeichnungen, die Herbart zu Anfang des J. 1800
ttber „Kantischen und Fichte'schen Idealismus" und „zur Kritik der Ich-
TOrstellung" verfasst liat i Kel. S. 'ÜT) enthalten nichts Neues und scheinen
nur Ctonunentai'e zu den tVüheren Arbeiten zu bilden.
An Harteustein's Aeusserungen über die Thesen darf man wohl nicht
einen 90 strenp^en ]llassstab anletfcn, da sie nicht im Zusammenhang einer
historisohen Untersuchung, sunderu nur als kurz charakterisirende Bemer-
kungen zu HerbsAi's Geistesproducten auftreten, und keineswc'gs den Zweck
haben, scharf begrenzte Perioden seiner Entwicklung zu unterscheiden, wie
dies die ausgesprochene Absicht Zimmermann's ist. Darum hätte auch
Zinuuermann sich nicht — wie es fast der Fall gewesen zu sein scheint —
so sorglos dem I'rtheil Harteustein's anschliessen dürfen, zumal ihm am
Briefwech'^el ein Material zu Gebote stand, über welches Hartenstein noch
. nicht verfügte.
Zimmermannes Aufstellung, wonach die Entwioklungsperiode Herbart^e
mit den Thesen alischliessen soll, lässt sich um so weniger rechtfertigen,
als er über Herbart's „philosophischen öeistesgang" im Ganzen schreibt,
und auch Hartenstein her\-orhebt, dass Herbart über die Principien der
practischen Philosophie erst später (1804) mit sich ins Reine gekommen sei.
Noch 18<)6 erklärt letzterer in einem Brief an (Tries. sein System sei noch
in so manchen Theilen erst im Werden (Rel. S. 164j, wobei indess wohl
hauptsichlich an die praotisohe Philosophie zu denken ist. Hinsichtlich der
Genesis dieser letzteren fehlt es fast gänzlich an Daten, und daher ist es
freilich natürlich, das auch Zimmermann nur den Entwicklungsgang der
theoretischen Philosophie Herbart's in Betracht zieht.
**) Man würde vor allem gene%^ sein, einen genetischen Zusammen-
hano; Herbart's mit Leibniz anzunehmen. Dass ein solcher rücksicbtlich
der speciell psychologisuhen Ansichten nicht existire, hat Herbart selbst
erklärt Im ersten Bde. seiner PeyeK a. Wies. (§ 18. V. 241) gibt er als
psychologischen Hauptsatz Leibniz's an: nlies qualites et actinns internes
d'une monade ne peuveut etre autre chose que ses perceptious — et ses
appetitions, c'est-ä-dire, ses tendances d'une perception ä l'autre," in wel-
chem sieh recht deutlich die Verwandtschaft mit seiner eigenen Psychologie
■ZU erkennen gibt. Bald darauf heisst er aber: „Leibniz's richtigen Gedui-
7»
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100 AnmerkiingeiL
ken hoiYe ich am gehürigeu Orte bestätigen und ausführeu zu. können; ob-
gleich die dahin gehörigen UebOTseugangen viel früher, bevor ich die Werke
jen«"< Philnsdplien sfiiilirtf. bei mir fVst stamlen. Es ist die rnttn'suchunfj;'
über ilas Ich, welche mich hier, wie in mehreren Punkteu, aal' Leibniz's
Spur gelührt hat/' Unter diesen „mehreren Punkten" dürfte wolil anoh
die alj^emeine Aualc^e der Realra Herbart'i mit den Leibnix^schen Ho>
naden einhej^riffen sein.
'"j Daü»Uerbari die mathematischen Betrachtungen nur dem in seinen
Grundzügen fertigen System hinzufügte, scheint mir auch daraus hervorzu-
gehen, wi«' er den metaphysi^iclu-n (Tcdankeii iiiutliHinatische Analofrieeii in
otl'enbar unzutreffender Weise an die Seite setzt. So nennt bereits das ABC
der Anschauung (XI. 96) die mathematischen Integrationen einen Special-
fall der philosophischen Methoile. dureli Hinzndraken der nothwendigeii
Beziehungen <lie \Viders])rüche der Erfahrunof zu lösen; - was aber hat
denn die Integration mit Lösung gege]>enor Widersprüche gemein ? — Solche
Wendungen werden nur begreiflich, wenn wir annehmen, Herbart habe erat
vom «^n'woniK Mon metaphysischen Standpunkt aus jene mathematischen Leliren
au^elasst, appercipirt, wodurch es freilich nahe gelegt war, dass sie den
Formen des Systems aidi einfügten.
„Unsere Grundsätze sind zu sehr ein Werk der Anstrengung und
der Jahre. al<; dass sie, sohon gebildet, sich füglich wieder umbilden könn-
ten-* (X. IlOj.
*') Eine kurze Uel)ersehau mag darlegen, wie weit verbreitet jene ( wie
sich zeifren wird irrige) Ansicht über <la^< Verliältiiiss Herbart's zu Kant ist.
Dass die Schule auch in diesem Punkte strenge an der Meinung des
Meisters festgehalten bat and seine Lehre nur für den richtig verstandenen
und fortgefülurten Kriticismus ausgibt, ist naturlich. Selbst ihr bedeutend-
ster Vertreter, Drobisch, der .'«ich noch am meisten von Schulvorurtheilen
freigehalten hat, lässt Herbart mit Locke und Kant an der gleichen Aulgabe,
der Untersuchung über Umfang und (irenzen des Erkennens, arbeiten ( Logik,
4. Aufl. S. 2' 'O l. und liat in seinem Vortrag „Ueber die Fortbildung der
Philosophie durch Herbart" (löTti) die Herbartische Metaphysik völlig unter
dem Gesiohstpunkt eines — wenn auch Vieles ablehnenden und omgestalten-
den — Anschlusses an die Kantische Philosophie und einer Fortbildung
derselben dargestellt.
Auch in den gebräuchlichen Handbüchern der Geschichte der Fhiloeo-
phie begegnen uns ähnliche Ansichten. Erdmaun (Gruudr. d. (lesch. d,
Phil. J. Aufl. Bd. IL S. f)!.')) nennt dasjenige, was Herbart selbst über sein
Verhältniss zu Kant gesagt, „Alles buchstäblich richtig; er hat wirklich
seinen Ausgangspunkt von Kant genommen, dabei aber alles das bei Seite
gelassen, was dessen Nachfolger zum Idealismus und Pantheismus geführt
hatte." Seine Darstellung verfolgt ausdi'ücklich den Zweck, „den Zusammen-
hang Herbart's mit Kant hervortreten zu lassen" (ebd. S. 516). Uebrigens
ascheint hier Herbart's Philosophie (gemeinschaftlich mit derjenigen Scho-
penhauei's) unter der Ueberschrift : ..Kritiscli«' Reaeiion gegen das Identi-
tätssystem unil die Wissenschaftslehre", was mit Kücksicht auf Herbart's
Entwicklungsgang und auf den breiten Baum, weldien die Polemik gegen
Fichte und Schölling in seinen Schriften einninunt. nicht ungerechtfertigt
ist; aber es ist doch unzukömmlich, dass dadurch das negative Moment der
Gegnersobaft so ausschliesslich in den Vordergrund gerfiokt wird. Positiv
wird Herbart's System bei Erdmann als „individualistischer Bealismus^'
l)e7.eichnet, womit erst der speeifi-.ch metaiihypische ('haracter angegel>en
ist, während doch die erkenntnisstheoretisch-methodologische Seite, nament-
lich mit Rücksicht auf Kant, bei Herbart das Erhebliche ist.
Ueberweg spricht sich weniger ausführlich über den fraglichen Punkt
aus, doch lässt er ebenfalls von Kant den Anstoss ansehen welcher, Herbart
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101
in die realistische Kichtung iiihrte ((rrundr. (?. (tcscJi. d. Phil. III. Bil.
Aull. S. I.'i.j), indem dieser anknüijfte „an das realistische Elejiieiit ia
der Kantischen Phildsophie" i e1)d. S. 298).
AVoiiiger scheint Zeller der Tradition /u folfTf-n, wenn <t zwar -.wich
gleich Erdinann — den Character der Herbaitischen Philosophie ia erster
Reihe durcb den Oegensatz pregen die WissenschafUlehre und die Idenütats-
philosophie als realistisch und individualistisch bcdinfit sein läset, jfleichzeitig
aber sie für einen Versuch erklärt, tlasjenitre, was Kant von der früheren
deutschen Philosophie noch herübergenonimeu hatte, weiter zu verfolgen,
die Leibniz -AVoltfisehf Meta]ihysik dem veränderten wissenschaftlichen Stand-
punct entsprechend umzubilden (G('R(!h. d. dtnitscluMi Phil. 1. Aufl. S. ^.'..'i f. >.
K. Fischer hat im V. Bd. seiner Iresch. d. n. Phil, auch bereits das
Schema entworfim, nach welchem er Herbart unter die von Kant ausdrehen-
den Philosophon cinrcilit. und seine Ausiiihrungcn verdienen als ein Curiosum
des construirenden A'erfaiirens etwas nähere Beachtung. Vor allen Dingen
wird die „logische Ordnung" der Systeme festgestellt (S. 26). die zunächst
die Gegensa^ der anthropologischen und der meta])li\ sieben Richtung er-
zeugt; diese spaltet sich weiter in den Staiidi»unct <U'r Nielitidentität und
den der Identität. Den erstercu nimmt Herbart ein, während der andere
den Vertretern des sogen. Idealismus sugehört. Ohne hier zu untersuchen^
in wie weit mit dieser allfreirieincn. dürftigen und namentlich rüeksichtlich
Uerbart's nicht ohne Künstelei zureclitgeschnittenen Schablone der wahren
Eigenthümlichkeit der Systeme Rechnung getragen ist, wollen wir nur zu-
sehen, wie unser (Teschichtslogiker seine aprioristische Construction in der
..historisehen Ordnung" (S. 28) bestätigt findet: „Die metaphysische Rich-
tung nmsste den Standpunct der Identität in seinen Hauptiormeu ausgebildet
und erschöpft, also den Abschluss in Hegel erreicht haben, bevor aus meta-
physischen Gründen di'r Standjmnct der Niehtidentität in Herbart dagegen
auftiejk^ konnte. Hegers erste grundlcgemle Schrift, die Phänomenologie,
fällt in das Jahr im7 . . Herbart's „Hauptpuncte der Metaphysik", die
erste seinen Standpunct begründende Schrift erscheint 1808." Nun sind
aber leider die .,Hau])tpuncte" bereits im Sommer l.stifi als Manuscript ge-
druckt worden, und K. Fisclujr's „historischer" Nachweis könnte bloss iu
der Weise einige Begründung erhalten, wenn man ^wa die Buchhändler
für das eigCHtliche Organ des Z eitgeistes erklärte, so dass nur dasjenige
als anzuerkennende Manifestation seiner Entwicklungen erscheinen dürfte,
was durah ihre Hände gegangen wäre, üeberlassen wir das K. Fischer,
der die historischen Belege für die Richtigkeit seiner logischen Constructionen
den Jahreszahlen auf den Büehertiteln entnimmt! Oeht man der wahren
„historischen Ordnung" nach, wie nur die Entwicklungsgeschichte der Systeme
sie darlegen kann, so hatte Herbart seinön Standpunct im Wesentludien
bereits 179G, also jedenfalls frülier als Heg(d. gewonnen.
Um hier schliesslich noch eine Kundgebung ueuesteu Datum's anzu-
führen, verweise ich auf das Werk „Speculation und FhOosophie" von Dr.
Wolff (Berlin 1878), wo Bd. I. S. 131 ff. Herbart ebenfalls in den engsten
sachlichen Zusammenhang mit Kant gebracht, und sein System geradezu
für dasjenige erklärt wird, ..welches Kant s metai>iiysische Orundausiclit am
treuest«u wiedergibt."
"■" I Den Sinn dieser Terminologie: ,,logiselies Priidieat" erklären uns
unmittelbar die Worte im „Beweisgrund": das Dasein bilde „nicht sowohl
einPrildicat von dem Dinge selbst, sondern vielmehr von dem Gedan-
ken, den man davon hat."
Den durchgreifenden Unterschied zwischen der Herbartischen und
der Kantischen „absoluten Position" hat bereits Langenbeck (..Die theore-
tische Philosophie Herbart's und seiner Schule und die darauf bezügliche
Kritik". Berlin 1867, S. 28, 36) richtig hervorgehoben. Ich fühle mich
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Anmerkungen.
uiiisomchr verjiflichtet, liierauf liiuzuweisen, als Langenbeck niclit oline (rrund
sich über die geringe Beachtiuinr, die seinem Buch zu Theil geworden sei,
Ix'klatrt hat (Philos. B.l. Tl. S. nr.s fV i :\Innatsh. Doch Hillt <lie Schuld
liierau zum guten Theil auf die wenig geniesshare Darstellung, die er seinen
Gedanken gegeben liat. Dieselbe erschwert dss Stadium seines Werkes so
sehr, dass gar Mancher sich scheuen mag, die mühsame Arbeit zu unter-
nehmen, um am Ende doch nur zu wissen, was bereits vor dem für ihn fest-
stand: dass die theoretische Fhih)so})hie llerharts in wesentlichen Puncten
unhaltbar ist. Die positiven lim- und Fortbildungen aljcr, welche Langen-
beck derselben zu gelien sucht, dürften für .lemaiiden. der den Standjtunct
Herbart' 8 im Principe aufgibt, kaum von erheblichem Interesse sein. Auch
ich ksmn nicht sagen, dass ich dem Werke Langenbeck's eine irgendwie
belangreiche Förderung danke, zumal meine hieher gehörigen T'^eberlegungen
völlig unabhängig von demselben zu Stande geknmmi'u waren, weshalb ich
ihnen auch in meiner Darstellung ihre selbständige Form gelassen habe.
Die differente Fassung des Seinsbegriffs bei Kant und bei Herbart
musste hier umsomehr noch einmal eingehend erörtert werden, als das dies-
bezüglieho Vorurtlieil vielfach noch ungeschwächt fortbesteht (vgl. Drobisch's
citirteii Vortag S. I i f. u. Wölfl", a. a. ( >. S. l.Ml. L'haraeteristisch -• und
daher bcMoinlei-s iiervorzuliebe'n ist. wii» von S' iten der Herbartischen
Schuli! der Nadiweis Langenbeck's, „da^^s Herbart ihm liegriti' Kant's vom
Sein nicht verstanden habe,'* abgewehrt worden ist. Flügel (Zeitschr. f. exacte
Phil. Bd. Till. S. 156) fragt dawider ungläubig: „Sollte Herbart wtriclioh
so kurzsichtig gewesen seinV'' - um sofort alle weitere Erörterung abzu-
schneiden diu-ch die Erkläi*ung: ,.Es mag hier unberührt bleiben, ob Her-
bart oder Langenbeck Kant hinsichtlich seines Begritls vom Sein richtiger
beurtiieilt hat.** Wo die wissenschaftliche Discussion in solcher Weise ab-
gethan wird, wo man auf die lichtige F.iTisiclit des Meisters blind vertraut,
da hat man den Anspruch auf weitere Berücksichtigung verscherzt. Flügel
es daher seiner eigenen, und der ähnlichen Kampfweise einiger unter
seinen metaphysischen Gesinmmgsgenossen zuschreiben, weim es, wie er ein-
mal (ebd. Bd. IX. S. 392) klagt, ,.h(>rkömmlich geworden ist, auf das, was
zur Verdeutlichung und Vertheidigung der betreffenden Puidcte gesagt ist,
nicht zu achten, und ebenso wenig auf die Widerlegung der gemachten fiiii«
würfe." Von „Verdeutlichung" hal>e ich übrigens in den meta])hysischen
Arbeiten der Herbartischen Schule nicht viel antretien können, dagegen aber
mancherld Unklarheit und Verwimu^. Die unermü^iohen Bestrebungen
z. B., welche Cornelius unternimmt, die Metaphysik Herl)art's mit deii natvxr-
wiqsenschaftlichen Auffassungen auf guten Fuss zu setzen, können hicfür
augenföllige Belege abgeben.
Etwas scharfer hatte die tKssertation „de mundi sensibflis atque istel-
ligibilis forma et principiis" in i; \ es ausgesprochen, dass die (iegenständo
durch die Form die Sinne nicht afficiren, doch kehrt auch hier das Argu-
ment in der Zusammenstellung der Hauptsätze 14 und 15 nicht wieder.
Uefari^ns ist es noch keineswegs dasselbe, zu sagen: die Dinge afficiren
uns nicht durch die Form, und: die Form ist nicht gegeben. Aber auf
solche feinere Unterschiede dürfen wir uns, wo wir es mit der Interpretation
KamVs durch Heriiart za thun haben, schon gar nioht steifen.
-•'') Was die Frolegomena (ed. Kirchm. S. 144 t) dem Recensenten der
\'ernunftkritik, Garve, vorwerfen, passt vortrefflich auch auf Herbart; näm-
lich, „dass er von der Möglichkeit der synthetischen Erkeuntuiss a priori,
welche die eigentliche Aufgabe war, auf deren Auflösung das Schicksal der
Metaphysik gänzlich beruht und worauf meine Kritik (ebenso, wie hier meine
Frol^omena) ganz und gar hinauslief, nicht ein Wort erwähnte. Der Idea>
lismus, auf den et stiesa und an welchem er em^ hSngen blieb, wajr nur,
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Aniuerkangen.
103
als das einzige Mittel, jene Auigabe aul'zulüseu, in den Lchrbcgrit)' aufge-
nommen woraen.**
*•) In i; 2 der {genannten Abhandlung heisst es, „Jass die erst»' und'
allgemeine Rcfjel aller beialienden Vemunl'tsehlüsse sei: ein Merkmal vom
Merkmal ist ein Merkmal der Sache selbst.'- Acht/i}r ■lahro sjtäter hat
J. St. Mill's Loyik das , .Axiom", auf welchem das syllo^ristisrlie Verfaliren
beruht, «"fenau in derscllM ii "Weise formulirt: ..Alles was ein ^lerkmal eines
3Ierkmal8 ist, ist ein Merkmal von dem, wuvun das letztere ein Merkmal
ist" CB. IL G. II. i< i. Deutsche Auspr. Oomperz Bd. I. S. 188'). Schon
diese einzitro Aufstellunpf Kant's, welche viel Unklarheiten und Unrichtig-
keiten der herpfebrachteti Loprik beseitiofte, würde genügen, die Behau)»f »mg
WoIflTs (Si)eculat. u. Philos. Bd. I. S. 47 u. 56) zu entkräften, das« Kaut
in seiner vorkritischen Periode der Untersuchung der logischen und er-
kenntnisstheoretisehen Processe noch zieiidich fern stehe, und wir auf die-
sem Gebiet der schwächsten Partie der vorkritischeu Weltanschauung be-
gegnen.
Es könnte vielleicht ftls auffällifr vennerkt werden, da«s in meiner
obigen Darstellung nirgends Gebrauch gemacht ist von den Reden Herbart's
über Kant (wir besitzen deren sechs, Xll. 137 ff. u. Rel. 322 ff. |, wo doch
Herbart einen besonderen Aidass hatte, sich über sein V'erhältniss zu Kant
auszusprechen. Er thut es auch, namentlieh in der Kede, weldie seine
Benennung als Kantianer gegen den erwähnten Gonversationslexicunartikel
Tertheidig«n soll (XU. ibfft). Aber an erheblichen Gesichtspunkten whni
dabei Nichts weiter zu Tage gef(trdert. als was schon die oben citirten
Stellen enthalten. Zumal die hervorgehobene Hede, welche mit viel Emphase
„die Ehre Kaufs" verkündigt, spricht fast nur von den persönlichen Vor-
zügen Kant's, seiner €tenidheit, Wahrheitsliebe, Vielseitigkeit, kritischen Be-
sonnenheit u. s. w'., womit die Frage nach der Aehnlichkeit.der Systeme
otienbar Nichts zu thun hat.
**) Die angeführte Theorie ist entwickelt in Hume*s „E!nquiry concer-
ning Imman understandiiifr". l)esonder8 in Section TV. und V.
Auf den gerügten Fundameutalfehler bei IsLaat hat Ueberweg (Logik.
4. Anfl., § 28, S. 46 und Gesch. d. Phil., IIL Bd., 3. Aufl., S. 181) auf-
merksam gemacht, ohne indess die gänzliche Heterogeneität der beiden Ge-
sichtsjmnkte, welche Kant vermischt, genügend hervorzuheben. Eine weit
tiefer dringende, überaus wichtige Erörterung hat der Gegenstand in Lotze's
Logik (1874) erfahren. Ich verweise hiebei besonders auf Cap. 3 und 5
des dritten Buches. Jenes — über ..Apriorismus und Empirisnms*' han-
delnd — statuirt gleich zu Anfangdie völlige Divergenz der beiden Fraszen
nach dem Ursprünge und nach der Wahrheit der Eitomtniss (§ 322, S. 512 f.^
und sehr entschieden tritt an spütorer Stelle. (S. 582) die Erklärung aar,
dass die Apriorität einer Erkenntniss im Sinne einer ntimittelbar empfun-
denen Nothwendigkeit ( vgl. hierüber S. .'»20) gänzlich unabhängig sei vom
snbjectiven oder objectiven Ursprung derselben.
Indess bemerkt man die Unzulässigkeit jener Kfintisclien Verniischung
vielleicht am ehesten an den Verirrungen, in welche selbst ein so eminent
klarer nnd kritischer Draker wie F. A. Lange durch dieselbe gerathen
konnte. Der Fehler tritt bei ihm deshalb so kenntlich hervor, weil er sidi
bemüht hat, die betreffenden Ansichten möglichst anschaulich und verständ-
lich darzustellen. Es finden sich diesbezüglich in seiner Gesch. d. Mat. II,
5. 20 swei Beispiele, welche mir recht augenfällig zu zeigen scheinen, wie
hier die unmittelljar empfundene Nothwendigkeit — etwa der mathematischen
Axiome — verwechselt wird mit der causalen Nothwendigkeit, wie wir sie
in jedem Gesdiehen von bekanntem gesetzn^sigem Yerlanf an finden glau-
ben. Diese Verweollilung tritt offen auf in dem Ausspruch (S. 19), ,,das8
unser Bewusstsein von der Nothwendigkeit gewisser Erkenntnisse zu-
uiyiii^uü üy Google
Anmerkangen.
sammenhän^t mit unserer Ansicht von der Natur des Erkenntnisa-
vermöjfens." — Wäre Lanjre eine weitere Entwicklunjr vt ivriWint gewesen,
5(1 wünlf «T bei seinem inlfii^ix <'ii Strelicn nacli k1;ii'er DurehbilJuii}»- seiii»>r
Uebei'zeugunj/en und l)ei der slaunenswertiieii Beweglichkeit seines txeistes
wohl bald selbst über jenen felschen Apriorismus huwusiifekoninien sein.
^'*) Fichtf's Sti'llunjf zur Logik dürfte wenijjer allpomein l)ekannt sein,
als diejenige He-^ers, so dass hier folgende Stelle aus der Abhandlung
„üeber den Bepfrift' der Wissenschaftslehre" Platz finden mag: ..Hieraus
ergibt sich das i)estiinmte VerhaltnisB der ]jt)}jik zur Wissenschaftb lire. Die
ersten; ))egründet nicht die letztere, sondern die letztere ln-yriindet die erstere:
die Wissenschaftslebre kann schlechterdings nicht aus der Logik bewiesen
werden, und man darf ihr keinen einsigen logischen Sati, auch den des
Widerspruchs nicht, als griltijr vorausschicken ; hingegen muss jeder lojrische
Satz, und die ganze Logik aus der Wissensohaftslehre bewiesen werden . .
Die WissensohAftslehre bedingt die G-iltigkeit nnd Axiwendbariceit logischer
Sätze" rS. W. L S. GH). "...
T>a mir WoH^"s metaphysische Schriften augenblicklich nicht zur
Hand sind, verweise ich hier nur auf die sorgfältige und ziemlich ausge«
führte Darstellung seiner Lehre bei Zeller, Gesch. d. deutschen Phil. (1. Aufl.)
S. ft'. Auch Herbart refcrirt in den beiden ersten Capiteln seiner Allgem.
Uetaph. ziemlich eingehend über die Metaphj^sik der „älteren Schule''.
**) Wenn es von hier ans vielleicht scheinen konnte, als Ultte ich die
augenfälligen T'ebereinstimmungen mit Wolff in der Entwicklungsgeschichte
der Hcrbartischen Mctapliysik zu wenig verwerthet, so muss ich vor allem
darauf iiiuweisen, wie ich aundrücklich das, den Charakter des ganzen Systems
bedingende Fundament auf Wolff zurückgeführt habe, wobei allerdings
hauptsächlich auf die methndolofifischc Seite (icwiclit t'cleirt wurde. Was
den Inhalt der Lehren betritt, darf uns die viellach hervortretende Aehn-
lichkeit in der That nidit Terleiten, Qberall eme unmittelbar^ Entlehnung
von WoliT anzunehmen. Gewiss konnten auf Herbart Ansichten nicht ohne
Einfluss bleiben, welch«? in seiner .Tugend noch zum guten Theil die philo-
sophische Atmosphäre der Zeit constituirten. Aber der W<'g, auf welchem
er zu den einzelnen Bestandstücken seiner Lehre wesentlich von logischen
Formen und von psychologischen ilatcrit^n aus ffclaii'jrtt». lic^^t zu })estimmt
vorgezeichnet da, als dass wir denselben einfach aufgeben düriteu unter Be-
rufung auf die kürzere und leichtere IkUSmng: £ntlehnnng von Wolif.
üebrigens erklärt sich die ähnliclie Gestalt, welche die beiden Systeme
schliesslich gewinnen, auch aus einer gewissen Characterähnlichkeit beider
Philosophen: ihrer nüchternen rationalistisch-metaphysischen Tendenz, die
sich mit einer ausgesprochenen Neigung für empiriBGhes Wissen und exacte
Forschung verband. Einer solchen (ireistesrichtung entsprach ara besten die
klare Verständlichkeit des mouadologisch gezeichneten Weltbildes.
**) S. L 66 mit der in der 4. Aufl. der EinL in d. Phn. weggebliebenen
Atmicrkimg, welche an Hume ..die schleichende und schweifende Beredt-
samkeit, die mit nicht geringer Keckheit endigt," rügt; ferner III. 225, wo
Hume, als „ein Witzling, der die ernsthaftesten Fragen im Conversations-
tone abzumachen gedenkt", sehr v«m oben herab benndelt wird.
Wäre Herbart in der I^age gewesen, den angeblichen Skeptiker
mit etwas weniger befangenem Blick zu betrachten, so würde er in dessen
Unterrachung über den mensohlidien Verstand gar mancherlei Ansiehten
und Ausführungen gefunden ha})en. die er als Bestandstücke seiner eigenen
Philosophie sehr hoch hielt. Dahin würde vor allen Dingen die schöne
Seetion VIII über „Freiheit und Nothwendifl^eit" gehören, welche die Frage
nach der Causalität in den menschlichen Ibadlungen so durchsichtig er-
örtert und die deterministische Anschauung unter treftlich gewählter Be-
rufung auf die Thatsachen des wirklichen Lebens begründet. Vorzügliches
Anmerkungen.
105
Loh hätte hier Herbart von soinom J^vi^teni aus (hm Nachweise spenden
müssen, dass der Determinismus mit der practisclien Znrechuung nicht nur
▼ertrSgliehf iwndem soirai* die Bedinsfun» für diese sei. Denn jg^enau die
yleiclir Ansielit. wir H'iltait sie difsbc/iiulich hc-rt. spriclit Hiiiiic aus in
den Worten: „W'here wouhl be the foundatiun oi moralny if partieular
dumcters faad no certain or determinate power to prudnce partieular sen-
imrants, and if these sentiments liad im con^tant Operation on aetion?"
TEssays and treatises, London ITs I, vol. IL p. Hti ). ticradc von der «trennen
Causalität und charactcrmässigen Motivation des Willens liiingt, wie später
(ebd. ]). 104) auso-efiihrt wird, die pensönliche Verantwortlichkeit für Gut
tind Böse u]k Wie nahe kommt dann Hume mit ITerbart überein in seiner
CharacterisiruDg der ethischen AVerthschätzung, die ^anz unabhängig von
von aller tiieoratisohen üeberlegung in unmittelbarer Selbtlverständlichkeit
über die ihr sich darbietenden Willensverhältnisse ergehe: „The mind of
man is so fornied by natiire. that upon the apju'arance of certain cliaiacters.
dispositions and aetions. it immediately fecls the sentiment of approbation
or olame . . And theso aentiments are not Ut be eontrouled or altered
by any philoso|ihical theory or spcculation wbatsoever" lebd. ji. Jo.^f.). Ich
führe diese Uebureiustiiuniungen — zu welchen nocli andere betrefl's weniger
fundamentaler Pttnkie kommen, «. B. in Bezug auf das Wesen der abstracten
Begrifl'e, welche Hume (ebd. Note P. ji. 4sr)) ganz iihidich wie Herbart
ben!-tiieilt — hier an, weil sie mir nicht rein zufälb^; und iinsserlich /n '^ein
scheinen; vielmehr entspringen sie aus einem Character/.uge. den Herbart
mit Hume in gewissem Grade gemein hat: aus einer klaren, fein eindrin-
genden und kritisirlicn Auffassung des "Wirklielien. wie ^ie in Hei'liarCs
Psychiibjgie, Etliik und Pädagogik viell'ach bethätigt. Bei der heutigen
GMtaltung des historischen Urttiefls kann Herbart durch die Parallele,
welche ich hier gezogen habe, nur gewinnen. Er selbst freilich würde sie ent-
schieden perhorrescirt, und es unter seiner ]>hilosophischen Würde gehalten
haben, in 90 wichtigen Fragen mit dein ..W'itzling*' Eines Sinnes zu sein.
Herbart 's Ausspruch über den „gemeinscbaftlichen Feind allerSysteme"
bestätigt die Benierkuni: F. A. Lan<re"s: „Der Hegelianer schreibt zwar dem
Herbartianer ein unvollkümmeneres Wissen zu als sich selbst, und umgekehrt;
aber keiner nimmt Anstand, das Wissen des Anderen gegenüber dem des
Empirikers als ein höheres und wenigstens als eine Annäherui^ an das
allein wahre Weissen anzuerkennen" fLog. Studien. 1X77. S, tli.
**) Wem die Narrenjacke, welche Herbart dvin Empirismus anzieht, mit
dem oben Angetiihrten nicht schon bunt genug ist, der findet noch einen
Lappen dazu in der Einl. in d, l'hil. (1.70), wo es hcisst. ..nach ihrem
Verhalten zur Skepsis die Systeme im Allgemeinen in J^tajurismus und
Bationalimnus zermUen, jene jenseits, diese diesseits des Zweifels, nSmlich
vom Standpunkte der Philosophie als Wissenschaft betrachtet. Der Linter-
schied liegt nicht darin, als ob der Kationalismue die Erfahrung ver-
schmäht« und sie überspränge, der Empirismus aber sie geliörig in Ehren
hielte, sondern darin, dass der Empirist nicht zweifeln gmemt hat, dass er
die BegrifTe der Erfahrung nicht kritiseh beliandelt" u. s. w. Diesem nach
wäre Hume, der „Skeptiker", Kationalist. Dafür konnten wir ja aber —
um die Sache yollstftndig anf den Kopf zu stellen — oben Spinosa und Kant
EU den Empiristen rechnen.
**) Vgl. dazu Paulsen's Aufsatz über den Begrit!" der Substantialität in
der Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. Bd. L S. 4öÖ ti". besonders r>i>.'iff'.
Es werden neuerdings wieder Shnliohe Ansichten über den Causal-
bogriff laut, und zwar nicht ohne Zusammenhang mit Herbart. Riehl brjjpgt
in einem Aufsatz der Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. Bd. I, S. 305 il'. Cau-
salitSt und IdentitKt in die engste Beziehimg, indem das Wesentliche am
CausalverhältniBB das logische Uoment sein soll, wodurch der Sdiluss von
106
Anmerkiitigeii.
der Ursache auf die W'irkuiijj nach dem (u^setz der Identität erführe, da
CS ein Irrt Imrn sei. für die C'ausalität noch ein anderes, als jenes allireniein I
logische Schlussprincii» zu fonlem (S. .'{78 f.). Als vollständifrste und rich-
tigste Deduction des Causalbegrifft wird 8«»dann (S. MSI f.) diejenige Rie-
niann'H anfrefülirt. weh-lie — «•ennii wie Ilerhart — den Be<rrirt' der Ur-
sache aus der Lösun;; des A\'idersj,»nuhs, in welchen uns die Veränderung '
verwickle, entspringen lässi. Bei dem anderweitig constatirten Zusammen-
hangfe Kiemann's mit der Herhartisehen Philnsojdiie ist es nieht zweifelhaft,
dass er jene Deduction unmittelbar Herbart entlehnt hat, und diesen hätte
somit auch Riehl als seinen eigentliehen Oewährsmann zu nennen.
Drobiseh hat der Herbartischen ,.^lothode der Beziehungen" untjBr
der rebersehrift „LJisnnpf antithetischer Probleme" durch Begriftserjfänznnfir
oder Synthesis a priori" eine Stelle in seiner Logik (4. Aufl. § 144) ange-
wiesen, und ganz netterlioh noch ist auf dieselbe als auf ein anowanntes und
thatsächlich in VerNvendnnjr stehendes Hilfsmittel der exacten Forschunfjr .
hingczeijft worden ( Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil, Bd. II. S. lt>0). Aber
gerade die Darstellnnp Drobisch's ist recht «reeignet, augenscheinlich zu
machen, dass eini' ..Synthcsi» ft priori" auf diesem Wege nie gewonnen
werden kann, und dass dasjenige, was im Verfahren der exacten Wissen-
schaften für jene Methode ausgegeben wird, sich auf einen sehr einfachen
Gedanken reducirt, dessen wfuire Clestalt und unmittelbare Selbstverstftnd-
lichkeit nur verhüllt wird dadnreh. dass man ihn zu einer besonderen Me-
thode aufzustutzen sucht. Drobiseh schränkt die Anwendung der Methode
auf hypothetische l'rtheilsverhältnisse ein. Ich gebe seinen fTcdankengang
kurz wieder. Es stehe irgendwie fest, dass A der Grund sei für die Folge
B. Nun zeigt sich ein Fall, wo als Fnjire von A nicht B, sondern Non-B
eintritt. Dies die Prüniissen für diu weitere Operation, welche „unbedingt
gütig" sein sollen. Indess gar so strenge dwn ihre Gilt^keit doch m<mt
fjenonimen werden. Denn in Wahrheit wird ja weiter gefolgert., dftU die
zweite Thesis nicht ganz richtig sei, indem A nicht allein, sondern erst in
Gemeinschaft mit dem hinzutretenden A' «len Erfolg Non-B erzeuge. Also
A-j-A' und darin soll die Syntiiems a priori bestehen — ist der Grand
von Non-B. In klaren Worten ausgedrückt heisst dies Alles nur: unsere
jetzigen Beobachtungen stimmen mit den früher erworbenen Erkenntnissen
nicht überein, es mnss also nach irgend einer Sdte eine Correclur vorge» i
nommen werden, ohne dass sieh über das Wo? und Wie? dersellien im All-
gemeinen Etwas sagen Hesse. Sie kann ebensogut die älteren Ansichten,
als die wider diese streitenden neuen Thatsachen treffen, sie kann auf völ-
lige Negation oder auf blosse 3[odifieation der vorhandenen Behauptaageil
hinauslaufen. Als Davy und Kumiord mit ihren Versuchen über Erzeugung '
der Wärme durch Bewegung auftraten, hielt<»n sie keinen Compromiss für
m^lich mit der hergebrachten Annahme eines besonderen Wärmestoffs, und
ersetzten dieselbe durch die mechanische Theorie der Wärme. Dnirefren
nöthi^ten die Polarisatiouserscheinungen beim Lichte nicht, die Undulations-
theone aufzugeben, sondern nur dieselbe zu modificiren und an Stelle der
longitudinaleii transversale Schwingungen zu setzen. Die neuen Sj'nthesen i
aber erfolgen hier — \sne in allen Fällen - rein auf tlrimd der Erfahrungs-
thatsachen, denn auch die allgemeinen Theorien und (Tcsetze der Natur-
wiasensohaft, wie wir solche eben anführten, sind nur abbreviirte und zu-
sammenfassende Ausdrücke für die Tliatsachen. Von einem „Aprim" ist
bei air diesen Synthesen nicht die Hede.
*•) Der Seinsbegriff Herbart's hat von jeher fttr die G^^er seiner Me-
taphynik ein Hauptobject des Angriffs gebildet; so namentlich in der eifin«
gen Polemik Trend elenburgs wider dieselbe (s. dessen Histor. Beiträge z.
Philos. Bd. II, S. .{loÖ.^. Hier mag nur die treffende Bemerkung Zeller's
(Gesch. d. deutschen Fhil. 1. Aufl. 8. 8&8) noch Plate finden: ,^le jene
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Anmerkangen. 107'
JBinwendungen gegen die gegebenen Begritte, auf die Herbart seine eigene
Metaphysik gründet, beruhen scblieMlicli doch nur auf seinen Bestimmun^ren
über »las Seie:'iide: diese Bestiinmunjren hat er aber nicht auf Grund der Er-
fiahruiitr. ilurch wissenschaftliche Analyse derselben gewonnen, sondern sie
ainil eine apriorische Voraussetzung, für die er keinen weiteren Beweis
nöthi^ findet. So will er denn freilich da« (regebene erklären, aber die
RichtiiTiLT dieser Erklärunj? ist zum Voraus durdi Princi]>ien vorofezeichnet,
die weder aus der Erfahrung geschöpft, noch an ihr bewährt sind.
*^') In »ehr klarer nnd pr^ser Formulimng hat Drobisch (Logik i$ 149)
■sich üV)er das Wesen der Analofric ftus';esi)roehcn. Nur hätte er sich der
Einsicht nicht verschliessen sollen, dass, was er dort; als „strenge Analogie'*
aniührt, ein «jan/ regelrechter Syllogismus in der ersten Figur ist. Stricte
•beweisen lässt sich durch blosse Analofjie Xicdits.
*') Mit Kecht findet F. A. Ijanjx«' (Die Crrundlegung der math. Psych,
ö. 32 j in den oben erwähnten Ausführungen Drobisch's eine „zum Theil
äusserst werthvolle Erörterung der Orundbegriffe, die vielleicht in einer
zukünftigen exacten Lofjik besser an der Stelle wäre.'' Kiiie solche Stelle hat
dieselbe seither aneh wirklich gefunden in Xjotze's feinsinnigen Ausführun-
gen über die Anordnung der einfachen QpuüitSten in oontiaturliclie Reihen,
das daraus resultirendc ..erste Allgemeine'S ™d die Anwendung von Grössen-
hegrifFen auf dieselben (Logik ij!:; 12— Ifi), welche für eine „exacte Loorik"
wirklich von eminenter, geradezu grundlegender Bedeutung erscheinen.
Jedenfalls kommt hiebei Herbaii das Verdienst zu, die präcise Auf£usungder
qualitativen Mannij^faltigkcit eines Sinnesjrt'bietes als Continuum begründet
zu haben. Schon sein „erster Entwurf der Wissenslehre** von Ltdti weist
anf die „Continmiat" der verschiedenen Empfmdungsgebiete hin (s. oben
S. 24), die danta in den späteren psycholotri gehen Schriften vielfach erörtert
•wird (vfrl. z. B. V. 57, l.!l, 340 f., :?r>i>f. ). Ihre weitreichende Bedeutung
haben jene Betrachtungen füi* die Gegenwart vor allem in Hehnholtz'
bekannten Untersuchnngen über die Natur des Baumes offenbart» welcber
ehen auf Grund einer verallf^emeineHon und exact ^gestalteten Fas-^nnj,' des
Be^tfs „Continuum" zu einer strengen, logischen (Jharakterisirung unseres
dmdimensionalen Banmcontimrams gelangt ist
*2) Vgl. Volkmann, Lehrb. d. Psychol. u. 1876) Bd. I, S. 355
und Bd. II, S. :Vi7. Zimmermann, Sitz.-Ber. d. Wiener Ak. phil.-hist.
Cl. 73, Bd. S. 4t) ff. bes. S. 55 u. 61*. Volkmann bemerkt an der erst-
citirten Stelle auch, dass „der volle Gegensatz vielleicht mit Ausnahme der
Gerüclie nur in einem einzigen EaUe innwhalb der Farbenqualitäten snr
Anwendung" komme.
**) Lotze hat sich in seiner Kritik der znfiLUigen Ansiditen auf eine
nähere Erörterung der vom G-ebiet der einfachen mipfindung hergeholten
Analogie nicht einfjelassen. sondern weist dieselbe nur durch die Bemer-
kung zurück, dass die, innere Zustände der Kealen repräsentirenden Sinnes-
qualitäten zu sehr verschieden seien von den Qualitäten der Realen seilrat,
als dass hier ein Ueberf<fang vermittelst der Analogie zulässig wäre (Fichte's
Zeitschr. f. Phil. Bd. XI, S. 216).
**) Eine besonders feine vnd eindringende XHtik hat Lotze den
psychologischen Vorstellungsweisen Herbart 's zugewandt (Mikrokosmos,
2. Aufl., Buch II. Cap. 3 namentlich S. 227—237 von Bd. 1). Es wird
dort (S. 235) sehr schr>n ausgeführt, wie die Beobachtungsthatsachen eher
gegen als für eine Hemmung entgegengesetzter Vorstellungen sprechen.
'•'') F. A. Lange, Die Grundlegrinii? der mathematischen Phychologie.
Ein Versuch zur Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart
imd Drobisch. Dmsbnrg 1865. Wundt, PhysioL Psychologie. S. 797, wo
Herbart's ganze Theorie der Wechselwirkung unter den Vorstellungen der
Kritik unterzogen wird.
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108
▲nmerkangen.
*•) Innerhalb der pädagogischen Kreise ist gegeuwürtig das Inter-
esse ftn Herbarts Leistungen bereits lebhaft im Zunehmen begriffen. Dies
beweist schon die Thatsache, dass jüncfst von vOTSchiedenen Soitt n drei
neue Ausgraben seiner ])ädafrofrisohen Schriften veranstaltet woriieu sind,
nachdem dieselben bereits in der Hartenstein'schen Gesammtausgabe einen
wiederholten Abdruck erfahren hatten.
*') Ich erinnere vor nlltm Dinfron an (lic Arbeiten Zillor's, dessen
neuestes Werk „Vorlesungen über allgemeine Pädagogik" (1876) das System
der auf Herbartischen Fundamenten erlMiiiten Päcbgogik sowohl nach der
Breite, als ancb lUMsh der Tiefe in YonügUoher Weise mr Darstelluiig bringt
Draek Toa 0. H. Bdralae ia OrtHndiaiaiehMi.
-S,. <
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